Der Weg der europäischen Philosophie 2: Eine Gewissenserforschung 9783495482629, 3495482628

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Der Weg der europäischen Philosophie 2: Eine Gewissenserforschung
 9783495482629, 3495482628

Table of contents :
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Hermann Schmitz

Der Weg der europischen Philosophie Eine Gewissenserforschung

Copyright © 2016. Verlag Karl Alber. All rights reserved.

Band 2: Nachantike Philosphie

VERLAG KARL ALBER

B

2

Hermann Schmitz

Copyright © 2016. Verlag Karl Alber. All rights reserved.

Der Weg der europäischen Philosophie

VERLAG KARL ALBER

A

Copyright © 2016. Verlag Karl Alber. All rights reserved.

Zu diesem Buch: Es ist an der Zeit, Geschichte der Philosophie nicht mehr nur als geschätztes, aber unverbindliches Bildungsgut zu erzählen, sondern zu prüfen, was die Philosophie auf ihrem Weg durch die Geschichte Europas den Menschen »angetan« hat, im Guten wie im Bösen. Dieses Ziel setzt sich Hermann Schmitz in einem zweibändigen Werk, indem er diesen Weg analytisch und kritisch von Homer bis Merleau-Ponty nachzeichnet. Der zweite Band setzt beim Urchristentum ein, das zum archaischen Denken hinter die demokritisch-platonische (psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische) Vergegenständlichung zurückspringt, damit aber schon bei Augustinus, der durch ein im Dienst eigenen Glücks bloß utilitaristisches Verhältnis zur Welt neuzeitliches Denken tendenziell vorwegnimmt, keine Rolle mehr spielt. Dieser Vergegenständlichung kommt in der Scholastik der Singularismus zu Hilfe, der sich bei Wilhelm von Ockham radikal durchsetzt. Singularismus ist die Überzeugung, dass alles ohne Weiteres einzeln ist. Er ebnet den Weg zum Konstellationismus, der die Welt als Netzwerk einzelner Faktoren deutet. Singularismus als Konstellationismus ist zusammen mit dem demokritisch-platonischen Paradigma der Schlüssel theoretischer und technischer Weltbemächtigung, seit die Menschen diese von Bacon an in die eigenen Hände genommen haben. Die Welt wird neutral. Erst nach Kant bemerkt ein Philosoph (Fichte), dass jeder, der »Wer bin ich?« fragt, mit dem Erfragten nicht bei den objektiven oder neutralen Tatsachen unterkommt. Da aber alle Tatsachen für objektiv gehalten werden, scheint dieses Erfragte in eine rätselhafte Schwebelage über oder zwischen allen Tatsachen zu geraten. Damit beginnt das (noch nicht abgeschlossene) ironistische Zeitalter im Zeichen der (romantischen) Ironie und Ichangst; zum heimlichen Leitmotiv der Philosophie wird die Alternative von Aushalten (Existenzphilosophie) und Abweisen (Positivismus) der Paradoxie, begleitet von Wiederbelebung der neuplatonischen Vieleinigkeit im Deutschen Idealismus (besonders bei Hegel), in der Lebensphilosophie und beim späten Heidegger. Der Autor: Hermann Schmitz, geb. 1928, ist entpflichteter Professor der Philosophie an der Universität in Kiel. Seine systematischen und historischen Publikationen (40 Bücher, gegen 120 Aufsätze) sollen dazu dienen, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen, indem nach Abräumung geschichtlich geprägter Verkünstelungen der Besinnung ein begrifflich gestützter Zugang zur unwillkürlichen Lebenserfahrung geöffnet wird.

Hermann Schmitz

Der Weg der europäischen Philosophie Eine Gewissenserforschung

Copyright © 2016. Verlag Karl Alber. All rights reserved.

Band 2 Nachantike Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

Copyright © 2016. Verlag Karl Alber. All rights reserved.

Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten ©Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2007 www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48262-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86087-8

Inhalt

Band II: Nachantike Philosophie Inhaltsverzeichnis des Bandes I . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Überleitung

Copyright © 2016. Verlag Karl Alber. All rights reserved.

19. Das Urchristentum . . . . . . . . . 19.1 Der Leib im Bann der Mächte . . . 19.2 Der christliche Wartestand . . . . . 19.3 Nuancen . . . . . . . . . . . . . .

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20. Augustinus . . . . . . . . . . . . . . 20.1 Beherrschen, Benützen und Genießen 20.2 Isolierung und Uniformierung . . . . 20.3 Rette sich, wer kann! . . . . . . . . .

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21. Das Universalienproblem . . 21.1 Systematische Vorbereitung 21.2 Die Frühzeit . . . . . . . . 21.3 Die Hochscholastik . . . . . 21.4 Die Spätscholastik . . . . .

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53 53 59 68 78

22. Thomas von Aquino . . . . . . . . . . 22.1 Die Quantifizierung der Bestimmtheit 22.2 Das Sein und das Nichts . . . . . . . 22.3 Die Skalierung der Bestimmtheit . . . 22.4 Die Materie . . . . . . . . . . . . . . 22.5 Thomas und Aristoteles . . . . . . .

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5

Inhalt

23. Johannes Duns Scotus . . . . . . . . 23.1 Die distinctio formalis . . . . . . . 23.2 Die Mannigfaltigkeitslehre . . . . . 23.3 Die Qualifizierung der Bestimmtheit 23.4 Die letzten Differenzen . . . . . . .

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24. Wilhelm von Ockham . . . . . . . 24.1 Der Singularismus . . . . . . . . 24.2 Die Kappung der Zusammenhänge 24.3 Die Universalien . . . . . . . . . 24.4 Das Subjekt . . . . . . . . . . . .

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25. Meister Eckhart und die Folgen . . . . . . . 25.1 Das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2 Der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2 Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham 25.4 Die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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26. Nikolaus von Kues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 26.1 Gott: das Nicht-andere (non aliud) . . . . . . . . . . . . 180 26.2 Gott: das Könnist (possest) . . . . . . . . . . . . . . . . 184 27. Paracelsus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.1 Die geschichtliche Stellung der Philosophie des Paracelsus 27.2 Die Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.3 Begriffe aus vielsagenden Eindrücken . . . . . . . . . . 27.4 Salz, Schwefel und Quecksilber . . . . . . . . . . . . .

190 190 196 201 205

28. Bacon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 29. Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 29.1 Der Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 29.2 Der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

6

Inhalt

30. Descartes . . . . . . 30.1 Der Dualismus . . . 30.2 Die Subjektivität . . 30.3 Gott . . . . . . . . . 30.4 Der Elementarismus

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31. Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 31.1 Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 31.2 Einheit und Vielheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 32. Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . 32.1 Was wollte Leibniz? . . . . . . . . 32.2 Der Darwinismus der Möglichkeiten 32.3 Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.3.1 Das vollkommene Wesen . . 32.3.2 Das notwendige Wesen . . . 32.3.3 Das zwiespältige Wesen . . . 32.4 Die Monaden . . . . . . . . . . . . 32.5 Das Kontinuum . . . . . . . . . . .

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258 258 265 269 269 276 278 284 289

33. Locke . . . . . . . . 33.1 Die Wende . . . . . 33.2 Locke und Descartes 33.3 Locke und Platon . .

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34. Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 34.1 Humes Rache an Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 34.2 Humes Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 35. Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1 Die geschichtliche Stellung der Philosophie Kants . . . . 35.2 Die Motivation der Philosophie Kants . . . . . . . . . . 35.2.1 Der transzendentale Idealismus . . . . . . . . . . 35.2.2 Die kopernikanische Wende und der kritizistische Immanentismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316 316 328 328 336 7

Inhalt

35.3 Die Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 35.3.1 Die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft . . 35.3.2 Die transzendentale Ästhetik . . . . . . . . . . . 35.3.3 Die transzendentale Analytik . . . . . . . . . . . 35.3.4 Die transzendentale Dialektik . . . . . . . . . . . 35.4 Praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.1 Das Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4.2 Die Triebfeder der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . 35.4.3 Das Verhältnis der praktischen zur Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.5 Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347 347 358 369 384 396 396 403

36. Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.1 Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36.2 Die rezessive Entfremdung der Subjektivität 36.3 Die Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . .

422 422 428 437

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409 415

37. Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

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38. Die Frühromantiker und Stirner . . . . . . . . . . . . . . 460 39. Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39.1 Die Denkform der Philosophie Hegels . . 39.2 Die Motivation der Philosophie Hegels . . 39.3 Die Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . 39.3.1 Wissenschaft der Logik . . . . . . 39.3.2 Die Entwicklung der Logik Hegels 39.4 Das System . . . . . . . . . . . . . . . . 39.5 Die Dialektik der Standpunkte . . . . . .

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471 471 483 488 488 498 504 508

40. Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 41. Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 42. Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 42.1 Nietzsche im Gefolge des Christentums . . . . . . . . . 541 42.2 Nietzsche im Gefolge der Frühromantik . . . . . . . . . 547 8

Inhalt

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42.3 Die vornehme Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 42.4 Die Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 42.5 Die ewige Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 43. Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.1 Empiriokritizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.2 Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.2.1 Die rezessive Entfremdung der Subjektivität 43.2.2 Der Singularismus . . . . . . . . . . . . . 43.2.3 Gegen die Introjektion . . . . . . . . . . . 43.3 Logischer Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . 43.3.1 Frege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.3.2 Russell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.3.3 Carnap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.4 Analytische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 43.4.1 Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . 43.4.2 Quine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.4.3 Strawson . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.4.4 Philosophie des Geistes . . . . . . . . . . .

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44. Lebensphilosophie . . . . . . . . . 44.1 Bergson . . . . . . . . . . . . . . 44.2 Dilthey . . . . . . . . . . . . . . 44.3 Klages . . . . . . . . . . . . . . . 44.3.1 Die Grundzüge des Systems 44.3.2 Kritik . . . . . . . . . . . 44.3.3 Die Errungenschaften . . .

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628 628 635 643 643 647 653

45. Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . 45.1 Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.1.1 Intentionalität . . . . . . . . . . . . . 45.1.2 Singularismus . . . . . . . . . . . . . 45.1.3 Subjektivität . . . . . . . . . . . . . 45.1.3.1 Bewusstsein . . . . . . . . . 45.1.3.2 Transzendentale Subjektivität 45.1.3.3 Intersubjektivität . . . . . . 45.1.4 Evidenz und Wahrheit . . . . . . . .

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662 662 662 667 673 673 678 686 691 9

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45.1.5 Sinnlichkeit und Verstand . . . . . . . . . . 45.1.6 Die Wesensschau . . . . . . . . . . . . . . 45.2 Materiale Wertethik . . . . . . . . . . . . . . . . 45.2.1 Max Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.2.2 Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . 45.3 Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.3.1 Die rezessive Entfremdung der Subjektivität 45.3.2 Die existenziale Analytik . . . . . . . . . . 45.3.3 Die Preisgabe der existenzialen Analytik . . 45.3.4 Langeweile und Zuspitzung . . . . . . . . . 45.3.5 Das Geschehen der Wahrheit . . . . . . . . 45.3.6 Das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.3.6.1 Heideggers Seinsverständnis . . . 45.3.6.2 Die Entkräftung des Seins . . . . . 45.3.6.3 Die Seinsgeschichte . . . . . . . . 45.3.7 Der eschatologische Neuplatonismus . . . . 45.4 Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.4.1 Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . 45.4.2 Ansichsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.4.3 Der Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.4.4 Existenzialismus . . . . . . . . . . . . . . 45.4.5 Hermeneutik synästhetischer Charaktere . . 45.4 Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45.5.1 Phénoménologie de la Perception . . . . . . 45.5.2 Le Visible et l’Invisible . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick

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694 698 703 703 714 721 721 727 738 745 748 754 754 758 767 773 778 778 786 789 796 798 800 800 806

. . . . . . . . . . . . . . . . 811

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 Sachregister

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Band I: Antike Philosophie

Inhaltsverzeichnis des Bandes II . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

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Vorrede 1.

Das menschliche Selbstverständnis bei Homer

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19

2.

Das menschliche Selbstverständnis in der archaischen Lyrik und der attischen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . .

24

3.

Anaximander und Anaximenes

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32

4. 4.1 4.2 4.3

Heraklit . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . Das Äquivalenzprinzip . . . . Gemeinschaft und Einzelseele

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38 38 39 50

5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mach-Erfahrung . . . . . . . . . . . . . Aletheia und Doxa . . . . . . . . . . . . . . Streitende Haufen und göttliche Offenbarung Die Wege der Forschung . . . . . . . . . . . Zur Datierung: Parmenides und Xenophanes .

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54 54 59 69 75 78

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80 81 81 85 87

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6. Die zweite eleatische Schule . . . . . 6.1 Zenon . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Die Paradoxien der Vielheit . 6.1.2 Die Paradoxien der Bewegung 6.1.3 Zenon gegen Empedokles . .

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11

Band I: Antike Philosophie

6.2 Melissos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Leukipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 91

Pythagoras und die Pythagoreer . . . . . . . . . . . . . .

96

7.

8. Empedokles . . . . . . . 8.1 Attraktion als Gestaltung 8.2 Attraktion als Erkenntnis 8.3 Der kosmische Zyklus . .

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106 106 111 114

Demokrit . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bruch mit dem archaischen Denken Demokrit und Leukipp . . . . . . . . . Demokrit als Schwärmer . . . . . . . .

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119 119 126 127

10. Protagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Rhetorik als Verwaltung von Situationen . . . 10.2 Der Homo-Mensura-Satz . . . . . . . . . . . 10.3 Protagoras und Sokrates . . . . . . . . . . . .

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11. Platon und das »Rätsel der alten Akademie« . . . . . . . 11.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Die Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Platon und die Ideenfreunde . . . . . . . . . . 11.2.2 Platons Ideenlehre bis zum Auftauchen des Regressargumentes . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Das erste Regressargument in Parmenides . . . 11.2.3.1 Das Regressargument: Struktur und Folgen für Platon . . . . . . . . . . . 11.2.3.2 Die Herkunft des Regressargumentes . 11.2.4 Platons Ideenlehre nach der Begegnung mit dem Regressargument . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Die Prinzipienlehre mit einem Prinzip . . . . . . . . . 11.4 Speusipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Speusipps spätere Lehre . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Speusipps frühere Lehre . . . . . . . . . . . .

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139 139 141 141

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9. 9.1 9.2 9.3

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. 159 . 163 . 163 . 169 . . . . .

175 181 186 186 189

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Band I: Antike Philosophie

11.5 Eudoxos und Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Die Prinzipienlehre mit zwei Prinzipien . . . . . . . 11.6.1 Platon und die Pythagoreer . . . . . . . . . . 11.6.2 Der Vortrag über das Gute . . . . . . . . . . 11.6.2.1 Der Platz des Vortrags in Platons Prinzipienlehre . . . . . . . . . . . 11.6.2.2 Der Gang des Vortrags . . . . . . . 11.6.2.3 Datierung des Vortrags . . . . . . . 11.6.3 Die Weiterbildung der Prinzipienlehre Platons nach dem Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Platons philosophische Entwicklung . . . . . . . . . 11.8 Platons Elementarismus . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.1 Der theoretische Elementarismus . . . . . . . 11.8.2 Der politische Elementarismus . . . . . . . .

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219 222 231 231 239

12. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Die Kategorienlehre . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Die konvergente Metaphorik des Seienden . . . . 12.4 Die Potenzlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Die Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Vom Materialismus zum Idealismus . . . . . . . 12.7 Das siebente Buch der Metaphysik . . . . . . . . 12.8 Die Überwindung des praktischen Elementarismus 12.9 Ding an sich und Relation . . . . . . . . . . . .

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243 243 247 253 261 271 279 286 294 302

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195 200 200 206

. . 206 . . 209 . . 211

13. Die Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 14. Epikur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

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Band I: Antike Philosophie

15. Plotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Die Vieleinigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Plotins Paradoxe . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Logische Rehabilitierung Plotins . . . 15.3 Der Ursprung der sinnlichen Welt nach Plotin 15.4 Das Eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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323 323 326 326 332 337 346

16. Proklos . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Die horizontale Schichtung . . . . . 16.2 Das dynamische Schichtenverhältnis 16.3 Typen der Mannigfaltigkeit . . . . 16.4 Die dynamische Polarität . . . . . . 16.5 Die zweite Hypostase . . . . . . . . 16.6 Was geht uns Proklos an? . . . . .

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352 352 357 360 367 371 374

17. Damaskios . . . . . . . . . 17.1 Einleitung . . . . . . . . . . 17.2 Das prä-immanente Eine . . 17.3 Das Dilemma der Erkenntnis 18. Johannes Scotus Eriugena 18.1 Das johanneische Erbe . 18.2 Eriugena und Damaskios 18.3 Die Vieleinigkeit . . . .

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379 379 380 384

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388 388 393 397

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Sachregister

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Die Philosophie des griechischen Altertums ist bei weitem die produktivste Phase in der Geschichte der europäischen Philosophie. Bis gegen 1800 spielt die nachantike Philosophie weiter mit den Figuren, die im Altertum aufgestellt wurden, und ändert auch nicht die Regeln des Spiels, sondern nur die Anlage der Partien und den erstrebten Gewinn in der Weise, dass zusätzlich zu dem antiken Ziel der Selbstbemächtigung seit 1600 das moderne Ziel der Weltbemächtigung die Intention des Denkens leitet. Eine Entdeckung, die etwas im Altertum noch gar nicht Bedachtes in den Blick rückt, gelingt im Zuge des Stabwechsels beim philosophischen Staffellauf erst unmittelbar vor 1800, als das Der-sein-der-er-ist für einen jeden, die strikte Subjektivität, bemerkt wird. Es bedurfte der völligen Neutralisierung aller Tatsachen, die erst mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft in die Welt kam, damit ein Philosoph sich fragte: Wo bleibe ich denn selber in diesem Milieu der bloß noch objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, vorausgesetzt nur, er weiß genug und kann gut genug sprechen? Dadurch, dass ich es selber bin, kommt für mich doch noch etwas Wichtiges hinzu, ein Überschuss über die bloß objektive, von jedermann erzählbare Tatsache, dass etwa Hermann Schmitz sich so und so befindet. Dieser Überschuss passt nicht in eine Welt, die alles ist, was der Fall als neutrale Tatsache ist. Der erste Philosoph, dem das auffiel, war Johann Gottlieb Fichte, der 1793 mit seiner Rezension des Aenesidemus eine Wasserscheide legte, von der ab Philosophie nach noch nicht verfügbaren neuen Regeln gespielt wird. Aber Fichte begriff seine Entdeckung nicht. Er zog den Überschuss einfach von den Tatsachen ab, als das Ich, das keine Tatsache ist, sondern eine Tathandlung, die sich selbst tut und weiter nichts. Was er damit erreichte, gesteht Wittgenstein (im eigenen Namen) so ein: »Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte 15

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Realität.« 1 Alle Besserungsversuche Fichtes führten das sogenannte Ich nicht in die Welt zurück. Es blieb bei einer über oder zwischen allen Tatsachen schwebenden Subjektivität, die Hegel mit dem abenteuerlichen Instrument des dialektischen Widerspruchs an die objektive Realität zu fesseln suchte, während sie diesem untauglichen Versuch in den Nihilismus der romantischen Ironie (sich von allem abwenden und eben deshalb auch allem zuwenden zu können), der Ichangst (ich zu sein, schwebend über den eigenen Möglichkeiten, in die sich auflöst, was ich bin), des Dandys und der Coolness entkam. Die Philosophie, die bis 1800 Bannerträger des Fortschrittes in Selbst- und Weltbemächtigung war, wird seitdem ein Medium der Beunruhigung. Die Einführung eines provozierend neuen Motivs in das philosophische Denken seit 1793 hindert nicht das beherrschende Fortwirken der antiken Prägungen. Diese leiten die nachantike Philosophie hauptsächlich in den Schienen zweier Vorurteile: Das erste Vorurteil ist die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung der unwillkürlichen Lebenserfahrung (d. h. dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben), die ich unter 9.1 als Bruch mit dem archaischen Denken charakterisiert habe. Das archaische Denken der griechischen Philosophen vor Demokrit ordnet die Welt durch polare Gegensätze vielsagender Eindrücke, die an leibnah gespürten Kräften abgelesen werden. Ein vielsagender Eindruck ist eine impressive Situation. Eine Situation ist ein ganzheitlich (d. h. relativ geschlossen nach außen und in sich zusammenhängend) durch eine binnendiffuse (d. h. nicht in lauter Einzelnes, das eine Anzahl je um 1 vermehrt, aufgeteilte) Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und eventuell Problemen zusammengehaltenes Mannigfaltiges, z. B. eine Gefahr, ein Gespräch, eine Sprache. Eine Situation ist impressiv, wenn ihre Bedeutsamkeit schlagartig präsent ist (wie eine schlagartig erfasste und sofort durch angemessene Schutzreaktion quittierte Gefahr). Beim Bruch mit dem archaischen Denken, das z. B. die klassische chinesische Kultur durch und durch bestimmt, werden die vielsagenden Eindrücke als Leitfäden der Begriffsbildung preisgegeben. Der Stoff der unwillkürlichen Lebenserfahrung wird in der Weise zerlegt, dass für jeden Bewussthaber 2 eine abgeschlossene pri1 2

Tractatus logico-philosophicus 5.64. So übersetze ich das vieldeutige Wort »Subjekt«, um ihm den genaueren Sinn zu

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vate Innenwelt (Psyché, Seele, später auch mit vielen anderen Namen versehen, wie mens, mind, Bewusstsein) reserviert wird, in der sein gesamtes Erleben untergebracht wird (Psychologismus), während zwischen solchen Innenwelten eine Außenwelt übrig bleibt, die bis auf wenige Merkmalsorten, die durch intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit, Messbarkeit und selektive Variierbarkeit vorzüglich für Statistik und Experiment geeignet sind, und deren hinzugedachte Träger abgeschliffen wird (Reduktionismus). Bei diesen verbleibenden Merkmalsorten handelt es sich um die unspezifischen (»primären«) Sinnesqualitäten: Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Anordnung und Lage im Raum. Der Stoff der unwillkürlichen Lebenserfahrung, der bei der Abschleifung anfällt, wird entweder ignoriert oder in den Innenwelten abgelegt, wo er auch dann, wenn ihn das Denken übersehen oder nicht ernst genommen hat, wegen seiner Aufdringlichkeit in unwillkürlicher Lebenserfahrung auftaucht, nur in privatisierender Umdeutung (Introjektion). Ausdrücklich der Introjektion unterworfen werden die spezifischen Sinnesqualitäten bei Demokrit, Platon (im Timaios) und Aristoteles, der die spezifisch haptischen Qualitäten, aus denen er die Elemente konstruiert, und die von ihnen abgeleiteten Qualitäten definitorisch auf primäre Sinnesqualitäten reduziert. 3 Zu den vergessenen Beständen der unwillkürlichen Lebenserfahrung gehören die bedeutsamen Situationen einschließlich der vielsagenden Eindrücke, die Atmosphären des Gefühls und des Wetters und der gespürte Leib einschließlich der leiblichen Kommunikation, der Grundform aller Kontakte. 4 Der gespürte oder spürbare Leib verdankt sein Schicksal, bei der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung vergessen zu werden, der Zerlegung des Menschen in Körper und Seele, die sich daraus ergibt, dass die Seele im Interesse der psychologistischen Abschließung des Erlebens aus dem Raum herausgenommen wird, dem sich der Mensch dennoch nicht entziehen kann, so dass er das, geben: Bewussthaber ist, wer etwas bewusst hat, das ihm bewusst ist, ohne dass der Betreffende deshalb schon ein Bewusstsein im Sinne einer privaten psychischen Innenwelt besitzen müsste; Bewusstsein für ihn hat vielmehr, was ihm bewusst ist. 3 De generatione et corruptione II 2, 329b 7–330a 29 (besonders 329b 26–32); zur psychologistischen Privatisierung der Sinnesqualitäten vgl. auch Metaphysik 1010b 30– 1011a 2. 4 Zur leiblichen Kommunikation vgl. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 34–43.

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was von ihm räumlich bleibt, als seinen Körper der reduzierten Außenwelt übergibt; das Opfer dieser Selbstzerlegung ist der spürbare Leib. Dabei kommt eine Verkürzung der Raumvorstellung zu Hilfe, die darin besteht, dass flächenlose Räume – der Raum des gespürten Leibes, der Raum des Schalls und der Stille, der Raum der Atmosphären, die Gefühle oder Wetter sind, der Raum der Gebärde und sonstigen ungehemmten Eigenbewegung, der Raum des Schwimmens, der Raum des entgegen schlagenden Windes – über dem Leitbild der Fläche vernachlässigt werden. Dieses Leitbild prägt die mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung gleichzeitig sich entwickelnde griechische Geometrie den Gedanken über Räumliches so ein, dass dieses nur noch in Koordinatensystemen gefasst wird; alles Flächenlose, das sich solcher Fassung entzieht, wird in seiner eigenartigen Räumlichkeit unverständlich. Weitere Folgen jener Vergegenständlichung sind der Physiologismus und der Rationalismus. Der Physiologismus besteht in der These, dass Informationen aus der Außenwelt und den anderen Innenwelten (über die Außenwelt) an den in seiner Innenwelt eingeschlossenen Bewussthaber nur über Sinnesorgane (durch Reizleitung von Objekten oder Zugriff der Organe auf Objekte) gelangen, wobei die aufgenommenen Reize nach Transport im Körperinneren (z. B. im Nervensystem) als Empfindungen in die seelische Innenwelt hinüberspringen. Der Rationalismus besteht in der Annahme, dass die Empfindungen innerhalb der seelischen Innenwelt vom Verstand durch eigene Zusätze (Rationalismus im engeren Sinn) oder auch durch bloße Kombination (sogenannter Empirismus) so aufbereitet werden, dass für den Bewussthaber ein einigermaßen zutreffendes Bild von den Quellen der empfangenen Reize, und damit eine verlässliche Information über die Außenwelt, zustande kommt. Die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung hat sich in der nachantiken Philosophie mit beträchtlicher Fernwirkung je länger desto mehr durchgesetzt, nachdem im Mittelalter wegen der geringeren Beachtung der (Gott überlassenen) Außenwelt der Reduktionismus, keineswegs aber der Psychologismus mit Introjektion, Physiologismus und Rationalismus, in den Hintergrund getreten war. In unserer Zeit spitzt sich die Vergegenständlichung zu einem Kannibalismus zu, wobei der Psychologismus vom Reduktionismus verschlungen wird, indem eine materialistische philosophy of mind (Neurophilosophy) sich anschickt, das reduktionistisch mit Methoden der Naturwissenschaft 18

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konstruierte Gehirn an die Stelle der psychischen Innenwelt zu setzen. Starke Hilfe leistet einer solchen Gedankenrichtung mit oder ohne Psychologismus die zweite große Denkschiene antiker Vorprägung, die sich auf die Begriffe von Zahl und Einheit bezieht. Euklid definiert die Zahl so: »Einheit (Monas) ist, der gemäß jegliches von den Seienden eines genannt wird. Zahl ist die aus den Einheiten (Monaden, Einsen) gebildete Menge.« 5 Diese offensichtlich ungenügende Begriffsbestimmung hat sich mit unbegreiflicher Zähigkeit bis zu Georg Cantor, dem Begründer der Mengenlehre, gehalten. 6 Die Monaden Euklids sind geisterhafte Schatten; er weiß offenbar selbst nichts daraus zu machen. In der Undeutlichkeit dieses Einheitsgedankens zeigt sich die Schwierigkeit, die die Alten damit hatten, Zahlen von Mengen oder Vielheiten, deren Zahlen sie sind, zu unterscheiden. Frege war der Erste, der den Irrweg verließ, Zahlen als Mengen oder gar als Vielheiten aufzufassen, statt als Qualitäten von Mengen, und er wies, ohne es zu sagen und vielleicht zu wollen, den Weg zum natürlichen Zahlbegriff, indem er als solche Qualität die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit und damit die Zählbarkeit bestimmte; denn Zählen ist umkehrbar eindeutiges Abbilden und Sitz der Zahl im Leben. Leider hat sich auch Frege vergriffen, indem er aus Zahlen doch wieder Mengen oder Klassen machte, nämlich eine Zahl als den Umfang des Begriffes der auf eine gegebene Menge umkehrbar eindeutig abbildbaren Menge definierte; damit kommt man zu riesigen und (wegen der Antinomie der Menge aller Mengen) paradoxen Mengen, an die niemand denkt, der bis 3 zählt. Diesen Grund zur Beanstandung habe ich beseitigt, als ich definierte: »Anzahl einer Menge M ist die Eignung einer beliebigen Menge, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden.« Da umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit eine symmetrische Beziehung ist, wird mit dieser Definition die Zahl als Zählbarkeit einer Menge (durch Abzählen an einer beliebigen Zählmenge, sei sie auch unendlich und daher zu groß für das Zählen von Menschen, vielleicht aber nicht von höheren Intelligenzen, falls es solche gibt) bestimmt. Wozu diese Abschweifung zum Zahlbegriff? Weil die AuffasElemente, Buch 7, Definitionen 1 und 2. Georg Cantor, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, Berlin 1932, S. 283, hg. v. Ernst Zermelo, der auf S. 351 Cantor in völlig überzeugender Weise für dessen euklidische Zahlauffassung rügt.

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sung der Zahl (über 1) als Vielheit, zusammengesetzt aus Einheiten, deren jede die Zahl um 1 vermehrt, dazu verführt, auch umgekehrt jede Vielheit nach dem Muster einer solchen Zahl zu verstehen, als numerische Mannigfaltigkeit aus numerischen Einheiten mit der auszeichnenden Eigenschaft, die Anzahl einer endlichen Menge um 1 zu vergrößern. Man vergisst dann, auf die besonderen Bedingungen der Zählbarkeit zu achten, sowohl auf Mannigfaltigkeiten, die diese Bedingungen nicht erfüllen, als auch auf Sachen (im weitesten Sinn von Etwassen, sit venia verbo), die keine numerischen Einheiten sind, d. h. die Anzahl keiner Menge um 1 vergrößern. In diese Falle ist das abendländische Denken von den Alten geführt worden. Schon das scholastische, von Aristoteles erborgte Axiom »Jedes Seiende ist eines« (omne ens unum, ens et unum convertuntur) meint die im angegebenen Sinn numerische Einheit, die Einzelheit. Für zusätzliche Verwirrung sorgt die Unklarheit des dabei verwendeten Einheitsbegriffes. Wenn das Verständnis am unbestimmten Artikel (ein Soundso) abgelesen wird, ist Einheit die Bestimmtheit als Fall einer Gattung oder – was ebenso viel sagt – Besitzer einer Eigenschaft; damit ist noch nichts über numerische Einheit (Einzelheit) ausgemacht, auch nichts über Einheit im Gegensatz zu Vielheit. (Sand ist rieselfähig, Gold ist gelb, ohne Rücksicht auf den Unterschied von Einheit und Vielheit.) Schlimmer noch für die Verwirrung des Einheitsbegriffes, hatte Aristoteles, für die Scholastiker maßgeblich, Einheit als Ungeteiltheit oder Unteilbarkeit bestimmt und damit die synthetische oder die einfache Einheit ausgezeichnet, spezielle Einheitstypen, die für gleichen Umfang mit dem Seienden von vornherein nicht in Frage kommen, noch weniger als die numerische Einheit und die analytische des unbestimmten Artikels. Aristoteles selbst hat am meisten unter dieser Verwirrung zu leiden gehabt, weil er bei dem sein Philosophieren durchziehenden und prägenden Bemühen (12.1), den platonischen Elementarismus, der jede Bestimmtheit als einzelne ausgibt (11.8), zu überwinden, mit einem Fuß in der Falle des Elementarismus stecken bleibt, indem er jedes Seiende als ein Eines ausgibt und mit dem Ungeteilten-Unteilbaren (adihaireton) die numerische und die analytische Einheit vermengt. Er findet die Ursache der feinsten Fehlschlüsse darin, »dass wir alles von etwas Ausgesagte für ein Diesda halten und als ein Eines verstehen«, 7 und kann sich doch nicht davon lösen, jedes 7

Sophistici Elenchi 169a 33–35.

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Seiende für ein Seiendes zu halten, als sei es zusätzlich zu analytischer Einheit auch noch ungeteilt oder unteilbar und obendrein einzeln (fähig, die Anzahl einer endlichen Menge um 1 zu vergrößern). Demgemäß wird ihm Vielheit entweder zur numerischen oder zur bloß potentiellen, ins Nichtseiende herabgedrückten Vielheit (12.4). Was nicht einzeln oder nicht aus Einzelnem zusammengesetzt ist, kann Aristoteles nicht als Mannigfaltiges denken; die trächtige, binnendiffuse Bedeutsamkeit der Situationen entartet ihm zum bloßen indefiniten Stoff, mit der in 12.8 dargelegten Folge der konservativen Statik seiner politischen Philosophie. Diesen aristotelischen Zwiespalt zwischen antielementaristischem Bemühen und elementaristischem Rest des Denkens hat die Scholastik nach langem Zögern, unbekümmert um neue Aporien, mit Wilhelm von Ockham robust übersprungen, indem sie sich das Axiom des Singularismus zu eigen machte: Alles ist ohne weiteres einzeln. Dieses Axiom öffnet die Bahn für die Aktivierung des Potentials, das für Weltbemächtigung im Reduktionismus der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung steckt; denn die ausschließliche Zuwendung zu Merkmalen, die durch Identifizierbarkeit, Messbarkeit und selektive Variierbarkeit für Experiment und Statistik taugen, kann man, wenn alles ohne weiteres einzeln ist, zur Konstruktion eines Datennetzes nützen, das als Konstellation (Vernetzung einzelner Faktoren) dazu bestimmt ist, die ganze Welt einzufangen. Das ist das Ideal der modernen Naturwissenschaft als Einheitswissenschaft, und die davon in Bann geschlagenen Denker haben Ockhams Singularismus wie etwas Selbstverständliches und unbedenklich Vernünftiges übernommen. Auf die allem, was einzeln ist, zugrunde liegende binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen 8 kann man dann verzichten; der Projektionismus ersetzt sie durch ein vermeintlich nachträgliches Hineindeuten von Abspiegelungen individueller oder artgebundener Interessen in ein von sich aus bedeutungsloses Gegebenes. Es gibt wohl Grund zum Staunen darüber, dass die abendländische Philosophie so konsequent auf den Schienen dieser beiden ihr aus dem Altertum auferlegten Verkürzungen gefahren ist, obwohl noch am Rande der nachantiken Welt der Neuplatonismus Wege geVgl. Was ist Neue Phänomenologie? S. 112–156; vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 56–63; Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br./München 2005.

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funden hatte, sich sowohl der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (15.3) als auch (durch Entdeckung der instabilen oder ambivalenten Mannigfaltigkeit, 15.2.2) der Verkürzung des Mannigfaltigen auf den numerischen Typ zu entziehen. Noch erstaunlicher aber ist die Tatsache, dass die abendländischen Denker, die, solange sie Christen waren, die im Neuen Testament versammelten urchristlichen Texte so deutlich wie wenige andere vor Augen und im Sinn hatten, für die in diesen Texten zutage tretende Rückkehr hinter den Bruch mit dem archaischen Denken (9.1) vollständig taub geblieben sind. Um die Schärfe der Abwendung von den durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung ausgeschlossenen Massen unwillkürlicher Lebenserfahrung bei den nachantiken abendländischen Philosophen voll zu erfassen, ist es nötig, sie mit diesem für sie immer greifbaren Angebot solcher Massen im urchristlichen Denken zu konfrontieren. Deswegen beginne ich die Darstellung der nachantiken Philosophie mit einem Sprung mitten ins Altertum, zum Urchristentum.

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19. Das Urchristentum

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19.1 Der Leib im Bann der Mchte Im Römerbrief (R) schreibt Paulus 7, 20: »Wenn ich das tue, was ich nicht will, dann tue gar nicht ich das, sondern die Sünde, die in mir wohnt.« Er spricht wie Agamemnon in der Ilias 19, 85–94, der sich vor der Heeresversammlung für seine Übergriffe gegen Achilleus damit rechtfertigt, nicht er selbst habe schuldhaft gehandelt, sondern die Schuld persönlich, die Göttin Schuld, oder auch die ihr gleiche Erinys, die wilde Schuld in seine Phrenes geworfen habe. Mehr als eine Ausrede ist das wegen der Unzentriertheit und Unabgeschlossenheit, die für das Erleben der Figuren in der Ilias charakteristisch ist (1), und so erlebt auch Paulus: »Ich freue mich dem inneren Menschen nach an dem Gesetz Gottes, erblicke aber in meinen Gliedern ein anderes Gesetz, das gegen das Gesetz meines Geistes kämpft und mich im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist, versklavt.« (R 7, 22 f.) So ist auch R 7, 5 zu verstehen: »Als wir im Fleisch waren, wirkten in unseren Gliedern die Leidenschaften der Sünden.« Dieser Genetiv ist der subjektive: Die Sünden sind die Subjekte der Leidenschaften, mit denen sie in unseren Gliedern wirken. Wichtig ist es, hier zwischen dem Fleisch und den Gliedern zu unterscheiden. Die Glieder sind der Leib (1. Kor [Korintherbrief] 6, 15 und 12, 12), der im Fleisch als einer Atmosphäre ist, die mit flächenloser Räumlichkeit (gemäß vorstehender Überleitung) ihn umgibt, durchdringt und in ihren Bann zieht, in einer Weise, die den Christen zur Zeit des Paulus für den heiligen Geist, für den Frieden, für Gott und Christus ganz geläufig war, ebenso aber in anderen Zeiten und anderen Religionen (einschließlich der jüdischen) spontan und selbstverständlich als erfahrene Realität bezeugt wird, 9 wenn sie auch dem Näheres bei Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, 2. Aufl. 1995, S. 13–43 und 92–134.

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Das Urchristentum

durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung verbildeten modernen Menschen wunderlich vorkommen mag. Die Besessenheit vom Fleisch kann abgelöst werden durch die Besessenheit vom heiligen Geist oder Pneuma; 10 dann wird der Leib zum Tempel des heiligen Pneumas mit der Folge, dass der Mensch nicht mehr sein eigen ist, weil besessen vom heiligen Pneuma (1. Kor 6, 19). Das geht so weit, dass das Pneuma dem ratlosen Beter, der nicht die richtigen Worte findet, das Gebet abnimmt, indem es sich mit Lauten, die kein artikuliertes Sprechen, sondern ein Stöhnen oder Seufzen sind, aus der Tiefe – genauer: der leiblich gespürten Enge – des Herzens emporringt. 11 Dieses Gebet des heiligen Pneumas ist das Zungenreden, bei dem der Verstand (Nous) schweigt; ein Außenstehender kann einem solchen Gebet keinen Sinn abgewinnen, aber Paulus will sich in dieser Art des Betens ebenso wie im Gebet verständiger Rede üben (1. Kor 14, 14–16). Die Seele spielt dabei keine Rolle; nur in der Schlussparänese des 1. Thessalonikerbriefes (5, 23) kommt sie in einer Ermahnung an Geist, Seele und Körper vor, wobei sich Paulus dem in dieser griechischen Großstadt geläufigen Menschenbild anpasst. Sonst ist es immer der Leib, um den die ergreifenden Mächte des Fleisches und des Pneumas konkurrieren, indem sie den Ergriffenen leiblich in einen größeren Leib aufnehmen: Entweder wird er mit der Hure ein Leib sein oder mit dem Herrn ein Pneuma (1. Kor. 6, 16 f.) in der Weise, dass die Vielen ein einziger Leib in Christus sind (R 12, 5), dem Herrn, der das Pneuma ist (2. Kor. 3, 17). Obwohl die Hure im sinnlichen Korinth das Fleisch repräsentiert, ist dieses als atmosphärische Macht viel umfassender. Im Galaterbrief (Gal) ruft Paulus den Adressaten zu (3, 3): »Seid ihr so unverständig? Was ihr im Pneuma begonnen habt, wollt ihr im Fleisch vollenden?« Dieser Vorwurf hat nichts mit Sinnlichkeit zu tun, sondern zielt auf das Ritualgesetz. Wie Paulus Fleisch und Geist mit Inhalt füllt, zeigt seine Aufzählung ebenda 5, 19–22: Werke des Fleisches sind außer sinnlichen Ausschweifungen Götzendienst, Zauberei, Zwist, Gehässigkeit, missgünstiger Eifer, Zorn, Zank, Entzweiung, Spaltung nebst Saufgelagen und dergleichen; die

Ich spreche im Folgenden vom heiligen Pneuma (statt: Geist), um eine Verwirrung zwischen Pneuma und Nous (s. gleich 19.2) zu vermeiden. 11 R8, 26. Die griechischen Worte »stenagmoffl@ ⁄lalffitoi@« geben die leiblich gespürte Enge (sten@ = eng) und die Unfähigkeit zur Verbalisierung des Ausdrucks an. 10

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Der Leib im Bann der Mchte

Frucht des Pneumas dagegen ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Geradlinigkeit, Güte, Glaube, Milde, Selbstbeherrschung. Die Rede von Werken des Fleisches bei Paulus ist analog zu verstehen wie die Rede von Werken der Aphrodite bei Homer und Hesiod. 12 Aphrodite ist im griechischen Verständnis nicht nur eine göttliche Person, sondern auch eine Atmosphäre und leiblich ergreifende Macht (wie der Herr, der das Pneuma ist, nach 2. Kor. 3, 17), die Sphäre der Erotik, die Pindar meint, wenn er von einem jungen Mädchen sagt, es habe, von Apollon verführt, zuerst an die süße Aphrodite gerührt. 13 Werke sind die Wirkungen, die die Infektion mit einer solchen Atmosphäre bei dem Infizierten auslöst: Die Ablehnung sinnlicher Freuden und Genüsse in der Charakteristik des Fleisches ist zwar für die Gesinnung des Paulus bezeichnend, trägt aber nichts zur Gegenüberstellung von Fleisch und Pneuma in der Aufzählung im Galaterbrief bei; denn auf der Gegenseite, beim Pneuma, findet sich nichts Entsprechendes, wenn man nicht die Selbstbeherrschung auf Enthaltung von sinnlichen Genüssen einschränken will. Wenn man die Aufzählung als Gegenüberstellung versteht, kommt es vielmehr beim Pneuma auf Liebe, Friede, Güte, Langmut und Milde an, bei den Werken des Fleisches auf das Entgegengesetzte: Zwist, Zorn, gehässiger Eifer, Zank, Entzweiung und Spaltung. So verstanden, entspricht das paulinische Paar genau dem empedokleischen von Liebe und Streit (8.1), wie es im Fragment 17, Zeile 19–24 (Diels/Kranz) charakterisiert wird. Aphrodite, die Liebe, ist nach Empedokles überall zu sehen, wenn man mit offenen Augen in die Welt schaut; zugleich aber ist sie eingepflanzt den Gliedern der Sterblichen als die Macht, wodurch diese freundlich gesonnen sind und Werke der Eintracht vollbringen – die Frucht des Pneumas nach Paulus. Der Streit, »der verhasste«, wird von Empedokles auch als Groll (Kotos) bezeichnet, entsprechend den Affekten unter den Werken des Fleisches nach Paulus; sein Werk ist die Entzweiung, die die Elemente von einander scheidet. Weder bei Empedokles noch bei Paulus ist von einer Wirkung auf eine Seele die Rede, stattdessen aber von den Gliedern, in denen sich die ergreifende Macht wirksam festsetzt; das Medium, der Resonanzboden dieser Wirkung ist also der Leib. Die Entsprechung der Denkart bei Empedokles und Paulus, dem prominentesten literarischen Repräsentanten des Urchristentums, ist 12 13

Homer, Großer Aphroditehymnus Vers 21; Hesiod, Werke und Tage, Vers 521. 6. Olympische Ode Vers 35.

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Das Urchristentum

eine sogenannte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Beide stehen noch vor dem Bruch mit dem archaischen Denken (9.1), Empedokles gerade eben noch chronologisch, Paulus dagegen aus ethnischem Grund, weil die jüdische Tradition, aus der er stammt, noch nicht so stark von dem durch Demokrit und Platon angefachten griechischen Denken absorbiert war, dass ein Sprung zurück in die Denkart des Aischylos (2) und Empedokles, die ihm historisch vermutlich kaum bekannt waren, seinem Wesen fremd gewesen wäre. Dass Paulus mit dieser Denkart unter den frühen Christen nicht allein steht, zeigt mit drastischer Deutlichkeit der Hirt des Hermas, eine vermutlich um 150 in Rom (100 Jahre nach Paulus) entstandene Schrift, die zu ihrer Zeit und später (bis auf Luther hin) im Christentum sehr beliebt und einflussreich war, ja fast Eingang in den neutestamentarischen Kanon gefunden hätte. 14 Ein als Hirt erscheinender Engel gibt dem Hermas Anweisungen (Mandate) und trägt ihm Gleichnisse vor. Wie bei Paulus versteht sich der Mensch bei Hermas als Leib im Bann ergreifender Mächte. Gleichnis V 6, 4–7, 4: Der Mensch ist Fleisch, dem heiliges Pneuma eingegeben wird. Dieses Fleisch hielt das Pneuma rein in Christus, während Hermas aufpassen muss, sein Fleisch rein zu halten, damit er das in ihm wohnende heilige Pneuma nicht befleckt und so sein Fleisch – nicht die Seele, die kommt nicht vor – gerechtfertigt wird. Auch darf in seinem Herzen nicht der Gedanke aufsteigen, dass sein Fleisch vergänglich sei, denn dann würde er sich vor dessen Befleckung nicht mehr genug in Acht nehmen. (Statt einer Unsterblichkeit der Seele kennt Hermas also eine Unvergänglichkeit des Fleisches.) Fleisch und Pneuma haben solche Gemeinschaft, dass nicht eines befleckt werden kann, ohne das andere in Mitleidenschaft zu ziehen. Mandat VI 2, 1–9: Zwei Engel sind beim Menschen, der Engel der Gerechtigkeit und der Engel der Schlechtigkeit. Die Werke des Engels der Schlechtigkeit (Jähzorn, Bitterkeit, Vielgeschäftigkeit, sinnliche Begierden) stimmen mit den Werken des Fleisches nach Gal 5, 19–22 überein, und der Engel der Gerechtigkeit ähnelt mit seinen Eigenschaften und seiner Wirksamkeit der Frucht des Geistes ebd. Ein noch so schlechter Mensch, in dessen Herzen die Werke des Engels der Gerechtigkeit aufsteigen, muss unvermeidlich etwas Gutes tun, und umgekehrt Der Hirt des Hermas, übersetzt und erklärt von Norbert Brox, Göttingen 1991 (Kommentar zu den apostolischen Vätern Band 7), S. 55–71. Griechischer Text: Hermae Pastor, recensuerunt O. Gebhardt et A. Harnack, Leipzig 1877.

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Der Leib im Bann der Mchte

muss ein noch so gläubiger Mensch auf Eingebung des Engels der Schlechtigkeit in sein Herz hin eine Sünde begehen. Die ergreifenden Atmosphären des Paulus treiben als Engel des Hermas ihr Spiel mit dem als Herz leiblich verstandenen Menschen. Dieser ist trotzdem nicht so hilflos, dass es keinen Zweck mehr hätte, an sein Zutun zu appellieren, wie in folgender Warnung vor der Trauer (Mandat X 2, 5.6): »Hebe von dir die Trauer weg und presse nicht das heilige Pneuma, das in dir wohnt, damit es nicht […] von dir Abstand nimmt. Das Pneuma Gottes, das in dieses Fleisch gegeben ist, erträgt nicht solche Trauer und Einengung.« Engung und Weitung, in einander verschränkt, bilden den vitalen Antrieb, die Achse der Dynamik des spürbaren Leibes. 15 Das Übermaß der Engung in der Trauer ist dem heiligen Pneuma nach Hermas unerträglich. Es ist zu zart dafür, wie folgende Auslassung über den Jähzorn zeigt, Mandat V 2, 1–7: Er trifft nur die Zwiespältigen und wirft sich in deren Herz; bei nichtigen Anlässen erbittern sich dann Mann oder Frau, z. B. über das Essen oder kleinliches Gerede oder wegen eines Freundes oder über Geben und Nehmen. Das Gegenteil, die Langmut, ist dagegen ausdauernd, fest, und entfaltet sich in große Breite, heiter, sorglos, ohne Schärfe, immer sanft und ruhig. (Unbeklommene leibliche Weitung macht den Menschen für hebende Erregungen empfänglich, wie Trauer ihn in die Enge treibt.) Der Jähzorn aber ist unstet: Aus Torheit wird Bitterkeit, daraus Erbosung, weiter Zorn, aus diesem Groll, eine große, unheilbare Sünde. Wenn diese Pneumata in einem Gefäß mit dem heiligen Pneuma wohnen, gibt das Gefäß nicht Raum, sondern läuft über. Das zart empfindliche Pneuma, das weder mit schlechtem Pneuma noch mit Schroffheit zu wohnen gewohnt ist, weicht von einem solchen Menschen und sucht mit Sanftheit und Ruhe zu wohnen. Er, der Mensch, wird stattdessen von schlechten Pneumen erfüllt, unter deren Einfluss er schwankt, hierhin und dorthin getrieben. (Eine so fein dem wirklichen Leben sich anpassende Schilderung ohne Verstiegenheit und überspitzte Abstraktionen hat etwas Erfrischendes. Die leibliche Basis der Ergriffenheit durch Atmosphären des Gefühls und der Auswirkungen ihres Ergreifens wird deutlich.) Hermas gebraucht ein drastisches Bild für den Kampf der Gefühle um das Fleisch, den Leib: Sie vertreiben einander und entwei15 Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 24–34: Der Leib.

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chen, wie wenn ein Gefäß überläuft. Jähzorn und Langmut, Trauer und heiliges Pneuma verhalten sich dabei wie Angst und gelehrige Kühnheit als Vorsteherinnen des Herzens nach Aischylos Agamemnon Vers 975–984 (2) vor dem Bruch mit dem archaischen Denken (9.1). Ebenso ist im ersten Brief des Johannes (1. Joh.) die Stelle 4, 18 zu verstehen: »Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.« Es handelt sich nicht darum, dass ein liebender Mensch der Furcht Herr wird, sondern die Gefühle Liebe und Furcht tragen ihren Kampf unter sich aus. In derselben Weise ist Gott die Liebe, die in uns vollendet ist, wenn wir einander lieben (1. Joh. 4, 8.12). Dass wir einander lieben, besteht demnach darin, dass die Liebe, die Gott ist, von uns Besitz ergreift. In diesem Sinn schreibt Johannes: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« (1. Joh. 4, 16) Das ist gemeint wie von Paulus R 8, 9: »Ihr seid nicht im Fleisch, sondern im Pneuma, sofern Gottes Pneuma in euch wohnt.« Die Liebe, die Gott ist, ist wie das Pneuma Gottes eine im flächenlosen und daher auch ortlosen Raum der Gefühle wie das Wetter ergossene Atmosphäre, die den Menschen umgibt und durchdringend besetzt.

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19.2 Der christliche Wartestand Im Römerbrief geht Paulus von der Übertrumpfung der Sünde durch die Gnade aus: Je mehr Sünde, desto mehr Gnade. Man könnte auf den Gedanken kommen, in der Sünde zu beharren, um desto mehr Gnade hervorzulocken (5, 20–6, 1). Das lehnt Paulus energisch ab, weil die Gnade für ihn ein leibliches Ereignis ist: Die Gnade besteht darin, dass unser alter Mensch mit Christus gekreuzigt und dadurch der Leib der Sünde entkräftet ist; wir sind ihr abgestorben für ein neues Leben, in dem wir mit der Auferstehung Christi so verwachsen sein werden, wie durch das leibliche Vergehen der Sünde mit seinem Tod (6, 2–9). Diese Leiblichkeit der Gnade begründet die Unentbehrlichkeit der Auferstehung Christi für uns, weil unsere leibliche Verwandlung an diese gebunden ist: Wenn Christus nicht auferstanden ist, ist unser Glaube eitel (1. Kor. 15, 14). Diese Verwandlung ist zugleich die Rechtfertigung durch Befreiung vom Gesetz, das mit seinen (inhaltlich untadeligen) Verboten die Sünde erst weckt (R 6, 20; 7, 1–8). Mit dieser Befreiung ist aber das Ziel der Erlösung noch nicht erreicht, sondern erst ein Zwischenzustand, in dem der Ergriffenheit durch Christus das eigene Ergreifen noch nicht gewachsen ist (Phi28

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Der christliche Wartestand

lipperbrief 3, 12 f.). Man kann sich das am Handschlag klar machen: Solange der zugreifenden Hand nicht der Gegengriff genau entspricht, ist die Schließung beider Hände als Geste der Übereinkunft noch nicht gelungen. In diesem Zwischenzustand entsteht für Paulus ein peinlicher Zwiespalt: Er tut nicht, was er will, das Gute, sondern das, was die in ihm, d. h. in seinem Fleisch, wohnende Sünde bewirkt. Freudig stimmt er dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen zu, aber ein anderes Gesetz sieht er in seinen Gliedern, das gegen das Gesetz seines Geistes (Nous) streitet und ihn unter dem Gesetz der Sünde in seinen Gliedern versklavt. Mit dem Nous dient er dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde, so dass er verzweifelt ausruft: »Ich Elender! Wer wird mich retten aus dem Leib dieses Todes?« (R 7, 17–24) Das könnte als Zuspitzung des platonischen Dualismus verstanden werden, im Sinne der Schelte auf den Körper mit seinen Begierden, die Sokrates im Phaidon (63b.c) den echten Philosophen in den Mund legt. Der große Unterschied zwischen Paulus und Platon bei der Bestimmung des Verhältnisses von Körper/ Leib zu Seele/Geist besteht aber darin, dass bei Platon – wenn auch nicht immer, besonders in rhetorischen Ausmalungen, ganz konsequent – die unwillkürlichen Regungen der Seele introjiziert sind. Der innere Mensch Platons, anders als der innere Mensch aus R 7, 22, ist die Seele, in der unter der Regie der Vernunft die unwillkürlichen Regungen in den beiden Ordnungen der aggressiven und sinnlichen Begierden zusammengefasst sind (Staat 588b–e), wobei die Vernunft die aggressiven Regungen zur Bewachung der sinnlichen in ihren Dienst stellt (Staat 442a.b). Der Nous, der innere Mensch, des Paulus ist dagegen Partei in seinem Erleben, in quälendem Konflikt mit der anderen Partei in ihm, d. h. seinem Fleisch (R 7, 18). Weil die Introjektion nicht vollzogen ist, gibt es auch keine Chance für Machtergreifung der vernünftigen Person als Herr im eigenen Haus (der Seele), sondern nur Hoffnung auf Erlösung durch die von Christus vermittelte Gnade: Wenn Gottes Pneuma in den Gläubigen wohnt, wird Gott ihre sterblichen Leiber durch dieses Pneuma lebendig machen (R 8, 11). Der Nous, der innere Mensch, bleibt hilflos und trägt zur gnadenhaften Verwandlung durch Sterben und Wiederauferstehen mit Christus nichts aus den Worten des Paulus Ersichtliches bei. Unter dieser Voraussetzung ist die paulinische Konzeption der Begnadung oder Verwerfung der Menschen ohne Rücksicht auf ihr gutes oder böses Tun (R 9, 10–13; 11, 5–7) verständlich: Was dem Leibe 29

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widerfährt, ist wie Gesundheit und Krankheit nicht in der Hand des Menschen, sondern widerfährt ihm als oft unverdientes Schicksal. Ebenso verliert eine andere Spekulation des Paulus ihre Befremdlichkeit, wenn man den Leib als Stätte der von ihm anvisierten Erlösung erkennt, nämlich deren Erstreckung auf die Kreatur, d. h. wohl die Tiere (R 8, 20–23); denn auch diese sind leiblich und können sich daher ebenso nach einer Gotteskindschaft sehnen, die in der Erlösung oder Loskaufung des Leibes (8, 23) besteht. Eine zentrale These des Paulus mit besonders starker geschichtlicher Fernwirkung besagt, dass der Mensch gerecht wird durch den Glauben (Pistis) ohne Werke des Gesetzes (R q3, 28). Diese Pistis ist kein geistiger, gedanklicher Vollzug, sondern besteht in leiblicher Besessenheit vom Pneuma. Das ergibt sich aus der leidenschaftlichen Verteidigung der These im Galaterbrief. Dass wir Kinder Gottes und daher frei, nicht Sklaven des Gesetzes, sind, erfahren wir daraus, dass das von Gott in unsere Herzen gegebene Pneuma »Vater!« ruft (Gal 4, 6.7). An die Stelle der Rechtfertigung aus dem Gesetz tritt die Hoffnung der Gerechtigkeit durch das Pneuma aus dem Glauben, der in der Liebe aktiv wird (Gal 5, 4–6). Dadurch sind die Christen zur Freiheit berufen, die an die Stelle des Gesetzes das jedes Gesetz erfüllende christliche Liebesgebot setzt (Gal 5, 1. 13 f.). Diese Freiheit ist das Pneuma des Herrn, der selbst das Pneuma ist (2. Kor. 3, 17). Die Besessenheit durch das Pneuma ist daher auch Besessenheit durch Christus, die bei Paulus so weit geht, dass er, mit Christus zusammen gekreuzigt, nicht mehr als er selbst lebt, sondern in ihm lebt Christus, und dieses von Christus besessene Leben ist das Leben des Paulus im Fleisch (hier im Sinne seines Körpers) als im Glauben (Gal 2, 20). Der Glaube ist also eine Besessenheit des fleischlichen, leiblichen Lebens der Person von dem Herrn Christus, der das Pneuma ist, das uns befreit, indem es uns durch sein Aufschreien aus der Enge des Herzens die Kunde bringt, dass wir Kinder Gottes und also Freie sind (R 9, 8; Gal 4, 31). Der Enge des Herzens, aus der der befreiende Schrei des Pneumas hervorbricht,11 entspricht die Weite des befreiten Herzens, das Paulus den Korinthern mit der Aufforderung öffnet, sich nicht in die Enge ihrer Eingeweide zurückzuziehen (2. Kor. 6, 11.12); die Befreiung durch das Pneuma ereignet sich also im vitalen Antrieb aus Engung und Weitung,15 auf der Achse leiblicher Dynamik. In 1. Kor 15 – entsprechend 1. Thessaloniker 4, 13–5, 5 – kündigt Paulus eine mysteriöse Verwandlung der Gläubigen an: In einem 30

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Der christliche Wartestand

unvorhersehbaren, aber nahen Augenblick, beim Erschallen der Posaune des jüngsten Gerichtes, werden alle (einschließlich der schon Gestorbenen, die dann zum Leben zurückerweckt werden) leiblich für den Übergang in die Ewigkeit bei Gott verwandelt werden, indem aus dem psychischen 16 Leib des gewöhnlichen irdischen Lebens ein pneumatischer, unvergänglicher wird, denn »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben« (1. Kor. 15, 50). Das klingt nach bevorstehender Abstreifung vom Fleisch und Blut, so wie nach Platons Dualismus die Seele im Tod den Körper verlässt, nur dass an die Stelle des individuellen Todes der Posaunenschall des Jüngsten Gerichtes tritt. Dass Paulus es nicht so meint, zeigt seine Metapher der Überkleidung (2. Kor. 5, 1–4): Wenn unsere irdische Wohnung, eine bloße Hütte, zerstört wird, wartet auf uns die ewige Wohnung im Himmel. Im Verlangen, in sie einzugehen, seufzen wir bedrückt, damit wir, mit ihr bekleidet, nicht nackt befunden werden, »denn wir wollen nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, damit das Sterbliche vom Leben hinuntergetrunken wird.« Beim Totengericht werden die Seelen nach Platons Gorgias 533e nackt, d. h. entblößt von ihren Körpern, und von ebenso nackten, körperlosen Richtern gerichtet. Das ist das Gegenteil des paulinischen Überkleidungsideals: In der Verwandlung soll das Fleisch und Blut, das für sich allein das Reich Gottes nicht erben kann, keineswegs abgeworfen, sondern pneumatisch überformt und dadurch das Sterbliche vom Leben geschluckt werden. Die Überkleidung ist sogar schon eingetreten: »Ihr, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen (wie ein Kleid). Da ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier; alle seid ihr nämlich Einer in Jesus Christus.« (Gal 3, 27.28) Christus, der Herr, ist selbst das Pneuma (2. Kor 3, 17 f.); das Anziehen Christi ist also schon die pneumatische Überformung. Daher kann Paulus die Gläubigen belehren: »Wisst ihr nicht, dass euer Körper Tempel des heiligen Pneumas ist, das ihr von Gott habt, und ihr euch nicht selbst gehört?« (1. Kor 6, 19) Indem das Pneuma sich in dem Fleisch und Blut, die Gottes Reich nicht erben können, als seinen Tempel niederlässt, wird der Mensch enteignet, das Sterbliche vom Leben geschluckt, leibliche Einheit der Gläubigen in Christus gestiftet. Das ist der Übergang vom Fleisch zum Pneuma: »Ihr seid nicht im Fleisch, sondern im Pneuma, wenn Gottes Pneuma in euch wohnt.« 16 Psychisch von »Psyche«, das wie meist bei Paulus im Sinn von »Leben« zu verstehen ist. Der psychische Leib ist also der im Alltagssinn lebendige.

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(R 8, 9) Dieser Übergang ist aber noch nicht abgeschlossen; wir alle sind einer Umformung unterworfen (2. Kor 3, 18), die sich im Mitsterben mit Christus vollzieht: »Immer tragen wir Jesu Sterben in unserem Leibe herum, damit Jesu Leben in unserem Leib offenbar werde. Immer nämlich werden wir, die Lebenden, um Jesu willen in den Tod gegeben, damit Jesu Leben in unserem sterblichen Leib offenbar werde.« (2. Kor 4, 10.11) Unser Ringen um das Leben, von dem das Sterbliche in der pneumatischen Überkleidung geschluckt wird, ist also ein Ringen um Offenbarung, die das Schauen der Herrlichkeit des Herrn im Spiegel (2. Kor. 3, 18) durch ein Schauen von Angesicht zu Angesicht (1. Kor 13, 12) ersetzt. Erst diese Offenbarung realisiert den Vollsinn der Gotteskindschaft und damit der Erlösung wie im 1. Johannesbrief 3, 2: »Wir sind Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wir, wenn es offenbar wird, ihm gleich sein werden, weil wir ihn sehen werden, wie er ist.« Das ewige Leben wird nach Paulus nicht durch Abschütteln von Fleisch und Blut erreicht, sondern durch Abschütteln des Todes, dessen Stachel die Sünde ist, deren Kraft das Gesetz ist (1. Kor 15, 53–56).

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19.3 Nuancen In den synoptischen Evangelien finde ich nur wenige anthropologisch belangvolle Hinweise, und zwar im Sondergut 17 des Matthaeus und Lukas. Bei Matthaeus kommt zweimal an Stellen, wo »vucffi« nicht Leben bedeuten kann, die Seele in dem seit Demokrit und Platon eingeschliffenen Sinn vor (10, 28 und 16, 26). Origineller ist Lukas 12, 19 f.: Ein Reicher will zu seiner Seele sprechen: »Seele, du hast viele Güter daliegen auf viele Jahre, ruh dich aus, iss, trink und sei guter Dinge.« Darauf fährt Gott ihn an: »Tor, in dieser Nacht werden sie deine Seele von dir fordern; wem wird bleiben, was du gesammelt hast?« Diese Seele ist nicht der geschlossene Sammelplatz alles Erlebens der Person, sondern deren Gesprächspartner und der Vermittler aller ihrer Genüsse und der zugehörigen Aktionen wie Essen und Trinken; wenn sie dem Reichen genommen wird, ist niemand mehr da, der ihn damit bedienen könnte, wobei offen bleibt, ob Sondergut: Texte, die sich nicht auf das Marcusevangelium oder die erschlossene Quellenschrift Q zurückführen lassen.

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er selbst übrig bliebe. Diese Darstellung erinnert an die Stellen bei Sophokles, wo jemand seine Seele anspricht oder diese zu ihm spricht (2) 18 sowie an Heraklits fr. 85 (4.3), wonach der Thymós, der Impulsgeber der Person, deren Seele gegen das, was immer er möchte, verkauft. Der Psychologismus und die Introjektion sind nicht vollständig durchgeführt. Ein gewichtiger Unterschied zwischen Paulus und Johannes betrifft die Integration der Gemeinde. Paulus versteht sie als leibliche Verschmelzung der Gläubigen zur Einheit in Christus, wobei die Einzelnen ihre je besondere Funktion behalten, entsprechend dem Zusammenwirken der vielen Glieder in einem Körper; 19 solche leibliche Verschmelzung gibt es auch im sexuellen Verhältnis zur Hure (1. Kor 6, 16). Man kann an zuständliche leibliche Kommunikation durch einseitige Einleibung in Christus4 denken, 20 wodurch eine spontane Zusammengehörigkeit entsteht, wie bei der einseitigen Einleibung von Gruppen versprengter Russen in die Heimat. 21 Bei Johannes kommt solche leibliche Integration nicht vor; an ihre Stelle tritt die mehrstufige reziproke Immanenz in der Weise, dass erstens Jesus und sein göttlicher Vater in einander sind und zudem ebenso Jesus in den Gläubigen ist und er in ihnen ist. 22 Im ersten Johannesbrief wird die Integration durch reziproke Immanenz 23 als Liebe konkretiAntigone 227, Trachinierinnen 1260. R 12, 4–5, breit ausgeführt 1. Kor 12, schwülstiger formuliert im pseudo-paulinischen Epheserbrief 4, 15–16. 20 Sicher nicht an grob körperliches »Teilhaben am Leibe Christi« (Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1956, S. 118) in der Weise, dass alle Gemeindemitglieder in dem Körper des Gekreuzigten darinstecken, wie Ernst Percy meint: »Dieser mit der Gemeinde identische Leib Christi ist deshalb im Grunde kein anderer als jener, der am Kreuze starb und am dritten Tage auferstand.« (Ernst Percy, Der Leib Christi in den paulinischen Homologoumena und Antilegomena, Acta Universitatis Lundensis N.F. Band 38, 1942, S. 44). 21 »Etwas Eigenartiges waren die Heimwehwellen. So berichtete uns ein russisch sprechender Leiter, wie an manchen Abenden die Leute auf einmal aufstanden, ohne dass äußerlich etwas zu merken gewesen wäre, stumm in ihre Zimmer gingen und dort sich traurig nach der Heimat sehnten. Einige Stunden später oder am nächsten Tage war dieses stumme, kollektive Gefühl wieder vorbei. Der Leiter sagte dann: ›Ich habe nie begriffen, wie das kommen konnte, dass auf einmal alle zusammen vom gleichen Empfinden ergriffen wurden!‹« (Maria Pfister-Ammende, Psychologische Erfahrungen mit sowjetrussischen Flüchtlingen in der Schweiz, in: Die Psychohygiene, Grundlagen und Ziele, hg. v. Maria Pfister-Ammende, Bern 1949, S. 253). 22 Johannes-Evangelium 6, 56; 10, 38; 14, 20; 15, 4–5; 17, 21–23. 23 1. Joh. 3, 24; 4, 13.15. 18

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siert: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.« (4, 16) Für die Neuplatoniker ist die reziproke Immanenz – z. B. als Umgreifung der Teilgeister durch den Gesamtgeist und umgekehrt (Plotin VI 2 [43] 20, 17 f.) oder als Sein des Geliebten im Liebhaber und des Liebhabers im Geliebten (Proklos In Alcibiadem priorem commentaria ed. Westerink 172, 6–11) – ein Ausdruck der nicht-numerischen Mannigfaltigkeit inniger Integration (15.2; 16.3). Die durch keine Übertragung vermittelte Übereinstimmung zwischen Johannes und den heidnischen Neuplatonikern im Motiv der reziproken Immanenz ermöglicht die johanneisch-neuplatonische Synthese im ostkirchlichen Christentum seit Maximus Confessor mit prägender Wirkung auf Scotus Eriugena (18.1). Bei Paulus kommt das In-sein häufig in beiden Richtungen vor, als Sein in Christus oder im Pneuma und als deren Sein in uns, aber in der Verschlingung, wenn ich nichts übersehen habe, nur R 8, 9: »Ihr seid nicht im Fleisch, sondern im Pneuma, wofern Gottes Pneuma in euch wohnt.« Hier handelt es sich aber nicht um eine Verschlingung des Inseins von Personen zum wechselseitigen Ineinandersein, sondern um die schlichtere und leichter vollziehbare Vorstellung, dass eine Atmosphäre (wie das Wetter) den Ergriffenen zugleich umgibt und durchdringt. Der Antipode des Paulus in der urchristlichen Anthropologie ist der Verfasser des pseudepigraphischen 24 Jacobusbriefes, der sich nicht nur mit der Ablehnung der paulinischen Rechtfertigungslehre zugunsten einer Werkgerechtigkeit (2, 14–26) von Paulus distanziert. Man könnte meinen, einen Plato redivivus vor sich zu haben, der gegen die von der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung noch unberührte Anthropologie des Paulus antritt. An das platonische Wagenlenkergleichnis (Phaidros 253c–254e) erinnert die Gedankenführung 3, 2–10: Der vollkommene Mensch, dessen Rede untadelig ist, kann seinen ganzen Körper am Zügel führen wie ein gehorsames Pferd; indessen wird zwar die gesamte Tierwelt zu Land, in der Luft und im Wasser von der menschlichen Natur gebändigt, aber niemand kann seine unruhige Zunge bändigen, die Verderben bringendes Gift ausspeit, wenn sie Nach Udo Schnelle, Einführung in das Neue Testament, Göttingen 1994 wurde der Jacobusbrief nicht von einem der aus der urchristlichen Überlieferung bekannten Träger des Namens, sondern von einem Anonymus gegen Ende des 1. Jahrhunderts verfasst (S. 438–444).

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zum Fluchen missbraucht wird, neben dem guten Gebrauch zum Lobe Gottes. Platons Anthropologie wird bestimmt von der Introjektion der unwillkürlichen Regungen in die Seele des Individuums im Interesse einer Selbstermächtigung, die in der Herrschaft der Vernunft (des Wagenlenkers der Seele) über die unwillkürlichen Regungen besteht, die Platon in zwei Schichten anordnet: Die Schicht der aggressiven Regungen dient als Gehilfe der Vernunft zur Bändigung der sinnlichen Regungen in der untersten Schicht (19.2). Beide Schichten berücksichtigt auch Pseudo-Jacobus in Gestalt bezeichnender Vertreter: Das platonische Thymoeidés (mittlere Schicht) vertritt der Zorn, der Gottes Gerechtigkeit nicht erwirkt (1, 20) und sich in giftigen Flüchen der Zunge entlädt. Das platonische Epithymetikón (unterste Schicht) wird bei Pseudo-Jacobus durch die in unseren Gliedern kämpfenden Lüste (4, 1) und die eigenen Begierden, von denen jeder versucht wird (1, 14), vertreten. Zu dieser Deutung der Anfechtbarkeit des Christen kann man Paulus R 7, 5 vergleichen: Die Leidenschaften der Sünden wirken in unseren Gliedern darauf hin, dem Tode Frucht zu bringen; »der Sünden« ist subjektiver Genetiv, die Sünden toben sich in unseren Gliedern selbstherrlich aus (19.1). Pseudo-Jacobus hält eine solche Hemmung für überwindbar durch den Menschen selbst: Der vollkommene Mann beherrscht seinen gesamten Körper, und mit solchem Verhalten kann der Mensch sogar die transzendenten Mächte dirigieren: »Widersteht dem Teufel, und er wird euch fliehen; naht euch Gott, und er wird sich euch nahen.« (4, 7 f.) Der Abstand zu Paulus könnte nicht größer sein. Die Selbstbemächtigung, die von Pseudo-Jacobus mit der kühnen Erfolgsmeldung von der Bändigung der gesamten Tierwelt durch die menschliche Natur sogar auf ein großes Stück Weltbemächtigung ausgedehnt wird, ist das ihm mit Platon gemeinsame Interesse, dessen allerdings nur lückenhafte Befriedigung beide Autoren an einem rebellischen Körperteil vorführen: Platon am männlichen Geschlechtsteil (Timaios 91b), Pseudo-Jacobus an der Zunge. Der pessimistischen Diagnose, dass kein Mensch sie zähmen kann (3, 8), widerspricht die Behauptung der Fähigkeit des vollkommenen Mannes, seinen ganzen Körper am Zügel zu führen (3, 2). Der Machtanspruch des Selbstbemächtigungsideals tritt mit der Einsicht in dessen unzulängliche Durchsetzbarkeit in einen Gegensatz, der zu Augustinus hinüberführt.

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20. Augustinus

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20.1 Beherrschen, Bentzen und Genießen Der Verfasser des Jacobusbriefes bringt in die christliche Frömmigkeit ein neues Motiv ein: das Ideal des vollkommenen Menschen, der seinen Körper ganz und gar beherrscht, wobei allerdings ein bei allen Menschen rebellisches Glied hinderlich ist (19.3). Für Jacobus ist es die Zunge; Augustinus 25 stimmt mit Platon (Timaios 91b) darin überein, das widersetzliche Glied mit dem männlichen Geschlechtsteil zu identifizieren. Während aber Platon und Jacobus den Ungehorsam nur als unbezähmbare Überaktivität des Gliedes verstehen, richtet sich der Protest Augustins nach beiden Seiten des Zuviel und des Zuwenig: Die vernünftige Seele empfindet eine natürliche Scham darüber, dass sich die Geschlechtsteile, die eben deshalb Schamteile heißen, dank unbegreiflicher Schwäche der Seele der ihr über den Körper zustehenden Herrschaft entziehen, indem sie sich bewegen, wenn sie nicht will, aber auch nicht bewegen, wenn sie will. 26 Ohne die Entehrung der menschlichen Natur durch Adams Sünde im Paradies wäre ein solches Versagen ausgeschlossen gewesen: Das Geschlechtsteil hätte zum Zweck der Zeugung dem Willen ebenso gehorcht, wie die Hand zum Arbeiten, die Zunge zum SpreIch benütze für Augustinus mit wenigen Ausnahmen die Ausgabe: Sancti Aurelii Augustini Hipponensis episcopi Opera omnia (…) opera et studio monachorum ordinis sancti Benedicti e congregatione S. Mauri, editio Parisina altera, Paris 1835–1839. Angesichts der Vielzahl neuerer Teilausgaben zitiere ich nicht nach Bänden und Spalten dieser Ausgabe, sondern in der üblichen Weise nach Schriften, ev. Büchern, und Kapiteln. Für viele Schriften gibt es eine gröbere und eine feinere Kapiteleinteilung; in diesen Fällen gebe ich, abweichend von dem sonst üblichen Verfahren, in arabischen Ziffern erst die Kennzahl der feineren Einteilung und dann in Klammern die der gröberen an. Nach dem Schriftentitel (bei Briefen und Predigten nur ausnahmsweise) notiere ich in Klammern die Entstehungszeit gemäß der Liste in: Kurt Flasch, Augustinus. Einführung in sein Denken, Stuttgart (Reclam) 1980, S. 466–471. 26 De peccatorum meritis et remissione (411/12) l. II, 36 (32). 25

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Beherrschen, Bentzen und Genießen

chen. 27 Augustinus, der die geschlechtliche Begierde so verabscheut, dass er sie zum Überträger der heilsverderblichen Erbsünde im Zeugungsakt macht, 28 ist sogar bereit, dem noch nicht gefallenen Adam die geschlechtliche Wollust bei der Zeugung zu gönnen, sofern nur, anders als bei uns, das Geschlechtsteil auf den Wink des Willens hin prompt in Aktion getreten wäre. 29 Das wird verständlich durch seine Angabe des Grundes der Beschämung: Nicht einmal über seinen Körper, hier das Geschlechtsteil, hat der Geist völlige Befehlsgewalt; minder beschämend wäre es für ihn, von Leidenschaften nichtgeschlechtlicher Art besiegt zu werden, weil er dann sich selbst und nicht dem Körper unterliegt. 30 Die Niederlage gegen den Körper, der nicht gehorchen will, fällt schwerer ins Gewicht, weil sie den Anspruch der Seele auf Überlegenheit demütigt; eine noch so minderwertige Seele hat immer noch höheren Rang als der herrlichste Körper. 31 Dem Rang entspricht die Herrschaftsordnung: Gerechtigkeit auf Erden besteht darin, dass Gott dem Menschen, der Geist dem Körper und die Vernunft den Fehlern befiehlt; lediglich der dritte Befehlsstrang entfällt im Jenseits, weil die Seligen dann sowieso keine Fehler mehr machen. 32 Neu ist hier die im modernen Sinn technische Einstellung des Menschen zu seinem Körper, die diesen wie eine Maschine, die reibungslos funktioniert, der Botmäßigkeit des Geistes unterstellen will. Die Herabsetzung des Menschenkörpers gegen die Seele ist schon platonisch, 33 aber Platons Vorwürfe gegen ihn betreffen die Behinderung und Verwirrung, wodurch die Seele von Seiten des Körpers an dem ihr gemäßen idealen Aufschwung gehindert wird. 34 Den Mangel der Einkörperung darin zu sehen, dass der Körper als schlecht funktionierende Maschine den Befehlen des Geistes oder der Seele nicht völlig gehorcht und ihnen namentlich auf dem empfindlichen Gebiet des Geschlechtslebens peinliche Niederlagen bereitet, ist ein unplatonisches, vielleicht unheidnisches Motiv, womit Augustinus dem modernen Anspruch technischer VerDe gratia Christi et peccato originali (418) l. II, 40 (35). Contra Julianum (421) l. V, 54 (15). 29 Ebd. L. IV, 57 (11) und 68 (14). 30 De civitate Dei (413–426) l. XIV, 23, 2. 31 Enarrationes in Psalmos 145, 3. 32 De civitate Dei l. XX, 22. 33 Staat 611b.c: Die Seele wird geschändet durch die Gemeinschaft mit dem Körper, einem Übel unter anderen für sie. 34 Phaidon 64a–67a. 27 28

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fügbarkeit der Natur, einschließlich des eigenen Körpers des Befehlshabers, vorarbeitet; der Cartesianismus und dessen Umstülpung durch La Mettrie (L’homme machine) deutet sich an. Aus dem Pochen auf Überlegenheit im Rang macht Augustinus seine Richtschnur für das Verhalten zu den irdischen Dingen, so sehr sie auch von Gott geschaffen seien: Die Weisheit des Predigers Salomo, dass alles eitel ist, hält er den Menschen vor, für die alles eitel wird, weil sie sich diesen Dingen unterwerfen, die ihnen nach Gottes Gesetz unterworfen sind; nach dem Alten und dem Neuen Testament dürfe man nichts von den sterblichen und verfließenden Dingen lieben, sondern habe sie nur für die Notdurft des Lebens zu benützen, mit Zurückhaltung, ohne liebevollen Affekt. 35 Nur Gott ist zu lieben; diese ganze Welt mit allem, was es darin an Sinnendingen gibt, ist zu verachten, aber für die Notdurft dieses Lebens zu benützen. 36 Augustinus verfestigt diese Maxime terminologisch durch die Gegenüberstellung von Genießen (frui) und Benützen (uti): Wir genießen und dürfen nur genießen, was wir um seiner selbst willen lieben, weil es uns glücklich macht; alles andere ist bloß zu benützen. 37 Notwendig und zureichend für Glück ist der Genuss der Gegenwart des für den Menschen Besten, nämlich Gottes. 38 Gemeinsam haben Benützen und Genießen, ihren Gegenstand in den Willen aufzunehmen; die Auszeichnung des Genießens besteht darin, dass es mit Lust (voluptas) und Freude (gaudium) geschieht. 39 Menschliche Verderbnis (perversitas) besteht in der Verwechslung der für Benützen und Genießen passenden Gegenstände, alle Tugend im Vermeiden solcher Verwechslung, d. h. im Reservieren des Genießens für das erstrebte Sein bei Gott; in diesem Sinn ist alles Geschaffene für die Benützung durch den Menschen und seine richtig geordnete Vernunft da. 40 Gern verwendet Augustinus die aus einer missverstandenen und obendrein bei der Übersetzung in das Vulgata-Latein verstümmelten Paulusstelle (1. Kor 7, 31) übernommene Aufforderung, alle Dinge dieser Welt, auch wenn sie an sich gut sind, zu benützen, als ob man sie nicht benützte, d. h.: sie lieblos zu benützen, weil sie anders nicht gut De moribus catholicae ecclesiae (388/89, vermutlich später umgearbeitet) 39 (21). Ebd. 37 (20). 37 De doctrina christiana (396/97) I 34 (35). 38 De moribus catholicae ecclesiae 4 (3) und 18 (11). 39 De diversis quaestionibus octoginta tribus (396) 35 (30); De trinitate (399–419) IX 13 (7). 40 De diversis quaestionibus octoginta tribus quaestio XXX (35 f.). 35 36

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benützt würden. 41 Ein Beispiel für die Verfehlung gegen diese Richtschnur gibt der liebevolle Ehemann, der seiner Frau um ihrer selbst willen mit Dingen dieser Welt eine Freude machen will (z. B., wie ich das Beispiel ausführe, indem er ihr mit liebevollem Eifer einen Blumenstrauß überreicht); er gehört für Augustinus zu denen, die nach Paulus (1. Kor 3, 11–15) auf Christus wie auf Holz, Stoppeln und Heu gebaut haben; ihrer wartet nach dem Tode das Fegefeuer, und zwar mit umso längerer Dauer, je mehr sie auf vergängliche Güter gebaut haben. 42 Merkwürdigerweise scheint Augustinus nie bemerkt zu haben, dass nach diesen Grundsätzen auch Gott vom Menschen nur benützt wird, nämlich als Mittel zum eigenen Glück, das durch lustvolle Nähe in seiner Gegenwart erreicht wird. Die Jagd nach Glück (pursuit of happiness), die die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika jedem Bürger zubilligt, macht bei Augustinus den Weg über Gott, den die aufgeklärten Verfassungsgeber des 18. Jahrhunderts nicht mehr der Glückssuche vorschreiben. Gleich ist aber dem technisch-individualistischen Aufklärungsideal der Yankee-Kapitalisten und dem theologischen Ideal augustinischer Lebensführung die Neutralisierung der empirischen Gegenstandswelt durch Rücknahme des affektiven Engagements zugunsten einer nüchternen Benützung von Mitteln für den Zweck eigenen Glücks. Schwerwiegend sind die Folgen u. a. für den Umgang mit Tieren (Vivisektion usw.). Hieraus folgt, dass auch der Mitmensch als bloßes Mittel zur Erreichung des eigenen Glückszieles lieblos benützt werden soll. Diese harte Konsequenz will Augustinus nicht stehen lassen; daher sucht er ihr durch zwei Strategien den Stachel zu nehmen: erst durch Beschönigung, später durch Vermeidung. Die Beschönigung besteht darin, den Mitmenschen, der darüber zürnt, dass er als bloßes Mittel zu einem egoistischen Zweck verwendet wird, dadurch zu beschwichtigen, dass man sich ihm durch die Einsicht gleichstellt, dass man auch sich selbst nicht um seiner selbst willen lieben darf, sondern um dessentwillen, das oder der 43 zu genießen ist. 44 Da aber das Benützen definiert wird als Beziehen des Benützten auf das Erlangen dessen, 41 Contra Julianum (421) V 60 (16), vgl. De moribus catholicae ecclesiae 80 (35); Brief 199, 38 (an Hesychius). 42 Liber de fide et operibus (413) 27 (16) (das Pauluszitat 24 (15)) mit (für das Fegefeuer) Enchiridion De fide, spe et charitate (421–23) 69 (18). 43 Lateinisch »quo« ist grammatisch doppeldeutig (Maskulinum oder Neutrum). 44 De doctrina christiana (396/97) I 28 f. (20 f.).

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was man liebt, 45 ist die Gleichstellung trügerisch: Das gleichmäßige Benützen seiner selbst und der Mitmenschen dient nicht so sehr Gott wie dem Erlangen Gottes, also dem eigenen Glück. Man kann vermuten, dass die Einsicht in die Unhaltbarkeit solcher Abwehr des Egoismus-Vorwurfs Augustinus zu einem Wechsel der Strategie, der geeignet ist, die harte Konsequenz zu vermeiden, veranlasst hat. Nun heißt es: Auch der Mitmensch soll genossen werden, aber in Gott. 46 Das gilt, wie Augustinus einige Jahre später präzisiert, aber nur für die von Gott zur ewigen Seligkeit Erwählten; die anderen – speziell die ungetauft gestorbenen kleinen Kinder – sind bloß für die Benützung durch die Erwählten bestimmt, nämlich dazu, dass diese – offenbar als Selige im Jenseits – am schrecklichen Schicksal ihrer Genossen-im-Sterben erkennen, was ihnen mit gleichem Recht hätte widerfahren können, und dadurch dem Stolz auf vermeintliches eigenes Verdienst entgehen. 47 Überdies gilt: »Wenn man einen Menschen in Gott genießt, genießt man mehr Gott als den Menschen. Jenen nämlich genießt man, wodurch man glücklich wird.« 48 Augustinus orientiert sich an 1. Joh 4, 16: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott.« 49 Das interpretiert er ganz unjohanneisch durch den Zusatz: »Mehr nämlich liebt man die Liebe, wodurch man liebt, als den Bruder, den man liebt.« 50 Da die Liebe zu Gott als Streben, genießend bei Gott zu sein, im Dienst des eigenen Glücksgewinnes steht, wird auch durch die zweite Strategie der egoistische Eudämonismus nicht überwunden. Andererseits sind die Motive eines Menschen, egoistische oder andere, nach Augustinus gar nicht seine eigenen im Vollsinn, denn unser Herz und unsere Gedanken sind nicht in unserer Hand, 51 weil Gott, wie Paulus (Philipper 2, 13) sagt, in uns das Wollen und das Vollbringen wirkt. 52 Er wendet die Willensrichtungen, wohin er will. 53 Während die Menschen insofern bloße Marionetten des Puppenspielers Gott sind, verlangt dieser von ihnen doch unbedingten 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Ebd. 21 f. (4). De trinitate (399–419) IX 13 (7). Contra Julianum (421) V 14 (4); VI 32 (10). De doctrina christiana (396/97) I 34 (35). Zitiert in De trinitate VIII 10 (7). Ebd. VIII 12 (8), vgl. dagegen 1. Joh 4, 12. De praedestinatione sanctorum (428/29) II 19 (8). Ebd. II 33 (XIII); Enarrationes in Psalmos 142, 10. De gratia et libero arbitrio (426/27) 43 (21).

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Isolierung und Uniformierung

Gehorsam. Das Verbot, im Paradies vom Baum der Erkenntnis zu essen, interpretiert Augustinus als von Gott statuiertes Exempel, um an einem sonst gleichgültigen Objekt Gehorsam um des Gehorsams willen einzuüben; auf die Frage »Warum?« lässt er Gott antworten: »Weil ich Herr bin und du Knecht bist.« 54 Die dazu passende Gesinnung des Menschen ist die eines verschüchterten Untertanen; wir sollen, lehrt Augustinus, mit Furcht und Zittern an unserer Erlösung arbeiten, weil es Gott Freude macht, in der Senke der Zerknirschung Ruinen aufzurichten. 55 Der Erfolg kümmert Gott keineswegs: Er hat unvergleichlich viel mehr nicht Erwählte als Erwählte erschaffen, damit durch diese Überzahl höchst gerecht Verdammter offenkundig wird, dass es ihm gar nicht darauf ankommt, wie viele in ewiger Verdammnis enden, insbesondere nicht auf die Qualen der ungetauft gestorbenen Säuglinge, die noch keine eigenen Sünden begangen haben, und damit die Erwählten erkennen, dass dieses entsetzliche Schicksal von Rechtswegen dem ganzen Klumpen der Menschheit (also auch ihnen) zugestanden hätte. 56 Er hätte die Unglücklichen nicht zu erschaffen brauchen, aber als der Beste kann er sie nun auf die beste Weise benützen, um seinen Zorn und seine Macht zu demonstrieren und den Begnadeten, deren er sich erbarmt, die Reichtümer seiner Herrlichkeit bekannt zu machen. 57 Dann wird auch der sich ermächtigt fühlen dürfen, Gottes Willen durch Demonstration von Zorn und Macht mitzutun, der Gewalt gegen die Ungläubigen anwendet: Wer anderen Göttern als dem Herrn opfert, wird (soll) ausgerottet werden (eradicabitur), 58 und Häretiker sollen zum Glauben gezwungen werden, indem Furcht ihren Willen und ihre Überzeugung bricht. 59

20.2 Isolierung und Uniformierung In der urchristlichen Gemeinde hoben sich die Mitglieder als frisch Bekehrte und damit Erwählte ganz selbstverständlich aus der Masse ihrer ungläubigen Mitmenschen ab, zu der sie vorher selbst gehört 54 55 56 57 58 59

Enarrationes in Psalmos 70 II, 7. Enarrationes in Psalmos 142, 10. Brief an Optatus 190, 12 (Mitte 418). Contra secundam responsionem Juliani opus imperfectum (429/30) II 142. De civitate Dei (413–426) XIX 23 (5), nach 2. Moses 22, 19. Brief an Vincentinus (ca. 408) 93, 5.16, nach Lukas 14, 23 (coge intrare).

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hatten. Der Verfasser des pseudopaulinischen Epheserbriefes macht sie darauf aufmerksam: Früher waren wir von Natur Kinder des Zorns wie die Übrigen, aber Gott hat uns durch seine Gnade gerettet und mit Christus lebendig gemacht (2, 3–5). Augustinus zitiert und paraphrasiert die Stelle, indem er an die Stelle der Bekehrung die Kindertaufe als Übergang vom Tod der Sünde zum Leben in Christus setzt. 60 Diese Umdeutung führt auf die Spur der Schwierigkeiten, die die inzwischen allgemein gewordene Kirche mit der Übernahme von Selbstverständlichem der einst exponierten Diaspora-Situation hat. Die Urchristen spalteten sich real und für sie einleuchtend als Aristokratie der Erwählten von der umgebenden Masse der Unheiligen und Verworfenen ab, vgl. Johannes 1, 11–16. Wenn aber seit Generationen das Bekenntnis zum Christentum zum durchschnittlich normalen Verhalten eines großen Teiles der Bevölkerung gehört und daraus eine Staatsreligion geworden ist, fehlt der Sitz im Leben für die Schwelle, die zur Errettung aus der Verderbnis überschritten werden muss, und kann nur durch mythische und dogmatische Konstruktionen nachgeliefert werden, wie die durch Augustinus eingeführte Verhängung grausigen Unheils über den Anfang jedes Menschenlebens durch eine von Adam und Eva her vererbte Schuld, die Erbsünde, die so schnell wie möglich in der Taufe abgewaschen werden muss, damit die Rettung vom Verderben für alle Ewigkeit wenigstens nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Eine andere Nachstellung der urchristlichen Gemeinde der Heiligen in einem Meer des Unheils ist die Aufnahme des Motivs der wenigen Auserwählten unter den vielen, die berufen sind, aus Matthaeus 22, 14. 61 Wer zu den Prädestinierten gehört, wer auf der Seite Gottes oder auf der des Teufels steht, ist auf Erden nicht zu erkennen. 62 Aus der ihrer Zusammengehörigkeit gewissen Gemeinde urchristlicher Aristokraten durch Erwählung wird die heimliche Auszeichnung Weniger in einer zum Klumpen geballten Masse des Verderbens (massa perditionis). Nicht einmal die unter vielen Scheinchristen verstreuten echten gelangen zu ganz vollendeter Übereinstimmung, 63 und die Gläubigen sind das, was sie nach Apostelgeschichte 4, 32 einmal waren, nämlich ein Herz und eine Seele, nur mit der starken Einschränkung, 60 61 62 63

Contra Julianum (421) VI 33 (10). Sermo 90, 4; Sermo 15, 5. De correptione et gratia (426/27) 39 (13); De civitate Dei (413–426) XX 7, 3. Brief 249 an Restitutus.

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dass jeder seinen eigenen Willen hat, den der andere nie so durchschauen kann, dass er genau wüsste, ob dieser Wille mit dem seinigen wirklich übereinstimmt. 64 Das im Urchristentum als ganz einhellig erlebte Streben 65 wird atomisiert. Das wichtigste Instrument dieser Atomisierung und individualistischen Isolierung ist bei Augustinus seine Leitidee vom Streben nach Glück als Grundzug des Menschseins. Alle wollen glücklich leben; 66 nichts als das Glück ist das Ziel des menschlichen Willens, ihm sind alle speziellen Willensregungen untergeordnet. 67 Das Glück ist aber Privatsache: »Durch das Glück eines anderen Menschen wird keiner glücklich.« 68 Jeder soll auf eigene Faust sein Glück bei Gott suchen und den Mitmenschen dazu anspornen, Gleiches zu tun; das ist nach Augustinus der Sinn des Gebots: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« 69 Es lohnt sich, damit Hegels Verständnis dieses Gebotes in seinen postumen theologischen Jugendschriften zu vergleichen: »(…); und liebe deinen Nächsten als dich selbst heißt nicht, ihn so sehr lieben als sich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn; sondern: liebe ihn als der du ist; ein Gefühl des gleichen, nicht mächtigeren, nicht schwächeren Lebens.« 70 »(…) wenn der eine lebendige Geist allein nach dem Ganzen der gegebenen Verhältnisse, aber in völliger Unbeschränktheit, ohne durch ihre Mannigfaltigkeit zugleich geteilt zu werden, handelt, sich selbst beschränkt, dann bleibt nur die Vielseitigkeit der Verhältnisse, aber die Menge absoluter und unverträglicher Tugenden schwindet.« 71 Hegels solidarisches Liebesverständnis – anschließend konkretisiert in seiner Deutung der Gemeinschaft beim christlichen Abendmahl als ein die Teilnehmer beim Essen und Trinken im Geist der Liebe vereinender Freundschaftsbund 72 – steht dem Leben der urchristlichen Gläubigen, sofern sie nach Apostelgeschichte 4, 32 »ein Herz und eine Seele« waren, näher als die Bündelung privater Bestrebungen mit gegenseitig aufDe trinitate (399–419) XIII 5 (2). Vgl. 1. Joh 3, 2; 1. Kor 15, 51–58. 66 De moribus ecclesiae catholicae (388/89) I 4 (3); Sermo 53, 1. 67 De trinitate (399–419) XI 10 (6). 68 De libero arbitrio II (391–395) 52 (19): Beatitudine autem alterius hominis non fit alter beatus. 69 De civitate Dei (413–426) X 3, 2. 70 G. W. F. Hegel, Frühe Schriften, Werke Band I, Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986, S. 363 (Der Geist des Christentums). 71 Ebd. S. 361. 72 Ebd. S. 364–368. 64 65

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munterndem Zuruf, die Augustinus aus dem Gebot herausliest. Liebe, wie er sie versteht, ist Genussliebe des Einzelnen zu Gott (beim Frommen) oder zu Weltdingen (beim Sünder) in Verbindung mit Gebrauchsliebe bei der Benützung sinnlicher Dinge für die Suche nach eigenem Glück. Diese isolierende Sicht bestimmt Augustins Auffassung nicht nur vom Menschsein, sondern auch vom Christsein. Warum glaubt ein Christ an Christus, warum bemüht er sich, gut zu sein? Wenn der Befragte aufrichtig antwortet, wird er nach Augustinus sagen müssen: um ein glückliches Leben zu haben. Es versteht sich von selbst (facilis quaestio est), dass die Guten deshalb gut sind, weil sie ein glückliches Leben suchen. 73 Dafür schlägt Augustinus ihnen ein geschäftsmäßiges Verhalten vor, das gute Ware (ewige Seligkeit) für einen Spottpreis (kurze Mühe während des irdischen Lebens) einkauft. Gott verkauft den langen Feiertag ewiger Ruhe gegen die kurze Arbeit weniger Jahre, die er vom Menschen auf Erden verlangt, und winkt mit der Preisgünstigkeit dieses Angebots, indem er den Preis mit dem Wert einer einzigen Siliqua (ca. 20 Pfennig nach dem Kurs der Goldmark von 1913 74 ) vergleicht, nicht ohne hinzuzufügen, dass es sich um ein Sonderangebot mit kurzer Laufzeit (der jeweiligen Lebenszeit) handelt. 75 Der Individualismus dieses Heilshandels gleicht der Marktwirtschaft nach Adam Smith; wiederum zeichnet sich, wie schon bei der Lehre von uti und frui (20.1), eine Vorreiterrolle der Frömmigkeit Augustins für die kapitalistisch-technizistische Mentalität der modernen Aufklärung ab. Solche Atomisierung des Glücksstrebens steht in scharfem Gegensatz zur urchristlichen Gesinnung der Vernetzung durch gegenseitige Zuwendung und Teilnahme an einander. 76 Sie wird verstärkt durch das starke Gewicht, das Augustin auf die Selbstbetrachtung angesichts der Caritas, der Liebe des christlichen Liebesgebotes, legt. 77 Mit Hilfe dieser reflexiven Einstellung leitet er aus 1. Joh 4, 16 folgendermaßen den VorSermo 150, 4. Von mir ermittelt nach Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 8. Auflage mit Vorwort von 1913. 75 Enarrationes in Psalmos 93, 24 und 102, 12. 76 Vgl. 1. Joh 4; 1. Kor 12; Galaterbrief 6, 2. 77 De Trinitate (399–419) VIII 12 (8): »Du siehst wirklich die Trinität, wenn du die caritas siehst. Aber ich gebe zu bedenken, dass du, wenn möglich, sehen mögest, dass du siehst, nur sei sie selbst zugegen, damit wir durch caritas zu etwas Gutem bewogen werden.«. 73 74

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rang der Gottesliebe vor der Nächstenliebe im Liebesgebot ab: »Wer den Nächsten liebt, liebt folglich die Liebe selbst. Gott aber ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott. Daraus folgt, dass er hauptsächlich Gott liebt.« 78 Es ist eine merkwürdige Auffassung von Liebe, dass der Liebende mehr die Liebe als den Geliebten liebt. Zur Begründung trägt Augustinus wohl mit den Worten bei: »Mehr nämlich kennt er die Liebe als den Bruder, den er liebt.« 79 Das Subjekt Augustins bleibt im Hause seiner Seele und kennt vom anderen nur die Außenseite. Diese mit erkenntnistheoretischem Misstrauen64 gepaarte reflexive Einstellung verstärkt die Isolierung. Dank dieser Isolierung können die Individuen ihre Verbindung zur Einheit mit einander nicht mehr durch spontane Vernetzung bewirken, sondern sie muss ihnen durch Uniformierung aufgedrückt werden. Deswegen hat Jesus, wie Augustinus im Anschluss an Cyprian die Einsetzungsworte des Abendmahls deutet, sein Fleisch und Blut solchen Sachen zugewiesen, die dadurch entstehen, dass viele Dinge in Eines eingebracht werden: dem Brot, das durch Zerstampfen von Körnern entsteht, und dem Wein, der durch Zerquetschen von Trauben hergestellt wird. 80 Die Isolierung der Individuen verlangt nach einer stark gegensteuernden Integration, die in diesem Bild bis zur Vernichtung der Individualität geht, damit sie nicht in Dissonanz und Verwirrung ausläuft, wovor Augustinus ganz besonders zurückschreckt. Den Zuhörern seiner Predigt ruft er zu: »Wer würde euch aushalten, wenn ihr nicht nach Einheit schmecktet? (…) Gib Einheit, und es ist ein Volk; hebe Einheit auf, und es ist Gewühl.« 81 Das erinnert an Goethes Albtraum: Verwirrtes Wogen unverständger Menge, Von allen Träumen ists der schwerste Traum. 82 Die Christen stehen nicht als viele dem einen Christus gegenüber, sondern sind in ihm ein einziger Christus, dessen Haupt der zum Himmel aufgefahrene Christus ist. 83 Hier denkt Augustinus an den Ebd. VIII 10 (7). Ebd. 12 (8). 80 In Joannis evangelium tractatus 124 (407–417), tr. 26, 17. 81 Sermo 133, 4. 82 Festzug dichterische Landes-Erzeugnisse, darauf aber Künste und Wissenschaften vorführend, Weimar 18. Dezember 1818, das Epos spricht. 83 Enarrationes in Psalmos 127, 3. 78 79

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entsprechenden Topos des Paulus vom großen Christus-Leib,19 aber während Paulus die Funktionsverschiedenheit der vielen Glieder in organismischem Zusammenwirken ebenso eindringlich betont wie die Einheit des Ganzen, fehlt dieses Gegengewicht der Vielfalt in gegenseitiger Zuwendung bei Augustinus. Auch die johanneische Form der ausgewogenen Vieleinigkeit, die Verschlingung von Personen in reziproker Immanenz,22 kommt bei ihm gegen die Uniformierung nicht auf. Die Bitte Jesu in Johannes 17, 20–22, seine reziproke Immanenz im Verhältnis zum Vater möge sich auf die Apostel ausdehnen, verkürzt Augustinus zum einträchtigen Willen der Gläubigen beim Streben nach Glück in der Weise einer Feuersbrunst der Liebe, 84 mit einem Gleichnis, das ebensowenig wie das von den zerstampften Körnern und zerquetschten Trauben auf die Individuen oder gar deren Verschlingung in einander Rücksicht nimmt. An anderer Stelle ersetzt er die johanneische Wechseldurchdringung durch die Kombination zweier paulinischer Redefiguren: Gott enthält uns und wir sind sein Tempel. 85 Gern beruft sich Augustinus auf Apostelgeschichte 4, 32 (»ein Herz und eine Seele«), 86 aber nicht im Sinne der neuplatonischen Vieleinigkeit mit schwebendem Ausgleich der Gewichte von Einheit und Vielheit (15.2; 16.3; 16.6; 17.2), sondern in einer Weise, die die Vielheit zugunsten der Einheit ausstreicht: Die Mönche sollen nur ihre vielen Körper behalten, aber nicht viele Seelen oder Herzen, sondern sie sollen nur noch mit einander ein Einziger sein, unus solus, um so dem Namen »monachus« von mno@ = nur-Einer Ehre zu machen. 87 Mit Rücksicht auf Epheser 4, 5 schränkt er die Formel »ein Herz und eine Seele« auf »ein Glaube« ein und erklärt diesen wiederum als Einheit des Willens aller Wollenden, wobei jedem aber nur die Richtung des seinigen gewiss, der Wille jedes Genossen aber verborgen sei. 88 Das Nebeneinander kollektiver Uniformierung und isolierender Abspaltung der für einander undurchsichtigen Individuen tritt hier in einer für Augustinus charakteristischen Weise hervor. Wegen dieses Zwiespaltes hat bei Augustinus sogar der SoziaDe trinitate (399–419) IV 12 (8). In Joannis evangelium tractatus 124 (407–417), tr. 48, 10, zu Paulus vgl. Apostelgeschichte 17, 28 und 1. Kor 3, 16. 86 Zur Annäherung an die Einheit der göttlichen Trinität Brief 170, 5; zur Aufforderung an Nonnen und Mönche Brief 211, 5 und Enarrationes in Psalmos 132, 6. 87 Wie eben 132, 6. 88 De trinitate (399–419) XIII 5 (2). 84 85

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lismus bequem Platz neben der individualistischen Atomisierung des Glücksstrebens. Nur vom Privateigentum kommen Streitigkeiten, Kriege, Aufruhr, Misshelligkeiten, Skandale, Sünden, Niedertracht und Meuchelmord – man glaubt Bebel zu hören –, während sich an Gemeingut wie Licht und Sonne kein Streit entzündet; selig sind daher, die dem Herrn Raum geben und sich nicht an ihren Privatsachen freuen. 89 Auf jeden Privatbesitz ist jeder Besitzer notwendig sündhaft stolz (superbus). 90 Gemeingüter, die Privatisierung abweisen, sind aber nicht nur die materiellen, sondern auch die Glaubenswahrheiten, die wie Flüsse zwischen den Gläubigen mitten hindurchgehen und den Einzelnen, z. B. mich, nicht berühren oder angehen (nec attinet ad me); niemand hat sie privat, und die Wahrheit ist weder mein noch dein, damit sie mein und dein sei. 91 Im Konflikt zwischen Orthodoxie und Pietismus stünde Augustinus auf der Seite der Orthodoxie. Dieselbe kommunistische Eintracht ohne individuelle Differenzierung herrscht auch bei den Seligen im Himmel, wie Augustinus sie sich vorstellt. Gott hat sich ihrer erbarmt und stellt ihnen zum Erweis seiner Herrlichkeit das traurige Schicksal der verdammten »Gefäße des Zorns« vor Augen, so dass sie, beseelt vom heiligen Geist, ein Herz und eine Seele nach Apostelgeschichte 4, 32 werden, eine Seele, die sich dankbar auf Gottes Gunst und Sündenvergebung besinnt. 92 Alles wird dann ein einziges Alleluja sein, Alleluja die Speise, der Trank, die Tätigkeit, die Freude. 93 Bloß durch solche Herrlichkeit, nicht aber in der Uniformität unterscheiden sich diese Seligen von der aus Adams Sünde fließenden Masse von Erbsünde belasteter Menschen, die nach Augustins häufig wiederholter Formel ein undifferenzierter Klumpen (massa perditionis) ist, der von Gott als Töpfer nach Belieben zu Gefäßen des Zorns (bestimmt zu ewiger Verdammnis) oder Gefäßen der Barmherzigkeit geformt wird. 94 Noch über den zur ewigen Seligkeit erhöhten Menschen siedelt Augustinus hypothetisch den Himmelshimmel (caelum caelorum) an, den er aus Genesis 1, 1–2 herausliest: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der 89 90 91 92 93 94

Enarrationes in Psalmos 131, 5. Ebd. 131, 7. Ebd. 103 II, 11. Brief 186, 25 (Augustinus und Alypius an Bischof Paulinus, Mitte 417). Sermo 252, 9 und 362, 29. Contra secundam responsionem Juliani opus imperfectum (429/30) I 112.126.141.

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Tiefe.« 95 Bei der Ur-Erde handelt es sich für ihn um die formlose Materie der Körper, bei der Finsternis über der Tiefe um die intelligible Materie und bei dem Ur-Himmel um eine gewisse intellektuelle, der Ewigkeit teilhaftige Kreatur, nämlich den in höchster Eintracht einigen Geist der heiligen Geister (der überhimmlischen Engelscharen) in stabilem Frieden der Ergötzung an Gott. Allem Anschein nach ist Augustinus hier inspiriert von Plotins Abhandlung über die beiden Materien (Enneaden II 4 [12]), Kapitel 4 und 5. 96 Während aber die intelligible Materie nach Plotin nur durch Abstraktion als bloße Einheit ohne bunte Vielfalt vorgestellt werden kann, 97 betont Augustin sogar am Himmelshimmel, der dem Geist nach Plotin (15.2.1) entspricht, nur die Seite der Einheit und höchsten Eintracht in stabilem Frieden und wirft keinen Blick auf die bunte Vielfalt, die andere Seite des vieleinigen Geistes nach Plotin. Die Uniform überwiegt bei ihm auch hier. Auf Erden hat die Uniformierung die harte Folge, dass alle sozialen Kontakte nivelliert werden, indem jede Privilegierung intimer Beziehungen verpönt wird. Die Forderung Jesu, um des ewigen Lebens willen alles Eigene aufzugeben (Marcus 10, 21), schließt in sich das Gebot, Vater, Mütter, Brüder, Schwester, Ehefrau und Kinder sowie die eigene Seele als meist hinderlich zur Erlangung der ewigen Gemeingüter zu hassen; insbesondere soll die Mutter jede besondere Liebe zu ihren Kindern in sich abtöten, und Entsprechendes gilt für die übrige Verwandtschaft: das Hassenswürdige an der eigenen Seele ist der private Affekt, der irgendjemand bevorzugt statt nur die Gemeinschaft der Heiligen, von der in Apostelgeschichte 4, 32 gesagt ist, dass sie in Gott ein Herz und eine Seele waren. Welcher Seelen das gelingt, die haben gemeinsam nur noch eine einzige Seele, die Seele Christi. 98 Was gehen einen dann noch die Tränen der Mutter, der Tod der Magd oder die Krankheit des Bruders an? Die ordnungsgemäße Caritas verlangt, sich über solche Kleinigkeiten durch den Entschluss hinwegzusetzen, den Armen das Evangelium zu predigen. 99 Niemand Confessiones (396–398) XII 8 (8); 9 (9); 12 (11); 16 (13); 25 (17); 40 (29); vgl. XIII 18 (15). 96 Die Deutung der Finsternis über der Tiefe auf die Materie (auch die intelligible) dürfte durch Plotin II 4 [12] 5, 6–9 angeregt sein, vgl. ferner 5, 24–29 für das immerwährende Entstandensein. 97 Enneaden II 4 [12] 4, 14–20. 98 Brief 243, 3.4 (an Laetus). 99 Ebd. 12. 95

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taugt für das Reich Gottes, der nicht seine zeitliche Liebe zu seinen Blutsverwandten und sogar zu den Bürgern seiner Heimatstadt hasst. Man darf den Sohn nicht als Sohn lieben, sondern nur als Menschen oder vielmehr die menschliche Natur als solche. 100 In einer Frau darf der gute Christ nur die Kreatur Gottes lieben, die es zu reformieren und geistlich zu erneuern gilt; die vergängliche, fleischliche Verbindung soll er hassen, also die Ehefrau als solche, nicht aber den Menschen, den er lieben soll. Solche Verteilung von Hass und Liebe, auf alle vergleichbaren Lebensbezüge erstreckt, führt zum Reich Gottes, wo alle nur noch eine Mutter haben: die Mutter Jerusalem. 101 So wird die Nächstenliebe zur allgemeinen Menschenliebe, 102 allerdings durchkreuzt durch die grausame Einsicht, dass nur wenige zur Heiligkeit auserwählt, die meisten aber von Gott verworfen sind61 und dann die Bestimmung haben, lieblos zur Förderung des Glückes der Erwählten benutzt zu werden.94 Eine weitere Einschränkung der Menschenliebe besteht darin, dass sie nicht dem Menschen gilt, wie er ist, sondern so, wie du willst, dass er sei. 103 Es handelt sich also um eine aggressive Liebe, die dem Geliebten vorschreiben will, wie er zu sein hat, indem er sich in die Gemeinschaft der Kirche einordnet: »Lasst uns nicht vom Wege weichen, bewahren wir die Einheit der Kirche, bewahren wir Christus, bewahren wir die Caritas!« 104 Außer in der Kirche gibt es kein Heil. 105

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20.3 Rette sich, wer kann! Ruckartig ist Augustinus 396 (De diversis quaestionibus ad Simplicianum) von der noch 394/95 vertretenen Auffassung, dass Glauben und Wollen eigene Leistung des Menschen ist und nur das gute Vollbringen bei Gott steht, 106 zu der doppelten Prädestinationslehre übergegangen, wonach Gott zwar in freier Gnadenwahl aus der durch die Erbsünde verdammten Masse Einzelne zur Besserung aussiebt, 107 an100 101 102 103 104 105 106 107

De vera religione (389–91) 88–89 (16). De sermone Domini in monte (394) I 41 (15). Expositio epistulae ad Galatos (394/95) 45; Sermo 90, 7. In epistolam ad Parthos tractatus decem (407–416) VIII 10. Ebd. IX 11. Enarrationes in Psalmos 98, 14. Expositio quarundam propositionum ex epistola ad Romanos (394/95) 60 und 61. De civitate Dei (413–426) XV 1, 2.

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Augustinus

dere aber eigens zu dem Zweck erschafft, sie zu den äußersten Strafen zu bestimmen, damit die Geretteten erkennen, was ihnen ohne Gottes Barmherzigkeit hätte blühen können, und (vor Entsetzen) jeder Mund gestopft wird. 108 Wer zu den positiv Prädestinierten gehört, ist auf Erden nicht zu erkennen. 109 Ob der Mensch zum Heil oder zum Unheil berufen ist, bleibt wenigstens zu seinen Lebzeiten unsicher. 110 Das hindert den Prediger Augustinus allerdings nicht daran, sich und den Hörern Heilsgewissheit ob ihres Glaubens und ihrer Demut zuzusichern. 111 Viel mehr Menschen werden von Gott verdammt als begnadigt. 112 An sich gibt es viele Erwählte, im Verhältnis zu den Verlorenen aber nur wenige. 113 Das Schicksal eines Menschen für die Ewigkeit (Heil oder Unheil) richtet sich nach seinem (religiös sanktionswürdigen) Zustand am Tage seines Todes; deshalb muss jeder Christ wachsam und stets gut vorbereitet sein, 114 denn ein liederlich verlebter Sterbetag löscht die Heilsanwartschaft eines ganzen Tugendlebens aus. 115 Rette sich, wer kann! Der gute Christ gleicht einem noch nicht routinierten Eisläufer, der ständig darauf achten muss, dass er nicht das Gleichgewicht verliert. Das wird dadurch noch schwieriger, dass nicht bloß grobe Klippen zu vermeiden sind, sondern auch unscheinbare, unwillkürlich unterlaufende kleine Gedankensünden, besonders auf geschlechtlichem Gebiet: Ausdehnung der Wollust im Geschlechtsakt über das zur Kinderzeugung unbedingt erforderliche Maß hinaus, Unterlassung sofortiger (notfalls gewaltsamer) Abwendung der Gedanken bei einem Anflug von Lüsternheit (z. B. etwas Unschickliches gern sehend oder hörend, selbst ohne Absicht). 116 Diese Sünden sind zwar einzeln verzeihlich (»lässlich«), aber in ihrer Häufung führen sie zum Ruin und müssen durch täglich gegebene Almosen abgewaschen werden. 117 Der Begriff der Sünde wird zweideutig durch Einführung einer Sünde, die es nur halb und nicht in vollem Ernst ist, aber durch schleichende Häufung 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117

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Brief 204, 2 (an Dulcitius, ca. 419) und 186, 26. De correptione et gratia (426/27) 39 (13). De praedestinatione sanctorum II 33 (13). Enarrationes in Psalmos 95, 14; Sermo 26, 13. De civitate Dei (413–426) XXI 12. Contra secundam responsionem Juliani opus imperfectum (429/30) II 142. Brief 199, 2.3 (an Hesychius). De praedestinatione sanctorum (429/30) I 26 (14). Contra Julianum (421) II 33 (10); Sermo 9, 18; 51, 22; 56, 12; 261, 9. Sermo 9, 18, vgl. Contra Julianum (wie in Anm. 116).

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ins Verderben führt. Die kleinteilige Zerlegung der täglichen Lebensgeschichte durch misstrauische Bewachung der eigenen unwillkürlichen Lebensäußerungen ist durch Augustinus im westkirchlichen Christentum durchgesetzt worden, ebenso eine Alarmstimmung, die sich nicht mehr, wie im Urchristentum, auf das allen gemeinsam bevorstehende Endgericht bezieht, sondern den Einzelnen im Vorblick auf seine unvorhersehbare Todesstunde isoliert. Die distanzierende Bewachung seiner selbst als Psychotechnik haben schon die Stoiker (etwa Epiktet) eingeführt, aber erst im Christentum gewinnt sie die emotionale Schärfe einer Alarmstimmung im Hinblick auf die Gefahr ewiger Verdammnis. Mit dieser Gefühlskeule hat das Christentum, hier besonders durch Augustinus, die Kontrolle der eigenen Natürlichkeit so eingeübt, dass sie später leicht auf die äußere Natur übertragen werden konnte. Wieder erweist sich Augustinus als Wegbereiter eines technischen Verhaltens zur Welt. Das die Frömmigkeit leitende Glücksstreben73 soll primär an der Höllenangst und erst sekundär an der Hoffnung auf Seligkeit Maß nehmen. 118 Sogar die leichtesten Höllenstrafen (die den ohne selbst erworbene Schuld ungetauft sterbenden Kindern drohen mögen) sind ärger als die schlimmsten irdischen Qualen. 119 Das gilt sogar für die Qualen des Fegefeuers (nach Paulus 1. Kor 3, 12.15), die z. B. den erwarten, der seiner geliebten Ehefrau gern eine kleine Freude macht, 120 sich also gegen die Vorschrift vergeht, die Ehefrau als solche zu hassen und nur als Gegenstand der Einübung im Christentum zu lieben.101 Allerdings ist bloße Furcht vor Strafe ohne Liebe zu Gott servil und begründet keine Anwartschaft auf das Himmelreich. 121 Die Caritas, die nach 1. Joh 4, 18 die (servile) Furcht austreibt, weckt nach Augustinus keusche Furcht vor dem Verbrechen aus Liebe zur Gerechtigkeit. 122 Diese keusche Furcht ist mit der Liebe ebenso verträglich wie bei der züchtigen Ehefrau, die ihren Mann liebt, um zu genießen, aber fürchtet, von ihm verlassen zu werden. 123 Aber auch sie genügt nicht, um die Höllenangst völlig abzulegen: Auch wenn man die Tür dem Teufel und der Welt schon verschlossen und Christus geöffnet hat, soll man wegen Matthaeus 10, 28 noch Gott als den 118 119 120 121 122 123

Enarrationes in Psalmos 111, 8. Sermo 161, 4. Sermo 37, 3 und s. o. Anm. 42. Enarrationes in Psalmos 118 XVII, 1. Ebd. 118 XXV, 7. Ebd. 118 XXXI, 3.

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fürchten, der Körper und Seele ins Höllenfeuer werfen kann. 124 Erst wenn der Sprung ins selige Jenseits gelungen ist, lässt der Druck dieser Furcht nach. Wie intensiv Augustin ihn empfindet, zeigt sich daran, dass er sich als wichtigste Errungenschaft im Himmel die Befreiung von Furcht und Trug, 125 sowie von den vier Übeln Mühe, Arbeit, Furcht und Schmerz, 126 ausmalt. Unaussprechliche Ruhe, ein ewiger Sabbat wird der Lohn für die Seligen im Himmel sein. 127 Augustins Erlösungsideal ist ganz quietistisch. 128

Ebd. 141, 4. Sermo 150, 10. 126 Sermo 297, 8. 127 Sermo 362, 28. 128 Vgl. auch die Anrede an Gott Confessiones I 1 (1): Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te. 124 125

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21. Das Universalienproblem

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21.1 Systematische Vorbereitung Die herkömmliche Terminologie der Positionen in der Geschichte des mittelalterlichen Universalienproblemes, 129 die mit exzessivem Realismus, gemäßigtem Realismus, Konzeptualismus und Nominalismus operiert, lässt über kleinen Differenzen den wesentlichen Gegensatz außer Acht, der zwischen dem ersten Glied und den drei übrigen Gliedern der Aufzählung besteht. Bochen´ski hat ihn durch die Gegenüberstellung von Identitätstheorie und Ähnlichkeitstheorie getroffen: 130 Gattungen und Arten werden nach der Identitätstheorie als das Identische verstanden, worin die betreffenden Fälle tatsächlich übereinstimmen, nach der Ähnlichkeitstheorie aber als Konstrukte, die aus der Ähnlichkeit zwischen Gegenständen, die nichts gemeinsam haben, abgeleitet werden. Die Ähnlichkeitstheorie ist schon aus logischen Gründen fragwürdig, weil es keine geschlossenen Begriffsumfängen entsprechenden geschlossenen Ähnlichkeitskreise gibt, da Ähnlichkeit eine intransitive Relation ist; dagegen mutet die Identitätstheorie zunächst recht unschuldig an, begegnet aber einem hartnäckigen »nominalistischen Zweifel, wie das All-

129 Verdienstlich ist die sorgfältige, etwas verklausulierte und in der Charakterisierung der Standpunkte meines Erachtens oft anfechtbare Nachzeichnung dieser Geschichte in den Nachworten der (deutschsprachigen) Textsammlung von Hans-Ulrich Wöhler: Texte zum Universalienstreit, 2 Bände, Berlin 1992–1994. 130 Innocentius Maria Bochen ´ ski, Zum Universalienproblem, in: Logisch-philosophische Studien hg. v. Innocentius Maria Bochen´ski, Freiburg/München 1959, S. 143: »1) Ähnlichkeitstheorie: die Verbindung zwischen den klassifizierten Dingen besteht in ihrer Ähnlichkeit. (…) Zugleich verneint die Theorie jede vollständige oder teilweise Identität der klassifizierten Dinge. 2) Identitätstheorie: die Verbindung zwischen den klassifizierten Dingen gründet sich auf die Identität eines gewissen Aspektes oder mehrerer Aspekte, mit anderen Worten gewisser, allen Elementen einer Klasse gemeinsamer Eigenschaften.«.

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Das Universalienproblem

gemeine als identisch Eines eigentlich vorzustellen sei«; 131 schon Platon, den man ungern als Nominalisten bezeichnen wird, hat sich diesen Zweifel lebhaft zu eigen gemacht, 132 ohne dass er oder ein anderer die Widersprüchlichkeit und damit die Unmöglichkeit einer solchen Annahme durchsichtig abgeleitet hätte. Das Interessanteste am nominalistischen Zweifel ist daher die Aufgabe, die geheimen Voraussetzungen der Zweifler aufzudecken, aus denen eine solche Unmöglichkeit logisch einwandfrei abgeleitet werden könnte. Dass solche Voraussetzungen falsch sein werden, ist jetzt schon abzusehen, weil zwar nicht für alle Universalien, wohl aber für einige von ihnen ihre Existenz als allgemeine Gegenstände, die als genau dieselben vielfach wiederkehren, unverkennbar ist. Um das einzusehen, muss man sich den grundsätzlichen Unterschied zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit klar machen, und zwar tunlichst nicht am Beispiel der Farben, das von abstrakten philosophischen Theoretikern einseitig bevorzugt wird, sondern zunächst am Beispiel der Klänge. 133 Gleichheit ist bei Klängen nicht das Maximum von Ähnlichkeit, denn erstens verträgt sich ein Höchstmaß an Ähnlichkeit mit schroffer Ungleichheit – wer durch Verfehlen eines kleinen Intervalls »falsch singt«, erzeugt einen peinlichen Kontrast, während sich beim Abstand einer ganzen Oktave so etwas wie Gleichheit wieder einstellt – und zweitens überdauert exakte Gleichheit die Trennung durch beliebig große Unähnlichkeit. So stimmen Musiker ihre Instrumente aus verschiedenen Gattungen trotz großer Unähnlichkeit des Klanges auf genau denselben Ton, und man hört genau dieselbe Melodie in ganz verschiedenen Darbietungen, nicht nur der Klangfarbe, sondern auch der Tonlage und Tonart nach. In diesem Fall setzt sich Gleichheit als Identität einer Art gegen die Unähnlichkeit ihrer Fälle durch. Man kann diesen Kontrast auch nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man Gleichheit und Unähnlichkeit auf verschiedene Dimensionen verteilt. Die Prägnanz der Gleichheit stiftenden identischen Art ist nämlich gewissen Dimensionen vorbehalten, während es in anderen nur eine viel blassere Übereinstimmung gibt. Man vergleiche Tonlage und Lautstärke: Dass zwei Schälle gleich laut sind, 131 Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 148. 132 Philebos 15b 4–8. 133 Vgl. dazu Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, 2. Auflage 1995, S. 85–90.

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Systematische Vorbereitung

entdeckt man nur durch Vergleich, indem man ausschließt, dass einer von ihnen lauter als der andere klingt. Dass zwei Musiker denselben Ton getroffen haben, hört man dagegen ohne jeden Vergleich als denselben Ton, und gut geschulte Musiker hören sogar über eine Oktave hinweg denselben Ton, nur in verschiedener Höhe, wo Laien zwei ähnliche und gut zusammenpassende Töne wahrnehmen. 134 Dieselbe Prägnanz der identischen Art gibt es auch bei Farben, wenn z. B. Damen im Stoffgeschäft durch Vergleich einer von der Käuferin mitgebrachten Probe mit einer von der Verkäuferin angebotenen Ware »genau dasselbe Grün« herausfinden. Es gibt sie auch bei impressiven Situationen (vielsagenden Eindrücken), z. B. im Fall der fälschlich sogenannten Familienähnlichkeit, wenn etwa Menelaos den Telemach als Sohn des Odysseus u. a. daran erkennt, dass er in genau derselben Weise wie dieser die Blicke wirft. 135 Da in solchen Fällen die Identität nicht durch Vergleich ermittelt wird, sondern sich unmittelbar aufdrängt, erübrigt sich auch der Verdacht, es könnten Unterschiede übersehen worden sein; im Gegenteil, die tatsächlich vorhandenen Unterschiede unterstreichen die gegen sie sich durchsetzende Identität. Die Alternative von Bochen´ski muss also teilweise zugunsten der Identitätstheorie entschieden werden. Sie ist für das Universalienproblem aber zu eng, weil für viele Gattungen weder eine Ähnlichkeit der Fälle noch eine hervorstechende Identität eines mehrfach vorkommenden allgemeinen Gegenstandes in Betracht kommt, so dass keine Handhabe zur Entscheidung zwischen Identitäts- und Ähnlichkeitstheorie besteht. Ich denke etwa an negativ oder disjunktiv definierte Gattungen, z. B. als Ausländer, als von einer gesetzlichen Regelung oder einem Rechtsstreit Unbetroffener, als Unterlassender, als einer, der über hundert Jahre alt oder Träger des großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband ist (woran sich gesetzlich garantierte Privilegien knüpfen mögen). Die Gleichheit läuft über die Ähnlichkeit in solche weder durch Gleichheit noch durch eine spezifische Ähnlichkeit gestützten Gattungen aus. Zwischen verschiedenen Nuancen einer Farbe, z. B. des Rot, besteht Ähnlichkeit, die sich von der exakten Gleichheit zweier Vorkommnisse derselben Nuance, desselben Tones oder derselben Melodie dadurch unterscheidet, dass sich das Übereinstimmende nicht so scharf her134 135

Albert Wellek, Musikpsychologie und Musikästhetik, Frankfurt a. M. 1963, S. 32. Odyssee 4, 150.

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vorstechend von dem Abweichenden abhebt, sondern nur als unzertrennlich in das Abweichende eingemischte Note ohne Chance der Reindarstellung, aber dennoch unverkennbar herausgespürt werden kann. Ich spreche dann von Halbarten, die ebenso Ähnlichkeit fundieren, wie genaue Arten Gleichheit. 136 Sowie man aber von Rot zu Blau übergeht, ist es auch mit der Ähnlichkeit vorbei. Im Roten ist nichts Blaues und im Blauen nichts Rotes zu finden, während im Purpurroten etwas vom Rosa oder vom reinen Rot vorliegt, nämlich das Rote als definierender Zug der Halbart, der sich in den Nuancen als gemeinsame, wenn auch nicht mehr einer Reindarstellung fähige Farbqualität abzeichnet. Blau und Rot sind Farben, aber ohne Gleichheit und Ähnlichkeit. Farbe ist eine Gattung, die man auf viele Weisen mit mehr oder weniger Erfolg durch Merkmale eindeutig charakterisieren kann, wie die negativen und disjunktiven Gattungen, aber nicht durch Gleichheit oder Ähnlichkeit der Fälle. Solche Gattungen, die weder Arten noch Halbarten sind, stellen die allermeisten Universalien, z. B. Mensch oder Tier. Terminologisch sollte man die unterschiedlichen Namen nicht an bloß relative Unterschiede verschwenden und z. B. die Untergattungen einer Obergattung nicht als deren Arten bezeichnen, sondern die heterogenen Sorten von Universalien durch die drei Namen auseinanderhalten. Andererseits genügt es, über Universalien allgemein als über Gattungen zu sprechen; man behandelt dann den rein oder nur unrein darstellbaren definierenden Zug einer Art oder Halbart als definierendes Merkmal einer Gattung so gut wie in den anderen Fällen, wo das Merkmal frei von Gleichheit oder Ähnlichkeit ist. Nur wenn es auf den Unterschied der Sorten ankommt, ist der Begriff der Gattung strikt zu fassen, so dass von Arten und Halbarten abgesehen wird. Was ist das Fundament der Gattungen, die sich nicht auf Gleichheit oder Ähnlichkeit stützen können? Die Frage ist falsch gestellt, wenn vorausgesetzt wird, dass erst einmal einzelne Sachen da seien und an diesen irgendein Zug herausgefunden werden müsse, der die Zusammenfassung zum Umfang einer Gattung begründen könnte. Das ist die fehlerhafte Abstraktionstheorie der Gattungen. Im Gegenteil sind einzelne Sachen nur durch Gattungen (im weitesten Sinn des Wortes, einschließlich der den Arten und Halbarten zugeordneten) möglich. Um das einzusehen, braucht man sich nur zu überlegen, was es heißt, einzeln zu sein. Einzeln (numerisch eines) 136

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Wie Anm. 133, S. 91–94.

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ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, d. h. was Element einer endlichen Menge ist. (Jedes Element einer endlichen Menge vermehrt deren Anzahl um 1, und alles, was eine Anzahl um 1 vermehrt, ist Element einer endlichen Menge, nämlich mindestens der Menge dessen, was mit ihm identisch ist.) Mengen aber sind Umfänge von Gattungen; jede Menge ist Menge der … (z. B. Häuser oder Menschen in dieser Stadt, oder der Dinge, die zu zählen jemandem gerade in den Sinn kommt). Also kann etwas nur als Element einer Menge und Fall einer Gattung einzeln sein. Die betreffende Gattung ist eine Bestimmung des Einzelnen (unter unendlich vielen anderen); der Sachverhalt, dass es sie hat, ist seine Bestimmtheit durch diese Bestimmung. Jede Bestimmung muss dem Bestimmten zukommen. Daraus folgt, dass nicht alle Bestimmungen einzeln sein können. Das Zukommen ist nämlich selbst eine Bestimmung, wodurch eine Bestimmung als zukommende bestimmt wird. Wenn jedes Zukommen einzeln wäre, müsste es also abermals dem, was es bestimmt, zukommen, und so ergäbe sich eine unendliche Kette des Zukommens des Zukommens usw., die den Versuch vereiteln würde, in endlich vielen Schritten von der Bestimmung zum Bestimmten oder umgekehrt zu gelangen. Bestimmungen müssen daher gleichsam aus einem Topf geschöpft werden, dessen Mannigfaltigkeit nicht die numerische von lauter Einzelnem ist. Solche Töpfe sind die ganzheitlichen (d. h. kohärenten und abgehobenen, nicht notwendig einzelnen) Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Bedeutungen. Bedeutungen im hier gemeinten Sinn sind Sachverhalte (dass etwas ist oder so und so ist oder nicht), Programme (dass etwas als Norm sein soll oder als Wunsch sein möge oder so und so oder nicht) und Probleme (ob etwas ist oder sein soll oder sein möge oder so und so oder nicht). Bedeutungen bilden die Intensionen von Gattungen, die zunächst selbst Situationen sind, bis durch satzförmige Rede die Explikation von Einzelnem aus Situationen einsetzt. Diese legt zuerst einzelne Bedeutungen frei, und durch diese einzelne Sachen, für die die freigelegten Bedeutungen zur Einzelheit ermöglichenden Bestimmung werden. Jede Bestimmung von den unendlich vielen, die jeweils zutreffen, kommt dafür gleichermaßen in Betracht. Gattungen, die kein Fundament in Gleichheit oder Ähnlichkeit haben, sind aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen expliziert oder aus Explikaten solcher Art kombiniert (z. B. durch Definition). Um das zu begreifen, muss man sich nur vor Augen halten, dass die Welt nicht aus einzelnen Sachen besteht, sondern aus Situationen, denen einzelne Sachen auf 57

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Das Universalienproblem

dem Weg über Explikation einzelner Bedeutungen entnommen werden. Eine solche Explikation verlangt zwar immer die Bestimmtheit der explizierten einzelnen Bedeutung durch eine weitere, aber daraus ergibt sich kein unendlicher Prozess, weil nach einem Schritt oder einigen Schritten der Ausblick auf irgendeine weitere Bedeutung (ohne Festlegung, welche es ist) genügt. Bisher wurde nur gesagt, was die Intensionen oder Inhalte von Gattungen sind; nun ist noch festzulegen, was unter der Gattung selbst, die diesen Inhalt hat, verstanden werden soll. Dabei kommt es vor allem darauf an, die Selbstanwendung zu vermeiden, der Platon auf den Leim gegangen ist (11.8.1), mit den Folgen des Regressarguments (11.2.3) und der unannehmbaren Alternative, ob die auf sich selbst angewendete Idee (Gattung) die Eigenschaften ihrer Fälle besitzen soll oder nicht. Wenn z. B. die Idee des Menschen der eine Mensch, die Idee des Rindes das eine Rind ist, 137 stellt sich die Frage, ob es sich um ein Rind ohne alle Eigenschaften eines Rindes handeln soll (das wäre zu wenig) oder um ein Rind mit solchen Eigenschaften (ein Rind, das brüllt, Kühe bespringt oder Kälber wirft, einfarbig braun oder gescheckt ist usw.; das wäre zu viel, zu konkret). Bei Werten wie dem Schönen, 138 Guten, Frommen, Gerechten mag solche Selbstanwendung eines isolierten Aspektes diskutierbar sein, und in der Tat wurde sie in der materialen Wertethik (um Max Scheler und Nicolai Hartmann) systematisch durchgeführt; für Sachen, die keine Werte sind, macht sie (mit wenigen Ausnahmen) keinen Sinn. Eine brauchbare Einführung des Gattungsbegriffes, die darauf Rücksicht nimmt, dürfte folgende sein: Von dem (tatsächlichen oder untatsächlichen) Sachverhalt, 139 dass (mindestens) ein Mensch existiert (also unabhängig davon, ob wirklich einer existiert) ist in leicht ersichtlichem Sinn ein Fall der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass Sokrates existiert, 140 eben weil Sokrates ein Mensch ist. Für dieses Verhältnis zweier Sachverhalte soll die Rede, dass Mensch eine Gattung von Sokrates und dieser ein Fall dieser Gattung ist, nur ein Laut Platon Philebos 15a 4 f. Vgl. Platon Symposion 211a.b. 139 Zur genaueren Klärung, was ein Sachverhalt ist, vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 37–42. 140 Zur Rechtfertigung der Aussage der Existenz von einzelnen Sachen (statt, gemäß einer fehlerhaften Anregung Freges, die in die mathematische Logik und die davon abhängige analytische Philosophie eingeflossen ist, nur von Begriffen oder Satzformen) vgl. ebd. S. 23 f. und unten 43.3.1, wo auch der »leicht ersichtliche Sinn« präzisiert wird. 137 138

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Die Frhzeit

anderer Ausdruck sein. 141 Der an diesem Beispiel abzulesende allgemeine Begriff der Gattung orientiert sich an der analytischen Einheit (siehe die Überleitung am Beginn des Bandes).

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21.2 Die Frhzeit Als erratischer Block steht am Eingang der mittelalterlichen Diskussion über Universalien der neuplatonisch inspirierte Beitrag des Johannes Scotus Eriugena, geleitet von der Idee der Vieleinigkeit, d. h. der ambivalenten oder instabilen Mannigfaltigkeit, die dann entsteht, wenn mehrere Sachen ohne Nivellierung, ohne Verlust ihrer Eigenart, um Identität mit derselben Sache konkurrieren und sich dadurch sozusagen überdecken oder durchdringen, mit der Perichorese (reziproken Immanenz) als passendem Leitbild (15.2; 16.3; 17.2). Ich habe diese Universalienlehre Eriugenas im ersten Band in Kapitel 18.3 dargestellt und wiederhole hier kurz das Wichtigste: Die Individuen in der Art, die Arten in der Gattung, die Gattungen in der Essenz bilden jeweils ein zugleich vielfaches und einfaches Ganzes, dessen Einheit eine unbewegliche, unerschöpfliche Kraft ist, wodurch die Gattung bei der Teilung in Arten, die Art bei der Teilung in Individuen als ungeteiltes Ganzes beharrt, so dass die Vielen ein einziges Individuum sind. Diese Selbstbehauptung des Allgemeinen im Besonderen ist das Leben, das aus der allgemeinsten Substanz hervorgeht und durch viele Arten von Leben, wobei die Art nach ihrer Gattung verlangt, die Körper versorgt. Auf diese Weise führt jeder Mensch eine Doppelexistenz: eine latente in der allgemeinen menschlichen Natur, in der alle Menschen einer sind – etwa Adam, in dem alle gesündigt haben –, und eine gesonderte nach der Geburt. Ich habe unter 18.3 die Plausibilität dieses seltsamen Gedankens am Beispiel unseres Sprechens der Muttersprache deutlich zu machen gesucht: Dem kompetenten Sprecher liegen in der ihm ganzheitlich verfügbaren Sprache Sätze als Muster, denen er zur Darstellung von Sachverhalten, Programmen und Problemen gehorcht, so prompt bereit, dass er mit sicherem Griff, ohne Verwechslung, ein für seinen 141 Auf die Existenz kommt es an, damit überhaupt von einem Sachverhalt gesprochen werden kann; ein Satz ohne existenzielle Konnotation wie »Jemand ist ein Mensch« im Sinn von »N.N. ist ein Mensch« wäre, logisch gesehen, eine bloße Satzform und keine Aussage, die einen Sachverhalt darstellt.

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Das Universalienproblem

Zweck geeignetes Rezept, einen zu seiner Darstellungsabsicht passenden Satz, herausgreifen kann, aber als einzelne bekommt er diese Sätze erst nachträglich zu Gesicht oder Gehör, wenn er sich darauf besinnt, wie er formuliert hat. Das Vermeiden der Verwechslung ist nur möglich, weil der Satz in der Sprache, aus der ihn der flüssige Sprecher ohne Einzelprüfung entnimmt, schon von anderen Sätzen verschieden und daher auch mit sich identisch ist; nur die Einzelheit kommt später hinzu. So ist jeder Mensch nach Eriugena latent in Adam und nach der Geburt als einzelner vorhanden. Im Mittelalter ist diese Konzeption exotisch. Der Platonismus des Vordenkers Augustinus war kein Neuplatonismus, sondern ein verspäteter Altplatonismus, in dem die zentrale und originellste Idee der heidnischen Neuplatoniker fehlte, die Vieleinigkeit, wie sich an deren Zersetzung in Isolierung und Uniformierung (20.2) zeigt. Auch später, als zu den Timaios-Exzerpten des Chalcidius ProklosTexte gekommen waren (besonders die theologische Elementarlehre), hat die Vieleinigkeit im mittelalterlichen Denken keine Wurzeln geschlagen. Eine dynamische Theorie der Universalien hat in diesem Denken keinen Platz. Es orientiert sich an Boethius. Aus Wöhlers Darstellung entnehme ich folgende Nachricht über einen Zeitgenossen Eriugenas: »So behauptete der Mönch Ratramnus von Corbie (gest. ca. 868), dass die Spezies und Genera generell nicht außerhalb der Seele existierten, sondern ausschließlich im Denken. Diese Ansicht formulierte er im Kontext einer Polemik mit einem anderen Mönch zu der Frage, ob alle Seelen der Menschen eine Einheit darstellen oder ob die einzelnen Seelen voneinander getrennt für sich existieren oder ob beides zugleich möglich ist. Ratramnus argumentierte mit seiner Auffassung der Universalien gegen die Ansicht seines Opponenten von der angeblichen Einheit aller Seelen bei deren gleichzeitiger Vielheit. Ratramnus knüpfte direkt an Schriften des Boethius an.« 142 Der Keim von Übernahme der Konzeption Eriugenas wird sogleich mit der Autorität des Boethius erstickt. Boethius 143 nimmt zu den Universalien kurz Stellung in seinen beiden Kommentaren zu der Einführung des Porphyrios in die pseu142 Wöhler, wie Anm. 129, Band I S. 329. Er stützt sich auf: Ratrami Monachi Corbeiensis Liber de anima ad Odonem Bellovacensem Episcopum contra quemdam Monachum qui unam in omnibus animam esse contendebat, in: Ratramne de Corbie, Liber de Anima ad Odonem Bellovacensem, hg. v. D. C. Lambot, Namur-Lille 1952. 143 Ich halte mich an die Ausgabe in Mignes Lateinischer Patrologie, Band 64, Paris 1891, hauptsächlich an die Spalten 82–86 aus dem zweiten Porphyrios-Kommentar.

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Die Frhzeit

do-aristotelische Schrift Kategorien, wo Porphyrios die drei Fragen stellt: 1. ob Gattungen und Arten wirklich existieren oder bloß Setzungen des Verstandes sind, 2. ob sie körperlich oder unkörperlich sind, und 3. ob sie von den Sinnendingen getrennt oder diesen eingelagert sind. Während Boethius im ersten, geschichtlich folgenlos gebliebenen Kommentar bedenkenlos, aber ohne ernsthaftes Eingehen die erste Seite der Alternative der ersten und dritten Frage wählt, 144 legt er im zweiten, maßgebend gewordenen Kommentar der Scholastik die Ähnlichkeitstheorie nach Bochen´ski130 in die Wiege: »Die Universalien werden also gedacht, und man darf die Arten für nichts anderes halten als für einen Gedanken, der durch substantielle (wesenhafte) Ähnlichkeit aufgesammelt ist aus einer Anzahl unähnlicher Individuen, die Gattung aber für nichts anderes als einen Gedanken, aufgesammelt aus der Ähnlichkeit der Arten. (…) Sie bestehen also an den Sinnendingen, werden aber außer den Körpern einsichtig erfasst.« 145 Zu dieser Lösung hilft ihm der Vergleich mit der Geometrie, die die real in die physischen Körper eingebundenen Linien und Flächen abstrahierend ohne Rücksicht auf diese Einbindung behandelt, ohne einen Fehler zu machen (gemäß Aristoteles Physik 193b 35). Dabei übersieht er, dass der einzelnen Linie, wenn sie abstrahierend aus dem Verband des einzelnen Körpers gelöst wird, der einzelne Fall von Ähnlichkeit zwischen zwei einzelnen Gegenständen entspricht, so dass sich das Universalienproblem für Ähnlichkeiten wie für Linien nun erst genauso stellt, wie vorher für Körper, und also mit der Ähnlichkeitstheorie gar nichts gewonnen ist, erst recht nicht, wenn man gleich mit Typen von Körpern, Linien und Ähnlichkeiten beginnt, denn das sind schon Universalien. Boethius beruft sich zur Begründung der These, dass Gattungen und Arten nichts als Gedankendinge sein können, auf den Satz: »Alles, was ist, ist deshalb, weil es ein Eines ist.« 146 Ich habe in der Überleitung darauf hingewiesen, dass dieser Satz durch Unklarheit über den Unterschied von vier Bedeutungen des Wortes »Eines« (analytische, numerische, synthetische, einfache Einheit) in der Geschichte der Philosophie viel Unheil gestiftet hat. Boethius gibt für das Wort keine Begriffsbestimmung an, findet es aber unglaublich, dass etwas zugleich wahrhaft Eines und mehreren Dingen gemeinsam oder – 144 145 146

Spalten 19c, 21c. Spalten 85b.c. Spalte 83b.

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Das Universalienproblem

wie die Gattung – »in« mehreren Dingen sein könnte. Das Bedenken, das für die einfache Einheit eines Punktes und für die synthetische Einheit eines Hauses – ungeeignete Kandidaten für die Umfangsgleichheit mit dem Seienden – Sinn macht, verliert sein Ansehen, wenn man zur analytischen oder zur numerischen Einheit übergeht. Bei Boethius bleibt unklar, was daran schwierig sein soll. Er bemüht sich aber, das Bedenkliche einzukreisen, indem er, was er der Gattung und Art verbietet – in der Wirklichkeit gemeinsam zu sein –, anderen Formen der Gemeinsamkeit gestattet: Gemeinsam kann Gemeingut (Brunnen, Quelle) oder eine Veranstaltung (Schauspiel) sein. Bei der Gattung komme hinzu, dass sie ganz und gleichzeitig in den einzelnen Fällen sei und deren Substanz ausmache. 147 Substanz ist hier wohl als Wesen der Sache gemeint, das, abgesehen von zufälligem Beiwerk sich so mit ihr deckt, wie es später Walter Burley mit Berufung auf Aristoteles Metaphysik 1031b 18–20 formuliert: »Die Washeit ist identisch mit dem, dessen Washeit sie ist, laut dem 7. Buch der Metaphysik.« 148 Wenn man die Gattung mit ihren Fällen, ja auch nur mit ihren Untergattungen alias Arten, identifiziert, wird es allerdings leicht, Widersprüche abzuleiten. Ob Boethius darauf anspielt, ist nicht sicher, aber Abaelard knüpft mit seiner Polemik gegen den exzessiven Realismus hier an. Mit Petrus Abaelardus 149 beginnt die Durchsetzung des Nominalismus als dominante scholastische Universalienlehre. Alle vom exzessiven Realismus, der auf wirkliche allgemeine Gegenstände setzt, abweichenden scholastischen Positionen in der Universalienfrage sind in hinlänglich weitem Sinn Nominalismus, weil sie die Universalien leugnen oder umdeuten: entweder als Fiktionen mit Fundament in der Ähnlichkeit (gemäßigter Realismus) oder als individuelle Repräsentanten, die eine Menge unter einander ähnlicher Objekte darstellen und entweder Vorstellungen in der Seele sind (Konzeptualismus) oder Namen (strikter Nominalismus). Dass der Unterschied nicht groß ist, bekennt der späte Hauptvertreter des gemäßigten Realismus, Franz Suarez, indem er den Nominalisten sogar Spalte 83d. Walter Burley, Tractatus de universalibus ed. H.-U. Wöhler, Stuttgart/Leipzig 1999 (2. Auflage), S. 12 Z. 17 f. 149 Peter Abaelards Philosophische Schriften, hg. und untersucht von Bernhard Geyer, Münster i. W. 1919–1933 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters Band 21), Heft 1–3 (1919, 1921, 1927): Die Logica Ingredientibus, Heft 4 (1933): Die Logica Nostrorum Petitionis Sociorum. 147 148

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bescheinigt, dass sie in der Sache vielleicht nicht von der wahren Meinung abweichen. 150 Die Bahn für diese Abweisung der Realität der Universalien hat Abaelard mit seiner Polemik gegen den exzessiven Realismus seines Lehrers Wilhelm von Champeaux gebrochen. Er referiert die von ihm angegriffene Lehre so: »Gewisse (Autoren) verstehen die allgemeine Sache so, dass sie in durch Formen von einander verschiedenen Sachen die essentiell identische Substanz unterbringen, die von den einzelnen Sachen, in denen sie ist, die inhaltliche (materialis) Essenz und in sich eine (einzige) sei, bloß durch Formen untergeordneter (Bestimmungen) verschieden. Wenn es dazu käme, dass diese Formen abgetrennt würden, dann gäbe es überhaupt keinen Unterschied der Sachen, die durch die Verschiedenheit der Formen von einander abstehen, obwohl es sich essentiell um genau denselben Inhalt (materia) handelt. Zum Beispiel: In den einzelnen, der Zahl nach sich unterscheidenden Menschen ist identisch die Substanz des Menschen, die im einen Fall durch diese Akzidentien Platon wird, im anderen durch jene Sokrates.« (wie Anmerkung 149 S. 10 Z. 18–25) Dieser exzessive Realismus geht in dieselbe Falle der Selbstanwendung wie Platon, aber in umgekehrter Richtung: Während Platon – deutlich im Tenor seiner Dialoge, aber nicht ohne eine gegenteilige Meinung anzudeuten (11.2.1) – die Ideen der Sinnenwelt in Transzendenz entrückt, legen die exzessiv realistischen Antipoden Abaelards die Gattungen so in die Fälle hinein, dass sie, abgesehen von akzidentellem Beiwerk, mit diesen verschmelzen und mehr oder weniger zu ihren eigenen Fällen werden. Gegen diese unvernünftige Fassung des exzessiven Realismus hat Abaelard es leicht mit der Widerlegung: »Wenn dasselbe dem Wesen nach, wenn auch besetzt mit verschiedenen Formen, in (mehreren) einzelnen Dingen bestünde, müsste diese Sache, die mit diesen Formen behaftet ist, jene Sache sein, die mit jenen behaftet ist, so dass das Tier, als behaftet mit Vernunft, das Tier wäre, als behaftet mit Unvernunft, derart, dass das vernünftige Tier das unvernünftige Tier wäre und so in derselben Sache (kontradiktorisch) Entgegengesetztes zugleich bestünde (…). Aber verschiedene Gegenteile, die es auch dem Begriff nach sind, können nicht zugleich derselben Sache innewohnen.« 151 Er geht aber zu weit, wenn er sogleich, nachdem er 150 Franz Suarez, Disputationes Metaphysicae (zuerst Salamanca 1599) d. 6 s. 3 § 1 und s. 5 § 3 (Opera omnia Band 25, Paris 1861, S. 206 und 223). 151 Wie Anm. 149, S. 11 Z. 11–16. 20 f.

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nebenbei einige für die Konfrontation unwichtige Universalientheorien (die extensionalistische, die die Universalien mit ihren Umfängen identifiziert, und die indifferentistische, die sie mit ihren Fällen identifiziert) abgefertigt hat, die Folgerung zieht: »Aus diesen (Erwägungen) ergibt sich, dass jene Meinung gänzlich der Vernünftigkeit ermangelt, wonach genau dieselbe Essenz in verschiedenen Sachen zugleich besteht.« 152 »Nachdem wir nun die Gründe dargelegt haben, aus denen Sachen weder einzeln noch zusammen als universal in dem Sinn, dass sie von mehreren Sachen ausgesagt werden, gelten können, bleibt nur, dass wir solche Universalität den bloßen Worten (solis vocibus) zuschreiben.« 153 Das Unlogische dieser Auswertung eines Argumentes, das eine ungeschickte Fassung des exzessiven Realismus widerlegt, zum Exklusionsbeweis für den Nominalismus besteht darin, dass eine asymmetrische Relation – das Fallsein unter einer Gattung – in eine symmetrische verkehrt wird, kraft der Unterstellung, dass nicht nur der Fall die Merkmale aus dem Inhalt seiner Gattung übernimmt, sondern auch umgekehrt die Gattung die (mit einander unverträglichen) Eigenschaften übernimmt, die ihren Fällen als Fällen einer Untergattung (Art) der Gattung zukommen, im Beispiel die Eigenschaften, vernünftig und unvernünftig zu sein. Diese Umkehr der Fallbeziehung ist ein unlogischer Sprung. Er lässt sich als Effekt einer falschen Sprachhörigkeit verstehen, die sich an das Wort »ist« klammert, das sowohl die asymmetrische Relation des Fallseins (»Der Mensch ist ein Tier«) als auch die symmetrische der Identität (»Der Mensch ist das zweibeinige ungeflügelte breitnagelige studierfähige Tier« 154 ) darstellen kann. Es wäre schade, wenn das ganze Fundament des Nominalismus, mit dem Abaelard der nachfolgenden Scholastik imponiert hat, in einer Äquivokation beim Umgang mit dem Wort »ist« bestünde. Eine tiefere Begründung, die allerdings auf eine bloße Setzung hinausläuft und daher den Andersdenkenden auch nicht zu überzeugen braucht, zeichnet sich ab, wo Abaelard zur zweiten Frage des Porphyrios übergeht, ob die Universalien körperlich oder unkörperlich seien. Er deutet sie, um ihr einen für sein abstraktes Raisonnement brauchbaren Sinn abzugewinnen, so um, dass mit »körperlich« gemeint sei: »diskret«. 155 Die Entscheidung des Boethius, der er sich anschließt, 152 153 154 155

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Ebd. S. 13, 15–17. Ebd. S. 16, 19–22. Definitionen des Corpus Platonicum, 415a 11 f. Wie Anm. 149, S. 28, 23 f.

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referiert er so: »dass niemals eine Sache, sei sie bloß eine oder vielfach, als Universale vorkommt, d. h. als aussagbar von Mehreren, wie er selbst sorgfältig klarmacht und wir oben gleichfalls bewiesen haben. Dass aber keine Sache universal sei, beweist er zunächst folgendermaßen: Alles, was ein Eines ist, ist ein Eines der Zahl nach, d. h. diskret in eigener Wesenheit (discretum in propria essentia); aber Gattungen und Arten, die Mehreren gemeinsam sein müssen, können nicht der Zahl nach ein Eines sein und also überhaupt nicht Eines.« 156 Diskretheit ist hiernach die zusätzliche Bestimmung des numerisch Einen oder Einzelnen, dass es in seiner Einzelheit mit dem, was es ist (seiner propria essentia) abgesondert (discretum) ist, so dass es mit anderem nichts gemeinsam haben kann. Das ist freilich eine petitio principii, denn es müsste erst bewiesen werden, dass alles so diskret ist. Das Gegenteil ist der aus dem Motiv der Vieleinigkeit sich ergebende Grundgedanke der dynamischen Universalienlehre des Scotus Eriugena, die Abaelard hiermit von der Schwelle weist. In dieser Beziehung steht er für fast alle folgenden Scholastiker. In der scholastischen Diskussion des Universalienproblems hat der Neuplatonismus keinen Platz. Die Lehre, dass alles Einzelne diskret ist, d. h. in dem, was es ist, abgesondert mit sich allein, ergibt zusammen mit dem Axiom, dass alles Seiende einzeln oder (numerisch) Eines ist (omne ens unum), den Grundsatz des Singularismus: Alles ist ohne weiteres einzeln. Dieser Grundsatz ist falsch (21.1), beherrscht aber das scholastische Denken mit wenigen Ausnahmen, z. B. bei Duns Scotus und Kölner Albertisten des 15. Jahrhunderts. Er schließt in sich das Axiom der Diskretheit, das offenbar die verborgen treibende Kraft des Unbehagens am exzessiven Realismus im »nominalistischen Zweifel, wie das Allgemeine als identisch Eines eigentlich vorzustellen sei«,131 ist. Damit ist die vorhin formulierte Aufgabe gelöst, »die geheimen Voraussetzungen der Zweifler aufzudecken«. Der exzessive Nominalismus scheint sich dem Abaelard selbst zu vereiteln, weil für die Namen, die an die Stelle allgemeiner Gegenstände treten, keine Designate mehr zur Verfügung stehen: »Auf keine Sachen scheinen allgemeine Namen zu passen, da alle Sachen in sich diskret bestehen und, wie gezeigt wurde, in keiner Sache überein kommen, die für eine zur Einsetzung allgemeiner Namen genügende Übereinstimmung ausreichen könnte.« 157 Deswegen scheinen 156 157

Ebd. S. 30, 38–31, 6. Ebd. S. 18, 9–12.

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die Universalien ohne jede Bedeutung zu sein. 158 Indes weiß Abaelard sich zu helfen: »Aber so ist es nicht. Denn sie bezeichnen in gewisser Weise durch Benennung auch verschiedene Sachen, ohne ein von ihnen aufsteigendes Verstehen 159 herzustellen, vielmehr ein auf die einzelnen Sachen bezügliches. Wie etwa dieses Wort ›Mensch‹ die einzelnen (Menschen) bezeichnet aus dem gemeinsamen Grund, dass sie Menschen sind, weswegen es ›Universale‹ genannt wird und ein gewisses gemeinsames, aber nicht eigentümliches Verstehen herstellt, das sich auf die einzelnen (Menschen) bezieht, deren gemeinsame Ähnlichkeit es auffängt.« 160 Mit diesen gewundenen Umschreibungen tastet sich Abaelard an Sachverhalte der Art, dass gewisse Leute Menschen sind, als Designate universal fungierender Namen heran, und in der Tat führt er solche Sachverhalte als Gegenstände eigener Art unter dem Titel des Status ein, aber mit der scheuen Reserve, dass es sich durchaus um keine Sachen handle: »Als status des Menschen bezeichnen wir das Menschsein selbst, das keine Sache ist, das wir (aber) auch als gemeinsamen Grund der Zuordnung des Namens zu den Einzelsachen, demgemäß sie mit einander überein kommen, angeben. Oft aber vergeben wir den Titel des Grundes an allerlei, was keine Sache ist, etwa, wenn man sagt: ›Er wurde geschlagen, weil er nicht zum Gericht will.‹ Er will nicht zum Gericht, was als Grund gesetzt wird, ist keine Wesenheit. Als status des Menschen können wir auch die in der Natur des Menschen gelegenen Sachen selbst bezeichnen, deren gemeinsame Ähnlichkeit jener auffasste, der den Namen (›Mensch‹) einführte.« 161 Der aus Boethius geschöpften Ähnlichkeitstheorie der Universalien wird hier andeutungsweise eine Sachverhaltstheorie aufgeprägt, der gemäß die Bedeutung der Gattungsnamen zwar auf die Ähnlichkeit der Individuen zurückgeht, aber nicht unmittelbar darin die Rechtfertigung für sinnvollen Gebrauch des Namens hat, sondern in einem Sachverhalt, der in dieser Ähnlichkeit fundiert ist. Das ist, unabhängig von Nominalismus, eine sogar auch realistisch interpretierbare Verschiebung der Sinngebung für Universalien, die dem platonisierenden exzessiven Realismus der von Abaelard bekämpften Gegner voraushat, dass keine Ebd. S. 19, 6. Intellectus, Verstehen gemäß der Definition ebd. S. 20, 30 f.: intellectus actio quaedam est animae, unde intelligens dicitur. 160 Ebd. S. 19, 6–13. 161 Ebd. S. 20, 8–14. 158 159

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Selbstanwendung der Universalien mehr zu fürchten ist; denn der Mensch ist kein Sachverhalt und der Sachverhalt kein Mensch. Das fatale Missverständnis, das die Scholastiker beim Nachdenken über die Subsumtion mit der Copula »ist« (»Sortes est homo«, »Sokrates ist [ein] Mensch«) immer wieder heimsucht, als bestünde das Falleiner-Gattung-sein in einem So-sein-wie-das, wovon das Betreffende ein Fall ist, entfällt bei einer konsequent durchgeführten Sachverhaltstheorie, die in Abaelards Statuslehre angebahnt ist. Die Bestimmtheit, die ein Sachverhalt ist, als Haben einer Bestimmung, die ein weiterer (eventuell Programme und Probleme einschließender) Sachverhalt ist, kann dann von jedem Exemplarismus befreit werden, der die Gattungen selbst zu Vorbildern ihrer Fälle macht, statt dass diese nur die Merkmale, die den Inhalt der Gattungen bilden, von ihnen erben. Dann entfielen die paradoxen Züge des exzessiven Realismus. Abaelard kann diese Chance nicht nützen, weil er mit dem Status gegenstandstheoretisch nichts anzufangen weiß. In den Glossen zu der aristotelischen Schrift Perihermeneias kommt er auf die status unter dem in der Scholastik häufig verwendeten Titel der dicta propositionum zurück, 162 aber mit dem Vorbehalt: »Wir lassen überhaupt nicht zu, dass das Besagte (dictum) irgendeiner Behauptung (propositio) eine Sache oder mehrere Sachen wäre.« 163 Behauptungen haben nach Abaelard zusätzlich zur Bezeichnung von Begriffen und Sachen durch sie noch eine andere Bedeutung wie z. B., dass Sokrates ein Mensch ist oder nicht, dass ein (der) Mensch ein Tier ist oder nicht, aber diese Bedeutung, d. h. ein Sachverhalt, ist nach seiner Meinung »überhaupt nichts« und keine Essenz. 164 Eine so schroffe Verweigerung, die ich mir höchstens aus seiner Befangenheit im System der aus den aristotelischen Kategorien herausgelesenen 10 obersten Gattungen erklären kann, bringt ihn in die Verlegenheit, dass jemand mit der Vorschrift, dass Feuer angezündet werden soll, nichts anfangen kann, wenn der vorgeschriebene Sachverhalt, dass Feuer angezündet wird, wirklich gar nichts ist. 165 Er hilft sich mit der fadenscheinigen Ausrede, dass man vom dictum propositionis nicht geradezu sagen solle, es sei nichts, sondern nur, es sei nicht etwas. 166 162 163 164 165 166

Ebd. S. 365–370. Ebd. S. 366, 26 f. Ebd. S. 365, 31–38. Ebd. S. 369, 22–25. Ebd. S. 369, 37–39.

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Das Universalienproblem

Bisher habe ich mich an den Text gehalten, den der Herausgeber nach dem ersten Wort »Logica Ingredientibus« genannt hat. In der später geschriebenen Logica Nostrorum petitioni sociorum (betitelt auf entsprechende Weise) behandelt Abaelard das Universalienproblem viel oberflächlicher. Seinen Einwand gegen den exzessiven Realismus formuliert er kurz und bündig: »Wenn dieselbe Substanz essentiell in allen (Fällen der Gattung) in der Weise ist, dass die von Rationalität geformte von Irrationalität besetzt ist, wie kann man ausschließen, dass die rationale Substanz die irrationale Substanz sei?« 167 Die Diskretheit der Sachen, die mehr als Einzelheit, so wie diese mehr als Identität, ist, wird höchst voreilig dieser gleichgesetzt: »Aber die Begriffe der Universalien erreichen in keiner Weise die Sachen als diskrete, da jede Sache diese oder jene ist, aber sie bezeichnen weder diese noch jene.« 168 Statt des Ausdrucks »Stimme« (vox) verwendet Abaelard nun den Ausdruck »Rede« (sermo) für die Namen im Dienst seines Nominalismus, vermutlich, wie der Herausgeber anmerkt, im Zusammenhang mit den Querelen, in die sein Lehrer Roscelin bei der Anwendung des Nominalismus auf die göttliche Trinität geraten war. Für die Universalienlehre Abaelards bringt Logica Nostrorum petitioni sociorum keine erheblichen zusätzlichen Aufschlüsse.

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21.3 Die Hochscholastik Eben habe ich ausgeführt, dass das, was die Scholastiker beim Universalienproblem vom exzessiven Realismus – der Position, die Gattungen und Arten als wirkliche Gegenstände ohne Umdeutung ernst nimmt – abschreckt, das Gespenst des Exemplarismus ist, d. h. die Meinung, dass der Fall einer Gattung so bestimmt sein müsse wie das, wovon er Fall ist. Da nun die Gattung allgemein, der Fall aber nicht allgemein, sondern individuell ist, ergibt sich Widersinn, falls die Gattung als wirklicher allgemeiner Gegenstand ernst genommen wird; diesem Widersinn weichen die Scholastiker aus, indem sie die Gattung entweder in das Reich der Fiktion verweisen oder in einen individuellen Repräsentanten (eine Vorstellung in der Seele oder einen Namen) umdeuten, der den Fällen nicht wirklich zukommt, 167 168

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Ebd. S. 517, 26–29. Ebd. S. 524, 41–525, 2.

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Die Hochscholastik

sondern sie darstellt oder vertritt. Der Grund dafür, dass sich dieses Gespenst an den exzessiven Realismus hängt, ist ein sprachlicher. Aristoteles hatte definiert: »Ich nenne allgemein, was die Natur hat, von mehreren (Dingen) prädiziert zu werden.« 169 Daran knüpft schon Abaelard die Universaliendiskussion, 170 und die späteren Scholastiker bauen ebenso auf diese Begriffsbestimmung. Standardform der Prädikation ist für die Scholastiker aber die Zusammensetzung eines Subjekts mit einem Prädikat durch die Copula »ist« (est). Dieses Wort hat den Doppelsinn, sowohl das Fallsein unter einer Art oder Gattung (die Subsumtion, abgesehen vom Akt des Subsumierens) darzustellen, als auch die Identität. Unglücklicherweise besitzt das Lateinische keinen unbestimmten Artikel. Wo wir sagen können »Sokrates ist ein Mensch«, sagt der Scholastiker »Sortes est homo«, ohne »ein«. Dieses Fehlen einer wichtigen Nuance in der Grammatik des sprachlichen Ausdrucks leistet der Verwechslung von Subsumtion (Fallsein) und Identität Vorschub. Wenn man sich in den Sinn des Satzes »Sokrates ist Mensch« hineindenkt und darauf reflektiert, dass Mensch eine Art der Gattung, ein allgemeiner Gegenstand ist (weil es viele Menschen gibt), drängt sich leicht die grübelnde Zweifelsfrage auf: Sollte Sokrates denn wirklich Mensch in diesem Sinne sein, d. h. eben das, was eine allgemeine Gattung ist? Die Antwort lautet selbstverständlich: nein! Jetzt hilft nur noch, vor dem Gespenst des Exemplarismus zu fliehen, d. h. den Sokrates trotz der unbezweifelbaren Richtigkeit jener Prädikation von der Last zu befreien, die Gattung nachzuahmen und alles das zu übernehmen, was diese an Bestimmungen hat. Zu diesem Zweck muss die Gattung (oder Art, wie die Scholastiker im Fall von Mensch sagen) ins Reich der Fiktion verwiesen oder in der angegebenen Weise umgedeutet werden. Die simple Aufgabe der Gattung, eine Bestimmung zu sein, für die es Sachen gibt oder geben kann, die der Bestimmtheit durch diese Bestimmung unterliegen, hat sich wegen der Zweideutigkeit der Copula und des Fehlens einer Warnung vor dieser Zweideutigkeit durch Unverfügbarkeit des unbestimmten Artikels in ein Ungeheuer von Exemplar verwandelt, das die ihm nachgeordneten Fälle zwingen will, sich ihm anzugleichen, und um sie vor dieser Vergewaltigung zu schützen, muss das vom exzessiven Realismus aufgestellte Ungeheuer gestürzt werden. 169 170

De interpretatione 17a 39 f. Wie Anm. 149, S. 9, 18 f.

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Das Universalienproblem

Das so motivierte Bemühen um Rettung der Individuen vor dem Exemplarismus ist das treibende Motiv des Ausweichens der Hochscholastiker vor der Realität der Universalien. Ein guter Zeuge ist Siger von Brabant, der freigeistige Magister, der 1266–1276 an der Artistenfakultät der Sorbonne lehrte. In der 15. Quaestio des 7. Buches seiner Untersuchungen zur Metaphysik geht es um die Frage, ob das Universale in den Dingen oder in der Seele sei; Siger antwortet: in der Seele; denn in den Dingen gebe es nichts Gemeinsames (nihil est communiter in rebus), und die so, als Gemeinsames, verstandenen Universalien seien gar nichts Seiendes. Sein Grund ist dieser: »Der Begriff der Allgemeinheit haftet den Einzeldingen nicht an, denn diese (Aussage) ist falsch: Sokrates ist eine Art.« 171 Das eben aufgedeckte sprachliche Missverständnis könnte nicht drastischer dokumentiert sein. Auf gleichem Niveau mit Siger befindet sich Thomas von Aquino bei seiner Behandlung des Universalienproblems, die im 4. Kapitel seiner Schrift De ente et essentia 172 zusammengefasst ist. Thomas beginnt mit Abgrenzungen: Die erste richtet sich gegen die Annahme, der Begriff des Universale (Gattung oder Art) komme der Essenz (oder einem Stück von ihr) als einem Teil des Falles zu, z. B. beim Menschen der Mensch- oder Tierheit. Das sei unmöglich, da der Begriff der Gattung oder Art vom ganzen Individuum prädiziert werde. Da haben wir wieder die Verwechslung einer Bestimmung, wodurch etwas als etwas (z. B. als Mensch oder als zweifüßiges oder zehnzehiges oder nicht ganz 2 m langes oder denkendes Objekt) bestimmt wird, mit einem Exemplar, das wegen der identifizierenden Nebenbedeutung der Copula »ist« so genau mit dem Objekt, das sein Fall ist, übereinstimmen muss, dass die Übereinstimmung nicht bloß auf einen Teil des Objektes beschränkt sein darf. Gegen Ende des Kapitels kommt dieselbe Begriffsverschiebung mit den Worten Sigers vor: 171 Intentio universalitatis rebus singularibus non inhaeret: haec enim est falsa »Socrates est species« (Siger von Brabant, Questions de Métaphysique ed. C. A. Graiff, Louvain 1948, S. 379–381, das Zitat S. 380). 172 Ich benütze die Ausgabe: Thomas von Aquino, Über das Sein und das Wesen, deutsch-lateinische Ausgabe von Rudolf Allers, 2. Auflage Köln 1953, berichtigter Nachdruck Darmstadt 1980. Der lateinische Text steht dort unten auf den Seiten 35– 42. Die Universalienlehre des Thomas ist so konstant, dass ich mich auf De ente et essentia Kapitel 4 beschränken darf; zum Vergleich erwähne ich: Sentenzenkommentar I d. 19 q. 5 a. 1c., d. 30 q. 1a. 3c., II d.3 q. 1 a. 2 ad 3, d. 17 q. 2 a. 1 ad3; Quaestiones de potentia Dei q. 7 a. 6c., a. 9c., a. 11c.; Summa Theologiae I q. 30 a. 4c.; q. 39 a. 4 ad 3 und a. 6 ad 1; q. 76 a. 2 ad 4; q. 85 a. 3 ad 1.

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Wenn die Art Mensch wirklich existierte, sei es in Sokrates oder absolut, müsste Sokrates diese Art sein, weil alles, was dem Menschen als solchem zukommt, von Sokrates prädiziert wird. In Wirklichkeit wird zwar das Bestimmte durch die Bestimmung bestimmt, aber die Bestimmung (z. B. Gattung) ist etwas anderes (ein anderer Sachverhalt, s. o. 21.1) als die Bestimmtheit des Bestimmten durch sie, und deswegen braucht der Fall nicht alles zu übernehmen, wodurch die Gattung (als Gattung) bestimmt ist. Die zweite Abgrenzung richtet sich gegen die Annahme der Platoniker, Gattung und Art existierten außerhalb ihrer Fälle. Dagegen hat Thomas zwei Einwände: 1. Sie könnten dann nicht vom Individuum prädiziert werden, denn man kann nicht sagen, dass Sokrates etwas sei, das von ihm getrennt ist. Mit diesem »sei« ist die subsumierende Funktion der Copula in die identifizierende verrutscht. 2. Was außerhalb des Individuums existiert, brächte keinen Nutzen zur Erkenntnis dieses Einzeldinges. Dieses Argument zeigt, dass Thomas Singularist ist wie Abaelard und ihm wie diesem jede Sache als abgesondert im eigenen Wesen (discretum in propria essentia) gilt, so dass die Erkenntnis lediglich in der Sache und nicht außerhalb von ihr Informationen darüber sammeln kann, was die Sache – sozusagen auf eigene Faust – ist. Mit diesem singularistischen Argument ist bereits der Stab über die Universalien gebrochen: Es kann nichts Gemeinsames geben, wenn jede Sache in diesem Sinn diskret ist. Die Passung von Universale und Fall ist so genau geworden, dass das Universale nicht über den Fall hinausreichen kann, während es ihn nach der ersten Abgrenzung vollständig ausfüllen muss. Im Bilde gesprochen: Das Universale ist in das Prokrustesbett eines beliebigen Einzelfalles gelegt worden, wo es wegen allzu gewaltsamer Behandlung sein Leben als Universale aushauchen muss. Es kann nur noch als verschwommene Bezeichnung des ganzen Einzelfalles (Thomas: per modum totius implicite et indistincte) ein Schattendasein fristen. Thomas rettet sich vor der völligen Preisgabe des Allgemeinen zu der von Avicenna eingeführten gemeinsamen Natur (natura communis), die sich vom Universale dadurch unterscheidet, dass sie ein unvollständig bestimmter Gegenstand ist, der nur die in der Definition aufgezählten Merkmale besitzt, in jeder anderen Hinsicht, z. B. bezüglich der Frage, ob sie ein allgemeiner Gegenstand ist, aber unentschieden ist, so dass ihr die betreffende Eigenschaft weder entschiedenermaßen zugesprochen noch entschiedenermaßen abgesprochen werden darf. Eine Prädikation dieser natura communis vom Fall 71

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der Gattung nach der Maßgabe des Thomas würde allerdings dieselben Unzuträglichkeiten nach sich ziehen wie die Prädikation der Species als eines besonderen Gegenstandes, denn man kann von Sokrates ebensowenig sagen, dass er in der betreffenden Beziehung unvollständig bestimmt (weder entschieden allgemein noch entschieden individuell) sei, wie man sagen kann, dass er eine Species sei. Deswegen ist es unlogisch, wenn Thomas geradezu behauptet: »Und diese so bestimmte Natur ist das, was von sämtlichen Individuen prädiziert wird.« (Et haec natura sic considerata est quae praedicatur de individuis omnibus.) Dass die gemeinsame Natur kein (entschiedenes) Sein im Individuum hat, begründet er damit, dass »wenn Sein in diesem Einzelding dem Menschen als solchem zukäme, er niemals außer diesem Individuum wäre«, nämlich z. B. in anderen Menschen als dem Sokrates. Damit stellt er wieder einmal das singularistische Axiom Abaelards auf (Diskretheit jeder Sache in ihrem eigenen Wesen). Jede Gemeinsamkeit von Bestimmungen ist damit ausgeschlossen. Thomas: »Nicht kann jedoch gesagt werden, dass der Begriff des Universale der so verstandenen Natur zukäme, weil zum Begriff des Universale Einheit und Gemeinsamkeit gehört. (…) Wenn aber Gemeinsamkeit zum Begriff des Menschen gehörte, dann würde in jeder Sache, in der Menschheit angetroffen würde, auch Gemeinsamkeit angetroffen werden. Und das ist falsch, denn in Sokrates wird gar keine Gemeinsamkeit angetroffen, sondern, was auch immer in ihm ist, ist individuiert.«172 Sokrates ist für Thomas abgesondert in seinem eigenen Wesen, wie Abaelard wollte, ohne irgendetwas von diesem Wesen mit anderen teilen zu können; dass er schon seine bloße Einzelheit der Bestimmtheit durch eine Bestimmung verdankt, die eben deshalb – egal, ob sie auch anderen Sachen zukommt – nicht selbst in dieser Einzelheit unterkommen kann, sondern ihr vorausgesetzt ist, kommt nicht in den Blick des Thomas. Das Individuum ist für seine Prädikate also schlecht und recht mit der natura communis abgefunden; was aber wird nun aus dem Universale, das nicht die Geschmeidigkeit unvollständiger Bestimmtheit besitzt? Thomas: »Es bleibt, dass der Begriff der Species der menschlichen Natur zukommt gemäß jenem Sein, das sie im Verstande hat.«172 Der Verstand macht aus der natura communis einen vollständig bestimmten Gegenstand, aber der ist nicht das Universale im alten Sinn, das von den individuellen Fällen prädizierbare, sondern eine individuelle Vorstellung in der Seele, die durch Ähnlichkeit die Fälle aus dem Umfang der Gattung oder Art im alten Sinn dem 72

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Subjekt repräsentiert. Thomas vergleicht dieses Bild in der Seele einer Statue, die viele Menschen darstellt; in der modernen Lebenswelt könnte man etwa an ein Kriegerdenkmal beim Grab des unbekannten Soldaten denken. Allgemeinheit kommt diesem umgedeuteten Ersatz-Universale nicht mehr durch sein wirkliches Sein zu, das vielmehr das individuelle Sein eines Inhaltes im Verstand eines Individuums ist, sondern durch seine repräsentative Verweisungsfunktion auf die Individuen des der Gattung oder Art im vorigen Sinn zugeordneten Begriffsumfanges. Thomas ist also Konzeptualist und damit Nominalist im weiteren Sinn auf der Grundlage des Singularismus, der Überzeugung, dass alles ohne weiteres einzeln ist. Johannes Duns Scotus 173 handelt in der Ordinatio (II d. 3 pars 1) 174 vom principium individuationis und präzisiert die Fragestellung so: »Es ist also der Sinn der Untersuchungen über dieses Thema, was in diesem Stein es ist, wodurch im Sinn einer unmittelbaren Grundlage es ihm widerspricht, in mehrere Sachen geteilt zu werden, von denen jede es selbst ist, in der Weise, wie Teilung in seine unterliegenden Teile jedem Universale eigen ist.« 175 Diese Äußerung macht deutlich, wie extrem – bis zur Identifizierung von Vorbild und Nachbild – Duns Scotus in dem Exemplarismus befangen ist, der den Scholastikern den unbefangenen Zugang zu Gattungen und Arten verstellt und sie zur Flucht in deren Fiktionalisierung oder Umdeutung veranlasst. Das ist auch die Reaktion des Duns Scotus, dessen Repräsentationstheorie der des Thomas gleicht 176 und daher keine besondere Behandlung verdient. Die Originalität des Duns in 173 Vom Sentenzenkommentar des Duns Scotus sind drei Fassungen bekannt: die Ordinatio (O), die bis Buch 2 distinctio 3 in der trefflichen Vatikanstadt-Ausgabe der sämtlichen Werke (Band 1–7, 1950–1973) vorliegt und von distinctio 4 an als Opus Oxoniense in der schlechteren Ausgabe der sämtlichen Werke durch Wadding (12 Bände, Lyon 1639, Nachdruck Hildesheim 1968/69); die Lectura (L) in der Vatikanstadt-Ausgabe Bände 16–19, 1960–1993 (bis Buch 2 distinctio 24); schließlich die Reportata Parisiensia (R), Nachschrift einer Vorlesung an der Sorbonne, in Waddings Ausgabe Band 11. 174 O VII S. 391–516. 175 Quaestio 2 n. 48, S. 413. 176 O I d. 3 p.3 q.1 n.360, Band 3 S. 218: Cum universale ut universale nihil sit in existentia, sed tantum sit in aliquo ut repraesentante ipsum sub tali ratione (…). RI d. 3 q. 4 n. 5, Band XI/1 S. 47: Obiectum universale ut universale non habet esse nisi diminutum in aliquo repraesentativo, quemadmodum Hercules in statua habet esse repraesentativum. RII d. 12 q. 5 n. 12, ebd. S. 328: Universale in actu non est nisi in intellectu, intellectus causat universalitatem. Quodlibet 2 n. 6, Opera ed. Wadding Band 12 S. 37: (…) imo universalitas sive non hoc non potest alicui competere nisi in intellectu.

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Das Universalienproblem

der Universalienlehre besteht vielmehr darin, dass er den Singularismus und die Diskretheitsthese aufbricht, die dogmatische Überzeugung von Abaelard (21.2) und Thomas von Aquino (21.3), dass alles von vornherein einzeln und in seinem eigenen Wesen abgesondert (discretum in propria essentia) ist, wodurch sich diese Scholastiker den Zugang zum Geltenlassen der Universalien verbauen: die Anerkennung, dass mehreren Sachen ihrem eigenen Wesen nach etwas gemeinsam sein kann. Scotus nimmt nichts ohne weiteres als einzeln hin, sondern forscht (grundsätzlich mit Recht, s. o. 21.1) nach den Voraussetzungen dafür, dass etwas einzeln sein kann. Das ist auch der Sinn der Fahndung nach einem principium individuationis, die bei Scotus viel radikaler gemeint ist als etwa bei Thomas von Aquino. Wenn dieser die materia signata dimensionibus, den in bestimmten Grenzen ausgedehnten Stoff, als Individuationsprinzip ausgibt, will er nicht sagen, wodurch etwas einzeln wird, denn das ist es für ihn von vornherein mit allem Zubehör, wie z. B. Sokrates, in dem – nach der eben aus De ente et essentia zitierten Stelle im Kapitel 4 – »nicht irgendwelche Gemeinsamkeit anzutreffen ist, weil vielmehr alles in ihm individuiert ist«. Das gilt vor allem für die in bestimmten Grenzen ausgedehnte Materie – »Fleisch und Knochen« nach der unechten (12.7) Stelle 1034a 5–8 aus dem 8. Kapitel der Metaphysik des Aristoteles, woran Thomas Maß nimmt –, die Einzelheit nicht herbeiführen kann, weil sie in ihren genau bestimmten Grenzen selbst schon einzeln und abgeschlossen ist, also Einzelheit voraussetzt; gerade deswegen ist sie für Thomas Individuationsprinzip, weil alle allgemeinen Merkmale, die in jeder Sache aber andere als in jeder anderen (nur vergleichbare) sind, in ihr den Sitz für einmaliges Vorkommen an dieser Weltstelle haben. Wenn dagegen Duns Scotus ein Individuationsprinzip sucht, will er das erzeugende Prinzip ermitteln, das etwas, das nicht von sich aus einzeln ist, zur Einzelheit vervollständigt. Insofern ist es falsch, wenn man in einer Galerie scholastischer Vorschläge für das principium individuationis Thomas von Aquino und Duns Scotus auf einer Ebene neben einander stellt. Das nicht von sich aus Einzelne, das der Vervollständigung durch ein principium individuationis bedarf, sieht Scotus in den schon bei Thomas besprochenen gemeinsamen Naturen, die im Gegensatz zu echten Universalien unvollständig bestimmt sind, so dass für viele Eigenschaften in der Sache selbst offen ist, ob sie diese besitzen. In der Lectura beginnt er die Untersuchung des Individuationsprinzips mit der Frage, ob die materielle Substanz von sich aus 74

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(ihrer Natur nach) singulär und individuell sei, 177 und führt zunächst die Meinungen der Gegner an, die das bejahen. 178 Dagegen setzt er seine eigene Lehre: »Deswegen (…) ist zu sagen, dass dem Stein von sich aus nicht die Einheit der Einzelheit zukommt (…) Sodann sage ich, im Anschluss an Avicenna im 5. Buch seiner Metaphysik, dass Pferdheit bloß Pferdheit ist, von sich aus weder eine noch viele, weder allgemeine noch einzelne. So ist auch die Natur ebenso, wie sie beim Verstand nicht bloß einzeln noch bloß allgemein ist, auch außerhalb des Verstandes von sich aus weder eine noch viele; daher schließt die Natur von sich aus weder diese noch jene numerische Einheit ein. Wie daher der Stein dem Verstand von sich aus ein Früheres (Vorgeordnetes) ist, und zwar weder unter dem Titel des Allgemeinen noch unter dem des Einzelnen (…), so ist die Natur des Steins außer der Seele primär weder eine noch viele der Zahl nach, sondern sie hat eine ihr eigentümliche Einheit, die kleiner ist als die Einheit, die jenem Einzelnen zukommt (…). Daher hat der Stein auf jener früheren Stufe (seiner Natur gemäß), wo er nicht dazu bestimmt wird, dass er in diesem oder jenem ist, was auch immer washeitlich von ihm gesagt wird, etwas, dem als solchem nur nebenbei zukommt, in dem oder in jenem vom Verstand erfasst zu werden.« 179 Ohne es zu merken, aber bedingt durch historische Zwänge (Terminologie des Aristoteles), thematisiert Scotus das Einzelne doppelsinnig: einerseits als das numerisch Eine, das eine Anzahl um 1 vermehrt, andererseits als das Individuum, d. h. den Fall einer Gattung, der keine Fälle mehr hat. Sein etwas jüngerer Zeitgenosse Walter Burlay (Burleigh) hat den Doppelsinn durchschaut. 180 Im ersten Sinn, der für mich den Begriff des Einzelnen ausmacht (21.1), sind L II d. 3 p. 1 q. 1 n. 1, Band 18, S. 227. Ebd. n. 6, S. 231: Huius autem rationem assignant, quia res, circumscripto omni alio, habet quod sit singularis, – sed non habet quod sit universalis nisi per operationem intellectus. (…) – esse autem singulare, quod est esse simpliciter, conveniet rei ex se, ex natura sua. n. 7, ebd.: et sic natura de se singularis est. 179 Ebd. n. 28–32, S. 236 f. 180 Wie Anm. 148, S. 32 Z. 17–23: »Selbes der Zahl nach hat doppelten Sinn, den gemeinen und den strikten. Selbes der Zahl nach im gemeinen Sinn ist etwas, das mit etwas anderem in eine Zahl gebracht wird oder eine Zahl so bildet, dass von ihm und dem anderen richtig gesagt wird, dass die da zwei sind. (…) Aber Eines der Zahl nach im strikten Sinn ist bloß das Gegenteil von Eines der Art nach und Eines der Gattung nach, gemäß der Ausdrucksweise des Philosophen über Eines der Zahl nach im 5. und 10. Buch der Metaphysik.« Wenn ich vom Einzelnen als dem numerisch Einen spreche, meine ich immer das Eine im gemeinen Sinn nach Burley. 177 178

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die Naturen oder Realitäten für Scotus nicht einzeln; das drückt er so aus: Die vollkommenste Zusammensetzung, die aus Sache und Sache, findet bei ihnen nicht statt, aber sie sind bestimmbar dazu, so einzeln zu sein, und verbinden sich mit anderen Realitäten bei bloß formalem Unterschied (distinctio formalis). 181 Diese distinctio formalis oder virtualis führt Scotus in der Lectura zunächst zur Lösung des trinitarischen Rätsels ein, 182 gibt aber in diesem Zusammenhang auch irdischere Beispiele wie das Verhältnis von Gattung und spezifischer Differenz, 183 Absolutes und Relatives, 184 die Seelenvermögen. 185 Es handelt sich um einen Unterschied, an dem der Verstand nicht beteiligt ist, 186 zwischen Sachen, die dennoch real identisch sind, 187 in einer Hinsicht als etwas. 188 Diese superfeine Einschiebung einer formalen Verschiedenheit zwischen reale und gedankliche, die dem Autor den Titel eines doctor subtilis eingetragen hat, ist logisch nicht haltbar. Scotus benennt und unterscheidet ausdrücklich die Realitäten oder Naturen, so dass man sie zählen kann, und gönnt ihnen dann doch keine numerische Verschiedenheit. Das passt nicht zusammen. Er gerät in diese Bredouille, weil er dem Singularismus, den er überwinden will, die Konzession macht, die Bestimmungen, die die Einzelheit mitbedingen, in die einzelne Sache hineinzustecken und diese gewissermaßen von innen her aufbauen zu lassen. Hätte er diese Bestimmungen als Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme), die in erster Stufe aus binnendiffus bedeutsamen Situationen vereinzelt werden und auf zweiter Stufe beliebigen Sachen als Gattungen die zu deren Einzelheit gehörige Bestimmtheit verleihen, in der Schwebe gelassen, dann hätte er nicht-numerische Verschiedenheit (in den Situationen) und numerische (bei den Gattungen und den Sachen) sauber verteilen können. Nun aber muss er in die einzelnen Sachen vorgedankliche Realitäten hineinstecken, die er (z. B. als Gattungen und spezifische Differenzen) schon einzeln benennt O II d. 3 p. 1 q. 5–6 n. 188 und 190 (Band 7 S. 484 Z. 5–9 und 485 Z. 17–19). l. Id. 2 p. 2 q. 1–4 n. 258–285 (Band 16 S. 211–221). 183 Ebd. S. 212 Z. 13 f., 216 Z. 5–10, mit dem aristotelischen (Metaphysik 1057b 8–10) Beispiel des Zerstreuens und Sammelns als spezifischer Merkmale der weißen bzw. schwarzen Farbe. 184 Ebd. S. 214 Z. 23. 185 L I d. 3 p. 3 q. 4 n. 438, Band 16 S. 399. 186 Ante omnem operationem intellectus (ebd. S. 217 Z. 2 u. a.). 187 Ebd. S. 216 Z. 22. 188 In quantum ebd. S. 219 Z. 26, 220 Z. 3. 181 182

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und dann doch nicht als einzelne mit numerischer Verschiedenheit behandeln darf, weil die Einzelheit von Sachen mit numerischer Einheit erst aus ihnen hervorgehen soll. Den Realitäten, die eine Sache quiditativ (washeitlich, in dem, was sie ist) aufbauen, steht nach Scotus als die andere Bedingung der Einzelheit die dem Individuum ganz allein eigene, letzte individuelle Differenz (differentia oder distinctio individualis) gegenüber. Sie verhält sich zu den übrigen Realitäten, die in die Sache eingehen, als Materie zu Formen mit Qualifikation zur tragenden Unterlage (in ratione subicibilis), als letzter Akt, der die ganze kategoriale Koordination (die Aufreihung der Gattungen und Differenzen in den 10 Kategorien) in zusammengezogenem Sein (esse contracto) abschließt; mit der Existenz hat sie nichts zu tun. 189 Die individuellen Differenzen kommen in nichts überein, sind primär verschieden. 190 Daher gibt es nichts, das als ihr Was (in quid) von ihnen ausgesagt werden könnte (nicht einmal ens, Seiendes), während sie die Naturen, die zu ihnen befähigt sind und zusammengezogen werden können, individuieren und zu einzelnen machen. 191 Diese Konzeption der individuellen Differenz ist zugleich paradox und tiefsinnig: paradox, weil es nicht sein kann, dass etwas ganz Eigentümliches mit anderem ganz Eigentümlichem in gar nichts übereinstimmt, da doch mindestens die Eigentümlichkeit ein übereinstimmendes Merkmal ist; tiefsinnig, weil sich darin die Einsicht ausdrückt, dass die bloße Bestimmtheit zur Einzelheit nicht genügt, auch nicht durch noch so genau einkreisende Kombination. Bestimmtheit einer Sache durch eine Bestimmung, und erst recht durch viele Bestimmungen, ist eine Verkettung oder Verstrickung, aus der die Sache als einzelne nur durch den Akzent der Identität freigelegt werden kann; Identität ist durch keine Aussage über Bestimmtheiten zirkelfrei definierbar. 192 Die undefinierbare Identität hat ihre Quelle, die uns mit ihr vertraut macht, gemeinsam mit dem Sein und der Selbstgewissheit, die uns »ich« zu sagen gestattet, in Erfahrungen, die für uns die Bestimmtheit mehr oder weniger auslöschen: Erfahrungen des plötzlichen Herausgerissenwerdens aus dem routinierten oder dösenden 189 L l. II d. 3 p. 1 q. 5–6, Band 18 S. 280–285 (speziell S. 283 Z. 11–16); dazu O l. II d. 3 p. 1 q. 3n. 65 (Band 7 S. 420 f.) und q. 5–6 n. 182 (ebd. S. 481). 190 O l. II d. 3 p. 1 q. 5–6 n. 186 (Band 7 S. 483). 191 L l. II d. 3 p. 1 q. 5–6 n. 172, Band 18 S. 283 f. 192 Hierzu und zum gleich Folgenden vgl. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 112–131: Identität und Einzelheit.

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Dahinleben, z. B. durch heftigen Schreck, die das von Scotus bei den Realitäten vermisste »Dieses« mit unverkennbarer Schärfe und Eindeutigkeit als Proto-Identität präsentieren. Von da geht Identität noch vor der Einzelheit gerade in die routinierten Verrichtungen ein, z. B. in das geläufige Sprechen, worauf ich mich zu Scotus Eriugena im ersten Band in Kapitel 18.3 und hier wieder, kurz referierend, unter 21.2 bezogen habe, oder in die flüssige Gliederbewegung bei aller unwillkürlichen oder willkürlichen geführten Eigenbewegung (mit gegen Verwechslungen durch Vertrautheit mit Identität und Verschiedenheit geschütztem, genau koordiniertem Einsatz, aber ohne Hervortreten einzelner Glieder). Scotus stellt die individuelle Differenz den washeitlichen Bestimmungen einer Sache gegenüber und begreift sie damit als deren Gegenglied bei der Konstitution der Einzelheit oder numerischen Einheit; aber er verfährt bei der Gegenüberstellung nicht konsequent genug, indem er sie doch wieder als Differenz und damit als – völlig dunkel bleibende und ungreifbare – Bestimmtheit ausgibt, die das höchst Eigentümliche sei, das es ohne Beimischung von gar nicht Eigentümlichem nicht geben kann.

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21.4 Die Sptscholastik Zu den Eckpfeilern des scholastischen Gedankengebäudes gehört der Satz: omne ens unum, jedes Seiende ist eines. Die Scholastiker machen sich nie klar, welche Bedeutungen in ihrem Gebrauch des Wortes »Eines« eingemischt sind, und ziehen sich auf die verunglückte aristotelische Formel zurück, das Eine sei das Ungeteilte, als ob nichts Seiendes Teile hätte; tatsächlich meinen sie immer auch das numerisch Eine oder Einzelne, das eine Anzahl um 1 vermehrt und daher mit ebensolchem eine numerische Mannigfaltigkeit bildet, so dass, wie Burley das Gemeinte verdeutlicht,180 dann mindestens zwei Seiende vereinigt sind. Die Scholastik fasst die Seienden also als numerisch auf, als lauter einzelne Seiende; schon Boethius wendet dieses Konzept gegen die Wirklichkeit der Universalien,146 und Abaelard verschärft es zu der These, dass alles Seiende abgesondert in seiner eigenen Wesenheit (discretum in propria essentia) sei,156 so dass es in dieser nichts Gemeinsames mehr geben kann, wie Thomas von Aquino, einig mit Boethius und Abaelard in der Ablehnung wirklicher Universalien, im 4. Kapitel von De ente et essentia172 zur Rechtfertigung dieser Ablehnung mit der Begründung ausführt, »weil in So78

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Die Sptscholastik

krates gar keine Gemeinsamkeit gefunden wird, sondern alles, was in ihm ist, ist individuiert«. Diese Denkweise stellt sich diametral der neuplatonischen entgegen, die von der Vieleinigkeit ausgeht, dass alles in allem ist, 193 zunächst im Geist und bei den Henaden, abgeschwächt auf den niederen Stufen, so dass der Übergang von der Mannigfaltigkeit inniger Durchdringung zur numerischen Mannigfaltigkeit eine Verarmung und Entkräftung ist, Erreichen eines Mangelzustandes durch Nachlassen integrierender Spannkraft. Aus neuplatonischem Guss ist die Universalienlehre des Johannes Scotus Eriugena, daher unvergleichlich verschieden von allem, was die Scholastiker über Universalien denken, auch wenn sie exzessive Realisten sind wie der von Abaelard angegriffene Wilhelm von Champeaux. Nur Johannes Duns Scotus fällt aus der Reihe, indem er das Einzelne nicht als selbstverständlich und gegeben hinnimmt, sondern es aus dem Zusammentreffen unvollständig bestimmter Bestimmungen (Naturen, Realitäten, Perfektionen), deren Einheit und Vielheit nicht numerisch ist, mit einer für jede Sache ganz eigentümlichen individuellen Differenz konstruiert. Das Revolutionäre der Denkerfigur des Wilhelm von Ockham besteht darin, dass ihm das Axiom des Singularismus »Alles ist ohne weiteres einzeln und abgeschlossen in seinem Wesen« nicht nur als Voraussetzung wie selbstverständlich zur Verfügung steht, sondern zum schonungslos rigoros verteidigten leitenden Thema wird, so dass in dieser Hinsicht erst durch Wilhelm die Scholastik zu sich selbst, d. h. zu ausdrücklich reflektiertem Selbstbewusstsein, kommt, sicherlich in bewusster Antithese zum Denken seines Ordensbruders Duns Scotus. 194 Wilhelm pocht darauf: So wie alles Beliebige durch sich selbst und nicht durch irgendeinen Zusatz oder etwas ihm Äußerliches ein Eines ist, so ist auch alles Beliebige durch sich selbst oder etwas ihm Innerliches von allem beliebigen (anderen) unterschieden. 195 »Wie jedes Beliebige sich zum Seienden verhält, so auch zum Einen, folglich auch zum Unterschieden- oder UnunterschieVgl. Goethe, Die Braut von Korinth: »Eins ist nur im andern sich bewusst.«. Ich benütze die Gesamtausgabe der theologischen und philosophischen Schriften Wilhelms: Opera theologica Bände 1–9, St. Bonaventure (NY) 1967–1984 (Op. th., darin Band 1–7 Ordinatio [O], d. h. Sentenzenkommentar, wovon nur in Buch 1 Ockhams Manuskript die Textgrundlage bildet, während für die Bücher 2–4 Nachschriften von Hörern zugrunde liegen); Opera philosophica Bände 1–6, St. Bonaventure 1974–1985 (Op. ph.). 195 O I prologus q. 11, Op. th. I 322, 17–21. 193 194

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densein; also wird alles Beliebige, das real außer der Seele ist, so wie es von sich aus und formal und nicht durch irgendetwas Äußerliches ein Seiendes ist, ebenso von sich aus und unmittelbar ein Eines und Unterschiedenes sein, unterschieden von jedem beliebigen Seienden, das in ähnlicher Weise außerhalb der Seele existiert, egal, auf welche Weise es sich unterscheidet; und nicht durch irgendetwas Äußerliches, und folglich ohne Rücksicht auf jedes Werk des Verstandes.« 196 Also ist jede einzelne Sache durch sich selbst einzeln, wie Wilhelm auf zwei Wegen beweisen will: erstens durch die schlichte Feststellung, dass ihm Einzelheit unmittelbar zukommt, und zweitens durch Einschränkung aller Mannigfaltigkeit auf numerische Mannigfaltigkeit dessen, was einzeln und der Zahl nach Eines ist, und zwar entweder einfach oder zusammengesetzt. Im zweiten Fall besteht das Zusammengesetzte aus einer bestimmten Zahl von Teilen, deren jeder einer ist, und ist selbst der Zahl nach Eines oder ein (eines) Aggregat. 197 Wilhelm argumentiert hier wie Leibniz. 198 Da also jede Sache außerhalb der Seele (d. h. abgesehen von dem, was diese sich bloß vorstellt) unmittelbar und ohne weiteres (sine omni addito) einzeln ist, 199 erübrigt sich die Frage nach einem Grund (oder Prinzip) der Individuation, sofern es sich nicht um den äußeren oder inneren Grund der Zusammensetzung handelt. 200 Auch mit dieser Erledigung des Individuationsprinzips stimmt Leibniz überein. 201 Die Radikalität dieses Singularismus führt zu einer schroffen Isolierung, gleichsam einer Vertropfung, des Seienden, das sich aus einer Flut in lauter Tropfen auflöst: »Jede Sache, die von jeder anderen Sache wirklich verschieden ist, ist wahrhaft eine Sache von sich, weil abgezogen ihrer Washeit und ihrem Wesen nach von jeder anderen Sache; daher gibt es in der Wirklichkeit nichts außer absoluten Sachen.« 202 Die Aseitas, sonst ein auszeichnendes Merkmal Gottes O I d. 2 q. 2, Op. th. II 64, 8–10. O I d. 2 q. 6, Op. th. II 196, 2–6.13–22. 198 Monadologie § 2: »Das Zusammengesetzte ist nichts als ein Haufen oder Aggregat von einfachen (Elementen).«. 199 Wie Anm. 197, S. 197, 8–10. 200 Ebd. S. 197, 14–18. 201 Disputatio metaphysica de principio individui quam Deo O.M. annuente et indultu Inclytae Philosophiae Facultatis in illustri Academia Lipsiensi (…) publice ventilandam proposuit G. Leibnizius, Leipzig 1663. 202 O I d. 30 q. 2, Op. th. IV 321, 10–12: Omnis res realiter distincta ab omni alia re est vere res a se quia abstracta secundum quidditatem et essentiam suam ab omni alia re; igitur praeter res absolutas nihil est in re. 196 197

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oder sogar der ersten Person in der göttlichen Trinität – des Vaters, von dem der Sohn und der heilige Geist ausgehen –, wird von Wilhelm auf alle Dinge, ja alle Gegenstände außer den nur innerseelischen Ficta, verteilt, da sie alle durch sich selbst real unterschieden seien. Ontologisch tiefer als die Abschaffung der Universalien gräbt die Abschaffung aller Relationen, die nur noch Absoluta übrig lässt. Damit wird auch jegliche Bestimmtheit als etwas aus der gegenständlichen Wirklichkeit vertrieben und der Seele als Sinngebung überlassen, die für Wilhelm einfach eine Zubenennung (denominatio) ist: »Immer wird im Auge behalten, dass außer den wirklichen Dingen selbst und der Vorstellung (notitia) selbst nichts ist, wiewohl wegen der Vorstellung eine Sache jetzt anders als vorher zubenannt werden kann, so wie Gott deswegen, weil Kreatur ist, jetzt neu gegen früher zubenannt wird, etwa als schöpferisch, beseligend, verdammend, strafend usw.« 203 Wilhelm ist der erste Projektionist, der den nackten Sachen Bestimmungen oder Bedeutungen von der Seele oder dem Verstand durch Benennung verleihen lässt, sozusagen als Sinngebung für das Sinnlose. Keine Dinge stimmen mehr oder weniger in einem Dritten, einem übergreifenden Grundzug (Gattung, Art) überein, sondern, sofern sie übereinstimmen, nur durch sich selbst. 204 Deswegen braucht sich Wilhelm nicht mit der Zumutung, an der Thomas von Aquino sich stieß, zu plagen, Gemeinsames in den Dingen zu finden, von denen doch jedes in seinem Wesen von jedem anderen abgesondert sein soll; aber was sonst, befreit von dieser Innerlichkeit, als Bestimmung gemeinsam sein könnte, heißt nur noch so und ist ein beliebiger äußerlicher Zusatz, ein Repräsentant wie der Wortlaut (vox), der in die von ihm bezeichneten Gegenstände »eingeteilt«, d. h. durch die ihm auferlegte Bezeichnungsleistung auf sie verteilt wird. 205 Die Universalien sind damit abgeschafft; sie werden durch Abstraktion, die eine Art von Fiktion ist, in der Seele zurechtgemacht, indem der Verstand sich fiktive Bilder nach Maßgabe der Ähnlichkeit mit in der Außenwelt gesehenen erdichtet. 206 Wohl unterscheidet Wilhelm ähnlich wie Walter Burley180 zwei Bedeutungen von »einzeln« (singulare), nämlich die im scholastischen Sinn transzendentale (numerisch Eines) und die auf Fälle von Gattungen 203 204 205 206

O I d. 27 q. 3, Op. th. IV 258, 19–23. O I d. 2 q. 6, Op. th. II 211, 21–212, 4. O I d. 2 q. 10, Op. th. II 352, 8–13. O I d. 2 q. 8, Op. th. II 271, 14–272, 6.17–19.

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und Arten beschränkte, 207 aber wo es im genauen Sinn keine Universalien mehr gibt, entfällt der Unterschied der Sache nach. So überraschend oder gar heterodox das alles klingen mag, es ist nur der konsequente Vollzug des Singularismus, der den Klassikern außer Duns Scotus selbstverständlich war. Mit Recht reklamiert Wilhelm Thomas von Aquino und seine Anhänger als Parteigänger bei der singularistischen Verwerfung der Universalien, da auch sie nur Einzeldinge und keine von diesen unterschiedenen echten, nicht umgedeuteten Universalien in der Realität gelten ließen. 208 Die rigorose Durchsetzung des Singularismus, wovon die Abschaffung der Universalien nur eine unter mehreren Folgen ist, interessiert Wilhelm offenbar mehr als die vollständige Ausführung der Universalienlehre, wozu ja auch die Wahl einer Ersatztheorie an Stelle des exzessiven Realismus gehört. Wilhelm schwankt zwischen einer Fiktionstheorie und einer konzeptualistischen Repräsentationstheorie, die an die Stelle gemeinsamer Bestimmungen der Sachen einen innerseelischen Repräsentanten setzt, vorzugsweise die Vorstellung des Verstandes (intellectio), der damit die schwer ausführbare Aufgabe zugemutet wird, sich ohne Orientierung an einer gemeinsamen Bestimmung, zu der sie in den Sachen die Bestimmtheit durch diese Bestimmung vorfände, die Sachen zusammenzusuchen, die sie repräsentieren soll. Zu diesem Schwanken kam es, weil Wilhelm durch die Polemik Walter von Chattons gegen seine anfänglich eindeutige Fiktionstheorie mehr oder weniger in die Enge getrieben wurde. 209 Bemerkenswert ist aber die Nonchalance, mit der Wilhelm danach die richtige Wahl dahingestellt sein lässt: Wem die Fiktionstheorie nicht gefällt, der kann eine konzeptualistische Repräsentationstheorie wählen, und zwar eine von zwei Fassungen: entweder mit dem Vorstellungsakt oder mit einem diesem nachgeordneten Seelenbestandteil als Repräsentanten; alle drei Theorien hält er für annehmbar, aber andere sollen entscheiden, welche wahrer ist; nur daran will er festhalten, dass es gar kein Universale außer der Seele gibt, es sei denn durch willkürliche Einsetzung (wobei er wohl an die Erfindung von Namen denkt). 210 Nur in einer Gelegenheitsschrift Expositio in librum Perihermeneias Aristotelis l. I c. 5, Op. ph. II S. 400, Z. 56–62. O I d. 3 q. 5, Op. th. II 466, 6–9. 20 f.; q. 6, S. 488, 10 f.; d. 7 q. 1, Op. th. III 102, 5 f., mit Bezug auf: Thomas, Summa theologiae I q. 85a 3 ad 1, vgl. q. 30 a. 4 resp. 209 Vgl. Opera theologica Band II S. 17* (Einleitung) mit Verweis auf G. Gál, Franciscan Studies 27, 1967, S. 191–212. 210 O I d. 2 q. 8, Op. th. II 289–292, ähnlich O I d. 27 q. 3, Op. th. IV 253, 7–254, 8. Wie 207 208

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rafft sich Wilhelm zu einer entschiedenen Option für die psychologistische Intellektionstheorie gegen die Fiktionstheorie auf. 211 Groß scheint sein Interesse an der Entscheidung der Frage nicht gewesen zu sein. Mit seinen Ersatztheorien dürfte Wilhelm der gestellten Aufgabe kaum gerecht werden können. Wenn die Repräsentation an Ähnlichkeit anknüpft, verwirren sich die zu repräsentierenden Umfänge, weil Ähnlichkeit intransitiv und daher keine Äquivalenzrelation ist, die eine Einteilung einer Gesamtmenge in elementefremde Teilmengen bestimmen kann. 212 Außerdem gibt es größere und geringere Ähnlichkeit. Damit keine verwirrenden Überschneidungen eintreten, muss man sich also, statt an Ähnlichkeit überhaupt, an Ähnlichkeiten von bestimmter Art oder in bestimmter Hinsicht halten. »Aber da stoßen wir ja wieder auf Arten.« 213 Das musste auch Berkeley zugeben, der sich vor den Universalien in eine vergleichbare Repräsentationstheorie zurückgezogen hatte und diese nicht durchführen konnte, ohne die Universalien durch eine Hintertür wieder einzuführen. 214 Überdies ist Ähnlichkeit selbst ein Universale, ebenso wie Relation (ein übergeordnetes) und andere Relationen. Ich komme unter 24.3 darauf zurück. Wenn man sich dagegen mit bloßen Fiktionen ohne Halt an der Ähnlichkeit behelfen will, bleibt rätselhaft, wie man sich ohne Universalien in der Welt zurechtfinden soll. Der Antipode Wilhelms von Ockham in der spätscholastischen Universalienlehre ist John Wyclif, 215 der damals als Leitfigur einer realistischen Auffassung der Universalien ebenso galt, wie Wilhelm der »nachgeordnete Seelenbestandteil« zu verstehen ist, der außer der Intellektion (dem Vorstellungsakt) die Funktion des innerseelischen Repräsentanten übernehmen könnte, kann aus Op. th. IV S. 205 f. (O I d. 27 q. 2) entnommen werden. Es handelt sich um ein entweder tatsächlich (subjektiv) oder als bloß vorgestellt (objektiv) in der Seele vorhandenes Bild (Idol), das der extramentalen Sache ähnelt. 211 Quodlibet 4 quaestio 35, Op. th. IX S. 473 f., Z. 97–120. 212 Carnap hat versucht, der Schwierigkeit durch eine sogenannte Quasianalyse zu entkommen (Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928, S. 111–115), bleibt aber hinter der Aufgabenstellung Wilhelms zurück, weil er nicht von der bloßen Ähnlichkeit ausgeht, sondern von bestimmten Dimensionen der Ähnlichkeit (z. B. von Farben oder Tönen). 213 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen Band II, 1. Teil, 4. Auflage Halle 1928, S. 116. 214 George Berkeley, A treatise concerning the principles of human knowledge, in: The Works of George Berkeley ed. by Luce and Jessop Band II, London 1949, S. 35 Z. 5–13. 215 Ich benütze seinen Tractatus de Universalibus (entstanden ca. 1373) in der Ausgabe von Ivan J. Mueller, Oxford 1985 u. ö., im Folgenden mit Angabe der Kapitel, der in ihnen durchgezählten Zeilen und der Seiten.

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Das Universalienproblem

als Heros Eponymos der Nominalisten (nicht ganz zu Recht, da er den Nominalismus im strengsten Sinn, die Reduktion der in Repräsentanten umgedeuteten Universalien auf Namen, nie vertreten hat). Wyclif sucht einen Mittelweg zwischen der Repräsentationstheorie des Thomas von Aquino und Aegidius von Rom, die das Universale in einen nur durch Stellvertretung für vielerlei universellen Einzelfall umdeutet, und dem von ihm vermutungsweise Walter Burley zugeschriebenen exzessiven Realismus, indem er auf die distinctio formalis des Duns Scotus zurückgreift: Das Universale ist sein Einzelfall, aber formal davon verschieden. 216 Dieser Anschluss an Duns ist aber nur Fassade; Wyclif meint etwas anderes, wie sich daran zeigt, dass er die nach Scotus formal verschiedenen naturae communes (Realitäten, Perfektionen) in Sachverhalte umdeutet: »Der Schüler muss in der Wissenschaft von den Wahrheiten unterrichtet werden, da jedes Universale eine Form, Wahrheit oder Disposition ist, bezeichenbar durch einen Komplex (d. h. eine Prädikation), wie dass ein Mensch ist die natura communis ist, worin alle Menschen spezifisch übereinkommen, und entsprechend in den anderen Fällen. Daher haben Kenner unter den Philosophen die Universalien mit abstrakten Namen bezeichnet, z. B. als Menschheit, Pferdheit und entsprechend bei den anderen Arten.« 217 Die Art Mensch, die Gattung Tier ist der Mensch bzw. das Tier dem Wesen nach (essentialiter) als der Sachverhalt, dass ein Mensch beziehungsweise Tier ist, unterschieden von dem Sachverhalt, dass jener bestimmte Mensch ist. 218 Dass der mit Menschheit (humanitas) gleichgesetzte Sachverhalt, dass ein Mensch ist, in der Tat existenzialen Sinn hat und »hominem esse« nicht bloß bedeutet, dass irgendjemand ein Mensch ist (mit copulativem Sinn von »esse«), ergibt sich aus dem parallelen Beispiel vom Augenblick: »In dieser Beziehung scheint mir eine empirische Vermittlung, die Unkundige in die Kenntnis der Universalien einführt, eine Betrachtung über die Wahrheit zu sein. Diese Behauptung nämlich: ›Ein Augenblick ist‹, hat ein primär Bezeichnetes, das nicht fehlen kann, da sie, so bezeichnend, notwendig und immer wahr ist. (…) So wie also dafür, dass Gott weiß, dass ein Auc. 4 Z. 56–59. 138–148; S. 87.91. c. 3 Z. 12–19; S. 70. »Significabile per complexum« ist der übliche scholastische Ausdruck für einen Sachverhalt, der durch einen Komplex (von Wörtern), d. h. eine Prädikation, bezeichnet wird. 218 c. 4 Z. 65–69.174–179, S. 87.93; c. 7 Z. 281–285, S. 137. 216 217

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Die Sptscholastik

genblick ist, erforderlich ist, dass ein Augenblick ist, so genügt dafür, dass ein Augenblick ist, dass irgendein Augenblick ist. Und kein (bestimmter) Augenblick wird dafür benötigt, sondern für jeden beliebigen Augenblick wird benötigt – als vorrangig der Natur nach –, dass (überhaupt ein) Augenblick ist. Deswegen gibt es Priorität des Ursprungs zwischen (dem Sachverhalt), dass ein Augenblick ist, und (dem Sachverhalt), dass dieser Augenblick ist, wie anderswo aufscheint.« 219 Entsprechend ist die menschliche Natur, dass ein Mensch ist, jedem Menschen gemein, nicht aber, dass jener (besondere) Mensch ist. 220 Die distinctio formalis, so verstanden, ist nicht mehr, wie für Duns Scotus, ein Verhältnis unter Komponenten einer Sache, die sich tatsächlich (nicht nur gedanklich) unterscheiden, obwohl sie mit einander und mit der Sache real identisch sind. An die Stelle dieses widerspruchsvollen Gedankens tritt die reale Verschiedenheit von Sachverhalten als Bestimmungen, die einer Sache Bestimmtheit als etwas (z. B. als Mensch, Tier oder Augenblick) und damit Bedeutung verleihen. Wyclif mobilisiert für die Einsicht in die Natur der Universalien das Potential der Statuslehre Abaelards, das dieser verkümmern ließ, da er sich nicht dazu durchringen konnte, dass der von einer Aussage dargestellte Sachverhalt irgendetwas sei (21.2). Der größte Gewinn dieser Errungenschaft ist die Abwendung des Exemplarismus, der Scholastiker wie Abaelard, Siger von Brabant und Thomas von Aquino vor der Anerkennung wirklicher Universalien zurückschrecken ließ, weil sie sich von der zweideutigen Bedeutung des Wortes »est« in der lateinischen Sprache verführen ließen (21.3). Man kann nun nicht mehr die Absurdität ableiten, dass, wenn Sokrates ein Mensch und Mensch eine Species ist, Sokrates eine Species sein müsse, und aus der offensichtlichen Unrichtigkeit dieser Konklusion und der Unanstößigkeit der ersten Prämisse auf die Falschheit der zweiten schließen, mit dem Ergebnis, dass die Species Mensch als Fiktion abgeschafft oder in einen Repräsentanten nach Art einer Statue umgedeutet werden müsse. Wyclif kann es sich leisten, die Art Mensch mit der Menschheit oder Menschlichkeit, die Art Pferd mit der Pferdheit oder Pferdlichkeit zu identifizieren, ohne sich vor dem exemplaristischen Einwand des Thomas von Aquino zu fürchten, ein Teil (abstrakter Zug) des menschlichen Wesens könne nicht vom ganzen 219 220

c. 3 Z. 275–279.293–299 (S. 83). c. 3 Z. 304–308 (S. 84).

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Das Universalienproblem

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Menschen prädiziert werden.172 Die Bestimmung, die einer Sache Bestimmtheit als etwas verleiht und dadurch neben unzähligen anderen Bestimmungen dafür in Betracht kommt, sie zusammen mit der Identität zur Einzelheit zu erheben (21.3), kann nun wieder scharf von der so bestimmten Sache unterschieden werden. Freilich durchschaut Wyclif nicht ganz den Gewinn seiner Umdeutung der distinctio formalis, indem er deren Anklägern bloß eine fallacia accidentis vorwirft, 221 also seine Verteidigung in den Rahmen der scholastischen Ontologie von Substanz und Akzidens einspannt, statt sie auf das Verhältnis der Sachen zu den ihre Einzelheit mittragenden Bedeutungen als Sachverhalten zu stützen. Tatsächlich hat er aber die reifste Behandlung der Universalien im Mittelalter zustande gebracht.

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c. 4 Z. 11, S. 98.

22. Thomas von Aquino

22.1 Die Quantifizierung der Bestimmtheit

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Thomas von Aquino 222 gibt in der Summa contra gentiles Gott als reinen Akt (actus purus) deswegen aus, weil er nicht bloß mit einem aktualen Teil von sich, sondern mit seiner ganzen Essenz aktiv ist; in ihm ist keine passive Potenz, d. h. Empfänglichkeit für Veränderungen. 223 Dieser Erweis der Reinheit führt nur auf eine in ihrer Art vollkommen ausgeprägte und festgelegte Bestimmtheit, die für keine Zusätze oder Abstriche mehr offen ist, so wie es Thomas im Sentenzenkommentar ausdrückt: »Nichts wirkt außer sofern es im Akt ist, und daher muss jedes Tätige nach einer Seite (eines kontradiktorischen Gegensatzes) festgelegt sein; was nämlich in gleicher Weise nach beiden Seiten sich verhält, ist gewissermaßen Potenz bezüglich jeder von beiden.« 224 Gott wäre hiernach als reiner Akt ein ohne jede 222 Ich zitiere die Summa contra gentiles (ScG) nach der Dominikaner-Ausgabe des Autographs Rom 1888, die Summa theologiae (S. th.) nach der Turiner Ausgabe, 18. Auflage 1926, die Opuscula nach der Ausgabe von Mandonnet (Paris 1927), die Quaestionen nach der Turiner Ausgabe, 4. Auflage 1924 (im Einzelnen: Quaestiones de potentia Dei in Band 1, die Quaestionen De spiritualibus creaturis und De anima in Band 2, die Quaestiones De veritate in Band 3 und Band 4, die Quaestiones quodlibetales in Band 5), den Sentenzenkommentar (sent. = Scriptum in IV libros sententiarum) nach Band 6 und 7 der Ausgabe apud Dominicum Nicolinum et socios Venedig 1593. Gemäß dieser Zitationsweise werden folgende Abkürzungen verwendet: römische Ziffer für ein Buch, c. für ein Kapitel eines Buches, n. für Nummer, d. für distinctio, q. für quaestio, a. für Artikel, c. für das corpus (die conclusio) des Artikels mit der Entscheidung des Autors, obi. n. bzw. ad n für den n-ten Einwand bzw. die n-te Erwiderung auf den n-ten Einwand gegen die Meinung des Autors. 223 ScG I c. 16 n. 4. Als weitere Gründe dafür, dass in Gott keine passive Potenz sei, werden genannt: weil er immer ist, weil nichts früher als er ist (wie zur Aktivierung einer Potenz nötig wäre), weil er, da er notwendig ist, keine Ursache hat, weil er leidensunfähig und unwandelbar ist, weil er das zur Abwendung eines regressus in infinitum in der Kette der Ursachen für Aktualisierung von Potenzen erforderliche erste Glied ist. 224 sent. II d. 25 q. 1 a. 1c.: Respondeo dicendum, quod nihil agit nisi secundum quod est

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Thomas von Aquino

Offenheit gänzlich auf eine bestimmte Tätigkeit festgelegtes Wesen. So meint es Thomas aber nicht, sondern er hält zwar an der Reinheit fest, deutet sie aber zugleich in Fülle um. Gelegenheit dazu gibt ihm eine Doppeldeutigkeit seines Seinsbegriffes: Sein ist einerseits die Existenz, wodurch etwas nicht nur möglich, sondern wirklich ist, andererseits der Akt, der eine in einer Sache angelegte, ohne ihn aber fehlende Beschaffenheit realisiert oder ausprägt (eine passive Potenz aktualisiert). Beide Begriffe schließen sich aus, denn die Existenz ist nicht steigerbar – Sein oder Nichtsein ist eine strikte Alternative –, während die Aktualisierung von Potenzen einen beliebig großen Spielraum quantitativer Steigerung bei Ausfüllung eines mehr oder minder großen Mangelzustandes hat. Das Überspielen dieses Gegensatzes ist sozusagen das Herzstück der Gotteslehre des Thomas: »Etwas ist vollkommen in der Weise, wie es im Akt ist. Das nämlich heißt vollkommen, dem in der Weise seiner Vollkommenheit nichts fehlt.« 225 »Zum dritten Einwand ist zu sagen, dass das Sein selbst das Allervollkommenste ist; es verhält sich nämlich zu allem als Akt, denn nichts hat Aktualität außer sofern es ist. Daher ist das Sein selbst die Aktualität aller Dinge, auch der Formen selbst. Folglich verhält sich Gott zu den anderen Dingen nicht als das Aufnehmende, sondern als das Aufgenommene; wenn ich nämlich vom Sein des Menschen oder des Pferdes oder irgendeiner anderen Sache spreche, wird das Sein selbst als das Formale und Aufgenommene betrachtet, aber nicht wie jenes, dem Sein zukommt.« 226 Gott ist demnach das Sein selbst, das für sich besteht und zugleich die ganze Vollkommenheit des Seins in sich hat; das Sein ist sein Wesen, und das will er sagen, wenn er dem Moses auf die Frage nach seinem Namen antwortet: »Ich bin, der ist.« 227 Dieses reine Sein ist zugleich Fülle als unendlicher Akt, der die ganze Fülle des Seins in sich hat und nicht auf eine besondere Natur von Gattung oder Art zusammengezogen ist. 228 in actu, et inde est, quod oportet omne agens esse determinatum ad alteram partem: quod nempe ad utrumlibet est aequaliter se habens, est quodammodo potentia respectu utriusque (…). 225 S. th. I q. 4 a. 1c. 226 Ebd. ad 3. Nur ein einziges Mal versetzt Thomas das Sein in die Rolle einer zu formenden Materie (sent. II d. 1 q. 1 a. 3c., fol. 5 r. Spalte a I/K: »aliquod esse simplex, vel materia«). 227 S. th. I q. 4 a. 2c.; ScG I c. 22. 228 Quaestio unica De spiritualibus creaturis a. 1c., Quaestionen Band II S. 311.

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Die Quantifizierung der Bestimmtheit

Diese Vermengung von Reinheit und Fülle in Gott gelingt Thomas durch Gebrauch oder Missbrauch aristotelischer Denkfiguren. An erster Stelle steht die Interpretation des Seins als Akt gegenüber der Potenz gemäß der schon bei Aristoteles ungenügend durchdachten (12.4) Gegenüberstellung von Energeia und Dynamis. An zweiter Stelle steht die Übertragung der bei Aristoteles zur Analyse der natürlichen Veränderungen bestimmten, also physikalischen Prinzipientrias Materie (Potenz) – Form (Habitus) – Mangel (Privation) 229 in die Metaphysik, wozu Thomas die Verallgemeinerung der Materievorstellung benützt: Jede beliebige Sache verhält sich materiell zu dem, was über ihr ist, 230 und eine passive Potenz zum Sein ist nur in den Dingen, die eine dem konträren Gegensatz unterliegende Materie haben. 231 Da aber alle Kreaturen im Gegensatz zu Gott223 passive Potenz haben, 232 unterliegen alle dem konträren Gegensatz, und das ist für Aristoteles in erster Linie der Gegensatz von Habitus und Privation, der alle konträren Gegensätze durchzieht. 233 Der Habitus ist für Thomas gleichbedeutend mit Akt im Gegensatz zur Potenz mit Privation oder Mangel, 234 und so wird das Verhältnis zwischen Gott und Kreatur für Thomas zu einem Fall der Anwendung des aristotelischen triadischen Schemas: Gott als reiner Akt ist mangellose Fülle oder Vollkommenheit, während die Kreaturen erstens ihre relative, an der passiven Potenz mit Mangel behaftete Fülle der von Gott durch seine Selbstanschauung bewirkten Ähnlichkeit mit einem Ausschnitt aus Gottes unendlicher Fülle verdanken, 235 und andererseits ist er für diese relative, mangelhafte Fülle, die die Essenzen der Kreaturen ausmacht, der Grund des Seins. 236 Die Verschmelzung beider Leistungen Gottes, den Kreaturen erstens relative Fülle und zweitens Sein zu geben, wird Thomas erleichtert durch Anlehnung an den unscharfen Seinsbegriff des Aristoteles, in dem die Existenz – 229 Aristoteles Physik 190b 28–35, Metaphysik 1069b 14–34. (Zur Schichtenanalyse dieses Textes mit kompliziertem Schicksal vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 373–379 mit Übertragung der Urform auf S. 379.). 230 ScG III c. 150 (S. 518). 231 Ebd. II c. 25 (S. 143). 232 Ebd. II c. 54 (S. 188). 233 Metaphysik 1055a 33, 1004b 27, 1011b 18, 1055b 26 f. 234 ScG II c. 78, S. 237: Sed accipitur habitus secundum quod dividitur contra privationem et potentiam, sicut omnis forma et actus potest dici habitus. 235 sent. I d. 35 q. 2 a. 2c. et ad 3; ScG I c. 54 (S. 65); S. th. I q. 14a. 9 ad 2. 236 ScG II c. 15 (S. 129).

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Thomas von Aquino

das Sein im Gegensatz zum Nichtsein – nicht deutlich vom Sosein, der Beschaffenheit, unterschieden ist. Aristoteles schreibt: »Grund des Seins ist allen das Wesen, das Leben aber ist den Lebenden das Sein, dessen Grund und Ursprung aber ist die Seele.« 237 Das reale Sein gemäß den 10 Kategorien 238 erläutert Thomas durch das analoge Beispiel des Leuchtens als Akt des Leuchtenden. 239 In solchen Fällen vermischt sich der Gedanke an Sein mit dem Gedanken an eine Beschaffenheit (Leben, Leuchten). Dann wird eine solche Argumentation möglich wie die, die Thomas für die höchste Vollkommenheit oder Vorzüglichkeit (perfectio, nobilitas) Gottes anbietet: Eine Sache, die ganz und gar ihr eigenes Sein ist, muss höchst vollkommen und vorzüglich sein, »denn jeder Vorzug jeder beliebigen Sache kommt ihr gemäß ihrem Sein zu; keine Vorzüglichkeit erwüchse nämlich dem Menschen aus seiner Weisheit, wenn er nicht durch sie weise wäre, und entsprechend in anderen Fällen; entsprechend der Weise, in der die Dinge Sein haben, haben sie also eine Position (wörtlich: Weise) in der Vorzüglichkeit (…). Wenn also einer Sache die ganze Kraft des Seins zukommt, kann ihr keine Vorzüglichkeit fehlen.« 240 Hier schillert das Sein zwischen der Beschaffenheit eines Menschen, weise zu sein, und seiner Existenz als weiser Mensch. Durch die Verschiebung der Reinheit des Aktes, der Gott ist, zur vollkommenen Fülle des Seins wird die Vollkommenheit quantifiziert; die Aktualität besteht nicht mehr in der Festgelegtheit,224 sondern in der Ausfüllung eines Mangels, und ist desto größer, je weniger Potenz ohne erfüllenden Akt bleibt, so dass sich ein Gefälle von der Spitze des völlig mangellosen reinen Aktes Gott bis zur völlig aktlosen Potenz der Materie ergibt, 241 mit Zwischenstufen, auf denen alle Kreaturen je nach dem Maß ihrer Vollkommenheit Platz finden. Damit begründet Thomas die Einzigkeit Gottes: ein zweiter Gott könnte sich von Gott nur durch geringere Vollkommenheit unterscheiden, in der Weise, dass er mindestens eine Vollkommenheit we-

237 De anima 415b 12–14, von Thomas notiert in seinem Kommentar zu De anima (Turin 1924, 3. Auflage 1948, S. 82 n. 319). 238 Über die aristotelische Vorlage dieser Seinsbestimmung (Metaphysik 1017a 22–24) vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 65– 67 und 534–537. 239 sent. 3 d. 6 q. 2 a. 1c. 240 ScG I c. 28 S. 37. 241 ScG I c. 17 S. 21.

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Die Quantifizierung der Bestimmtheit

niger und dafür eine Unvollkommenheit (einen Mangel) hätte. 242 Das Räsonnement sticht nur, wenn alle Vollkommenheiten quantifiziert und sozusagen nummeriert sind, so dass ein Unterschied in der Vollkommenheit nur in der Proportion des Verhältnisses von Fülle und Mangel bestehen kann. In dieser Quantifizierung stimmt Thomas mit Anselm überein, der Gott, das ganz vollkommene Wesen, als »id quo maius cogitari nequit« versteht, also gleichfalls die Quantität zum Maßstab des Vergleiches macht. Von der Vollkommenheit dehnt Thomas den quantitativen Maßstab auf die Artverschiedenheit überhaupt aus, indem er lehrt, dass es neben dem Mehr und Weniger durch Teilnahme der Materie an der Form noch ein anderes Mehr und Weniger gibt, nämlich »nach Maßgabe der verschiedenen Stufen der Vollkommenheit der Formen, und so bestimmt sich die Artverschiedenheit. Der Art nach verschieden sind die Farben nämlich dadurch, dass sie dem Licht mehr oder weniger nahe stehen, und so kommt das Mehr und Weniger bei verschiedenen Engeln vor.« 243 Bei diesem Vergleich, den er mehrfach wiederholt, 244 zwischen der Abnahme des Quantums der Vollkommenheit durch Zusatz von Mangel und der Trübung des reinen weißen Lichtes in den Farben übersieht Thomas den Unterschied, dass man das Reine nicht wie die Fülle teilen, also nicht als Spielraum für die Verteilung von Fülle und Mangel benützen kann. Er überspielt diesen Unterschied durch die These: »Die Formen der Dinge, deren Ursache Gott ist, gelangen nicht zur Art göttlicher Kraft, weil sie geteilt und besondert aufnehmen, was in Gott einfach und allgemein gefunden wird.« 245 Reinheit und Fülle passen nicht zusammen; aus ihrer Verschweißung leitet Thomas alle Formen, alle Bestimmtheiten her. Alles ist ein Seiendes in dem Maße, wie es Form hat, 246 aber jede (sc. endliche) Form determiniert das Sein durch Abgrenzung und ist daher nicht das Sein selbst, sondern ein Sein Habendes, 247 während Gottes unendliche Seinsfülle auf keine Gattungs- oder Artnatur zusammengezogen ist.228 Thomas will, wie die Engländer sagen, den Kuchen essen und zugleich behalten: Gott reklamiert das ganze, rei-

242 243 244 245 246 247

ScG I c. 48. Quaestio unica de anima a. 8 ad 6 (Quaestionen Band II S. 398). ScG I c. 28; S. th. I q. 44 a. 1c. (vgl. q. 48 a. 1 ad 4). ScG I c. 32. S. th. I q. 50 a. 5c. Expositio in Boethii De hebdomadibus c. 2, Opuscula Band 1 S. 176.

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Thomas von Aquino

ne, grenzenlose Sein für sich 248 und gibt es doch an die durch begrenzte Bestimmtheit des Seins bedürftigen Kreaturen portionsweise ab, in der Weise der Schöpfung, wodurch sie daran teilnehmen, 249 ohne dass er dadurch zum formalen Sein aller würde. 250 Die schöpferische Leistung Gottes besteht einfach darin, dass er in diesem Sinn als das absolute Sein für das beschränkte Sein der Kreatur vorausgesetzt ist; 251 solche Schöpfung ist Emanation des ganzen Seins einer Sache aus dem allgemeinen Sein. 252 Für dieses Verhältnis verwendet Thomas gern das Bild der Wärmestrahlung und entzündenden Wirkung des Feuers, 253 vermutlich im Gedanken an die Worte des Aristoteles: »Jedes ist am meisten das Betreffende unter den anderen, demgemäß auch den anderen der gleiche Name zukommt, z. B. das Feuer ist das Wärmste; es ist nämlich auch für die anderen der Grund der Wärme.« 254 Das überträgt Thomas auf das Sein: Alles Sein ist von Gott, weil er das Sein selbst ist, von dem alles andere sein Sein nimmt. 255 Von einer Schöpfertat Gottes, diesem Leitmotiv der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung, ist keine Rede mehr; Thomas ist eher ein quantifizierender Spinozist. Gott ist die unendliche Fülle des Seins, die auf keine Gattungsoder Artnatur zusammengezogen werden kann.228 Die Kehrseite dieses überschwänglichen Reichtums ist daher die völlige Unbestimmtheit: Gott ist »ipsum esse subsistens omnibus modis indeterminatum.« 256 Nach außen kann er eben dadurch bestimmt unterschieden werden, nicht durch Abgrenzung, sondern durch Negation, 257 aber in ihm lösen sich alle Unterschiede auf, denn der Mangel (die Privation) ist Negation in einem Subjekt, und zum Begriff des Unterschiedes gehört die Negation, 258 so dass es in Gott, der ohne Mangel ist, auch Quaestiones de potentia Dei q. 1 a. 2c. S. th. I q. 61 a. 1c. 250 ScG I c. 26. 251 S. th. I q. 45 a. 5c. 252 Ebd. q. 45 a. 4 ad 1. 253 Ebd. q. 8 a. 1c., q. 14 a. 9, q. 61 a. 1c. 254 Metaphysik 993b 24–26. 255 sent. II d. 37 q. 1 a. 2c. 256 S. th. I q. 11 a. 4c. (»das an sich bestehende Sein selbst, auf alle Weisen unbestimmt«). 257 Quaestiones quodlibetales q. 7 a. 1 ad 1 und a. 6c.; Expositio in Dionysii De divinis nominibus c. 8 lectio I (Opuscula Band II S. 543). 258 ScG I c. 71 (S. 86). Thomas entdeckt hier das Prinzip, das man aus Spinozas 50. Brief (»quia determinatio negatio est«) im Deutschen Idealismus (seit Jacobi) in der Fassung »omnis determinatio est negatio« herausgelesen hat. 248 249

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keine Unterschiede geben darf. Gottes Fülle droht also mangels unterscheidbarer Bestimmungen in die Leere gänzlicher Unbestimmtheit umzuschlagen, wie das reine Sein in Nichts nach Hegels Logik. 259 Die Gefahr, dass von dem nur noch durch Unbestimmtheit bestimmten Gott nach einer drastischen Wendung dieses Philosophen »bloß noch die Nacht (…), worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind«, 260 übrig bleibt, sucht Thomas vorzubeugen, indem er die Schuld an dieser Unbestimmtheit nicht mehr der Sache Gott, sondern dem begrenzten menschlichen Fassungsvermögen zuschreibt: Dass der Name »Der ist«, den Gott statt jeder Angabe darüber, wer er ist, im 2. Buch Mosis (3, 13) als den seinigen nennt, für ihn in der Tat der passendste ist, führt Thomas darauf zurück, dass unser begrenzter Verstand ihn nicht nach dem, was er in sich ist, erkennen, sondern durch nähere Bestimmungen nur verfehlen kann, so dass alle Namen, die wir Gott geben, umso angemessener je unbestimmter sind. 261 Das steht in klarem Widerspruch zu der rein ontologischen Begründung dieses Namens in der Summa contra Gentiles.227 Thomas versteckt ein ontologisches Dilemma hinter einer gnoseologischen Resignation oder Demutsgeste. Diese Strategie entfaltet er in seiner analogen Theologie, wonach alle Bezeichnungen, die wir Gott geben, nur in übertragenem Sinn zutreffen können. Wie stark diese Übertragung den Sinn verschiebt, ist seinem Schwanken zwischen zwei Versionen der Analogielehre nicht sicher zu entnehmen. Erst will er eine lobenswerte Eigenschaft wie die Güte Gott wie 259 Hegel, Wissenschaft der Logik, 2. Auflage 1833, 1. Buch, 1. Abschnitt, 1. Kapitel, A. Sein: »Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen anderes, hat keine Verschiedenheit in sich selbst, noch nach außen. Durch irgendeine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden, oder wodurch es als unterschieden von einem Andern gesetzt werden könnte, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten. Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. (…) Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare, ist in der Tat Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts.« Hegel fordert also auch für die Verschiedenheit nach außen »irgendeine Bestimmung oder Inhalt«, während Thomas mit der bloßen Negation, der Unbestimmtheit selbst, als genügendem Unterscheidungsgrund auszukommen glaubt: Gott ist unterschieden nicht durch ein seine Unbestimmtheit determinierendes, ihr hinzugefügtes Merkmal, sondern dadurch, dass ihm nichts hinzugefügt werden kann (Quaestiones de potentia Dei q. 1a. 2 ad 7). Thomas macht also die Unbestimmtheit zum bestimmenden, unterscheidenden Merkmal Gottes und ist darin dialektischer als Hegel. 260 Die Phänomenologie des Geistes, Vorrede, Hegels Gesammelte Werke Band 9, Hamburg 1980, S. 17. 261 S. th. I q. 13 a. 11c., dgl. sent. I d. 8 q. 1 a. 1c. et ad 4.

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Thomas von Aquino

uns, nur in höherer Weise (secundum modum altiorem) zubilligen, so dass es sich um eine nur modale oder graduelle Verschiebung handeln würde; 262 gleich darauf verschärft er diese zu einer konvergenten Metaphorik im Sinne des Aristoteles (12.3), mit dessen Beispielen vom gesunden Heilmittel oder Urin, die nicht weniger gesund sind als der eigentlich Gesunde, sondern überhaupt nicht gesund, und nur so heißen, weil sie eine Funktion für die Gesundheit (Bewirken oder Anzeigen) haben. 263 Im Sentenzenkommentar findet er einmal einen geistreichen Ausgleich beider Analogiebestimmungen: Jede Vollkommenheit stimmt bei Gott und Mensch in der Weise überein, dass sie vorrangig (per prius) Gottes Vollkommenheit und nur nachrangig (per posterius) die der Kreatur ist; in der Weise des Habens der Vollkommenheit unterscheiden sich Gott und Kreatur dagegen so radikal, dass nur noch metaphorisches Sprechen ohne angebbare Gemeinsamkeit die Brücke schlägt. 264 Danach ersetzt er auch die Analogie per prius/per posterius durch eine noch mildere im Verhältnis der Kreatur zu Gott, in der Weise, dass die Kreatur Gott nach Kräften nachahmt und doch nicht vollkommen erreicht. 265

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22.2 Das Sein und das Nichts Der Gott des Thomas ist reines, gediegenes Sein, wie das kompakte Seiende des Parmenides vergleichbar »der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte her überallhin gleichstark«; 266 alle anderen Dinge aber, die er geschaffen hat (für Thomas nur durch eine Ausstrahlung seiner unendlichen Fülle wie von Wärme, nicht durch ein schöpferisches Gebot), sind aus Fülle und Mangel gemischt, und damit aus Sein und Nichtsein, denn »so wie jede Vorzüglichkeit und Vollkommenheit einer Sache dadurch zukommt, dass sie ist, so kommt ihr jeder Mangel (oder Fehler, defectus) dadurch zu, dass sie in irgendeiner Weise nicht ist.« 267 Wie kommt Gott, das reine Sein, S. th. I q. 13 a. 2c. Ebd. a. 5c. 264 sent. I d. 22 q. 1a. 2 ad 3. 265 sent. I d. 35 q. 1 a. 4 c. 266 Parmenides fr. 8, 43 f. (Diels/Kranz). Der entsprechende Vergleich bei den Christen lautet: Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall ist, der Rand aber nirgendwo. 267 ScG I c. 28 (S. 37). 262 263

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Das Sein und das Nichts

an das Nichtsein? Sofern er sich auf Seiendes bezieht, steht ihm wenigstens die Brücke der Ähnlichkeit offen, da sein Wesen die Ähnlichkeit der einzelnen Dinge ist, in dem Sinn, dass sie dieses Wesen gemäß ihrem beschränkten Fassungsvermögen mehr oder weniger nachahmen; 268 Gott erkennt die einzelnen Dinge dadurch, dass sein Verstand sein Wesen als entsprechend nachahmbar anschaut. 269 Von den Dingen jedoch, die zwar irgendwann sein könnten, in der Tat aber weder waren noch sind noch sein werden, hat Gott, da sie in sich nicht sind und sich deshalb auch nicht in sich unterscheiden, keine Kenntnis im Einzelnen, sondern nur summarische Kenntnis aus seiner Macht, auch alles das zu erschaffen. 270 Für die nicht nur summarische Erkenntnis mit einfacher Einsicht (simplici intelligentia270 ) fehlt Gott, dem reinen und vollen Sein, da, wo gar kein Sein ist, an dessen Ähnlichkeit mit ihm er anknüpfen könnte, der Zugang zu dem Nichtsein, das er brauchte, um durch Abgrenzung des Seins mit Mangel als relativem Nichtsein zur genauen Einzelerkenntnis zu kommen. Der Gott des Thomas tut sich mit dem Möglichen, das niemals ist, demnach viel schwerer als der Gott des Leibniz. Leibniz ist exzessiver Singularist; für ihn ist es selbstverständlich, dass Gott in seinem Verstand von vornherein lauter einzelne mögliche Sachen – alle möglichen, abgepackt zu Bündeln aller möglichen Welten, d. h. aller widerspruchsfrei denkbaren Kombinationen irgendwelcher einzelner Sachen – fertig vorfindet und bloß noch mit seinem Willen wählend darauf zuzugreifen braucht. Die saubere Scheidung von Sein und Beschaffenheit macht ihm keine Schwierigkeit wie dem Thomas; andererseits ist er nicht wie dieser festgelegt auf die völlige Einfachheit reinen, vollen Seins, wodurch schon die Unterscheidung von Verstand und Willen in Gott problematisch wird. Thomas hat ein Problem, für das es im Denken von Leibniz keine Entsprechung gibt: Wie kommt Gott, das reine Sein, an das Nichtsein heran, erstens, um zu wissen, was er im Einzelnen erschafft, und zweitens, um überhaupt erschaffen zu können, und sei es selbst blindlings (wie die Wärme strahlt, das Feuer zündet): Das Sein, das er hat und ist, kann er sent. I d. 35 q. 2 a. 2c. Ebd. ad 3. 270 sent. III d. 14 q. 1 a. 2c. (… non possunt esse respectus divini, secundum quos distinguantur rationes horum possibilium, et ideo haec Deus non cognoscit per ideas distinctas, sed per cognitionem suae potentiae, in qua sunt …). 268 269

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Thomas von Aquino

spenden, aber woher nimmt er das Nichtsein, das er nicht hat, aber braucht, um die Spende auf ein gewisses Maß so zu begrenzen, dass sich durch Verbindung von Sein und relativem Nichtsein (Mangel) ein bestimmtes endliches Ding ergibt? Thomas löst das Problem, indem er die im Christentum als Dogma anerkannte Lehre, dass Gott die Welt aus nichts schafft, so extensiv auslegt, dass ihm das Nichts zum Mitautor der Schöpfung wird. So erklärt er sich den Mangel oder Fehler (defectus), der der Grund dafür ist, dass Kreaturen Fehler machen (sündigen) können: »Dieser Fehler (sc. im Vermögen der Kreatur) besteht darin, dass es (sc. das Vermögen) aus nichts ist. Für diesen Fehler aber, nämlich, dass die Kreatur aus nichts ist, ist Gott nicht direkt der Grund (…). Die geschaffene Sache aber, wenn sie sich überlassen würde, ist nichts. Daher kommt der Kreatur, dass sie aus nichts ist, nicht von Gott, wie sehr auch das Sein der Kreatur von Gott sei. Man könnte trotzdem sagen, dass dieser Fehler indirekt von Gott ist, freilich nicht so wie von einem Handelnden, sondern wie von einem Unterlassenden, insofern er der Kreatur nicht dies verleiht, nicht aus nichts zu sein (…), es sei denn, dass die Kreatur dieser Vollkommenheit, nicht aus nichts zu sein, unfähig befunden würde, und deshalb ist dieser Fehler in gar keiner Weise von Gott, weder direkt noch indirekt.« 271 Für das Schicksal der Kreatur, aus nichts oder dem Nichts – im Lateinischen sind beide Bedeutungen, die adverbiale und die substantivische, an der Wortform nicht unterscheidbar – geschaffen zu sein, gibt Thomas hier zwei mögliche Erklärungen: Gott hat es zugelassen, oder diese Herkunft liegt im Wesen der Kreatur, woran auch Gott nichts ändern kann. Dass Thomas die zweite Seite der Alternative bevorzugt, deutet sich schon im Indikativ der abschließenden Formulierung an, und sicher wird es durch seine im nächsten Buch des Sentenzenkommentars folgende Angabe der Weisen, wie sich der Hervorgang des göttlichen Sohnes aus seinem Vater von der Erschaffung der Kreatur unterscheidet: »Der Hervorgang des Sohnes vom Vater kommt mit dem Hervorgang in den Kreaturen in gewisser Weise überein durch Gemeinschaft der Analogie, in gewisser Weise unterscheidet er sich. Er kommt überein bezüglich des Ursprungs, des Seins von etwas; er unterscheidet sich aber darin, dass der Hervorgang des Sohnes vom Vater durch die Natur (Gottes) geschieht, der Hervorgang der anderen Dinge aber durch den Willen (Gottes). Daraus folgt, wie aus dem 271

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sent. II d. 44 q. 1 a. 1c.

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Das Sein und das Nichts

Gesagten ersichtlich ist, ein dreifacher Unterschied: 1. Der Sohn ist wesensgleich dem Vater. 2. Er ist gleich ewig. 3. Sein Sein hängt in keiner Weise vom Nichts ab. Dies folgt aus dem ersten Unterschied.« 272 Gemäß der Angabe des dritten Unterschiedes hängt das Sein der Kreaturen vom Nichts – hier ist die adverbiale Auffassung des Wortes (»nichts«) ausgeschlossen – ab, und deswegen können sie nicht gleichen Wesens wie der Vater sein. Aus dem Nichts stammt das Nichtsein, das Gott benötigt, um die Spende von Sein aus seiner Fülle durch angemessene Dosierung von Fülle und Mangel (relativem Nichtsein) auf die Essenz der zu erschaffenden Kreatur zu begrenzen. Gott und das Nichts arbeiten sich bei der Schöpfung in die Hände. Dieses Schöpfungsverständnis ist formgleich nichtchristlichen Spekulationen moderner Denker, zunächst der Verbindung des absoluten Ich mit dem Nicht-Ich durch Teilbarkeit und gegenseitige Beschränkung zur Quantitätsfähigkeit nach § 3 von Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Fichte drückt sich dort so aus: »Dem absoluten Ich entgegengesetzt, (…) ist das Nicht-Ich schlechthin Nichts; dem einschränkbaren Ich entgegengesetzt ist es eine negative Größe.« 273 Die gegenseitige Einschränkung und Quantifizierung von Ich und Nicht-Ich nach Fichte entspricht also formal exakt der Schöpfung nach Thomas als gegenseitige Einschränkung von Sein (Gott) und Nichts zu dosiertem Sein und dosiertem Nichtsein (Mangel) mit Quantifizierung der Bestimmtheit. Etwas entfernter ist die Verwandtschaft der Denkweisen von Thomas und Sartre, aber nicht umsonst steht am Anfang dieses Paragraphen als Überschrift der Titel des Hauptwerkes von Sartre. Sartre charakterisiert das Sein, wie Thomas Gott als das Sein bestimmt: »Das Sein ist. Das Sein ist an sich. Das Sein ist, was es ist.« 274 Ebenso summiert Thomas sein Seinsverständnis im Gottesnamen »Der ist« aus Exodus 3, 16,227 wo Gott diese Selbstbezeichnung mit der jede Zusatzbestimmung abweisenden Erklärung »Ich bin, der ich bin« begründet. Dieses Sein an sich lockert sich nach Sartre durch das Verhältnis zu sich im Bewusstsein (oder vielmehr der Mit-wissenschaft, conscience) auf: »Das Sein sent. III d. 11 q. 1 a. 1 ad 3. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre § 3, C, 1, Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Abteilung 1 Band 2 S. 271. 274 L’être et le néant, Paris 1943, von mir benützt in der 51. Auflage, S. 34: « L’être est. L’être est en soi. L’être est ce qu’il est. » 272 273

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des Bewusstseins, sofern es Bewusstsein ist, besteht darin, im Abstand von sich als Gegenwart bei sich (à distance de soi comme présence à soi) zu existieren, und dieser nichtige Abstand, den das Sein in seinem Sein trägt, ist das Nichts.« 275 Der mit diesem Zwiespalt des Nichts im Sein geschlagene Mensch strebt dahin, Gott zu werden, d. h. die ursprüngliche Massivität des Seins an sich 276 zu verbinden mit dem im Bewusstsein erworbenen Verhältnis zu sich in der Weise einer Gründung seiner selbst durch sich, aber das ist eine unmögliche Synthese: »Jede menschliche Realität ist eine Leidenschaft, indem sie darauf ausgeht, sich zu verderben, um das Sein zu gründen und damit auf einen Schlag das Ansich zustande zu bringen, das der Zufälligkeit entgeht, indem es sein eigenes Fundament ist, das Sein als causa sui, das die Religionen Gott nennen. (…) Aber die Idee Gottes ist widerspruchsvoll, und wir opfern uns vergebens: Der Mensch ist eine unnütze Leidenschaft.« 277 Das ist nicht die Schöpfungsidee des Thomas, sondern eine dynamisierende Wendung der Sartre mit Thomas verbindenden Synthese von Sein und Nichts durch Einimpfung des augustinischen Motivs vom unruhigen Herzen, das nicht eher ruht, bis es in Gott ist 278 – Sartre würde sagen: bis es Gott geworden ist, was es nie werden kann, weil Gott als Gegenstand eines in sich widerspruchsvollen Begriffes unmöglich ist.

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22.3 Die Skalierung der Bestimmtheit Skalierung ist Quantifizierung in diskreten Stufen, die mit natürlichen Zahlen indiziert werden können. Thomas verschärft die Quantifizierung der Bestimmtheit (22.1) zu einer Skalierung der Arten und Formen, wobei er sich auf eine Stelle aus dem 8. Buch der Metaphysik des Aristoteles stützt. Aristoteles schreibt: »Offensichtlich sind die Wesen, wofern sie überhaupt Zahlen sind, es so und nicht, wie gewisse Leute sagen, aus Einsen; die Definition ist nämlich eine Art von Zahl, als teilbar in unteilbare (Elemente), denn die Definitionen sind nicht ins Unendliche (zerlegbar), und auch die Zahl ist derart. Und wie man von einer Zahl nichts von ihren sie konstituieren275 276 277 278

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Ebd. S. 120. Ebd. S. 33: »L’en-soi n’a pas de secret: il est massif.«. Ebd. S. 708. Confessiones 1, 1.

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Die Skalierung der Bestimmtheit

den Bestandteilen wegnehmen oder hinzusetzen kann, ohne dass sie eine andere Zahl wird, mag die Abnahme oder der Zusatz noch so klein sein, so wird auch die Definition und das Was-war-zu-sein-? 279 nicht mehr bestehen, wenn etwas weggenommen oder hinzugesetzt wird.« 280 Aristoteles will sagen: Die Wesen im Sinne von Ideen (Arten oder Formen) stehen unverrückbar fest, was sich in den zugehörigen Definitionen als eine genau bestimmte Zahl von Merkmalen (nicht von arithmetischen Einsen) darstellt, von denen nichts weggenommen und zu denen keines hinzugesetzt werden darf, weil sonst das Wesen verfehlt wird. Thomas greift besonders die Analogie mit der Variation von Zahlen durch Addition und Subtraktion heraus, indem er sich auf diese Autorität beruft: »Jedes Beliebige ist dadurch in einer Art enthalten, dass es zu einer artgemäßen Stufe unter den Seienden bestimmt wird, weil die Arten der Dinge wie Zahlen sind, die sich durch Addition und Subtraktion einer Stufe unterscheiden, wie gesagt wird.« 281 Die Form gibt der Sache das Sein und damit die Ähnlichkeit mit Gott, der das Sein ist; da aber die Ähnlichkeit des Abbildes nur durch größere oder geringere Nähe zum Vorbild variieren kann und in diesem Fall die Nähe zu dem ganz vollkommenen Gott mit der Vollkommenheit wächst, gibt es unter den Formen keinen anderen Unterschied als durch die größere oder geringere Vollkommenheit, wofür sich Thomas, nun aber ganz zu Unrecht, abermals auf die Aristotelesstelle beruft. 282 Er macht daraus das Prinzip des Übergangs in einer Anordnung, in der man wie bei Zahlen Addition und Subtraktion ausführen kann. 283 »So wie nämlich bei den Zahlen eine größer als die andere ist gemäß ihrer eigenen Art – daher weichen ungleiche Zahlen der Art nach von einander ab –, so ist bei den Formen, sowohl bei den materiellen wie bei den von der Materie getrennten, eine vollkommener als die andere nach Maßgabe der eigenen Natur, indem nämlich der eigentümliche Begriff der Art in einem solchen Grad der Vollkommenheit besteht.« 284 Diese Vision einer kompletten Skalierung der Arten nach dem Grad der Vollkommenheit erweitert die von Aristoteles auf das 279 Zum aristotelischen (monströs benannten) Begriff des Was-war-zu-sein-?–s vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 1, Bonn 1985, S. 13–22. 280 1043b 32–1044a 2. 281 S. th. I q. 50a. 2 ad 1. 282 ScG III c. 97 (S. 435). 283 ScG IV c. 41 (S. 627). 284 Opuscula Band 1 S. 94 (De substantiis separatis c. 6).

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Pflanzen- und Tierreich erstreckte scala naturae, in der alle möglichen Lücken zwischen primitiven und entwickelteren Formen tunlichst durch Zwischenformen gefüllt sind, 285 zu einer wunderbaren Ordnung und Verknüpfung der Dinge, mit den angewachsenen Tieren (z. B. Austern) an der Nahtstelle von Pflanzen- und Tierreich und in diesem hinauf zum belebten Menschenkörper, an den sich auf nächstvollkommener Stufe die Menschenseele anschließt, die wiederum das unterste Glied in der aufsteigenden Kette der geistigen Substanzen ist. 286 Die Vollkommenheit des Universums hängt davon ab, dass alle Stufen des Seins besetzt sind. 287 Zu diesem Zweck muss es die Ungleichheit in der Welt geben. 288 Von der höchsten Intelligenz abwärts durch die Reihe der Intelligenzen bis hinunter zur Menschenseele und weiter herab durch die ungeistige Natur bis zu den Elementeformen unmittelbar über der bloßen Materie nimmt schrittweise die Fülle an Akt zugunsten einer (entsprechend mit einem Mangel mehr behafteten) passiven Potenz ab. 289 In dieser Weise sind die lebenden Wesen über den leblosen angeordnet, die Tiere über den Pflanzen, der Mensch über den anderen Tieren, mit feineren Abstufungen in den verschiedenen Gattungen, und unter den immateriellen Substanzen gibt es überhaupt keinen Unterschied als nach solcher Ordnung der Vollkommenheit. 290 Sie unterstehen Gott, dann kommen die Himmelskörper, ihnen folgen die übrigen Formationen der sinnlichen Natur bis hinab zu den Elementen, die wieder gestuft sind mit der absteigenden Rangfolge der Vollkommenheit: Feuer–Luft–Wasser–Erde. 291 Thomas hält sich hier an die Stelle 213a 1–4 aus der Physik des Aristoteles. 292 Auf diese Weise sind die Arten linear und isomorph zu einem Abschnitt der natürlichen Zahlen geordnet, aber das gilt nicht für die Individuen und auch nicht mehr streng für alle Arten unserer Umwelt auf den niedersten Rangstufen. 293 In jedem Individuum ist die Artnatur das Vollkommenste, Historia animalium 588b 4–23; De partibus animalium 681a 12–15. ScG II 68 (S. 213). 287 S. th. I q. 22 a. 4c. 288 Ebd. q. 48 a. 2c. 289 Opuscula Band 1 S. 158 (De ente et essentia c. 5). 290 ScG IV c. 24 (S. 597). Thomas spielt hier auf die ihm aus Aristoteles bekannte platonische Idealzahllehre an. 291 Quaestiones de potentia Dei q. 5 a. 8c. (S. 176). 292 Das ergibt sich aus den Quaestiones de veritate, q. 9 a. 1c. und q. 11 a. 3c. 293 Quaestio unica de spiritualibus creaturis a. 8c., Quaestionen Band 2 S. 344; Näheres 285 286

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Die Skalierung der Bestimmtheit

weil durch sie die passive Potenz sowohl der Gattung (die durch die spezifische Differenz zur Art weiterbestimmt wird) als auch der Materie (die durch die Artform Gestalt annimmt) so festgelegt wird, dass eine genaue Einordnung in die Rangskala der Vollkommenheit möglich ist; 294 so unterscheiden sich z. B. der Art nach die unvernünftigen Tiere durch Stufen der sinnlichen, die sämtlichen Engel durch Stufen der intellektuellen Natur. 295 Diese Orientierung des Thomas am bestimmten Platz der durch mehr oder weniger Akt im Verhältnis zu der mit Mangel behafteten passiven Potenz bestimmten Leiter der Vollkommenheit hinauf zu Gott erklärt seine häufigen Versicherungen des Vorranges der Art in Rang und Würde vor dem Individuum, das seine Leistung als Funktionär seiner Art vollbringt und nur so zur Vollkommenheit des Universums beiträgt. 296 Diese Stellungnahme steht in unausgeglichenem Gegensatz zur Wegdeutung der Art bei Erörterung des Universalienproblems durch Thomas (21.3). Weit radikaler als bei den materiellen Substanzen gelingt die Skalierung bei den immateriellen, deren Wesenheit nur Form ist, 297 so dass die Definition nicht in der von Aristoteles vorgeschriebenen Weise aus einer an die Materie angelehnten Gattung und einer an die Form angelehnten spezifischen Differenz zusammengesetzt werden kann, sondern beide Definitionsbestandteile an derselben einfachen Essenz, die nur Form ist, abgelesen werden müssen. Das soll so geschehen, dass für alle immateriellen Wesen (außer Gott) die Immaterialität die Gattung ist, spezifische Differenz aber die Stufe auf der Leiter der Vollkommenheit, die durch Zuwachs von Akt gegen Mangel in passiver Potenz in die Höhe auf Gott hin steigt. 298 Da diese Konstruktion keine mit empirischem oder anderem Inhalt gefüllte Grundlage hat, weicht Thomas wieder einmal – wie bei der Analogie zur Entlastung Gottes vom Verdacht seiner Auflösung in die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind,260 die Leere bloßer Unbestimmtheit (22.1) – in die Belastung unserer menschlichen Unkenntnis mit der Verantwortung aus: Wir schwachen Menschen kennen die echten auch a. 8 ad 9, S. 346 und in der quaestio unica de anima a. 7c. (ebd. S. 396 f.), a. 8 ad 6 (S. 398). 294 Quaestiones quodlibetales q. 8 a. 2c. (Band 5 S. 164). 295 S. th. I q. 50 a. 4 ad 1. 296 ScG II c. 45 und 92, III c. 59.75.111 (S. 177, 274, 369, 395, 461); Quaestio unica de anima a. 18c., S. 450; S. th. I q. 23 a. 7c.; sent. III d. 3 q. 1 a. 4 ad 3. 297 ScG II c. 54 (S. 188). 298 De ente et essentia c. 6, Opuscula Band 1 S. 160.

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spezifischen Differenzen bei den immateriellen Substanzen so wenig wie bei den materiellen, bei jenen aber nicht einmal wie bei diesen akzidentelle Vertreter, an die wir uns halten könnten.298 Der Rang auf der Leiter ist also die einzige Besonderheit, wodurch sich Engel spezifisch unterscheiden können, und da es zwischen Individuen keinen Rangunterschied ihrer Teilnahme an der Artnatur geben kann, 299 können nicht mehrere Engel derselben Art angehören. 300 Daraus folgt die streng lineare Ordnung des Engelreiches: Von zwei Engeln steht immer einer höher als der andere, weil er etwas mehr Akt und etwas weniger ungefüllte passive Potenz hat. 301 Eigentlich könnte es nach dieser Logik nur eine einzige Menschenseele geben, da diese nach Thomas ebenfalls ein immaterielles Wesen ist, doch rettet sich Thomas gegen diesen Einwand durch die gekünstelte Konstruktion einer Neigung jeder Geistseele zu einem je anderen individuellen Körper, dem sie durch Neigung auch nach Entkörperung verbunden bleibt, so dass es so viele Geistseelen wie Menschenkörper geben kann. 302 Diese Körperbezogenheit liefert Thomas überdies Gelegenheit, die Rangskala gegen sein vermeintlich aus Aristoteles geschöpftes Verbot299 auch auf die Menschenseelen auszudehnen, obwohl diese nur individuell und nicht spezifisch verschieden sind: Eine Seele ist umso vornehmer, je besser die Mischung in ihrem Körper ausgewogen ist, was sich nach Aristoteles daran zeige, dass geistig hochbegabte Menschen (mit also höherstehender Seele) weicheres Fleisch und besseren Tastsinn (»Fingerspitzengefühl«) hätten. 303 Thomas benützt diesen Anknüpfungspunkt, um die Skala nach unten ins Tierund Pflanzenreich weiterzuführen: Der Menschenkörper hat zwar die am besten ausgewogene Mischung, aber auch bei den übrigen Lebewesen stehen die Arten höher, die sich durch eine bessere Ausgewogenheit der Mischung auszeichnen.303 Für die betreffende Ausgewogenheit gibt es bei Menschen überdies ein leicht ersichtliches 299 Hierfür beruft sich Thomas auf das 7. Buch der Metaphysik des Aristoteles, aber ich weiß nicht, welche Stelle er meint; die einzige, die meines Wissens in Frage käme (1038a 33 f.), betrifft nicht die Individuen, sondern die spezifischen Differenzen. 300 sent. II d. 3 q. 1 a. 4c., fol. 12v. Spalten a/b. Man könnte einwenden, dass doch nur die spezifische Differenz der Engel im Rang auf der Leiter bestehe, aber für weitere, nicht nur akzidentelle Differenzierung sieht Thomas offenbar mangels individuierender Engel-Materie keine Gelegenheit. 301 sent. II d. 9 q. 1 a. 5c. 302 ScG II c. 75 (S. 229). 303 sent. II d. 32 q. 2 a. 3c.

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Die Materie

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quantitatives Merkzeichen: Jeder Mensch hat (mit einer gewissen Schwankungsbreite) eine ihm persönlich auf den Leib geschnittene Normalgröße nach Maßgabe des Verhältnisses von Wärme und Feuchtigkeit in seinem Körper, und in dieser Größe – unabhängig von zufälligen Verformungen und Verstümmelungen – wird er am Jüngsten Tage auferstehen. 304 Welchen Einfluss die Normalgröße auf die Position in der Rangleiter hat, gibt Thomas allerdings nicht zu verstehen. Die Orientierung der Skala der Vollkommenheit und damit der Artbestimmtheit an Gott 305 bringt Thomas ein schwieriges Problem ein: Die virtuelle Quantität der Vollkommenheit ist bloß bei Gott unendlich, 306 aber je mehr die Formen sich aus der Enge der Materie emporringen und immaterieller werden, desto mehr gelangen sie zu einer gewissen Unendlichkeit, 307 so dass sich der Abstand von Gott vermindert. Aber wie kann sich ein unendlicher Abstand vermindern? Jede Kreatur steht gleich, nämlich unendlich, tief unter Gott; sonst könnte etwas noch höher als Gott (durch Addition weiterer Stufen) über einer Kreatur stehen. Und doch soll eine Kreatur näher als die andere an Gott stehen. Thomas durchhaut den Knoten dieser Antinomie durch die Festsetzung, dass der Abstand asymmetrisch sei, nämlich in der Richtung von der Kreatur zu Gott unendlich, in der Gegenrichtung endlich. 308 Der Unendlichkeit des Abstandes von unten nach oben entspricht in Fichtes System273 die Unendlichkeit der unerfüllbaren Aufgabe (kategorischer Imperativ) an das teilbare Ich, dem absoluten Ich gleich zu werden.

22.4 Die Materie Als Individuationsprinzip (individuationis principium) benennt Thomas die Materie, 309 offensichtlich im Glauben, sich damit an Aristoteles anzulehnen, der etwas Vergleichbares aber höchstens in seinen sent. IV d. 44 q. 1 a. 3 subquaestio 2 ad 2. sent. I d. 42 q. 2 a. 1c. (fol. 132 v. Spalte a, D): Sciendum tamen, quod gradus potentiarum sicut et naturarum divina potentia ordinati sunt, secundum quod una plus vel minus deficit a perfectione divinae potentiae. 306 Quaestiones de veritate q. 29 a. 4c. 307 S. th. I q. 14 a. 1c. 308 sent. IV d. 5 q. 1 a. 3, ad tertiam quaestionem articuli ad 5 (fol. 26r. Spalte b). 309 ScG II c. 100, ähnlich c. 92 (S. 273): proprium principium individui. 304 305

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Anfängen als akademischer Denker vertreten hat, während Texte aus der Metaphysik, die eine solche Lehre nahelegen, auf nacharistotelischer Interpolation beruhen. 310 Gemeint ist, dass die Materie Prinzip der Verschiedenheit der Individuen derselben Art sei, aber vielmehr die Einteilung der Materie nach Quantität. 311 Wenn die Quantität ohne Materie aktuell sein könnte, wäre sie per se (ohne weiteres) individuell, weil die Ordnung durch Lage (im Raum) für Vervielfältigung artgleicher Quanta (z. B. Linien) genügt. 312 Die Materie wird also zur Individuation über die Quantität hinaus nur benötigt, weil Akzidentien nur an der Substanz vorkommen können. 313 Aber auch die Materie steht nicht auf eigenen Füßen; sie kann nicht ohne Form existieren, 314 nicht einmal Gott könnte das bewirken. 315 Andererseits ist in den aus Form und Materie zusammengesetzten Dingen die Materie individuell. 316 Damit liegt der Verdacht eines Zirkels nahe: Die Materie mit der Quantität als ihrer Disposition 317 kommt nur in der vollständigen, individuellen Sache vor und ist dann genauso individuell wie die Form, für deren Individuation durch Vervielfältigung der Form der Art sie der Grund sein soll. Als Prinzip der Individuation scheint sie dann zu spät zu kommen; alles an der vermeintlich zu individuierenden Sache einschließlich ihrer Materie ist sowieso individuell, und man sollte lieber mit Leibniz 318 und Suarez 319 sagen, dass jedes Individuum durch alles, was es ist, ohne besonderes Prinzip der Individuation individuell sei. Ein solcher Einwand gegen Thomas wäre aber ein Missverständnis dessen, was er mit seiner These sagen will. Er ist ein Singularist 310 Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 532– 534, s. o. 12.7. 311 ScG II c. 49 (S. 182). 312 sent. IV d. 12 q. 1 a. 3c., ähnlich ScG IV c. 65 (S. 667). 313 Expositio super Boethium De trinitate (Opusculum XVI) q. 5 a. 3c. (Opuscula Band 3 S. 112). 314 Quaestiones de potentia Dei q. 4 a. 1c. 315 Quaestiones quodlibetales, Quodlibet 3 a. 1c. 316 ScG II c. 50 (S. 183). 317 Quaestiones de potentia Dei q. 9 a. 7c. (S. 286). 318 Leibniz, Dissertatio de principio individui (1663), Philosophische Schriften hg. v. Gerhardt Band 4, Nachdruck Hildesheim 1978, S. 18: Omne individuum tota sua entitate individuatur. 319 Disputationes Metaphysicae, disputatio V sectio 6 n. 1: (…) omnem substantiam neque alio indigere individuationis principio praeter suam entitatem, vel praeter principia intrinseca quibus eius entitas constat.

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Die Materie

(21.3), der wie Suarez und Leibniz der Überzeugung anhängt, dass alles per se und ohne Erfüllung zusätzlicher Voraussetzungen einzeln (numerisch Eines) ist, und spricht deswegen ganz unbefangen die Rolle als Prinzip der Einzelheit (principium singularitatis) der individuellen Materie zu, 320 da diese anders als so für ihn gar nicht vorkommen kann. Sein Anspruch an ein Individuationsprinzip ist unvergleichlich bescheidener als der des Duns Scotus, der ein Prinzip sucht, das die allgemeinen, unvollständig bestimmten Naturen zur Einzelheit einer vollständig bestimmten Sache ergänzt und so die Individualität erst herstellt. Thomas dagegen will nur das charakteristische Merkmal angeben, durch das sich Fälle derselben Art unterscheiden lassen, und kommt dafür zunächst auf die Quantität, weiter aber, da diese als Akzidens einen Träger braucht, und aus Respekt vor Aristoteles auf die Materie, aber nur, sofern diese bereits durch die Form der Art aktualisiert und damit individuell geworden ist. Ein und dieselbe Artnatur ist in so und so vielen Portionen des materiellen Stoffes von vornherein abgedrückt, und durch diese vielfache Stempelung kommen die vielen Fälle einer Art zustande; so unterscheiden sich z. B. die vielen Menschen, die in der Artnatur übereinstimmen, nur durch die Wirkung materieller Prinzipien, so dass es in der Skala der Vollkommenheit (22.3) keinen Unterschied der Ordnung (des Ranges) zwischen ihnen gibt. 321 Man kann die Ordnung der Individuation nach Thomas als ein rückgekoppeltes System verstehen, wobei die Materie dem Herzen vergleichbar ist, das die Durchblutung antreibt, aber nur, solange es selbst durchblutet ist, oder der Polizei, die die öffentliche Ordnung aufrecht erhält, aber nur, solange auch in ihr diese Ordnung herrscht. Eine Lücke hat die Konstruktion nur bei der Individuation der Menschenseele: Es gibt viele solche Seelen von gleicher Art, und doch sollen sie keine Materie haben, sondern ein bloßes Akzidens – die Neigung zu einem ganz bestimmten Körper 322 – soll für die Vielzahl der Seelen genügen. Eine gewisse Verlegenheit bereitet Thomas das Verhältnis von Materie und Quantität bei der Individuation. Die Materie ist Prinzip der Verschiedenheit der vielen artgleichen Individuen nur dadurch, dass sie durch die Quantität in Portionen geteilt ist, von denen jede die Form der Art aufnimmt; der Ansatzpunkt für diese Verschieden320 321 322

Quaestiones de potentia Dei q. 9 a. 1c. (S. 265). sent. II d. 9 q. 1 a. 7 ad 3. ScG II 81 und II 83 (S. 243 und 254).

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heit ist also die Quantität, aber nur, sofern zu ihr die Lage (im Raum) und damit die Ordnung der Teile gehört. 323 Eine solche Individuation scheint zu weit zu gehen; denn durch bloße Änderung der Quantität oder der Lage müsste aus einem Individuum ein anderes werden. Bezüglich der Quantität sucht er der Übertreibung durch eine komplizierte Konstruktion zu steuern: Die Materie individuiert die Formen als selbst durch Quantität individuierte Materie, die zwar bestimmte Ausmaße besitzt, auf die es aber für die Individuation nicht ankommt, »weil sonst, da solche Begrenzung der Abmessung am Individuum häufig wechselt, folgte, dass das Individuum nicht immer der Zahl nach dasselbe bliebe.« Daher kommt die Materie für diesen Zweck mit unbegrenzten Abmessungen in Betracht, was aber nicht bedeutet, dass sie als individuierende nicht wirklich begrenzt wäre, sondern nur, dass die Ausdehnung abgesehen von der Begrenzung die Individuation bewirkt. 324

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22.5 Thomas und Aristoteles Thomas verhält sich zu Aristoteles wie ein gelehriger Schüler, der sich auf die Lehren des Meisters nach Belieben beruft, diese aber unter der Hand, unwillkürlich oder willkürlich, eigentümlich umformt. Die wichtigsten Konstruktionsprinzipien, die er übernimmt und systematisch durchführt, sind einerseits die Gegenüberstellung von Potenz und Akt (Dynamis und Energeia), wobei die Dynamis Materie (Stoff), die Energeia oder Entelecheia Idee (Form, Akt) ist, 325 und andererseits die von Thomas aus der Physik in die Metaphysik übertragene Prinzipientrias aus Idee (Form, Habitus), Mangel (Privation) und mit Mangel behafteter oder von ihm befreiter Materie (passiver Potenz) (22.1). Im reif entwickelten Denken des Aristoteles stehen diese Muster im Dienst einer gestaltpsychologischen Konzeption, die das Indefinite (aoriston) mit dem Potentiellen im Doppelsinn des noch nicht Einzelnen und des nicht voll Wirklichen, insofern Nichtseienden, 326 gleichsetzt und aus diesem verschwommenen Hinter- oder Untergrund (Hypokeimenon, Unterlage) die Idee als die 323 324 325 326

Wie Anm. 313, q. 5a. 3 ad 3 (S. 114). Wie Anm. 313, q. 4 a. 2c. (S. 84 f.). Aristoteles De anima 412a 9 f. Metaphysik 1007b 28 f., 1047b 1 f.

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Thomas und Aristoteles

Differenz im Stoff, 327 als die nicht dihairetisch letzte, sondern vollendete Differenz, 328 heraushebt, die charakteristische Gestalt vor diffusem Hintergrund, die von der begrifflich spezifizierenden Annäherung nur umspielt werden kann (12.5). Diese gestalthafte Orientierung an Figur und Hintergrund, wobei das Figurhafte weniger räumlicher Umriss als charakteristische Funktion oder Betätigung (Energeia) ist, liegt dem unanschaulichen Denken des Mönches Thomas ganz fern; so fehlt bei ihm jede Resonanz für das aristotelische Schlüsselmotiv des aoriston. 329 Dagegen verfügt er als Erbe Avicennas über einen viel schärferen Seinsbegriff als Aristoteles, der nur die Fragen, was etwas ist und ob es ist (dies gesondert für Wirklichkeit von Sachen und Tatsächlichkeit von Sachverhalten) aus einander bringt, 330 das Sein aber mit Beschaffenheit vermengt, worin ihm Thomas gern folgt (22.1), obwohl er durchaus in der Lage ist, Beschaffenheit und Sein (essentia und existentia oder esse) auch scharf gegenüberzustellen, und sich dieses Verfahrens sogar beständig bedient. Der Einsatz dieser Instrumente gestattet Thomas den (sehr unvollständig ausgeführten) Entwurf einer alles Seiende am Leitfaden des Artunterschiedes überspannenden Stufenleiter, die vom reinen Sein oder Gott, gedeutet als völlig mangellose Vollkommenheit eines reinen Aktes, durch zunehmenden Mangel mit passiver Potenz bis zur bloßen Potenz der Materie hinabführt (mit Beteiligung des Nichts als Spender des zum Mangel erforderlichen Nichtseins). Dafür muss Thomas im triadischen Schema des Aristoteles die Neutralität der Materie gegen Fülle und Mangel durch starre Bindung der passiven Potenz der Materie an den Mangel ersetzen, damit die Stufenleiter von unten nach oben als Abnahme passiver Potenz durch Zufuhr von Akt gedeutet werden kann. Ferner muss er sich über den Unterschied hinwegsetzen, dass das Sein nicht steigerbar ist – etwas ist oder ist nicht, aber wenn es ist, kann es nicht mehr sein als sein –, der Akt, in den er das Sein umdeutet, aber so sehr, dass die ganze Konstruktion der Stufenleiter auf dieser Steigerung beruht, die vom äußerst Mangelhaften durch immer mehr Akt zum gänzlich mangellosen und vollkommenen Gott als dem Sein an sich (esse sub-

327 328 329 330

De partibus animalium 643a 24. Ebd. 644a 2 f.; Metaphysik 1038a 25 f. Zum aoriston (indefinitum) vgl. die in Band I mit Anm. 398 angegebenen Stellen. Zweite Analytiken Kapitel 1, 34a 23–35.

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Thomas von Aquino

sistens 331 ) führt. 332 Die Gesamtrichtung dieses Denkens ist der aristotelischen total entgegengesetzt: Aristoteles sucht nach dem Wesen (ousia) als dem Eigentümlichen in einem Jeden, 333 Thomas nach einem allgemein anwendbaren Rezept des Quantifizierens und Skalierens gemäß dem mathematischen Leitbild linearer Ordnung, worüber Aristoteles sich beklagt: »Den Zeitgenossen wurde zur Mathematik die Philosophie, obwohl sie sagen, man müsse so etwas um anderer Zwecke willen betreiben.« 334 Nach Thomas sind die wesentlichen Differenzen der Substanzen uns unbekannt, im Fall der immateriellen Substanzen sogar die akzidentellen. 335 Diese These hat ein Gegenstück in der Stellungnahme des Aristoteles zur Idee als dem ersten (und eigentlichen, 12.3 und 12.5) Wesen: Es ist das Rätselhafteste, 336 bestimmbar nur indirekt als Analogon der oberflächlichen Differenzen, die man aus dem Ärmel schütteln kann. 337 Aristoteles meint damit die Schwierigkeit, die vollendete Differenz als den gestalthaft hervortretenden Grundzug in einem Meer von Verschwommenheit und oberflächlichen Nebensachen, zu dem sich die Materie und die Akzidentien zusammenschließen, 338 mit Begriffsbestimmungen zu treffen; für Thomas dient die Verborgenheit als Lizenz, die fehlende Bekanntschaft mit der Eigenart der Dinge durch den summarischen Entwurf einer alles quantitativ einordnenden Leiter diskreter linearer Ordnung zu ersetzen. Die Form als Artnatur ist ihm nur wichtig für die Bestimmung der Stelle auf der Leiter; deswegen kann er sich unbedenklich einem verbreiteten Missverständnis der aristotelischen Lehre anschließen, indem er das Verhältnis der drei von Aristoteles im 3. Kapitel des 7. Buches der Metaphysik angebotenen Typen von Unterlage so bestimmt: »Die Materie ist nämlich nur in Potenz; die Form ist das, wodurch etwas ist, sie ist nämlich Akt; daher bleibt übrig, dass im eigentlichen Sinn das Zusammengesetzte ist.« 339 Ich habe gezeigt, S. th. q. 4 a. 2c. Für die graduelle Verschiebung des Mischungsverhältnisses von Potenz und Akt vgl. z. B. De ente et essentia c. 5 (Opuscula Band 1 S. 158), sent. II d. 9 q. 1 a. 5c. und Quaestiones de potentia Dei q. 5 a. 8c. (S. 176). 333 Metaphysik 1038b 10. 334 Metaphysik 992a 32–b1. 335 De ente et essentia c. 6, Opuscula Band 1 S. 160. 336 Metaphysik 1029a 33. 337 Ebd. 1043a 4 f. 338 Ebd. 1049a 36–b2. 339 ScG II c. 43 (S. 172). 331 332

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Thomas und Aristoteles

dass Aristoteles nicht so denkt (12.3); die Idee oder Form ist ihm nicht nur dem Namen nach das erste Wesen, sondern das Wesen schlechthin, das eigentlich Seiende, weil er sich primär für den Charakter interessiert, der im trüben Milieu des Indefiniten aufscheint, allerdings nie rein nach Art einer platonischen Idee, sondern als stofflich-idealer Bastard (das Zusammengesetzte des Thomas) stets getrübt von diesem Milieu, aber so, dass diese Trübung in den Augen des Aristoteles eine Beeinträchtigung des eigentlichen Seins ist, nicht ein zu diesem erforderlicher Zusatz. Ein gelehriger und getreuer Schüler des Aristoteles ist Thomas an der Frontlinie des Kampfes gegen den platonischen Elementarismus (11.8), diesem Ariadnefaden durch das labyrinthische Gedankengebäude des Aristoteles (12.1). In diesem Sinn lehrt Thomas, ganz in Übereinstimmung mit Aristoteles, 340 dass die Artidee nicht aus Gattung und spezifischer Differenz zusammengesetzt ist. 341 In diesen Zusammenhang gehört auch die Auszeichnung der Artform als das Vollkommenste, nämlich Bestimmteste, in jedem Individuum, weil durch sie die Unvollkommenheit nach zwei Seiten geheilt wird: die Unvollkommenheit der Materie aus passiver Potenz und die Unvollkommenheit der Gattung als bloßer Anlage (Potenz) der Weiterbestimmung zur Art. 342 So sieht auch Aristoteles die Idee als Artund Formidee gleichsam als Gebirgskamm der Bestimmtheit zwischen zwei Senken des Übergangs ins stofflich Verschwommene: zur Indefinitheit der Materie329 und zur Indefinitheit des abstrakten Allgemeinen der Gattung, in dem nur Konvention für Abgrenzungen sorgt 343 (12.5). Diese Auszeichnung der speziellsten Art als die echte und reale Idee vor den Gattungen als bloßem Stoff ist das sicherste Kennzeichen der Frontstellung des Aristoteles gegen den platonischen Elementarismus.

340 341 342 343

Metaphysik 1022a 32–35, 1043b 10–14. De substantiis separatis c. 5 und c. 9 (Opuscula Band 1 S. 88 und 109). Quaestiones quodlibetales, quodlibet 8 a. 2c. (S. 164). De partibus animalium 644b 1–3.

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23. Johannes Duns Scotus

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23.1 Die distinctio formalis Die Scholastiker sind im Allgemeinen Singularisten; sie hängen der falschen (21.1) Meinung an, dass Einzelheit oder numerische Einheit (d. h. die Fähigkeit, eine Anzahl um 1 zu vergrößern) sich von selbst versteht, wie es Abaelard156 unübertrefflich formuliert, indem er sich auf Boethius für die These beruft: »Alles, was eines ist, ist ein Eines der Zahl nach, d. h. diskret in eigener Wesenheit.« Duns Scotus 344 hat vor Denkern wie Thomas von Aquino (21.3) und Suarez319 den Vorrang an Tiefe, dass er diesen Singularismus nicht mitmacht. Die Meinung der Gegner (opinio aliorum) geht nach seinem Referat dahin, dass jede Sache, abgesehen von allem anderen, einzeln ist und diese Einzelheit, mit dem bloßen Sein schon gegeben, ihr von sich aus, aus eigener Natur, zukommt. 345 Dagegen setzt er seine eigene Meinung mit dem Beispiel des Steines: »Dem Stein kommt von sich aus nicht die Einheit der Einzelheit zu; dann könnte er nämlich unter dem Aspekt der Allgemeinheit nur im Gegensatz zu seiner Eigenart betrachtet werden. (…) Wie daher dem Verstand der Stein etwas an sich ist, weder unter dem Aspekt des Allgemeinen noch unter dem Aspekt des Einzelnen, (…) so ist die Natur in der Existenz außerhalb der Seele primär weder eine noch viele der Zahl nach, sondern hat eine eigentümliche Einheit, die geringer ist als die Einheit, die jenem Einzelnen zukommt, und jenes ist das washeitliche (quiditative) Sein des Steines und der Sache allgemein, gemäß welchem Sein die Definition

344 Zur Zitierweise s. o. Anm. 173. Abkürzungen: d. = distinctio, p. = pars, q. = quaestio, n. = Nummer, Vat. = editio Vaticana, Wad. = Ausgabe von Wadding (s. ebd.). Römische Ziffern in der Quellenangabe bezeichnen ein Buch. 345 L II d. 3 p. 1 q. 1 n. 6–7 (Vat. XVIII S. 231): (…) res, circumscripto omni alio, habet quod sit singularis (…) esse autem singulare, quod est esse simpliciter, convenit rei ex se, ex natura sua (…) et sic natura de se singularis est.

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Die distinctio formalis

der Sache erfolgt (…).« 346 Scotus hat verstanden, dass Einzelheit nicht voraussetzungslos ist, sondern nur auf dem Hintergrund von Bestimmungen möglich, wodurch etwas als Fall von etwas bestimmt wird; diese Bestimmungen bezeichnet er als Naturen, Perfektionen oder Realitäten, die sich, durch bloß formalen Unterschied gegen einander abgesetzt, in jeder einzelnen Sache zusammenfänden, 347 »und daher kommt (hier) nicht jene vollkommene Zusammensetzung aus Sache und Sache in Frage; nicht aber jede (Zusammensetzung entfällt). Allgemein (gesprochen) ist nämlich jede Natur, die nicht von sich aus diese (d. h. individuell) ist, sondern bestimmbar, diese zu sein – ob nun als näher bestimmt durch eine andere Sache, was in jedem Fall unmöglich ist, oder durch eine andere Realität – nicht schlechthin einfach.« 348 Bei der distinctio formalis handelt es sich um einen Unterschied, der vor jedem Eingriff des Verstandes zwischen solchen Sachen (Realitäten, Perfektionen, Naturen) bestehen soll, die trotz dieses Unterschiedes real identisch (idem realiter) sind, und der in der Hinsicht besteht, in der etwas als etwas (in quantum) bestimmt ist. 349 Frege hat in seinem vielbesprochenen Aufsatz Sinn und Bedeutung 350 die Bedeutung (ziemlich grob) als den von einer Bezeichnung bezeichneten Gegenstand und den Sinn als »Art des Gegebenseins« eines solchen Gegenstandes bestimmt, mit Beispielen wie »Morgenstern« und »Abendstern«, worunter hier »morgens zuletzt verblassender, beziehungsweise abends zuerst leuchtender Stern« verstanden sein möge. Die Realitäten nach Duns Scotus sind dann die Sinne nach Frege. Was aber sind diese? Frege drückt sich darüber sehr undeutlich aus, doch lässt sich leicht zeigen, dass es sich um Bestimmungen (Gattungen, s. o. 21.1) handelt, für die es Sachverhalte des Bestimmtseins durch sie gibt, im vorliegenden Fall: dass der Planet Venus sowohl ein Abendstern als auch ein Morgenstern (wegen der Definition sogar der einzige) ist. Die These des Duns Scotus, dass zu Ebd. n. 28–32 (S. 236 f.). O II d. 3 p. 1 q. 5–6 n. 188 (Vat. VII S. 484): sed semper in eodem, sive in parte sive in toto, sunt realitates eiusdem rei, formaliter distinctae. 348 Ebd. n. 190, S. 485. 349 L I d. 2 p. 2 q. 1–4 n. 275, 283 (Vat. XVI S. 217 Z. 2 (u. a.), 216 Z. 22, 219 Z. 26, 220 Z. 3). 350 Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge Band 100, 1892, S. 25–50, mir vorliegend in der Ausgabe von G. Patzig: Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen 1962, S. 38–63. 346 347

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Johannes Duns Scotus

den Voraussetzungen der Einzelheit einer Sache Realitäten, Perfektionen oder Naturen im Verbund gehören, besagt in dieser Interpretation, dass die Einzelheit von Sachen, die nicht Bedeutungen (d. h., in meiner Terminologie: Sachverhalte, Programme oder Probleme) sind, von einzelnen Bedeutungen (speziell Sachverhalten) mit abhängt, dass also Bedeutungen primär einzeln und sonstige Sachen sekundär einzeln sind. Das ist in der Tat meine Überzeugung, und sie ist logisch einwandfrei. Scotus wird hingegen durch die scholastische Substanzontologie dazu verführt, die Bedeutungen, die zu den Voraussetzungen der numerischen Einheit oder Einzelheit einer Sache gehören, in diese Sache hineinzustecken, diese Sache gleichsam von innen her aufzubauen, statt Einzelheit als relatives, nur in Bezug auf eine Bedeutung sinnvolles Prädikat zu verstehen. Die Perfektionen werden dadurch zu Bestandteilen der Washeit (essentia, quidditas) der als einzelne aufzubauenden Sache. Als solche müssen sie verschieden sein, um ihren Beitrag zu deren Bestimmtheit zu leisten. Sie dürfen aber nicht real verschieden, d. h. einzelne verschiedene Sachen, sein, denn dann wäre die These, dass Einzelheit nur auf der Grundlage von Perfektionen möglich ist, völlig entwertet; es würde nur übrigbleiben, dass gewisse einzelne Sachen, nämlich Perfektionen, sich zu einzelnen Aggregaten, z. B. Substanzen, verbänden, und das ist auch mit dem scholastischen Substanzverständnis, das von der Umdeutung in Komplexe von Elementen (Hume, Mach) weitentfernt ist, unvereinbar. Aus dieser Verlegenheit sucht sich Scotus durch die Konstruktion einer distinctio formalis zu retten, wodurch verschiedene Perfektionen, die dennoch – und zwar in ganz harmonischer Weise – identisch sind, sich unterscheiden. Dieser Ausweg ist logisch nicht haltbar; Wilhelm von Ockham (s. u. 24443 ) widerlegt ihn für zwei beliebige Perfektionen A und B durch folgende einfache Überlegung: A ist von B formal unterschieden, aber A ist von A formal nicht unterschieden; A und B haben also unvereinbare Eigenschaften, und wenn sie trotzdem real identisch sein sollen, ergibt sich eine Sache, die von einer gewissen Sache sowohl formal unterschieden als auch formal nicht unterschieden wäre, also ein Widerspruch. Gegen diesen Einwand hilft nur das Verfahren, das Wyclif (21.4) anwandte, indem er die distinctio formalis des Scotus dem Namen nach übernahm, aber in der von mir geforderten Weise umdeutete, so dass aus den Perfektionen Sachverhalte der Bestimmtheit der einzelnen Sache durch eine Bestimmung (Gattung oder Eigenschaft) werden. Dann ist die Konstruktion logisch einwandfrei. 112

Die Mannigfaltigkeitslehre

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23.2 Die Mannigfaltigkeitslehre Das Versagen der Konstruktion eines bloß formalen Unterschiedes bei realer Identität wird im Werk des Duns Scotus aufgewogen durch die in der Scholastik ganz ungewöhnliche Erweiterung des Horizontes der Mannigfaltigkeitslehre über die numerische, in Zahlen fassbare Einheit und Mannigfaltigkeit hinaus. Das gelingt durch die Konzeption des mit der distinctio formalis eng zusammengehörigen einheitlichen Enthaltenseins (continentia unitiva). Um sich damit vertraut zu machen, sollte man auf die Quaestiones subtilissimae in Metaphysicam Aristotelis 351 zurückgreifen. An einer Schlüsselstelle, auf die er in dem Werk mehrfach zurückkommt, äußert er sich so über die reale Identität verschiedener Perfektionen einer Sache: »Jene Meinung über reale Identität kann also so aufrecht erhalten werden, dass ebenso, wie die göttliche Wesenheit unendlich viele Perfektionen enthält, und alle einheitlich (unitiv) enthält, so dass sie nicht andere Sachen sind, so auch die geschaffene Wesenheit einige Perfektionen unitiv enthalten kann (…). In der Kreatur ist jede enthaltene Perfektion begrenzt, und begrenzter als die enthaltende Wesenheit, die als Ganzheit zustande gebracht ist. Deswegen kann jede (Perfektion) Teil der Perfektion heißen, nicht jedoch als real unterschieden, weil sie eine andere Natur sei, sondern als andere reale Perfektion, mit einer, wie gesagt, nicht (erst) vom Verstand erzeugten Andersheit, doch auch nicht in dem Maße, wie wir sie verstehen, wenn wir von verschiedenen Sachen sprechen, sondern durch einen wirklichen, (aber) kleineren Unterschied, sofern als realer Unterschied jeder, der nicht vom Verstand erzeugt ist, zu gelten hat. Ein Beispiel: wie im Kontinuum, in dem viele Teile sind, die betreffende Vielheit real ist, als nicht (erst) vom Verstand erzeugt, und doch nicht so, wie wir es hier verstehen (, wenn wir sagen): verschiedene Sachen. Vielmehr ist es ein kleinerer realer Unterschied, weil eine Mannigfaltigkeit nicht schlechthin Verschiedener, sondern gewissermaßen Verschiedener, die jedoch in einem Ganzen enthalten sind. So soll man die Differenz hier verstehen, außer dass hier durch Identität jede enthaltene Perfektion die enthaltende selbst ist, mag sie auch in Absonderung (betrachtet) nicht jene als ganze sein. Im Kontinuum aber ist kein Teil 351 Dieser besonders schwer zugängliche Traktat des Scotus liegt mir in der unkritischen, dringend einer Revision bedürftigen Ausgabe von Wadding (Band 4 S. 505–848, ab S. 807 kaum echt) vor. Die beiden Spalten jeder Seite bezeichne ich mit a und b.

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Johannes Duns Scotus

schlechthin durch Identität das Ganze selbst. Über dieses unitive Enthalten und den Unterschied der Enthaltenen forsche, usw.« 352 In diesem Text unterscheidet Scotus zwei Typen des nicht-numerischen Mannigfaltigen. Der erste ist das Kontinuum in seinen verschiedenen Gestalten (z. B. als räumliches Feld, als allmählicher Übergang der Farben oder als durchdöste Frist), in dem die Zahlunfähigkeit auf chaotischer (genauer: konfus chaotischer 353 ) Mannigfaltigkeit beruht, d. h. auf Unentschiedenheit über Identität und Verschiedenheit im Mannigfaltigen. Davon unterscheidet Scotus die Mannigfaltigkeit unitiven Enthaltenseins der Perfektionen in der sie enthaltenden kreatürlichen Essenz durch Identität der Teile mit dem Ganzen, mit dem Vorbehalt, dass solche Identität nicht besteht, wenn man die Perfektion isoliert betrachtet, sondern nur kraft Identifizierung im Verband. Er geht auch auf den Unterschied unitiven Enthaltenseins der göttlichen und der kreatürlichen Perfektionen ein: Im Falle Gottes ist jede Perfektion wegen ihrer Unendlichkeit real jede andere, nur formal von dieser verschieden, während bei den Kreaturen die Perfektionen zwar von einander real verschieden, mit der sie unitiv enthaltenden Essenz aber real identisch (nur formal von ihr verschieden) sind. 354 An anderer Stelle der Quaestiones subtilissimae unterscheidet Scotus drei Stufen formaler und dennoch, durch Unabhängigkeit vom Zutun des Verstandes, realer Differenz in absteigender Folge: Die größte besteht in Gott zwischen den Naturen und den Untersätzen (supposita) der drei trinitarischen Personen, die mittlere zwischen den beiden Naturen (der göttlichen und der menschlichen) im Untersatz Christi, die hier allein interessierende geringste zwischen den in einer Natur unitiv enthaltenen Perfektio352 Quaestiones subtilissimae IV q. 2, S. 587a (zwischen dem ersten und zweiten Absatz). Mit weiteren Ausführungen zum unitiven Enthalten kommt Scotus auf diese Stelle in VII q. 13, S. 705 f. zurück, wo der Verweis auf S. 705 Spalte b Z. 7–6 v. u. auf 588b 18 f. geht, der in der letzten Zeile anschließende Verweis auf das weiter oben in jener Quaestio (IV q. 2) über die Einheit der Natur Gesagte also auf unseren Text S. 587a. Ein weiterer Rückverweis steht in IX q. 5, S. 772b Z. 12–16, bezüglich auf das Verhältnis der Seelenvermögen zur Essenz der Seele: »Et tunc tenendo, quod potentiae sunt idem cum essentia, vel different praecise, sicut diversae rationes perfectionales in eodem unitive contentae, de qua differentia dictum est in 4. huius, quaestione de uno.«. 353 Zu dieser Differenzierung vgl. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 57; Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 124. 354 Das wird genauer ausgeführt in der Ordinatio I d. 8 p. 1 q. 4n. 194, 200, 219 (Vat. IV S. 262, 265 f., 275), ferner im Sentenzenkommentar (Opus Oxoniense) IV d. 46 q. 3 n. 4 und n. 5 (Wad. X S. 265) und R II d. 15 q. unica n. 19 (Wad. XI 1 S. 349).

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Die Mannigfaltigkeitslehre

nen (rationum perfectionalium), aber auch im Verhältnis des Seienden zu seinen transzendenten Passionen (dem Einen, Wahren und Guten) sowie zwischen der Relation und ihrem Fundament beim Verhältnis zwischen Kreatur und Gott. »Über diese Differenz forsche im vierten Buch, Quaestion über das Eine.« 355 Die göttlichen Attribute setzen, trotz ihrer formalen Verschiedenheit, als höchstgradig Eines (summe unum) kein Eines zusammen (nec unum componunt), weil ihre Vielheit ohne Zahl ist (quia numerum non faciunt). 356 Vor der innigsten Einheit des Mannigfaltigen versagt die Zahl. Duns Scotus hat mit dem unitiven Enthaltensein der Perfektionen die multivalente (ambivalente, instabile) Mannigfaltigkeit wiederentdeckt, die originellste Errungenschaft der Neuplatoniker von Plotin über Proklos und Damaskios bis zu Scotus Eriugena (s. o. 15.2, 16.3, 17.2, 18.3); die logische Rehabilitierung dieser paradoxen und doch zur genauen Beschreibung wichtiger und unbestreitbarer Phänomene nötigen Denkfigur der Überschiebung von Identität und Verschiedenheit habe ich in Kapitel 15.2.2 dargelegt. Bei Plotin kann man sogar die beiden von Scotus unterschiedenen Formen von continentia unitiva – die horizontale, wo die Perfektionen mit einander identisch (nur formal verschieden) sind, und die vertikale, wo sie mit dem Enthaltenden, aber nicht mit einander identisch sind – angedeutet finden, nur dass Plotin sie im Geist zusammenfallen lässt, während Scotus die horizontale auf Gottes Perfektionen beschränkt und bei den Kreaturen nur die vertikale zulässt. 357 Man kann wohl sagen, dass der Gott des Scotus durch reale Identität der Essenz mit den Attributen und der Attribute mit einander bei formaler Nichtidentität dem Nous Plotins gleicht. Das ist nicht nur eine kühne Interpretation, sondern Scotus knüpft für die continentia unitiva selbst beim Neuplatonismus an, bei dessen ihm zugänglicher Überlieferung durch Pseudo-Dionysius: »Über die continentia unitiva spricht Dionysius im 5. Kapitel über die göttlichen Namen, dass die continentia unitiva nicht ganz und gar im Selbstverhältnis besteht, so dass ganz 355 Quaestiones subtilissimae VII q. 19 n. 8, S. 729a. Der wörtlich zitierte Satz weist abermals auf S. 587a zurück, s. Anm. 352. 356 Ebd. n. 9. 357 Vgl. Plotin, Enneaden V 8 [31]4, 7 f. (»so dass überall alles und jedes jedes und jedes das Ganze ist«), 10 f. (»In jedem sticht etwas anderes hervor, scheint aber auch das Ganze auf«, entsprechend der distinctio formalis); 9, 14–17 (Gott »wird kommen und seinen Kosmos bringen mit allem, was in ihm ist, einer und alle seiend, und jeder alle seiend, die zusammen sind in Eines«.

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Johannes Duns Scotus

dasselbe sich unitiv enthielte, und auch nicht ganz und gar im Verhältnis zu anderem, sie verlangt also Einheit und Unterschied. Folglich ist die continentia unitiva doppelt. Einerseits so, wie das Untere die (in der aufsteigenden Reihe der Prädikation) übergeordneten Wesensbestandteile enthält, und dann gehören die Enthaltenen zur Wesenheit des Enthaltenden, so wie es dieselbe Realität ist, von der die spezifische Differenz der weißen Farbe genommen wird und die nächste Gattung, etwa Farbe, dann sinnliche Qualität, dann Qualität; wie sehr das auch andere Sachen sein mögen, sie sind unitiv enthalten in der weißen Farbe. Anders ist die continentia unitiva beschaffen, wenn das Subjekt irgendwelche Sachen enthält, die sozusagen seine Affektionen sind, so wie die (transzendentalen) Affektionen des Seienden keine andere Sache sind als das Seiende, weil, wann auch immer eine Sache selbst eine Bestimmung empfängt, die Sache wahr und gut ist. Ebenso sind die Seelenvermögen nicht formal oder washeitlich identisch, weder unter sich, noch mit dem Vermögen der Seele, und doch sind es nicht andere Sachen, sondern sie sind dasselbe durch Identität.« 358 Während es den antiken Neuplatonikern bei ihrer Lehre von der Vieleinigkeit des Geistes (auch der Henaden, der Seele) auf die innige Integration und Wechseldurchdringung ankommt, leitet Scotus aus seinem Konzept des unitiven Enthaltens ein Plädoyer für übersummative Ganzheit her: »In allen solchen Dingen, und hauptsächlich bei den Kreaturen, ist das Enthaltende nicht genau das Enthaltene, sondern es ist eine so vollkommene Entität in sich, als ob das Enthalten außer dem Enthaltenden wäre, ihm beigefügt – vielmehr: Es ist eine vollkommenere Entität, weil es aus seiner Vollkommenheit jede andere Entität enthält.« 359 Das gilt für die Geistseele, sofern sie nach Meinung einiger (z. B. des Thomas von Aquino) die vegetative Seele und die Substanzform enthält, ferner für das Seiende als enthaltend das Eine, Wahre und Gute und für die göttliche Essenz in der Weise, wie sie die innergöttlichen Relationen (die drei trinitarischen Personen) als mit ihr identische enthält. 360 Es gilt auch für die Kreatur im Verhältnis zu ihrer Kreatürlichkeit: Auch diese ihre Beziehung der Abhängigkeit vom Schöpfergott ist real identisch mit ihrem Fundament, der Kreatur, diesem aber an Perfektion so untergeordnet, 358 359 360

R II d. 15q. unica n. 19 (Wad. XI 1 S. 349). O II d. 1 q. 5 n. 274, Vat. VII S. 136. Ebd. n. 273, S. 135 f.

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Die Mannigfaltigkeitslehre

dass nur die Kraft des Enthaltens (continentia) der Kreatur die Kreatürlichkeit daran hindert, zum bloßen Akzidens herabzusinken. 361 Es gilt für das Menschsein (humanitas), das nicht in Seele und Körper zerlegt werden kann und auch nicht deren Verbindung ist, obwohl es davon abhängt; vielmehr ist es eine eigene Wesenheit, die jene Entitäten ohne Teilung oder Verbindung in sich schließt, und falsch ist daher die Behauptung des Averroes, das Ganze sei nichts weiter als die Teile in Verbindung. 362 Gottes Einsicht bedarf, um präzis auf alles bestimmte Einzelne zu gehen, keiner das Unbestimmte bestimmenden Mittelglieder. 363 Diese Feststellung regt den Scotus zur Reflexion über Einheit und Vielheit an: Wer immer auf Verteilung des Ganzen rechnet, unterliegt einem Fehlschluss; so darf man zwar schließen, dass, wenn zwei Menschen sind, auch zwei Lebewesen sind, aber nicht, wenn Gott Vater und Gott Sohn ist, dass zwei Götter sind, und ebensowenig, dass, wenn zwei Sachen mit genauer Einstellung auf sie vorgestellt werden, dass zwei entsprechend eingestellte Vorstellungen sind. 364 Solches Festhalten an numerischer Vielheit passt nur für die Unvollkommenheit und Endlichkeit des Kreatürlichen; in Gott läuft die Vielheit seiner Kenntnisse ohne Verlust an Präzision zur einfachen Einheit des göttlichen Verstandes zusammen. Ebenso verträgt sich Gottes einfache Natur mit der Individualität der drei trinitarischen Personen, »weil die Gottheit durch die persönliche Eigenart nicht besondert und eingeschränkt wird, denn das gehörte zur Unvollkommenheit und Potentialität in der geschaffenen Natur; entsprechend ist die Gottheit von sich aus diese (eine individuierte Natur), und so hat sie die letzte Einheit wie auch Aktualität von sich.« 365 Gottes Natur ist ohne Besonderung identisch mit der Individualität des Vaters oder des Sohnes oder des Heiligen Geistes. Das liegt an ihrer Unendlichkeit: Die Bestimmung (ratio) der Relation Gott Sohn ist nicht formal identisch mit der Bestimmung (göttliche) Essenz, und dennoch bilden sie, mit einander im Selben konkurrierend (in eodem eoncurrentes) kein Zusammengesetztes wegen der Unendlichkeit der Bestimmung göttliche Essenz, denn was mit ihr sein kann, ist mit ihr vollkommen identisch. Die Vollkommenheit solcher 361 362 363 364 365

Ebd. n. 275, S. 136. R III d. 23q. unica n. 19, Wad. XI/1 S. 508. O I d. 35q. unica n. 56, Vat. VI S. 269, und d. 36q. unica n. 43, ebd. S. 287 f. Ebd. (d.35) n. 57, Vat. VI S. 269 f. O I d. 5 p. 2q. unica n. 113, Vat. IV S. 113.

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Johannes Duns Scotus

Identität aus Unendlichkeit schließt alle Zusammensetzung aus und hebt doch nicht den formalen Unterschied auf. 366 Zwei Gegenstände, Gott Sohn und die göttliche Essenz, konkurrieren nach den Worten des Duns Scotus um Identität mit demselben Gegenstand, nämlich Gott. Das ist die Quintessenz der multivalenten (instabilen) Mannigfaltigkeit, die ich in Kapitel 15.2.2 367 am Beispiel der Husserl’schen Puppe anschaulich gemacht habe.

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23.3 Die Qualifizierung der Bestimmtheit Die philosophischen Konzeptionen von Duns Scotus und Thomas von Aquino stehen am meisten dadurch im Gegensatz, dass Thomas die Bestimmtheit quantifiziert und skaliert, Scotus aber sie qualifiziert, d. h. ihre jeweilige Eigenart gegen die Homogenisierung durch Reduzierung auf einen Platz in der Stufenleiter auf- und absteigender Vollkommenheit schützt. Thomas versteht Bestimmtheit als Einschränkung des Seins, das in unbeschränkter Fülle Gott ist, das an sich bestehende, auf alle Weisen unbestimmte Seiende.256 Nach Scotus besitzen die endlichen Wesen ihre Bestimmtheit keineswegs durch Einschränkung des Seins, das Gott ist, sondern zur Essenz des Steines gehört keine Rücksicht auf Gott. 368 Er unterscheidet drei »Instanzen« in der Aufbauordnung der Natur: 1. das Sein selbst, nämlich Gott, 2. den Stein (als beliebige endliche Sache), der ein ens ratum (beglaubigtes, legitimes Seiendes) und als solches absolut ist in einer gegen Teilnahme und Nichtteilnahme an Gott indifferent vorstellbaren Weise, 3. die Teilnahme am göttlichen Sein als Konsequenz des Steines an sich, 369 eine Relation, die so mit ihrem Fundament (der von Gott abhängenden Sache) durch continentia unitiva (23.2) zur Identität verschmilzt, dass dieses die Relation unitiv enthaltende Fundament absolut ist, als ob es gar keine solche Beziehung habe.361 In dieser Weise ist jede absolute Essenz außer der göttlichen in sich selbst finit, vor jeder Rücksicht auf eine andere. 370 Die Endlichkeit der Kreatur besteht nicht darin, dass ihr Sein von unten 366 367 368 369 370

O I d. 5 p. 1q unica n. 117, Vat. IV S. 69. Band I S. 334. O I d. 3 p. 2q. unica n. 327, Vat. III S. 197 f. Ebd. n. 326, S. 197. O I d. 2 p. 1 q. 1–2 n. 144, Vat. II S. 214.

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(durch eine die Form zusammenziehende Materie) oder nach oben (durch einen Erzeuger des Seins) beschränkt wäre, »weil die Endlichkeit der Sache innerlich einwohnt, so wie sie zu sich selbst in Beziehung steht«, und das wird so bestätigt: Das Sein ist der endlichen Sache ein nachträglicher Zusatz zu ihrer Essenz, die vorgängig als in sich endlich erfasst wird, und diese Endlichkeit besteht an sich, vor der Begrenzung in Beziehung auf anderes, wie auch der Körper ursprünglich an sich und nicht gegen anderes begrenzt ist, namentlich der äußerste Himmel, der nach aristotelisch-scholastischer Lehre nach außen begrenzt ist, aber an gar nichts grenzt. 371 Gegen Heinrich von Gent, der die Frage bejaht, ob die Schöpfung (als Operation) mit der Schöpfung (als Werk, geschaffene Natur) identisch sei, führt Scotus aus: Zwar hat der Stein sein Sein durch Teilnahme an Gott, aber nur im Sinne kausaler Abhängigkeit, nicht formaliter (als wäre die Form oder Essenz des Steines seine Teilnahme an Gott). 372 So wenig, wie die Bestimmtheit nach Scotus durch Einschränkung unendlich-unbestimmter Seinsfülle entsteht, ebensowenig wird sie für ihn durch Entschränkung beim Übergang von der Kreatur zu Gott aufgehoben. Nach Thomas ist Gott nur durch Negation (Fehlen eines ihn Begrenzenden) bestimmt,257 in sich aber ohne unterschiedliche Bestimmtheiten; Scotus lässt ihm dagegen die inhaltliche Bestimmtheit, auch für uns. Die Brücke der Erkenntnis vom Endlichen zu Gott wird durch die perfectiones simpliciter (Vollkommenheiten schlechthin) geschlagen. Scotus übernimmt diesen Begriff von Anselm, der ihn im 15. Kapitel seines Monologion für jede Eigenschaft, deren Besitz jeder beliebigen Sache besser als ihr Fehlen sei, eingeführt habe; 373 dieser Begriff hat aber Tücken, denen Scotus durch eine nicht ganz genügende Präzision zu entgehen sucht. 374 Gott besitzt alle Vollkommenheiten-schlechthin in ganz vollkommener Weise; sofern sie ihm mit den Kreaturen gemein sind, braucht R I d. 2 q. 3n.2–3, Wad. XI 1 S. 31. R II d. 1 q. 6 n. 9, Wad. XI 1 S. 257. 373 O I d. 8 p. 1 q. 1 n. 22 (Vat. IV S. 162). 374 Ebd. S. 163 f., n. 25. Sein Bedenken ist, für eine Sache könne der Besitz einer Eigenschaft nur deshalb nicht besser als ihr Fehlen sein, weil sie schon andere, mit jener Eigenschaft unverträgliche Eigenschaften besitzt. Deswegen soll man immer vom nackten Substrat (Suppositum) ausgehen und dann fragen, ob die Eigenschaft besser ist als alles, was sich mit ihr nicht verträgt. So werden freilich alle Dinge über einen Kamm geschoren und die Vollkommenheiten, die sich erst durch Kombination von Naturen ergeben, ignoriert. Auch wäre zu prüfen, ob alle perfectiones simpliciter mit einander verträglich sind. 371 372

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man, um seine betreffende Eigenschaft darzustellen, nur alle mit dieser bei den Kreaturen verbundenen Unvollkommenheiten abzuziehen. 375 Wenn es den Unterschied zwischen Perfektionen, die uns mit Gott gemeinsam sind, wenn auch nicht in der ungetrübten Reinheit und Vollkommenheit wie bei ihm, und nicht zu solcher Vorzüglichkeit steigerbaren Unvollkommenheiten nicht gäbe, sondern alle Eigenschaften der Kreaturen – wie Thomas will – unendlich hinter dem Sein Gottes zurückblieben, wäre Gott ebenso Stein wie weise. 376 Scotus berührt hier einen wunden Punkt im Lehrgebäude des Thomas, die Unvereinbarkeit der Entrückung Gottes aus der Übereinstimmung mit unseren Eigenschaften in bloß noch analoge Überhöhung mit der Skalierung der Arten durch zunehmende Annäherung an Gott, als ob man dem unendlich Fernen näherkommen könnte; Thomas rettet sich aus dieser Verlegenheit durch die paradoxe Konstruktion eines asymmetrischen Abstandes.308 Indessen gibt es auch für Scotus eine Vollkommenheit-schlechthin, die Gott vorbehalten ist: die Schrankenlosigkeit des unendlichen Seins, vorgestellt als unendliche Intensität mit dem Beispiel der ganz ungetrübten weißen Farbe. 377 Scotus verwendet das Farbenspiel also nur für unendliche Intensität und vermeidet dadurch den Gedankensprung des Thomas von Aquino bei Benützung dieses Beispiels, die Intensität ungetrübter Reinheit in die Extensität einer teilbaren (eingeschränkter Anteilnahme zugänglichen) Fülle umzudeuten.243 Thomas ist zu dieser Verschiebung genötigt, weil er alle beschränkte Vollkommenheit zur einfachen Reinheit des Seins Gottes auffüllen und aus diesem als beschränkte Vollkommenheit der Kreatur wieder abfüllen will. Das hält Scotus für einen Fehler, nicht nur, weil Gottes Vollkommenheit damit jede Präzision und Fasslichkeit verliert, die sie behält, wenn man Gottes Unendlichkeit bloß intensiv versteht und auf die auch uns bekannten Vollkommenheiten-schlechthin bezieht, sondern auch, weil im Gegensatz zu solcher Unendlichkeit die Einfachheit gar nicht Gott vorbehalten ist, sondern sich auch den Kreaturen mitteilt. 378 O I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 39, Vat. III S. 26 f. Ebd. n. 40, S. 27. 377 O I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 58, Vat. III S. 40. 378 O I d. 3 p. 1 q. 1–2, n. 60 (Vat. III 42): quia simplicitas communicatur creaturis, infinitas autem non, secundum modum quo convenit Deo. In O I d. 8 p. 1 q. 2 n. 32–33 (Vat. IV S. 165 f.) beweist Scotus dagegen, dass keine Kreatur vollkommen einfach ist, mit dem für Thomas maßgebenden Argument der Zusammensetzung von Potenz, Privation und Akt (s. o. 22.1), das sich im Werk des Scotus wie ein Fremdkörper ausnimmt. 375 376

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Duns Scotus erläutert die Übereinstimmung und den Unterschied der Perfektionen anschaulich am Beispiel von charitas und gratia, heiligmäßiger Liebe und Gnade. Beides ist dasselbe, als Perfektion (Natur, Realität) indifferent gegen den Unterschied des Endlichen und Unendlichen, aber definit (endgültig) in Gott, eingeschränkt beim Menschen, der nicht aus sich charitas hat, sondern nur als von Gott verliehene Gnade. 379 Weil die Perfektion an sich gleichgültig gegen die Weiterbestimmung zu unendlicher oder endlicher Intensität ist, kann sie von der Kreatur besessen werden, ohne dass diese sich deswegen durch unvollkommene Nachahmung an der Vollkommenheit Gottes orientieren müsste, wie Thomas von Aquino die Analogie Kreatur-Gott versteht.265 Scotus geht darauf aus Anlass der Frage ein, wie Gott, indem er sich selbst erkennt, alle Dinge erkennt. Er erwägt skeptisch die Lehre gewisser Autoren – besonders des Thomas von Aquino,235 den er nicht nennt –, wonach Gott in seiner Essenz nachschaut, wo und wie sie nachahmbar ist, und dadurch die kreatürlichen Essenzen als entsprechende Nachahmungen erfasst. Das kann, so Scotus, richtig oder falsch sein, je nach dem, wie man es versteht. Falsch ist die Auffassung, dass Gott es seiner Essenz als einer nachahmbaren abschauen könnte, was die Essenzen der Dinge sind, denn Nachahmung in diesem oder jenem beschränkten Ausmaß ist keine spezifische Differenz. Alle Farben ahmen die weiße Farbe nach (weil die Buntheit nach scholastischer Auffassung in mehr oder weniger Trübung des reinen weißen Lichtes besteht), aber das Spezifische einer bunten Farbe kann man nicht als einen Grad von Trübung des Weiß erkennen. Richtig ist allerdings, dass Gott, indem er seine Essenz als nachahmbar erkennt, auch aller Weisen, sie nachzuahmen, und damit aller so die göttliche Essenz nachahmenden Kreaturen inne ist, aber so hat das Argument keine große Kraft (weil, wie ich ergänze, ohnehin klar ist, dass Gott alle Dinge erkennt, und man dafür nicht unbedingt seine Selbstbeschau im Hinblick auf Nachahmungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen braucht, weil das Spezifische der mit Nachahmung verbundenen Besonderung daran nicht abzulesen ist). 380 Scotus beharrt auf der unableitbaren Eigentümlichkeit des Einzelnen, für deren Herkunft aus Gott es kein einfaches Rezept gibt. Mit der Quantifizierung lehnt Duns Scotus erst recht die Ska379 380

R II d. 27q. unica n. 3, Wad. XI 1 S. 375. R I d. 36 q. 2 n. 10–11, Wadd. XI 1 S. 201.

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lierung der Bestimmtheit ab, die thomistische Aufreihung der Arten in einer zu einem Abschnitt der nach Größe geordneten natürlichen Zahlen isomorphen Folge (22.3). Das in der Scholastik zur Rechtfertigung dieser Skalierung gängige Schlagwort ist die durch missverstehende Umdeutung eines Aristotelestextes280 gewonnene Parole »formae sunt sicut numeri«, »Die Formen (Artbestimmtheiten) sind wie die Zahlen«, deren sich Thomas von Aquino zu diesem Zweck bedient. 381 Duns Scotus nimmt dazu Stellung im Zuge seiner Untersuchung der Frage, wie die Engel niedrigere Kreaturen erkennen können. Die Gegner meinen, Engel könnten diese in sich selbst, durch Betrachtung des eigenen Wesens, erkennen, da dieses die ihm untergeordneten Wesenheiten durch Überragen (virtuell, eminent) enthalte, und brauchten daher keine Vorstellungsbilder (species) als Erkenntnishilfen. Das ist auch die Meinung des Thomas. 382 Das Argument dieser Gegner lautet nach Scotus: »›Die Formen verhalten sich wie die Zahlen‹, daher schließt die vollkommenere virtuell die unvollkommenere ein und wird folglich zureichender Grund sein, sie zu erkennen, so wie die größere Zahl Grund für die Erkenntnis der kleineren ist.« 383 Dagegen führt er zunächst aus, der Vergleich des Aristoteles betreffe nicht beliebige, sondern nur subalterne Formen, d. h. die fortschreitende Differenzierung einer Gattung. 384 Dieser exegetischen Bemerkung fügt er aber eine Sachthese an: »Wenn man darüber aber nicht etwas von der Autorität (des Aristoteles) annimmt, sondern etwas in sich Wahres, dann sage ich, dass der höhere Engel eine vollkommenere Seiendheit hat als der niedere, jedoch nicht die ganze Seiendheit des niederen einschließt, so dass der niedere von ihm sich nur durch Negation unterschiede; die Arten im Universum unterscheiden sich nämlich nicht durch Negationen, sondern durch ihre eigentümlichen Begriffe (per proprias rationes). Freilich schließt die göttliche Essenz, die unendlich ist, in eminenter Weise alle Vollkommenheiten ein, und deswegen ist keine höhere zureichender Grund zur Erkenntnis der niederen, sondern nur die göttliche Essenz.« 385 Das ist wie ein Frontalangriff auf die Lehren des Thomas, dass zum Unterschied die Negation gehört und die Pri381 382 383 384 385

S. o., Anmerkungen 281–284. Summa contra gentiles II c. 98. O II d. 3 p. 2 q. 3 n. 350, Vat. VII S. 569. Ebd. n. 395, S. 593 f. Ebd. n. 395, S. 594.

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vation Negation in einem Subjekt ist, 386 so dass jede Vollkommenheit darin besteht, dass eine Sache in gewisser Weise ist, jede Unvollkommenheit darin, dass sie in irgendeiner Weise nicht ist. 387 Daraus nimmt sich Thomas das Recht, die Arten als in einer Leiter von Rangstufen angeordnet zu denken, wo jeder Tritt abwärts auf die nächste Stufe einer Subtraktion von 1 entspricht, entsprechend einer Negation, die eine Vollkommenheit abzieht.381 Von solcher Reduktion der Artunterschiede auf Stufen der Vollkommenheit, die durch abwärts zunehmende und aufwärts abnehmende Negationen von Vollkommenheit (Privationen in einem Subjekt) definiert sind, hält Scotus nichts: »In eminenter Weise die ganze Perfektion eines geschaffenen Substrates zu enthalten, kommt nur dem Unendlichen zu, weil zwar ein endliches eminenter als ein anderes sein kann, aber dennoch nicht die ganze Perfektion des anderen enthält; geordnete Seiende dürften sich nämlich wesentlich nur durch Negation unterscheiden, da das niedere durch einen Mangel vom höheren abweicht.« 388 Was für Thomas zureichender Grund skalierender Ordnung der Arten war, schließt für Scotus diese Ordnung also gerade aus, weil er das Wesen der Ordnung (nicht der geordneten Seienden) wie Thomas in der zu- oder abnehmenden Bemessung partieller Negation sieht und ihm das nicht genügt, um den geordneten Sachen nach ihrer qualitativen Eigenart (per proprias rationes385 ) gerecht zu werden. Damit hängt seine höhere Bewertung der Individualität zusammen. Thomas setzt geradezu brüsk die Individuen hinter die Arten zurück,296 wohl weil diese sich besser skalieren lassen. Scotus hält solcher Einschätzung immerhin entgegen: »Bei den an der Spitze stehenden Seienden ist von Gott hauptsächlich das Individuum beabsichtigt.« 389 Die Aufteilung der Arten in Individuen ist genauso wie die der Gattungen in Arten qualitativ, nicht quantitativ, 390 richtet sich also nach der individuellen, nicht auf ein Quantum reduzierbaren Eigenart. Die Deutung der Bestimmtheit als Maß für den Abstand der Kreatur von Gott bringt Thomas in die Verlegenheit, Gott gegen das Versinken in völlige Unbestimmtheit schützen zu müssen, wofür er 386 387 388 389 390

Summa contra gentiles I c. 71 (S. 86). Ebd. I c. 28 (S. 37). Sentenzenkommentar (Opus Oxoniense) III d. 1 q. 4, Wad. VII 1 S. 47. O II d. 3 p. 1 q. 7 n. 251, Vat. VII S. 514. Quaestiones subtilissimae VII q. 13 n. 16, Wad. IV S. 704a, am Ende.

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seine Lehre von der Analogie benützt, die die sachliche Unbestimmtheit Gottes in eine gedankliche Unerreichbarkeit für menschliches Bestimmen umdeutet. 391 Scotus sieht sich vor keiner solchen Schwierigkeit. Mit der Versuchung, die einem Mystiker willkommen sein könnte, Gottes Sein in Unbestimmtheit aufzulösen, setzt er sich in einer Kritik an Heinrich von Gent auseinander, aus dessen Aufstellungen er folgenden Schluss herausliest: »Der formale Grund, demgemäß das Objekt erfasst wird, wie auch der Begriff des Objekts ist determiniert, denn anders würde er nicht eher jenes Objekt als dieses darstellen; Gott ist maximal indeterminiert und unbegrenzt; also usw.« 392 Den Fehler dieses Versuches, Gott als unerfasslich und unbegreiflich zu erweisen, sieht er in der Verwechslung zweiter Bedeutungen des Ausdrucks »Bestimmtheit im Objekt« (determinatio in obiecto): als Bestimmung zur Einzelheit (singularitas) und als Bestimmung zu einem begrenzten Grad der Teilnahme an einer Vollkommenheit; Gott wird, wenn er als das absolute, unendliche Gute bestimmt wird, nur die zweite, nicht die erste Bestimmung abgesprochen, und dadurch wird er sogar noch genauer in seiner Besonderheit (magis in particulari) bestimmt. 393 Das auszeichnend Besondere Gottes ist der unmittelbare Zusammenfall seiner Natur, der Gottheit oder göttlichen Essenz, mit der Individualität der drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist, ohne dass ein Individuationsprinzip die Natur ergänzen müsste. 394 Das liegt an Gottes Unendlichkeit: »(…) Wegen der Unendlichkeit des einen Begriffes ist alles, was mit ihm sein kann, vollkommen identisch mit ihm. Diese Vollkommenheit der Identität schließt also alle Zusammensetzung und Quasi-Zusammensetzung aus, eine Identität aus Unendlichkeit, die dennoch nicht die formalen Begriffe aufhebt, so dass dieser formal nicht jener ist.« 395 Das auszeichnende Merkmal der Unendlichkeit Gottes ist demnach die Unzusammensetzbarkeit eines Mannigfaltigen, das vor jeder Zusammensetzung durch Identität eins und dennoch durch distinctio formalis mannigfaltig ist. Dies ist die für Gott im höchsten Maß bezeichnende multivalente Mannigfaltigkeit, die Konkurrenz Verschiedener um Identität mit dem Selben nach dem Muster der 391 392 393 394 395

S. o. 22.1, mit Anmerkungen 256–265. O II d. 3 p. 2 q. 2 n. 310, Vat. VII S. 547. Ebd. n. 338–339, S. 564. O I d. 5 p. 2q. unica n. 113, Vat. IV S. 67 f. Ebd. n. 117, Vat. IV S. 69.

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Husserl’schen Puppe367 im Geist der neuplatonischen Vieleinigkeit (23.2), die sich genau auf die Gegenüberstellung des Unendlichen und Endlichen bei Scotus abbilden lässt: Endlich ist für Scotus das (mit Individualität) zusammensetzbare, unendlich das ohne Zusammensetzung identische Mannigfaltige; dem entspricht die Gegenüberstellung des Vieleinen (n poll€) gegen das Viele und Eine (poll€ ka½ n) bei Plotin und Proklos. 396 Gleichsam den Todesstoß, aber ohne Bezugnahme, versetzt Scotus der Quantifizierung der Bestimmtheit durch Thomas, indem er die ihr zugrunde liegende Verwechslung des Seins, das nicht steigerbar ist, mit dem steigerbaren, Mängel mehr und mehr ausfüllenden Akt entlarvt. Gegen die Auffassung, dass die Materie von sich aus pure Potenz ohne Akt sei und dennoch die Substanz aus Form und Materie mit beiderseits eigenem Sein bestehe, wendet er ein, »dass das Wort ›Akt‹ äquivok verwendet wird. Wenn vom Akt in der Weise die Rede ist, wie er mit der Potenz das Seiende vollständig einteilt, dann sage ich, dass die Materie im Akt ist, und sogar die Privationen sind auf diese Weise im Akt, weil die Blindheit aktuell im Auge ist, nicht in Potenz wie beim Sehenden, und so ist die Materie, in dem Sinn, wie Aktualität dem Sein in seiner Ursache (vor deren Wirken) gegenübergestellt wird. In anderem Sinn spricht man von Akt und Potenz so, dass der Akt das ist, was aufgenommen werden kann, und die Potenz das Rezeptive (das aufnehmen kann), und, so verstanden, ist die Materie nicht Akt.« 397 Der Akt im zweiten Sinn ist der Gott des Thomas, von dem die aus dem Nichts entsprungenen Dinge (22.2), die von sich aus nur passive Potenz mit Mangel zu bieten hätten, die den Mangel ersetzende Fülle in größerem und geringerem Maße und damit auch das Sein empfangen, wobei er als das Rezipierte, nicht als das Rezeptive fungiert.226 Diese Zusammenschiebung von Sein und aufzunehmender Fülle beseitigt Scotus, indem er den Akt als Sein, das der Materie so gut wie dem Mangel und der Fülle zukommt, von der Fülle, die in das leere Gefäß einer mangelhaften passiven Potenz aufgenommen werden kann, deutlich unterscheidet.

396 Vgl. in Band I für Plotin 15.1 mit Anm. 595, für Proklos 16.3 mit Verweis auf Platonische Theologie Band I S. 47 Z. 10–12 Saffrey/Westerink (s. dort, Anm. 629). 397 R II d. 12 q. 2 n. 9 (zu n. 2), Wad. XI 1 S. 322 f.

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23.4 Die letzten Differenzen Die für Duns Scotus höchst bezeichnende Lehre von den individuellen Differenzen wurde schon unter 21.3 erörtert. 398 Diese Differenzen – so wurde referiert – gehören zwar zur Kette der Bestimmungen, die in kategorialer Koordination (coordinatio praedicamentalis) von ihnen über die Art und die mittleren Gattungen zur zuständigen Kategorie (einer der obersten Gattungen) aufsteigt, verhalten sich aber zu den übrigen Formen in dieser Kette als Materie in der Rolle des Substrates und doch als letzter Akt, der die ganze Kette auf ein Individuum zusammenzieht, noch unabhängig von dessen Existenz; sie haben nichts gemein, und es gibt nichts, was von ihnen als ihr Was (in quid) ausgesagt werden könnte. 399 Diese wunderliche Konstruktion wird verständlicher auf dem breiten Hintergrund der Lehre des Scotus von den letzten Differenzen, die mit nichts anderem übereinstimmen und keineswegs auf die Individuation beschränkt sind. Besonders zugänglich ist die Darstellung in der Lectura bei der Werbung des Scotus für einen durchgängig gleichen Begriff des Seienden (univocatio entis). 400 Der Angelpunkt des Argumentes, das solche unverteilbaren letzten Differenzen einführt, ist das Verhältnis des Seienden als allgemeinster (freilich unvollkommenster 401 ) Natur oder Perfektion zu seinen Passionen, worunter man in der Scholastik gewöhnlich die Transzendentalien (das Eine, Wahre und Gute) versteht. Nach Aristoteles ist die Affektion oder Passion nicht das, was das Affizierte ist, sondern gehört nur zu ihm. 402 Daher gehört zu dem, was diese Passionen sind, nicht das Seiende und darf daher nicht zur Antwort auf die Frage, was sie sind (in quid), von ihnen ausgesagt werden. 403 Nun sind aber alle Gattungen, spezifische Differenzen und Arten Seiende, für die solche Aussage sehr wohl statthaft ist, und schleppen mit dem Seienden dessen Passionen (sämtlich oder teilweise) mit; sie können daher niemals ganz einfach und rein nur ihren eigentümlichen Gehalt haben, sondern mischen diesen immer Vgl. Anmerkungen 189–191. Ähnlich Quaestiones subtilissimae VII q. 13 n. 18, Wad. IV S. 705a. 400 L I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 97–123, Vat. XVI S. 261–273. 401 Sentenzenkommentar IV d. 1 q. 1 n. 7, Wad. VIII S. 11a. 402 Scotus bezieht sich auf die von den Scholastikern als per se primo bzw. secundo modo aus Aristoteles 73a 34–b3 (2. Analytiken, 1. Buch) herausgehobenen Prädikationsweisen. 403 Wie Anm. 400, n. 102, S. 262 f. 398 399

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mit dem Seienden oder dessen Passionen. Daher ist jede Natur, die nicht von sich aus diese ist, niemals schlechthin einfach,348 wobei »schlechthin einfach« (simpliciter simplex) ein Begriff ist, der nicht nur, wie ein bloß einfacher Begriff, mit einem Schlage aufgefasst wird, sondern auch nicht in vorausgesetzte Begriffe aufgelöst werden kann. 404 Das allgemeine Verfahren, mit dem in solchen Mischnaturen die Anwesenheit letzter Differenzen, die selbst nicht einmal dem Was nach Seiendes sind, nachgewiesen wird, erläutert Scotus so: »Man nehme zwei Differenzen. Ich frage, ob von ihnen ›Seiendes‹ im Was (in quid) ausgesagt wird, oder nicht. Wenn dies der Fall ist, kommen sie also wesentlich im Seienden überein und sind zwar verschieden, aber nicht im Seienden, also durch andere Differenzen; diese seien c und d. Jetzt frage ich wie vorher: Wird von ihnen ›Seiendes‹ in quid ausgesagt, oder nicht. Wenn dies der Fall ist, wird wie zuvor argumentiert, und so entsteht entweder ein progressus in infinitum oder letzten Endes (ultimo) kommt man an irgendwelche Differenzen, von denen ›Seiendes‹ nicht in quid prädiziert wird.« 405 Eine solche letzte Differenz, die z. B. durch Pressung aus den Differenzen Vernunft und Unvernunft (des Menschen bzw. der Tiere) gewonnen werden kann, bringt nicht das Seiende, sondern einen bloßen Modus des Seienden mit sich. 406 Das Verfahren führt zur Aufspaltung jeder Differenz in einen essentiellen Teil (z. B. Vernunft und Unvernunft als solche) und eine letzte, schlechthin einfache Differenz; 407 diese ist nur noch eine Qualifikation ohne bestimmbares Was. 408 Das Seiende wird weder von seinen Passionen noch von den letzten Differenzen innerhalb der Artnaturen (differentiae in speciebus) prädiziert. 409 Auf diese Weise sind die Arten durch letzte spezifische Differenzen, die in nichts übereinkommen, konstituiert. 410 Alle Dinge, die formaliter (im Wesen) das Seiende einschließen, haben gewisse Perfektionen, die Modi der Seiendheit außer dem Begriff des Seienden sind; als (sehr allgemeine) Beispiele benennt Scotus die Modi, wodurch das Seiende auf Substanz und Akzidens verteilt wird. 411 404 405 406 407 408 409 410 411

Ebd. n. 68 (S. 250). Ebd. n. 100, S. 262. Ebd. n. 112, S. 271 Z. 14–17. Ebd. n. 115, S. 268. O I d. 3 p. 1 q. 3 n. 131, Vat. III S. 81 Z. 8–12. Wie Anm. 400, n. 104, S. 263. L II d. 3 p. 1 q. 5–6 n. 175, Vat. XVIII S. 284. Wie Anm. 400, n. 122, Vat. XVI S. 271 f.

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Diese letzten Differenzen, die durch und durch verschiedenen letzten Unterscheidungsgründe (primo diversa distinguentia ultima), teilen den von ihnen konstituierten Unterschiedenen nicht einmal die ganze Verschiedenheit oder Unterschiedlichkeit, die sie absolut in sich haben, mit, sondern nur das, was davon mit den vorgegebenen Naturen verträglich ist; auf diese Weise gibt es außer den letzten Differenzen auch mittlere. Alle solche letzten Unterscheidungsgründe, nicht nur die individuellen Eigentümlichkeiten, sind primär verschieden, so dass sie in nichts übereinkommen; daher kann nichts per se (als eigene Wesensbeschaffenheit) von ihnen prädiziert werden. 412 Das gilt für Arten ebenso wie für die Individuen: »(…) so wie die Arten von einander abweichen, und jene, wodurch sie sich unterscheiden, primär verschieden sind, nichts Gemeinsames habend, so kommen auch zwei Individuen bezüglich dessen, wodurch sie an erster Stelle (primo) unterschieden sind, in keiner Bestimmtheit desselben Begriffes überein.« 413 Auf das Paradoxe solcher auf die Spitze getriebenen Unikatheit wird Scotus aus Anlass der Individualität der drei göttlichen Personen mit gemeinsamer Natur aufmerksam. Von den letzten, distinktiven und konstitutiven Prinzipien der drei Personen lässt sich nichts Gemeinsames mehr abstrahieren, das von ihnen in quid ausgesagt werden könnte, weil sie ursprünglich verschieden sind; deswegen ist alles übereinstimmend von ihnen Abstrahierbare entweder ein ganz negativer Begriff oder ein nicht washeitlicher Reflexionsbegriff (conceptus rationis). 414 Um dieses nun doch Gemeinsame zu fassen, versucht es Scotus mit der Unmitteilbarkeit (incommunicabilitas),414 ohne zu bedenken, dass diese Privation doch nur die Kehrseite eines Habitus ist, den man ebenso affirmativ ausdrücken könnte, z. B. als Reinheit, Einfachheit, Ansichsein. Zwar versucht er gegen den Einwand einige Auswege zu finden, z. B. durch den Hinweis auf die Leere der Gattungsbestimmtheit einer Komplementärmenge (der Menge aller Dinge, die nicht Sokrates sind) an affirmativem Inhalt, ferner auf die Einschränkung der Privation auf alles, was (im Gegensatz zu den göttlichen Personen) in einer Gattung ist, 415 aber er scheint mit dieser Lösung nicht zufrieden R I d. 7 q. 3, Wad. XI 1 S. 70 f. R II d. 12 q. 8 n. 6, Wad. XI 1 S. 332. 414 O I d. 23q. unica n. 20, Vat. V S. 360. 415 Ebd. n. 21, S. 360 f. Der Ausweg über die Komplementärmenge führt nicht weiter, weil diese dem ausgezeichneten Hauptglied ein unbestimmt gelassenes Gegenglied ge412 413

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zu sein und ersetzt am Schluss der Quaestio das Negative als das Gemeinsame der keiner Gemeinsamkeit fähigen Individuationen der drei trinitarischen Personen durch »irgendein Quasi-Eigentümliches«, 416 das weder Fisch noch Fleisch ist. Danach scheint er ins Grübeln verfallen zu sein. Die Herausgeber des seinem Handexemplar getreu nachgeschriebenen Codex teilen mit: »Nach ›Quasi-Eigentümliches‹ lässt Duns Scotus viel weißen (unbeschriebenen) Platz, und die Untersuchung wird nicht abgeschlossen.« 417 Beim Versuch, die keiner Übereinstimmung mit anderem fähige Einzigartigkeit einer schlechthin einfachen, letzten Differenz mit der Übereinstimmung aller solcher Differenzen eben in dieser Einzigartigkeit zusammenzudenken, muss Scotus scheitern. Scotus, der sich vor den meisten Scholastikern dadurch auszeichnet, dass er nicht in die Falle des Singularismus – zu glauben, dass alles ohne weiteres einzeln ist – geht, ist trotzdem Elementarist wie Platon (11.8), d. h. er fordert, dass wenigstens alle Bestimmungen, wodurch etwas als etwas bestimmt ist, einzeln sind. Einzelheit oder numerische Einheit verlangt nicht mehr als die Fähigkeit, eine Anzahl um 1 zu vermehren. Die völlige Verworrenheit des traditionellen, von Aristoteles durch langes Distinktionsbemühen vollends undurchschaubar verwickelten Begriffes oder Verständnisses von Einheit 418 verleitet Scotus wie später Leibniz zur Verwechslung der numerischen mit der einfachen Einheit, mit der Folge, dass er dem Postulat des Elementarismus nicht zu genügen glaubt, wenn er die komplexen Bestimmungen oder Perfektionen nicht auf gänzlich einfache, daher auch nicht aus im Verhältnis zu anderem übereinstimmenden und abweichenden Anteilen zusammengesetzte, Urbestimmungen zurückführt. Anders als Leibniz (und Descartes in den Regulae ad directionem ingenii) scheint er aber nicht zu verlangen, dass alle Komplexe vollständig in solche Atome auflösbar sein sollen, sondern er will sich mit einigen ganz einfachen Anknüpfungspunkten begnügen, an denen das Gewebe der komplexen Bestimmungen aufgehängt werden soll. Solche Anknüpfungspunkte sind oben (in der vom Allgemeinsten absteigenden Ordnung) die unmittelbaren genüberstellt, während im vorliegenden Fall drei Glieder durch ein bloß negatives Merkmal verbunden werden, ohne dass eine Gegenüberstellung stattfindet. 416 Ebd. n. 25, S. 363. 417 Ebd. S. 363, Anm. 2: Post »quasi-proprium« Duns Scotus relinquitur spatium album multum, nec quaestio absolvitur. 418 Siehe dazu die Übersicht am Anfang dieses Buches.

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Passionen des Seienden und unten, sowohl bei den speziellsten Arten als auch bei den Individuen, die deren Fälle sind, die letzten, auch noch von der Vermischung mit dem Seienden gereinigten, Differenzen. In den Quaestiones subtilissimae drückt er dieses Bedürfnis nach »Ankerplätzen unten« so aus: »Man muss sich merken, dass es so, wie es einige ursprünglich Verschiedene gibt, nämlich durch sich als ganze (Verschiedene), die in gar nichts übereinkommen, ebenso auch in allen Unterschiedenen, die als Verschiedene etwas Eines (Gemeinsames) sind, einige (Elemente), wodurch sie sich unterscheiden, zu finden sein müssen, die sich durch sich als ganze unterscheiden; sonst entstünde ein progressus in infinitum.« 419 Ganz extrem scheint diese Abgeschlossenheit gegen alles Gemeinsame bei der Individualdifferenz – gelegentlich auch »haecceitas« (»Diesdaheit«) genannt 420 – zu sein: »Nichts ergibt sich für das Individuum aufgrund der Individualdifferenz an sich, weil jenes ganz unmitteilbar wäre, so dass nichts ihm Ähnliches in irgendetwas gefunden werden könnte. Von solcher Art scheint in den Seienden nichts vorzukommen außer der Individualdifferenz.« 421 Diese individuelle Eigentümlichkeit (proprietas individualis 422 ) ist aber weiter nichts als der vom Elementarismus des Scotus geforderte Ankerplatz der Bestimmungen einer Sache als Residuum der Auflösung alles Komplexen in ihrer Bestimmtheit, insofern zwar etwas Formales und Bestimmendes, wozu sich die Natur der Sache als Potenz verhält, zugleich aber weniger perfekt, obwohl mehr eigentümlich als die Natur, deren sie determinierender Akt es ist. 423 Diese Herabsetzung der Individualdifferenz an Vollkommenheit gegen die reichere Natur ergibt sich wohl aus ihrer dürftigen Einfachheit; die Mitteilung an anderer Stelle,412 dass die letzten Differenzen nicht einmal alles, was sie absolut in sich haben, an die von ihnen differenzierten Naturen abgeben, könnte allerdings doch auf verborgenen Reichtum schließen lassen. Die letzten Differenzen der Arten und erst recht der Individuen sind als das Gewürz des ganz Besonderen der Ankerplatz aller anderen, gemeineren Bestimmungen der Sache und zugleich selbst solche Bestimmungen; das macht aus ihnen für die übliche scholastische VII q. 13 n. 18, Wad. IV S. 705a Z. 3–8. R II d. 12 q. 5 n. 13 (Wad. XI 1 S. 328 f.), Quaestiones subtilissimae VII q. 13 n. 9 (Wad. IV S. 701a). 421 Quaestiones subtilissimae VII q. 13 n. 25, Wad. IV S. 707b. 422 O I d. 5 p. 2q. unica n. 109, Vat. IV S. 66 Z. 12. 423 Ebd. n. 109 f., S. 66 f. 419 420

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Die letzten Differenzen

Begriffsbildung Monstren, die zugleich nach Art einer Materie substratfähige (subjicible) Träger von Bestimmung und bestimmende Akte oder Formen sind. Mit ihnen als solchen baut Scotus alle Individuen und Arten aus lauter Bestimmungen auf, die er Perfektionen, Naturen, Realitäten oder Formen nennt, wo ich »Bedeutungen« (im Sinne von Sachverhalten, Programmen oder Problemen) sage, während die Alten von Ideen sprechen. Solche Ideen in einem nachantiken, scotistisch modifizierten Sinn sind intelligibel, d. h. für den Verstand unmittelbar zugänglich; daher ist es auch ihr Komplex, das Individuum, das nach Scotus sogar in erster Linie intelligibel ist: »Die Intelligibilität folgt, absolut verstanden, der Seiendheit (…), das Einzelding schließt die ganze washeitliche Seiendheit der oberen Stufen ein, und obendrein den letzten Grad der Aktualität und Einheit, gemäß der Quaestio über die Individuation. Diese Einheit mindert nicht die Seiendheit, Einheit und demzufolge die Intelligibilität, sondern trägt dazu bei. (…) was außer dem Einzelding erkannt wird, schließt das Einzelding unvollständig ein in Bezug auf alles, was an Intelligibilität darin ist, (unvollständig,) weil es nicht den Grad einschließt, wodurch das Einzelne einzeln ist; das Einzelding aber schließt vollständig ein, was an Intelligibilität in jedem (in der Allgemeinheitsordnung) höheren (Inhalt) enthalten ist. Nicht ist also das Einzelding als bloßer Teil im ersten Objekt des Intellektes intellektuell zugänglich, sondern nur als (selbst) das erste Objekt des Intellektes, in dem alle beliebigen übergeordneten Inhalte von selbst (per se) intellektuell erfasst werden.« 424 Das ist eine einsichtige Folge der Ausschöpfung aller Individuen durch scotistisch verstandene Ideen (nach antiker Tradition) und zugleich eine Revolution gegen Aristoteles, Plotin und Thomas von Aquino, die für die sinnfälligen Individuen solche Ausschöpfbarkeit bestreiten, wegen des Anteils der intellektuell nicht zugänglichen Materie an ihnen. 425 Diese Revolution hat aber keine Folgen für die Erkenntnistheorie. Scotus lehrt nämlich: »Das Einzelding ist zwar von sich aus intelligibel, da es ein Was ist, aber nicht von uns jetzt durch einfache positive intellektuelle Erfassung.« 426 Unserem Verstand nützt die Intelligibilität, mit der sich das Individuum höheren Verständen (der Engel und Gottes) direkt darbietet, überhaupt nichts, da er auf die Verarbeitung von Sin424 425 426

Quaestiones subtilissimae VII q. 15 n. 4, Wad. IV S. 713b. Für Aristoteles vgl. Metaphysik 1037a 25–30. Quaestiones subtilissimae VII q. 13 n. 25, Wad. IV S. 708b.

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neseindrücken angewiesen ist: »Hieraus folgt, dass ein Verstand, der die Aktion des Objektes unmittelbar aufnehmen kann, von der Einzeldinglichkeit bewegt werden kann, nicht aber ein Verstand, der aufnahmefähig ist durch Vermittlung einer natürlichen Aktion. Das Erste ist der Fall beim Verstand des Engels, der das materielle Einzelding unmittelbar sieht. Das zweite ist der Fall bei unserem Verstand, auf den die Natur nur durch vermittelnde Zeugung in die Sinnlichkeit hineinwirkt. Diese Zeugung kann als materielle natürliche Aktion bezeichnet werden, verglichen mit der, die intelligibel in den Intellekt hinein stattfindet.« 427 Arbogast Schmitt hat Duns Scotus wegen der Lehre von der grundsätzlichen Intelligibilität des Individuums (auch des sinnlichen und materiellen) verantwortlich gemacht für die moderne »Wende zur Erfahrung«, 428 die seit der Spätscholastik und zunehmend in der Neuzeit das Denken von Platon weggeführt habe und z. B. bei Kant das »problematische« Ergebnis habe, »dass die empirische Erfahrung von Einzeldingen zur Basis einer Erkenntnistheorie gemacht wird«. 429 Scotus ist von dieser Verantwortung freizusprechen. Von ihm gilt eher, was Kant Leibniz im Gegensatz zu Locke bescheinigt: »Leibniz intellektuierte die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe nach einem System der Noogonie (wenn es mir erlaubt ist, mich dieser Ausdrücke zu bedienen) insgesamt sensifiziert, d. h. für nichts, als empirische, oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte.« 430 Die Entwicklung, die zu Locke führt, setzt erst bei Wilhelm von Ockham ein, in schroffer Antithese gegen Duns Scotus.

Ebd. q. 15 n. 6, Wad. IV S. 714b. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Stuttgart/Weimar 2003, S. 26, zu Scotus S. 28–33. 429 Ebd. S. 179. 430 Kritik der reinen Vernunft A 271 B 327. 427 428

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24. Wilhelm von Ockham

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24.1 Der Singularismus Wilhelm von Ockham 431 erlöst durch einen Singularismus, wie er rigoroser nie gewesen ist noch später wiederkehrt, die Scholastik aus einem von Aristoteles herrührenden Zwiespalt. Als Gegner des platonischen Elementarismus (11.8), der jede Bestimmung, wodurch etwas als etwas bestimmt ist, als einzelne Sache behandelt, widersetzt sich Aristoteles dem Versuch Platons, für jedes Prädikat, dessen Umfang mehrere Objekte umfasst, eine Idee anzusetzen, 432 als ob für jeden Aspekt, unter dem etwas angesprochen werden kann, ein stabiles, aller sinnlichen Wandelbarkeit und Konfusion enthobenes Objekt da sei, das dieser Aspekt in völliger Reinheit und weiter nichts ist. Durch seine Kategorienlehre (wohl zu unterscheiden von der Lehre des pseudo-aristotelischen Traktats Kategorien), seine Lehre von der konvergenten Metaphorik des Seienden, Potenzlehre und Ideenlehre (12.2–5) sucht er nach einer realistischeren Auffassung der Bestimmtheit als etwas in der Weise, dass diese von den Ideen als den eigentlich Seienden und vollendeten Differenzen vollbracht wird, die in der Sinnenwelt aber nur als der prägnante Kamm der Bestimmtheit zwischen der stofflichen Trübung durch das höhere Allgemeine der Gattungen einerseits, der labilen und indefiniten Materie des Kontinuums 433 und der Sinnendinge andererseits stehen. Die Idee, die in solcher Weise aus dem bloß Allgemeinen der Gattungen wie aus dem trüben Stoff der Sinnenwelt hervorleuchtet, gibt diesem Stoff die Bestimmtheit, wodurch er erst etwas ist; am Schluss des 7. Buches der Metaphysik, das der Herausschälung der Idee als des eigentlich Seienden (der Ousia) gewidmet ist, drückt Aristoteles 431 432 433

Zur Zitierweise s. o. Anm. 194. Platon Staat 596a. Stoff der Größe: Aristoteles Physik 209b 4.

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Wilhelm von Ockham

dieses Ergebnis so aus: »Daher wird der Grund des Stoffes gesucht; das aber ist die Idee, wodurch er etwas ist; das aber ist die Ousia.« 434 Die Idee des Sinnlichen wird von Aristoteles also nicht als transzendentes Einzelding charakterisiert, sondern durch ihre Funktion für den indefiniten Stoff, ihm ein bestimmtes Gepräge zu geben, wodurch er als etwas angesprochen werden kann. 435 Daraus haben die Scholastiker, vielleicht angeregt durch diese Stelle, 436 die Formel gewonnen, dass die nun »Form« genannte Idee nicht das ist, was (quod) eine Sache ist, sondern das, wodurch (quo) sie ist. Die Unterscheidung wurde von Boethius angeregt 437 und von seinem Kommentator Gilbertus Porretanus im 12. Jahrhundert auf eine Standardformel gebracht. 438 Thomas von Aquino benützt sie dazu, der Form (wie auch den Akzidentien) ein Sein nur im übertragenen Sinn zuzugestehen, weil sie nicht selber sei, sondern nur das sei, wodurch etwas (das aus Form und Materie Zusammengesetzte) ist (natürlich nur im Fall der materiellen Substanzen). 439 Dieses Erbe des aristotelischen Anti-Elementarismus, das Verständnis der Form als das, wodurch und nicht was etwas ist, steht in latenter Spannung dem scholastischen Singularismus gegenüber, der Überzeugung, dass alles ohne weiteres einzeln ist (numerisch einzeln, d. h. fähig, als Element einer endlichen Menge deren Anzahl um 1 zu vergrößern). Diese Überzeugung nährt sich von dem gemeinscholastischen Dogma der Umfangsgleichheit des Seienden und des Einen. 440 Auch dieses Dogma stammt von Aristoteles. 441 Das Eine wird in dessen Spuren als das Ungeteilte (indivisum, Aristoteles: adihaireton) verstanden, d. h. als synthetische oder einfache Einheit, aber diese verwandelt sich den Scholastikern unter der Hand 1041b 7–9. Vgl. auch Metaphysik 1035a 7–9. 436 Thomas von Aquino paraphrasiert 1041b 7 f. so: Hoc autem quaesitum, quod est causa materiae, est species, scilicet forma qua aliquid est. (Metaphysikkommentar ed. Cathala et Spiazzi, Turin / Rom 1975, S. 397, n. 1668). 437 De trinitate, Mignes Patrologie series latina Band 64 Spalte 1253b.c. 438 Ebd. 1278d: In naturalibus […] aliud est quod est, et aliud quo est. (Kommentar zu De trinitate). 439 Summa contra gentiles II c. 43; III c. 69; Summa theologiae I q. 13 a. 1 ad 2 und q. 105 a. 4 ad 3; Quaestiones de potentia Dei q. 3 a. 8c. 440 Ens et unum convertuntur. Diese Formel, zuerst bei Boethius (Contra Euthychem et Nestorium c. 4, nach: Kurt Flasch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 2, 1972, Spalte 376) ist prominent bei Thomas von Aquino. 441 Metaphysik 1003b 22–33. 434 435

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Der Singularismus

in die numerische. Das wird schön deutlich an der Begründung, die Suarez gleichsam auf dem Rücken der vorangegangenen mittelalterlichen Scholastik, diese summierend, für seine These gibt, dass alle aktuell existierenden Sachen einzeln und individuell (singulares ac individuas) seien: Sonst müssten sie – wie Suarez mit Duns Scotus,175 dank der gemeinscholastischen Verwechslung identifizierender und subsumierender Funktion des Wortes »ist« (est) als Copula (21.3), meint – von sich selbst in mehrere Sachen, die ebenso (mit derselben Entität) wären, abgeteilt sein, und das widerspräche der Definition des Einen als des Ungeteilten, wo doch jedes Seiende auch Eines sei. 442 Da kein Scholastiker einer Form abstreiten wird, dass sie eine ist, folgt aus diesem Einheitsverständnis zunächst, dass sie eine einzelne ist, womit der platonische Elementarismus wiederhergestellt ist, und weiter aus dem Axiom der Umfangsgleichheit, dass sie eine seiende ist. Das aber widerspricht dem Axiom, dass die Form nicht eigentlich selbst ist, sondern das ist, wodurch etwas ist. Aus dieser Verlegenheit ziehen Duns Scotus und Wilhelm von Ockham entgegengesetzte Schlüsse: Scotus rettet die Sonderstellung der Formen, indem er aus ihnen unvollständig bestimmte Perfektionen (naturae communes) macht, die bezüglich der Frage, ob sie einzeln oder allgemein sind, unentschieden sind und erst durch eine letzte, individuelle Differenz zur Einzelheit zusammengezogen werden; um sie dennoch wie einzelne behandeln zu können, bedient er sich der distinctio formalis, die Wilhelm mit der unter 23.1 angegebenen Argumentation als unhaltbar (weil in sich widersprüchlich) erweist. 443 Wilhelm streicht dagegen die Sonderstellung der Formen, indem er jedes Seiende mit rigorosem Singularismus absolut setzt und vereinzelt. Von einer Sonderstellung der Form als das, wodurch (nicht was) etwas ist, will er demgemäß nichts wissen, außer wiederum443 bei einer logisch nicht zu bewältigenden theologischen Paradoxie, hier den zwei Naturen Christi; sonst sind Wodurch und Was dieselbe Sache, z. B. der 442 Disputationes metaphysicae d. 5s.1n.3–4. Das Gespenst, von sich selbst getrennt und auf vieles verteilt zu werden, das Suarez hier an die Wand malt, beschwört Platon (Philebos 15b 4–8) als seinen dritten Ideenzweifel, s. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Bonn 1985, S. 214–217. 443 O I d. 2 q. 1, Op. th. II 14, 8–16, 3 (bezüglich auf die göttlichen Attribute, mit Einschränkung S. 17, 18–18, 1: Man darf die distinctio formalis nur zulassen, wo der Glaube die Vernunft zur Kapitulation zwingt, nämlich beim Trinitätsdogma) und d. 2 q. 6, Op. th. II 173, 10–174, 23, bezüglich auf das Verhältnis von natura communis und Individualdifferenz.

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Wilhelm von Ockham

betreffende Mensch, 444 oder das Wodurch ist einfach die Wirkursache, wie Gott für die Kreatur. 445 Der Widersacher, gegen den Wilhelm seinen Singularismus durchsetzen will, ist Duns Scotus. Gegen ihn will er zeigen, dass jede Sache durch sich selbst und nicht durch ein Individuationsprinzip einzeln ist. 446 Den Beweis führt er einfach aus der Umfangsgleichheit des Seienden mit dem Einen, das eo ipso identisch und von allem anderen unterschieden sei 447 und aus der Alternative des Einen als des Ungeteilten, synthetische oder einfache Einheit zu sein. 448 Jedes Seiende ist durch sich selbst Eines und unterschieden, nicht durch irgendetwas, das ihm hinzugefügt werden müsste oder von außen käme;195 keine Einschränkung liegt vor, wenn Wilhelm dies nur für jede Sache »außer der Seele« behauptet, 449 denn in der Seele ist für Wilhelm wie für Thomas (21.3) auch nichts Allgemeines, sondern nur Einzelnes, das an die Stelle des Allgemeinen tritt, gleichsam unter der Maske des Allgemeinen (s. u. 24.3). Dafür ist aufschlussreich, wie Wilhelm einmal zwei Bedeutungen unterscheidet: »Man muss wissen, dass ›einzeln‹ doppelt verstanden wird: erstens im Sinne dessen, was Eines ist und nicht Mehrere, und so ist jede Sache einzeln, egal ob Zeichen oder Bezeichnetes, Stimme oder Nicht-Stimme. So ist keine Sache allgemein (…). Auf andere Weise steht ›einzeln‹ für das, was nicht praedizierbar von mehreren ist und nicht mehrere bezeichnet.« 450 Wilhelm will das viele Dinge mit einem Schlag umfassende Prädizieren und Bezeichnen retten und braucht für diese Leistungen einzelne Zustände in der Seele, die diese sonst dem Allgemeinen zugedachte Rolle übernehmen und daher in diesem uneigentlichen Sinn vom Einzelnen ausgenommen werden.

O III q. 1, Op. th. VI 29, 1–30, 8. Summa totius logicae, Op. ph. I, p. III 2 c. 27 Z. 55–58. 446 O I d. 2 q. 6, Op. th. II 196, 2–6 und 197, 14–18. 447 Ebd. d. 2 q. 2, Op. th. II S. 64, 3–10 und 63, 15–17. 448 Wie Anm. 446, S. 196 Z. 13–22. Der »Beweis« verläuft so: Wenn etwas einfach ist, ist es sowieso einzeln; wenn es zusammengesetzt ist, hat es eine bestimmte Zahl von Teilen, deren jeder einzeln ist, und ist als Aggregat einzeln. 449 Wie Anm. 446, S. 197 Z. 7–10: »Hieraus folgt, dass jede Sache außer der Seele durch sich selbst einzeln ist, so dass sie selbst ohne jede Hinzufügung das ist, was unmittelbar unter den Begriff der Einzelheit fällt.«. 450 Expositio in librum Perihermeneias Aristotelis, Op. ph. II, l. I c. 5 Z. 56–67 (S. 400 f.). 444 445

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Die Kappung der Zusammenhnge

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24.2 Die Kappung der Zusammenhnge Der Singularismus Wilhelms schöpft seinen unerhörten Radikalismus aus der Kappung oder Zerstörung aller Zusammenhänge. Aus der Einzelheit wird die Absolutheit von lauter Dingen an sich: »Jede Sache, die von jeder anderen Sache wirklich verschieden ist, ist wahrhaft eine Sache von sich (res a se), weil abgezogen ihrer Washeit und Wesenheit nach von jeder anderen Sache; daher gibt es in der Wirklichkeit nichts außer absoluten Sachen.«202 Die Begründung, dass jede Sache eine von jeder anderen abgezogene Wesenheit besitzt, stammt schon von Abaelard,156 aber die Folgerung, dass jede Sache a se ist, ist neu und beinah ungeheuerlich, wenn man sie als Anspielung auf den Hauptgegner Duns Scotus versteht, der in seinen Gottesbeweisen die bisherige Gegenüberstellung (seit Anselm) »per se – per aliud« für das Unabhängige beziehungsweise Abhängige durch »a se – ab alio« ersetzt hatte. 451 Das kommt ebenso wie den Substanzen den Akzidentien zugute: Zwar bedürfen sie, um zu sein, einer anderen Sache (der Substanz), aber das ist nicht ihr Wesen, sondern jedes Akzidens (z. B. Weiß) ist eine Sache zu sich hin (ad se), sozusagen auf eigene Faust, der Essenz nach von der Substanz so weit verschieden wie Weiß von Schwarz oder weit aus einander stehende Dinge, 452 ganz im Gegensatz zur Lehre des Thomas.439 Wer der bloßen Vernunft folgt und die Chance hat, konsequent zu sprechen, ungetäuscht durch Sophismen und windige Behauptungen, muss gestehen, dass in Wirklichkeit gar nichts erdenklich ist als etwas Abgelöstes (Absolutes) oder vielerlei Absolutes; dann bringt auch die Relation ganz und gar nichts ein, außer Absolutes oder Absolute. 453 Relationen sind weiter nichts als Intentionen oder Begriffe der Seele. 454 Aristoteles hatte gelehrt, dass Relationen (oder vielmehr Referentien, Vorderglieder zweistelliger Relationen als solche) das mindest Seiende und sozusagen nur Auswüchse am Seienden seien (12.9). 455 Das genügt Wilhelm nicht: »Beziehungen (respectus) sind nicht kleine Sachen, die von den absoluten verschieden wären, son451 Lectura I d. 2 p. 1q. 1–2 n. 41 und q. 3 n. 117, Vat. XVI S. 126 und 151; Ordinatio I d. 2 p. 1 q. 2, Vat. II 164 f. (n.58) und 170 f., vgl. dazu D. Schlüter, Aseität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, 1971, Spalte 537 f. 452 O I d. 30 q. 1, Op. th. IV 308, 7–15. 453 Ebd. S. 309, 15–21. 454 Ebd. S. 310, 20 f. 455 Metaphysik 1088a 23.29 f.; Nikomachische Ethik 1096a 20–22.

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Wilhelm von Ockham

dern sind selbst die absoluten (abgelösten Sachen). Daher können sie von Gott so gut wie die absoluten geschaffen werden.« 456 So besteht z. B. die Ähnlichkeit des Sokrates mit Platon einfach darin, dass Sokrates weiß und Platon weiß ist. 457 Es ist nicht schwer, die Schwäche dieses Auslöschungsversuches zu erkennen: Wilhelm vergisst das »und«, die Paarbildung, die erst das geordnete Paar beider Männer zu einem Fall von Ähnlichkeit macht, wozu keiner von beiden reicht. 458 Er dehnt diesen Reduktionismus aber auf alle Übereinstimmungen und Unterschiede aus: Sokrates und Platon kommen nicht in einem Dritten (einem Merkmal) überein und unterscheiden sich auch nicht durch abweichende Merkmale, sondern einfach durch sich selbst, und so stimmen sie auch der Art nach überein, 459 und ebensowenig gibt die größere Ähnlichkeit des Sokrates mit Platon als mit einem Esel das Recht, nach einem gemeinsamen Zug zu suchen, der im ersten Fall verbände und im zweiten fehlte, denn Sokrates kommt nicht durch etwas anderes, sondern bloß durch sich selbst überein oder unterscheidet sich. 460 Hier wäre zu fragen, ob für den bloßen Unterschied, oder – noch allgemeiner – die Verschiedenheit von etwas, Sokrates genügt oder nicht ein Paar benötigt wird, das weder der eine noch der andere ist. Wilhelm kommt es darauf an, alle Bedeutungen auf der Gegenstandsseite wegzustreichen und in die sprachlichen Äußerungen oder diesen entsprechende Seelenzustände zu verlegen, während auf der anderen Seite nur nackte, kompakte Sachen ohne Aufgliederung in die Perfektionen und Naturen des Duns Scotus oder etwas dergleichen übrigbleiben. Mit diesem Extensionalismus, der auf die Abhebung gegenständlicher Bestimmungen von den so bestimmten Gegenständen verzichtet, weil alles durch sich selbst übereinstimmt oder abweicht und sich dadurch ohne weiteres einer verknüpfenden oder sondernden Begriffsbildung anbietet, 461 reißt Wilhelm das nach Stufen der Allgemeinheit und einschränkenden Besonderung gegliederte Begriffssystem als sachlich vorgegebene Ordnung ein, 462 ebenQuodlibet 2 quaestio 8 Z. 75–77, Op. th. IX S. 148. O I d. 30 q. 1, Op. th. IV 310, 1–6. 458 Obendrein macht er es sich zu leicht mit der gewählten symmetrischen Relation; wie wäre es mit rechts-von und links-von? 459 O I d. 2 q. 11, Op. th. II 370, 9–11. 460 O I d. 2 q. 6, Op. th. II 211, 21–212, 4. 461 O I d. 2 q. 9, Op. th. II 319, 11–14. 462 Ebd. S. 320, 14–321, 2 und 321, 13–17. 456 457

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Die Kappung der Zusammenhnge

so wie die Unterscheidung bloß zufälligen Zukommens einer Eigenschaft (per accidens) und wesentlichen oder notwendigen Zukommens (per se). 463 Den Ersatz für das Gemeinsame der kompakten Brocken, in die das Seiende so zerfällt, stellt Wilhelm sich folgendermaßen vor: »Überhaupt wird nichts Gemeinsames verteilt auf jene (Sachen), denen es gemeinsam ist, weil es auch nicht in ihnen ist, sondern dasselbe, eines bleibend, ohne irgendetwas aufzunehmen und ohne Zusatz, wird verteilt auf die, denen es gemein ist, entsprechend dem Sprachlaut, der auf die davon bezeichneten Objekte verteilt wird, ohne in diese eingeteilt zu sein, und dem dadurch, dass er so verteilt wird, gar nichts geschieht.« 464 An die Stelle einer innerlichen Konstitution der Sachen durch einander ergänzende Bestimmtheiten als etwas tritt also eine äußerliche Zuordnung gedanklich ordnender Schemata entsprechend der Zuordnung eines Namens zu vielen Dingen, die er bezeichnet. Die Erkenntnis des Einzelnen ist auf solche übergreifenden Konstruktionen nicht mehr angewiesen: »Alles Positive, das von irgendetwas anderem unterschieden ist, kann eingesehen werden (potest intelligi), ohne dass irgendetwas anderes eingesehen wird.« 465 Das Bestreiten der Relationen führt Wilhelm zu umwälzenden Neuerungen des Denkens und Sprechens auf vielen Gebieten. Als erstes Beispiel nenne ich die Kausalität. Wilhelm lehrt, »dass es keine solche Beziehung des Tätigen zum Erlittenen oder zum Produkt gibt, wie es sich die Menschen gewöhnlich einbilden. Vielmehr: Außer der Ursache ist da bloß das Produkt, und Gott kann es machen ohne jede mitwirkende Zweitursache.« 466 Das Weswegen (propter hoc), das wir zu beobachten glauben, ist gemäß der bekannten Formel für Humes Kausalskepsis nur ein Danach (post hoc): »Das Erleiden (einer Wirkung), das nicht in der Erhaltung (der Dinge durch Gott) besteht, läuft bloß darauf hinaus, dass die Materie nun, in Gegenwart des Feuers, irgendeine Form hat, die sie unmittelbar vorher nicht hatte, nach dem ersten Augenblick, aufgrund des Flusses der Zeit, ohne dass irgendetwas anderes hinzukommt.« 467 Hume ist ein Wilhelm von Ockham redivivus, wenn er schreibt: »All events seen entirely loose 463 464 465 466 467

O I d. 2 q. 10, Op. th. II 342, 18–343, 9. O I d. 2 q. 10, Op. th. II 352, 8–13. O II q. 2, Op. th. V 37, 8 f. O I d. 42 q. unica, Op. th. IV 621, 9–13. Quodlibet 7 quaestio 3 Z. 79–82, Op. th. IX S. 712.

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Wilhelm von Ockham

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and separate. One event follows another; but we never can observe any tie between them. They seem conjoined, but never connected.« 468 Ein anderes, verwandtes Opfer der Beziehungslosigkeit ist bei Wilhelm die Bewegung: »Ebenso sage ich von der Bewegung, dass sie nicht irgendetwas absolutes oder relatives Positives über die beharrlichen Dinge hinaus beinhaltet, sondern darüber hinaus nur Negationen. Das steht fest, weil die Bewegung nichts anderes ist als zusammenhängende und sukzessive Aufnahme einer ins Unendliche teilbaren Form, Teil für Teil.« 469 »Hieraus ergibt sich, dass die Bewegung zusammengesetzt ist aus Bejahungen, nämlich aus den durch Bewegung hinzugewonnenen Teilen, und Negationen der anderen folgenden Teile, die unendlich viele sind.« 470 Diese Zusammensetzung der Bewegung aus kontinuierlich anwachsenden Teilen gleicht der statischen Theorie der Bewegung, die Bertrand Russell im Anschluss an die moderne mathematische Deutung des Linearkontinuums als transfinite Punktmenge entwickelt hat. 471 Hinter der Theorie steht bei Russell die Mengenlehre, bei Wilhelm das Streichen aller Übergänge zugunsten bloß noch absoluter, spröde in sich seiender Einzelwesen. Diese Option für Absolutsetzung jedes Einzelnen entwertet die Ganzheit; in einer besonderen Untersuchung der Frage, was das Ganze zu den Teilen hinzufügt, 472 kommt Wilhelm zu dem Ergebnis, dass 468 Enquiry concerning human understanding, 7. Abschnitt (Hume’s Enquiries ed. L. A. Selby-Bigge, 2nd ed. Oxford 1902, S. 74). Das »seem« ist keine Einschränkung, denn was Hume dem Anschein gegenüberstellt, ist nur eine Gewöhnung, die die Menschen verführt, eine notwendige Folge anzunehmen. 469 O II q. 7, Op. th. V 111, 12–16. 470 Ebd. 114, 13–15. 471 Bertrand Russell: The Principles of Mathematics, zuerst 1903, 7. Nachdruck der 2. Auflage von 1937, London 1956, S. 347: »Weierstrass, by strictly banishing all infinitesimals, has at last shown that we live in an unchanging world, and that the arrow, at every moment of its flight, is truly at rest. The only point where Zeno probably erred was in inferring (if he did infer) that, because there is no change, therefore the world must be in the same state at one time as in another.« S. 473: »It is to be observed, in consequence of the denial of the infinitesimal, and in consequence of the allied purely technical view of the derivation of a function, we must entirely reject the notion of a state of motion. Motion consists merely in the occupation of different places at different times, subject to continuity as explained in Part V.« »This static theory of the variable is due to the mathematicians, and its absence in Zeno’s day led him to suppose that continuous change was impossible without a state of change, which involves infinitesimals and the contradiction of a body’s being where it is not.« (S. 351 f.). 472 Quaestiones variae, q. 6 a. 2: Quid totum addit super partes, Op. th. VIII 207–219.

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das Ganze nichts ist als seine Teile mit Negation ihrer als Nicht-Vereinigung verstandenen Absonderung von einander. 473 Die Einheit eines Ganzen ist demnach die Nicht-nicht-Vereinigung seiner Teile. Die logische Hohlheit dieses Ersatzes der einfachen Affirmation durch doppelte Negation wird bei Wilhelm überspielt durch die Tendenz, die einzelnen Elemente, bloß weil eines nicht das andere ist, 474 absolut zu setzen und alles, was diese Absolutheit durch Einordnung relativieren könnte, der Verstandestätigkeit – hier der Negation – zu überlassen. Das Kompositum kann demnach schon erfasst werden, indem die Teile absolut erfasst werden, ohne zu erfassen, dass sie vereinigt sind. 475 Demgemäß eifert Wilhelm gegen die Vorstellung, die er als Einbildung des Simplikios in dessen Kategorienkommentar ausgibt, dass die Ordnung des Universums ein Zusatz an Bezogenheit zu den absoluten Teilen sei, »sondern diese Ordnung besteht nur in den Absoluten selbst, die nicht eine numerisch eine Sache bilden; unter ihnen steht von etwas Identischem eines mehr und anderes weniger ab, eines ist benachbart und anderes hat mehr oder weniger Abstand, ohne jede einwohnende Beziehung, dergestalt, dass zwischen einigen noch ein Mittleres ist und zwischen einigen nicht. Und so wird die Verknüpfung des Universums ohne solche Beziehung besser gewahrt als mit ihr.« 476 Wilhelm knüpft an die Frage des Aristoteles an, ob die Natur des großen Ganzen nur im einzelnen Teil gut ist oder durch die Ordnung, und wendet sich gegen dessen Entscheidung, dass im All nicht bloß eine Aufreihung, sondern eine Beziehung wechselseitiger Zuordnung stattfindet. 477 Man muss sich aber fragen, wodurch sich Wilhelms Version von der des Aristoteles unterscheidet, denn in beiden Fällen bleibt es dabei, dass sich die Einzeldinge in gleicher Weise zum Universum anordnen. Wilhelms Relationsverzicht hat nur Sinn im Zuge des ihn leitenden Bemühens, überall die Absolutheit des per se oder ohne weiteres Einzelnen durchzusetzen und dessen Einzelheit von jeder Abhängigkeit von der Bestimmtheit als etwas – auch der Einordnung an einem Platz im Universum – loszusprechen. Die Bestimmtheit als etwas wird ihrer Einzelheit ermöglichenden Funktion entkleidet und auf die Zu473 474 475 476 477

Ebd. Z. 62 f., 71–73, 85–94 (mit Anwendung auf das Kontinuum), S. 209, 210 f. Ebd. Z. 62 f. Ebd. Z. 288–294 (S. 219). Quodlibet 7 Quaestio 8 Z. 56–66, Op. th. IX 729 f. Metaphysik 1075a 11–25.

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sätze verschoben, die die Erkenntnis und ihre sprachliche Fixierung den einzelnen Sachen beilegt: »Immer wird der Zielgedanke im Auge behalten, dass außer den realen Sachen und der Kenntnis nichts ist, wenn auch eine Sache wegen der Kenntnis jetzt anders als früher benannt werden kann, so wie Gott, weil es die Kreatur gibt, seither neu benannt wird, etwa als erschaffend, beseligend, verdammend, strafend usw.«203 Der Zusammenhang des Ganzen beruht nicht mehr auf etwas Gemeinsamem, worin die verschiedenen Einzelwesen übereinkämen, sondern auf diesen selbst als nicht in Anteile des Gemeinsamen und Eigentümlichen zerlegbaren Kernen von Identität und Verschiedenheit. 478 Mit dieser Waffe der Zerlegung gegenständlicher Bestimmtheit in absolute Gegenstände und Bestimmungen, die der menschliche Verstand hinzusetzt, rückt Wilhelm auch der grundlegenden Konzeption des Thomas zu Leibe, der Ordnung des Universums durch von Gott absteigende Quantifizierung (22.1) und Skalierung (22.3) der Bestimmtheit. Der Angriff beginnt bei Gott. 479 Da zum Unterschied nach Thomas die Negation im Sinne der Privation, des Mangels oder Fehlens von etwas, gehört258 und Gott nichts fehlt, lösen sich in ihm alle Unterschiede auf, so dass er das bloß bestehende, aber in jeder Hinsicht unbestimmte Sein ist.258 Thomas relativiert diese Unbestimmtheit durch eine Analogie oder Entsprechung dieses Unbestimmten und des Bestimmten, wodurch es möglich sein soll, sich mit gewissen löblichen und imponierenden Bestimmungen an Gottes Unbestimmtheit heranzutasten, wenn auch die dabei gemachten Unterschiede auf das Konto des menschlichen Verstandes gehen und in Gott keine sachliche Entsprechung haben. Auf die Unangemessenheit solcher Annäherung an das Unbestimmte mit Bestimmtheiten legt Wilhelm den Finger: Wenn es sich nicht um reale, sondern um bloß vorgestellte Unterschiede in Gott handelt, dann sind sie bloße Gedankendinge (entia rationis) und nichts außerhalb der Seele; 480 in Gott sind nicht mehrere ihm zukommende Vollkommenheiten, sondern dort ist nur eine einzige, sowohl der Sache als auch dem Begriff nach unterschiedslose, Vollkommenheit, die in keinem Sinn in Gott, sondern ganz einfach Gottes Wesen ist, und die ihm zugeschriebenen S. o. Anmerkungen 459–464. O I d. 2 q. 2: Utrum perfectiones attributales sint realiter divina essentia, Op. th. II 50, 3–74, 8. 480 Ebd. S. 54, 9–56, 21. 478 479

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Vollkommenheiten sind weiter nichts als gewisse Begriffe und Zeichen, die allerdings wahr, aber ohne gegenständliche Entsprechung, von Gott ausgesagt werden können. 481 Gott ist hiernach nicht wirklich – auch nicht in irgendeinem analogen Sinn – gut, gerecht, klug und mächtig, sondern einfach nur vollkommen oder vielmehr die Vollkommenheit selbst, und trotzdem spricht nicht falsch, wer jene Prädikate von ihm sagt, weil die betreffenden Worte für Gott stehen (vere supponunt), egal, ob es sich bei den allgemeinen Eigenschaften, die sie bezeichnen, um Konstrukte (entia rationis) oder um reale Qualitäten des menschlichen Geistes handelt. 482 Wilhelm nimmt den unendlichen Abstand zwischen Gott und Kreatur ernst, den Thomas mit seinem Versuch analogisierenden Herantastens an Gott nur durch die paradoxe Konstruktion eines asymmetrischen Abstandes der Vollkommenheiten308 versöhnen konnte; daher findet sich bei Wilhelm wie bei Duns Scotus376 der Einwand, dass mit dem quantifizierenden Denken des Thomas jede beliebige Eigenschaft mit gleichem Recht auf Gott übertragen werden könnte, so dass man ihn ebenso Engel oder Esel wie gut nennen dürfte, 483 weil es sich immer um den gleichen, nämlich unendlichen, Abstand an Vollkommenheit handelt. Freilich ziehen Scotus und Wilhelm aus demselben Einwand entgegengesetzte Folgerungen: Scotus hält die unterschiedlichen Bestimmungen, die Thomas in Gott auflöst, mit dem problematischen Werkzeug der distinctio formalis (23.1) auch in diesem fest (23.3); Wilhelm, der ihm dieses Werkzeug aus der Hand schlägt,443 opfert den Versuch, sich mit Bestimmungen an Gott heranzutasten, der Entfremdung zwischen den Sachen, die sich in ihrer Einzelheit gleichsam einigeln, und den Bestimmungen, die der Verstand hinzusetzt. Während die Argumentation um den Gottesbegriff das thomistische Ordnungssystem gleichsam an der Spitze köpft, greift Wilhelm es obendrein von unten an, indem er für den Fall einfacher Inhalte (contenta) die Zusammensetzung der Art aus Gattung und spezifischer Differenz bestreitet, weil die Einfachheit solche Zerlegung in zwei Komponenten ausschließe. 484 Bei den einfachen, d. h. Ebd. 61, 18–23. Ebd. 66, 3–15. 483 O I d. 22q. unica, Op. th. IV 52, 16–53, 7. 484 Expositio in librum Porphyrii De praedicabilibus § 11 Z. 13–19 und § 9 Z. 26–31, Op. ph. II S. 75 und 69. 481 482

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nicht aus Materie und Form zusammengesetzten, geistigen Substanzen, den vermeintlich meisten und wichtigsten im Universum, setzt Thomas die Stufen auf der Leiter der zu Gott hin aufsteigenden und von ihm absteigenden Vollkommenheit mit den spezifischen Differenzen gleich;298 dieses Skalierungsprinzip verwirft Wilhelm. Wichtiger für die Folgezeit ist Wilhelms Umbestimmung des technischen Machens. Für Aristoteles ist die Idee, das ideale Modell, durch den Techniker (Arzt, Handwerker, Baumeister) hindurch der eigentliche Erzeuger des Produktes 485 und ist das Wesen, wodurch der Stoff etwas ist, Sein und Einheit hat, 486 im Fall des Hauses dessen bedeckende, schützende Funktion im Gegensatz zu den so und so gelagerten Hau- und Backsteinen sowie Hölzern, die den Stoff des Hauses bilden; 487 er sieht das Produkt vom Ganzen her, im Fall des Hauses nicht als Steine mit Zusammensetzung, da z. B. aus der Lage die Bestimmtheit der Türschwelle und nicht umgekehrt aus der Türschwelle die Lage hervorgehe. 488 Das Kunstprodukt (mit der Kiste als Beispiel) ist nach Aristoteles nicht geformter Stoff, sondern der Stoff ist nur eine Modifikation und Potenz des Produktes, Modifikation wie das Akzidens. 489 Das Gegenteil lehrt Wilhelm: Die Statue ist Erz oder Kupfer, das Haus ist Hölzer und Steine wie das Volk die Menschen, und der Anteil der Kunst besteht nur in Verschiebungen natürlicher Gegebenheiten im Raum durch Annähern und Entfernen voneinander, wodurch gewisse neue Qualitäten, z. B. Figuren, den benützten Vorräten abgewonnen werden, so dass gewisse neue Bezeichnungen aus der Gattung Qualität anwendbar werden. 490 So verstandenes Machen ist bloße Umlagerung; ein Modell, ein Leitbild wird nicht erwähnt. Ein sehr rohes Technik-Verständnis, entsprungen dem bedingungslosen Vorzug der Einzelheit vor ganzheitlichen Entwürfen, die dem Einzelnen nur dienende Funktionen gönnen! In dieser Sicht wird aber das Machen wendiger als in der aristotelischen; ohne Gehorsam gegen Ideen kann der nach Wilhelms Vorgabe verfahrende Techniker wie ein Bastler ausprobieren, was bei der von ihm 485 Metaphysik 988a 3 f., 1032a 32–b1.11–14, vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 221 f. mit weiteren Stellen. 486 De anima 412b 6–9; Metaphysik 993a 17–22, 1041b 4–9, 1043a 29–b2. 487 Ebd. 1043a 14–18.33. 488 Ebd. 1043b 4–10. 489 Metaphysik 1049a 18–24.36–b2. 490 Expositio in librum Physicorum Aristotelis II c. 1 § 4 Z. 94 f. 102–105. 288–295, Op. ph. IV S. 219.

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dem Stofflichen verliehenen Ortsbewegung herauskommt. So kann dem Stoff gleichsam abgelauscht werden, was man aus ihm machen kann. Vom konservativen Modell des Machens als Gehorsam gegen Leitbilder löst sich Wilhelm in Richtung auf den Freiraum des Gestaltens in der modernen Technik. Einen breiten Spielraum für Verabsolutierung des Einzelnen öffnet sich Wilhelm durch Streichung der Quantität aus der Liste der 10 Kategorien (obersten Gattungen): sie ist die ausgedehnte Substanz selbst, sofern sie Teile außer einander hat, also circumskriptiv (wie die Scholastiker sagen) verteilt und nicht als ganze in jedem Teil anwesend ist. 491 Kurz und knapp: »›Holz ist Quantität oder Quantum‹ heißt so viel wie ›Holz hat Teil außer Teil‹.« 492 Als Ausdruck für mehrere bezeichnet »Quantum« eine Zahl, dagegen als Ausdruck für ein aus mehreren zusammengesetztes Eines eine Größe, die Linie, Fläche oder Körper sein kann; dafür beruft Wilhelm sich auf Aristoteles, der das Quantum als teilbar in darin Enthaltenes bezeichnet habe. 493 Damit unterstellt er der Teilbarkeit eine Zusammensetzung aus Teilen, gewiss nicht im Sinne des Aristoteles, aber selbstverständlich für eine Denkweise, die hinter den einzelnen Teilen das Ganze und erst recht die Ganzheit so gut wie möglich verschwinden lässt. Die Zahl ist, wie Wilhelm »gegen die gemeine Überzeugung, in der alle Menschen gemeinhin übereinstimmen« behauptet, von den gezählten Dingen gar nicht verschieden. 494 Hiergegen kann man leicht wie gegen die Reduktion der Ähnlichkeit auf absolute Eigenschaften457 einwenden, dass die Zahl nicht eine Eigenschaft vieler Dinge ist, sondern eine Eigenschaft ihrer Vielheit oder Menge (nämlich deren Abzählbarkeit, s. o. Überleitung), aber diesen Einwand lässt Wilhelm nicht gelten, denn ihm ist die Zahl (eigentlich Menge) dreier Menschen die drei Menschen und die Vielheit (also Menge) der Intelligenzen die vielen Intelligenzen, 495 wofür er die Begründung gibt, dass sie sonst ein Akzidens sein müsse, als solches aber 491 O IV q. 6, Op. th. VII S. 71–78; Quodlibet 4 quaestiones 18–35, Op. th. IX S. 388– 474; Summa totius logicae p.Ic.44–48 (Op. ph. I S. 132–153), Expositio in librum Perihermeneias c. 10 § 4 (Op. ph. II S. 205–224), auch in den Traktaten De sacramento altaris und De corpore Christi (Op. th. X). 492 Quodlibet 5 quaestio 22 Z. 38–40, Op. th. IX S. 565 f. 493 Summa totius Logicae p. I c. 46 Z. 76–79.81.83–86, Op. ph. I S. 148. 494 O I d. 24 q. 2, Op. th. IV 96, 12–20. 495 Expositio in librum Physicorum Aristotelis III c. 9 § 3 Z. 46–51, Op. ph. IV S. 514 f. (zu 204a 8–14).

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weder als dieselbe in allen Elementen noch mit nur einem Teil von sich in jedem vorkommen könne. 496 Die allzu enge scholastische Ontologie macht ihm die Ausflucht leicht. Die andere Art von Quantum, das Kontinuum als stetig ausgedehnte Größe, ist für Wilhelm gleichfalls eine Ansammlung einzelner Dinge, die ohne Unterbrechung aufgereiht sind: »Stetigkeit (continuatio) bezeichnet die stetig verknüpften Teile selbst, denn solche Teile sind stetig verknüpft, zwischen denen nicht ein Mittleres ausgelassen ist.« 497 Wenn man ihm einwendet, dass die Teile im Kontinuum nur potentiell und keineswegs aktuell unendlich viele seien, will er erwidern, dass sie doch da seien und nicht so potentiell (bloß möglich, noch nicht eingetreten) wie der Antichrist, sondern potentiell nur in dem Sinn, dass sie nicht von einander getrennt sind. 498 Das schließt den realen Unterschied der Teile keineswegs aus. 499 Alles unterscheidet sich ja nach Wilhelm durch sich selbst, ohne Rücksicht auf abweichende Merkmale. 500 Daher hat er keine Hemmungen, aktual unendlich viele Teile im Kontinuum zu behaupten. 501 Dabei vergisst er freilich, dass sein Beweis des Singularismus aus der Alternative des Einen, einfache oder synthetische Einheit zu sein,448 am aktual Unendlichvielen zusammenbricht, weil er auf eine bestimmte endliche Zahl von Teilen abgestellt war. Diese Charakteristik des Kontinuums ist sehr roh und bleibt hinter dessen feiner Würdigung durch Duns Scotus352 zurück; freilich hatte es dieser leichter als Wilhelm, der sich den von Scotus gepflegten Zugang zu nicht-numerischer Mannigfaltigkeit (23.2) durch sein schroffes Bestehen auf numerischer Einheit als einziger im Seienden mit radikal-singularistischen Konsequenzen von Anfang an verbaut hatte. Mit dieser Rohheit versöhnt er durch ein sonst seltenes Verständnis für die Strukturtheorie des Kontinuums, die Aristoteles im 6. Buch der Physik mit dem Nachweis 236a 7–15 gibt, dass die Menge der Bewegungsphasen Ebd. III c. 15 § 2 Z. 53–57, S. 575 (zu 207b 5–15). O II q. 10, Op. th. V S. 190. 498 Quaestiones variae, utrum mundus potuit fuisse ab aeterno, Op. th. VIII S. 77 (Z. 309 f.) und 78 (Z. 321–328); Expositio in librum Physicorum Aristotelis III c. 15 § 2 Z. 88–100, Op. ph. IV S. 575. 499 O I d. 17 q. 6, Op. th. III 509, 17–510, 6. 500 S. o. Anmerkungen 459–461. 501 Quodlibet 6 q. 10 Z. 70–72. 77–79, Op. th. IX S. 624; Summa totius Logicae p. I c. 50 Z. 25–27, Op. ph. I S. 160; Expositio in librum Physicorum Aristotelis VI c. 13 § 6 Z. 22– 28, Op. ph. V S. 562. 496 497

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eines Dinges bei passender Anordnung kein erstes Element hat. 502 Diese glänzende Einsicht 503 ist oft verkannt worden. 504

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24.3 Die Universalien Die Tat, mit der sich Wilhelm von Ockham in das Buch der Geschichte des Denkens eingetragen hat, ist seine unüberbietbare Steigerung des Singularismus, dass alles ohne weiteres einzeln ist, bis fast zu einer Apotheose jeder einzelnen Sache in ihrer Einzelheit, wofern man die Übertragung des Prädikates »a se«, das gerade erst für Gott oder seine beim Gottesbeweis auszuschließenden ebenbürtigen Konkurrenten eingeführt worden war,451 so mit etwas Übertreibung auf jedes beliebige einzelne Ding202 deuten darf. Diese Tat, die alles von der Voraussetzung einer bestimmenden Bedeutung für seine Einzelheit befreit, ist zwar ein Irrtum (s. o. die Überleitung und 21.1), hat aber dem abendländischen Denken der folgenden Jahrhunderte den Weg gewiesen. Aus der Emanzipation der Einzelheit von der Bedeutsamkeit schöpften die Naturwissenschaften den Mut, ihr mit Gedankendingen konstruiertes theoretisches Gebäude auf einen dürftigen Ausschnitt der unwillkürlichen Lebenserfahrung, der den vielsagenden Eindrücken durch Reduktion auf experimentell und statistisch brauchbare Merkmalklassen in Demokrits Manier (9.1) abzüglich der Bedeutsamkeit vielsagender Eindrücke abgewonnen worden war, als einzige Prüfungsinstanz zu gründen. Kant ist ein Epigone der von Wilhelm vollbrachten Zerlegung gegenständlicher Bedeutsamkeit in Dinge an sich (a se) und Zuschreibungen des Verstandes an sie, ebenso Nietzsche mit seinem von Wilhelm vorbereiteten203 Projektionismus, der jede Bedeutung als etwas für eine vom Subjekt in die gleichgültige Welt der Gegenstände hineingespiegelte Projektion hält. Wilhelms oben (21.4) behandelte Ablehnung einer realistischen Auffassung der Universalien, die ihm den unzutreffenden Ruf eines 502 Ebd. Z. 80–84 (S. 564), vgl. Quaestiones in libros Physicorum q. 70, Op. ph. VI S. 503 f. Z. 93–109. 503 Wenn Kant den Gedanken einer geordneten Menge ohne erstes Element gefasst hätte, hätte er den »Beweis« der Antithesis der 1. Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft bezüglich der Zeit nicht führen können. 504 Vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 1, Bonn 1985, S. 3 f. Zu den Verständnislosen gehören auch Plotin VI 1 [42]16, 19–25 und Sextus Empiricus Adversus Mathematicos 10, 139–141.

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Nominalisten, ja des Vorkämpfers und Namengebers des spätmittelalterlichen Nominalismus (Occamismus) eingetragen hat, muss in diesen größeren Zusammenhang gestellt werden. In der Verwerfung der Universalien ist er sich mit Thomas von Aquino und Duns Scotus einig (21.3), und mit Recht beruft er sich in dieser Sache auf seine Übereinstimmung mit Thomas,208 der seinen Singularismus in gewissermaßen naiver, unpolemischer Weise teilt; nur die polemische Tendenz kommt bei Wilhelm hinzu, als Feldzug gegen jede Anfechtung der Absolutsetzung des Einzelnen. Eigentümlich ist ihm aber, was er an die Stelle der Universalien setzen will. Die drei Theorien, die er mit einer gewissen Nonchalance dem Leser zur Auswahl stellt, wurden unter 21.4 skizziert:210 die Fiktionstheorie, wonach das Universale gar keinen Realitätswert hat, sondern in der Seele bloß erdichtet wird; die Intellektionstheorie, wonach es ein realer Zustand der Seele, nämlich eben das Vorstellen des Universale ist; 505 drittens die Idoltheorie, wonach es sich um ein innerhalb der Seele reales Vorstellungsbild handelt, das von diesem Akt hervorgebracht wird. Seine Stellung zu diesen Theorien formuliert er so: »Jede von diesen drei Meinungen erwäge ich als billigenswert, aber welche wahrer ist, überlasse ich dem Urteil anderer. So viel aber halte ich fest, dass kein Universale, wenn es nicht bloß ein Produkt der Konvention (wörtlich: willkürlicher Einsetzung) ist, in irgendeiner Weise außer der Seele existiert. Vielmehr ist alles, was seiner Natur nach von mehreren (Dingen) ausgesagt werden kann, entweder real (subjektiv) oder als bloß vorgestellt (objektiv) im Geist, und kein Universale gehört zur Wesenheit oder Washeit einer Substanz, und entsprechend für die anderen negativen Ergebnisse in den vorangegangenen Untersuchungen.« 506 Man sieht, dass Wilhelm anders als Thomas (21.3) nicht stark an einer Ausgestaltung einer Ersatztheorie interessiert ist, sondern hauptsächlich die Universalien beseitigen will. Die Intellektionstheorie, die das Universale mit dem Denken des Universale identifiziert, wirkt auf den ersten Blick absurd, obwohl Wilhelm sich gelegentlich entschieden hinter sie und gegen die Fiktionstheorie stellt.211 Entweder müsste man ein völlig leeres, gegenstandsloses Denken als Universale (Gattung oder Art) annehmen, oder das Universale würde zum Denken seiner selbst, zum Denken 505 Ipsanmet intellectio O I d. 2 q. 8, Op. th. II S. 291; actus intelligendi quando intelligitur aliquid commune ad plura O I d. 27 q. 2, Op. th. IV S. 205. 506 O I d. 2 q. 8, Op. th. II S. 291 f.

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des Denkens, was einen sinnlosen progressus in infinitum ergibt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnte eine weitere Einteilung der Ersatztheorien durch Wilhelm zeigen: Er gruppiert sie nun in solche, die zwischen dem Menschengeist und den Individuen ein Medium als Ersatz für das Universale annehmen, nämlich entweder die Fiktion der Fiktionstheorie oder die Intellektion der Intellektionstheorie, und solche, die ganz ohne Medium (d. h. ohne Repräsentanten des Universale) auskommen; dann ist das Universale »die verschwommene Erkenntnis selbst, die unmittelbar bezogen ist auf alle einzelnen Dinge, denen sie gemeinsam und allgemein (universalis) ist auf die Weise, die ich anderswo in Berichtsform erklärt habe.« 507 Im Fall der Art Rose würde dann zum Beispiel gelten: »Die Rosen draußen selbst sind Gegenstand des Verstandesaktes ohne irgendein Medium oder etwas anderes, das dem Akt ein Ziel setzt.« 508 Der Gedanke an etwas von der Art Rose würde in diesem Fall diese Art völlig umgehen und sich sogleich an sämtliche einzelnen Rosen wenden; wie er diese ohne den Leitfaden der Art herausfinden und zusammenstellen sollte, wo es doch offensichtlich jeden Menschen überfordert, alle Rosen dieser Welt mit einem Schlag vor sich zu haben, ist gar nicht auszudenken – erst recht nicht in anderen Fällen –, obwohl dann wenigstens die Intellektion eine sinnvollere (wenn auch unerfüllbare) Aufgabe als die hätte, sich im Leerlauf um sich selbst zu drehen. Alle drei Ersatztheorien, die Wilhelm anbietet, setzen, wenn schon kein Universale zugelassen werden soll, mindestens die Ähnlichkeit als Leitfaden der Zusammenstellung von Gattungs- oder Artgenossen voraus, also die Ähnlichkeitstheorie im Sinne von Bochen´ski,130 die sich schon Boethius zu eigen machte (21.2), trotz der unter 21.4 erwähnten großen Schwierigkeiten dieser Theorie. Dazu kommt eine noch größere, die die Ähnlichkeitstheorie vollends entwertet. Sie setzt nämlich dafür, dass sinnvolle Klassifikationen ohne Universalien möglich sind, zweierlei voraus: erstens, dass ähnliche Gegenstände vorliegen, und zweitens, dass ihre Ähnlichkeit bemerkt wird, damit man weiß, welche Gegenstände für die Zusammenstellung in der betreffenden Klasse ausgelesen werden sollen. Die bei der Zusammenstellung leitende Ähnlichkeit muss aber in mehr als

507 508

O I d. 27 q. 3, Op. th. IV 242, 15–243, 5. Ebd. S. 254.

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einem Fall bemerkt werden, sofern die betreffende Klasse mehr als zwei Elemente haben soll. Also werden mehrere Fälle von Ähnlichkeit benötigt, und dann ist diese Ähnlichkeit ein Universale, eine Art oder Gattung von Fällen. Die Ähnlichkeitstheorie ersetzt so wenig die Universalien, dass sie selbst solche benötigt und voraussetzt, wenn man sich nicht mit lächerlich kleinen Begriffsumfängen begnügen will. Wilhelm möchte sich aus der Schlinge befreien, indem er eine rein extensionale Auffassung der Ähnlichkeit einführt, allerdings zur Erwiderung auf einen Einwand, der mit dem dargelegten Zirkel nichts zu tun hat: »Ich sage, dass die Ähnlichkeit entweder ein Relativbegriff ist, der mehrere Dinge zusammen bezeichnet, oder sie ist mehrere Absoluta zusammen. So wie ein Volk mehrere Menschen ist und kein Mensch ein Volk ist, so ist die Ähnlichkeit (unter weißen Dingen) mehrere Weiße und kein Weißes ist Ähnlichkeit.« 509 Hier interessiert nur die zweite, im Geist des Occam’schen Extensionalismus 510 konsequente Seite der Alternative: Der menschliche Geist, der einen Leitfaden sucht, um eine Klasse von Gegenständen zusammenzustellen und abzugrenzen, wird mitten unter die kompakten Gegenstände geworfen und ohne den Leitfaden irgendeiner Bedeutung, eines Ausleseprinzips, allein gelassen. Da hilft es auch nichts, wenn Wilhelm die Ähnlichkeit durch absolute Eigenschaften ersetzen will, beispielshalber im Fall der Ähnlichkeit der Farbe dadurch, dass Sokrates weiß ist und Platon weiß ist.457 Vielmehr ist die Bereitschaft, von beiden Männern mit gleichen Worten zu sprechen, dadurch gerechtfertigt, dass die betreffende Ähnlichkeit zwischen ihnen bemerkt wird. Ohne die Anerkennung realer Universalien, an die man sich bei der Verteilung von Prädikaten halten kann, ist also kein sinnvoll ordnendes Denken möglich.

24.4 Das Subjekt Die Kappung der Zusammenhänge, die Verbannung der Relationen ist auch die Grundlage der Erkenntnistheorie Wilhelms, in die er mit dem Beispiel der Art, wie Gott erkennt, einführt: »Wenn es heißt ›Gott ist beim Denken der Kreatur‹, dann ist das Wort ›denkend‹ ein Relativausdruck und bezeichnet nichts Vorstellbares außer der gött509 510

Quodlibet 6 q. 15 Z. 67–74, Op. th. IX S. 638 f., Erwiderung auf Z. 2–11, ebd. S. 636. S. o. Anmerkungen 458–465.

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lichen Denkung (intellectio) und der Kreatur selbst.« 511 »Und ich sage, dass Gott ebenso real die Kreatur erschafft, erhält und denkt wie die Sonne real Wärme bewirkt und deswegen so real bezogen wird. Und wenn gesagt wird, dass dann folglich eine reale Relation in Gott ist, sage ich wie früher, dass ebenso, wie weder in der Sonne noch im Weißen eine Relation ist, wie aus Früherem ersichtlich, so auch in Gott keine Relation ist. Der Grund ist, dass Relationen keine solchen Sachen sind, wie sich andere einbilden. (…) Vielmehr gibt es außer den Zeichen selbst, die in sich gewisse abgelöste (absolute) (Gegenstände) sind, und den bezeichneten Absoluta selbst entweder irgendein Zeichen, das in sich absolut ist, jedoch relativ genannt wird, weil es durch Mitbezeichnung irgendetwas anderes einbringt, oder auf irgendeine andere Weise.« 512 Wie bei seiner Einführung des Projektionismus203 ersetzt Wilhelm also auch beim Erkennen und Wirken (Gottes oder der Sonne) Relationen durch Bezeichnungsweisen von Zeichen, die Dinge an sich sind wie das Bezeichnete und gewissermaßen angeben, wie etwas ohne Beziehung auf etwas ist und nebenbei (connotando) noch auf etwas anderes bezogen wird. Die Angabe einer Beziehung kommt nach ihm ohne wirkliche Beziehung aus. Geschichtsträchtig ist diese seltsame Verweigerungshaltung, weil sie das Immanenzdogma vorbereitet, nach dem das Subjekt in seinem Bewusstsein wie in einer Festung eingeschlossen ist, ohne die Brücke einer Beziehung zu den Gegenständen schlagen zu können; dieses Dogma, das aus der Antike (Skeptiker, Kyrenaiker) stammt, setzt sich von Descartes bis zu Husserl, den Sartre zu Unrecht als Überwinder dieser von ihm verachteten »Verdauungsphilosophie« ausgab, bei vielen Denkern wie eine selbstverständliche Wahrheit fest, krass zum Beispiel bei Fichte (Die Bestimmung des Menschen, 2. Buch), aber auch bei Leibniz, Kant und ihren Nachfolgern. 513 Wie sehr schon Wilhelm darin befangen ist, zeigt seine Theorie der Fiktionen: »Wer im Geist Lager, Berge und Lügen erdichtet, verursacht im Geist wahre Qualitäten, denen dennoch nichts in der Sache entspricht – dass irgendetwas entspricht, wird dennoch ausgedrückt –, und deswegen heißt so etwas Fiktum und Lüge.« 514 Der Gedanke steht demnach als O I d. 35 q. 4, Op. th. IV 471, 20–22. Ebd., Op. th. IV 477, 5–17. 513 Vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 88–92. 514 Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis q. 1, Op. ph. VI 400–404, das Zitierte Z. 65–68. 511 512

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Qualität im Geist so unverbunden neben seinem Gegenstand, dass es nur von dem Zufall, ob etwas Entsprechendes existiert, abhängt, ob er überhaupt einen Gegenstand hat, wenn ihm auch ein solcher nachgesagt wird, oder ob er eine in sich abgeschlossene Qualität ist wie eine Farbe. An die Stelle des genuinen Gegenstandsbezuges des Gedankens tritt die kausale Einwirkung des Gegenstandes auf den Verstand: »Ich sage, dass das Objekt, das den Verstand in Bewegung setzt, das abgeschnittene Einzelne ist. Und ich sage, dass jedes Einzelne zum Bewegen des Verstandes taugt, weil jedes Einzelne durch intuitive Kenntnis eingesehen werden kann, soweit es sich aus der Natur unserer Seele und unseres Verstandes ergibt. Aber zur intuitiven Erkenntnis gehört, dass die erkannte Sache selbst intuitiv die Auffassung im Verstand (intellectio) erzeugt, weil jene Sache sonst nicht auf natürliche Weise intuitiv erkannt würde; daher ist jedes Einzelne geeignet zum Beweger des Verstandes selbst zu der intuitiven Erkenntnis seiner (des betreffenden Einzelnen) selbst.« 515 Wie Duns Scotus lehrt Wilhelm also die intuitive Intelligibilität (Einsehbarkeit für den Verstand) jedes Einzelwesens, aber aus umgekehrtem Grund: Bei Scotus ist dieser Grund die Auflösung der Sache in lauter intelligible Bestimmungen (23.4), bei Wilhelm die kompakte, keiner solchen Auflösung fähige Absolutheit jeder Sache, die den Verstand kausal gewissermaßen mit sich füttert. Demgemäß »kann eine beliebige Sache in sich erkannt werden, so dass nichts anderes, sei es bloß vom Verstand oder aus der Natur der Sache heraus unterschieden, dem Akt des Verstehens den Gegenstand gibt als eben diese Sache selbst, egal, ob sie abstraktiv oder intuitiv erkannt wird.« 516 Wilhelm stellt sich hiernach vor, dass die Erkenntnis die erkannte Sache selbst aufnimmt, sozusagen schluckt, wie den Schlaraffen gebratene Tauben in den Mund fliegen, aber nicht etwas an ihr oder von ihr auffasst. Dieses Geradezu-Erkennen gleicht dem Sehen, das geradezu diese eine Sache wahrnimmt und dabei von allem anderen absehen kann: »Die Kreatur kann verstandesmäßig vollkommen erfasst werden, ohne dass Gott erfasst wird, so wie sie mit körperlichem Auge vollkommen gesehen werden kann, ohne dass Gott gesehen wird.« 517 Allerdings ist wie nach Scotus427 durch den gegenwärtigen gebrech515 516 517

O I d. 3 q. 8, Op. th. II 540, 6–13. O I d. 3 q. 2, Op. th. II 401, 15–18. Quodlibet 6 q. 8 Z. 32 f., Op. th. IX S. 631.

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Das Subjekt

lichen Zustand des menschlichen Geistes dessen Empfänglichkeit für Fütterung durch den Gegenstand stark eingeschränkt: »Im gegenwärtigen Zustand, woher er auch kommen mag, ist nichts fähig, den Verstand zur Erkenntnis seiner (des Objektes) selbst zu bewegen, außer der sinnlichen Qualität draußen, oder mindestens dem unmittelbar Sinnlichen, und gewissen Dingen innerhalb der Seele, nämlich Tätigkeiten und Affektionen (actus et passiones) und allenfalls der Verstandesseele selbst, und zwar, sofern sie im gegenwärtigen Zustand intuitiv von sich selbst gesehen werden kann.« 518 Das ist Locke avant la lettre: Auf der Grundlage von sensation und reflexion, äußerer und innerer Wahrnehmung, der vorsichtig über Locke hinaus ein Anteil an Erkenntnis dessen, was dieser die Seelensubstanz genannt hätte, in Aussicht gestellt wird, kommen Einzeldinge und ihre Verknüpfungen vor das Forum des Verstandes, ohne dass Notiz davon genommen wird, dass nicht Dinge, sondern etwas über Dinge, Tatsachen, erkannt werden; was bei ganz und gar negativen Erkenntnissen (etwa durch deductio ad absurdum), dass etwas überhaupt nicht der Fall sein kann, erkannt sein soll, ist auf dieser Grundlage schwer zu sagen. Den Gipfel auf der Subjektseite erreicht Wilhelms Fanatismus der Absolutsetzung im Gedanken der Überflüssigkeit des Subjekts, der zur These völliger Subjektlosigkeit (mit der Folge von Objektlosigkeit) erst im Empiriokritizismus des späten 19. Jahrhunderts systematisch ausgearbeitet worden ist. Wilhelm geht davon aus, dass Gott jedes Absolute ohne jede Sache, die nicht damit identisch ist, erschaffen kann. 519 Da für ihn (nach Tilgung der Relationen) jede Sache absolut ist,202 ergibt sich, dass Gott jede Sache ohne jede andere erschaffen kann, und das kommt den Akzidentien zugute,452 die ja schon nach dem Wilhelm autoritativ vorliegenden Transsubstantiationsdogma auch isoliert, ohne tragende Substanz (als Quantität des Brotes ohne Brot nach der eucharistischen Wandlung) vorkommen: »Das Akzidens hängt ab vom Subjekt als äußerlichem Grund. Aber Gott kann jede Kausalität eines äußerlichen Grundes aufheben und ersetzen, so dass das Subjekt keine Kausalität für das Akzidens hat, und folglich kann er aus demselben Grund, aus dem er ein Akzidens ohne Subjekt machen kann, auch (irgend)ein anderes (machen). Wenn er also die Quantität des Brotes ohne Subjekt machen kann, 518 519

O I d. 3 q. 8, Op. th. II 541, 3–7. O II q. 15, Op. th. V 342, 10 f.

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Wilhelm von Ockham

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dann auch die Qualität. Aber da gibt es gewisse Zweifel. Erstens, dass Gott, wenn das stimmt, auch den Verstandes- und Willensakt (intellectionem et volitionem) ohne Subjekt machen könnte, weil jedes von beiden ein absolutes Akzidens ist. Das aber ist unmöglich, also usw.« 520 Diesen Zweifel wischt er weg: »Zum ersten Zweifel sage ich, dass ein geistiges Akzidens ohne Subjekt durch Gottes Macht kein größerer Widerspruch als ein körperliches ist, weil das eine nicht mehr als das andere vom Subjekt abhängt. Daher gebe ich die Folgerung des ersten Argumentes zu.« 521 Nach Wilhelm ist es also möglich, dass ein Denken oder Wollen ohne denkendes und wollendes Subjekt existiert. Das ist beinah eine Vorwegnahme des Einwurfs von Lichtenberg gegen Descartes: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.« 522 Die Empiriokritizisten Avenarius und Mach haben daraus ein philosophisches System gemacht. Mit den Worten Machs: »Das Ich ist unrettbar.« 523 »Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, dass das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt.« 524 Die Radikalität seines Singularismus und Konstellationismus führt Wilhelm in die Nähe eines Physikalismus, der die Subjektivität ebenso wie die Dinge auslöscht und nur noch Verbände von Ereignissen – scholastisch gesprochen: absoluten Akzidentien – übrig lässt, für die es keinen Unterschied mehr macht, ob sie physisch oder psychisch sind.

520 521 522 523 524

O IV q. 9, Op. th. VII 154, 17–155, 6. Ebd. S. 155, 15–18. Georg Christoph Lichtenbergs vermischte Schriften Band I, Göttingen 1853, S. 99. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, 7. Auflage Jena 1918, S. 20. Ebd. S. 19.

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25. Meister Eckhart und die Folgen

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25.1 Das Sein Vormals wollte Pater Denifle Meister Eckhart als undisziplinierten Epigonen des Thomas von Aquino entwerten. 525 In der Tat ist der Meister Epigone der philosophischen Autoritätsfigur seines Ordens und mit dieser in seinem Denken eng verflochten; aber eine Entwertung verdient er dafür nicht, denn so wenig ist er ein entarteter Schüler des Meisters, dass er vielmehr als der Vollender des Thomismus gelten darf, der den Grundgedanken der Metaphysik des Thomas enthüllt und zur Reife gebracht hat, während dieser, um seinen Spinozismus in seinem Christentum zu verstecken, unhaltbare Formelkompromisse einging. An die Spitze der Thesen im Entwurf seines geplanten Hauptwerkes stellt Eckhart den Satz: »Das Sein ist Gott.« 526 Das aber ist die originelle Gottesidee des Thomas: Gott ist das Sein selbst, das an sich besteht (ipsum esse subsistens). 527 Er verwahrt sich aber gegen die Identifizierung dieses Seins mit dem Sein im üblichen Sinn, von dem man spricht, wenn man sagt, dass irgendwelche Sachen sind, dem formalen oder gemeinsamen Sein (esse formale, commune). 528 Stattdessen konzediert er den geschaffenen Wesen nur eine Teilnahme durch Ähnlichkeit am Sein, das 525 H. S. Denifle, Meister Eckharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre, in: Archiv für Literatur und Kirchengeschichte des Mittelalters 2, 1886, 417– 652. 526 Meister Eckhart, Die lateinischen Werke Band I, Stuttgart 1957–1964, S. 156 Z. 11: »Prima ergo propositio est: Esse est Deus.« Ebenso Expositio sancti Evangelii: secundum Johannem, Die lateinischen Werke Band 3, Stuttgart 1936–1953 S. 465 Z. 11: deum, qui est ipsum esse; S. 474 Z. 7: Esse autem deus est et ab ipso solo est; S. 533 Z. 10: Deus enim esse est. Ebd. S. 181 Z. 4: Nichts ist außer Gott. Quomodo enim esset quippiam praeter esse? Sermo IV 1, Die lateinischen Werke Band IV: Lateinische Predigten, Stuttgart 1937–1956, S. 24 Z. 15: Esse autem a solo deo est, et ipse solus est esse. 527 Summa theologiae, Teil I, q. 4 a. 2c., q. 7 a. 1c., q. 8 a. 1c., q. 14 a. 9 ad 2, q. 44 a. 1c. 528 Summa contra gentiles I c. 26; Summa theologiae Teil I q. 3 a. 4 ad 1.

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Meister Eckhart und die Folgen

Gott ist. 529 Woher soll aber die Kreatur das Sein nehmen, das sie braucht, um Gott nachzuahmen, wenn das Sein als ein Block, der Gott ist, von dem nichts abgeschmolzen werden kann, an sich besteht? Thomas will, wie ich mich in Kapitel 22.1 ausgedrückt habe, den Kuchen (Sein) essen und behalten: ihn essen lassen von den Kreaturen, damit sie sind, und ihn Gott vorbehalten, insofern dieser das Sein selbst ist, das an sich und nicht als das gemeinsame Sein der Kreaturen besteht. Eine seltsame Hypostase ist dieses integre, blockhafte, parmenideische Sein, das Sein nicht von irgendwelchen Seienden ist, sondern nur von dem Seienden, das es selbst ist, gegen das der sonst für Thomas maßgebliche Aristoteles sich heftig wehrt. 530 Thomas scheint sich selbst nicht klar gemacht zu haben, wie er sich die Ermächtigung der Dinge zum Sein durch Nachahmung des Seins, das Gott ist, zurechtlegen soll; ich finde dazu in seinem Werk nur eine schüchterne Andeutung an versteckter Stelle: »Nicht nämlich weil die Dinge auf verschiedene Weise die göttliche Essenz nachahmen, schaut sein (Gottes) Verstand sie (diese Essenz) als auf verschiedene Weise nachahmbare an, sondern eher umgekehrt.« 531 Eher ist hiernach Gottes Tätigkeit, mit dem Verstand das eigene Wesen zu beschauen und dabei für vielfältig nachahmbar zu erachten, Ursache der Ähnlichkeit, wodurch die Dinge an Gott als dem Sein teilnehmen, also sind, als umgekehrt die nachahmende Leistung der Dinge Ursache der betreffenden göttlichen Selbstanschauung ist. Das mag so sein, aber was die bloße Intuition Gottes, wie vielfach man seine Essenz nachahmen kann, zum Sein der Dinge beiträgt, bleibt offen, und Thomas lässt es mit »eher« offen. Die Spaltung des Seins in einen Block, der Gott ist, und ein gemeinsames Sein aller Dinge, die sind, wird von Eckhart folgerichtig beseitigt, folgerichtig, weil damit die Halbheiten und Verwirrungen dieses Opfers an die vom christlichen Dogma geforderte Transzendenz Gottes entfallen. »Gott ist nicht etwas Unterschiedenes und irgendeiner Natur Eigenes, sondern allen gemein (commune omnibus). Beweis dafür ist das Seiende selbst, Gottes Effekt, das nicht in einer Gattung und keiner Gattung eigentümlich ist, sondern jeder Gattung gemein.« 532 »Gott ist Liebe, erstens, weil Liebe gemeinsam 529 Summa theologiae Teil I q. 14a. 9 ad 2: »Da Gott das Sein selbst ist, ist ein Jegliches, insofern es teilnimmt durch Ähnlichkeit mit Gott.«. 530 Metaphysik 1040b 16–24, 1053b 25–28. 531 Sentenzenkommentar Buch 1 d. 35 q. 2 a. 2 ad 3. 532 Johannes-Kommentar (s. Anm. 526) S. 88 Z. 13–89 Z. 4.

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Das Sein

ist und keinen ausschließt. Beachte zweierlei aus dieser Gemeinsamkeit: erstens, dass Gott gemeinsam (communis) ist: Alles Seiende und jegliches Sein aller ist er selbst, in ihm, durch ihn und von ihm selbst. (…) Zweitens beachte, dass alles Gemeinsame als solches Gott ist und alles nicht Gemeinsame als solches nicht Gott, sondern geschaffen. Jegliche Kreatur aber ist etwas Endliches, Begrenztes, Unterschiedenes und Eigenes, und so ist sie schon nicht mehr Liebe; Gott aber, durch sich als ganzen gemeinsam, ist Liebe.« 533 Auch Thomas betont die Unbestimmtheit Gottes256 außer jeder Gattung228 und ohne (mit Negation als Einschränkung erkauften) Unterschied,258 aber er belässt es bei diesem negativen Merkmal,257 das er aus der Ontologie in die Erkenntnistheorie von der Unzulänglichkeit unseres Fassungsvermögens hinüberspielt;261 Eckhart dagegen fasst das Fehlen unterschiedlicher Eigentümlichkeit als Kehrseite der positiven Eigenschaft auf, sich mit allem gemein zu machen, alles in allem zu sein, was Paulus erst für das Ende der Welt in Aussicht stellt. 534 Diese Ergänzung wird ihm dadurch erleichtert, dass er den Seinsbegriff schärfer als Thomas fasst, der das Sein im Sinne der 10 Kategorien – das Ansichsein nach Aristoteles 535 – mit dem Beispiel des Leuchtens als Sein des Leuchtenden belegt,239 also Sein und Beschaffenheit nicht klar trennt. Eckart versteht das Sein dagegen als Existenz im Sinn der Frage, ob (nicht was) etwas ist. 536 Von dem so verstandenen Sein kann man sagen, dass es allem, was ist, ohne Rücksicht auf dessen besondere Beschaffenheit zukommt und selbst keine solche Beschaffenheit hinzubringt. Während Gott allem gemeinsam ist, besteht er zugleich auch abgelöst (absolute), ebenso wie der Geist nach Anaxagoras ebenso überall wie unvermischt, selbstherrlich und allein bei sich ist. 537 Eckhart kleidet als Dominikaner, der den Primat des Verstandes (intellectus) vor dem Willen verteidigt, diese Absolutheit in ein Lob des Verstandes ein: »Das formale Objekt des Willens (…) ist das Gute. Das Objekt des Verstandes aber ist das nackte Seiende, einfach und abgelöst, früher, einfacher und vorzüglicher nicht nur als das Gute, sondern auch als das Wahre und das Eine (…). Demnach ist klar, dass Lateinische Predigten (s. ebd.) S. 51, 6–52, 6 (Sermo VI 1). 1. Korinther 15, 28. 535 Metaphysik 1017a 22 f. 536 Lateinische Schriften Band II, Stuttgart 1954–1992, S. 575: Was ohne Gott und also ohne Sein ist, ist nichts, d. h. ohne ob es ist (an est) (Expositio libri Sapientiae 13, 1). 537 Vgl. Band I S. 108. 533 534

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Meister Eckhart und die Folgen

die nackte Substanz Gottes, die Fülle des Seins, die unsere Seligkeit ist, Gott nämlich, besteht, wird gefunden, angenommen, angerührt und ausgeschöpft durch den Verstand.« 538 Zwischen beiden Seiten Gottes, der nackten Reinheit und der Gemeinsamkeit mit allem, vermittelt das für Eckhart zentrale Motiv des ewigen Anfangs im Bilde der innertrinitarischen Zeugung: Gott ist in einem zeitlos beständigen Übergang des Sichergießens, des Hineingeborenwerdens oder sich Hineingebärens in alle Dinge in Gestalt seines Sohnes, des Wortes, das nicht nur – nach dem Prolog des Johannesevangeliums – im Anfang war, sondern immer im Anfang ist. 539 Dies ist das Motiv der gefrorenen Geburt, von der schon Damaskios gesprochen hat. 540 In den deutschen Predigten wird es auf den Menschen und seine Seele bezogen: »Gott gibt sich der Seele immerfort und in fortwährendem Werden. Er sagt nicht: ›Es ist geworden‹ oder ›Es wird werden‹, sondern: es ist immerfort neu und frisch wie in einem Werden ohne Unterlass.« 541 »›In principio‹ : Damit ist uns zu verstehen gegeben, dass wir ein einiger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat aus dem verborgenen Dunkel ewiger Verborgenheit (und doch) innebleibend im ersten Beginn der ersten Lauterkeit, die da eine Fülle aller Lauterkeit ist. (…) Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf dass ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin.« 542 Ein anderer Vermittlungsversuch Eckharts zwischen Gottes unterschiedsloser Gemeinschaft mit allen Dingen und seiner Einzigartigkeit besteht in der These, dass er eben durch seine Ununterschiedenheit sich von allem unterscheidet; 543 dieser »Trick«, den schon Plotin auf das Eine anwendet, 544 genügt vielleicht nicht, um Gott einen Vorsprung vor dem Sein, das als Existenz oder Wirklichkeit bereits auf alle Dinge verteilt ist, zu verschaffen. Im ewigen Anfang, sich mit allem gemein zu machen, ergießt 538 Johannes-Kommentar, s. o., S. 591 Z. 4–11. Der letzte Satz ist im Lateinischen ungrammatisch konstruiert. 539 Ebd. S. 8, 10–9, 9. 540 Vgl. Band I S. 384. 541 Die deutschen Werke, Predigten hg. v. J. Quint (im Folgenden abgekürzt: DP), Band I S. 511, wie bei allen folgenden Zitaten ins Neuhochdeutsche übersetzt von J. Quint (Predigt 20b: Homo quidam fecit cenam magnam). 542 Ebd. S. 518 (Predigt 22 Ave gratia plena). 543 Johannes-Kommentar S. 85 Z. 13 f., wo von den Herausgebern Parallelstellen angegeben sind. 544 Enneaden VI 9 [9] 8, 34.

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Das Sein

sich das Sein, das Gott ist, nicht nur in die Seele oder den Menschen, den es als sein eigener Sohn innertrinitarisch zeugt, sondern gleichermaßen in alle Dinge: »Gott gibt allen Dingen gleich, und so wie sie von Gott fließen, so sind sie gleich. (…) Hier in der Gleichheit ist’s Gott so lustvoll, dass er seine Natur und sein Sein in sich selbst in dieser Gleichheit gänzlich durchströmt.« 545 Gottes Natur, Sein und Leben besteht darin, sich mitzuteilen und sich als ganzen zu geben. 546 Daher ist es nicht nötig, ihm dafür zu danken, weil er uns liebt, denn das muss er, diese Notwendigkeit lastet auf ihm. 547 Mit der Konzeption Gottes als des in alle Dinge sich frisch ursprünglich ergießenden Seins wischt Eckhart mit einem Schlage die christliche Gnadenlehre weg, den aus Angst geborenen Jubel des sich unverdient gnädig von Gott angenommen wissenden Sünders. An die Stelle sehnenden Begehrens solcher Auszeichnung tritt die Aufgabe, sich zur Aufnahme des unvermeidlich in Liebe und Gnade sich hingebenden Gottes zu rüsten, damit das Geschenk auf empfänglichen Boden fällt: »Gott ist nicht zu bitten, dass er uns das Licht seiner Gnade einflöße und irgendetwas dergleichen, sondern dies ist zu erbitten, dass wir würdig seien, anzunehmen. Gott gibt immer oder nie, allen oder keinem.« 548 In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Vielseitigkeit göttlicher Ergießung steht bei Eckhart die Verpönung der Vielheit als Abfall von Gott, dem Sein, ins Nichts, zum Teufel und zum Schlechten 549 gemäß dem Satz, dass das Seiende mit dem Einen konvertibel (unzertrennlich zusammengehörig) ist 550 . Eckhart teilt diesen Satz mit Thomas von Aquino,440 fasst seinen Sinn aber viel schärfer als dieser, nämlich so, dass Einheit und Vielheit gänzlich unvereinbar sind: Aus Einem geht nur Eines hervor, es hat nichts außer Eines in sich, kann nicht Vieles hervorbringen, denn wie sollte es geben, was es nicht hat? Vieles kann nur von Vielem kommen, aber Vieles kann gar nicht DP I 477 f. (Predigt 12: Qui audit me). Lateinische Schriften Band IV S. 55 Z. 1 f. (Predigt VI, 1). 547 Ebd. Z. 5 f. 548 Ebd. S. 56 Z. 1–3. 549 Johannes-Kommentar S. 456, 10–457, 5; ebd. 533, 5–10; Lateinische Werke Band V S. 81 (Pariser Quaestio 1312/14: Utrum in corpore Christi morientis in cruce remanserint formae elementorum), fasciculum 2 Stuttgart 1936. 550 ens et unum convertuntur: Lateinische Werke V 81 (s. o.), III (Johannes-Kommentar) S. 533 Z. 8 und 457, 2 f., wo das Axiom benutzt wird, um die Vielheit als Abfall vom Sein (nicht nur vom Seienden) zu erweisen: (Multitudo) casus est ab esse, nam ens et unum convertuntur. 545 546

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Meister Eckhart und die Folgen

hergegeben werden, denn was nicht Eines ist, ist nicht. 551 Deswegen hat Gott Vater nur einen einzigen Sohn, dieser nur einen einzigen Vater. 552 Im Einen ist schlechterdings keinerlei Unterschied. 553 Diese Verleugnung und Verdammung des Vielen passt mit der vielseitigen Geburt Gottes als des Seins in allen Dingen nur durch das Prinzip der gefrorenen Geburt540 zusammen: Gott als das Sein ist ewig dabei, sich in alle Dinge zu ergießen, aber ewig erst im Anfang, so dass das fertige Sein des Vielen nie zustande kommt. Für die würdige Aufnahme des sich ergießenden Gottes durch den Menschen bedeutet das: »Wer um dies-und-das bittet, weiß nicht, was er erbittet, denn er erbittet Schlechtes und schlecht. Dies-und-das nämlich schmeckt nach Negation, die realiter Vielheit einschließt. Die Negation dieser Negation ist das Eine, ich meine: das Eine, das mit dem Seienden konvertibel ist. Daher fällt Dies-und-das vom Einen ab. Gott aber ist Einer, laut Deuteronomium 6, Galater 3. Es fällt also von Gott ab, fällt ab vom Sein.« 554 Um der Aufnahme des sich ergießenden Gottes würdig zu sein, darf man seine Wünsche, Sorgen und Geschäfte nicht schweifen lassen, sondern muss sich mit Jesus gegen Martha an das Eine halten, das nottut (Lukas 10, 41). Aufnahmefähig für Gnade oder irgendwelche Vollkommenheit ist ein Geschöpf nicht als dies und das, sondern nur nach Abkehr von jeder Rücksicht auf sich oder ein anderes Geschaffenes oder Dies-und-das bloß in Hinwendung zu Gott. 555 Die Ontologisierung Gottes, die Eckhart von Thomas mit der These »Gott ist das Sein« übernimmt, bringt für Gott die Gefahr mit sich, im Sein zu verschwinden, wie Hegel ausmalt: »Um das Gesagte durch Beispiele zu erläutern, so ist in dem Satz Gott ist das Sein das Prädikat das Sein; es hat substantielle Bedeutung, in der das Subjekt zerfließt. Sein soll hier nicht Prädikat, sondern das Wesen sein; dadurch scheint Gott aufzuhören, das zu sein, was er durch die Stellung des Satzes ist, nämlich das feste Subjekt. – Das Denken, statt im Übergange vom Subjekte zum Prädikate weiterzukommen, fühlte sich, da das Subjekt verloren geht, vielmehr gehemmt (…); oder es findet, da das Prädikat selbst als ein Subjekt, als das Sein, als das Wesen ausgesprochen ist, welches die Natur des Subjekts erschöpft, 551 552 553 554 555

Johannes-Kommentar III 278, 10–279, 6. Ebd. 19, 12. Ebd. 548, 9. Ebd. 533, 6–10. Lateinische Schriften Band IV S. 241 Z. 11–242 Z. 1 (Predigt 25, 2).

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Das Sein

das Subjekt unmittelbar auch im Prädikate (…).« 556 Solche Preisgabe Gottes an das Sein liegt schon bei Thomas nahe, nach dessen Worten alles Sein von Gott ist, weil er das Sein selbst ist, von dem alles andere sein Sein nimmt;255 das daraus folgende Verständnis der Schöpfung als Emanation des ganzen Seins aus dem allgemeinsten Seienden252 nach Art des Wärme abstrahlenden Feuers253 ist mit dem christlichen Schöpfungsglauben, der eine eigentliche Schöpfungstat statt einer formalen Kausalität Gottes vorsieht, schwer vereinbar. Mit diesem Schöpfungsgedanken nähert Thomas sich Spinoza, und deshalb habe ich ihn unter 22.1 als quantifizierenden Spinozisten bezeichnet. Noch viel weiter mit der Preisgabe Gottes geht in seinen Spuren Eckhart: »Darum bitten wir Gott, dass wir Gottes ledig werden und dass wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglich genießen, wo die obersten Engel und die Fliege und die Seele gleich sind, dort, wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte.« 557 Diese kühne Formulierung ist zu verstehen im Licht der für Eckhart zentralen Ursprünglichkeitsthese, nach der das nackte, einfache, absolute Sein (Gott)538 immer erst damit anfängt oder einsetzt, sich liebend in alles zu ergießen, gleichsam die Dinge intonierend; an die Quelle dieses Intonierens, wo das Sein noch Impuls – er sagt: Wollen – ist, will Eckhart sich zurückversetzen und dabei auch von Gott nicht hindern lassen, sofern dieser zu einer ausgeformten höchsten Sache 558 geronnen ist. Gott als das Sein, das sich allen Dingen gleich gibt,545 ist um dieser Gleichheit willen für Eckhart die Gerechtigkeit, der allein er dienen will, so dass er den ganzen mythologischen Apparat des Christentums – Gott und Teufel, Himmel und Hölle – dagegen für nichts achtet: »Oder sage so: Niemand kann zwei Herren dienen, zum Beispiel: Der Gerechte, der der Gerechtigkeit dient, liebt sie mehr als sich selbst, so dass, trüge das Gerechte die Hölle oder den Teufel in sich, er es dennoch lieben und es ihm dennoch schmecken und ihn erfreuen würde. Und umgekehrt: Wenn das Ungerechte das Paradies, ja Gott selbst mit sich brächte, so würde es ihm doch nicht schmecken.« 559 556 Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wessels und Clairmont, Hamburg 1988, S. 46 (aus der Vorrede). 557 DP II 728 (Predit 52 Beati pauperes spiritu). 558 Der una summa res laut Fixierung des Trinitätsdogmas auf dem 4. Laterankonzil 1215 (Denzinger und Bannwart, Euchiridion Symbolorum, 16./18. Auflage Freiburg i. Br. 1928, S. 191). 559 Lateinische Werke Band IV S. 298 Z. 9–12 (Predigt 34, 2).

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Meister Eckhart und die Folgen

25.2 Der Mensch

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Jeder Freund Gottes ist sein Sohn. 560 »Wo der Vater seinen Sohn in mir gebiert, da bin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer; wir sind wohl verschieden im Menschsein, dort aber bin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer. (…) Darum sind wir hierin Sohn und sind derselbe Sohn.« 561 Mag Gott auch so viele Söhne haben, wie es heilige Menschen gibt, sie sind immer derselbe Sohn, nämlich im Ursprung,557 und so bleibt es dabei, dass der eine Vater nur einen Sohn hat.552 Alle frommen und göttlichen Menschen sind als solche in Christus und Gott ein einziges Wesen, wie die Glieder ein Körper sind, 562 zwar persönlich andere, aber unpersönlich nicht ein anderes der Natur nach, 563 alius non aliud wie die drei göttlichen Personen nach der Formel des offiziellen Trinitätsdogmas,558 die Eckhart auf das Vater-Sohn-Verhältnis anwendet. 564 Trotz persönlichen Unterschiedes 565 sind Vater und Sohn im Wesen Eines, 566 und im Einen ist gar kein Unterschied. 567 Dass der Sohn einer ist, nicht mehrere Söhne, liegt daran, dass der Vater durch sich als ganzen im Sohn ist. 568 Wahre Vaterschaft gibt es nur im Einfachen, denn nur dort ist das Ganze aus dem Ganzen: »Der Gerechte« nämlich bezeichnet bloß die Gerechtigkeit. 569 Was er ist, das ist er mit sich als ganzem von ihr, durch sie und in ihr. 570 Niemand ist gerecht, außer als gezeugt von der Gerechtigkeit und ihr Sohn. 571 Eckhart gibt die Lehre von der Gerechtigkeit als den Schlüssel zu seiner Gedankenwelt aus. 572 Darüber äußert er sich an dieser Stelle Lateinische Werke Band III (Johannes-Kommentar) 558, 2. DP I 444 f. (Predigt 4, Omne datum optimum). 562 Johannes-Kommentar 327, 4 f. 563 Ebd. 343, 5 f. 564 Ebd. 132, 10 f. 565 Ebd. 30, 1. 566 Ebd. 20, 2–4. 567 Ebd. 478, 9. 568 Ebd. 447, 5. 569 Ebd. 405, 9 f. 570 Lateinische Schriften Band IV S. 311 Z. 5 f. (Predigt 35). 571 Johannes-Kommentar 404, 14. 572 DP I 453 (Predigt 6, Justi vivunt in aeternum): »Wer den Unterschied (alias den Begriff, die Art und Weise) von der Gerechtigkeit und vom Gerechten versteht, der versteht alles, was ich sage.« Zu »underscheit« vgl. Lexers Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 37. Auflage Stuttgart 1986: »(…) unterscheidendes Merkmal, charak560 561

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Der Mensch

so: »Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dass, wenn Gott nicht gerecht wäre, sie nicht die Bohne auf Gott achten würden; und sie stehen so fest in der Gerechtigkeit und haben sich so gänzlich ihrer selbst entäußert, dass sie weder die Pein der Hölle noch die Freude des Himmelreiches noch irgendetwas beachten. (…) Nichts ist dem gerechten Menschen peinvoller und schwerer, als was der Gerechtigkeit zuwider ist: dass er nicht in allen Dingen gleich ist. Wie das? Kann ein Ding die Menschen erfreuen und ein anderes sie betrüben, so sind sie nicht gerecht; vielmehr, wenn sie zu einer Zeit froh sind, so sind sie zu allen Zeiten froh; sind sie zu einer Zeit mehr oder weniger froh, so sind sie unrecht daran. Wer die Gerechtigkeit liebt, der steht so fest darauf, dass, was er liebt, sein Sein ist; kein Ding vermag ihn davon abzuziehen, und auf nichts sonst achtet er.« Gerechtigkeit ist also völlige und definitive Ausgeglichenheit nach dem Muster Gottes, der allen Dingen gleich545 und sich als ganzen546 gibt, von Gleichgültigkeit nur dadurch unterschieden, dass alles Interesse auf diese Ausgeglichenheit konzentriert ist. Mit der Gerechtigkeit kehrt sich der Gerechte zum Ursprung, wo im Einen kein Unterschied mehr ist.567 Damit gibt er alles Eigene auf, sofern es Dies-und-das und damit Kreatur ist. 573 Eben dadurch lebt er ganz nur aus seinem Eigenen, denn dieses ist der Ursprung, wo er wollte, was er war, und war, was er wollte.557 »Seht, der Mensch, der so ein Sohn ist, der nimmt Bewegung und Wirkung und alles, was er nimmt – das alles nimmt er in seinem Eigenen. Denn, dass der Sohn des Vaters nach der Ewigkeit Sohn ist, das hat er vom Vater her. Was er aber hat, das hat er in sich, denn er ist eins mit dem Vater nach dem Sein und der Natur (…) Und so, wie der Sohn mit dem Vater eins ist nach Sein und nach Natur, so bist du eins mit ihm nach Sein und nach Natur und hast es alles in dir, wie es der Vater in sich hat; du hast es von Gott nicht zu Lehen, denn Gott ist dein eigen. Und folglich, alles, was du nimmst, das nimmst du aus deinem Eigenen; und welche Werke du nicht in deinem Eigenen nimmst, die Werke sind alle tot vor Gott. Das sind die Werke, zu denen du durch fremde Ursachen außerhalb deiner selbst bewegt wirst, denn sie kommen

teristischer Zug, symbolische Bedeutung, Begriff (…) häufig nur phraseologisch die Art und Weise bezeichnend.« Quint übersetzt etwas gewaltsam: »die Lehre«. 573 Lateinische Schriften Band IV S. 242 Z. 8 f. (Predigt 25, 2).

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Meister Eckhart und die Folgen

nicht aus dem Leben; darum sind sie tot; denn nur das (Ding) lebt, das Bewegung aus seinem Eigenen nimmt.« 574 Solche perfekte Einheit, wie die von Gott und der Seele, erfordert auf einer von beiden Seiten pure Passivität. 575 Das ist die Ausgeglichenheit und Leere, aus der sich ein Vermögen ergibt, das Eckhart so beschreibt: »Ich habe es auch sonst schon gesagt: Wäre ich leer und hätte eine inbrünstige Liebe und Gleichheit, so zöge ich Gott vollständig in mich hinein.« 576 Das Vakuum der nackten Subjektivität, die dem Gerechten übrig bleibt, wenn er alles Vertretbare von sich abgetan hat, 577 zieht Gott wie eine Saugpumpe in sich hinein. Der Gerechte, der alles Allotria in demütiger Ausgeglichenheit gelassen hat, zwingt Gott: »Ganz so ist es mit dem recht demütigen Menschen, der allen Kreaturen sich unterworfen hat und sich unter Gott drückt: Gott unterlässt es in seiner Gutheit nicht, sich völlig in einen solchen Menschen zu ergießen, er wird gezwungen dazu, es notwendig tun zu müssen. (…) Der wahrhaft demütige Mensch braucht Gott nicht zu bitten, er kann Gott gebieten, denn die Höhe der Gottheit hat es auf nichts abgesehen als auf die Tiefe der Demut (…).« 578 Der Gerechte hat Gott gefangen. Eckhart schwelgt in der Macht dieses Gefangenhalters: »Gleichviel genügt es dem edlen, demütigen Menschen nicht damit, dass er der eingeborene Sohn ist, den der Vater ewig geboren hat: er will auch Vater sein und in dieselbe Gleichheit mit der ewigen Vaterschaft eintreten und den gebären, von dem ich ewig geboren bin, wie ich im Kloster Mariengarten sprach; da kommt Gott in sein eigen. Übereigne dich Gott, so ist Gott dein Eigen, so wie er seiner selbst Eigen ist.« 579 Im Ursprung ist alles gleich,557 und so kann jeder, der wie der Gerechte dorthin gelangt, jede Rolle übernehmen, z. B. sein eigener Großvater sein, 580 nämlich Vater von Gott

DP II 708 (Predigt 46, Haec est vita aeterna). Lateinische Schriften Band IV S. 111 Z. 2–5 (Predigt XI2). 576 DP II 660 (Predigt 31, Ecce ego Mitto). 577 Ebd. S. 650 (Predigt 28, Ego elegi vos): »Mir kam einmal der Gedanke – es ist noch nicht lange her –: Dass ich ein Mensch bin, das hat auch ein anderer Mensch mit mir gemein; dass ich sehe und höre und esse und trinke, das tut auch das Vieh; aber was ich bin, das gehört keinem Menschen sonst zu als mir allein, keinem Menschen noch Engel noch Gott, außer, soweit ich eins mit ihm bin; es ist eine Lauterkeit und eine Einheit.«. 578 DP I 486 (Predigt 14, Surge illuminare Jerusalem). 579 Ebd. S. 487. 580 So auch ebd. S. 518 (Predigt 22, Ave gratia plena). 574 575

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Der Mensch

Vater, der ihn ewig gebiert, ebenso wie Mitvater mit diesem. 581 Er kann Gott auch mit sich ziehen an Orte, wo man diesen am wenigsten vermuten würde: »Dieser demütige Mensch ist Gottes so gewaltig, wie er seiner selbst gewaltig ist, und alles das Gute, das in allen Engeln und in allen Heiligen ist, das ist alles sein Eigen, so wie es Gottes Eigen ist. (…) Ja bei Gott! Wäre dieser Mensch in der Hölle, Gott müsste zu ihm in die Hölle, und die Hölle müsste für ihn ein Himmelreich sein. Er muss dies notwendig tun, er würde gezwungen dazu, es tun zu müssen; denn da ist dieser Mensch das göttliche Sein, und das göttliche Sein ist dieser Mensch.« 582 Unter der gelassenen Demut des Gerechten blickt ein gewaltiger Wille hervor, der sich von der Gerechtigkeit, die Gott und das Sein ist, im Ursprung ermächtigen lässt: »Wahrlich, mit dem Willen vermag ich alles.« 583 »Nun könntest Du fragen, wann der Wille ein rechter Wille sei? Dann ist der Wille vollkommen und recht, wenn er ohne jede Ich-Bindung (Original: ane alle eigenschaft) ist und wo er sich seiner selbst entäußert hat und in den Willen Gottes hineingebildet und –geformt ist. Je mehr dem so ist, desto rechter und wahrer ist der Wille. Und in solchem Willen vermagst du alles, es sei Liebe oder was du willst.« 584 Das ist der Fall im Ursprung, »wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte.«557 Wie weit die dort zu erlangende Allmacht reicht, sagt Eckhart so: »In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wären weder ich noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch Gott nicht: dass Gott Gott ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht Gott. Dies zu wissen ist nicht nötig.« 585 Die Realisierung eines so weit gespannten Machtanspruchs ist unter empirischen Bedingungen nicht zu kontrollieren. Er hat aber eine praktische Nutzanwendung als Lizenz zum Handeln. Sie ergibt sich aus dem Vergleich der Liebe mit dem Feuer, den Eckhart an eine Betrachtung über die Unschädlichkeit der Wesensform (forma sub581 Johannes-Kommentar S. 500 Z. 8: »Der Vater zeigt sich uns, wenn wir Gottes Mitväter sind.«. 582 DP I 488 (Predigt 15, Homo quidam nobilis). 583 Reden der Unterweisung, Rede 10: Wie der Wille alles vermag, und wie alle Tugenden im Willen liegen, wenn er recht ist, Deutsche Werke Band V S. 215–224, Übersetzung S. 513–515, hier S. 217: »In der warheit, mit dem willen vermac ich alliu dinc.«. 584 Ebd. S. 514, Original S. 218. 585 DP II S. 730 (Predigt 52, Beati pauperes spiritu).

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Meister Eckhart und die Folgen

stantialis) anknüpft: »Es ist also zu bemerken: Die Wesensform, die ja dem, was zusammengesetzt ist, Sein und Bestehen verleiht und darin Göttliches oder Gott spüren lässt, der ist und der das Sein, Quelle und Wurzel alles Seins und Heils oder Bestehens ist, ist keinem entgegengesetzt, keinem feind, keinem beschwerlich, keinem schädlich.« 586 »Dafür ein Beispiel: Die Hitze des Feuers, ausgestrahlt von der Form des erzeugenden Feuers, erstrebt, liebt und sucht von sich aus, etwas Gutes zu sein und zu nützen; Übel aber erstrebt sie nicht, liebt sie nicht, sie hasst es vielmehr von Natur aus. Und weil nun jede Liebe, wie gesagt wurde, aus Erkenntnis stammt, weiß sie vom Übel nichts und kennt es überhaupt nicht. Deshalb kann also die Hitze, da sie das Übel weder liebt noch kennt, auch nicht schlecht genannt werden, selbst wenn sie zerstört und schadet. Denn auch bei uns wird Böses niemandem angerechnet, der es nicht erkennt, nicht will, nicht liebt, sondern hasst. Und das ist der Sinn des Wortes, das oben im siebten Kapitel ausgelegt worden ist: Wer die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und keine Ungerechtigkeit ist in ihm. Er tut ja nicht etwas aus sich selbst, sondern, wie die Wesensform und das Feuer lehrt: der ihn gesandt hat (tut es), wie es oben im achten Kapitel heißt und ich dort bemerkt habe.« 587 Hiernach ist der Gerechte, der analog zur Wesensform aus Gott – dem Sein, der Gerechtigkeit, der Liebe – handelt, legitimiert, gleich dem Feuer zu wüten, zu sengen und zu brennen, ohne dass es ihm als Schuld angerechnet wird. Er vermag nicht nur alles,583 sondern er darf auch alles, indem er in Vollmacht Gottes als der Gerechtigkeit handelt. Dabei ist er völlig selbstsicher und unbeirrbar, wie Eckhart anhand desselben Vergleichs der Liebe (im Gegensatz zur Furcht) mit dem Feuer ausführt: »Ferner beachte, dass weder Furcht noch Strafe ist, wo Liebe ist, aus drei Gründen. Erstens, weil Gott selbst die Liebe ist. (…) Zweitens, weil Gott, die Liebe, ein verzehrendes Feuer ist (Deuterononium 4). Verzehrend, weil alle Dinge in Gott Gott selbst sind, oder verzehrendes Feuer, weil als Liebe oder einzig Geliebtes alles in sich verzehrend, umwandelnd und umformend. Drittens, weil die Liebe so wie die Hitze im Feuer oder wie unter der Form des Feuers Stehendes ist, wo sie nichts von Furcht hat, keine Neigung, kein Verlangen nach Gegenteiligem oder Entgegengesetztem. Da steht die Liebe ohne Grausen in voller natürlicher Sicherheit. Von 586 587

Johannes-Kommentar 465, 9–466, 1. Ebd. 467, 1–9.

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Der Mensch

der Form des Feuers, solange es unter der Wesensform verharrt, wird derartige Hitze niemals weggenommen, sie fällt auch nicht ab, aber wird auch nicht gemindert. Die Furcht aber hat es immer mit irgendeinem Absturz zu tun. Daher hat die Hitze in dem, was bloß heiß gemacht oder vom Feuer angesteckt ist, immer eine Neigung und Anlage zum Gegenteil, sogar auch Beimischung davon, und so Furcht oder Grausen natürlichen Neigens oder Zauderns vom Gegenteil weg oder zum Gegenteil hin.« 588 Sehr fein wird hier die Liebe, die Gott und von Gott ist, als verzehrende Naturkraft, die ohne Rücksicht und Zögern ihren Weg nimmt, der Ambivalenz einer unsicheren Haltung, die wie nach der Johannes-Apokalypse 3, 16 zwischen Heiß und Kalt, Liebe und Furcht schwankt, gegenübergestellt. Die von Gott erfüllte Liebe ist für Eckhart ein Feuer, das alles um sich verschlingt. Ihr Bevollmächtigter, der Gerechte, kann sich das leisten und braucht keine Rücksicht zu nehmen. Er ist sich seiner Sache vollkommen sicher: »Eben dadurch, dass ich gerecht bin, insofern ich ein Gerechter bin, habe ich in mir selbst, in meinem Sein und im Sein der Gerechtigkeit ein Zeugnis und weiß, dass ich gerecht bin, ohne Bedarf nach dem Zeugnis eines anderen.« 589 An die Stelle der christlichen Heilsungewissheit und der Paulus und noch Luther beunruhigenden Problematik einer Rechtfertigung durch Gott tritt die schlichte Selbstsicherheit des Gerechten. Damit ist der Weg zu einer sehr modernen Ethik gebahnt, die ich als Funktionärsethik bezeichnen möchte. Wer sich im Dienst einer absoluten Forderung, eines »kategorischen Imperativs« (z. B. der Gerechtigkeit), als legitimen Funktionär versteht, setzt seine ganze Tugend daran, alles für dieses Ziel zu tun und dabei durch Dick und Dünn zu gehen, ohne sich Skrupel zu machen. Nicht einmal um das Gute braucht er sich vordringlich zu kümmern, denn Eckhart setzt dieses im Rang unter das nackte absolute Seiende, das Gott ist, unsere Seligkeit,538 und macht es zum Markenzeichen der gegen Gott ins Begrenzte und Eigene sich zurückziehenden Kreatur,533 der verpönten Vielheit:549 »Das Gute selbst ist eigentlich Prinzip und Quelle der Kreaturen; insofern nämlich, als etwas geschaffen ist, ist es gut, und insofern, als es gut ist, ist es geschaffen.« 590 Robespierre und andere unbestechliche Geschäftsträger von Heilslehren mit unbedingtem Anspruch und entsprechen588 589 590

Lateinische Schriften IV S. 71 Z. 14 – S. 72 Z. 12 (Predigt VI, 4). Johannes-Kommentar 372, 14–373, 2. Ebd. 490, 8–10.

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Meister Eckhart und die Folgen

der Rücksichtslosigkeit bis in die jüngste Vergangenheit können sich bei Meister Eckhart bedienen.

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25.3 Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham sind Zeit- und Leidensgenossen. Sie weilten zur selben Zeit in Avignon, vorgeladen vom päpstlichen Glaubensgericht, das sie als der Irrlehre Angeklagte zur Rechenschaft zog. Meister Eckhart starb, anscheinend nach Widerruf, noch vor Veröffentlichung der seine inkriminierten Sätze verurteilenden päpstlichen Bulle, die der Ausstrahlung der zündenden Gedanken seiner Predigten dennoch keinen Abbruch tun konnte; Wilhelm blieb trotzig, entzog sich dem Verfahren durch die Flucht und wirkte fortan als antipäpstlicher Publizist an der Seite des Kaisers in München. Beide Männer imponieren zunächst als sich ausschließende Gegenteile im Verhältnis zu der überlieferten kirchlichen Ordo-Lehre: Wilhelm wie eine kalte Dusche, Eckhart wie ein überspannter Draht glühender Hitze. Im Hinblick auf den Abschluss des Jahrtausends ungehemmter Einübung des Christentums zwischen dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins und der Katastrophe des Papstes Bonifaz des Achten (312 – 1303) sind sie jedoch Verbündete: Wilhelm setzt alle Sachen frei von vorgegebenen Bedeutungen und Relationen, so dass sie fortan als nackte »Dinge an sich« jedem, der Macht hat, für beliebige Kombinationen zur Verfügung stehen;490 Eckhart setzt den handelnden Menschen frei vom Dienst für Gott 591 in Kraft des Lebens aus einem selbst Gott noch überholenden Ursprung,557 der ihn mit einer (auch »Liebe« genannten) Gerechtigkeit begabt, in der er sich als Funktionär des Ursprungs (25.2) alles herausnehmen darf.587 Diese doppelseitige Befreiung auf der Objektund der Subjektseite verschafft dem Handelnden die nachchristliche Kühnheit des Willens zur Veränderung aller bestehenden Verhältnisse.583 Der Erste, der sich solcher Kühnheit praktisch bemächtigt und damit als Zeit- und Gesinnungsgenosse Wilhelms und Eckharts – ohne von diesen zu wissen oder ihre Lehren zu kennen – mit ihnen einen Triumvirat bildet, ist Philipp der Schöne, König von Frank591 DP II S. 650: »Ich schrieb einst in mein Buch: Der gerechte Mensch dient weder Gott noch den Kreaturen, denn er ist frei; und je näher er der Gerechtigkeit ist, um so mehr ist er die Freiheit selbst, und um so mehr ist er die Freiheit.« (Predigt 28, Ego elegi vos).

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Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham

reich, der dem Papst seinen Glanz nimmt, indem er den hochmütigen Bonifaz VIII. als den Herrn Benedetto Caetani, einen Privatmann, behandelt. 592 Wilhelm von Ockham macht durch die Thesen, dass alles von sich (a se)202 und absolut453 ist, sogar das Akzidens,452 alles gleichgültig im Wortsinn: alles gleichermaßen gültig, von sich aus da, trotz der Ausnahme, die Wilhelm als christlicher Theologe für die kausale Abhängigkeit der Dinge von Gott machen muss. Diese Ausnahme fällt fadenscheinig genug aus: Gott erschafft nach Wilhelm ebenso, wie die Sonne Wärme bewirkt,512 und deren Bewirken, ebenso wie alles andere natürliche, besteht ohne jede kausale Relation nur darin, dass in Gegenwart der Ursache an der Wirkung eine Veränderung eintritt. 593 Eine entsprechende Gleichgültigkeit tut Eckhart dem christlichen Liebesgebot an: Wer Gott wahrhaft liebt, liebt alles Beliebige gleichermaßen, nämlich genau im selben Maß, wie er sich selbst und wie er Gott liebt. 594 Solche Liebe leuchtet wie die Sonne über Gute und Böse und alles, was weder gut noch böse ist; sie ist keine Liebe im Sinn einer auch nur augenblicklich wählenden und Besonderes herausgreifenden Zuwendung, sondern nur ein anderer Name der Gerechtigkeit als vollendeter Ausgeglichenheit,572 daher verträglich mit der Nonchalance Gottes nach den Worten, die Avicenna diesem in den Mund legt, wofür Eckhart ihn anerkennend so zitiert: »Die da habe ich zur Hölle erschaffen – macht mir nichts; jene da habe ich zum Paradies erschaffen – macht mir nichts.« 595 Ein Ausschnitt solcher ausgeglichen allgemeinen, d. h. gleichgültigen Liebe ist die allgemeine Menschenliebe, die Eckhart so genau nimmt, dass man niemand wichtiger als den anderen und vor allem sich selbst nicht wichtiger als andere nehmen dürfe, weil eigentlich nur der Mensch als solcher, die menschliche Natur, zu lieben sei. 596 Das stimmt mit der Forderung rigoroser Abstraktion der Liebe von allen 592 Johannes Haller, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, 5 Bände (als Taschenbuch Hamburg 1965), Band V S. 93, vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 49. 593 S. o. Anmerkungen 466 und 467. 594 Lateinische Schriften Band II, Stuttgart 1954–1992, S. 445 (Kommentar zum Buch der Weisheit). 595 Ebd. S. 533. 596 Johannes-Kommentar (Lateinische Schriften III) 547, 7–13; Lateinische Schriften Band IV S. 184 Z. 15 f. (Predigt 20, Attendite a falsis prophetis); DP I 446 f. (Predigt 5a, In hoc apparuit).

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Meister Eckhart und die Folgen

Privilegien gewachsener menschlicher Nähe zugunsten allgemeiner Menschenliebe bei Augustinus (20.2) überein, und auf ihn beruft sich Eckhart in diesem Zusammenhang; dennoch ist sein Liebeskonzept ganz unaugustinisch. Augustinus stellt die Liebe eifernd und aggressiv in den Dienst kirchlicher Uniformierung: Sie geht nicht auf den Menschen, wie er ist, sondern wie man will, dass er sein soll,94 denn außer der Kirche ist kein Heil.105 So etwas liegt Eckhart völlig fern. In seiner Rechtfertigungsschrift zieht er aus den auf Christus bezüglichen Bibelzitaten »Er gab ihnen das Vermögen, Kinder Gottes zu werden« (Johannes 1, 8), »damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei« (Römer 8, 29) den Rat: »Willst du also das fleischgewordene Wort in dir wohnen haben, Sohn Gottes werden, diese der Natur zugefügte Gnade wahrnehmen? Dann sei Mensch, lebe der Vernunft gemäß, nach dem Geist, nicht nach dem Fleisch.« 597 Statt auf das von Johannes und Paulus an den betreffenden Bibelstellen als Auszeichnung oder sogar Auserwählung gemeinte Christentum zielt Eckhart auf das Menschsein und dessen Kern, der für ihn die Vernunft ist. Dabei hat er aber nie einen Personenverband, etwa die kirchlich geeinte Christenheit, im Auge, sondern er wendet sich immer nur an den Einzelnen, sogar dann, wenn er die Vision eines großen Volkes ausmalt, in dem alle Völker gesegnet sein sollen: Es handelt sich um den Aufruf an den Einzelnen, der Schrift zu folgen, sich selbst, sein Haus, sein Geschlecht zu verlassen, um ganz und gar im Intellekt zu werden, in dem keine Teilung mehr stattfindet, sondern alle alles in allem sind. 598 Die pathetische Anspielung auf 1. Korinther 15, 28 zeigt, dass Eckhart an die Stelle der christlichen Heilsverkündung das Heil der Einheit im Intellekt setzen will, der für ihn die Straße zu unserer Seligkeit ist, zur nackten Substanz Gottes, zur Fülle des Seins.538 An die Stelle der Heiligen christlicher Erwählung treten die Asketen des Intellekts. Dabei ist es für Eckhart bezeichnend, dass er im Gegensatz zu Augustinus nicht oder nur nebenbei die Gruppe seiner Zuhörer anspricht, vielmehr sich an den Einzelnen wendet: »Wer Gott liebt, wie er ihn lieben soll und auch lieben muss, ob er wolle oder nicht, und wie ihn alle Kreaturen lieben, der muss seinen Mitmenschen lieben wie sich selbst und sich seiner Freuden freuen 597 Eine lateinische Rechtfertigungsschrift des Meister Eckhart, hg. v. Pater Augustinus Daniels, Münster i. W. 1923 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters Band 23 Heft 5) S. 46 f. 598 Lateinische Schriften Band IV S. 270 Z. 9–15 (Predigt 29: Deus unus est).

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Die Folgen

wie seiner eigenen Freuden und nach seiner Ehre so verlangen wie nach seiner eigenen Ehre und den Fremden (so lieben) wie den Angehörigen. Und auf solche Weise ist der Mensch allzeit in Freude, in Ehre und in Vorteil, so ist er recht wie im Himmelreich, und so hat er öfter Freuden, als wenn er sich nur des eigenen Guten freute. Und wisset fürwahr: Ist dir die eigene Ehre beglückender als die des anderen, so ist das unrecht.« 599 Gott ist das Sein; alle lieben das Sein, also Gott, und es kommt nur darauf an, diese gleiche Liebe in entsprechender Ausgeglichenheit auf einander (sich selbst eingeschlossen) zu erstrecken, um der Fülle des Seins und damit unserer Seligkeit538 teilhaft zu werden. Diese Liebe ist die Gerechtigkeit, wie Eckhart sie versteht, sein Inbegriff aller Tugend. Seine Gerechten verschmelzen aber nicht, wie die Seligen im Himmel des Augustinus, zu einem Chor, der ein einziges Alleluja singt,93 sondern jeder hat wie im Himmelreich seine eigene Freude und Ehre. Selbst im Ursprung, der sogar Gott noch überholt, war ich, was ich wollte, und wollte, was ich war.557 Was ich bin, oder richtiger: dass es sich um mich selber handelt, gehört keinem als mir allein.577 Jeder ist für Eckhart ein ens a se, wie jede Sache für Wilhelm von Ockham.202

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25.4 Die Folgen Meister Eckhart ist der Antipode Augustins, der Gegen-Augustinus in der Christenheit auf dem Boden des früheren weströmischen Reiches. Die Achse, um die das menschliche Leben sich dreht, ist für Augustinus besetzt mit dem Streben nach individuellem Glück, aber dieses Streben ist zu Furcht und Zittern verurteilt durch die Drohungen des unerforschlichen Ratschlusses des selten begnadenden und meist verdammenden Gottes auf der einen Seite, des unaustilgbar im Menschen verwurzelten sündhaften Verlangens auf der anderen. Zwischen beiden Feuern muss der Mensch, der sich irgendwelche Hoffnung auf dauerhaften – den Tod überdauernden – Erfolg seines Glücksstrebens machen darf, in kleinteiliger Alarmstimmung hindurch, jeden Augenblick bedacht auf die Entscheidung über ewiges Glück oder Unglück, da jeder der letzte, der entscheidende Augenblick des Sterbens, sein kann. Meister Eckhart findet den Ausweg aus dieser qualvollen Unruhe, indem er das individuelle Glücksstre599

DP I 443 f. (Predigt 4: Omne datum optimum).

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Meister Eckhart und die Folgen

ben durch die Gerechtigkeit im Sinn völliger emotionaler Ausgeglichenheit ersetzt, in der dem sündhaften Verlangen eo ipso der Boden entzogen ist, während Gott nicht mehr zu fürchten ist, da er, in Konsequenz der Gottesidee des Thomas von Aquino neutralisiert zum überallhin gerecht sich austeilenden Sein, mit der Gerechtigkeit des gerechten Menschen zusammenfällt, oder dieser ihn gar im Ursprung überholt, wo das nackte Sein immer erst damit beginnt, sich als Gott in alles zu ergießen. Dieser gerechte Mensch, der aus dem Ursprung lebt, ist durch völlige Anspruchslosigkeit in Demut und Gelassenheit Gottes mächtig, keiner Rechtfertigung bedürftig, seiner selbst mächtig und zum Wirken aus dem Ursprung ohne Rücksicht auf Nützen und Schaden wie das Feuer berechtigt. Meister Eckhart hat die Kunst entdeckt, durch Demut mächtig zu werden. Diese Entdeckung hat Folgen. Johannes von Sterngassen, der zugleich mit Eckhart im selben Orden am selben Ort (Straßburg) wirkte, predigt im gleichen Geist: »Meine Seele ist gottförmig in ihrem Wesen. Daher vermag sie alles, und ihr Werk ist ewig. Alles was Gott zu wirken vermag, das kann sie erleiden. Er vermag nicht mehr noch minder. Alle unsere Meister können nicht herausfinden, ob Gottes Kraft oder der Seele Vermögen größer sei. Habe ich aber alles Vermögen, so soll ich nicht aufhören, alle Dinge zu gewinnen. Was weniger ist als alle Dinge, das ist weniger, als ich bin. Die Seele, die leidend Gott schaut, der sind alle Dinge zu klein.« 600 Passivität und Herrschaftsanspruch sind hier im Gleichgewicht. Bei Tauler, dem popularisierenden Eckhart-Nachfolger in der Predigt, scheint sich der Erfolg in geistiger Macht und Herrschaft vor die Selbsterniedrigung als bloßes Mittel dafür zu schieben, zugleich aber die metaphysische Überspanntheit Eckharts und Sterngassens banalisierend gemildert zu werden. In einer Predigt führt Tauler aus: »Der Mensch muss notwendig hinaufgehen mit all seinen Kräften und seinem Gemüte in die Hoheit der Ewigkeit über all die unteren geschaffenen Dinge und muss alle Dinge hier unten lassen, wie Abraham tat: er ließ unten den Esel und den Knecht, als er Gott opfern wollte, und er und sein Sohn gingen auf das Gebirge. Diesen Aufstieg leitet der Wille, denn der vermag allen Kräften zu gebieten, 600 Zitiert nach Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik Band III: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 411 f. Ruh bezieht sich auf: Wilhelm Wackernagel, Altdeutsche Predigten und Gebete aus Handschriften, Basel 1886, S. 167 Z. 16–23.

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Die Folgen

wie ein Fürst in seinem Lande gebietet und ein Wirt in seinem Hause. Dieser Fürst soll den Menschen allezeit hinauftreiben über alle diese Dinge.« 601 »Wende all deinen Fleiß darauf, ganz klein und vernichtet zu werden, so wird dir zuteil, dass du in Wahrheit erhaben wirst, dass du in das Größte gesetzt wirst, in das Höchste und Allerwerteste, das Gott hat, wie ihm denn die Apostel vor allen Menschen standen. Dazu kannst du nur kommen in der tiefsten Verkleinerung. Kinder, der Mensch, der in diesen Grund gerät und in diese Weise, dass er in sein Nichts kommen und sich vor Gott klein erkennen könne (…), der hätte die höchste und wahrste Bereitung, den heiligen Geist zu empfangen, gefunden. Und wer diese Weise hätte, dem müsste gute Vergeltung in diesem Leben widerfahren.« 602 Eckhartisch ist die Betonung der Willensmacht für den Abriss aus allen Lebensbezügen, uneckhartisch die Relativierung der totalen Entledigung von allen Dingen einschließlich Gottes557 zur bloßen Selbstverkleinerung vor Gott sowie die banale Hoffnung auf irdischen Gewinn. Die Ausstrahlung der Botschaft Eckharts teilt sich nach zwei Seiten, indem entweder wie bei Tauler die erhebende Aktivität der Willensmacht oder die Passivität, Gelassenheit und Demut stärker betont wird. Diese »weiche« Seite der Erbschaft des Meisters tritt stärker hervor in der niederdeutschen devotio moderna und ihrer literarisch einflussreichsten Ausprägung, der dem Thomas von Kempen zugeschriebenen Imitatio Christi, die man »das nach der Bibel (…) gelesenste Buch der Welt« genannt hat. 603 Aber auch hier wird die Demut und Selbstverleugnung durch die Prämie des Machtgewinns vergoldet: Für Größeres qualifiziert sich, wer sich als den Allerniedrigsten und Unwürdigsten einschätzt. 604 Zur Freiheit kann nur gelangen, wer sich vollkommen verleugnet, 605 aber diese Selbstverleugnung schlägt in der aus Eckhart bekannten paradoxen Weise in Herrschaft über sich selbst und sogar die ganze Welt um: »Aber so 601 Johannes Tauler, Predigten, übertragen und eingeleitet von Walter Lehmann, Jena 1923, Band I S. 94 (Predigt 22 über Apostelgeschichte 1, 12–26). 602 Ebd. S. 95 f. 603 Maria Alberta Lücker, Meister Eckhart und die devotio moderna, Leiden 1950, S. 104. Ich benütze die Ausgabe des liber de imitatione Christi als Band II der Opera omnia des Thomas a Kempis ed. Michael Joseph Pohl, Freiburg i. Br. 1904. 604 III 22: Et qui omnibus viliorem et indigniorem se iudicat: aptior est ad percipienda maiora. (S. 186). 605 III 32: Fili non potes perfectam possidere libertatem: nisi totaliter abneges temet ipsum. (S. 204).

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ein von allem abgeschiedenes Herz zu haben, fasst nicht der kranke Geist, noch kennt der tierische Mensch die Freiheit des inneren Menschen. Wenn einer jedoch wahrhaft geistlich werden will, muss er sowohl auf die fernen wie auf die nahen (Dinge oder Menschen) verzichten und sich vor niemand mehr hüten als vor sich selbst. Wenn du dich selbst vollkommen besiegst, wirst du das Übrige leichter unterjochen. Vollkommener Sieg ist: über sich selbst triumphieren. Wer nämlich sich selbst unterworfen hält, so dass die Sinnlichkeit dem Verstand und der Verstand in jeder Hinsicht mir gehorcht: Der ist wahrhaft Sieger über sich und Herr der Welt.« 606 Eckhartisch (und ockham’sch) ist auch die Kappung der Zusammenhänge, die Zuwendung immer nur zum einzelnen Individuum, die in der Imitatio Christi bis zur Einigelung geht: »Suche dir Einsamkeit, liebe, mit dir allein zu wohnen, fahnde nach keines (Menschen) Geschwätz (…). Halte die ganze Welt für nichts. (…) Von Bekannten und Lieben muss man sich fern halten und einen alles irdischen Trostes beraubten Geist sich erhalten.«606 Neu gegen Eckhart ist aber, dass die davon erhoffte innerliche Freiheit und Macht über sich mit der Folge, »dass alle Dinge unter dir sind und nicht du unter ihnen bist«, in den Dienst an einer alles durchziehenden Weltordnung gestellt werden soll, als Freiheit der Söhne Gottes, die sich nicht von den zeitlichen Dingen zur Anhänglichkeit verführen lassen, sondern eher ihrerseits diese Dinge zum rechten Dienen ziehen, insofern nämlich diese Dinge angeordnet und eingesetzt sind von Gott dem höchsten Werkmeister, der in seiner Schöpfung nichts ungeordnet lässt. 607 Auf diesem neuen Motiv, dass das in seine Einsamkeit eingeigelte Individuum mit rigider Selbstdisziplinierung trotz seiner Einsamkeit im Dienst einer umfassenden Ordnung steht, baut zwei Jahrhunderte später Arnold Geulincx (1624–1664), der in Löwen als Katholik und danach in Leiden als Calvinist lehrte, mit seiner Ethik auf. 608 Darin bestimmt er das Thema religiös motivierter Disziplin in tief III 53 (S. 244) (Gott spricht.). III 38 (S. 213 f.). 608 1. Buch 1665, als Gesamtwerk 1675, von mir herangezogen nach: Geulincx, Opera Philosophica rec. Land Band III, Den Haag 1893, S. 1–271. Auf S. 3–65 stehen Widmung, Vorwort und der vom Verfasser zur Publikation bestimmte 1. Traktat, auf S. 66–152 die den Hörern diktierten Traktate 2–6, auf S. 153–271 die von Geulincx handschriftlich nachgetragenen Anmerkungen. Eine ausführlichere Darstellung zur Bedeutung dieser Ethik enthält mein Buch: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 189–195. Dort findet man die detaillierten Nachweise mit Seitenzahlen. 606 607

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Die Folgen

einschneidender Weise neu. Bisher bezog sich solche Übung immer auf Gott als die Autorität, vor der der Fromme bestehen wollte. Nach Geulincx wäre es dagegen vermessen und sinnlos, Gott gehorchen zu wollen: vermessen, weil der Gehorchende sich dann anmaßt, Gott Gunst oder Ungunst zu erweisen; unsinnig, weil ohnehin das und nur das geschieht, was Gott will. Nicht Gott darf man gehorchen wollen, sondern nur dem Gesetz Gottes, das die Vernunft (ratio) ist. Dieses Gesetz schreibt aber keine Ziele vor, sondern nur eine Form des Handelns, die in einem Prinzip der Sparsamkeit des Aufwandes zusammengefasst wird: Wo du nichts vermagst, da sollst du auch nichts wollen (ubi nihil vales, ibi nihil velis). Der Mensch soll sich nichts herausnehmen, was ihm nicht zusteht, sondern sich lediglich als Instrument Gottes verstehen, der allein die Handlungsintentionen des Menschen in physisch ausgeführte Handlungen übersetzt und aus Anlass körperlicher Reizungen der Sinnesorgane die entsprechenden Wahrnehmungen bewirkt. Geulincx ist Occasionalist, der im Gefolge des cartesischen Dualismus weder psychophysische noch physiopsychische Kausalität zulässt, so dass Gott nach beiden Richtungen als vermittelnder Überträger einspringen muss. Für die Ethik ergibt sich daraus die Regel der Vernunft, sich keinerlei Ausschweifung über die Disziplinierung seiner selbst zum tauglichen Instrument der von Gott eingesetzten Ordnung hinaus zu gestatten, so wie es schon in der Imitatio Christi607 vorgezeichnet ist. Demgemäß leitet Geulincx aus seinem allgemeinen Sittengesetz folgende spezielle Forderungen ab: 1. Wenn Gott ruft, nicht unwillig weggehen. 2. Wenn er nicht ruft, überhaupt nicht weggehen wollen. 3. Den Körper regenerieren (besonders durch sparsames Essen und Trinken). 4. Einen Beruf wählen. 5. Vieles ertragen und tun. 6. Auch einmal zwischendurch den Geist entspannen, um für die nötige Erholung zu sorgen. Der Anschluss dieser Moral an die von Eckhart ausgehende christliche Askese ergibt sich aus der Hochschätzung der Demut als Krone der vier Kardinaltugenden – nämlich, nach Geulincx: Sorgfalt, Gehorsam, Gerechtigkeit als dessen genaue Abmessung, und eben Demut – und der aus der Selbstbetrachtung (inspectio sui) folgenden Gelassenheit als »Ablassung von sich, was die ganze menschliche Verfassung betrifft, und Ergebung in dessen Hand und Macht, in der wir ja doch, ob wir wollen oder nicht, sind.« 609 Die Demut ist die 609

Geulincx a. a. O. S. 223.

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Meister Eckhart und die Folgen

Kehrseite dieser inspectio sui als despectio sui, Verachtung seiner selbst, in der Weise, dass man sich um sich selbst nur als ein Instrument oder einen Knecht der Vernunft kümmert. Das Leben ist uns nach Geulincx nicht zum Genuss verliehen, sondern als Pflicht und Schuldigkeit, die nicht das Wohlbefinden des Schuldners, sondern Last und Amt für ihn meint. Wer stattdessen für sich sorgt und seine private Sache betreibt, ist der schlimmste Verbrecher. Der Mensch soll sich bloß als Instrument eines Gesetzes kultivieren, das zwar noch als Gesetz Gottes deklariert wird, aber schon so weit von diesem gelöst ist, dass man, wenn man nach der Vorschrift lebt, nicht mehr Gott, sondern nur noch seinem Gesetz gehorcht. Im Regime dieser Ethik ist nicht mehr eine Person (Gott), sondern ein unpersönliches Gesetz der Dirigent. Demgemäß entfällt auch jede Versuchung zur Konkurrenz mit der Autorität und damit zu einem aus Demut und Gelassenheit folgenden Machtgewinn, der Gottes Macht erreicht oder übertrifft (Eckhart, Johannes von Sterngassen) oder wenigstens den Menschen über alle Dinge erhebt (Tauler, Imitatio Christi). Machtgewinn kommt für Geulincx gar nicht mehr in Frage, aber in der Neutralisierung der Autorität kommt er mit Eckhart überein, wenn auch aus umgekehrtem Grund: Eckhart überbietet die Autorität der göttlichen Person, indem er sie mit Thomas von Aquino neutral als das Sein fasst und sich durch Gerechtigkeit mit diesem als dem Maximum der Ausgeglichenheit zur Deckung bringt; Geulincx unterbietet die Autorität der göttlichen Person, die ihm für eine solche Autorität zu hoch steht, und überträgt diese der ratio, dem Gesetz Gottes, das in einem technisch-ökonomischen Sparsamkeitsgebot zusammenläuft. Dieses neue Verständnis unpersönlicher Autorität eines Gesetzes kann säkularisiert werden. Dann ergibt sich eine neue Gelegenheit zur Anknüpfung an Meister Eckhart, nämlich an die Funktionärsethik, die die legitime Entscheidung über Tun und Lassen ohne Rücksicht auf Nutzen und Schaden in die Hände des Gerechten (des vollkommen ausgeglichenen Menschen) legt (25.2). Der Funktionär dieser von Geulincx modifizierten und danach von Gott gelösten Ethik versteht seine Pflicht nur noch als Dienst am Funktionieren eines gesetzlich geregelten Systems, in dem es nur noch auf die Form des glatten Funktionierens ankommt, nicht mehr auf einen Inhalt, der als Ziel jenseits dieses Funktionierens erreicht werden könnte. Ernst Jünger hat dieses sehr moderne Leitbild des intellektuell und moralisch den Menschen über den Kopf wachsenden Systems gere176

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Die Folgen

gelter Ordnung mit dem an Meister Eckhart587 erinnernden Bild des aus sich unaufhaltsam wirkenden Feuers belegt: »In dieser Landschaft, in der der Einzelne nur sehr schwer zu entdecken ist, hat das Feuer alles ausgeglüht, was nicht gegenständlichen Charakter besitzt. In ihren Vorgängen offenbart sich ein Höchstmaß an Aktion bei einem Mindestmaß an Warum und Wofür.« 610 »Es sind hier Bilder einer höchsten Zucht des Herzens und der Nerven Geschichte geworden. (…) Proben einer äußersten, nüchternen, gleichsam metallischen Kälte, aus der 611 heraus das heroische Bewusstsein den Leib als reines Instrument zu behandeln und ihm jenseits der Grenzen des Selbsterhaltungstriebes noch eine Reihe von komplizierten Leistungen abzugewinnen weiß.« 612 Zwischen Geulincx und Ernst Jünger steht Kant mit seiner Moral des kategorischen Imperativs. Die nahe Verwandtschaft der EthikTheorien von Geulincx und Kant ist unverkennbar, erstens dadurch, dass für beide Denker die Vernunft (ratio) die höchste moralische Autorität ist, die die Form eines unbeugsamen Sittengesetzes annimmt, und zweitens dadurch, dass dieses Gesetz nur formal ist und kein Ziel angibt, das mit dem Handeln erreicht werden soll. Darüber hinaus gleichen sich beide Moralsysteme im Rigorismus, wonach ein Handeln, auf das moralische Kriterien anwendbar sind, moralisch zulässig nur ist, wenn »aus Pflicht«, d. h. um der Autorität des Gesetzes willen, gehandelt wird, während dabei allerdings auch andere Bedürfnisse befriedigt werden dürfen, aber nur so, dass diese Befriedigung nicht Triebfeder des betreffenden Handelns oder Unterlassens ist. Bis in die Beispiele hinein gleichen sich die rigoristischen Postulate beider Denker: Nach Kant ist alles Sünde, was nicht aus dem Glauben geschieht, dass das moralische Gesetz »für sich allein zur Triebfeder hinreichend sei«. »Denn wenn andere Triebfedern nötig sind, die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z. B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinkt, dergleichen das Mitleiden ist), so ist es bloß zufällig, dass diese mit dem Gesetz übereinstimmen: denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben. Die Maxime, nach deren 610 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, 2. Auflage Hamburg 1932, S. 106. 611 Im Text steht hier »dem«. 612 Ebd. S. 107. Jünger denkt an intelligentes Bedienen von Maschinen bei Verbrennen (durch Flugzeugabsturz) oder Ersticken (in versenkten U-Booten).

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Meister Eckhart und die Folgen

Güte aller moralische Wert der Person geschätzt werden muss, ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse.« 613 Geulincx: Jede Ausschmückung der Vernunft durch zusätzliche Lockungen ist zu vermeiden; damit vertreibt man die Tugend und setzt an ihre Stelle die Selbstliebe. Eine dadurch gelockte Tugend wird zur Liebe als Passion und damit zur Sünde. 614 Handeln aus Barmherzigkeit ist genauso schlimm wie Handeln aus Ruhm- und Gewinnsucht, denn es dient einer Passion, also der Eigenliebe. 615 Wenn man sagt, es sei eine Sünde, etwas aus Erbarmen oder Mitleid zu tun, klingt das dem Volk anstößig, aber versierte Ethiker haben damit keine Schwierigkeit. 616 Kant und Geulincx vertreten übereinstimmend eine rigorose Ethik unbedingter Verpflichtung, deren Autorität nicht oder nicht unmittelbar persönlich (Gott) ist, sondern ein Gesetz der reinen Vernunft, die ratio nach Geulincx, nach Kant das moralische Gesetz, das sich durch seine »feierliche Majestät« 617 Achtung erzwingt, wie Kant im 3. Hauptstück des 1. Buches des 1. Teils der Kritik der praktischen Vernunft (»Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft«) ausführt. Was aber das Verhältnis des Menschen zu dieser Autorität angeht, gleicht Kants Stellung nicht der von Geulincx, dem jeder Gedanke an Erhebung des Menschen durch seine Pflicht fernliegt, sondern passt sich ein in die von Eckhart ausgehende Tradition der Ambivalenz von Demut und Erhebung bei Tauler und in der Imitatio Christi. Auf der einen Seite demütigt nach Kant das moralische Gesetz den Menschen, indem es seinem Eigendünkel Abbruch tut, und erweckt sich dadurch Achtung. 618 Da aber dieser Zwang bloß durch die Gesetzgebung der eigenen Vernunft über die sinnlichen Neigungen ausgeübt wird, enthält das Gefühl der Achtung neben der Unlust, die aus der Schmälerung beziehungsweise Unterdrückung der Eigenliebe und des Eigendünkels resultiert, 619 auch Erhebung. 620 Der Mensch wird durch die Pflicht über sich selbst als einen Teil der Sin613 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Akademieausgabe Band IV S. 30 Z. 32 – S. 31 Z. 5. 614 Wie Anm. 608, S. 68. 615 Ebd. S. 95. 616 Ebd. S. 142. 617 Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe Band V S. 77 Z. 25 f. 618 Ebd. S. 74 Z. 23–30. 619 Ebd. S. 73, 18–26; 77, 19–27. 620 Ebd. S. 80, 36 f.

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Die Folgen

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nenwelt in eine Ordnung erhoben, die die ganze Sinnenwelt unter sich hat. 621 Das moralische Gesetz lässt uns die Erhabenheit unserer übersinnlichen Existenz spüren und weckt im zugleich sinnlichen Menschen Achtung für deren höhere Bestimmung. 622

621 622

Ebd. S. 86, 22 – S. 87, 3. Ebd. S. 88, 21–26.

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26. Nikolaus von Kues

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26.1 Gott: das Nicht-andere (non aliud) Meister Eckhart bestimmt in einer für das Eine von Plotin schon angedachten Weise544 Gott als das, was sich durch seine Ununterschiedenheit von allem unterscheidet543 und trifft mit diesem Paradox den Nagel, der nach seinem Konzept Gottes Einmaligkeit als Auszeichnung vor allem anderen mit dessen Ausbreitung in alles zusammenhält, auf den Kopf. Nikolaus von Kues 623 wiederholt diesen Topos in der irrigen Annahme, ohne Vorgänger zu sein, 624 und widmet ihm eine besondere Schrift, 625 weil er glaubt, mit der Kurzformel »Gott ist das Nicht-andere« seine Theologie auf den Brennpunkt gebracht zu haben. In dem ein Jahr später, zwei Jahre vor seinem Tod, entstandenen Rückblick auf seine philosophischen Errungenschaften Jagd nach der Weisheit624 expliziert er diesen »Geniestreich« so: »Das Feld aber, wo die vergnüglichste Jagd nach dem, was sich und alle Dinge definiert, stattfindet, nenne ich: das Nichtandere. Eben dieses Nicht-andere definiert nämlich sich und alle Dinge. Wenn ich nämlich frage: ›Was ist das Nicht-andere?‹, lautet die passendste Antwort: ›Das Nicht-andere ist nicht anderes als das Nicht-andere.‹ (…) Die Vernunft stellt also fest, dass Gott nicht ein anderes als ein anderes ist, weil er eben dieses andere definiert. Hebe man nämlich das Nicht-andere auf, so bleibt nicht das andere. Das andere muss nämlich, wenn es sein soll, nicht-anderes als anderes sein, sonst wäre es anderes als anderes, und dann wäre es nicht.« 626 623 Ich zitiere seine Schriften nach Einzelausgaben der Opera omnia, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Leipzig und Hamburg 1932–2005, mit Angabe der Seitenzahl, teils auch Zeilenzahl, und gegebenenfalls des Kapitels (c.). 624 De venatione sapientiae, Hamburg 1982, c. 14: De tertio campo, scilicet non alio; S. 40: Veteres philosophi hunc campum non intrarunt. 625 Directio speculantis seu de non aliud, Leipzig 1944. 626 Wie Anm. 624, S. 39 f.

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Gott: das Nicht-andere (non aliud)

Dieses Raisonnement hat zwei Teile. Erster Teil: Das Nicht-andere ist nichts anderes als das Nicht-andere. Es soll sich also um ein Identisches ohne Verschiedenheit von etwas handeln. Dieser Gedanke lässt sich widerspruchsfrei präzisieren: x ist ein Nicht-anderes, wenn für alle Elemente y der Klasse, die in der Allklasse das Komplement der Menge der mit x identischen Dinge (mit x als einzigem Element) ist, das Folgende gilt:

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: ! y = x ^ : ! : y = x, 627 in Worten: Nicht ist entschieden, dass y mit x identisch ist, und auch nicht, dass y nicht mit x identisch (von x verschieden, ein anderes als x) ist. (Hierbei ist nicht an eine Unentschiedenheit des Urteils oder der Kenntnis zu denken, sondern an eine sachliche Unentschiedenheit, wobei die Tatsachen und die Wahrheit über sie in der Schwebe sind.) Sofort steht fest, dass es nur ein einziges Nicht-anderes dieser Art geben kann, denn ein zweites wäre ein anderes als das erste, dieses also kein Nicht-anderes mehr bezüglich des zweiten. Das Nicht-andere ist demnach nicht durch Vergleich und Unterscheidung identifizierbar; es gleicht insofern dem Jäger Gracchus, der in Kafkas gleichnamiger Kurzgeschichte sagt: »(…) niemand weiß von mir, und wüsste er von mir, so wüsste er meinen Aufenthalt nicht, und wüsste er meinen Aufenthalt, so wüsste er mich dort nicht festzuhalten, so wüsste er nicht, wie mir zu helfen.« Zweiter Teil: Das Nicht-andere definiert alle Dinge (verleiht ihnen ihre Bestimmtheit als sie selbst), denn nur dadurch, dass sie nicht andere als sie selbst sind, können sie sie selbst gegenüber anderen Dingen mit Identität und Verschiedenheit sein. Das ist ein Sophisma durch Äquivokation: Die Möglichkeit, dass eine Sache verschieden von anderen Sachen ist, hängt in keiner Weise davon ab, ob es eine Sache gibt, die wie das Nicht-andere von keiner Sache verschieden ist. Im Gegenteil: Wenn es eine solche Sache gibt, hat die Verschiedenheit jeder Sache (außer dieser selbst) an dieser Stelle eine Lücke, weil Verschiedenheit eine symmetrische Beziehung ist: Wenn x nicht von y verschieden ist, dann ist auch y nicht von x verschieden. Auf diesem Sophisma beruht 627 Den Parameter der Entschiedenheit mit dem Ausrufungszeichen als Symbol habe ich bei meiner Erweiterung der Aussagenlogik durch iterierte Unentschiedenheit eingeführt, um den Widerspruch zu verhüten, der bei einfacher Unentschiedenheit über Identität sonst eintreten müsste in der Form, dass y mit x nicht identisch und nicht nicht identisch wäre, vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 89.

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Nikolaus von Kues

aber der Charme der Theologie des Nicht-anderen, den Nikolaus deutlich macht, indem er Gott so anredet: »In nichts anderem besteht gleichermaßen das Schaffen wie das Geschaffenwerden als darin, dass dein Sein allen Dingen mitgeteilt wird, damit du alles in allen seiest, und dennoch von allen abgelöst bliebest.« 628 Weil Gott nicht durch Andersheit von den Dingen geschieden ist und ihnen als das Nichtandere vermeintlich das Sein in dem Sinn, nicht anders als sie selbst und anders als andere zu sein, verleiht, ist er alles in allem und Schöpfer von allem, aber weil er als das Nicht-andere keines von den anderen und also einzigartig ist, braucht man um seine absolute Eigenheit nicht zu fürchten. Abgesehen von dem vermeintlichen logischen Kunststück, Gott nach den beiden Seiten, dass er alles in allem und ganz für sich ist, auf die knappe Formel des Nicht-anderen zu bringen, hat diese Formel für Nikolaus den Sinn, den durch Wilhelm von Ockham schon exzessiv gewordenen Singularismus (24.1) abzufangen und auszubalancieren. Die These des Singularismus lautet: Alles ist ohne weiteres einzeln. Nikolaus ist ein enthusiastischer Anhänger der ersten Halbthese, dass alles einzeln ist: »Da ein Eines nicht ein anderes als ein Eines ist, scheint es einzeln, weil in sich ungeteilt und von anderen geteilt. Einzeln umfasst nämlich alles; alle Dinge sind nämlich einzeln, und alle unvervielfältigbar. (…) Alles Beliebige freut sich seiner Einzelheit, die in ihm so groß ist, dass es nicht vervielfältigbar ist, weder in Gott noch in der Welt noch bei den Engeln.« 629 Der anderen Halbthese, dass alles ohne weiteres einzeln (nach Wilhelm: a se und absolut202 ) ist, beugt Nikolaus vor, indem er den allereinzelnsten, im höchsten Maße unvervielfältigbaren Gott als den Grund aller Einzelnen, der sie alle einzelt (singularizat), ausgibt. 630 Dazu qualifiziert sich Gott als das Nicht-andere, wie Petrus Balbus im Dialog des Nikolaus mit dessen Zustimmung ausführt: »Wenn gefragt wird, warum die Erde die Erde ist, muss man vernünftiger Weise antworten: Sie hat es von ihrem Prinzip, dem Nicht-anderen; von dem nämlich, von dem sie hat, dass sie nichts anderes ist, hat sie, dass sie die Erde ist. (…) So hat die Erde, dass sie die Erde ist, vom Nicht-anderen-als628 De visione Dei, Hamburg 2000, S. 43 (S. 49 Z. 10–12), c. 12: Nec est aliud creare pariter et creari quam esse tuum omnibus communicari, ut sis omnia in omnibus et ab omnibus tamen maneas absolutus. 629 Wie Anm. 624, S. 63, c. 22. 630 Ebd. S. 63 und 64 (§ 65 Z. 17 f. und § 66 Z. 1).

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Gott: das Nicht-andere (non aliud)

Erde, und entsprechend in den anderen Fällen. Auf diese Weise sehe ich alles vorrangig im Prinzip, dem Nicht-anderen.« 631 Da die Einzelheit, gemäß der üblichen scholastischen Definition der Einheit, von Nikolaus als Ungeteiltheit in sich und Geteiltheit von anderen verstanden wird,629 kann sie hier als die Eigenschaft einer Sache, nichts anderes als sie selbst zu sein, auftreten, und da die Sache diese Eigenschaft vermeintlich vom Nicht-anderen hat und Gott das Nicht-andere ist, ist er als Spender der Einzelheit ausgewiesen. Der Bedarf nach Abwehr solcher Auswüchse des Singularismus besteht bei Nikolaus, weil er ihnen nicht ganz fernsteht. Wilhelm von Ockham gelangt bei der Kappung aller Zusammenhänge (24.2), der Kehrseite seiner Verabsolutierung aller Sachen, zur Leugnung der Zahlen in dem Sinn, dass diese im Gegensatz zur üblichen Meinung von den gezählten Dingen gar nicht verschieden seien,494 und zu einer statischen oder atomistischen Auffassung der Bewegung als Zusammensetzung unendlich vieler selbst bewegungsloser Stadien oder Formen470 im Geist der Deutung, die Bertrand Russell der Bewegung als einem Linearkontinuum gemäß der Mengenlehre (einer transfiniten Punktmenge) gibt.471 In beiden Hinsichten stimmt Nikolaus mit Wilhelm überein, ganz ausdrücklich bezüglich der Zahl, 632 und bezüglich der Bewegung in der Weise, dass in ihr nichts als Ruhe und Übergang von Ruhe in Ruhe vorkomme; Bewegung sei eine Folge von Ruhen, in einer Reihe geordnet. 633 Angesichts solcher Näherung an den Singularismus Wilhelms wird eine gedankliche Stütze für die von Nikolaus als zehntes Feld der Jagd nach Weisheit enthusiastisch verteidigte Weltordnung 634 nötig, und dafür bemüht Nikolaus das Nicht-andere, indem er im Dialog den Verdacht des Ferdinand Matim, dieses könne pantheistisch zum Universum selbst verkommen, mit den Worten berichtigt: »Ferdinand, du weichest nicht vom Wege ab. Da nämlich alle Dinge zu Gott oder dem Nichtanderen geordnet sind und keineswegs zu einem anderen nach ihm, ist das Gesamt-Universum nicht als Ziel der Sämtlichen zu betrachten; dann nämlich wäre Gott das Universum. Aber da die Sämtlichen auf sein Prinzip geordnet sind – durch Ordnung nämlich von Gott her erweisen sie sich als die Sämtlichen –, sind sie folglich zu ihm 631 632 633 634

Wie Anm. 625, S. 50 Z. 18–23. 27–29. Idiota de mente, Werke Band 5, Leipzig 1937, S. 72 Z. 16–19 (c. 6). Ebd. S. 88 Z. 12 f. 20–22 (c. 9). Wie Anm. 624, S. 85–93 (c. 30–32).

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Nikolaus von Kues

als der Ordnung der Ordnung in allen hingeordnet; alle Dinge nämlich ordnet er, damit das Nicht-andere selbst, oder die Ordnung der Ordnung, in der Vollkommenheit der auf ihn (oder es) hingeordneten Dinge vollkommener widerscheine.« 635 Ziemlich viel Ordnung, könnte man meinen, zumal sie zur Ordnung der Ordnung getürmt ist; klar ist aber, dass Nikolaus das Nicht-andere bemüht, um auf der Balance zwischen Immanenz und Transzendenz Gott vor einer pantheistischen Theologie zu bewahren und in den Rang des alles Ordnenden zu erheben.

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26.2 Gott: das Knnist (possest) Moderne Photographen sind glücklich, wenn sie das Gesicht einer geheimnisvollen, bedeutenden Person mit Blitzlicht überraschend festhalten können. Man spricht dann von einem Schnappschuss. Daran erinnern mich die beiden Kurzformeln, in die Nikolaus das Wesen Gottes bannt: 1461 das Nicht-Andere 636 und kurz vorher (wohl 1460) das Könnist, das er wie jenes in einer eigens ihm gewidmeten Schrift behandelt und dort mit den Worten einführt: »Wer sich von Gott einen einfachen Begriff macht, wie etwa den dieses Wörtchens: Könnist, wird vielerlei, das ihm früher schwer fiel, schneller fassen.« 637 In der 1462 folgenden zusammenfassenden Rückschau Jagd nach der Weisheit636 wird das dritte Feld dieser Jagd vom Nicht-anderen eingenommen, das zweite vom Könnist. 638 »Auf diesem Feld gibt es höchst ergötzliche Jagden, weil Könnist aktuell (actu) jedes Können ist.« 639 »Einzig Gott ist Könnist, weil er aktuell ist, was sein kann. Auf keinem anderen Feld ist Gott also zu suchen als im Könnist.« 640 »Nichts kann vernünftig in Betracht kommen, was dem Könnist selbst mangelte, da es aktuell als alles das existiert, was begreiflich ist und jeden Begriff übersteigt.« 641 Gott ist daher reinster

Wie Anm. 625, S. 26 Z. 30–37 (c. 12). Die so benannte Schrift ist zu Beginn dieses Jahres entstanden, laut Angabe der Herausgeber von De venatione sapientiae, wie Anm. 624 S. XII. 637 Trialogus de Possest, Hamburg 1973, S. 30. 638 Wie Anm. 624, c. 14 und c. 13. 639 Ebd. S. 36 (c. 13). 640 Ebd. S. 35. 641 Ebd. S. 74 (c. 26). 635 636

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Gott: das Knnist (possest)

Akt (actus purissimus), 642 zu dem sich alles andere, wie vollkommen es in seiner Art auch sein mag, als passive, der Steigerung auf ihn hin fähige Potenz verhält, denn es könnte ja über seine Art hinauswachsen: »Du siehst, dass das Werdenkönnen einer Natur nicht in ihr seine Grenze hat, denn von anderer Natur ist das Könnist und das Werdenkönnen.« 643 »Im Hinblick auf dieses unendliche und unbegrenzte Werdenkönnen sagten daher die Platoniker, wie Proklos berichtet, dass alles aus dem Endlichen oder Determinierten (begrenzt Bestimmten) und dem Unendlichen sei, wobei sie das Endliche auf die begrenzt bestimmte Wesenheit bezogen, das Unendliche auf die Potenz und das Werdenkönnen.« 644 Nikolaus wiederholt mit dem Könnist die Gottesidee des Thomas, deren Leitfaden die Quantifizierung der Bestimmtheit ist (22.1). Aristoteles hatte die natürlichen Veränderungen mit einem triadischen Schema rekonstruiert: Materie (Potenz), behaftet mit Mangel (Privation), kann von der Form (dem Akt) mit einem Sein aufgefüllt werden, das den Mangel mehr oder weniger ausgleicht. Dieses physikalische Denkschema verallgemeinert Thomas zu einer metaphysischen Konstruktion der Ordnung des Universums durch Quantifizierung und Skalierung (22.3) der Bestimmtheit, aufsteigend von der extrem formlosen und mangelhaften Materie durch sukzessive Hinzufügung Fülle gebender Akte in Richtung auf Gott, der nur noch reiner Akt ohne Mangel und ohne Werdenkönnen (passive Potenz) ist. In dessen grenzenloser Fülle schlägt die Bestimmtheit, die relativ auf ergänzbare Mängel ist, in vollständige Unbestimmtheit bloßen Seins um, so dass kein bestimmtes Wesen (Individuum, Art, Gattung) Gott erreichen kann. Wie der Gott des Thomas verhält sich das Könnist zu allen bestimmten und damit endlichen Wesen als der reine Akt, in dem mit der an Mangel gebundenen Potenz alles Werdenkönnen ausgelöscht ist, weil die Realisierung den ganzen Horizont des Könnens schon ausgefüllt hat. Entscheidend ist für diese sowohl thomistische als auch cusanische Konzeption die Homogenisierung des Mangels, der nicht wie die aristotelische Steresis jeweils auf eine Art bezogen wird – als Zurückbleiben hinter dem, was einem Wesen von dieser Art, dieser Natur, angemessen wäre –, sondern der als abstrakter Mangel, dass auch ohne Rücksicht auf das schon Vor642 643 644

Ebd. S. 26 (c. 9). Ebd. S. 75 (c. 26). Ebd. S. 84 (c. 29).

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Nikolaus von Kues

handene noch irgendetwas hinzuwachsen könnte, alle Artgrenzen überschreitet. Das steht im Gegensatz zur Qualifizierung der Bestimmtheit durch Duns Scotus (23.3). Die Gottesidee des Thomas hat zwei Schwachstellen (s. o. 22.1). Eine davon ist die Unbestimmtheit: Die unendliche Fülle droht in Leere umzuschlagen, weil es an Gott keine unterscheidbaren Bestimmtheiten mehr gibt, so dass zwar noch die reine Form der Vollkommenheit bleibt, aber nichts Besonderes (z. B. Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, Macht, Liebe und alles andere Wünschenswerte) mehr vorkommt, woran diese Form geheftet werden könnte; darauf hat Wilhelm von Ockham den Finger gelegt.479 Die andere Aporie dieser Gottesidee betrifft das Sein der Kreaturen: Sie haben es von Gott, der es aber nicht abgibt, da er sein eigenes, an sich bestehendes Sein (ipsum esse subsistens527 ) ist, das nicht gestreut werden kann. Die Ordnung alles Seienden nach Thomas wird zerrissen durch einen Abgrund zwischen Gott und der Kreatur, der sich an beiden Seiten rächt: an Gott durch den Sturz seiner Fülle in Unbestimmtheit und an der Kreatur durch die ihr zugemutete Unmöglichkeit, an Gottes Sein Anteil zu nehmen, wo dieser nichts davon abgibt. Aus beiden Mängeln der thomistischen Konzeption hat Nikolaus gelernt. Er ergänzt sie daher durch eine Annäherung an das in der Scholastik seit Scotus Eriugena (18.3) vergessene neuplatonische Konzept der Vieleinigkeit (15.2; 16.3). »Dem Proklos hat sich dargestellt, wie das, was an erster Stelle ist, am Allerschwersten auffindbar, nichts anderes als Eines-Vieles ist: eines im Wesen, vieles in der Potenz. Aber dadurch weiß man noch nicht, was da als Eines-Vieles existiert; davon nachher später.« 645 Die Vieleinigkeit der Henaden oder Götter nach Proklos (entsprechend der Vieleinigkeit der Ideen als der Geist nach Plotin) soll es nicht sein, da der eine ewige Gott des christlichen Monotheismus genüge: 646 »Ich sehe also, dass alle Dinge, die werden können, nur jenes einfache Vorbild haben, das nicht verschieden ist von allem, was werden kann, da es der Akt alles Könnens ist.« 647 Das ist noch gut thomistisch, abgesehen allenfalls vom anklingenden Motiv des Nicht-anderen; über Thomas geht Nikolaus aber hinaus, indem er zwar gut thomistisch an der völligen Einfachheit des reinen Aktes, der Gott ist, festhält, mit dieser aber die neu645 646 647

Ebd. S. 32 (c. 12). Ebd. S. 59 (c. 21). Ebd. S. 104 (c. 38).

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Gott: das Knnist (possest)

platonische Vieleinigkeit als Komplikation aller Dinge in Gott verbindet, »in dem alle Dinge ohne Vielheit auf einfachste Weise das absolute Maximum selbst sind, ununterschieden, so wie die unendliche Linie alle Figuren ist.« 648 Diese Ununterschiedenheit hebt die Besonderheit des Einzelnen in Gott nicht auf: »Alle Dinge, die weltlich in der Welt sind, sind unweltlich in Gott, weil sie dort göttlich und Gott sind. (…) Dieses Ganze ist nicht anders als so, dass alle Dinge in ihrem eigentümlichen und angemessensten ewigen Sein sind, höchst gesondert (discretissime) ohne jeden substantiellen oder akzidentellen Unterschied die einfachste Ewigkeit selbst.« 649 »Wer begriffe je die unendliche, durch das Unendliche jedem Gegensatz vorhergehende Einheit, wo alle Dinge ohne Zusammensetzung in der Einfachheit der Einheit zusammengefaltet (kompliziert) sind, wo nicht anderes noch Verschiedenes ist, wo nicht der Mensch vom Löwen, der Himmel nicht von der Erde sich unterscheidet, und dennoch sind sie dort auf wahrste Weise selbst, nicht in ihrer Endlichkeit, sondern zusammengewickelt (complicite) die größte Einheit selbst?« 650 »Du musst also bekennen, dass du sowohl die Zusammenfaltung als auch die Ausfaltung (et complicationem et explicationem), wie sie geschieht, überhaupt nicht verstehst; musst nur dies wissen, dass du die Weise nicht kennst, wohl aber Gott als aller Dinge Zusammenfaltung und Ausfaltung.« 651 »Wir aber, die wir die Verschiedenheiten der Dinge sehen, staunen, wie der einzige einfachste Begriff von allen auch die verschiedenen Einzelnen ist. Das wissen wir jedoch aus belehrter Unwissenheit, die die Verschiedenheit in Gott als Identität aufweist.« 652 Mit der Komplikationsthese überbrückt Nikolaus den zwischen Gott und den Geschöpfen klaffenden Abgrund, vor dem die Gottesidee des Thomas versagt, aber er handelt sich eine Unbegreiflichkeit ein, die ärger ist als die der grundsätzlich widerspruchsfrei deutbaren (15.2.2) neuplatonischen Vieleinigkeit. Der Unterschied ist darin begründet, dass Nikolaus die völlige Einfachheit Gottes mit der Vielfalt der in ihm eingefalteten Dinge, beiderseits unbeschadet, identifizieren will, während die Neuplatoniker das vollkommen einfache Eine 648 649 650 651 652

De docta ignorantia, Leipzig 1932, S. 73 Z. 12–14 (II c. 4). Wie Anm. 637, S. 83 (§ 71 Z. 11 f. 15–18). Wie Anm. 648 S. 49 Z. 14–19 (I c. 24). Ebd. S. 72 Z. 11–14 (II c. 3). Ebd. S. 95 Z. 1–4 (II c. 9).

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Nikolaus von Kues

meist von jeder Vielheit fernhalten. Aus der Bedrängnis durch die so gesteigerte Unverträglichkeit kann Nikolaus sich nur durch das verzweifelte Bekenntnis zum vollendeten Widerspruch retten. Der Zusammenfall der Gegenteile (coincidentia oppositorum), sein Markenzeichen, wäre logisch nicht so schlimm, wenn es sich nur um konträre Gegenteile wie das absolut Größte und Kleinste handelte, deren Zusammenfall er durch allerlei mathematische Grenzübergänge zu veranschaulichen sucht; weit darüber hinaus geht er aber, indem er auch die kontradiktorischen Gegensätze einbezieht: »Geben wir also den Zusammenfall der kontradiktorischen Gegenteile zu, über dem das Unendliche ist.« 653 »Wenn ich durch kontradiktorische Gegensätze das Prinzip sehe, sehe ich alles in ihm; Sein-und-Nichtsein nämlich umfasst alles, da alles, was gesagt oder gedacht werden kann, entweder ist oder nicht ist. Das Prinzip also, das vor dem Widerspruch, faltet alles ein, was der Widerspruch umfasst.« 654 So freilich ist alles möglich, aber vielleicht ist das selbst von Gott zu viel verlangt. Die Aufgabe, reine Einheit und allumfassende Vielheit als Einunddasselbe zu denken, stellte sich am Ende des heidnischen Neuplatonismus schon Damaskios (17.1), und er quälte sich bis zum Eingeständnis des Versagens daran ab (17.2). Von solcher Qual und Mühe vor dem Unbegreiflichen ist bei Nikolaus nichts zu finden. Die Jagd nach der Weisheit, d. h. der sich über alle Gegensätze und Widersprüche erhebenden Einsicht, 655 ist für ihn ein höchst vergnügliches626 und ergötzliches639 Unternehmen auf zehn Jagdfeldern, wo er nicht müde wird: Als ihn beim Diskutieren über das Könnist ein Gesprächspartner vorsichtig fragt, ob er ihm nicht lästig falle, erwidert Nikolaus: »Diese Gespräche ermüden mich keineswegs, sondern ergötzen mich höchlich. Wenn noch etwas aussteht, schont mich nur nicht, weil mir zu anderer Zeit vielleicht weniger Muße bleibt.« 656 Wenn auch die absolute Wahrheit unbegreiflich ist, winkt wenigstens die Aussicht auf eine unbegreifliche Intuition, die in einem momentanen Entzückungszustand so erleuchten könnte, wie man wenigstens einen Augenblick lang unbeschadet in die strahlende Sonne zu sehen vermag. 657 Als der Scholastiker Wenck gegen so viel Wider653 654 655 656 657

Wie Anm. 628, S. 46 (§ 53 Z. 15 f.), c. 13. De principio (Akademieausgabe X 2b), Hamburg 1988, S. 50. Vgl. den Dialog Idiota de sapientia. Wie Anm. 637, S. 73. Apologia doctae ignorantiae, Leipzig 1932, S. 12.

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Gott: das Knnist (possest)

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spruchsfreudigkeit Einspruch erhebt, lässt Nikolaus sich in einem fingierten Dialog (der Apologia doctae ignorantiae) von einem Schüler darüber berichten, um den Angreifer von oben herab mit heftiger Schelte abzufertigen.

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27. Paracelsus

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27.1 Die geschichtliche Stellung der Philosophie des Paracelsus Wilhelm von Ockham hat den gemein-scholastischen Singularismus radikalisiert. Die These des Singularismus lautet: Alles ist ohne weiteres einzeln, »discretum in propria essentia«,156 wie Abaelard mit einem von ihm dem Boethius zugeschriebenen Schlagwort die Münze prägt. Mit dieser These, dass alles in seinem eigenen Wesen abgesondert sei, verabschiedet sich die Scholastik vom Neuplatonismus, der – exemplarisch noch bei Scotus Eriugena – solche Absonderung nur als Schwäche, als Verlust der Spannkraft, als Zerlaufen der Vieleinigkeit verstehen kann, wo nach Proklos alles in allem ist, aber eigentümlich in einem Jeden, 658 so dass das Eigene gerade im Beitrag zum Zusammengehören besteht. Die Aufteilung der Eigenheit, womit die Scholastik – abgesehen von Duns Scotus, der den Singularismus mit dem ungeeigneten Mittel des Elementarismus (Vereinzelung aller Bestimmungen, die etwas als etwas bestimmen) vermeiden will – den Defekt in neuplatonischer Sicht in den Normalzustand umdeutet, stört vor Wilhelm aber nicht die Harmonie des Weltbildes, weil der Singularismus ordinatorisch bleibt, mit Einbettung alles Einzelnen in eine strenge, bei Thomas von Aquino sogar linear skalierte Ordnung des Weltgebäudes. Wilhelm von Ockham zersetzt diese Harmonie durch eine Radikalisierung des Singularismus, der die Zusammenhänge kappt und alles in eine Absolutheit als ens a se entlässt, mit Bestreitung der Relationen und Ersetzung aller gegenständlichen Bedeutungen von etwas als etwas durch Projektion von Vorstellungen im Wege sprachlicher Zuschreibung203 (24.2). Zu den Bedeutungen und Relationen, die dabei geopfert werden, gehört auch die Ordnung des Universums.476 Die Tragweite dieser Radikalisierung des Singularismus kann man besonders gut an der Umbestim658

Vgl. Band I S. 364.

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mung des technischen Machens durch Wilhelm 659 ablesen. Nach Aristoteles, der auch damit das scholastische Denken bis zu Wilhelm beherrscht, ist dieses Machen Einkörperung eines Programms, Realisierung eines idealen Leitbildes im Stoff. Für Wilhelm ist es bloße Umlagerung von Stoffteilen, auch als bloßes Probieren ohne Leitbild möglich. Die Technik wird der Beliebigkeit eines mehr oder weniger geschickten Wagens ausgeliefert. An die Stelle des ordinatorischen Singularismus tritt ein permutatorischer, der alle beliebigen Vertauschungen zulässt. Dem technischen Erfindergeist öffnet sich die freie Bahn, auf die drei Jahrhunderte später Francis Bacon ihn setzt. In der Philosophie führt diese Bahn zum Positivismus von Mach, der das (als »unrettbar« verworfene) Ich und seine Umwelt in gleichgültige Mischungen beliebig umgruppierbarer Elemente auflöst, und zum Extensionalismus von Carnap und Quine; beide Konsequenzen sind bei Wilhelm vorgebildet. 660 Zwischen dem Ende der Denkherrschaft der Scholastik und dem modernen Denken, das nach 1600 mit Bacon, Hobbes, Descartes und Gassendi einsetzt, liegt im 15. und 16. Jahrhundert eine Unterbrechung des scheinbar kurzen und einfachen Schrittes von Wilhelm zu Hobbes durch eine lange Zwischenphase des Denkens, in die Nikolaus von Kues und Paracelsus gehören. Ohne jede Rücksicht auf die Motive dieser Denker und vieler anderer in dieser Zwischenphase imponiert sie als Reaktion, die gerade dazu bestimmt scheint, diesen einfachen Schritt von Wilhelm in die Moderne klug kalkulierender Beliebigkeit aufzuhalten und zu diesem Zweck beim Neuplatonismus anzuknüpfen. In diesem Licht stellt sich das Denken des Nikolaus von Kues wie eine panische Flucht des ordinatorischen Singularismus in eine mystische Legierung von christlichem Monotheismus und Neuplatonismus vor der Bedrohung durch den permutatorischen Singularismus dar, ohne dass ich behaupten möchte, dass dies ein persönliches Motiv für ihn gewesen wäre. Nikolaus rettet die von ihm enthusiastisch verteidigte Weltordnung634 mit dem Gott des Thomas als dem Könnist an der Spitze, indem er sie in die vollkommene Einfachheit des reinen Aktes Gott647 als Vieleinigkeit im Sinne des Proklos645 einzieht, so dass Gott die Ordnung der Ordnung635 wird. Das gelingt ihm aber nur durch das Überschreiten der

659 660

S. o. 24.2, mit Anmerkungen 485–490. Vgl. Anm. 461 und 24.4.

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Grenze sinnvollen Sprechens, des verbotenen Widerspruchs, in Gestalt einer coincidentia oppositorum, die ausdrücklich den kontradiktorischen Gegensatz von Ja und Nein einbezieht. Der Widerspruch besteht zwischen der Einfachheit und der Kompliziertheit Gottes, der complicatio,650 in der alle Dinge discretissime, und doch ohne jeden Unterschied, enthalten sind.649 Die complicatio alles Seienden im Geist lehrt auch Plotin, 661 aber der Geist ist ihm als das Vieleinige (˙n poll€) nicht das einfache Eine selbst, sondern diesem nachgeordnet; daher streift er nur, ohne ihn zu meiden, den logischen Widerspruch, von dem sein Gedanke mit den Mitteln moderner Logik freigesprochen werden kann (15.2.2). Auch schützt er in der Vieleinigkeit die individuelle Eigenart des Integrierten genauso wie die zur Koinzidenz, zum Zusammenfall, vorangetriebene Integration, während Nikolaus sich zwar mit Worten zu beiden Seiten dieses Gedankens bekennt, tatsächlich aber die Individualität mit Füßen tritt; denn wenn das Nicht-andere sich und alle Dinge definiert,626 kann kein Ding mehr sich selbst bestimmen, womit allerdings dem Grundsatz Wilhelms, dass alles einzeln und a se ist,202 jeder Boden entzogen wird, zugleich aber auch dem singularistischen Grundsatz Abaelards, dass jedes Ding in seinem eigentümlichen Wesen abgesondert sei,156 auch wenn es mit anderen Dingen in strenger Ordnung zusammengehört. Paracelsus 662 fällt ebenso wie Nikolaus durch Rückkehr zu einer neuplatonischen Denkform aus der von Wilhelm von Ockham zu Hobbes führenden Entwicklung heraus und ist damit repräsentativ III 5 [50] 9, 3, s. Band I S. 340. Ich zitiere mit Band- und Seitenzahl nach der Ausgabe: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hg. v. Karl Sudhoff, 14 Bände, München bzw. München und Berlin 1922–1933. Die Schriften sind (mit Ausnahme der beiden letzten Bände, Schriften aus unbestimmter Zeit) chronologisch geordnet nach Entstehungsjahren zwischen 1520 und 1541, und zwar: Band I ca. 1520, II 1525/26, III 1526/27, IV 1527, V 1527/28, VI 1528, VII 1529, VIII 1530, IX 1531–1535, X 1536, XI 1537–1541, XII 1537/ 38. Die dadurch ermöglichte Forschung nach einer philosophischen Entwicklung des Paracelsus werde ich nicht betreiben. Meine Zitate sind nicht wörtlich, sondern (wo nicht bloße Paraphrasen) glättende Übersetzungen mit tunlichster Näherung an den heutigen Sprachgebrauch. Im Deutsch der Lebenszeit des Paracelsus lassen Orthographie und Interpunktion, aber auch (idiomatische) Wortform und z. T. Syntax – trotz manchmal bestechend urwüchsiger Formulierungskraft – so viel zu wünschen übrig, dass sie einem auf glattes Weiterlesen in größerem Zusammenhang eingestellten Leser Steine in den Weg legen würden. Allerdings bringt die modernisierende Anpassung des Wortlauts manchmal die Gefahr von Missverständnissen mit sich. 661 662

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für die Philosophen seines Zeitalters. 663 Von Nikolaus unterscheidet er sich in seinen philosophischen Schriften 664 durch fehlenden Ehrgeiz spekulativer Gotteserkenntnis. Dadurch wird es ihm möglich, sich im Bereich sinnvollen Sprechens zu halten und den allzu forschen Sprung in den logischen Widerspruch zu vermeiden. An die Stelle der coincidentia oppositorum tritt bei ihm die Konkordanz, die sich bei genauem Zusehen als exakte Übertragung der neuplatonischen Vieleinigkeit des Geistes in die Erfahrungswelt erweist, mit einer Ausgewogenheit von gegenseitiger Durchdringung und Wahrung individueller Eigenart, die der Lösung bei Plotin und Proklos ebenbürtig ist. Die Brücke solcher Konkordanz, die den Menschen als Mikrokosmos mit den Gestirnen des Himmels, den Elementen, Mineralien und Pflanzen verbindet, ist die wieder aufblühende Denkform auf der Grundlage vielsagender Eindrücke (impressiver Situationen), die durch den Bruch mit dem archaischen Denken bei und seit Demokrit (9.1) von einem Denken mit anderer Abstraktionsbasis abgelöst worden war. 665 Vielsagende Eindrücke, gern in polarer Gegenüberstellung, etwa am Männlichen und Weiblichen, abgelesen und auf viele Gegenstandsbereiche übertragen, werden zur Strukturierung des Weltbildes benützt, z. B. Yang und Yin in China, das Sperrige und das Flinke, Bewegliche in Griechenland bei Parmenides, Empedokles und den Pythagoreern. Sie lassen sich nicht auf bequem identifizierbare, messbare und selektiv variierbare Merkmalsorten reduzieren, sondern bedürfen sensibler Einfühlung, die aber wie eine gekonnte Sprache gut beherrscht werden kann, z. B. in der chinesischen Pulsdiagnostik. Nach der demokritisch-platonischen Wende zu einem postarchaischen Denken behauptet sich diese ältere Denkform, z. B. in der mit Astrologie verbundenen medizinischen Säftelehre, die auf hippokratischer und aristotelischer Grundlage aus Paaren von vier Elementarqualitäten (warm, kalt, feucht, trocken) vier Temperamente (sanguinisch, cholerisch, melancholisch, phlegmatisch) konstruiert und mit Gestirnen verschwistert. Das Werk von Klibanski, Panofsky und Saxl mit dem auf das Paar aus Saturn und Melancholie fokussierten Thema gibt dazu reichhaltigen 663 Vgl. Paul Richard Blum (Hg.), Philosophen der Renaissance. Eine Einführung, Darmstadt 1999. 664 Von den theologischen Schriften des Paracelsus (Band 2–7 und Supplementband Wiesbaden 1955–1986) nehme ich keine Notiz. 665 Vgl. Band I S. 36 f., 102–104, 119 f., 124 f..

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Überblick. 666 Paracelsus steht mit beiden Beinen in dieser Tradition, abgesehen von der traditionellen Säftelehre, die er vehement ablehnt. Sehr prägnant spricht er von der »stupefaktiven« (starr machenden) Sphäre des Saturn, in die der Schwindsüchtige aus seiner angeborenen astralischen Sphäre hinausfalle. 667 Der Arzt soll wissen, »den astralischen Mars und den gewachsenen Mars einander untertänig zu machen und zu konjugieren und zu vergleichen«; 668 der gewachsene Mars ist die marsische Heilpflanze. Über die Beziehung zu den Sternen greift die Signaturenlehre 669 hinaus, die in Formen des menschlichen Körpers, der Gewächse, der Steine und anderer natürlicher Dinge, aber auch in sinnfälligen Zügen von Krankheiten usw. Bedeutungen entdeckt, die als vielsagende Eindrücke Brücken schlagen und den Weg medizinischer und magischer Praktiken bahnen, im Sinne der natürlichen Magie, die ein Leitmotiv nicht nur des Paracelsus, sondern auch führender Denker seiner und der kurz vorangegangenen Zeit (Ficino, Pico von Mirandola, Giovanni della Porta, Reuch666 Raymond Klibanski, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, übersetzt von Christa Buschendorf, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1990. Im Einzelnen: S. 222–229: Vettius Valens (2. Jahrhundert n. Chr.) beginnt seine Anthologien mit einer ausführlichen Beschreibung des Wesens und der Wirkung der Planeten. Kronos-Saturn mit den Zügen des Greisenhaften, Traurigen, Arglistigen u. a. beherrscht oder erzeugt eine Fülle von Menschentypen, Stoffe wie Blei, Holz und Stein, Körperteile, Krankheiten aus Kälte und Feuchtigkeit und Todesarten. Auf dieser Basis kommt es zur Verbindung des saturnischen Menschen mit dem melancholischen. S. 114 f.: Eine spätantike Schrift über die Struktur des Menschen und des Kosmos ordnet die Qualitätenpaare den Elementen, Jahreszeiten, Lebensaltern, Körpersäften und Charakteren zu, ähnlich (S. 168) der byzantinische Mönch Meletios. S. 117, 118, 185: Vindician, ein Freund Augustins, verbindet im Brief an Pentadius die vier Körpersäfte der Humoralpathologie mit Charakteren, Jahreszeiten, Tagesstunden, Lebensaltern; danach richtet sich die im 12. Jahrhundert entstehende mittelalterliche Temperamentenlehre, auch in der Ärzteschule von Salerno. S. 180: Nach Hugues de Fouilloi (12. Jahrhundert) herrscht die Melancholie in der linken Körperseite, ähnelt dem Herbst, der Erde und dem Greisenalter. S. 203: Arabische Autoren des 9. Jahrhunderts verknüpfen mit nachhaltiger Wirkung Planeten und Temperamente: Jupiter sanguinisch, Mars cholerisch, Saturn melancholisch, Luna oder Venus phlegmatisch; das bauen – wiederum mit Assoziation an Lebensschicksal und -dauer, Gesundheit, Krankheit, Körperbau, Charakter – Autoren wie Bartholomaeus Anglicus und Alanus von Lille im 12. Jahrhundert aus (S. 279–282), wobei die düstere Bedeutsamkeit des Saturn stark von der arabischen Astrologie ausgearbeitet und weitergegeben wird (S. 203–211). 667 I 40 (Vom Schwinen oder Schwintsucht). 668 VIII 182 (Paragranum). 669 Friedrich Ohly, Zur Signaturenlehre der frühen Neuzeit, aus dem Nachlass hg. v. U. Ruberg und D. Peil, Stuttgart/Leipzig 1999.

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lin, Agrippa von Nettesheim) ist. »Denn signatura ist scientia, durch die alle verborgenen Dinge gefunden werden.« 670 »So nun zu Grund gegangen werden soll, so muss magica scientia der Anfang sein und der Grund zum Lernen.« 671 Die Übereinstimmungen, auf die es dabei ankommt, können schlicht und naheliegend sein: »Die Nessel brennt, der Pfeffer auch, und ist kein Feuer in der Glut, dennoch ist es gleich dem, als wäre Feuer und Glut, das ist potentia und ist magica.« 672 Besser kommt das Schwebende der vielsagenden Eindrücke, die statt glatt ablesbarer und abbildbarer Merkmale dieses Denken leiten, in einer Charakteristik des Mars durch den auf Paracelsus zeitnah folgenden Bruno zum Vorschein: »Daher ist der ganze Gott, obwohl nicht völlig, vielmehr in einigen mehr, in anderen weniger, in allen Dingen. So ist z. B. Mars nicht bloß in einer Viper und einem Skorpion, sondern selbst in einer Zwiebel und einem Lauch den natürlichen Spuren und der Art seines Wesens nach wirklicher gegenwärtig, denn in irgendeiner beliebigen Darstellung der Malerei und Skulptur.« 673 Ein sprechendes und geschichtlich wirksames Schema polaren Denkens in vielsagenden Eindrücken ist die von Aristoteles berichtete pythagoreische Tafel von Gegensätzen, wo auf der einen Seite die Grenze, das Ungeradzahlige, das Eine, das Rechte, das Männliche, das Ruhende, das Gerade, das Licht, das Gute, das Quadratische steht, auf der anderen Seite das Endlose, das Geradzahlige, die Menge, das Linke, das Weibliche, das Bewegte, das Krumme, das Dunkel, das Schlechte, das oblange Rechteck. 674 Die Titel auf jeder Seite gehören zusammen und umschreiben einen leicht nachvollziehbaren vielsagenden Eindruck, der noch bei Fouilloi666 aufblitzt, in Gestalt der Assoziation von Melancholie und linker Körperseite. Die Tafel hat im Denken der Akademie und besonders des Aristoteles tiefe Spuren hinterlassen, 675 und Proklos knüpft an sie die dynamische Polarität an, die die Schichten seines Universalgebäudes durchzieht (16.4). Bei Paracelsus kommt etwas Ähnliches als Gegensatz zweier Kräfte vor, II 89 (Von den natürlichen Dingen, 1. Buch). II 87 (ebd.). 672 I 155 (Vom Kaltenweh). 673 Giordano Bruno, Die Vertreibung der triumphierenden Bestie (Spaccio de la bestia trionfante, deutsch von L. Kuhlenbeck), Leipzig 1904, S. 219. 674 Aristoteles Metaphysik 986a 23–26, s. Band I S. 103. 675 Vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles Band II: Platon und Aristoteles, Bonn 1985, S. 255–259: Pythagoreische Gegensatztafeln an der Akademie. 670 671

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des Archaeus und des Yliaster. Archaeus entspricht dem Prinzip der Grenze, indem er alle Dinge in ihr Wesen ordiniert, je eines vom anderen scheidet, jedem den ihm zustehenden Samen gibt und damit dem Vulcanus terrae, der ausarbeitenden Kraft, ihr Instrument liefert. Yliaster gleicht dem weiblichen Prinzip des Endlosen nach Proklos, als eine Kraft mit mehrender, wachsender, hervortreibender Art, die im Wachstum spendenden Regen, im Gras usw. wirkt. 676 Sonst aber setzt Paracelsus als universales Gliederungsprinzip an die Stelle der dualen Polarität und der vier Körpersäfte, Qualitätenpaare und Temperamente sein triadisches Schema Salz–Schwefel–Quecksilber, vielsagender Eindrücke in Gestalt anorganischer Mineralien; davon gleich unter 27.4.

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27.2 Die Konkordanz Der Philosoph soll wissen, »wie alle Dinge konkordieren«. 677 Der Gegner von der alten Schule ist ein Narr, denn er »weiß der Natur Konkordanz nicht«. 678 Das Äußere und das Innere sind ein Ding, eine Konstellation, eine Influenz, eine Konkordanz. 679 Ein einfaches Beispiel ist die Wetterfühligkeit aufgrund derselben Konstellation in der Konkordanz. 680 Konkordanz ist kein kausaler Eingriff: »(…) aber die Konkordanz: Ihr seht das Feuer, das außen ist, das macht uns nicht heiß, sondern es zündet unser Feuer an in uns, das macht uns heiß.« 681 Das Äußere ist also nur Anreger eines ihm konkordierenden spontanen Prozesses im Inneren; Paracelsus spricht von »Anzünden-Konkordanz«.681 Diese mittelbare Einwirkung kann in Verführung ausarten: Der Mensch und der Himmel haben eine Konkordanz wie eine Ehe, wobei der Himmel, »mit allen (weiblichen) Listen geziert«, den Menschen wie »Eva Adam überlistet und toll macht in seiner männlichen Vernunft«; er »weiß nicht, wo aus, wohin, und die Frau lässt ihn stecken«. 682 Andererseits ziehen die Menschen täglich Vernunft und Weisheit von oben an, sättigen ihre Vernunft mit 676 677 678 679 680 681 682

XIII 158 (Liber meteorum). VIII 121 (Paragranum). VIII 171 (ebd.). VIII 180 (ebd.). I 78 (De Colica. Von dem Bauchreißen). V 482 (Antimedicus). XIV 65 (Philosophia magna, 1529–1532).

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Die Konkordanz

dem täglichen Gestirn, das ihre Sinne und Gedanken erhält, wie das Brot den Leib, und der Astronom weiß, wie das Gestirn in seinem täglichen Lauf wirkt, indem es sich mit dem Menschen konkordiert. 683 Die Konkordanz ist wie eine magnetische Attraktion dem Geist, nicht der Substanz nach, 684 die zu magischen Heilungen genützt werden kann: Die schmerzenden Zähne werden mit einem Kraut bestrichen, dieses wird in der Erde vergraben, und mit seinem Verfaulen schwindet der Schmerz, weil Kraut und Krankheit »mit einander dermaßen geleibt sind«, wie die Sonne mit der Erde »konkordiert«: Mit der Sonne schwindet die Wärme auf der Erde, mit dem Kraut der Zahnschmerz. 685 In gleicher Weise entsprechen vier Geschlechter der Wunden den vier Elementen und sind aus dem jeweils entsprechenden zu heilen, 686 wie auch gewisse (nicht näher bezeichnete) Fristen des Lebens von längerer oder kürzerer Dauer ihre Partner unter den vier Elementen haben. 687 Krankheiten entstehen nicht dadurch, dass ein Anteil am Leib sich verschlechtert, sondern aus Zersetzung der Konkordanz, die darin alles so straff in eine Temperatur einbindet, dass keine einzelne Species auffällig wird; erst mit ihrem Hervortreten wird diese »ein einig Wesen vollkommen in seiner Art«, das dann aber in der Konkordanz keine Kraft mehr hat, und der Mensch wird krank. 688 Immer aber bedarf es für die irdische Konkordanz des Himmels; Kraft (zum Heilen) ist in den Steinen nur, wenn die Konkordanz des Himmels da ist. 689 Von der Konkordanz aus opponiert der Arzt Paracelsus gegen die am toten Körper gewonnene Anatomie, nur »zu wissen, wo Lunge und Leber hängt«, 690 »ohne Betrachtung, dass die essentia, Eigenschaft, Wesen und Kraft, so das Höchste der Anatomie ist, abgestorben und verdorben« ist. 691 »Das ist das rechte Buch, aus dem die Anatomia folgen soll, dass der Mensch wisse, der Elementen und Microcosmi Substanz, Proportiones usw. zu vergleichen«, 692 »denn XII 165 f. (Astronomia magna). II 92 f. (Von den natürlichen Dingen, 1. Buch). 685 II 24 (Herbarius), ebenso VI 257 (Von allen offenen Schäden, Heilung eines Geschwürs). 686 VI 71 (Drei Bücher von der Wundarznei). 687 VI 236 (Von allen offenen Schäden). 688 VI 225 (ebd.), dazu auch S. 226 und 230. 689 VIII 172 (Paragranum). 690 VI 334 (Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern). 691 VI 333 (ebd.). 692 XI 184 (Labyrinthus medicorum errantium). 683 684

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Paracelsus

das, was einem Arzt zu seinem Wissen dient, ist nichts, als allein, was ihm der Himmel beweist. Das ist, wie die Sonne durch ein Glas scheint ohne einen Körper und Substanz, also sind die Gestirne je eines gegen die anderen; also auch im Leib, und das, das nicht Körper ist, ist die Krankheit, und das, was Körper ist, ist nicht die Krankheit.« 693 Demgemäß fordert er von seinen Kollegen, »dass ihr das corpus heraus ließet und nähmet virtutem heraus«. 694 Die Philosophie soll den ganzen Menschen erscheinen lassen, mit Krankheiten, Zufällen, Gesundheit und Trübsal; Augen, Ohren, Stimme, Atem, Beweglichkeit sollen in der Welt gefunden werden; wenn das auswendig erfahren ist, gehe man in den inneren Menschen. 695 Paracelsus revoltiert also gegen den Reduktionismus einer auf der lokalen Anatomie der Leiche aufbauenden Medizin und verknüpft diesen Gedanken mit dem der Konkordanz von Mensch und Himmel. »Im Menschen sind Sonne, Mond und alle Planeten.« 696 Der Mensch hat so viele Orte wie der Himmel Operationen. Daher soll der Arzt den Menschen nach den Teilen des Himmels erkennen »und nicht mit der phantastischen Anatomie der Toten (…). Sondern der Himmel und Erden, Luft und Wasser, die zeigen an, was im Menschen sei.« 697 Im Einzelnen: »Das Herz ist die Sonne, (…) der Schein des Leibes, den der Leib bedarf, (so) dass ihm das Herz Sonne genug ist. Also der Mond auch sich wie das Hirn vergleicht und das Hirn wie er«, während die Milz dem Saturn, die Nieren der Venus, Merkur der Lunge, Jupiter der Leber zugeordnet werden, und »die Galle ist der Mars«. 698 Diese Identität von Makro- und Mikrokosmos besteht aber »nicht in der Form und leiblichen Substanz, sondern in allen Kräften und Tugenden«. 699 Wie ihre praktischen Folgen aussehen können, zeigt folgendes Beispiel: Je höher im Sommer die Sonne steht, desto stärker zieht sie die mikrokosmische Sonne an sich, und der Mensch wird kälter. Im Winter ist die äußere Sonne schwächer, dann bleibt die eigene – das Herz698 – im Menschen; darum ist er im Winter stärker, und alle Glieder freuen sich dann dieser Sonne, die mit aller Kraft im VIII 161 (Paragranum). VI 349 (Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern). 695 VIII 144 f. (Paragranum). 696 VIII 163 (ebd.). 697 IV 477 (Modus Pharmacandi). 698 I 208 (Paramirum primum), wesentlich detailliertere Zuordnung VI 248 (Von den offenen Schäden). 699 IX 308 (Die Bücher von den unsichtbaren Krankheiten). 693 694

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Die Konkordanz

Leib bleibt. Darum muss man ihr im Winter genug zu essen geben, denn die Sonne im Menschen zehrt’s hinweg wie die äußere Sonne das Wasser in einer Lache. Ebenso vieler Aufmerksamkeit bedarf ihre Ernährung bei sehr alten und sehr jungen Menschen sowie bei Athleten. 700 Das Konkordanzmotiv verbindet sich demgemäß bei Paracelsus mit der von ihm vielgebrauchten Mikrokosmos-Topik: Der Mensch ist die kleine Welt, die alles Himmlische und Elementarische in sich schließt, »nicht in der Form und leiblichen Substanz, sondern in allen Kräften und Tugenden wie die große Welt«,699 gleich an Potenz mit dem Himmel, dem er die Besonnenheit voraus hat, und ein Geschöpf mit ihm, so dass beide, Mensch und Himmel, sich gegenseitig »praefigurieren« und dabei auch in die Irre gehen können. 701 Der Mikrokosmos wird sogar in Verschachtelung iteriert: Die Gebärmutter der Frau ist ein Mikrokosmos in dem Mikrokosmos, der die Frau ist. 702 Der Mensch ist aber nicht nur eine kleine Welt, sondern auch das Zentrum aller Dinge, der Punkt des Himmels und der Erde; alles, was er in sich fasst, kommt von den Zirkeln außerhalb des Punktes in den Punkt. 703 Das klingt, als sei der Mikrokosmos vor allem rezeptiv, auf Füllung von außen angewiesen, aber das ist keineswegs die Meinung des Paracelsus, da die Konkordanz nur ein indirekter Einfluss, eine Anregung oder Anstiftung, ist.681 Die äußeren Planeten tun nichts im Menschen; der innere Himmel mit seinem Planeten tuts, der äußere ist nur sein Zeiger. 704 Der äußere Himmel ist »ein Wegweiser des inneren Himmels«; alle Infektion geht vom Gestirn an und folgt hernach im Menschen. 705 Dieses Verhältnis ist am ehesten der prästabilierten Harmonie der Monaden nach Leibniz vergleichbar. »Der Mensch ist der rechte Himmel; aus ihm entspringen seine Jammer. Der obere Himmel gibt allein die Zeichen und Ruten, in uns aber geschieht die Generation, darum wir nicht bitten sollen für die Wirkung des oberen Himmels, sondern in uns unsern Himmel reinigen, so ist ein allgemeiner Friede.« 706 Das Innere ist der

700 701 702 703 704 705 706

IV 519 f. (Deutsche Kommentare zu den Aphorismen des Hippokrates). I 154 f. (Vom Kaltenweh). VIII 327 (Von den hinfallenden Siechtagen der Mutter). XIII 164 und 166 (Astronomia magna). I 78 (De colica. Von dem Bauchreißen). VIII 97 (Paragranum). VIII 238 (Weiteres zur Praktika gemacht auf Europen auf vier Jahr).

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Paracelsus

Meister, das Äußere sein Schirm und Behalter (Behälter?). 707 Der Himmel, unter dem jeder lebt, ist sein eigener: »So wir wollen kürzlich ens astrorum merken, so müssen wir am Ersten finden, was der Himmel sei, und ist also, der Himmel ist ein Geist und ein Dunst, in dem wir wohnen wie ein Vogel in der Zeit. Nicht allein die Sterne oder Mond usw. machen den Himmel, sondern es sind Sterne bei uns, die Selbigen machen ihn auch, die wir nicht sehen und (die) in uns sind.« 708 Der Schlaganfall ist ein Donnerschlag für den, der ihn leidet, »als schlüg Erd und Himmel zusammen«, aber wir hören ihn nicht, denn »wir sind außerhalb der selbigen Welt, allein, was in ihr ist, das hörts, so ist der Mensch allein in ihr selbst, drum hört ein Jeglicher seinen Himmel selber und (den) des anderen nicht, denn ein Jeglicher trägt seines Himmels eigene Impression selbst (…).« 709 In der durch solche Texte nahegelegten Vorstellung einer Monaden-Konkordanz herrscht völlige Ausgewogenheit von Individualität und Gemeinschaft; dem stehen aber Formulierungen entgegen, die die Umkehrung der Rollenverteilung zwischen Himmel und Mensch – jener der Anreger und Wegweiser, dieser der auf das Zeichen der Anregung hin selbstständig Wirkende – umzukehren scheinen. Vom Himmel kommt keine Impression, er drückt uns nichts ein, Inklination (durch Mars, Saturn, Luna) ist nichts, »billiger wird gesprochen, der Mars schlägt dem Menschen nach.« 710 Wenn wir das Gestirn nicht durch unsere Imagination infizierten, fiele keine Impression auf uns. 711 Paracelsus unterscheidet einmal sieben Astrologien, von denen die erste sich auf »ein Gestirn, das alles regiert« beziehe. »Aber noch eine Astrologie ist vorhanden, die entspringt aus der Imagination des Menschen, die ist über alle anderen und ist die achte (…). So ist das Gestirn in acht Teile geteilt, eins ist gewaltig, sechs sind Subjekte, das achte ist auch gewaltig und ist gleich dem ersten und ist mehr als das erste in etlichen Punkten (…).« 712 »Der ganze Himmel ist nichts als Imagination«, und während Sonne, Mond und Sterne nur je eine Gewalt haben, ist der Mensch alle Sterne, »wie er gedenket, so ist er, und das Selbige auch, wie ers gedenket.

707 708 709 710 711 712

V 482 (Antimedicus). I 236 (Paramirum primum). I 86 f. (Vom Schlag). IX 115 (Opus Paramirum). VIII 381 (Zwei Bücher von der Pestilenz und ihren Zufällen). X 644 f. (Ein mantischer Entwurf).

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Begriffe aus vielsagenden Eindrcken

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Denket er ein Feuer, er ist Feuer, gedenkt er einen Krieg, es ist Krieg und dergleichen (…).« 713 »Gott, der im Himmel ist, der ist im Menschen, denn wo ist der Himmel als der Mensch? So wir ihn brauchen sollen, so muss er in uns sein.« 714 So etwas klingt wie die Stimme des Baccalaureus im Faust, wie exzessiver subjektiver Idealismus, im Gegensatz zur Einordnung des Mikrokosmos in den Makrokosmos. Der Gegensatz ist aber nur scheinbar, denn die Konkordanz ist so innig, dass jeder tut, was alle tun, und auf diese Weise alle gewissermaßen allmächtig sind. Paracelsus kehrt damit zu Plotins Konzept der Vieleinigkeit zurück, das ich in Band I so paraphrasiert habe: »In der oberen Welt, lehrt Plotin, ist der eine Gott alle Götter, und jeder ist alle, die zwar ihren besonderen Kräften nach andere sind, der ein-vielen Gesamtkraft nach aber alle einer oder vielmehr einer-alle, auf einen Schlag beisammen und wiederum jeder gesondert in abstandslosem Abstand; sonst wäre der eine hier, der andere woanders und nicht der Einzelne in sich selbst jeder.« 715 Diese Vision einer übersinnlichen Welt überträgt Paracelsus in die magisch verstandene empirische, wo die »magische Impression von uns aus in den Himmel, von ihm wieder in uns« geht.711 Wir und der Himmel sind ein Geschöpf, 716 der Mikrokosmos ist »die selbige Welt« wie der Makrokosmos 717 »Der Planet und der Mensch ist ein Ding.« 718 Der Arzt muss ermitteln, »wo er finde den Himmel in einem Jeglichen mit seiner Konkordanz (…). Denn der Himmel ist der Mensch und der Mensch ist der Himmel und alle Menschen ein Himmel und der Himmel nur ein Mensch.« 719

27.3 Begriffe aus vielsagenden Eindrcken »Was redet aus dem Menschen, was (als) Gesicht aus den Augen?« So fragt Paracelsus, und er antwortet: nicht kalt und warm, nicht feucht und trocken, die Qualitäten der humoralpathologischen Komplexionen, denn was geht das das Gesicht an? Vielmehr: Das Gesicht 713 714 715 716 717 718 719

XIV 311 (Philosophia magna). IX 220 (Opus Paramirum). Vgl. Band I S. 331 nach Enneaden V 8 [31] 9, 14–22, vgl. V8 [31] 4, 4–11. I 154 (Vom Kaltenweh). I 136 (Vom Podagra). IX 569 (Ausarbeitungen zur Beulenpest). VIII 100 (Paragranum).

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Paracelsus

ist »ein arcanum der Augen«. 720 Was aus den Augen redet, ist ein vielsagender Eindruck, der nicht so glatt wie jene Qualitäten abgelesen und abgestempelt werden kann, sondern einer sensiblen Vertiefung bedarf, um aufgefasst und verstanden zu werden; insofern ist er ein Arcanum, oder auch, wie Paracelsus dergleichen anderswo der Form entgegensetzt, verborgene Natur und Eigenschaft, 721 wobei »Eigenschaft« in seiner Sprache den Sinn von »Eigenart« hat, also die gleichsam persönliche Note eines erscheinenden Wesens bezeichnet. Diese Natur und Eigenschaft – Paracelsus sagt auch »Art« und »Wesen« dafür 722 – ist aber keineswegs unzugänglich, denn alle Gewächse geben durch Form und Operation zu erkennen, »was ihre Eigenschaft und Wesen sei«, 723 und »alle Eigenschaften, Arten und Wesen, die äußerlich sind, befinden sich vollkommen auch innerlich im Menschen.« 724 Das Geheimnisvolle besteht nur darin, dass nicht der oberflächliche Augenschein genügt, sondern sensible Vertiefung nötig ist, um das Gesuchte ausfindig zu machen; »der Sinn, der gibt’s«, sagt Paracelsus. 725 Dieser Aufgabe nimmt sich die Physiognomik an, die dem Arzt den Weg zur passenden Arznei zeigt, »denn aus der Physiognomie der Krankheit wird genommen die Physiognomie der Kräuter usw., und so lehrt die Physiognomie, Gleiches auf Gleiches zu verfügen«. 726 Die Natur zeichnet jedes Geschöpf mit dem Zeichen dessen, was in ihm ist. Im Menschen, aber auch in jedem anderen Gewächs, »wiewohl im Menschen am meisten Affekte sind«, ist die natürliche Tugend in der Physiognomie verzeichnet, z. B. beim Menschen des Herzens Begehren in den Augen und bei den Blumen entsprechendes »in dem, das anstatt der Zungen ist«, und die Kunst, zu erkennen, was diese Zeichen bedeuten, macht den Arzneikundigen. 727 Das ist die Wissenschaft der Signaturen, die Paracelsus exemplarisch am Wasserblut (einem Kraut) und am Johanniskraut erörtert. 728 Unter den vier Disziplinen der scientia signata (SignatuVIII 88 (Paragranum). VI 234 (Von den offenen Schäden). 722 z. B. II 231 (Von den natürlichen Bädern), VIII 164 (Paragranum: »Natur, Lauf, Wesen, Früchte, Eigenschaften usw.«). 723 X 299 (Große Wundarznei). 724 X 301 f. (ebd.). 725 VIII 337 (Von hinfallenden Siechtagen der Mutter). 726 VIII 304 (ebd.). 727 X 300 f. (Große Wundarznei). 728 II 86–97, 111–116 (Von den natürlichen Dingen, das erste Buch). 720 721

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Begriffe aus vielsagenden Eindrcken

renlehre) – Chiromantie, Physiognomie des Antlitzes, Substantina für die Gestalt des ganzen Leibes, mos und usus als Weise und Gebärde des Menschen oder der Nesseln mit ihrem Brennen 729 – zeichnet sich besonders die Chiromantie ab, die in den Ästen der Menschen (Händen und Füßen) an Adern, Striemen, Linien, Runzeln und entsprechend an allen Kräutern, Gesteinen und natürlichen Dingen überhaupt liest.729 Bei dem einen entdeckt sie Handlinien von der Natur des Feigenbaums, das ist dann ein weicher Mensch, unbeständig, luftig usw.; bei dem anderen haben sie etwas von der Tanne, der ist grob, während pfirsichhafte Züge einen leicht und flüchtig erregbaren Menschen mit unverdaulichem Kern (Pfirsichkern) verraten. 730 Man sieht an diesen Beispielen, wie eine Art Wesensschau aus sinnlichem Material Baumwesen als Anhalt für ganzheitliche, in ihrer Bedeutung nicht restlos explizierbare, insofern vielsagende Eindrücke benützt, um sich an Charaktere von Menschen heranzutasten. Die Übereinstimmung in der Signatur kann bis zur Identität anwachsen: »Was meint ihr, dass Venus sei, als allein Artemisia (d. h. Beifuß, ein Kraut)? Was Artemisia als allein Venus? (…) Was also ist ferrum? Nichts als Mars, was Mars? Nichts als ferrum, das ist, beide sind ferrum oder Mars, das Selbige ist auch urtica (Brennnessel), auch terreniabin quarta, und ist alles eins. Der Mars erkennt, der erkennt Eisen, und wer Eisen erkennt, der weiß, was Mars ist.« 731 Das identifizierende Denken der Konkordanz als neuplatonische Vieleinigkeit (27.2) beschreitet hier die Brücke des vielsagenden Eindrucks (der zuständlichen impressiven Situation), die an dem zum Planeten gewordenen Gott, am Eisen und an der Brennnessel begegnet und diese Objekte so beherrscht, dass jedes »nichts als« das andere mehr ist. Das Beispiel deckt sich mit dem von Bruno,673 der aber nichts Neuplatonisches beibringt. In anderen Fällen begnügt sich Paracelsus damit, das sinnfällige Zeichen sein eindrucksgleiches Analogon »bedeuten« zu lassen: Der dunkel-trübe Marmor bedeutet die Erde, der lautere, durchsichtige Kristall die Luft, der Dotter die untere Sphäre (Erde und Wasser), das Eiklar die obere (Luft und Feuer), aber auch hier fügt er an: »Die Luft ist nichts als ein Chaos und Chaos nichts als ein Eiklar, und das Ei ist Himmel und Erde.« 732 Ein solches 729 730 731 732

XII 175 f. (Astronomia magna). XIV 182 (Philosophia magna). VIII 146 (Paragranum). VIII 95 (ebd.).

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Paracelsus

Denken richtet sich beim Identifizieren nach vielsagenden Eindrücken, ohne die sachlichen Unterschiede zu verkennen: Der Form nach sind empfindungslose Gestirne mit Wesen aus Fleisch und Blut, Menschen und Tieren, unvergleichbar, aber die Rechtfertigung dafür, deren Namen auf die himmlischen Tierkreiszeichen zu übertragen, beruht auf der »Natur und Eigenschaft, die in beiden corporibus verborgen liegt«, und entsprechend will Paracelsus den offenen Schäden, z. B. Geschwüren, die Namen von Mineralien geben, denen sie nach »Ursprung, Eigenschaft und Art« vergleichbar sind. »Denn es ist mehr gebräuchlich in der Arznei (Wissenschaft) denn der Philosophie, die Eigenschaft und Art zu erkennen, denn die Form und Corpora, die gegen einander keine Kraft geben.« 733 Paracelsus will keine Physik der Körper im Sinne der modernen reduktionistischen Naturwissenschaft treiben, da in seinem magischen Weltbild wie bei den frühen griechischen Denkern vor dem Bruch mit dem archaischen Denken (9.1) 734 als wirkende Kräfte die vielsagenden Eindrücke gelten. Ähnlich ordnet er Krankheiten den Elementen, Gewächsen, dem Schnee, Hagel (Harnsteine), Schauer, Blitz, dem Regen (Bauchflüsse aller Art), Sonnen- und Mondfinsternissen (Schlaganfall, Tod) zu. 735 Besonders sorgfältig führt er den Vergleich zwischen dem Gewitter (er sagt »Donner«) und dem epileptischen Anfall durch, um die These zu rechtfertigen, »dass der Donner und der hinfallend Siechtag ein Ding sei, ein Ursprung, ein Wesen und ein Materia«. 736 Wenn der Donner kommen will, wird das Wetter heißer, »schwelmiger«, widerwärtiger; entsprechende Vorboten gibt es beim Kranken. Darauf folgen am Himmel aufziehendes Gewölk, beim Kranken »Nebel vor den Augen, dummen, des Gesichts Schwäche, ein anfallender Schlaf.« Anschließend erhebt sich am Himmel ein Wind, der nichts liegenlässt; entsprechend geht im Leib des Kranken ein Wind an, der den ganzen Leib trübt, so dass Bauch und Hals auflaufen. Dann kommt in der Natur das Gewitter, beim Kranken der Kampf. Dem Gewitterregen entspricht der Schaum vor dem Mund. Die Erholung braucht in beiden Fällen Zeit: in der Natur von Nässe und Bekotung der Wege, beim Kranken als Ruhe und Rast, damit Vernunft, Körper, Gehör,

733 734 735 736

VI 234 (Von den offenen Schäden). Vgl. Band I S. 36 f. und Parmenides 28 B9, 2 (Diels/Kranz). VIII 121 f. und 176 (Paragranum). VIII 278 (Von den hinfallenden Siechtagen).

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Salz, Schwefel und Quecksilber

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Gesicht usw. wieder in Ordnung kommen und die »Sonne microcosmi« wieder scheint. 737 Große Schwierigkeiten sieht Paracelsus für eine Verallgemeinerung, die eine schematische Anwendung solcher Zusammenhänge auf den jeweils vorliegenden Fall gestatten könnte. Er setzt sein (ärztliches) Regiment auf den vierten Teil des deutschen Landes, »weiter möchte ich nicht reichen«, weil auf Land und Himmel, Konfluenz und Influenz der Erde und des Himmels Rücksicht genommen werden muss. 738 Noch verwirrender wird die Vielfalt im folgenden Szenarium dargestellt: Der Mensch ist ausgeteilt nach den Regionen der Welt. Jede Region hat eine besondere Influenz und Konstellation. In deutschen Landen gibt es solcher Regionen viele hundert, nicht nach dem Namen oder der Sprache ausgeteilt, sondern nach des Himmels verordneter Konspiration. Oft konspirieren ein Mensch und eine Region, obwohl sie hundert oder tausend Meilen von einander entfernt und weder durch Geburt noch durch Erkenntnis mit einander verknüpft sind. 739 Daher kommt alles auf die »Nase«, die eindrucksempfängliche Sensibilität, des Arztes an: »Denn dieweil der Arzt nichts ist als ein Leithund (d. h. Jagdhund), derselbige schmeckt das Wild und schmecket seinen Fußschlag so lang von einem zum andern (Tritt), bis er das Wild selbst findet. Das lasst Euch ein Exempel sein, wie es der Hund in der Nase hat, dass ihr’s dermaßen in (den) Augen habt (…). Denn allein durch solche Spur müsst ihr die Rezepte setzen und weiter keine Ordnung darin halten, als allein, was die Spur euch anzeigt.« 740

27.4 Salz, Schwefel und Quecksilber Trotz der Schwierigkeiten bei Verallgemeinerung der in der Sicht des Paracelsus grundlegenden vielsagenden Eindrücke (27.3) hat er eine Systematisierung versucht, die alle Dinge der Welt auf drei Prinzipien zurückführt: Sal, Sulphur und Mercurius, d. h. Salz, Schwefel und Quecksilber. Alles steht in Sa Su M, 741 alles ist in diese drei 737 738 739 740 741

VIII 281 f., 284 (ebd.). VIII 364 (Von den hinfallenden Siechtagen der Mutter). X 346 (Große Wundarznei). VIII 365 (Von den hinfallenden Siechtagen der Mutter). II 213 (Tractatus de materia prima). Unter 27.4 verwende ich die angegebenen Kür-

zel.

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Paracelsus

Stücke gesetzt; 742 alles, was Medizin und Philosophie behandeln, muss aus diesen gehen. 743 Der Mensch ist nichts als Sa Su M. 744 Alles geschieht durch die Planeten und des Gestirns Art, so sie es haben aus Sa Su M, »denn aus diesen dreien gehen alle Eigenschaften, Art, Wesen, Natur und dergleichen« hervor. 745 Die Lehre von den drei Prinzipien tritt schon in den frühesten Schriften ohne Begründung auf und hält sich bis zum Ende durch. Für Schwefel und Quecksilber ist sie der Alchemie abgesehen, in der seit dem islamischen frühen Mittelalter diese beiden Stoffe, oder auch Quecksilber allein, mit der Prinziprolle für die Materie betraut wurden. 746 Das Salz fügt Paracelsus hinzu. In mehreren Hinsichten ist seine Konstruktion nicht leicht durchschaubar und wohl auch nicht eindeutig. Bisweilen gibt er die Prinzipien als Körper (Säfte) aus, um aber gleich hinzuzufügen, Sa und Su hätten viele Körper, während M nur ein Körper sei, den aber das astrum der Sonne auf viele Arten zubereite; 747 andererseits sagte er, dass Sa Su M einem jeglichen seinen Körper geben, und nennt jedes »ein Wesen«, 748 was nach seiner Terminologie722 eher auf die vielsagenden Eindrücke (auch »Art« und »Eigenschaft« genannt724 ) zutrifft, mit denen er die Körper zu deren Ungunsten (als kraftlos) vergleicht.733 Nicht ganz klar wird auch, wie sich die Prinzipien zu den unter ihren Namen bekannten Stoffen verhalten. Außer der Identifizierung »Mercurius vivus, das ist argentum vivum« 749 kommt auch die Unterscheidung »vis mercurialis, aber nicht argentum vivum« 750 vor. Als zuverlässige Richtschnur dürfte die Angabe dienen können, dass die drei sinnlichen Stoffe nur Standard-Repräsentanten der nach ihnen benannten Prinzipien sind, wodurch wir diese »erklären«, indem sie sich mit ihnen als deren Wirkungen »vergleichen« lassen. 751 Die erste Materie ist allein Sa Su M, aus den Dreien zusammenII 98 und 213, VI 217, ähnlich oft. VI 217 (Von allen offenen Schäden). 744 VIII 279 (Von den hinfallenden Siechtagen). 745 VIII 350 (Von den hinfallenden Siechtagen der Mutter), ebenso II 213, s. o. A. 741. 746 Vgl. Claus Priesner, Karin Figala (Hg.): Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 288–290 (Prinzipien), 205–209 (Quecksilber), 327–329 (Schwefel), 366 (unter Verbrennung). 747 IX 51 f. (Opius Paramirum); II 98 (Von den natürlichen Dingen). 748 III 42 (De mineralibus). 749 IX 525 (Von der Bergsucht). 750 VI 421 (Von Blattern, Lähmen, Beulen, Löchern). 751 IX 48 (Opus Paramirum). 742 743

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Salz, Schwefel und Quecksilber

gesetzt. 752 Sie »entkochen« (decoquieren) sich (offenbar aus ihr) in der Weise, dass zuerst Su den Leib dargibt, dann M sich von den beiden anderen in seine Eigenschaft trennt und schließlich Sa die Konservierung in drei Schritten (Koadunieren, Kongelieren, Koagulieren) besorgt. 753 Alle Dinge kommen aus dem Koagulierten (Geronnenen), das in ein Resolutum übergehen muss, woraus sich alle Erzeugnisse (procreata) ergeben; aber da das Koagulierte sich nicht löst, ohne etwas von seiner Art zu behalten, strebt es ins Koagulum der drei Prinzipien zurück. 754 Wie versteht Paracelsus seine Prinzipien? Ich führe zunächst einige vergleichende Charakterisierungen an, um anschließend jedem Prinzip einzeln nachzugehen. »Was da brennt, ist Sulphur, was feucht ist, ist Mercurius, was da ein Balsam der Beiden ist, das ist Salz.« 755 »Also ein jeglich Ding, was da ist: Was darin nicht brennt, ist Mercurius, was aber brennt, das ist Sulphur, und, was im Brennen bleibt, das ist Sal.« 756 Su ist Feuer, in dem die Transmutation und die Subtilität jeglichen Dinges liegt, wie im Sa die Farben, im M die Arznei, die wachsende Kraft, das Leben in allen dreien, als ein Elixir (verwandelnder Zusatz). Durch das Feuer Su (nicht das Element Feuer) wird die Exaltation, denn es gibt kein Ding, das nicht in der Transmutation brennt, und das ist Feuer. Ebenso gibt es kein Ding, das nicht einem feind wäre, gegen ein anderes böse oder gut, und das hat es von M. 757 Der Mensch ist Sa Su M. Sein Leib ist subtiler, vollständig verbrennbarer Su. Es gibt viele Su darin, teils volatiler, teils fixer. Die Koagulation, Härte und Weichheit, stammt aus dem Sa, ohne das nichts Greifliches da wäre. Ohne Su hätte der Baum keine Form; ohne Sa zerfiele er mangels Koagulation. 758 Sa gibt Farben und Koagulation, Su gibt corpus, Substanz und Gebäude (Struktur), M Tugenden, Kräfte und Arcana.759 Alle Körper sind hiernach der Substanz, Struktur und Form nach Feuer (aber nicht das sogenannte Element) und verdanken dem Salz nur ihre Festigkeit und Greifbarkeit; III 41 und 42 (De mineralibus). III 48 (ebd.). 754 V 132 f. (Entwürfe zu den Büchern de Tartaro). 755 II 99 (Von den natürlichen Dingen). 756 V 133 (Entwürfe zu den Büchern de Tartaro), vgl. IV 384 (Vom Aderlass): Die Asche ist das Salz des Holzes. 757 II 213 (Tractatus de prima materia). 758 IX 82–84 (Opus Paramirum). 759 III 43 (De mineralibus). 752 753

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Paracelsus

ausdrücklich bezeichnet Paracelsus Magen, Leber und Nieren als Feuer. 760 Demgemäß ist bei den Mineralien Su der Leib, in den man wirkt, M die Eigenschaft und Kraft, Sa die Kompaktion, Kongelation, Adunation. 761 Die Tyrannität des Saliter (wohl gleich Sal) ist die Feißte, das Fett, die des M dessen »Kontrarietät, so dass er wider alles ist, und in allem böser als anderes Widerwärtige«; dagegen ist Su »der zäheste, subtilste Körper, vermischt mit anderen in eine vollkommene Substanz.« 762 Ich komme nun zur Einzelcharakteristik der Prinzipien und beginne mit M. Merkurialische Kraft liegt in jeglichem Ding und kann durch Digestion herausgezogen werden.750 »Nun, was die Natur ist, das ist, was die Kraft, Tugend, Eigenschaft, Wesen und Art ist, das kommt alles vom Mercurius.« 763 M ist der Arzt, der laxiert, konsolidiert, kuriert, 764 das Curativ aller Widerwärtigkeiten Microcosmi. 765 Diese Heiltätigkeit ist aber nur die Oberfläche seiner eigentlich kalten Natur: Mercurius vivus, das ist argentum vivum, ist mit allen Eigenschaften der Mond und in aller Natur der Winter. In ihm liegen alle Wintersterne, die Winterart und was dazu dient. Das soll man sich vorhalten, um zu erkennen, in was für Macht und Kraft er sei. Ohne gründliche Philosophie hat man ihn wie Gold unter der Sonne betrachtet; nach seiner Art hieße Mercurius besser Mond, Winter, Schnee, Eis.749 »So wisset darauf, dass ihr das erste Verständnis aus der oberen Luna nehmet, was ihre Art und Eigenschaft sei und was sie ist, also ist auch der mercurius vivus.« 766 Das gilt aber nur für den lebendigen M ohne Koagulation, in seiner ursprünglichen Feuchtigkeit755 als Liquor; als Metall, z. B. Gold, hat er zwar noch die merkurialische Art, ist aber tot, ohne die Bosheit, die dem flüssigen Wasser ebenso zukommt, nicht aber dem gefrorenen, kongelierten und koagulierten, in dem man nicht mehr ertrinken kann. 767 Wenn aber die Koagulation des Goldes durch den Salzgeist entfällt, entsteht ein Urgold (primum ens des Goldes), dessen Kraft, den ganzen Leib bei Mensch, Vieh, Kraut und Baum zu restaurieren und zu renovieren 760 761 762 763 764 765 766 767

V 134 (Entwürfe zu den Büchern de Tartaro). III 47 (De mineralibus). XIII 187 (Liber meteorum). III 54 (De mineralibus). II 214 (Tractatus de materia prima). II 219 (Curativa). IX 526 (Von der Bergsucht). IX 519 (ebd.).

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Salz, Schwefel und Quecksilber

hundertmal größer ist, nicht mehr geschwächt durch das Festwerden, das der Kraft des lebendigen M ebensowenig bekommt wie gutem Wein das Gefrieren. 768 Mercurius, mit eindringlicher Wesensschau als vielsagender Eindruck aufgefasst, ist demnach durch und durch konträr, gegen etwas feind, böse oder gut, in seiner Tyrannität wider alles und auch in sich selbst konträr, kalt wie Eis und doch flüssig, winterlich und mondhaft, aber auch Quelle aller Kraft und Tugend, widerwärtig und heilsam. Nun zum Su: Schwefel-Tugend ist ein unsichtbares Feuer, das alle Dinge verzehrt (wie sichtbares Feuer das Holz), so auch die Krankheit. 769 Dafür muss er aber von seinem Körper geschieden und in seine Flüchtigkeit (Volatilität) gebracht werden, »also dass er sich dermaßen verliere wie die Flamme, das ist, dass er subtil werde«; dann konsumiert er, was wie die Krankheit nicht von Natur fix ist. Schwefel ist der zäheste, subtilste Körper,762 so zäh, dass allein er aus arcanischer Natur den Impressionen des Himmels widerstehen kann. 770 Gleichwohl bedarf er beim Menschen zielgerichteter Nahrungszufuhr, und dazu dienen alle brennenden Speisen, d. h., weil ja alle festen Körper Feuer sind,760 alle Speisen; Paracelsus nennt ausdrücklich Fleisch, Fisch und Brot, neben denen Wasser und Wein den feuchten M und Salz das Sa versorgen sollen. 771 Die durchsichtigsten und ausführlichsten Beschreibungen gibt Paracelsus vom Sa. Es ist das Conservativ, das den Leib vor Faulung bewahrt. 772 Alles ist von Natur gesalzen; nur Salz schützt jedes Ding vor Faulung 773 und hält die Dinge so am Leben. 774 Alle Mineralien werden durch Salz koaguliert; mit dessen Verlust werden sie zu Wasser. 775 Die Form der Steine kommt vom Salz, ebenso die Tropfenform des Regenwassers, »als seien es Nüsse oder Birnen des Gewölks«. 776 Diese konstruktive Leistung des Salzes verwandelt sich in Destruktion, wenn es sich absondert. Dann frisst und nagt es; daraus entste-

768 769 770 771 772 773 774 775 776

III 213 (De renovatione et restauratione). II 134 f. (Von den dreierlei Schwefeltugenden). I 7 (Von der Wassersucht). II 99 (Von den natürlichen Dingen). II 98 (Von den natürlichen Dingen). II 27 (Herbarius). I 114 (Von Würmern). II 288 f. (Von den natürlichen Wassern). II 337 f. (ebd.).

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hen Geschwüre, Koliken und Gangrän. 777 Wie der Rost – das Salz des Eisens – dieses frisst, so frisst das Salz des Menschen Löcher in seinen Körper. 778 Es gibt kein Loch im Körper (z. B. Wundschäden) außer durch das Geschlecht des Salzes. Das liegt aber nicht an dessen Verschlechterung, sondern nur an der Herauslösung aus der Temperatur, in der es unauffällig eingebunden ist. Es gibt hunderterlei Species ebenso von äußerlichem wie von innerlichem Salz. 779

IX 89 (Opus Paramirum). VI 297 (Vorarbeiten zu: Von allen offenen Schäden). 779 VI 119 f. (Berthonea). Zur destruktiven Wirkung gelösten Salzes im Menschenkörper vgl. auch I 13, 14, 19, 66, 69, 76, II 109. 777 778

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28. Bacon

An die Stelle des Eindrucksdenkens der frühen griechischen Philosophen bis Empedokles, das als Abstraktionsbasis standardisierte vielsagende Eindrücke (impressive Situationen) auf der Grundlage leibnah gespürter Kräfte benützt und in der Denkweise des 16. Jahrhunderts, z. B. bei Paracelsus (27.3), nach dem Verfall der Autorität der Scholastik nochmals in den Vordergrund kommt, tritt seit dem Bruch mit dem archaischen Denken bei Demokrit (9.1) ein neues Paradigma, das seither bis ins 21. nachchristliche Jahrhundert die europäische Intellektualkultur beherrscht: die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Sie ist psychologistisch, weil für jeden Bewussthaber dessen gesamtes Erleben in einer ihm zugewiesenen privaten Innenwelt (z. B. Seele) abgeschlossen wird; reduktionistisch, weil die nach Abzug aller Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt bis auf wenige Merkmalsorten, die besonders gut intermomentan und intersubjektiv identifiziert, gemessen und selektiv variiert werden können – die unspezifischen (primären) Sinnesqualitäten –, und deren hinzugedachte Träger (z. B. Atome, Substanzen) abgeschliffen wird; introjektionistisch, weil der bei der Abschleifung anfallende Abfall großenteils übersehen, aber auch dann in verstümmelnder Umdeutung, offen aber im Fall der spezifischen Sinnesqualitäten, in den Innenwelten abgeladen wird. Von den Hauptströmungen der abendländischen Philosophie entzieht sich nur der antike heidnische Neuplatonismus dieser Vergegenständlichung (15.3). Mit der Verdeckung des größten Teiles der unwillkürlichen Lebenserfahrung (d. h. dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben) erkauft sich die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung ein ungeheures Potential menschlicher Selbst- und Weltbemächtigung. Zur Selbstbemächtigung lädt der Psychologismus ein, weil er jedem Menschen in dessen privater Innenwelt ein Haus bereitstellt, in dem er Herr über seine 211

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Bacon

darin eingeschlossenen unwillkürlichen Regungen werden kann. Zur Weltbemächtigung bietet sich der Reduktionismus an, weil die auf der Abstraktionsbasis belassenen Merkmalsorten für Statistik und Experiment optimal geeignet sind. Die Introjektion sorgt dafür, dass Phänomene, die der Rekonstruktion auf dieser Basis Widerstand leisten, aus der Außenwelt abgeräumt werden. An die Stelle des archaischen Dynamismus tritt ein Verhältnis von Kinetik und Statik, indem der unruhigen Bewegtheit in der Sinnenwelt unsinnliche Invarianten (Atome, Ideen, Formen, in der Neuzeit: Naturgesetze) unterlegt werden. Dazu passt die mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung verschwisterte Gegenüberstellung von Form und Stoff, indem die Anwendung der Invarianten auf das sinnliche Material als Formung eines Stoffes (nach dem Vorbild handwerklichen Schaffens) verstanden wird, z. B. schon von Platon im Timaios; in diesem Konzept lässt sich sowohl die Selbstbemächtigung (mit den unwillkürlichen Regungen als Stoff vernünftiger Formung) als auch die Weltbemächtigung (als Formung natürlichen Materials) unterbringen, ja sogar der Mensch selbst durch seine bei Demokrit einsetzende Selbstdeutung, er sei aus Körper und Seele zusammengesetzt, mit dem Körper als dienender und gleichsam stofflicher Verfügungsmasse für das Spiel der Launen oder die disziplinierende Vernunft der Seele. Mit dieser Zerlegung des Menschen in zwei Hälften kommt der spürbare Leib aus dem Blick, der tragende Boden für die Person als den Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, für affektives Betroffensein und für Kontakte aller Art (in leiblicher Kommunikation). Solche Kontakte, die über die einzelne private Innenwelt hinausführen, werden nun – außer im heidnischen Neuplatonismus und dann wieder im Konkordanzdenken des Paracelsus (27.2) – auf Signale reduziert, die von meist entfernten Signalgebern durch einen Zwischenraum auf körperliche Sinnesorgane treffen und nach geeigneter Weiterleitung im Körper und gänzlicher Umwandlung in Empfindungen der Seele (oder ihren Nachfolgern) übergeben werden, wo der Verstand sie in geschickter Arbeit zu ziemlich treuen Abbildern der Signalgeber ergänzt und dazu passende Reaktionen von Körperteilen einleitet. Das Potential der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung wurde im heidnischen Altertum nur für kultivierte Selbstbemächtigung im Dienst eines GentlemanIdeals (mit Prototypen wie Marc Aurel) eingesetzt und in dieser Richtung unter dem Einfluss der vom Christentum geschürten 212

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Bacon

Alarmstimmung (20.3) gewaltig verschärft. Für Konzeption und Betrieb systematischer Weltbemächtigung fehlte es damals weniger an intellektuellen (z. B. mathematischen) als an sozialen Voraussetzungen, besonders aber an weltanschaulichen: Die eine dünne kulturtragende Schicht bildenden Aristokraten der Antike waren zu stolz, um sich wie Banausen, gemeine Handwerker, an das Geschäft einer Formung des sinnlichen Stoffes, sei es auch im Großen statt im Kleinen, zu machen, statt sich den ihnen in der Sinnenwelt erscheinenden göttlichen Mächten in selbstbewusster Unterordnung zu vergleichen. Lieber ließen sie sich von Sklaven bedienen. Es bedurfte einer langen Erziehung der Europäer auf dem Boden des weströmischen Reiches durch das Christentum, um das Potential der demokritischen Vergegenständlichung für Weltbemächtigung aus der Latenz zu wecken. Diese Erziehung bestand darin, das affektive Betroffensein durch das ständige Bewusstsein der Auslieferung an Gunst oder Ungunst des allmächtigen Gottes – namentlich wegen der Entscheidung über ewige Seligkeit oder ewige Qualen nach dem Tode – an das Thema der Macht zu binden, zunächst in überwiegend passiver Haltung, die aber bald aktive Züge (durch die Macht des Gebetes mit von Jesus versprochener Wunscherfüllung und die Macht militärischer Gewaltanwendung im Dienst dieses Gottes, z. B. als Kreuzfahrer) annahm. Da die Macht des allmächtigen Gottes zu einem beträchtlichen Teil stellvertretend vom Papst und dessen Gefolgsleuten (einschließlich der Kreuzfahrer) an sich gezogen und zu menschlich-allzumenschlichen Zwecken ge- oder missbraucht wurde, verblasste der transzendente Nimbus der Macht, an die sich das affektive Betroffensein gebunden hatte, und wurde dem Menschen auf gleicher Augenhöhe erreichbar. Dieser Zustand war um 1300 erreicht (25.3). Das vom Christentum auf vielen Wegen (seit den einschlägigen Gleichnissen Jesu) eingeschliffene Selbstverständnis des Menschen als Knecht Gottes und Handarbeiter in seinem Dienst (z. B. als Benediktiner- oder Zisterziensermönch) hatte den Stolz gegen die Zumutung, sich die Hände an der Materie schmutzig zu machen, aus der Weltanschauung der Intellektuellen vertrieben. Insofern war die Zeit reif für den Entschluss, die Macht über die Außenwelt nicht mehr Gott zu überlassen, sondern in die eigenen Hände zu nehmen. Tatsächlich nahm die Entwicklung aber einen Umweg. Was auf die Befreiung von Dogmatik und Denkform der aristotelisierenden Scholastik als Gegenbewegung im Zeitalter der Renaissance (15./16. Jahrhundert) folgte, war ein Rücksprung hinter den Bruch mit dem 213

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archaischen Denken (9.1) und hinter den Singularismus der Scholastik zum Geist des Neuplatonismus im Zeichen der natürlichen Magie wie bei Paracelsus (27). Die Weltbemächtigung wurde nicht technisch, sondern imperial durch Columbus und seine Nachfolger in Angriff genommen. Dass der Mensch seine intellektuellen Fähigkeiten bündelt, um sich durch technische Arbeit so weit, wie es möglich ist, der Außenwelt zu bemächtigen, wird erst um 1600 zum erklärten und anerkannten Ziel der dominanten Intellektualkultur. Den Startschuss zu diesem Wettlauf gibt Francis Bacon in seinem einzig beachtlichen Beitrag zur Philosophiegeschichte, dem Novum Organum. 780 Wenn es ein Denkmal der neuzeitlichen Wissenschaft als Magd der Technik (entsprechend dem mittelalterlichen Leitbild der Philosophie als Magd der Theologie 781 ) gäbe, müssten in seinen Sockel die denkwürdigen Worte Bacons eingraviert werden: Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignorantia causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo vincitur; et quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar regulae est. 782 Der nächste Aphorismus (§ 4) lautet: »Zu seinen Werken kann der Mensch nichts anderes (beitragen), als dass er natürliche Körper hinund wegbewegt; das Übrige bringt die Natur zustande.« Bacon reformuliert damit die postaristotelische Auffassung des technischen Machens durch Wilhelm von Ockham659 und damit das Leitbild des permutatorischen Singularismus (27.1). In § 5 des 2. Buches des Novum Organum vergleicht er zwei Strategien für die Umformung der Körper: Entweder stellt man einfache Formen nach Maßgabe grundlegender Naturgesetze zu dem gewünschten Resultat zusammen (z. B. Gelb, Gewicht, Dehnbarkeit, Festigkeit, Flüssigkeit, Lösbarkeit usw. zu Gold), oder man folgt dem gewöhnlichen Lauf der Natur nach der Reihe, in der sich Körper in andere Körper zu verwandeln pflegen. Der zweite Weg liegt näher, ist gewöhnlicher und gestattet mehr Hoffnung, aber die höheren und radikalen (an die Wurzel greifenden) Verfahren wenden den ersten an. 783 Dieser erste Weg be780 Ich zitiere nach der Ausgabe auf S. 121–365 in: The Works of Francis Bacon, collected and edited by J. Spedding, R. L. Ellis and D. D. Heath, Band I, London 1879. 781 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie Band I, Basel 1971, Spalten 294 f. 782 Novum Organum Buch 1 § 3 (»Menschliche Wissenschaft und Macht fallen zusammen, weil Unwissen über die Ursache den Effekt vereitelt. Die Natur wird nämlich nur durch Gehorsam besiegt, und was in der Betrachtung als Ursache vorkommt, erscheint in der Ausübung als Richtschnur.«). 783 Wie Anm. 780, S. 230–232.

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nützt die Freiheit des permutatorischen Singularismus zu willkürlicher Kombination von Merkmalen, wie heute beim Probieren in der synthetischen Chemie, z. B. auf der Suche nach wirksamen Arzneistoffen, während der zweite, den z. B. der säende und später erntende Bauer beschreitet, eher dem ordinatorischen Singularismus entspricht, weil er der natürlichen Ordnung der Verläufe folgt. Als Singularist bekennt sich Bacon mit der These: In der Natur ist nichts wirklich, außer individuellen Körpern, die nach Gesetzen bloße individuelle Akte ausführen. 784 Der permutatorische Singularismus, das Erbe Wilhelms, ist, wie das Beispiel zeigt, ein fast ebenso wichtiger Beitrag wie die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung zum Dienst der Wissenschaft an der technisch vermittelten Weltbemächtigung, worauf Bacon ihre Daseinsberechtigung reduziert. 785 Sogar den wissenschaftlichen Großbetrieb, in dem Forschung auf viele Schultern gleichmäßig begabter Wissenschaftler so verteilt wird, dass es nicht mehr auf einzelne geniale Koryphäen ankommt, nimmt er empfehlend vorweg. 786 Man soll nicht nach den ruhenden Prinzipien fragen, aus denen etwas besteht, sondern nach den bewegenden, wodurch die Dinge werden. 787 Auch das ist im Geist technisch orientierter Naturwissenschaft gesprochen, die sich für Steuerung kausaler Prozesse engagiert, nicht für Wesensbestimmung unter dem aristotelisch-scholastischen Titel der causa formalis. Bei so viel Modernität ist es verblüffend, wie ganz und gar Bacon bei der übrigens sorgfältigen und scharfsinnigen Darlegung des von Ebd. S. 228 (Buch 2 § 2). Ebd. S. 188, Buch 1 § 81: »Das wahre und legitime Ziel der Wissenschaft ist kein anderes, als dass das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Vermögen (oder Vorräten, copiis) ausgestattet wird.« Vgl. S. 283 f., Buch 2 § 31: Die Instanzen der Macht sind »die vornehmsten und vollkommensten Werke, so etwas wie die letzten in jeglicher Kunst. Da nämlich dies hauptsächlich getrieben wird, damit die Natur den menschlichen Angelegenheiten und Bedürfnissen gehorche, ist es durchaus sinnvoll, dass die längst schon von den Menschen beherrschten Werke wie bereits eroberte und unterworfene Provinzen angegeben und aufgelistet werden, hauptsächlich die ganz erschöpfend ausgeführten, damit von da aus der Übergang zu Neuem, was noch nicht erfunden ist, glatter und kürzer wird.« Ferner S. 222, Buch 1 § 129: Der edelste Ehrgeiz ist bei denen, die versuchen, »humani generis ipsius potentiam et imperium in rerum universitatem instaurare et amplificare« (die Macht und Herrschaft des Menschengeschlechtes im All zu errichten und zu vermehren), ein imperium, das nur durch Wissenschaften und (technische) Künste ausgeübt werden kann. 786 Ebd. S. 172 und 210 (Buch 1 §§ 61 und 113). 787 Ebd. S. 177 (Buch 1 § 66). 784 785

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ihm bevorzugten Verfahrens der Induktion im 2. Buch des Novum Organum die Vorgehensweise der modernen Naturwissenschaft verfehlt, und zwar gerade da, wo es sich um die Entfesselung des Potentials handelt, das der Reduktionismus der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung dem Angriff auf die empirische Außenwelt zur Beherrschung der Natur zu bieten hat. »Der Zugriff der modernen Naturwissenschaft auf die Welt hat drei für sie spezifische Voraussetzungen: die reduktionistische Abstraktionsbasis; die mathematische Modellierung; die experimentelle Methode.« 788 Die reduktionistische Abstraktionsbasis besteht in der Beschränkung der Daten, woran die Richtigkeit der Theorien (besonders der physikalischen und damit, da alle Naturwissenschaften ihre Thesen durch Messungen mit Hilfe von Apparaten, die nach physikalischen Theorien konstruiert sind, begründen, letztlich aller naturwissenschaftlichen Theorien) geprüft wird, auf die schon von Demokrit angegebenen Merkmalsorten, nämlich die unspezifischen Sinnesqualitäten wie Größe, Gestalt, Lage, Anordnung, Ruhe, Bewegung. Die mathematische Modellierung besteht im Ersatz des Abfalls der Reduktion durch konstruierte Parameter (nach Art der Atome Demokrits), die in mathematischen Kalkülen zusammen mit den an der Abstraktionsbasis erhobenen Daten zu Prognosen verrechnet werden. Die experimentelle Methode bedient sich der selektiven Variation von durch solche Parameter gedeuteten Merkmalen aus den Sorten der Abstraktionsbasis, um die errechneten Prognosen auf Stichhaltigkeit zu prüfen. Diese Sorten sind optimal für Messung und selektive Variation. Bei Bacon kommt nichts vor von Messung, mathematischer Modellierung und selektiver Variation. Er ist also blind für die Chancen, die der Reduktionismus der psychologistischreduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung der gleich an ihn anschließenden naturwissenschaftlich-technischen Weltbemächtigung, der er auch durch den emphatischen Preis der mehr als alle Spekulation weltbewegenden mechanischen Erfindungen von Buchdruck, Schießpulver und Kompass 789 das Tor geöffnet hat, zur Verfügung stellt. Bacon ist so etwas wie ein blinder Prophet und Aufschließer des baconischen Zeitalters. Den Geist des Herangehens an die Natur in diesem Zeitalter nimmt er vorweg: Erfahrun788 Hermann Schmitz, Naturwissenschaft und Phänomenologie, in: Erkennen Wissen Ethik Jahrgang 15, Heft 2, Paderborn 2004, S. 147. 789 Wie Anm. 780, S. 222 (Buch 1 § 129).

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gen sollen weniger am gewöhnlichen Naturlauf als durch gewaltsame Eingriffe mit mechanischen Experimenten gewonnen werden, weil die Geheimnisse der Natur sich im Stress solcher Herausforderung schärfer ausprägen, so wie sich ein alarmierter Mensch zusätzlich anstrengt. 790 Bacon präludiert damit der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B XIII), wo Kant der Naturwissenschaft die Einsicht nachrühmt, dass sie »die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten (…), aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt«. Aber Kant kommentiert damit die ihm als längst etabliert vorliegende experimentelle Methode der Naturwissenschaft, während Bacon das Experiment bloß als die nicht zufällige, sondern aufgesuchte Erfahrung bestimmt. 791 Das ist noch im Geist der antiken Naturforschung gesagt, und wenn auch unter deren Vertretern Demokrit der einzige ist, für den Bacon sich zu einem Lob durchringt,792 verkennt er doch das Geschenk, das jener mit seiner Standardisierung der Abstraktionsbasis dem baconischen Projekt präsentiert.

Ebd. S. 203 (Buch 1 § 98). Ebd. S. 189 (Buch 1 § 82). 792 Ebd. S. 168 (Buch 1 § 51): Demokrits Schule dringt tiefer als die anderen Schulen in die Natur ein. Werke Band III (s. o. Anm. 780), London 1876, S. 15: »Doctrina Democriti de atomis aut vera est, aut ad demonstrationem utiliter adhibetur.« (Cogitationes de natura rerum, Cogitatio I). 790 791

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29. Hobbes

29.1 Der Krper

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Die ersten beiden Kapitel in De corpore, 793 in denen Hobbes seine Logik und Erste Philosophie darstellt, sind ein Bild des Jammers, wie tief Philosophie sinken kann. Inadäquate, wenig durchdachte Definitionen wechseln mit erschlichenen Beweisen, die die wichtigsten und schwierigsten Probleme kurzerhand in einer Darstellung abtun, die in eitler Selbstüberschätzung voller Hohn und Verachtung auf die philosophischen Altvorderen herabblickt, von denen doch keiner so dumm war, um z. B. mit Hobbes das logische Schließen als simples Addieren oder Subtrahieren und weiter nichts auszugeben. Dennoch ist Hobbes ein Bahnbrecher und Fackelträger des neuzeitlichen Denkens, weil er als Adept – zeitweilig als Sekretär – Bacons maßgeblich dazu beigetragen hat, für dessen Projekt der technischen Welt793 Hobbes wollte sein philosophisches Gedankengebäude in einer Folge der Bücher De corpore, De homine und De cive darstellen. Der dritte Teil wurde zuerst abgeschlossen und veröffentlicht, der erste nach etwa zwanzigjähriger Aus- und Umarbeitung in drei Fassungen (zweimal lateinisch, einmal englisch), während der zweite, der zuletzt folgte, belangloses Stückwerk blieb. Von allen drei Büchern existieren gute deutsche Übersetzungen in der Philosophischen Bibliothek des Verlages Meiner. Die Übersetzung von De corpore mit vorzüglicher textgeschichtlicher Einleitung von Karl Schuhmann hält sich an dessen (mir nicht zugängliche) Rekonstruktion eines bestmöglichen lateinischen Textes (Paris 1998). Ich zitiere Hobbes ganz überwiegend nach den erwähnten Übersetzungen: für De corpore von Karl Schuhmann, Hamburg 1997; für De cive von Günther Gawlick, Hamburg 1994. Den Quellenangaben füge ich in Klammern erstens die Seitenzahlen in den Opera latina hg. v. Molesworth London 1839 Band I (für De corpore) bzw. Band II (für De cive) sowie (nach Semikolon) die Zahlen von Kapitel und Abschnitt an. Unabhängig von dem lateinischen Werk stellte Hobbes seine Anthropologie und Staatsphilosophie in englischer Sprache im Leviathan vor. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von Jutta Schlösser, Hamburg 1996, und füge in Klammern die Seitenzahlen der neuesten kritischen Edition von G. A. J. Rogers und Karl Schuhmann (Utrecht 2003) sowie die Zahl des Kapitels hinzu. Ich bediene mich folgender Abkürzungen: Corp. = De corpore, Civ. = De cive, Lev. = Leviathan.

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bemächtigung das dafür unentbehrliche Potential der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) bereitzustellen. Im christlich geprägten Denken war die reduktionistische Komponente dieser Vergegenständlichung – die Abschleifung der empirischen Außenwelt bis auf wenige für Statistik und Experiment optimale Merkmalsorten, die noch heute den Datenvorrat ausmachen, an dem die Physik die Stichhaltigkeit theoretischer Vorhersagen prüft – hinter der psychologistischen und introjektionistischen zurückgetreten, da sich die Christen (nach Augustins Soliloquien) für Gott und die Seele und weiter nichts, oder für die Außenwelt doch nur in geringerem Maße, interessierten. Bacon lässt den Reduktionismus außer Acht. Sein Beitrag ist das Lösen der Bremse für die Fahrt zur technischen Weltbemächtigung. Dafür setzt sich auch Hobbes mit Leidenschaft ein. Endzweck und Ziel der Philosophie ist die Beherrschung des Aufeinanderwirkens von Körpern nach Programmen menschlicher Nutzbarkeit. 794 Daraus ergibt sich die Definition: »Unter Philosophie versteht man das Wissen, das durch logische Schlussfolgerung von der Art der Entstehung eines Dinges auf seine Eigenschaften oder von den Eigenschaften auf die Möglichkeit seiner Entstehung zu dem Zweck erworben wird, solche Wirkungen hervorrufen zu können, die das menschliche Leben erfordert, soweit Materie und menschliche Kraft es zulassen.« 795 Nach der entsprechenden Definition in De corpore handelt es sich um die räsonierende Erkenntnis der Phänomene aus ihren Ursachen.796 Damit wird die Philosophie zur Ausführung des reduktionistischen Programms umgestempelt, denn als Ursachen gelten die vom Reduktionismus privilegierten Merkmalsorten (für Hobbes: Körper, beschränkt auf geometrisch-physikalische Eigenschaften, und Bewegungen), als Wirkungen oder Phänomene der ganze sonstige Stoff der unwillkürlichen Lebenserfahrung, von dem er aber nur Sinnesqualitäten und Gemütsbewegungen zur Kenntnis nimmt. 797 Das ist das erneuerte demokritisch-platonische Programm der mechanistischen Reduktion von Sinnesqualitäten, 798 zubereitet für die neue Aufgabe des Dienstes an der Weltbemächtigung. Corp. 20 (6; 1, 6). Lev. 558 (528; XLVI). 796 Corp. 16 (2; 1, 2). 797 Corp. 79 (62; 6, 5), 81 (64; 6, 6), 131 (111; 9, 9), 249 (317 f.; 25, 2), 260 (226; 25, 9), 262 (228 f.; 25, 10). 798 Vgl. z. B. Platons Timaios 61 f., 65 f. 794 795

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Hobbes ergänzt diese Heranführung des reduktionistischen Programms der antiken Atomisten an das baconische Projekt durch die Weiterbildung des Reduktionismus zum Projektionismus, den Schopenhauer – historisch allerhand vermengend – als den Kantischen Idealismus ausgibt, der nachweise, »dass die gesamte materielle Welt mit ihren Körpern im Raum (…) selbst erst vom Gehirn ausgeht und in diesem allein ihre Kreditive hat.« 799 Während diese Leistung für Schopenhauer aber in einem die Welt projizierenden Kausalschluss des Gehirns aus der Empfindung besteht, begnügt sich Hobbes mit einer rein mechanischen Gegenwirkung aus dem Herzen und Gehirn: »Sinneswahrnehmung ist das aufgrund von Gegenwirkung durch den eine Zeit lang andauernden Bewegungsansatz (conatus) des Sinnesorgans nach außen zustande gebrachte Erscheinungsbild (Phantasma), welcher Ansatz seinerseits durch einen vom Gegenstand her nach innen gerichteten Bewegungsansatz erzeugt wurde.« 800 Demgemäß ist z. B. das Licht ein von der Sonne durch zusammenhängende Medien auf das Auge ausgeübter und von dort bis ins Herz, den »innersten Teil des Sehorgans«, fortgepflanzter Stoß, der eine entgegenwirkende Bewegung vom Herzen bis zur Netzhaut hervorruft, und der conatus dieser Gegenbewegung ist der leuchtende Gegenstand, den wir sehen, das Phantasma, das wir für die Sonne halten. 801 Was wir sehen, steht demnach auf dem Niveau von Traumgesichten; der Traum unterscheidet sich nach Hobbes vom wachen Sehen nur durch Fortbestand der Imagination nach Entfernung der das Projizieren auslösenden Körper. 802 Der Projektionismus ist eine Weiterbildung des Singularismus, der Überzeugung, dass alles von sich aus, ohne Abhängen von einer Bedeutung als etwas, einzeln ist, und kommt demgemäß zuerst bei dem Radikal-Singularisten Wilhelm von Ockham vor, in der Fassung, dass es außer den wirklichen Dingen und den Vorstellungen von ihnen nur wechselnde Benennungen gibt, die den Dingen etwas zuschreiben.203 Alle Bedeutungen oder Bestimmungen, wodurch einzelne Dinge als Fall von etwas bestimmt werden, gelten daraufhin im Projektionismus als nachträgliche Zusätze zu an sich bedeutungs799 Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Buch, 1. Kapitel (Werke hg. v. Frh. v. Löhneisen Band II, Darmstadt 1990, S. 17 f.). 800 Corp. 251 (318; 25, 2). 801 Corp. 288 f. (364 f.; 27, 6). 802 Lev. 536 (507; XLV).

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losen Sachen. So schafft z. B. nach Kant der Verstand die Ordnung einer verlässlichen Gegenstandswelt aus einem »Gewühle von Erscheinungen«, ähnlich nach Schopenhauer, der diesen Verstand mit dem Gehirn gleichsetzt und sich dadurch dem Materialismus von Hobbes nähert. Ein fanatischer Projektionist war später Nietzsche, der Avenarius gelesen hatte. Im engen Horizont von Hobbes tauchen Bedeutungen als etwas gar nicht auf; er ist mit Selbstverständlichkeit Singularist und Nominalist. 803 Sein materialistisch-mechanischer Projektionismus weist aber dem anschließenden neuzeitlichen Denken den Weg, Bedeutungen als Phantasmen zu entwerten und damit ihre Konkurrenz für den Reduktionismus der Außenwelt auszuschalten. Sachlich ist der Projektionismus mit dem Singularismus unhaltbar. Da einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, und Anzahlen Eigenschaften von Mengen sind (siehe die Überleitung), Mengen aber (als Mengen der …) Umfänge von Gattungen, kann etwas nicht von sich aus, sondern nur als Fall einer Gattung – durch eine Bedeutung oder Bestimmung als etwas – einzeln sein. Wenn alle Bestimmungen einzeln wären, könnten sie nichts bestimmen. Jede Bestimmung muss nämlich dem Bestimmten zukommen. Das Zukommen ist aber selbst eine Bestimmung (der zukommenden Bestimmung), muss ihr also abermals zukommen, und dieses Zukommen ist eine weitere Bestimmung (des ersten Zukommens), die dem Zukommen zweiter Stufe ebenso wieder zukommen muss, so dass von der Bestimmung nicht mehr in endlich vielen Schritten zum Bestimmten zu gelangen ist; sie wird durch einen Abgrund unendlich vieler Zwischenbestimmungen am Zukommen gehindert. Das Paradox löst sich dadurch, dass nicht alle Bestimmungen, die etwas als etwas bestimmen, einzeln sein und dadurch zählen können, gegen Platons Elementarismus (11.8.1) und den des Duns Scotus. Etwas kann einzeln sein nur durch einzelne Bestimmungen, die aus einer binnendiffusen (nicht in lauter Einzelnes durchgegliederten) Bedeutsamkeit hervortreten müssen, und diese muss, um für Menschen handhabbar zu werden, ganzheitlich sein (in sich zusammenhängend und nach außen abgehoben) und mit dieser Ganzheit vieles integrieren. Dann handelt es sich um eine Situation in dem von mir vielfach herausgearbeiteten und phänomenologisch genützten Sinn. Situationen (nicht notwendig einzelne) sind die Urgegenstände, die Menschen wie Tieren begegnen und aus denen sich für Menschen Einzelnes 803

Lev. 9 f. (13 f.; I).

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(erst von Bedeutungen, daraufhin von Sachen anderer Art) abzeichnet. Auf diese Tatsache mache ich hier aufmerksam, weil sie für Hobbes schon gänzlich unfassbar ist, nachdem die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung, verstärkt durch den radikalen Singularismus Wilhelms von Ockham, sie aus dem Horizont des Denkens verdrängt hat und Hobbes das Banner dieser Ignoranz an die Avantgarde der neuzeitlichen wissenschaftlichen Weltanschauung weiterreicht. Hobbes stützt seinen Reduktionismus auf Definitionen des Raumes, des Ortes, der Ruhe und der Bewegung, die eine Nachschau verdienen. Der Raum ist demnach das Phantasma einer existierenden Sache, an dem man kein Akzidens in Betracht zieht außer dem, dass es außerhalb des Vorstellenden erscheint. 804 Es wäre verlorene Mühe, etwas dagegen zu sagen; diese Einführung des Raumes (oder besser der räumlichen Ausdehnung, spatium) richtet sich selbst. »Ort ist der Raum, der von einem Körper genau ausgefüllt oder eingenommen wird.« 805 »Man sagt, dass etwas ruht, wenn es sich eine Zeit lang am selben Ort befindet; und dass es sich bewegt hat oder hatte, wenn es, gleich ob es jetzt ruht oder sich bewegt, vorher an einem anderen Ort war, als es jetzt ist.« 806 Diese Definitionen der Ruhe als Beharren am Ort und der Bewegung als Ortswechsel 807 setzen Konstanz des Ortes voraus; denn wenn die Orte selbst wechselten, unabhängig davon, was sich an ihnen befindet, wären Ruhe und Bewegung nicht mehr unterscheidbar. Zu Gunsten der Ortskonstanz führt Hobbes an: »Außerdem ist der Ort unbeweglich. Da es sich nämlich versteht, dass, was sich bewegt, sich von einem Ort zum anderen begibt, so würde auch der Ort, wenn er sich bewegte, von dem einen Ort an einen anderen versetzt, weshalb es notwendig wäre, dass es einen Ort für den Ort gäbe und weiter für den Ort, an dem sich der Ort befände, einen anderen Ort und so ins Endlose, was höchst lächerlich (perridiculum) ist.« 808 Mit dem Gelächter erspart sich Hobbes die Reflexion auf die Voraussetzungen der Ortskonstanz in einem System von Orten, die sich durch ihre Lage- und Abstandsbeziehungen gegenseitig bestimmen (einem Ortsraum). Ein Ort, mit der heute angemessenen Corp. 101 f. (83; 7, 2). Corp. 79 (62; 6, 6), sinngleich 112 (93; 8, 5). 806 Corp. 117 (98; 8, 11). 807 So für Ruhe auch Corp. 178 (176; 15, 1), für Bewegung 89 (72; 6, 13) und 116 (97; 8, 10). 808 Corp. 112 (94; 8, 5). 804 805

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Präzision definiert, ist eine Menge geordneter Paare, die je aus einer Sache und einer Frist (der Frist, in der sich die Sache an dem Ort befindet) bestehen. Der Ort einer Sache A zu gegebener Zeit Z ist dann die Menge aller solchen geordneten Paare, die zu allen während der gesamten Zeit des Ortsraumes in ihm ruhenden Objekten gleiche Lage- und Abstandsbeziehungen haben, wie A während Z. Da es sich um eine (symmetrische und transitive) Äquivalenzrelation handelt, ist mit dieser Definition auch dafür gesorgt, dass eine Sache sich zu gegebener Zeit nur an einem einzigen Ort befindet. Der Bezug auf alle während der Gesamtzeit des Ortsraumes ruhenden Objekte kann nicht entbehrt werden, weil, wenn diese Bezugsobjekte sich selbst bewegten, die Lage- und Abstandsbeziehungen zu ihnen sich änderten und damit der Ort einer Sache sich geändert hätte, auch wenn diese ihn keineswegs gewechselt hätte. Wenn nun aber Ruhe als Beharren am Ort verstanden wird, entsteht ein fehlerhafter Zirkel im Definieren: Der Ort setzt Ruhe voraus, und Ruhe setzt den Ort voraus. Der Fehler ist davon unabhängig, ob der Ort in einem absoluten Raum (nach Newton) oder in einem transformierbaren Koordinatensystem (nach Galilei und der Relativitätstheorie) gemeint ist. Was Konstanz des Ortes ist, kann nicht mehr zirkelfrei angegeben werden. Damit ist auch der Definition der Bewegung als Ortswechsel der Boden entzogen, weil sie gleichfalls konstante Orte voraussetzt. Dieses Bedenken erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass auch jede Zeitmessung Ortskonstanz voraussetzt, nämlich eine Serie gleicher Abstände eines in Bewegung befindlichen Körpers von einem konstanten Ausgangsort. Diese Problematik ist meines Wissens auch in der Begriffsbildung der modernen Naturwissenschaft übersehen worden, da man sich nie gründlich mit dem Ortsbegriff beschäftigt hat; das Verständnis für diesen ist meist noch so nebelhaft wie das für den Zahlbegriff vor Frege. Ich verweise auf meine weitere Behandlung der Problematik. 809 An dieser Stelle eignet sich die Erörterung als Schulbeispiel dafür, dass man mit den leicht hingeworfenen Definitionen von Hobbes nicht weit kommt.

809

Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 54–62: Raum.

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29.2 Der Staat Der natürliche Zustand der Menschen ist nach Hobbes ein Krieg aller gegen alle, dem sie nur durch Unterwerfung unter einen Diktator entgehen können. Dieser Krieg ergibt sich aus der (nach Hobbes überwiegenden) Gleichheit der Menschen in ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die sie gleiche, aber einander ausschließende Ansprüche auf dieselben Sachen erheben lässt, verstärkt durch aggressiven Ehrgeiz; daraus entstehen Unsicherheit, Misstrauen und Furcht vor einander sowie kompensatorische Reaktionen, die die Gefahr steigern und in Gewalt ausbrechen lassen: Streben nach Macht und immer mehr Macht, nicht, weil diese süchtig machte, sondern weil sie nur durch Wachstum zu sichern ist, und Präventivschläge aus bloßer Furcht oder im Zuge dieses durch Furcht motivierten Machtstrebens. 810 Eine natürliche Bosheit, die Hobbes freilich auch einmal dem größten Teil der Menschheit zuschreibt, 811 gehört nicht dazu, denn »wenn es auch weniger böse als gute Menschen gäbe, so kann man doch die Guten von den Bösen nicht unterscheiden, und deshalb müssen auch die Guten und Bescheidenen fortwährend Misstrauen hegen, sich vorsehen, anderen zuvorkommen, sie unterjochen und auf alle Weise sich verteidigen.« 812 Wenn sich nicht alle gemeinsam einer einzigen Übermacht definitiv unterwerfen, hat jeder das gleiche Recht auf alles und namentlich auf Herrschaft über jeden anderen. 813 Die im Naturzustand erlaubten Herrschaftsverhältnisse, sowohl zwischen Menschen (als Herr und Knecht) als auch im Verhältnis zu Sachgütern sind demnach, mathematisch gesprochen, das cartesische Produkt 814 dreier Mengen: der Menge aller Menschen, nochmals derselben Menge und der Menge aller Sachgüter. Damit setzt Hobbes einen schrankenlosen permutatorischen Singularismus der Herrschaftsbeziehungen im Geist Wilhelms von Ockham (27.1) gegen alle Schranken durch, die ein ordinatorischer Singularismus (ebd.) solcher beliebigen Triplizierung setzen könnte. Die Gevatterschaft von Hobbes mit Wilhelm im radikalen Singularismus ist schon in der theoretischen Philosophie unverkennbar: Er Lev. 103 f. (100 f.; XIII), 81 (79 f.; XI); Civ. 83 (165 f.; 1, 12), 124 (209; 5, 1). Civ. 91 (174; 2, 11): pravum ingenium maximae partis hominum. 812 Civ. 68 f. (147 f., Praefartio ad lectores). 813 Lev. 303 (284 f.; XXXI). 814 Das cartesische Produkt dreier Mengen ist die Menge aller geordneten Tripel, die von jeder Menge genau ein Element enthalten. 810 811

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bestreitet gleich diesem die Relationen durch deren Identifizierung mit den absoluten Akzidentien des ersten Beziehungsgliedes, sogar mit Wilhelms Beispiel457 der Ähnlichkeit in weißer Farbe. 815 Der blinde Fleck, den Hobbes im Gesichtsfeld seines Blickes auf die menschliche Natur mit der Schwärze seines Pessimismus füllt, ist die völlige Verkennung des spontanen Einverständnisses der Menschen in gemeinsamen, ihre persönlichen Situationen implantierenden Situationen im eben (29.1) erläuterten Sinn des Wortes »Situation«. Diese Blindheit kommt in einer Polemik gegen Aristoteles zum Vorschein, mit der sich Hobbes gegen eine Formulierung aus der inzwischen als pseudo-aristotelisch erkannten (von Anaximenes von Lampsakos verfassten) Rhetorik an Alexander richtet, trotzdem gut zielend, weil der Gedanke dieser Formulierung echt aristotelisch ist. Anaximenes definiert den Nomos, die teils unwillkürliche, teils durch staatliche Regelung geprägte Rechtsgesinnung der Bürger einer Stadt: »Der Nomos ist eine bestimmte Rede gemäß dem in der Stadt herrschenden gemeinsamen Einverstandensein, die angibt, wie man die einzelnen Angelegenheiten besorgen soll.« 816 Hobbes wendet ein, dass Menschen nur durch Verträge oder durch Unterwerfung unter einen ihnen mit Zwangsgewalt gebietenden Willen einig werden könnten, und auch durch Verträge nur kraft solcher Unterwerfung, da sonst der Vertragstreue des Partners nicht zu trauen sei; daher hätte Aristoteles vielmehr »das bürgerliche Gesetz so definieren sollen: Das bürgerliche Gesetz ist eine durch den Staatswillen festgelegte Rede, welche das Einzelne, das geschehen soll, gebietet.« 817 Anaximenes meint aber im Geist des Aristoteles einen anderen Nomos, nämlich den Programmgehalt der binnendiffusen Bedeutsamkeit der zuständlichen, die persönlichen Situationen der Bürger implantierenden und dadurch zum Einverstandensein integrierenden gemeinsamen Situation, aus der sich gesetzliche Regelungen als Explikate oder Zusätze abheben. Der verkehrte Singularismus (29.1) spielt Hobbes den Streich, der ihn hier die Lebenswirklichkeit verkennen lässt. Für ihn ist das Volk vor der Zusammenfassung durch die mit Zwangsgewalt bewaffnete Macht des Staates nur eine Vielheit einzelner Personen, 818 die höchstens durch 815 816 817 818

Corp. 140 (120; 11, 6). Corpus Aristotelicum 1420a 25–27. Civ. 218 f. (313–315; 14, 2). Civ. 152 (240; 7, 7).

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Hobbes

künstliche Verträge zur Übereinstimmung finden. 819 Bezeichnend für seine Sicht ist folgende Alternative: »Wenn wir uns vorstellen könnten, dass eine große Menge in der Einhaltung der Gerechtigkeit und anderer Naturgesetze ohne eine öffentliche Macht, die alle in Schrecken hält, übereinstimmt, könnten wir uns ebenso gut vorstellen, dass die ganze Menschheit dasselbe tut; und dann gäbe und brauchte es überhaupt keine staatliche Regierung oder ein Gemeinwesen, weil dann Friede ohne Unterwerfung herrschen würde.« 820 Als Gegenmöglichkeit zur Bändigung des Eigensinns der einzelnen Menschen durch den Schrecken einer übermächtigen Staatsgewalt kennt Hobbes hier nur die Homogenisierung aller Menschen gemäß einem abstrakten Tugendideal, nicht das spontane Einverständnis konkreter Gruppen in gemeinsamer Gesinnung. Aus mangelndem Verständnis der Verankerung oder Verwurzelung zuständlicher persönlicher Situationen in gemeinsamen treibt Hobbes die unglücklichen Menschen aus dem Krieg aller gegen alle, den niemand für gut halten kann, 821 in die Arme eines despotischen Diktators, der ihnen nichts schuldig ist, da sie nicht mit ihm, sondern nur mit einander den Vertrag gemeinsamer Unterwerfung unter seine Macht, die von ihrer Furcht vor einander getragen wird, geschlossen haben – sofern sie nicht von ihm gewaltsam unterworfen worden sind, mit demselben »segensreichen« Effekt der Befreiung vom Krieg aller gegen alle. Man kann nur hoffen, dass er seiner Aufgabe gerecht wird, den Frieden zu sichern und den Verträgen unter Bürgern, die ohne Garantie durch sein Schwert nur leere Worte sind, 822 vertrauenswürdige Kraft zu verleihen. Niemand kann ihn aber rechtens daran hindern, in die Rolle Iwans des Schrecklichen zu schlüpfen, und dann darf über seine Bosheit der Untertan nicht einmal sprechen, geschweige denn sich beklagen. 823 Freilich lässt Hobbes, wohl um sich nicht weitab von der politischen Wirklichkeit zu versteigen, neben der absoluten Vollmacht eines einzigen Herrschers auch die aristokratische und sogar die demokratische Staatsform zu, aber dadurch stürzt er seine ganze Systemkonstruktion; denn die mehreren oder vielen, die nur zusammen der Souverän sein sollen, befinden sich zu 819 820 821 822 823

Lev. 144 (136; XVII). Lev. 143 (134; XVII). Civ. 84 (166; 1, 13). Lev. 141 (133; XVII). Lev. 211 (198; XXIV).

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Der Staat

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einander im Naturzustand, so dass der Krieg aller gegen alle unter den Regierenden ausbricht und nichts gewonnen ist. Folgerichtig lässt sich der Staat des Hobbes – ein unvermeidliches Übel nach seinen Worten 824 – nur durch Kapitulation »auf Gnade und Ungnade« vor einem Diktator mit Bitte um Garantie von Friede und Gerechtigkeit einrichten. Durch solche Härte wird der Staat des Hobbes dem platonischen Idealstaat verwandt, aus einem in beiden Fällen übereinstimmenden Grund: Der Elementarist Platon kann so wenig wie der Singularist Hobbes eine spontane beharrliche Einheit und Einigkeit vieler Menschen denken, sondern stattdessen nur Vereinigung durch eine der Vielheit aufgedrückte Klammer (s. o. 11.8.2). Dem despotischen Souverän bei Hobbes entspricht der königliche Staatsmann des platonischen Politikos, den Platon mit der Vollmacht ausstattet, zu töten, zu vertreiben, anzusiedeln, auszusiedeln, zu versklaven, zu brennen und zu verstümmeln, ohne Rechenschaft schuldig zu sein. 825 Dem Hobbes’schen Souverän, der sich nur durch glaubhafte Kraft zur Zwingherrschaft qualifizieren muss, hat der Staatsmann des Politikos allerdings eine Fachkompetenz voraus, die er als Kunst des Definierens 826 und der Abmessung des Genauen 827 an der platonischen Akademie erwerben kann, und eine Aufgabe, in deren Dienst auch noch seine brutalsten Maßnahmen stehen: durch Erziehung und Heiratsplanung eine optimal ausgewogene Dosierung forscher und sanfter Temperamente seiner Untertanen zu bewirken. 828

824 825 826 827 828

Civ. 139 (225; 6, 13 Anm.). Politikos 293d–299c, 309a. Ebd. 286a. Ebd. 284e. Ebd. 309a–311c.

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30.1 Der Dualismus Mit Bacon und Hobbes teilt Descartes 829 das der Philosophie gesteckte Ziel der Weltbemächtigung. Berühmt ist seine Abhebung von den Spekulationen der Scholastiker durch Berufung auf eine praktisch und technisch nutzbare Philosophie, die den natürlichen Gegebenheiten ihre Kraft und Wirksamkeit ablauscht und uns dadurch befähigt, wie Handwerker in großem Stil zu Herren und Eigentümern der Natur zu werden. 830 Demgemäß kommt es ihm in der Naturlehre nicht darauf an, die wirklichen Ursachen der Erscheinungen gefunden zu haben, wenn er diese nur aus seinen Hypothesen zutreffend ableitet, weil das für den praktischen Nutzen (ad usum vitae) in Medizin, Mechanik und anderen Techniken genügt. 831 Im Gespräch mit Burman am 16. April 1648 warnt er vor zu starker Vertiefung in die Metaphysik, die den Geist zu sehr von sinnlichen und physischen Dingen abzöge, da die Beschäftigung mit diesen wegen des Nutzens für das Leben im höchsten Maße wünschenswert sei. 832 Die philosophische Bedeutung des Werkes von Descartes für die Denkart der folgenden Jahrhunderte beruht in erster Linie darauf, dass er zuerst, und auf besonders elegante Art wegweisend, die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung in vollem Umfang in den Dienst des baconischen Programms gestellt hat. Während der in den Wissenschaften dilettierende Va829 Ich zitiere Descartes nach der Ausgabe von Adam und Tannery (Paris 1897–1910) mit lateinischer Band- und arabischer Seitenzahl sowie Angabe des jeweiligen Schriftstücks mit Haupt- und Untertitel, dann bisweilen auch ohne Bezug auf die Gesamtausgabe, so stets bei den Principia Philosophiae aus Band VIII; diese zitiere ich mit römischer Buch- und arabischer Paragraphenziffer. 830 VI 62 (Discours de la méthode, 6me partie). 831 Principia Philosophiae IV § 204. 832 V 165.

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gant Hobbes mit einem grobschlächtigen Reduktionismus den Psychologismus und die Introjektion überrannte, vermag Descartes die Konzeption Demokrits (9.1) und des späten Platon (Timaios) für die empirische Welt in vollem Umfang, daher auch für mehr als materiell orientierte Interessen befriedigend, in ein Weltbild einzubauen, das es den Menschen gestattet, das Potential der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung für technische Weltbemächtigung voll zu nützen. Sein strategisches Werkzeug zu diesem Erfolg ist der cartesische Dualismus von Seele und Körper. Die Seele, durch die ich bin, was ich bin, ist gänzlich verschieden vom Körper, eine denkende Substanz, deren Wesen bloß im Denken besteht, keinen Bedarf nach einem Ort hat und von keiner materiellen Sache abhängt. 833 Zwar dämpft Descartes mit Rücksicht auf die Theologen den Eifer seines später abtrünnigen Adepten Regius, der den Menschen für ein Produkt zufälliger Zusammensetzung von Körper und Seele (eine Wirkungseinheit, kein Einzelwesen nach Johannes Rehmke) hält, gibt aber zu, dass weder dem Körper noch der Seele etwas davon, dass sie nach Vereinigung verlangten, anzumerken sei. 834 Seine Argumente für solche Trennung von Körper und Seele als wesensverschiedener, zwar faktisch, aber nicht notwendig von sich aus, zusammengehöriger Sachen trägt Descartes in der 6. Meditation seiner Meditationes vor. Sein Hauptbeweis 835 beruht auf dem Gedanken, dass Gott in seiner Allmacht alles trennen könne, was ich mir deutlich isoliert vorzustellen vermag, aber nichts von sich selbst trennen kann (weil das in sich widersprüchlich wäre); da ich, wie Descartes glaubt, das Denken ohne jede Rücksicht auf Ausdehnung deutlich vorzustellen vermag, ergibt sich unter dieser Voraussetzung, dass die denkende Substanz (die Seele) eine andere Sache als die ausgedehnte (der Körper) ist. Obwohl man diesem Argument noch kürzlich die Ehre angetan hat, es mit modernen Methoden umständlich zu untersuchen836 , zeigt schon der erste Blick, dass es zu viel beweist, denn ebenso könnte man »beweisen« wollen, dass die Geschichte erforschende Substanz von der Mathematik treibenden VI 34 (Discours de la méthode, 4. Teil). III 371 (an Regius, Mai 1641) Vielleicht ist das eine Spitze gegen Thomas von Aquino, s. o. Anm. 302. 835 VII 78, dgl. Principia Philosphiae I § 60 (VIII/1, 28 f.). 836 Ansgar Beckermann: Descartes’ metaphysischer Beweis für den Dualismus. Analyse und Kritik, Freiburg i. Br. 1986. 833 834

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verschieden sei, oder die sternkundige von der musikkundigen, oder die multiplizierende von der dividierenden. Sachlich besteht der Fehler darin, dass Descartes aus der logischen Unabhängigkeit zweier Bestimmungen D (Denken) und A (Ausdehnung) von Sachen auf Nichtidentität der so bestimmten Sachen schließt. Wegen solcher Unabhängigkeit bildet er sich ein, eine Sache als Fall von D (als D Habendes) ohne Rücksicht auf eine Sache als Fall von A deutlich vorstellen zu können. Es ist aber trivial, dass dieselbe Sache solche unabhängige Bestimmungen haben, z. B. ein Haar sowohl blond als auch kurz sein kann. Nichtidentität der bestimmten Sachen kann nur aus logischer, gelegentlich auch synthetischer, Unverträglichkeit zweier Bestimmungen X und Y gefolgert werden, wobei diese Unverträglichkeit entweder direkt am Tage liegt oder sich daraus ergibt, dass z. B. X eine weitere Bestimmung Z nach sich zieht, Y aber diese ausschließt. Einen auf dieser Grundlage verbesserten Beweisversuch schickt Descartes dem total missglückten Hauptbeweis in einer Nebenbemerkung nach, die sich darauf beruft, dass die Ausdehnung immer teilbar, der denkende Geist aber unteilbar sei. 837 Geschichtlich stützt sich dieser allzu knappe Hinweis auf Unteilbarkeit des denkenden Subjektes auf das zuerst bei Plotin begegnende Argument für die numerische Einheit (Einzigkeit) des denkenden Subjektes für alle seine gleichzeitigen Gedanken; ich habe gezeigt, dass dieses Argument, das Kant vergebens (weil er es nicht verstanden hatte) unter den Paralogismen der reinen Vernunft als »Achilles aller dialektischen Schlüsse« entwerten wollte, zwar gegen die numerische Vielheit, aber nicht für die numerische Einheit spricht, weil vielmehr ein nicht-numerischer Mannigfaltigkeitstyp für das Subjekt zu wählen ist: ambivalente (multivalente, instabile) Mannigfaltigkeit (15.2.2), wobei mehrere Gegenstände in der Tat um Identität mit demselben Gegenstand konkurrieren. 838 Für den Psychologismus und die Introjektion wird der cartesische Dualismus durch die Ideenlehre fruchtbar. Eine Idee ist nach Descartes für jeden Gedanken (cogitatio) die Form, durch deren unmittelbare Wahrnehmung ich mir dieses Gedankens bewusst bin, VII 86, auch schon 13 (Synopsis der Meditationen). Zum postplotinischen Argument für die Einheit des Bewusstseins vgl. unten 35.3.4 sowie Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 193– 196; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 134–136; Was bleibt vom Bewusstsein?, in: Interdisziplinäre Phänomenologie. Interdisciplinary Phenomenology, Band 1, Kyoto 2004, S. 295–309, auch in: Fenomenologia 2, Poznan´ 2004, S. 23–38. 837 838

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beim Reden in der Weise, dass ich selbst, was ich sage, nur verstehe, weil ich in mir eine Idee von dem habe, was durch die Worte der Rede bezeichnet wird. 839 Eine gewisse Ähnlichkeit dieser Ideen mit den Idolen nach Wilhelm von Ockham210 drängt sich auf, doch ist mir die Definition zu gewunden für genaues Verständnis. Wie diese Ideen funktionieren, gibt Descartes so an: »Da ich sicher bin, dass ich keine Idee von dem, was außer mir ist, außer durch Dazwischenkunft der Ideen davon in mir habe, hüte ich mich, meine Urteile unmittelbar auf die Dinge zu beziehen, und (achte darauf), ihnen nichts Positives zuzuschreiben, das ich nicht vorher in ihren Ideen gewahre; aber ich glaube auch, dass alles, was ich in diesen Ideen finde, notwendig in den Sachen ist.« 840 »Aber man muss auf die vorhin aufgestellte Regel zurückkommen, dass wir nämlich keine Erkenntnis der Dinge haben, außer durch die Ideen, die wir in uns gewahren, und dass wir demzufolge nicht darüber urteilen dürfen als gemäß diesen Ideen und uns sogar denken müssen, dass alles, was mit diesen Ideen unverträglich ist, absolut unmöglich ist und einen Widerspruch einschließt.« 841 Auf die Annahme der Existenz von Dingen außer uns kommen wir nur dadurch, dass ihre Ideen durch die Sinne zu unserem Geist gelangen; 842 dass es z. B. den Himmel gibt, wissen wir nicht einfach dadurch, dass wir ihn sehen, denn das bloße Sehen erreicht nicht einmal als Phantasiebild (im Gehirn) den Geist, sondern erst durch eine ihm inhärierende Idee. 843 Mit seiner Ideenlehre besorgt Descartes jedem Subjekt (d. h. Bewussthaber) eine abgeschlossene Innenwelt, in der jeder Gegenstand, wenn er dem Subjekt zu Bewusstsein kommen soll, einen Vertreter in Gestalt einer ihn repräsentierenden Idee haben muss. Ich habe diese These als das Innenweltdogma bezeichnet, das zum Immanenzdogma verschärft wird, wenn hinzugenommen wird, dass der Bewussthaber mit solchen Vertretern in seiner Innenwelt allein gelassen ist und daher der Verlegenheit ausgesetzt ist, wie er zu den vertretenen Gegenständen eine Brücke begründeter Überzeugung schlagen soll. 844 Schon Demokrit, der theoretische Urheber (mit Leukipp) der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionisti-

839 840 841 842 843 844

VII 160 (Meditationes de prima philosophia, 2. Responsionen, Definition II). III 474 (an Gibieuf, 10. 01. 1642). Ebd. 476. VII 135 (Meditationes, secundae responsiones). VII 165 (ebd., Axiom V). Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 90.

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schen Vergegenständlichung, hatte dieses Problem, 845 dem sich Descartes in dem eben ausgeschriebenen Brief an Gibieuf durch unbedingtes Vertrauen in die Zuverlässigkeit seiner Ideen zu entziehen sucht, sonst durch sein Gottvertrauen. Die Ideen dienen Descartes zum Psychologismus, indem sie dem Subjekt den Stoff seiner Außenwelt schon in seiner, deswegen keiner weiteren Öffnung nach draußen bedürftigen, Innenwelt zugänglich machen, und der Introjektion, indem alles, was im Interesse technischer Weltbemächtigung aus der Außenwelt abgeschoben werden soll, bei den Ideen in der Innenwelt untergebracht werden kann. Das trifft in erster Linie, wie schon bei Demokrit, die spezifischen (einzelsinnlichen) Sinnesqualitäten wie Licht, Farben, Schälle, Wärme, Geruch: Sie sind in der Außenwelt nur Gestalten und Bewegungen von Körpern, in ihrer sinnlichen Eigenart nur Gedanken oder Empfindungen im Geist, 846 aus denen der Verstand durch Schlüsse, die dank routinierter Wiederholung unbewusst werden, Größe, Entfernung und Gestalt der die betreffenden Reize aussendenden Gegenstände ermittelt. 847 Dass sich Descartes aber bewusst ist, mehr als bloß die einzelsinnlichen Qualitäten durch seine Reinigung der Außenwelt losgeworden zu sein, ergibt sich aus dem Anspruch, den er in den Prinzipien für die Erklärungskraft seiner Naturphilosophie erhebt: Es gibt keine noch so geheimen Kräfte in Steinen und Pflanzen, keine noch so stupenden Wunder in aller Natur, die nicht, sofern es auf körperliche (nicht geistige oder gedankliche) Ursachen ankommt, aus deren Grundsätzen abgeleitet werden könnten. 848 Das trifft Paracelsus, das Denken der Konkordanz (27.2) mit Begriffen aus vielsagenden Eindrücken (27.3); für solche impressiven Situationen ist in der Natur des Descartes kein Platz. In den frühen Regulae hatte dieser noch vorsichtiger geurteilt: Über die Geheimnisse der Natur, den Einfluss der Gestirne auf das Erdenleben, Prophetie u. dgl. darf man nicht kühnlich disputieren, ohne geprüft zu haben, ob die menschliche Vernunft ausreicht, so etwas zu erforschen. 849 Der Reduktionismus, der durch Psychologismus und Introjekti845 Diels und Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 8. Auflage Berlin-Charlottenburg 1954, 68 B 125. 846 Principia Philosophiae I § 68, IV §§ 197, 199; III 649 f. (an Mersenne, 06. 04. 1643); V 292 (an Chanut, 26. 02. 1649). 847 VII 437 f. (Meditationes, sextae responsiones). 848 Principia philosophiae IV § 187. 849 X 398 (Regulae ad directionem ingenii VIII).

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on hinlänglich abgefedert wird, fällt bei Descartes so radikal aus, dass mit den spezifischen Sinnesqualitäten auch alle dynamischen Qualitäten wie Schwere, Härte, Kräfte der Anziehung, Erwärmung und Reinigung in der Außenwelt entfallen und nur Ausdehnung, Bewegung und Gestalt zurückbleiben. 850 Der Körper wird mit seiner räumlichen, dreidimensionalen Ausdehnung identifiziert, ohne Rücksicht auf die ihm gewöhnlich als dynamische Auszeichnung zugestandene Undurchdringlichkeit. In dieser vereinfachten Vorstellungsweise kann Descartes die Unterscheidung eines Systems konstanter Orte von einem System an solchen Orten auftauchender und verschwindender, sie wechselnder Körper nicht mehr unterbringen. Er hilft sich, indem er die Ortskonstanz mit Gattungskonstanz verwechselt – als sei der Ort die Ausdehnung in abstracto der an ihm je befindlichen Körper 851 – und den Ort eines Körpers mit seiner jeweiligen Lage im Verhältnis zu anderen Körpern identifiziert. 852 Dann wird der Ort zur Augenblicksache; Descartes übersieht, dass Zeitmessung eine Zeit übergreifende Ortskonstanz voraussetzt, schon damit zur Abgrenzung zeitlicher Einheiten der Messfühler, z. B. als schwingendes Pendel, an denselben Ort zurückkehren kann, oder allgemeiner, damit gleiche Abstände einer mehrfach gemessenen Bewegungsbahn von demselben Ausgangsort festgelegt werden können (29.1). Im System des Descartes würde die Zeit unskalierbar (22.3) bleiben. Andererseits hat der cartesische Reduktionismus den Vorzug eines klaren Vorblicks auf seine Zweckmäßigkeit für die naturwissenschaftlich-technische Weltbemächtigung. Die Naturwissenschaft benötigt Merkmalsorten, die durch die optimale intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit, Messbarkeit und selektive Variierbarkeit für Experiment und Statistik exakte Daten liefern können, und findet die geeigneten Kandidaten in den unspezifischen (»primären«) Sinnesqualitäten. Nach Descartes ist die Wahrnehmung solcher unspezifischer Qualitäten – er nennt beispielshalber Größe, Gestalt, Bewegung, Lage, Zahl und Dauer – viel bestimmter (evidenter hinsichtlich des Was) als die der spezifischen; 853 man kann das als Anspielung auf die ausgezeichnete Identifizierbarkeit verste850 851 852 853

VII 440 (Meditationes, sextae responsiones). Principia Philosophiae II §§ 10, 12. Ebd. §§ 13, 14. Principia Philosophiae I § 69.

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hen. Die Messbarkeit wird schon in den frühen Regulae sorgfältig erwogen. Es heißt dort zu Regel 14: Jeder Gedanke besteht entweder in der Anschauung (intuitus) einer einzelnen Sache oder im Vergleich von zwei oder mehr Sachen. Vergleichbar sind aber nur Größen oder Vielheiten, so dass jede vergleichende Erkenntnis quantitativ ist; daher müssen für exakte Bestimmung alle qualitativen Verhältnisse in quantitative der Ausdehnung und Figur übersetzt werden. 854 Dafür entwickelt Descartes einen abstrakten Dimensionsbegriff (Dimension als skalierbarer Messbereich). 855 Zwei Gründe für die Zweckmäßigkeit der Auswahl unspezifischer Sinnesqualitäten, Identifizierbarkeit und Messbarkeit, scheint er also im Auge zu haben; dagegen entgeht ihm der Vorzug der für das Experiment entscheidend wichtigen selektiven Variierbarkeit, dem entsprechend, dass er für die eigentliche experimentelle Methode keinen Sinn hat. Die gröbste Verkürzung der unwillkürlichen Lebenserfahrung durch den cartesischen Dualismus und Reduktionismus ist die Opferung des spürbaren Leibes, der Empfangsstation für die Ergriffenheit von Gefühlen, der unentbehrlichen Grundlage personalen Selbstbewusstseins, der Quelle aller Kontakte in Wahrnehmung und Begegnung. 856 Er ist ein anderer Gegenstand als der sichtbare und tastbare Körper, mit dem er weitgehend das Lokal teilt – nicht durchgängig, weil zu ihm z. B. auch der Blick gehört, den man im Blickwechsel wirft und empfängt, im Anschauen ausströmen lässt. Der Körper ist stetig ausgedehnt, fest, von Flächen begrenzt und schneidbar; der Leib ist ein Gewoge verschwommener Inseln (jederzeit z. B. am Atmen beobachtbar), die voluminös, aber flächenlos und daher weder zerlegbar noch dreidimensional sind und durch die Engungskomponente des von den antagonistisch verschränkten Bewegungssuggestionen Engung und Weitung gebildeten vitalen Antriebs zusammengehalten werden; über weitere Unterscheidungsmerkmale gehe ich hinweg. 857 Flächenlose Räume, die weder Zerlegung noch Dreidimensionalität zulassen, kommen in der Lebenserfahrung vielfach vor, z. B. auch als Raum des Schalls und der Stille, des entgegenschlagenden und mitreißenden Windes, der Gebärde, des Wassers für den X 440 f. Regel 14, X 447 f. 856 Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 138– 149: Der gespürte Leib – vergessen zwischen Körper und Seele. 857 Vgl. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 24–34: Der Leib. 854 855

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Schwimmer und Taucher. In der überall teilbaren und dreidimensionalen Ausdehnung, als die Descartes den Raum versteht, ist für sie so wenig Platz wie in der unausgedehnten Substanz, die er als Geist oder Seele dagegenstellt. Daher ist er blind für den Leib. Dessen Regungen zerlegt er in einen Körperzustand, einen Seelenzustand und den zwischen beiden durch Nerven wie durch Seile vermittelten Transport zum Gehirn (als Erregung) und vom Gehirn zurück (zur Peripherie), wohin die als dort befindlich gespürte Regung projiziert werde; beide Zustände hingen nur durch göttliche Anordnung und Zweckmäßigkeit für den Erhalt des Lebens zusammen. 858 Über die spürbaren Leibesinseln, mit dem Beispiel des Fußschmerzes, kann Descartes nur spotten: Schmerz im Fuß, Licht in der Sonne – das seien Vorurteile aus der Kinderzeit. 859 Als Beleg dafür, dass auch der Schmerz an der Unzuverlässigkeit der Sinne teilnimmt, nennt er die Phantomschmerzen im amputierten Arm oder Bein, 860 also wirkliche, untrügliche leibliche Regungen auf wirklich vorhandenen Leibesinseln, zu denen freilich der einst zugehörige Körperteil fehlt. Die Scholastik steht dem natürlichen Raumerleben insofern noch näher als Descartes, als sie das Erbe Plotins – den Gedanken, dass die Seele ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Teile sei 861 –, und damit die ganzheitlich-unteilbare Ausdehnung in flächenlosen Räumen wie dem leiblichen, durch den Begriff der definitiven Ausdehnung festhält, gegenüber der circumskriptiven Ausdehnung von etwas, das ganz im Ganzen und nur zum Teil in den Teilen ist; ich habe unter 15.2.1 auf die Leibnähe des plotinischen Topos hingewiesen. Diesen macht sich Descartes eigentümlicherweise für sein Verständnis der Anwesenheit der Seele im Körper zu eigen, 862 aber mit einer Erläuterung, die zeigt, dass er es anders meint als Plotin und die Scholastiker: Die Natur der Seele hat gar keinen Bezug zur Ausdehnung oder zur Materie des Körpers und ist in diesem nur dadurch anwesend, dass sie sich auf die ganze Ansammlung seiner Teile bezieht, ohne sich dabei zu teilen. 863 Diese Beziehung ist für Descartes sehr eng, inniger jedenfalls als die Verbindung des Steuermanns mit 858 Discours de la méthode VI 55; Meditationes de prima philosophia VII 85–88 (6. Meditation); Principia Philosophiae IV §§ 196 und 198. 859 Principia Philosophiae I § 67. 860 VII 76 f. (Meditationes, 6. Meditation). 861 Vgl. Band I S. 326 f.. 862 VII 442 (Meditationes, sextae responsiones). 863 Les passions de l’âme Artikel 30.

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seinem Fahrzeug. 864 Geist und Körper sind je für sich vollständige, im Menschen aber unvollständige Substanzen. 865 Die leiblichen Regungen sind verschwommene (konfuse) Weisen des Denkens, aus der Vereinigung und gleichsam Vermischung von Geist und Körper entsprungen. 866 Die Verknüpfung von Organempfindung und Gefühlston (dass z. B. Schmerz leidvoll ist) entbehrt des einsichtigen Zusammenhanges durch merkliche Verwandtschaft. 867

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30.2 Die Subjektivitt »Und als ich bemerkte, dass diese Wahrheit: Ich denke, also bin ich so fest und sicher war, dass noch so ausschweifende Unterstellungen der Skeptiker sie nicht erschüttern konnten, urteilte ich, dass ich sie ohne Bedenken als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, annehmen könnte.« 868 Drei Jahre später beschränkt Descartes die Tragweite des Argumentes auf die als Schlüssel zum Erweis des Dualismus. Ein Unbekannter hat ihn auf eine Stelle bei Augustinus (De civitate Dei 11, 26) hingewiesen, wo es vorweggenommen werde; daraufhin hat Descartes in einer Bibliothek nachgeschlagen und gibt als Ergebnis des Vergleichs an: Augustinus wolle die Gewissheit unseres Seins beweisen, und dass wir ein Bild der göttlichen Trinität sind, indem wir sind, dies wissen und beides lieben; er aber will mit dem Argument zeigen, dass dieses Ich, das denkt, eine immaterielle Seele sei, die nichts Körperliches hat; das seien doch zwei ganz verschiedene Sachen. 869 Descartes setzt also seine Absicht dem Versuch, sich des eigenen Seins zu versichern, gerade entgegen, und in der Tat spricht nichts dafür, dass er sich selbst in Frage gestellt hätte; vielmehr scheint er die Tatsache, dass es sich um ihn in der Rolle eines Denkenden handelt, als eine keiner Fundierung bedürftige Selbstverständlichkeit unbekümmert in Anspruch genommen zu haben. Indem er nämlich die berühmte Formel mit ausdrücklicher Voranstellung des Pronomens »ich« in der Fassung »ego cogito, ergo sum« 864 VI 59 (Discours de la méthode, 5. Teil), VII 81 (Meditationen, 6. Meditation), vielleicht eine Anspielung auf Aristoteles De anima 413a 9. 865 VII 222 (Meditationes, quartae responsiones). 866 VII 81 (Meditationes, 6. Meditation). 867 VII 76 (ebd.). 868 VI 32 (Discours de la méthode, 4. Teil). 869 III 247 (an?, November 1640).

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anführt, gibt er zwar als Voraussetzungen der Einsicht an, dass man wissen müsse, was Gedanke, Existenz und Gewissheit sei, ja sogar (im voraus schon), »dass nicht geschehen könne, dass, was denkt, nicht existiert«, 870 aber keinen Gedanken wendet er an das Wort »ich« und die zu dessen Verständnis nötige Vorkenntnis. Demgemäß ist er in keiner Weise vorbereitet auf die »Köpfung« seines Argumentes durch den berühmten Einwand von Lichtenberg: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.« 871 Wenn dies zutreffen sollte, bliebe vom cogito ergo sum nur noch der Rumpf »Es denkt, also ist etwas«, und ob selbst der Bestand hätte, wird noch zu fragen sein. Ein anderes Problem betrifft die formale Struktur des Argumentes. Es handelt sich, wie das Wort »ergo« zeigt, um einen Schluss. Zur Zeit des Descartes, und noch lange danach, war die Logik so unterentwickelt, dass man sich Schlüsse nur nach Art der von Aristoteles formalisierten Syllogismen mit universell oder partikulär quantifizierten Prämissen vorstellen konnte. Dann würde das Argument den Satz »Alle Denkenden sind« und also eine nicht gegen jeden Zweifel gesicherte Behauptung voraussetzen und nicht mehr als in sich gewisses erstes Prinzip gelten können. Descartes, dem man diesen Einwand machte, 872 hat die Form des Schlusses überhaupt verleugnet und das Argument als einfache Intuition ausgegeben, 873 unglaubwürdig schon wegen des »ergo« und seines sonstigen Sprachgebrauches. 874 Dass dieses Bedenken noch nach Jahrhunderten von berühmten Philosophen wie Kant und Hegel nachgesprochen worden ist, 875 mag nicht so erstaunlich sein wie der Respekt, den ihm der moderne Logiker Heinrich Scholz bezeugt, indem er sich darauf beschränkt, die universelle Prämie umzuformulieren. 876 In WirklichPrincipia Philosophiae I § 10. Zitiert nach: Georg Christoph Lichtenbergs vermischte Schriften Band 1, Göttingen 1853, S. 99. 872 IX/1, 205 f. (an Clerselier, 12. 01. 1646). 873 VII 140 (Meditationes, secundae responsiones); V 138 (an den Marquis von Newcastle, März oder April 1648). 874 Zu diesem vgl. Hartmut Brands, »Cogito ergo sum.« Interpretationen von Kant bis Nietzsche, Freiburg 1982, S. 66 f. 875 Kant, Kritik der reinen Vernunft B 422 (Anm.); Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 3. Teil, 1. Kapitel A1: Descartes (S. 131 in der TaschenbuchAusgabe von Hegels Werken bei Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1972, Band 20). 876 Über das cogito ergo sum, in: Kantstudien 36, 1931, 126–147. 870 871

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keit kommt man ganz ohne Quantifizierung aus, wenn man das Argument so fasst: »Wenn ich jetzt denke, bin ich jetzt; nun aber denke ich jetzt; also bin ich jetzt.« Nun ist die erste Prämisse analytisch wahr, wobei es nicht einmal auf das Denken ankommt, sondern nur auf die Bedeutung von »jetzt«; denn was jetzt ist, ist (zwischen Nochnichtsein und Nichtmehrsein). Problematisch ist aber die zweite Prämisse: »Jetzt denke ich.« Warum, will ich gleich zeigen. 877 Wenn ich mit Descartes an allem zweifle und mir bewusst bin, dass ich zum Zweifeln doch denken muss, sollte ich eigentlich mit Zuversicht behaupten dürfen: »Jetzt denke ich.« Dennoch gibt es eine vernünftige Möglichkeit, die so gewonnene Zuversicht in Frage zu stellen. Sie lehnt sich gewissermaßen an das Traumargument an, alles könnte nur ein Traum sein, macht sich aber von dem Verdacht, dass ich wirklich träumte, völlig frei. Es kommt nur auf drei Eigenschaften an, die an Träumen (wenn auch nicht an allen) beobachtet werden, ohne Rücksicht darauf, was sonst noch für Träume charakteristisch sein mag: 1 Dem Träumer ist die Wirklichkeit dessen, was er träumt, gewiss. 2 Auf einem höheren Standpunkt, der durch Erwachen erreicht wird, stellt sich heraus, dass diese Gewissheit von vornherein (ex ante) falsch war. Dazu bedarf es nicht der wirklichen Erreichung, sondern nur der Erreichbarkeit des höheren Standpunktes. Die Gewissheit wäre auch falsch gewesen, wenn der Träumer vor dem Erwachen gestorben ist, weil er den höheren Standpunkt, auf dem sie sich als falsch erweist, erreicht hätte, wenn er nicht vor dem Erwachen gestorben wäre. 3 Die Enttäuschung der Wirklichkeitsgewissheit laut 2 ist iterierbar, d. h. mehrere höhere Standpunkte der bezeichneten Art können über einander gelagert sein. 878 877 Das Folgende ist eine Kurzfassung der genauen Darstellung in meinem Buch: Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 64–72. 878 In meinem Buch System der Philosophie Band I Die Gegenwart (Bonn 1964, 4 2005) S. 219 habe ich dafür folgenden Beleg angeführt: »Ich selbst habe vor Jahren im Traum Folgendes erlebt: Ich sehe ein schreckliches Gesicht und habe große Angst. Da sage (oder denke) ich: Du brauchst keine Angst zu haben, das kann nur ein Traum sein. Tatsächlich erwache ich, das Schreckbild verschwindet. Da merke ich, dass ich immer noch träume. Ich denke: Dann hast du ja im Traum geträumt – als auch schon dasselbe scheußliche Gesicht wieder erscheint. Ich schreie auf und sage (oder denke) sofort: Schrei doch nicht, jetzt träumst du ganz sicher, du musst jetzt aufwachen. Auch das geschieht, bis ich zu meinem Entsetzen bemerke (im Traum!), dass ich immer noch schlafe und alles Vorhergehende geträumt war. Ich schreie laut auf und erwache jetzt richtig und endgültig.

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Einen Zustand, der diese drei Bedingungen erfüllt, bezeichne ich als einen Quasi-Traum und jeden Übergang von dort zu einem höheren Standpunkt, der ein Mittelglied (kein Schlussglied) in der Kette der Iteration nach 3 ist, als ein Quasi-Erwachen. Man macht sich leicht klar, dass die Wirklichkeitsgewissheit laut 1 in Quasiträumen triftig bleibt, wenn es eine natürliche Zahl n so gibt, dass die Kette erreichbarer Iterationen (unabhängig davon, wie viele tatsächlich erreicht werden) nach n Schritten abbricht und in echtes Erwachen übergeht (bzw. übergehen könnte) – andererseits aber auch, dass diese Gewissheit von vornherein täuscht, wenn die Kette kein letztes Glied hat, also ins Unendliche weiterläuft. Dann besteht sie zwar auf jeder Stufe, wird aber auf der nächsthöheren jeweils triftig ex ante dementiert, sofern diese Stufe erreicht wird, worauf es laut 2 für die Falschheit der Gewissheit nicht ankommt. Die Entlarvung trifft mit der unmittelbar niedrigeren Stufe jede nach unten folgende bis zur ersten, wo der Zweifler denkt: »Ich denke jetzt.« Dann trifft es auch auf dieser nicht zu, dass er ist, und folglich nach modus tollens auch nicht, dass er jetzt denkt. Die Möglichkeit, dass jeder, der sich mit dem Argument »cogito ergo sum« von seinem Dasein überzeugt, sich in einem Quasitraum an der Spitze einer unendlichen Kette möglichen Quasierwachens befindet, ist zwar nicht wahrscheinlich, aber mit bloß rationalen Gründen auch nicht von der Hand zu weisen. Sie entkräftet außer dem cartesischen Argument auch das gemäß dem Einwand von Lichtenberg reduzierte: »Es denkt, also ist etwas.« Die Gewissheit eigenen Seins wird sich auch durch solche kritische Revision des cartesischen Argumentes nicht so leicht jemand ausreden lassen. Daraus dürfte hervorgehen, dass sie andere Gründe hat als ein bloßes Raisonnement in der Art des cartesischen. In der Tat rächt sich an Descartes, dass er mit der ersten Person des Singulars (ego cogito) so leichtfertig umgegangen ist, wie gezeigt wurde. Er interessiert sich nur für objektive oder neutrale Tatsachen; das sind solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Aus allen solchen Tatsachen ist aber nicht zu entnehmen, dass es sich um mich selber handelt. (Für jeden anderen gilt das Entsprechende.) In allen neutralen Tatsachen, die den Hermann Schmitz, der ich bin, betreffen und sich z. B. in Form eines beliebig Lautes Herzklopfen, Angstschweiß. Man kann also sogar in ›Ketten‹ vom Traum im Traum träumen (…).« (Wolf v. Siebenthal, Die Wissenschaft vom Traum, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953, S. 243 f.).

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Descartes

langen Steckbriefes bei der Suche nach ihm aufzählen ließen, ist kein Grund enthalten, der zu schließen gestattete, dass ich er bin. Dazu bedarf es vielmehr, wie ich seit Jahrzehnten ausgeführt habe, der subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins, die dadurch bestimmt sind, dass höchstens ich sie im eigenen Namen aussagen kann, während andere sie allerdings so gut wie ich selber (mit Bezug auf echte oder fiktive Aussagen von mir) kennzeichnen und daher über sie sprechen können. Aus objektiven Tatsachen ist nicht zu entnehmen, dass sie mich betreffen, aus für mich subjektiven Tatsachen, die mir nahegehen, aber wenigstens, dass ich bin, mit wenigen Anknüpfungsstellen dafür, was ich bin (worüber ich mich im Traum oder Wahn gründlich täuschen kann); diese geben Gelegenheit, mit Hilfe von Forschung und Konvention mir ein Bild davon zu machen, was ich bin, z. B. Hermann Schmitz. Von den objektiven (neutralen) Tatsachen ist keine Brücke zu den subjektiven zu schlagen, wohl aber umgekehrt, indem die vollständigen subjektiven Tatsachen durch Abfallen der Subjektivität auf das ärmere und blassere Niveau der bloß noch objektiven Tatsachen, die für alle gleich sind, reduziert werden. Die Gewissheit eigenen Seins kann also bloß dem affektiven Betroffensein abgewonnen werden, hauptsächlich dem bedrängenden und einengenden, das den Menschen daran hindert, über sich hinwegzuleben. Den Weg zu dieser Quelle versperrt sich Descartes durch seine intellektualistische Attitüde. Er identifiziert sich mit seiner Seele, »durch welche ich bin, was ich bin«, 879 und diese mit der Vernunftseele, 880 die er durch die vielseitige Anwendbarkeit der Vernunft im Gegensatz zu der Spezialisierung der Maschinen und Tiere auf Aktionen und Reaktionen nach festen Programmen kennzeichnet. 881 Das wachsame Aufmerken spricht er den Tieren ab; sie sehen nach seiner Meinung nur so, wie wir im Zustand völliger Achtlosigkeit und Abgelenktheit durch andersartige Beschäftigung automatisch auf optische Eindrücke reagieren. 882 Dagegen traut er den Tieren pralles affektives Betroffensein zu: Sie können Passionen haVI 33 (Discours de la méthode, 4. Teil). III 371 (an Regius, Mai 1641): Anima in homine unica est, nempe rationalis, neque enim actiones ullae humanae censendae sunt, nisi quae a ratione dependent (»Im Menschen gibt es nur eine Seele, die vernünftige, und keine Handlungen, die nicht von der Vernunft abhängen.«). 881 VI 57 (Discours de la méthode, 5. Teil). 882 I 413 f. (an Plempius, 03. 10. 1637). 879 880

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Die Subjektivitt

ben wie Hoffnung, Furcht und Freude, sogar stärkere als die Menschen, aber ohne dabei zu denken, 883 außer wenn es sich um ein mit Körperorganen verbundenes Denken 884 (»Organempfindungen«) handelt. Als Mensch zieht sich Descartes also von der intensiven, nach seiner Meinung tierischen, Fülle des affektiven Betroffenseins in die Vernunftseele zurück; dass ihm dabei nicht ganz wohl ist, zeigt allerdings sein Zugeständnis, diese müsse mit dem Körper enger als der Kapitän mit seinem Schiff verbunden sein, »um Gefühle und Begierden ähnlich den unsrigen zu haben und so einen richtigen Menschen zu bilden.« 885 »Wir«, die richtigen Menschen, sind demnach durch die bloße Vernunftseele nicht ausgefüllt, und diese muss noch etwas zunehmen, um uns zu erreichen. Trotz dieses Zwiespaltes hindert seine Option für die Vernunft Descartes daran, die Wurzel des Selbstbewusstseins im affektiven Betroffensein zu suchen. Die Bedeutung des Subjektes, das er selbst ist, erschöpft sich für Descartes in der erkenntnistheoretisch ausgezeichneten Position als Stützpunkt eines Systems der Weltanschauung, wie er sie in einem Brief beschreibt: Der Satz vom Widerspruch ist überflüssig und unnütz, meint er; in anderem Sinn sei erstes Prinzip, dass unsere Seele existiert, denn von nichts anderem ist uns die Existenz bekannter, und im Gegensatz zur Überflüssigkeit jenes Prinzips ist es von großem Nutzen, sich der Existenz Gottes, und, in Folge davon, aller Kreaturen zu versichern durch die Betrachtung der eigenen Existenz. 886 Die damit angesprochene Subjektivität bezeichne ich als die positionale, weil es sich bloß um die in gewisser Weise ausgezeichnete Position eines Weltstückes namens »Seele« im Verhältnis zu herumgruppierten Mitspielern auf der Objektseite handelt. Von strikter Subjektivität spreche ich erst, wenn nicht bloß die Beziehungen in einem solchen Arrangement beachtet werden, sondern auch zum Zuge kommt, was dazu gehört, dass es sich bei etwas um mich selbst handelt, um die »Meinhaftigkeit«, die der Psychiater Kurt Schneider bei Entfremdungserlebnissen vermisste; dieser Zugang führt auf die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Während Descartes, indem er seine Seele als die Quelle ausgibt, aus der er letztlich alle Gewissheit schöpft, beinahe gleichgültig darüber hinweggeht, 883 884 885 886

IV 573 f. (an den Marquis von Newcastle, 23. 11. 1646). Ebd. 576: quelque pensée jointe à ces organes. VI 59 (Discours de la méthode, 5. Teil). IV 444 f. (an Clerselier, Juni oder Juli 1646).

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dass es sich dabei um ihn selber handelt, legt vier Jahrhunderte früher Vitalis de Furno bei gleicher erkenntnistheoretischer Bewertung der Seele einen stärkeren Akzent auf die Meinhaftigkeit: »Aber in solcher Weise erkenne ich meine Seele so wenig intuitiv, wie deine, obwohl ich in gewisser Weise mit mehr Gewissheit erkenne, dass die Seele meine und dass sie in mir ist, als dass deine Seele ist und in dir ist (…); vielmehr kann ich durch Akte von keiner anderen Seele Gewissheit haben, ob sie ist und in einem solchen Körper ist, als von meiner. (…) Daher wird durch Vermutung über andere diese Gewissheit nicht erreicht; von mir aber erfahre ich durch innerliche und untrügliche Erfahrung im inneren Sinn, d. h. im Verstand, dass die so beschaffenen Akte meine sind, etwa, dass ich überlege, und dergleichen. Und dadurch ist eine solche deutlich sich abzeichnende (arguitive) Erkenntnis von meiner Seele die gewisseste, so wie es Augustinus sagt in der oben zitierten maßgeblichen Äußerung, ja, sie ist das Prinzip der Gewissheit, die ich von allem anderen habe: das unbewegliche Zentrum der Wahrheit, um das sich dreht, an dem haftet die Beweglichkeit und der Fluss aller anderen Dinge, die erwogen und geglaubt werden.« 887

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30.3 Gott Die Theologie der Meditationes gibt Anlass, entweder am Verstand oder an der Aufrichtigkeit des Verfassers zu zweifeln. Da ist zunächst der ontologische Gottesbeweis. Er scheitert schon daran, dass die Idee des vollkommenen Wesens widersprüchlich ist, weil Vollkommenheit Unvollkommenheit voraussetzt, also nur relativ sein kann. Das musste Thomas von Aquino erfahren, dem sich das reine vollkommene Sein, das er für Gott hielt, aus Mangel an inneren Unterschieden in leere Unbestimmtheit auflöste, deren er nur Herr werden konnte, indem er diese ontologische Unzulänglichkeit in eine solche des menschlichen Fassungsvermögens umdeutete (22.1); Hegel259 260 und Wilhelm von Ockham479 haben den Finger auf die Wunde gelegt. Das ganz vollkommene Wesen leidet an der fatalen Unvollkommenheit, gar keinen Mangel zu haben, an dem sich seine Vorzüge pro887 De rerum principio quaestio 15, früher dem Duns Scotus zugeschrieben, daher abgedruckt in dessen Opera omnia Band III, Lyon 1639, Nachdruck Hildesheim 1968, S. 130 Spalte b.

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filieren könnten. Der Sache nach folgt der Irrtum des ontologischen Gottesbeweises daraus, dass nichts mit logischer Notwendigkeit existiert; denn dann wäre es unmöglich, dass gar nichts existiert, und das ist nachweislich logisch möglich, wenn auch keine Tatsache. 888 Außerdem beruht der ontologische Gottesbeweis auf einer Kategorienverwechslung, die damit zu tun hat, dass es im Lateinischen keinen unbestimmten Artikel gibt. Wer ihn führen will, beruft sich auf seine Idee von einem ganz vollkommenen Wesen, ohne dieses selbst präsentieren zu können. Ein ganz vollkommenes Wesen zu sein, ist aber erst eine Bestimmung, in der das so Bestimmte keineswegs enthalten ist, eine Gattung, die allerdings höchstens einen einzigen Fall haben kann. Ob es einen solchen gibt, ist dadurch nicht entschieden. Diese Berichtigung würde den sonderbaren cartesischen Gottesbeweis aus der Idee von Gott in uns selbst dann zerstören, wenn man Descartes seine Spekulationen über objektive und formale Realität abnehmen wollte. Die Gattung oder Eigenschaft, ein vollkommenes Wesen zu sein, die in dieser Idee vorschwebt, besitzt keineswegs die Vollkommenheit eines vollkommenen Wesens, es sei denn, man bekennte sich zur Selbstanwendung der platonischen Ideen (11.8.1); es braucht auch kein Abglanz solcher Vollkommenheit auf sie zu fallen. Dass ich zur Erhaltung meines Daseins eines Erhalters bedürfte, ist naive Kausalmetaphysik, und warum das gerade Gott sein müsste, wird selbst bei Descartes nicht ersichtlich. In der Systemkonstruktion von Descartes füllt Gott die Lücke, die in der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung dadurch entsteht, dass das Subjekt in seiner abgeschlossenen Innenwelt an die Gegenstände seiner Außenwelt nicht mehr herankommt, um sich von ihrem Dasein zu überzeugen, wie schon Demokrit845 bemerkte. Gott, so glaubt Descartes, ist viel zu vollkommen, um mit ihm das täuschende Spiel zu treiben, ihm eine physische Außenwelt bloß vorzugaukeln. 889 Als ob er damit nicht auch edle Absichten verbinden könnte, z. B., Descartes zum vernünftigen Skeptizismus eines Montaigne oder zum transzendentalen Idealismus eines Kant zu erziehen! Gottes Wille setzt nach Descartes in völliger Freiheit erst fest, was das Gute ist; 890 er kann also auch 888 Den Beweis habe ich seit 1980 viermal vorgetragen, zuletzt in: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 24–26. 889 VII 79 f. (Meditationen, meditatio sexta). 890 VII 431 f., 435 f. (Meditationen, sextae responsiones).

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entscheiden, dass es gut ist, den Menschen zu täuschen, und dann wäre das eben gut, und schlecht wäre, dem Menschen die Wahrheit zu sagen. Die Theologie der Meditationes ist gleichsam ein schwungvoll aufgesetzter Hut auf einem Gedankenkörper, der zusammengehalten wird durch das doppelseitige Bestreben, einerseits die Außenwelt für technische Weltbemächtigung freizuräumen und bereitzustellen, andererseits die seelische Innenwelt vor einer Naturalisierung, die sie dem Mechanismus dieser Bemächtigung ausliefern würde, zu bewahren und dabei mit der Metaphysik vorsichtig832 umzugehen. Dass Descartes diese zuletzt genannte Maxime in der Theologie so gründlich außer Acht lässt, dürfte zwei Gründe haben. Einerseits handelt es sich um einen Wall von Schutzbehauptungen um eine damals höchst gefährlich neue Lehre, deren Risiko der vorsichtige Descartes sein erstes Systemprojekt Le monde opferte und durch immer neue fromme Verbeugungen 891 und Empfehlungen theologischer Nützlichkeit seiner Spekulation 892 abfangen will; wie realistisch er dieses Risiko einschätzte, zeigen seine Anfechtungen an holländischen Universitäten (z. B. durch Voetius). Andererseits verschaffte ihm das Aufsetzen jenes Hutes die Gelegenheit zu der großartigen theatralischen Inszenierung, die ihn hauptsächlich berühmt gemacht hat: eines siegreichen Kampfes gegen den radikalen Zweifel bis in alle erkenntnistheoretischen Ecken. Der theologische Hut ist so etwas wie die Maske, deren sich der junge Descartes rühmt oder bezichtigt: »Maskiert trete ich auf.« 893 Neben der Theologie der Meditationes taucht bei Descartes gelegentlich eine andere Theologie in den Spuren des Thomas von Aquino (22.1) auf: Das reine Sein, das Gott ist, ist das Unendliche, und alle Bestimmtheit der übrigen Dinge ist das Produkt einer Negation (besser: Privation), wodurch die Unendlichkeit des göttlichen Seins eingeschränkt wird. 894 Demgemäß hält Descartes sich für so etwas wie ein Mittelding zwischen Gott und dem Nichts, 895 abermals ganz im Sinn der Metaphysik des Thomas (22.2).

z. B. Principia Philosophiae I § 76. Bis hin zu dem offensichtlich uneingelösten Versprechen des Titels, in den Meditationes auch noch die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. 893 Larvatus prodeo: X 213 (Cogitationes privatae). 894 V356 (an Clerselier, 23. 04. 1649) und 153 (Gespräch mit Burman, 16. 04. 1648), vgl. VII 45 f. (Meditationes, tertia meditatio). 895 VII 54 (Meditationes, quarta meditatio). 891 892

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Der Elementarismus

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30.4 Der Elementarismus Aus der vermeintlichen Evidenz des »cogito ergo sum« (30.2) entnimmt Descartes die »allgemeine Regel«, »alles sei wahr, was ich klar und deutlich vorstelle.« 896 Das erläutert er so: Klar ist eine dem aufmerksamen Geist gegenwärtige und offenkundige Vorstellung, deutlich eine solche, die erstens klar ist und zweitens »von allen anderen so getrennt und abgeschnitten, dass sie nichts anderes als, was klar ist, in sich enthält.« 897 Einigermaßen überraschend ist daran, dass die scharfe Abgrenzung nach außen als zureichender Grund für durchgängige Klarheit im Inneren ausgegeben wird. Diese wird von Descartes als Durchsichtigkeit des Deutlichen verstanden; 898 davon hängt nach seiner Überzeugung die verlässliche Gewissheit ab: »Man kann sie nicht von solchen Sachen haben, die wir auch nur im mindesten dunkel oder verschwommen vorstellen.« 899 Descartes verlangt also vollständige Auflösung des jeweiligen Gegenstandes der Erkenntnis in lauter Einzelnes und ist der Meinung, dass schon dessen scharfe Abgrenzung dafür hinreicht. Damit leugnet er die Erkennbarkeit von Situationen (29.1), die zwar nach außen (mehr oder weniger) ganzheitlich abgehoben sind, im Inneren aber durch eine binnendiffuse (nicht in lauter Einzelnes durchgegliederte) Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen zusammengehalten werden. Situationen sind aber die ursprünglichen und grundlegenden Gegenstände, ohne die wir nie zu etwas Einzelnem kämen (29.1). Descartes’ Leugnung beruht auf einem irrigen Leitbild der Evidenz. Es ist nicht wahr, dass diese samt der von ihr vermittelten, jeweils unüberwindlichen Gewissheit auf Deutlichkeit des Evidenten angewiesen wäre. 900 Das beste Gegenbeispiel ist gerade das »cogito ergo sum«, an dem Descartes seine Wahrheitsregel abliest und eicht. Über den Sinn von »ergo« in dieser Formel herrscht bei ihm und seinen Nachfolgern, wie sich unter 30.2 herausgestellt hat, eine geradezu erschütVII 35 (Meditationen, tertia meditatio). Principia Philosophiae I § 45. 898 X 400 (Regulae ad directionem ingenii, Regel 9): »Man muss die ganze Schärfe des Geistes an die mindesten und leichtesten Sachen wenden und bei ihnen so lange verweilen, bis wir uns gewöhnt haben, die Wahrheit deutlich und durchsichtig zu schauen.«. 899 VII 145 (Meditationen, responsiones secundae). 900 Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band IV: Die Person, Bonn 1980, 2. Auflage 1990, S. 561–563: Die Verträglichkeit von Evidenz mit Undeutlichkeit. 896 897

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ternde Unklarheit und Verwirrung. Einerseits will Descartes nicht gelten lassen, dass es sich um einen Schluss handelt, sondern will das Argument, das dann keines wäre, in einen schlichten »Geistesblitz« einfangen, aber was soll dann noch »ergo«, ein Wort, das ohne Folgebeziehung keinen Sinn hat? Wie Descartes ja auch immer wieder in die Redeweise von Schlüssen gerät, wenn er darauf zu sprechen kommt.874 Und doch ist ihm gerade diese so verknüpfte Folge zweiter Einwortsätze das Musterbeispiel von Evidenz. Ebenso war der Zahlbegriff mindestens bis zu Frege (und bei den Meisten noch danach) überaus verworren (siehe die Überleitung), was der Evidenz von »2  2 = 4« nicht im Wege gestanden hat. Entsprechendes gilt für den Ortsbegriff (29.1), den jeder geläufig handhabt, wenn er Worte wie »wo«, »da«, »dort« gebraucht. Keine Evidenz ist größer als die des Satzes »Jetzt erschallt Geräusch«, wenn ich mich sprechen höre, aber, was »jetzt« heißt, ist alles andere als deutlich im Sinne der Definition von Descartes. Solche Verträglichkeit von Evidenz mit Undeutlichkeit lässt sich durch geeignete phänomenologische Begriffsbildung befriedigend verständlich machen. 901 In allen solchen Fällen, in denen Undeutlichkeit der Evidenz nicht im Wege steht – und das dürften alle Fälle evidenter Erkenntnis sein –, ist die Erkenntnis der evidenten Tatsache zugleich Erkenntnis von Situationen, die in den Intensionen, den Wortbedeutungen, der zur Formulierung verwendeten Worte versteckt sind: Man versteht bei der Einsicht mehr, als man explizieren kann, aber diese diffus bleibende Bedeutsamkeit wird vom Ganzen der Einsicht zur Situation zusammengehalten. Die Evidenz wird dadurch nicht gestört, aber die mit ihr verbundene Undeutlichkeit fordert zur weiteren Besinnung und Explikation heraus, die zwar nicht zu einem definitiven Ende kommt, aber, wenn sie glückt, immer mehr Klarheit verbreiten kann. Descartes will das nicht gelten lassen. In der Erläuterung der 12. Regel seiner Regeln zur Leistung des Geistes 902 entwickelt er eine Erkenntnistheorie, die alle Erkenntnis auf eine Zusammensetzung einfacher Naturen zurückführt. 903 Die einfachen Naturen sind sämt901 Vgl. von mir: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 243–267: Das Ziel der Erkenntnis; zur Tatsächlichkeit auch: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 63–74. 902 X 410–430. 903 X 422: »Wir sagen fünftens, dass nie etwas von uns eingesehen werden kann außer solchen einfachen Naturen und ihrer Mischung oder Zusammensetzung mit einander.« 427: »Drittens wird gefolgert, dass alle menschliche Wissenschaft in diesem Einen be-

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Der Elementarismus

lich per se bekannt, führen niemals zu irgendeiner Falschheit und sind undefinierbar. 904 Platons Elementarismus (11.8), d. h. die Überzeugung, dass jede Bestimmung von etwas als etwas einzeln ist, ist in vollem Umfang wiederhergestellt, und mit Platon könnte Descartes die Erkenntnis der Wahrheit über irgendeinen Gegenstand als die Kunstfertigkeit bestimmen, alles an sich selbst abzugrenzen und nach der Abgrenzung in Ideen solange zu zerlegen, bis man zu letzten, unzerlegbaren kommt; 905 er ergänzt diese analytische Seite der Methode durch die synthetische, die gefundenen einfachen Bausteine in ununterbrochener geordneter Aufzählung sachgemäß zusammenzusetzen und es dabei zur Virtuosität eines möglichst raschen Überblicks zu bringen. 906 Wegen der vermeintlichen Einfachheit der elementaren Bestimmungen verschmäht er eine darauf bezügliche logische Analyse und schluckt gleichsam bereitwillig den Staub der von ihm verkannten binnendiffusen Bedeutsamkeit solcher Begriffe oder Themen wie Figur, Größe, Bewegung, Ort, Zeit und sogar Wahrheit. 907 Er ist der Meinung, dass man auf die Erkenntnis solcher einfachen Naturen gar keine Mühe verwenden müsse, da sie durch sich selbst genügend bekannt seien. 908 So riskant solches voreiliges Vertrauen auf geradezu verfügbare Urelemente, die zur komplexen Erkenntnis nur geeigneter Zusammensetzung bedürfen, auch ist, so wenig kann dieses Bedenken der von Descartes vorgezeichneten analytisch-synthetischen Methode den Glanz eines Erkenntnisideals nehmen, das immer dann berechtigt ist, wenn ein Erkenntnisgebiet systematische Durchgestaltung mit Hilfe von Kombinationen elementarer Begriffe gestattet – nach dem Muster der Buchstabenschrift, die Wörter durch potentiell unendliche Variationen eines schmalen Baukastens von Elementen (Buchstaben im griechischen und lateinischen Wortsinn) zusammenzusetzen gestattet. Das Reich der Farben ist ein Gebiet dieser Art, 909 und mit entsprechender Methode filtert die Phonologie aus dem steht, dass wir deutlich sehen, in welcher Weise solche einfachen Naturen zur Zusammensetzung anderer Sachen zusammenkommen.«. 904 X 420, 426. 905 Phaidros 277b. 906 X 407–410 (Regel 11). 907 II 597–599 (an Mersenne, 16. 10. 1639). 908 X 425 (Regel 12). 909 Vgl. Narciso Silvestrini, Ernst Peter Fischer: Farbsysteme in Kunst und Wissenschaft, hg. v. Klaus Stromer, Köln 1998 und 2002.

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Descartes

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Kontinuum der Phoneme die fest begrenzten Spielräume bedeutung-tragender lautlicher Einheiten für einzelne Sprachen heraus; ich selbst habe mit einem »Alphabet der Leiblichkeit« die spürbaren leiblichen Regungen analytisch katalogisiert. 910 Die exakte Naturwissenschaft, die mit ihren Konstruktionen Phänomene transphänomenal ergänzt, hat in dem dadurch erschlossenen Bereich glänzende Erfolge der cartesischen Methode, z. B. in der Chemie (periodisches System der Elemente) und der Genetik, anzubieten. Es wäre aber hybrid, auf solche Erfolge mit Descartes eine Richtschnur für jegliche menschliche oder auch nur wissenschaftliche Erkenntnis aufzuziehen. Erstens baut man damit auf unsichere Fundamente, indem man kurzsichtig einfache Bausteine postuliert, wo die Analyse noch unabsehbare Aufgaben hat; zweitens verengt man das Spektrum der Erkenntnis durch Abwendung von allen Aufgaben, die nur bescheidenere Leistungen der Klassifizierung und Charakteristik gestatten, und liefert den größten Teil des Lebens einer unnötigen Irrationalität aus.

910 Hermann Schmitz, System der Philosophie Band II: Der Leib, 1. Teil Bonn 1965, 3. Auflage 1998, S. 169–172: Rückblick: Das Alphabet der Leiblichkeit; 2. Teil: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966, 3. Auflage 1998, S. 19–35: Abriss der Struktur des Leibes.

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31. Spinoza

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31.1 Gott Thomas von Aquino hatte den nachrückenden Denkern das Rätsel hinterlassen, wie es möglich ist, dass die Dinge ihr Sein nur von Gott nehmen können, dieser es ihnen aber nicht abgibt, weil er das an sich bestehende, unendliche, keiner Verminderung fähige Sein selbst ist (22.1). Meister Eckhart löst das Rätsel durch die Lehre, dass das Sein der Dinge in ihrer beharrenden Geburt durch Gott besteht, als ein Sein in statu nascendi, wobei Gott als das Sein sich in sie ergießt, ohne sich durch vollständige Abgabe dieses Seins in sie aufzulösen (25.1). Nikolaus von Kues bewältigt das Problem so, dass Gott als das Könnist die vielen Dinge durch Komplikation in seine einfache Einheit aufnimmt, und nimmt den dadurch unvermeidlichen Widerspruch als coincidentia oppositorum in Kauf (26.2). Spinoza 911 bewältigt das Problem mit der These, dass Gott die immanente (inblyvende, inbleibende) Ursache aller Dinge ist, außer der es nichts gibt, 912 da sie dieses Sein nur modifizieren oder auf verschiedene Weise ausdrücken. Dieser Gott ist die natura naturans, wie ihn auch die Thomisten verstanden haben, nur dass deren natura naturans ein Wesen außer allen Substanzen war. 913 Die Stelle zeigt, dass Spinoza die Schwäche des thomistischen Ansatzes richtig in der Transzendenz Gottes sieht, 911 Ich zitiere Spinoza für die Ethica (E) nach der Ausgabe von Konrad Blumenstock (mit beigegebener deutscher Übersetzung von Berthold Auerbach) Darmstadt 1967 mit Angabe von Buch, Definition (D.), Proposition (pr.), Corrolar (cor.) und scholion (sch.), die übrigen Schriften nach der Ausgabe von Carl Gebhardt, Heidelberg o. Jahr (1924), und zwar Band IV für einen Brief, Band I für folgende Schriften: Korte Verhandeling van God, de Mensch en de zelfs Welstand (Kurze Verhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, KV, deutsch von Karl Gebhardt, Leipzig 1914); Cogitata Metaphysica. Bei diesen Schriften gebe ich auch die Kapitel (Kp.) an, teilweise (nach Komma) mit Unterkapitel. 912 KV 26, 18 f. (Kp. 2, 23), E I pr. 18. 913 KV 47, 22–28 (Kp. 8).

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Spinoza

einer anderen Formel des eben angegebenen Rätsels. Thomas muss sich wegen dieser transzendenten Abgeschlossenheit des Seins, das Gott ist, mit dem Nichts als Quelle für Minderung des Seins in den Geschöpfen, gleichsam als Mitschöpfer, behelfen (22.2); die Immanenz eines Gottes, der alles ist, erlaubt es Spinoza, alle begrenzten Dinge auf die einzige Substanz zu reduzieren und so der Mischung von Sein und Nichts in ihnen zu entgehen: »Dass es keine begrenzte Substanz geben kann, ist daraus klar, dass sie dann notwendig etwas haben müsste, was sie vom Nichts hätte, was unmöglich ist.« 914 Spinoza lehrt: »Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden.« 915 Alles wird auch tatsächlich durch Gott begriffen. 916 »Die besonderen Dinge sind nichts als Affektionen oder Modi der Attribute Gottes, durch welche die Attribute Gottes auf sichere und bestimmte Weise ausgedrückt werden.« 917 Damit stellt sich Spinoza in äußersten Gegensatz zu dem radikalen Singularismus Wilhelms von Ockham, dem mit jeder beliebigen Sache202 sogar auch jedes Akzidens ein Ding an sich (a se, ad se) mit eigener Wesenheit war,452 während Thomas von Aquino und Descartes wie Spinoza den Akzidentien nur geliehenes Sein (als Beiträge zum eigenen Sein der Substanzen) gönnen. 918 Andererseits schließt dieser sich Wilhelm an, indem er die Relationen aus der Wirklichkeit streicht und zu bloßen Gedankendingen (entia rationis) und Menschenwerk stempelt 919 sowie die Universalien ganz im Geiste Wilhelms211 vor die Alternative stellt, entweder ein reines Nichts oder eine Weise unseres Denkens zu sein. 920 Mit der Kappung aller Zusammenhänge (24.2) und Eliminierung aller die Individuen übergreifenden Bedeutungen (24.3) einschließlich der formalen Perfektionen nach Duns Scotus443 griff Wilhelm die Einheitlichkeit der spätantik-mittelalterlich verstandenen Weltordnung an;476 Spinoza braucht keine solchen Klammern für die Einheit des Alls, ihm genügt 914 KV 19, 26–28 (Kp. 2, Anm. 2). Dieser Hinweis richtet sich auch gegen Descartes, s. o. Anm. 895. 915 E I pr. 15. 916 E II pr. 47 schol. (S. 238, 2). 917 E I pr. 25 cor. 918 Thomas, Summa theologiae I q. 45 a. 4c., q. 105 a. 4 ad 3, Quaestiones de potentia Dei q. 3 a. 8c. (S. 65, s. Anm. 222); Descartes (s. Anm. 829) III 648 f. (an Mersenne, 06. 04. 1643). 919 KV 49, 5–10 (Kp. 10). 920 Cogitata metaphysica S. 235, 10–16 (Kp. 1); KV 43, 7 f. (Kp. 6, 7).

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Gott

Gott als inbleibende Ursache. Mit seiner Lehre, dass nur Gott als die einzige Substanz durch sich selbst begriffen wird, 921 während alle anderen Dinge nur915 und wirklich916 durch ihn begriffen werden, imitiert Spinoza die cusanische Denkfigur des Nicht-anderen, das nach der (logisch falschen) Meinung des Nikolaus sich selbst und alle Dinge definiert.626 Nach Nikolaus garantiert Gott als das Nicht-andere die Weltordnung, weil alle anderen Dinge als nicht andere als die, die sie eben sind, zu ihm als der Ordnung der Ordnung geordnet sind.635 Ebenso bürgt nach Spinoza Gott als inbleibende Ursache für die Ordnung und Verknüpfung der Dinge; 922 was es damit auf sich hat, soll nun betrachtet werden. Gott ist das absolut unendliche Seiende, zu dessen Wesenheit alles gehört, was eine Wesenheit ausdrückt und keine Negation einschließt. 923 Aus Gottes Natur folgt notwendig alles, was unter den unendlichen Verstand fallen kann, d. h. Unendliches auf unendliche Weisen. 924 Auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung konnten die Dinge von Gott hervorgebracht werden. 925 Alles, was in Gottes Macht steht, existiert notwendig. 926 Daraus muss man schließen, dass alles Denkbare, da es in Gottes Verstand Platz hat, wirklich existiert. Das ist aber nicht Spinozas Lehre, da er vielmehr den nicht existierenden Einzeldingen ein nur summarisches Enthaltensein ihrer Ideen in Gottes unendlicher Idee bescheinigt, 927 auch darin übereinstimmend mit Thomas von Aquino.270 Der Widerspruch entsteht dadurch, dass die von Leibniz ausgearbeitete Vorstellung aller möglichen Welten, d. h. aller widerspruchsfrei denkbaren Kombinationen widerspruchsfrei denkbarer Gegenstände, Spinoza fehlt. Um ein der Kapazität seines Gottes angemessenes Produkt zu konzipieren, bräuchte er ein Multiversum, bestehend aus allen möglichen Welten als wirklichen Welten. Dann hätte er eine elegante Verbindung von ordinatorischem und permutatorischem Singularismus Laut E I D. 3 mit den folgenden Lehrsätzen. E II pr. 7. 923 E I D. 6, mit einer explicatio, die auch von Thomas von Aquino (s. Anm. 256) stammen könnte. 924 E I pr. 16. 925 E I pr. 33. 926 E I pr. 35, vgl. pr. 33 schol. 2 (S. 142 Z. 1–3): Keine gesunde Vernunft kann glauben machen, dass Gott nicht alles, was in seinem Verstand ist, in derselben Vollkommenheit, mit der er es versteht, geschaffen hätte. 927 E II 8 mit Scholion. 921 922

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Spinoza

(27.1) zustande gebracht: In jedem einzelnen Universum, z. B. dem unsrigen, würde unausweichlich strenge Ordnung herrschen, aber im Multiversum wäre jede Kombination gleichberechtigt. Dass solche Gedanken Spinoza nicht ganz fern lagen, ergibt sich aus der Nachlese eines Juristen, der 27 Jahre nach Spinozas Tod in Holland Nachrichten über diesen einzog: einerseits habe Spinoza die Ewigkeit der Welt behauptet, andererseits gelegentlich auch gesagt, es gebe viele Welten. 928 So weit, um der notwendig erschöpfenden Bestätigung der Allwissenheit Gottes durch seine Allmacht ein hinlängliches Feld zu öffnen, hat er sich aber nicht aus dem Fenster zu lehnen gewagt, und eine Folge davon ist das Unbehagen, das der SpinozaLeser als Zwiespalt von Notwendigkeit und Zufall in der von Gott bewirkten Weltordnung empfinden kann: Man erfährt, dass aus dem Wesen Gottes alles so notwendig folge wie aus dem Wesen des Dreiecks dessen Winkelsumme, aber nur, sofern Gottes Attribute durch gewisse Modi modifiziert seien, diese wiederum durch andere usw. in unendlich rückläufiger Kausalverknüpfung. Wie es zu dieser Modifikation kommt und warum sie gerade diese bestimmte Gestalt annimmt, darüber erfährt man nichts. In einem Multiversum der bezeichneten Art wäre das kein Problem: Alle Modi in allen Kombinationen wären wirklich vorhanden, jede in dem für sie zuständigen Universum. Ganz unklar bleibt Spinozas Einschiebung von Attributen zwischen Gott und seine Modi oder Weisen, die den Kreaturen nach christlicher Lehre entsprechen. Gott besteht aus unendlich vielen Attributen,923 die das sind, was der Verstand von der Sache als ihr Wesen ausmachend erkennt. 929 Welcher Verstand? Der menschliche? Der kennt nur zwei von den unendlich vielen Attributen (Ausdehnung und Denken). Oder der göttliche? Aber woher wissen wir, was der erkennt, und wieso braucht er für seine Selbsterkenntnis Attribute? Die Auswahl der beiden, von denen allein die Rede sein kann, weil wir von den anderen nichts wissen, ist natürlich vom cartesischen Dualismus bestimmt. Descartes ließ nur zwei wesentliche Attribute von Substanzen zu, Denken und Ausdehnung. Dass die Ausdehnung zum wesentlichen Attribut Gottes erhoben wird, versteht 928 Spinoza, Lebensbeschreibungen und Gespräche, übertragen und herausgegeben von Carl Gebhardt, Leipzig 1914, S. 101 (Bericht der Stolle-Hallmann’schen Reisebeschreibung 1704). 929 E I D. 4.

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Gott

man leicht aus der Suggestivkraft der barocken Raumtheologie, die die Unermesslichkeit des unendlichen Raumes und Gottes Unermesslichkeit zusammenbringt oder gar identifiziert, sogar mit Berufung auf die Areopagrede des Paulus: In Gott und im Raum leben, weben und sind wir. 930 Aber das Denken? Wir kennen es nur in kleinen Portionen, die auch als Modi bei einem anderen Attribut Unterkunft finden könnten, statt ein unendliches Denken zu erfordern. Die innige Verbundenheit von Menschenseele und Menschenkörper trotz völliger Verschiedenheit der Substanzen bleibt für Descartes ein Rätsel. Dessen Lösung fällt Spinoza mit seiner Attributenlehre gleichsam in den Schoß: Jeweils derselbe Zustand des modifizierten Gottes stellt sich auf zwei Weisen dar, als Modus des Denkens und als Modus der Ausdehnung, und beide lassen keine Trennung zu, und keine weitere Verknüpfung als die, dass es sich um zwei Seiten oder Aspekte derselben Modifikation Gottes handelt; daher kann der Mechanismus in der räumlichen Ausdehnung ungehemmt triumphieren, ohne den gleichläufigen Zusammenhang des Denkens zu beeinflussen oder von ihm beeinflusst zu werden. Spinoza stützt diese Lösung auf den Satz: »Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Sachen.«922 Im Besonderen ist die menschliche Seele die Idee des menschlichen Körpers, der ihr Objekt ist, Idee eines einzelnen aktuell existierenden Dinges. 931 Da sich aber ein modifizierter Zustand Gottes durch unendlich viele Attribute erstrecken soll, reicht die Menschenseele für die Repräsentation dieses Zustandes in allen seinen attributiven Schattierungen im Denken Gottes nicht aus. Demgemäß spricht Spinoza von den »Modifikationen aller der unendlichen Attribute, die ebenso wie die Ausdehnung eine Seele haben.« 932 Jede von diesen Seelen ist ebenso wie die Menschenseele Idee eines Modus, der in irgendeinem uns unbekannten Attribut Gottes dessen betreffenden modifizierten Zustand ebenso schattiert, wie der Menschenkörper, dessen Idee die Menschenseele ist, im Attribut der Ausdehnung. Von diesen demselben modifizierten Zustand Gottes in dessen Denken entsprechenden Ideen gibt es jeweils unendlich viele, die unter einander keine Verknüpfung haben. 933 Damit erhält 930 So Clarke im 2. Schreiben gegen Leibniz § 12 und im 5. Schreiben, zu den Nummern 36–48. 931 E II pr. 11–13. 932 KV 119, 9–13 (Anhang: Von der menschlichen Seele, 9). 933 IV 280 (Brief 66 vom 18. August 1675, an Tschirnhaus).

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Spinoza

das Denken eine Sonderstellung unter den Attributen Gottes: Ein modifizierter Zustand Gottes drückt sich in jedem göttlichen Attribut außer dem Denken durch genau einen Modus aus, im Denken aber, gemäß seiner Repräsentationsaufgabe, durch unendlich viele Modi. Dann kann der Satz nicht mehr zutreffen, dass die Ordnung und Verknüpfung der Ideen dieselbe ist wie die Ordnung und Verknüpfung der Sachen. An dieser Unzuträglichkeit zeichnet sich ab, dass die Attributenlehre eigentlich auf den cartesischen Dualismus mit genau zwei Attributen zugeschnitten ist und in systemwidriger Weise zu einer Unendlichkeit von Attributen aufgebläht wird.

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31.2 Einheit und Vielheit Die erforderliche Synthese von Einheit und Vielheit stellt sich den Neuplatonikern ebenso wie Spinoza als die Aufgabe dar, Einfaches und Vielfaches als ein und dasselbe zu denken. Zwar schälen die antiken heidnischen Neuplatoniker das Eine auch ganz abstrakt aus jeglicher Befleckung durch Vielheit heraus, aber auf dieses bloße Eine folgt in ihrem System das Eine-Viele, dessen Mannigfaltigkeit inniger als die numerische ist: instabile oder multivalente Konkurrenz der Teile um Identität mit dem Ganzen und dadurch mit einander (15.2; 16.3). Überdies verwischt sich schon bei Plotin die Grenze zwischen dem Einen, das jede Vielheit ausschließt, und dem dynamischen Einen, in dem sich Einheit und Vielheit ambivalent überschieben (15.4). Damaskios radikalisiert diese Überschiebung zum prä-immanenten Einen, das alles ist in der Form der Einfachheit, vor allem zu sein (17.2). Sein Problem ist nicht mehr der Übergang vom Einen zum Vielen, sondern das Denken des Einen, das einfach und als alles zugleich vielfach ist. Der menschliche Geist vermag die Lösung dieser Aufgabe nur von ferne zu ahnen; sowie er näher herantritt, zersetzt sich ihm das Gemeinte nach den Seiten der abstrakten Einheit und der äußerlich geeinten, numerischen Vielfalt (17.3). Johannes Scotus Eriugena, sein christlicher Bruder im Geist, übernimmt den Gedanken des prä-immanenten Einen, das einfach und zugleich alles ist, und verschärft ihn so, dass sich alles noch über das Nichtseiende und Unmögliche erstreckt, aber die Erkenntnis-Aporie des Damaskios bleibt ihm erspart, weil er die paradoxe Überschiebung auf den christlichen Gott projizieren kann, dessen Unbegreiflichkeit statt Verzweiflung staunende Bewunderung und Ehrfurcht auslöst 254

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Einheit und Vielheit

(18.2). Unterhalb Gottes ist die Vieleinigkeit für Eriugena das Leben als Selbstbehauptung des Allgemeinen im Einzelnen (dynamische Universalienlehre) und der Schlüssel zum Verständnis sozialer Kontakte im Rahmen leiblicher Kommunikation (18.3). Spinoza nimmt das neuplatonische Thema des einfachen Einen, das zugleich alles ist, nach Meister Eckhart und Nikolaus von Kues auf, entschärft aber die paradoxe Spannung, indem er sie auf das Verhältnis von Substanz und (nun »Modus« genanntem) Akzidens abschiebt. Damit verlagert er die neuplatonische Konzeption auf den aristotelisch-scholastischen Boden des von der einflussreichen pseudo-aristotelischen Schrift Kategorien 934 und danach von der Scholastik vulgarisierten original-aristotelischen Denkens. Er definiert die Substanz als das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, und den Modus als das, was in anderem ist, wodurch es begriffen wird. Diese Definitionen verbinden das unaristotelische Motiv der Inhärenz als Seinsweise der Akzidentien aus Kategorien 935 mit der Gegenüberstellung dessen, was an sich oder von sich aus ist, gegen die nach Aristoteles 936 in der Aussage immer auf eine Unterlage bezogenen (Spinoza: durch etwas anderes begriffenen) Akzidentien. Den Sinn von An-sich (kaq3 a¢t) belegt Aristoteles u. a. durch folgendes Beispiel: »Ferner ist an sich, wofür nichts anderes Grund ist; für den Menschen nämlich gibt es viele Gründe (das Tier, das Zweifüßige), aber dennoch ist der Mensch an sich Mensch.« 937 Aristoteles will mit diesem Verständnis des Ansichseins auf die Unableitbarkeit der Eigenart aus der Addition von Merkmalen (nämlich von Gattung und spezifischer Differenz im Verhältnis zur Artidee) hinweisen; von diesem Anliegen fehlt bei Spinoza jede Spur. Er macht es sich leicht, indem er den Gedanken der Überschiebung allumfassender Fülle (der Welt) mit einfacher Einheit (Gottes) in den als unproblematisch überlieferten Kanal des aus anderen Motiven konzipierten Verhältnisses von Substanz und Akzidens umleitet. Die Akzidentien treiben ihr wechselndes Spiel auf den Schultern der beharrenden Substanz; daher kann dasselbe Geschehen sowohl als deren Modifikation wie als Verkehr und Wechsel der Akzidentien unter einander aufgefasst wer934 Zur Unechtheit vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 1–26. 935 Ebd. S. 6–11. 936 Metaphysik 1007a 35. 937 Metaphysik 1022a 32–35. Tier und Zweifüßig sind zwei Merkmale, die Aristoteles hier aus der platonischen Definition des Menschen (Politikos 266e) übernimmt.

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Spinoza

den. Beide Sichtweisen treten auch bei Spinoza aus einander; in den Büchern 3 und 4 der Ethik scheint er Gott aus den Augen zu verlieren und eine Sozialanthropologie der Machtverhältnisse an die Stelle der Theologie zu setzen. Wie es dazu kommt, will ich nun verfolgen. Das 3. Buch der Ethik, das der Affektenlehre gewidmet ist, beginnt mit den beiden Definitionen: »Adäquate Ursache nenne ich die, deren Wirkung klar und deutlich durch sie erfasst werden kann. Inadäquate oder partielle aber jene, deren Wirkung durch sie allein nicht verstanden werden kann.« 938 »Ich sage, dass wir dann tun, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, d. h. (nach der vorigen Definition) wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns erfolgt, was durch diese allein klar und deutlich eingesehen werden kann.« 939 Nach den zuvor abgeleiteten Sätzen (s. o. Anmerkungen 915–917) können wir (oder unser Geist) keine adäquaten Ursachen sein, da nur Gott diese Rolle übernehmen kann, während wir damit zufrieden sein müssen, als dessen Modi seine Attribute auszudrücken. Also kann im Sinne der zweiten Definition nur Gott etwas tun, während wir höchstens Ausdrucksweisen dieses Tuns sind. Dagegen behauptet Spinoza gleich nach den Definitionen und Axiomen des 3. Buches, dass wir selbst etwas tun. 940 Damit hat er eine neue Ebene betreten, auf der sich die Ethik-Diskussion der Bücher III und IV abspielt, als ob die Gotteslehre vergessen wäre. Nun geht es um das Tun und Leiden der Individuen beim einzelnen und gemeinsamen Streben nach Macht im Dienst der Selbsterhaltung, woraus Spinoza teils virtuos, teils rabulistisch edle Grundsätze sittlicher Idealbildung hervorzaubert. Damit setzt er sich in Gegensatz zu seiner früheren Erläuterung, was es bedeute, wenn wir sagen, dass im menschlichen Geist eine Idee aus adäquaten Ideen folge: es bedeute, dass im göttlichen Verstand eine Idee ist, deren Ursache Gott ist, sofern er das Wesen des menschlichen Geistes ausmacht, nicht aber, sofern er überdies von den Ideen weiterer Einzeldinge affiziert ist (also in künstlich eingeschränkter Betrachtungsweise). 941 Hiernach tut kein Mensch etwas, sondern es ist immer nur Gott, der vom menschlichen Verstand mit wechselnden Beleuchtungen seiner Modifikationen in E III D. 1. E III D. 2. 940 E III pr. 1: »Unser Geist tut einiges, einiges aber leidet er, nämlich insofern, als er adäquate Ideen hat, tut er notwendig einiges, und insofern er inadäquate Ideen hat, leidet er notwendig einiges.«. 941 E II pr. 40, demonstratio. 938 939

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Einheit und Vielheit

zwei Attributen (Denken und Ausdehnung) so präpariert wird, dass er unter einem gewissen Aspekt als tätig erscheint, während ein Arrangement unter anderen Aspekten den Anschein erweckt, als ob er unter einem gewissen Aspekt etwas erlitte, obwohl er tatsächlich nur tut, ohne zu leiden. Spinoza springt, sobald er mit der eigentlichen Ethik und zuvor mit der Affektenlehre als ihrer Grundlage beginnt, gleichsam aus der Betrachtung sub specie aeternitatis in die Zeit menschlichen Tuns und Leidens hinab, genauer: aus einer reinen Lagezeit, die sich mit der Ewigkeit verträgt, in eine modale Lagezeit mit Fluss der Zeit. 942 Daraus ergibt sich eine Unebenheit seiner Kausalvorstellung, die den Eindruck naiver Verwechslung logischer Folge mit realer Bewirkung (vielleicht nicht ganz mit Unrecht) hervorruft. Eine Wirkung kann aus ihrer adäquaten Ursache klar und deutlich aufgefasst werden.938 Das trifft für logische Folge, nicht aber für reale Verursachung zu. Wenn man aber alle Wirksamkeit Gott zuschreibt, entfällt dieser Unterschied, da Gott alles weiß und alles, was er weiß, auch machen muss, so dass in der Tat alles widerspruchsfrei Denkbare mit einsichtiger Notwendigkeit ebenso logisch wie real aus seinem Wesen folgt (s. o. Anmerkungen 924–927). Beide Typen, logische und real-kausale Folge, trennen sich erst, wenn sich auch bloße Modi Gottes wie der Geist eines einzelnen Menschen gegen die Prinzipien Spinozas erkühnen, etwas zu tun. Spinoza ist also nicht so sehr vorzuwerfen, dass er logische und reale Folge verwechselt, sondern eher, dass er auch endliche Wesen als Täter einführt, um eine Ethik auf die Beine stellen zu können, und dafür einen Kausalbegriff missbraucht, der eigentlich nur auf Gott zugeschnitten war.

942 Eine Lagezeit ist eine Anordnung von Ereignissen (Dinge und Zustände je nach Wunsch eingeschlossen) durch die Relation des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. Sie kann modal und rein sein. Sie ist modal, wenn sie obendrein eine Einteilung der Ereignisse in vergangene (die nicht mehr sind) gegenwärtige (die sind) und zukünftige (die noch nicht sind) enthält, sonst rein. Ein Fluss der Zeit (d. h. einer modalen Lagezeit) ist ein Prozess, in dem beständig (nicht bloß gelegentlich und ruckweise) die Gesamtvergangenheit (die Masse alles Vergangenen) wächst, die Gesamtzukunft (in entsprechendem Sinn) schrumpft und die Gesamtgegenwart (in entsprechendem Sinn) wechselt, indem sie sich gleichsam in die Zukunft hineinfrisst. Für Näheres vgl. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 76–89. Bei Mc Taggart (Mind 17, 1908, S. 457–474: The Unreality of Time) ist die A-Reihe eine modale Lagezeit mit Fluss der Zeit, die B-Reihe eine reine Lagezeit. Von Modalzeit spricht Spinoza achtlos z. B. E III 18 schol. 1 und E IV D. 6; den Fluss der Zeit thematisiert er nicht.

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32. Leibniz

32.1 Was wollte Leibniz?

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Die Frage, bezogen auf Leibniz 943 als Philosophen, ist leicht und klar mit den unter 27.1 eingeführten Begriffen zu beantworten: Sein Hauptstreben geht dahin, aus dem permutatorischen Singularismus den ordinatorischen herzuleiten, also gewissermaßen mit den Waffen Wilhelms von Ockham den Sieg für Thomas von Aquino zu erringen. Als Singularist, nach dessen Überzeugung alles ohne weiteres einzeln ist, bekennt sich Leibniz schon in seiner frühesten Schrift, der Baccalaureats-Dissertation von 1663 De principio individui, mit Ablehnung eines besonderen Individuationsprinzips als überflüssig, durch das simple Argument der Konvertierbarkeit des Seienden und des Einen (24.1) 944 wie Wilhelm,196 dem er sich im Gefolge der Nominalisten anschließt. 945 Mit Wilhelm kappt Leibniz die Zusammenhänge, indem er ähnlich wie jener454 die Relationen zu bloßen Gedankendingen herabsetzt, 946 wobei er Wilhelms Fehler457 wiederholt, die 943 Ich zitiere Leibniz außer nach der noch unvollständigen Akademieausgabe (Ak.) nach folgenden Teilausgaben: Die philosophischen Schriften hg. v. C. J. Gerhardt, 7 Bände Berlin 1875–1890, Nachdruck Hildesheim 1917 (PG); Textes inédits d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, publiés et annotés par Gaston Grua, 2 Bände Paris 1948 (Grua I, II); Opuscules et Fragments inédits de Leibniz, par Louis Couturat, Paris 1903 (Cout.). Aus der Akademieausgabe ziehe ich heran: 2. Reihe: Philosophischer Briefwechsel Band I: 1663–1685, Darmstadt 1926 (Br.); 6. Reihe: Philosophische Schriften (PS.) Band III: 1672–1676, Berlin 1980; Band IV: 1677–Juni 1690, Berlin 1999, in drei Teilbänden A, B und C. 944 PG IV 18: Per hoc quid est, per id idem numero est. 945 PG IV157 f. (Marii Nizolii (…) Libri IV, dissertatio praeliminaris); Ak. PS. IV A 999, 6–9 (De realitate accidentium, 1688?). In den Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1705), Buch III: Kapitel 3 § 11, vertritt Leibniz bezüglich der Universalien die unhaltbare (24.3) Ähnlichkeitstheorie (s. Anm. 130). 946 PG II 517 (an des Bosses, 29. 05. 1716), V S. 132 und 210 (Nouveaux Essais, Buch II Kp. 12 § 3 und Kp. 25 § 1), VI 516 (an Sophie Charlotte von Preußen), Ak. PS. III 495 (De motu et materia, 1676).

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Was wollte Leibniz?

Behauptung einer zweistelligen Relation als Behauptung über die Beziehungsglieder statt über deren Paar hinzustellen. 947 Wie für Wilhelm besteht für ihn die reale Grundlage der Beziehungen nur in Modifikationen der Einzeldinge, die vom Geist so in Beziehung gesetzt werden. 948 Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme), die Einzelheit erst ermöglichen und gar nicht sämtlich einzeln sein können (21.1), werden von Leibniz in einzelne, nicht übertragbare Qualitäten einzelner Sachen umgedeutet; das zeigt am Beispiel eines Programms der Eigentumsübertragung ein gelegentlicher Kommentar zum römischen Recht: Indem die Römer einen verkauften Anspruch erst wirksam werden lassen, wenn der Käufer eine zusätzliche Bedingung erfüllt hat, scheinen sie sich dem Grundsatz der strengen Philosophie anzuschließen: Qualitäten können nicht von einem Subjekt auf ein anderes übergehen, sondern nur eine neue Bewegung im angestoßenen Körper wecken. Entsprechend kann ich – meint Leibniz – nach Ansicht der Römer kein Recht auf einen anderen übertragen, sondern nur diesem Gelegenheit geben, ein neues Recht auf Exekution des früheren Rechtes zu erwerben. 949 Über den Singularismus Wilhelms geht Leibniz hinaus, indem er dessen permutatorischen Zug (27.1) zur Ausschöpfung aller möglichen Kombinationen einzelner Sachen ausbaut. Mit diesem Projekt kommt er auf das Individuationsthema zurück: »Es kann so viele einzelne Substanzen geben wie verschiedene Kombinationen sämtlicher verträglicher Attribute. Damit klärt sich das Individuationsprinzip, worüber sich die Scholastiker so erregt gestritten haben.« 950 »Daraus folgt, dass die Einzeldinge niederste Arten sind und keine zwei Einzeldinge in jeder Beziehung ähnlich sein können.« 951 In der Tat, wenn jedes Einzelding genau eine Kombination aus der Liste aller möglichen Attribute verkörpert, kann es keine zwei gleichen geben, gemäß der von Leibniz stets hochgehaltenen identitas indiscernibiliGrua I 323 (Notationes Generales, 1683–1686?). PG II 486 (an des Bosses, 21. 04. 1714). 949 Grua II 814 f. (Jus patrimoniale) – Ich bin mir nicht darüber klar, welche römische Rechtsübung Leibniz im Auge hat; ein genau entsprechendes Institut ist aber im englischen Recht die consideration: Ein nicht rechtsförmiges Versprechen begründet keine Verpflichtung, wenn keine nicht geschuldete Gegenleistung des Begünstigten als Reaktion dem Versprechenden zugute gekommen ist (W. M. Geldart, A. Werth Regendanz: Grundzüge des englischen Rechts, Berlin 1929, S. 132 f.). 950 Ak. PS. IV A S. 306, 21–23 (1679?). 951 Ebd. 553, 17–20. 947 948

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Leibniz

um. Denselben Grundsatz setzt Leibniz zur Widerlegung des Solipsismus ein: Da so viele Substanzen möglich sind, ist nicht glaublich, dass nur ich wirklich wäre; vielmehr müssen viele Geister sein, da es viele mögliche, nicht unverträgliche Weltansichten gibt. 952 Alle diese Ansichten treten gleichmäßig in die Kombination ein, sogar im Fall extremer Steigerung zu Gottes Allwissenheit: Gott, der einen ähnlichen Verstand wie wir hat, nur vielseitiger, erkennt die Dinge wie wir, aber auf unendlich viele Weisen, von denen wir nur eine innehaben, wie wenn jemand eine Stadt nur von einer Seite, ein anderer sie von jeder Seite und daher vollständig sieht. 953 Allwissenheit wird verstanden als Kombination aller möglichen Standpunkte. Die Ausschöpfung des Möglichen erhebt Leibniz zum Prinzip: Weil nicht alle Dinge existieren können, existieren so viele wie möglich. 954 Daher gibt es kein vermeidbares Vakuum; wenn so viel wie möglich existiert, muss alles voll und ins Unendliche teilbar sein. 955 Sonst gäbe es ein Vakuum auch in der Weisheit, aber Gott lässt nichts ungepflegt. 956 Was nämlich dem Weisen missfällt, muss auch Gott missfallen, da es vernünftig scheint, dass der Weise zufrieden ist. 957 Dass die Natur keine Sprünge macht – weder der Zeit noch dem Ort nach – beweist Leibniz aus dem Grundsatz der Ordnung, dass der Verstand umso mehr befriedigt ist, je mehr die Dinge aus einander genommen werden,957 wodurch sich ja größere Chancen für Kombination einzelner Elemente ergeben. Die Ordnung fordert auch, dass alle Abläufe in der Natur nach dem Vorbild konvergierender arithmetischer Reihen oder algebraischer Gleichungen für Kurven, wo sich aus dem Anfangsstück der weitere Verlauf berechnen lässt, geregelt sind; sonst wäre sie abgeschmackt und des Weisen unwürdig. 958 Gott hat so viel Ordnung und Vielfalt, wie bis jetzt möglich ist, eingeführt, so dass nichts unbestimmt geblieben ist; Unbestimmtheit aber ist das Wesen der Kontinuität. 959 Demgemäß gibt es in der Natur nichts, was nicht artistisch durchgearbeitet wäre, so wie es der Weisheit GotAk. PS. IV B S. 1396, 17–25 und 1467, 12–15. Grua I 266 (De mente, Oktober 1676) Das Stadtgleichnis kommt in der späten Monadologie, § 57, wieder. 954 Ak. PS. IV B 1364, 2 f. 955 Grua I 394, 398, 399 (Diskussion mit Gabriel Wagner, März 1698). 956 Grua II 559 (Nos esse substantias, nach November 1704). 957 PG II 168 (an de Volder, 24. 03.–03. 04. 1699). 958 PG II 258 (an de Volder, 10. 11. 1703). 959 PG VII 562 f. (an die Kurfürstin Sophie). 952 953

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Was wollte Leibniz?

tes entspricht. 960 Weil sich aber die Individualität in dieser Vielfalt bloß aus der verschiedenen Auswahl aus einer für alle Individuen gleichen unendlichen Liste möglicher Attribute ergibt950 und also nirgends unreduzierbar eigentümlich ist, durchherrscht alle Vielfalt Gleichförmigkeit; Leibniz wird nicht müde, als seinen Lieblingsspruch die Worte des Harlekins aus dem Kaiser des Mondes (einer Opera buffa?) anzuführen: »Es ist alles wie hier.« 961 Durch die von Leibniz geforderte Auflösung alles Mannigfaltigen in kombinierbare Elemente wird das Unbestimmte (Indefinite), das Descartes für die Teilbarkeit der Materie zugelassen hatte, ausgeschlossen; »alles hat entweder keine Grenzen oder bestimmte.« 962 Das Kontinuum genügt dieser Forderung allerdings nicht, weil es keine bestimmten Schnitte vorzeichnet; Leibniz verweist es daher unter die idealen (bloß vorgestellten) und möglichen Wesen und verdeutlicht deren Gegensatz zu den wirklichen am Doppelgesicht der 1, die als Summand natürlicher Zahlen unteilbar ist, im Verhältnis zu den sogenannten Brüchen (d. h. Elementen rationaler Zahlen nach heutigem mathematischem Verständnis) aber beliebig brechbar. 963 Mit diesem Vorbehalt für das Fiktive, bloß Vorgestellte beharrt Leibniz auf dem (höchst einseitigen, vgl. die Überleitung) Leitbild der numerischen Vielheit aus numerischen, einzelnen, Einheiten. 964 Damit allein ist noch nicht entschieden, ob solche Einheiten wiederum zusammengesetzt oder gänzlich einfache Urelemente sind. Für diese als Grundlagen alles Wirklichen plädiert Leibniz mit großem Nachdruck. 965 Trotz seiner Ablehnung der Atomtheorie 966 scheut er nicht davor zurück, hinter dem Rücken des Atomisten Gassendi mit der Frage in Deckung zu gehen: »Warum sollte es Herrn Gassendi eher erlaubt sein, auf Biegen und Brechen unverderbliche materielle AtoAk. PS. IV B 1364, 2 f. PG III 343, 344, 345, 346, 348 (an Königin Sophie Charlotte), V 65, 454, 473 (Nouveaux Essais sur l’entendement humain), VI 546, 548 (Considerations sur les Principes de Vie mit Beilage), VII 394 (5. Schreiben gegen Clarke, § 24). 962 PG IV 328 (Schreiben gegen eine Schrift von Schweling). 963 PG II 77 (an Arnauld, 28. 11.–08. 12. 1686), 282 (an de Volder, 19. 01. 1706), 336 (an des Bosses, 21. 07. 1707), III 622 f. (an Remond, Juli 1714, Beilage), VII 562 (an die Kurfürstin Sophie, 30. 11. 1701). 964 PG VII 540 (an die Kurfürstin Sophie, September 1696). 965 PG II 282 (an de Volder, 19. 01. 1706), IV 474 (Système nouveau, 1. Entwurf), VI 516 (an Sophie Charlotte), VI 607 (Monadologie § 2), VII 552 (an die Kurfürstin Sophie, 12. 06. 1700). 966 PG III 362 (an Lady Masham, September 1704). 960 961

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Leibniz

me zu behaupten, als mir Substanz-Atome, d. h. einfache Substanzen, die sich immer erhalten?« 967 Als Modell dient ihm das auch nach Descartes837 unteilbare Ich,838 so oder »die Seele« genannt. 968 Das Auflösungsbedürfnis des unersättlichen Singularisten Leibniz fordert substantielle Atome und findet sich mit ihnen doch nicht ab, da es sich an der Undurchdringlichkeit dieser noch so immateriellen Urelemente stößt. Die als solche Urelemente gemeinten Substanzen oder Monaden verflüssigen sich daher unter den Geisteshänden von Leibniz zu geregelten Tendenzen der Darstellung (Repräsentation) und des geordneten Hervorgehens von Phänomenen; 969 nichts an ihnen ist beharrlich als das Gesetz der Sukzession, 970 und es wäre ein bloßer Streit um Worte, wenn man sich dabei aufhalten wollte, ob dieselbe Substanz oder eine andere vorliegt, solange das Gesetz des zusammenhängenden Übergangs sich nicht ändert. 971 Der Verflüssigung der Einzelsubstanz entspricht die ad infinitum iterierte Einschachtelung, die der Blick vom Ganzen her vorfindet. Mit Gottes Vollkommenheit stritte ein Loch der Formung, wenn es Atome gäbe statt einer der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums angepassten Einschachtelung von Welten und Kreaturen in jeder noch so kleinen Materiepartikel. 972 Sehr anschaulich malt Leibniz diese Vision in §§ 67–68 der Monadologie aus: In jedem Stückchen Materie steckt ein Garten voller Pflanzen und ein Teich voller Fische, und obwohl die Luft in diesem Garten keine Pflanze, das Wasser im Teich kein Fisch ist, enthalten sie abermals Pflanzen und Fische usw. Die Verflüssigung der Urelemente durch fortgesetzte Einschachtelung demonstriert Leibniz an Organismen, die ihm wegen ihrer Seele als die wahren substantiellen Einheiten unter den scheinbaren der Körper gelten: 973 Sie sind natürliche Maschinen, die sich von den künstlichen durch unendlichfach fortgesetzte Einschachtelung solcher Maschinen in Maschinen unterscheiden; daher kann man kein Lebewesen zerstören oder neu entstehen lassen, 974 denn bei scheinbarer Grua II 488 f. (Sur Isaak Jaquelot, 1704). PG IV 73 (Système nouveau, 1. Entwurf), VII 540 (an die Kurfürstin Sophie, September 1696). 969 PG III 58 (an Bayle, ohne Datum); II 481 (an des Bosses, 23. 08. 1713). 970 PG II 263 (an de Volder, 21. 01. 1704). 971 PG II 264 (dgl.). 972 Ak. PS. IV B 1510, 18–23. 973 PG II 77 (an Arnauld, 28. 11.–08. 12. 1686). 974 PG VI 543 f. (Considerations sur les Principes de Vie). 967 968

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Was wollte Leibniz?

Zerstörung involviert es (es zieht sich in eine Einschachtelung n-ten Grades zurück), und bei vermeintlicher Erzeugung evolviert es aus der Präformation in einer solchen Einschachtelung. Diese Unendlichkeit der Zerlegung hat ein Gegenstück in der Erkenntnistheorie von Leibniz, wonach sich notwendige (z. B. mathematische) und kontingente Wahrheiten dadurch unterscheiden, dass die Analyse durch Definitionsketten bei jenen nach endlich vielen Schritten zu analytischen Sätzen (mit bloßer Wiederholung von Merkmalen des Subjekts im Prädikat) führt, bei diesen aber unendlich lang ist, ehe das Ziel erreicht wird; 975 sie entsprechen damit den natürlichen Maschinen. Die Sache hat aber einen Haken: Der Abstieg von einer noch so großen natürlichen Zahl oder auch transfiniten Kardinalzahl landet nämlich mit mathematischer Notwendigkeit nach endlich vielen Schritten bei der Null; um ein mathematisches Modell unendlicher Analyse zu gewinnen, muss man an die sogenannten abgründigen (gewöhnlich durch das Fundierungsaxiom der Mengenlehre ausgeschlossen) Mengen denken, die von unendlichen Ketten des AlsElement-enthaltens durchzogen werden, und zwar an azyklische, bei denen sich kein Glied wiederholt. Mit solchen abgründigen Mengen haben die Einschachtelungen von Leibniz große Ähnlichkeit; sie sind eher Mengen als Ganze, weil keine beliebige Einteilung in Frage kommt, sondern immer schon feststeht, was vorangeht oder folgt. Der kombinatorische Singularist Leibniz mischt also zwei Typen der Zusammensetzung und Zerlegung: den cartesischen, der mit endlich vielen Schritten über einfachen Urelementen auskommt (30.4), und einen infinitistischen, der an die Stelle einfacher Elemente Gesetze der gegenseitigen Abgestimmtheit von Reihen oder Verläufen setzt; er spricht in diesem Sinn von Repräsentation oder Ausdruck und meint damit, was der Mathematiker heute als isomorphe Abbildung bezeichnet, z. B. so: »In der Seele sind die Repräsentationen der Ursachen die Ursachen der Repräsentationen der Effekte.« 976 Die gründlichste Definition des Ausdrückens lautet so: Ausdruck (exprimere) ist eine Analogie von Verhältnissen (auch ohne Ähnlichkeit), wobei das ausdrückende Verhältnis Gelegenheit zur Erkenntnis der Eigenschaften der auszudrückenden Sache gibt; als Beispiele nennt Leibniz den Funktionsplan (modulus) einer Maschine, die Flächen-

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Grua I 303 f. (De contingentia, 1686). PG IV 533 (Extrait du Dictionnaire de M. Bayle (…) avec mes remarques).

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Leibniz

projektion eines Körpers, Ziffern für Zahlen, Gleichungen für Kurven. 977 Jede Substanz drückt in diesem Sinne das Universum gemäß ihrer eigentümlichen Ansicht in der Weise aus, wie sich die übrigen Dinge auf sie beziehen. Endliche Substanzen sind weiter nichts als verschiedene Ausdrücke desselben Universums. 978 Durch dieses Ausdrucksprinzip wird das Universum, mit einem Begriff der modernen Mathematik, zum Funktionenraum, in dem die Gesetze auf einander abgestimmter Verläufe an die Stelle einfacher Substanzen treten. Genau besehen könnte Leibniz mit diesem infinitistischen Ansatz sein Monadensystem überflüssig machen; daran denkt er zwar nicht, aber er skizziert wenigstens eine Anwendung dieser Idee des Funktionenraumes auf die Körperwelt, wobei nichts von einfachen Substanzen vorkommt: Es gibt keine präzisen und beharrlichen Figuren, weil jeder Teil des Universums mit jedem anderen sympathisiert und daher seine Bewegung nach so vielen verschiedenen Einflüssen richtet, dass nie eine homogene Bewegung einer kontinuierlichen Größe zustande kommt; ohne jede Bewegung, im bloßen dauerlosen Moment, fällt alles in ein Chaos zusammen, weil erst die Bewegung oder Anstrengung für Essenz und Differenz der Körper verantwortlich ist. 979 Die sympathetische Abstimmung von allem auf alles bringt sozusagen ein Zittern, das nichts Glattes aufkommen lässt, in Formen und Bewegungen, aber die Dynamik der Anstrengung und Bewegung beugt dem Chaos vor, weil das ordnende Verlaufsgesetz ihr das Maß gibt und die irritierenden Einwirkungen im Spiegel einer Individualität auffängt. Diese Konzeption ist mit der physikalischen Atomistik ebenso unverträglich wie mit der Theorie der einfachen Substanzen: Es kann keine Atome geben, weil sie zu grob und plump für eine hinlänglich feine Abstufung der Modifikationen wären, die dazu gehören würden, dass sich die Spuren aller vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Ereignisse in jeder körperlichen Substanz abzeichnen. 980

977 978 979 980

Ak. PS. IV B 1370, 18–26 (Quid sit idea, 1677?). Ebd. 1618, 16 f. 24–26 (Specimen inventorum de admirandis (…) arcanis). Ebd. 1613 f. (Dans les corps il n’y a point de figure parfaite, April bis Oktober 1686?). Cout. 522.

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Der Darwinismus der Mglichkeiten

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32.2 Der Darwinismus der Mglichkeiten Leibniz will dem permutatorischen Singularismus einen ordinatorischen abgewinnen, d. h. aus der Freigabe aller Möglichkeiten und Kombinationen eine bestimmbare Ordnung des Wirklichen herleiten (32.1). Seine Strategie zu diesem Zweck ist der Darwinismus der Möglichkeiten, d. h. die Inszenierung eines Kampfes der Möglichkeiten ums Dasein mit der Folge einer Auslese, durch die sich ein geordnetes Ganzes mit gewissen erwünschten Extremeigenschaften als die wirkliche Welt durchsetzt. Zu diesem Zweck stattet er alles Mögliche mit einem Drang (conatus) zur Wirklichkeit aus 981 und definiert die Essenz, das Was der Dinge, geradezu als Forderung (exigentia) der Existenz, die sich einstellt, wenn nichts Vollkommeneres hindert. 982 »Die Natur der Möglichkeit oder Essenz besteht darin, die Existenz zu fordern. Sonst könnte kein Grund für die Existenz der Dinge angegeben werden.« Es würde nichts existieren. Als ein weiteres Argument, das ihn veranlasst, die Existenz selbst geradezu als diese in der Essenz gelegene Forderung (lies: im Erfolgsfall) zu bestimmen, gibt Leibniz an, dass man sonst nach einer besonderen Essenz der Existenz suchen müsse, von der wiederum fraglich wäre, ob sie existiert. 983 Ein anderer Definitionsversuch lautet: Etwas existiert, wenn es mit mehr Sachen verträglich ist als etwas mit ihm Unverträgliches. 984 Vollkommenheit ist das Positive oder Absolute in den Essenzen, die Realität; 985 sie hat Grade, 986 und es gilt die allgemeine Regel: Immer geschieht das, was vollkommener ist (mehr Realität einschließt). 987 Zur Rechtfertigung beruft sich Leibniz darauf, dass jedes andere Auswahlprinzip ohne zureichenden Grund wäre. 988 Die Möglichkeiten bilden Koalitionen kompossibler Möglichkeiten, unter denen ein Kampf (conflictus) ums Dasein besteht, in dem sich die stärkste (perfekteste) durchsetzt, so dass die größtmögliche Serie des Cout. 533–535; PG VII 194, 289; Ak. PS. IV A 557. Grua I 288 = Ak. PS. IV B 1446. 983 PG VII 195 = Ak. PS. IV B 1442 f. 984 Cout. 360. Für die Aussichtslosigkeit aller solcher Versuche, eine notwendige und zureichende Bedingung der Existenz von etwas zirkelfrei anzugeben, vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 49–52 (ebenso: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 21–24). 985 Grua I 324. 986 Ak. PS. IV B 1429, 15. 987 Ebd. 1428, 6 f. 988 PG VII 194 f., 289; Ak. PS. III 581 f., IV B 1634 f. 981 982

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Leibniz

Möglichen existiert, die vollkommenste mit dem größten Quantum Realität; »in diesem Kampf macht die bloße Notwendigkeit die beste Wahl möglich.« 989 Aus dem allgemeinen Prinzip der Durchsetzungsstärke in Koalitionen geballter kompossibler Realität beim Kampf ums Dasein gewinnt Leibniz ziemlich genaue Aufschlüsse über die Beschaffenheit der wirklichen Welt. Sie ist die einfachste, weil die Verträglichkeit (Kompossibilität) beim Kampf ums Dasein ein Selektionsvorteil ist, so dass die wechselseitige Behinderung in der siegreichen Koalition minimiert ist.989 Von mehreren Möglichkeiten existiert die, die mehr Essenz hat bei möglichst geringem Aufwand an Zeit, Platz und Materie und also dank sparsamen Verbrauches dieser Ressourcen möglichst wenig anderes behindert. 990 Die schnellere Bewegung, die hinsichtlich der Zeit diesem Anspruch genügt, hat demgemäß mehr Realität und Vollkommenheit. 991 An Malebranche schreibt Leibniz am 22. Juni 1679: »Gott macht so viele Sachen, wie er kann, und das verpflichtet ihn, einfache Gesetze zu suchen, damit er Platz findet für so viele Sachen, wie zusammen unterzubringen möglich ist.« 992 In der wirklichen Welt herrscht demnach das Gesetz der dichten Packung: Etwas ist umso vollkommener, je mehr es ein gegebenes Volumen ausfüllt. Vollkommen ist eine Raumerfüllung, die möglichst viel auf möglichst wenig Raum unterbringt. 993 Das begünstigt die runden Formen, besonders Kugeln und Tropfen, die viel Masse in wenig Raum stauen; 994 benachteiligt sind dagegen eckige und faltige Gegenstände, die im Verhältnis zu ihrer Kraft übermäßig viel Volumen haben. 995 Erste Nutznießer dieses Prinzips aber sind die Geister; auf sie wird am meisten Rücksicht genommen, weil durch sie auf kleinstem Raum die größte Vielfalt erreicht wird. 996 Die vollkom989 Cout. 533–535; Grua I 286 (Die gleich folgende Wiederholung der Ziffer bezieht sich auf diesen Beleg.). 990 Ak. PS. IV B 1695, 6–15. 991 PG II 185 (an de Volder, 23. 06. 1699, Beilage). Wahrscheinlich denkt Leibniz wie Suarez, der Schnelligkeit für eine Art Zusammendrückung und Verdichtung der Teile der Bewegung hält (Disputationes metaphysicae d. 50s.9 a. 8, Opera omnia Paris 1861, Band 26 S. 953, vgl. d. 40s.9 a. 10, S. 586); dann folgt für ihn auch bei der Bewegung die größere Realität aus der dichteren Packung. 992 PG I 331. 993 Ak. PS. IV B 1359, 2–14. 994 Ak. PS. IV C 2232, 21–2233, 2. 995 PG VII 310 Anm. 996 Cout. 533–535.

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Der Darwinismus der Mglichkeiten

mensten Wesen sind die, welche das Meiste in sich schließen und dabei den übrigen Wesen Platz lassen; sie verdienen den Vorzug vor den unvollkommeneren, die anderen Wesen Platz und Zeit wegnehmen, 997 im Gegensatz zur Unsterblichkeit der Geister, die Leibniz mit seiner Methode prompt beweisen zu können glaubt, weil durch solche Unsterblichkeit niemand beeinträchtigt werde. 998 Dem Anspruch an große Vollkommenheit, das Meiste in sich zu schließen, werden die Geister dadurch gerecht, dass ihre Gedanken eine Repräsentation der ganzen Welt und entsprechend große Realität enthalten. 999 Ein Gedanke ist umso vollkommener, je mehr Gegenstände er umfasst mit der Harmonie der Relationen, die die Vollkommenheit der Gedanken ist. 1000 Aber sogar den Tieren kommt der Zug weg von der Sperrigkeit der einander verdrängenden Körper in der vollkommensten, der wirklichen, Welt zugute: Weil die Seelen sich nicht behindern und bei den Tieren alles Zubehör für Seelen bereitliegt, haben sie in der Tat Seelen. 1001 Der Darwinismus der Möglichkeiten kommt als Ursache der Weltentstehung für Leibniz nicht ohne Gott als den Welturheber gemäß jüdisch-christlicher Tradition aus, doch ist das Verhältnis beider Quellen in seinen Entwürfen facettenreich und ambivalent. Einmal führt Leibniz den Darwinismus wie einen Automatismus ohne jede Rücksicht auf Gott vor, indem er das Prinzip »Alles Mögliche verlangt zu existieren« als die absolut erste Tatsachenwahrheit ausgibt, aus der alle Erfahrungen a priori demonstriert werden könnten. 1002 Ein anderes Mal distanziert er sich nachträglich von der Einmischung Gottes: Zuerst schreibt er: »Vollkommenheit oder Essenz ist Forderung der Existenz, aus der durch sich die Existenz folgt, aber nicht notwendig, vielmehr aus der Voraussetzung des schaffenden Gottes oder für den Fall, dass nichts vollkommeneres anderes hindert«; dann streicht er in diesem Satz die Worte »aus der Voraussetzung des schaffenden Gottes oder«. 1003 Gelegentlich stellt er Gottes Vollkommenheit und den Darwinismus der Möglichkeiten als zwei haltbare Erklärungen für die optimale Vollkommenheit der wirkAk. PS. III 472. Ebd. 581 f. 999 Ak. PS. IV B 1359, 22–1360, 1. 1000 Ebd. 1360, 1–9. 1001 PG VII 316. 1002 PG VII 194 f. 1003 Grua I 288. 997 998

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Leibniz

lichen Welt ohne Option neben einander. 1004 Ein triftiger Grund, Gott für den Darwinismus der Möglichkeiten heranzuziehen, besteht darin, dass die Möglichkeiten von sich aus bloße Ficta wären, denen man ohne untergelegte Wirklichkeit kein wirksames Streben zutrauen könnte; daher bedürfen sie einer Aufnahme in Gott als Ideen im göttlichen Verstand, und nun erst, aber ohne Beteiligung des göttlichen Willens, wirkt der darwinistische Automatismus. 1005 In dieser Sicht ist Gott bloße Drehscheibe des Übergangs vom Möglichen zum bestmöglich Wirklichen. An diese Darstellung des Verhältnisses knüpft Leibniz einmal, nachdem er den Existenzdrang des Möglichen als einzigen Grund der Auslese festgestellt hat, unvermittelt die theologisch korrekte These an, dass Gott frei auswählt, was in der Konkurrenz die größere Vollkommenheit besitzt. 1006 Eine Mittelstellung mit Minimalbeteiligung des göttlichen Willens erreicht Leibniz, indem er Gott durch den abstrakten Entschluss, dass das Vollkommenste unter allem Möglichen wirklich werden soll, gleichsam den Startschuss zum Kampf der Koalitionen kompossibler Möglichkeiten um das Dasein geben lässt, wo bloß noch deren Eigengewicht wie auf der Waage entscheidet. 1007 Unbestimmt bleibt der Anteil beider Faktoren am Erfolg in folgender Äußerung: »Gott wirkt nach Art eines höchsten Geometers, der den besten Problemlösungen den Vorzug gibt. Daher haben alle Seienden, so wie sie im ersten Seienden enthalten sind, außer der nackten Möglichkeit eine gewisse Neigung zum Existieren im Verhältnis ihrer Güte, und sie existieren, indem Gott es will, sofern sie nicht mit vollkommeneren unverträglich sind (…).« 1008 Aus dieser noch etwas schwebenden Stellungnahme entwickelt sich in den späten Zusammenfassungen des Systems die Lösung, dass Gott sich bei der Auswahl der besten Welt unter den möglichen nach den Ansprüchen richtet, die ihm die in seinem Verstand virulenten möglichen Welten je nach Maß ihrer Vollkommenheit stellen, 1009 und dadurch der Schicklichkeit (convenance) Genüge tut. 1010 Grua I 16 f.; Ak. PS. IV B 1362, 20–1363, 20. PG VII 303–305 (De rerum originatione radicali, S. 302–308); Cout. 533–535; PG VII 289. 1006 Ak. PS. IV B 1634 f. 1007 Ak. PS. IV A 557, 6–16 = Grua I 324. 1008 PG VII 310 Anm. (Specimen inventorum de (…) naturae (…) arcanis). 1009 PG VI 603 (Principes de la nature et de la grace § 10). 1010 PG VI 616 (Monadologie § 54). 1004 1005

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Gott

Eines der bekanntesten Lehrstücke im philosophischen System von Leibniz ist die prästabilierte Harmonie, womit er die gegenseitige Abgestimmtheit von Körper und Seele ohne Wechselwirkung erklären will. Da er sich, wenn er den Topos einführt, immer auf eine von Gott getroffene Einrichtung bezieht, fällt dessen Zusammenhang mit dem Darwinismus der Möglichkeiten nicht auf; tatsächlich ist diese Harmonie eine Anwendung oder Spezialisierung des Zusammenpassens mit geringstmöglicher Behinderung, worauf der Selektionsvorteil beim Kampf der Möglichkeiten ums Dasein beruht. Insbesondere die Geister stören nicht997 und eignen sich daher vorzüglich zu einem prästabilierten Zusammenpassen, wobei jeder harmonisch mit den anderen, aber ohne Dazwischenkunft, seine Rolle spielt. Leibniz verwendet dafür das Konzertgleichnis der ohne akustischen Kontakt gemäß einer übereinstimmenden Partitur spielenden Orchester oder Chöre, die in schönster Klangharmonie für den, der sie zusammen hört, vereint sind 1011 ; es ist merkwürdig, dass dasselbe Gleichnis für die Welteinrichtung acht Jahrhunderte früher von Johannes Scotus Eriugena verwendet wird. 1012

32.3 Gott

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32.3.1 Das vollkommene Wesen Leibniz, der dem Irrglauben anhängt, dass es für alles einen vernünftigen Grund geben müsse, stellt deswegen folgende Frage als die erste und grundsätzliche: »Warum ist eher etwas als nichts?« 1013 Die einzige Aussicht auf eine befriedigende Antwort bietet der ontologische Gottesbeweis, der so geht: Ein ganz vollkommenes Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, existiert notwendig, weil ihm sonst eine besonders wichtige Vollkommenheit fehlen würde; Gott ist ein solches Wesen, das es nur einmal geben kann, weil sonst dem einen die Vollkommenheit des oder der anderen fehlen würde; also existiert Gott. Die bloße Besinnung auf das, was mit PG II 95 (an Arnauld, 30. 04. 1687). Periphyseon ed. Jeauneau Buch III Zeilen 782–794, S. 23 (Corpus Christianorum continuatio medievalis CLXIII, Turnholt 1999). 1013 PG VII 602 (Principes de la nature et de la grace § 7), vgl. PG VII 289: »Ratio est in natura, cur aliquid potius existat quam nihil.«. 1011 1012

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dem Namen Gottes gemeint ist, sichert demnach Gottes Existenz; nach einem weiteren Grund braucht man nicht mehr zu fragen, sondern weiß nunmehr, warum eher etwas ist als nichts. Wer sich dieses Zauberkunststück ausgedacht (Anselm) und später (wie Descartes) daran geglaubt hat, hat nicht bedacht, dass Vollkommenheit in sich relativ ist, in dem Sinn, dass etwas nur einerseits vollkommen sein kann im Verhältnis zu andererseits vorhandenen eigenen Mängeln oder Unvollkommenheiten. Wenn diese weggeschafft werden, verschwindet mangels innerer Unterschiede jede Bestimmtheit einschließlich der Bestimmtheit als vollkommen, und es bleibt die Leere des »subsistierenden Seins, das auf jede Weise unbestimmt ist«,256 der Nacht, in der alle Kühe schwarz sind.260 Der Begriff des ganz vollkommenen Wesens ist also in sich widerspruchsvoll. Verkehrt ist auch die Leiter, die im ontologischen Gottesbeweis zu diesem Wesen hin gebaut wird, indem man, ausgehend von einer begrenzten Vollkommenheit, sich vorstellt, dass immer mehr Vollkommenheiten hinzugefügt werden, bis alle vorhanden sind bis auf vielleicht noch eine, die Existenz, die triumphierend als Schlussstein des Beweisgebäudes auch noch angefügt wird. Die fehlerhafte Voraussetzung dieses additiven Verfahrens ist die Vorstellung, dass nahezu alle Sachen aus einem Anteil von Fülle (Realität, Vollkommenheit, Habitus, Positivität) und einem Anteil von Mangel (Privation) zusammengesetzt seien und der zweite Anteil sukzessiv vermindert werden könne, bis man bei einem Maximum endet, das ganz ohne Mangel ist und dann vermeintlich auch existieren muss – was allerdings wiederum ein Fehlschluss ist. 1014 Bei dieser gegenstandstheoExistenz ist wie jedes andere Existenz-Inductivum, z. B. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwar ein Kategorumenon, das richtig von etwas ausgesagt werden kann, aber kein Attribut, das für dessen Identität von Bedeutung wäre. Der leibhaftige Caesar, der an den Iden des März 44 v. Chr. wirklich existieren musste, um ermordet werden zu können, ist identisch mit dem Caesar, der nicht mehr ist, an den wir uns aber aus geschichtlicher Überlieferung noch erinnern können. Ebenso ist ein Gott, der existiert, identisch mit dem Selben, der sich von ihm bloß dadurch unterscheidet, dass es ihn nicht gibt. Daraus darf man aber nicht schließen, dass er existiere und nicht existiere, so wenig wie im Fall Caesars (der natürlich nicht dadurch bereinigt werden kann, dass man dessen Sein und Nichtsein auf verschiedene Daten verteilt, denn auch das damalige Datum ist nicht mehr, und dennoch ist es ein wirkliches Datum wirklichen Geschehens). Vielmehr ist unendlich schwach unentschieden, ob jener Caesar dieser, jener Gott dieser ist, vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band IV, Bonn 1980, 2. Aufl. 1990, S. 166– 169; Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, 2. Aufl. 1995, S. 44–48; Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 53–56; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn

1014

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Gott

retischen Konstruktion der Zusammensetzung von Sachen aus Fülle und Mangel wird der Unterschied zwischen bestimmungsbedürftigen Sachen und Bestimmungen oder Bedeutungen (d. h. Sachverhalten, Programmen, Problemen), wodurch jene als etwas bestimmt sind, übersehen. Nur bei den Bedeutungen gibt es den Unterschied des Positiven und Negativen; so kann ein Sachverhalt (z. B. eine Tatsache) negativ sein (dass etwas nicht oder nicht so ist), ebenso ein Programm (dass etwas nicht sein soll) und ein Problem (ob etwas nicht ist oder nicht sein soll). Es hat aber keinen Sinn, von negativen Bestandteilen sonstiger Sachen, von einem Anteil an Nichtsein in ihnen, zu reden. Vielmehr ist jeder Kieselstein, jeder Idiot genauso positiv und in diesem Sinn genauso vollkommen wie Gott, ob es diesen nun gibt oder nicht, weil jeder von ihnen keine Mängel oder Privationen als negative Bestandteile hat, sondern genau das ist, was er ist, und nichts von dem ist, was er nicht ist. Es hat also keinen ontologischen Sinn, von einer Steigerung der Vollkommenheit zu reden, daher auch nicht, vom vollkommensten Wesen. Das Negative des Mangels findet nur bei den Bedeutungen statt, unter die die betreffenden Individuen subsumiert sind, z. B. beim Idioten in Gestalt des Sachverhaltes, dass er nicht gescheit ist, beim Kieselstein in der Weise, dass er allerlei Tugenden nicht besitzt, die lebendigen Wesen vorbehalten sind. Den Akzent des Mangelhaften gewinnen diese negativen Bedeutungen aber erst durch Bewertungen des Betroffenen oder anderer. Davon abgesehen ist jedes Nichtsein oder Nichtsosein gleich tadelhaft oder tadellos. Bei einem besonders begabten Wesen wie Gott kann der Mangel z. B. im Fehlen von Mängeln bestehen, in der Langeweile allzu gleichförmigen Besitzes von Vorzügen, wodurch Leidenschaften ausgeschlossen sind und der Genuss fade wird (Kleists Amphitryon). Das Qualitative, die Farbigkeit, gewinnen eigene Vorzüge erst durch den Kontrast gegen eigene Mängel. Daher haben Metaphysiker, die die Realität oder Vollkommenheit nur als ein Quantum sahen, das bis zum Maximum gesteigert werden kann, gründlich geirrt; eine rühmliche Ausnahme macht Duns Scotus, der der thomistischen Quantifizierung die Qualifizierung der Bestimmtheit (23.3) entgegensetzt. Man kann Leibniz nicht vorwerfen, dass er sich ohne Bedenken 1999, S. 54–56 (vier Darstellungen desselben Gedankenganges) und zur unendlichfachen Unentschiedenheit: Der Spielraum der Gegenwart S. 89–97 (gegenüber früheren verbesserte Darstellung).

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Leibniz

auf die Illusionen des ontologischen Gottesbeweises eingelassen hätte. In seiner mündlichen und schriftlichen Auseinandersetzung mit dessen Befürworter Eckhardt bringt er 1677 triftige Einwände vor: Weder die Widerspruchsfreiheit der Rede vom vollkommenen Wesen noch die Eigenschaft der Existenz als Vollkommenheit sei gesichert; für die Abgrenzung des Positiven vom Mangel gebe es kein einleuchtendes Maß, das z. B. dem Schmerz mehr Mangel als der Lust garantieren könnte; die Vollkommenheiten seien, anders als z. B. die Teile eines Raumes nicht homogen genug für Zusammensetzung; schließlich habe auch das vollkommene Wesen Anteil am Nichtseienden, weil ihm der Mangel fehlt: Es ist nichts nicht. 1015 Der letzte Einwand ist wohl der schlagendste: Ohne die Vollkommenheit, einen Mangel zu haben, ist alle Vollkommenheit nichts wert. Nachdem aber Eckhardt in äußerst breiter und engagierter Darlegung mit Berufung auf die übereinstimmende Meinung aller Philosophen 1016 das ganze Hirngespinst wie eine Bastion ausgebaut und befestigt hat, weicht Leibniz in einem entscheidenden Punkt zurück: »Nachdem du entwickelt hast, dass Vollkommenheit dir Seiendheit ist, insofern sie als Absetzung von der Nichtseiendheit verstanden wird, oder, wie ich lieber definieren möchte: Vollkommenheit ist die Stufe (Grad) oder Quantität der Realität oder Essenz, wie Intensität die Stufe der Qualität und Kraft die der Aktion, schwinden einige meiner Bedenken. Es ist nun klar, dass auch die Existenz eine Vollkommenheit ist oder die Realität vermehrt, d. h. wenn A als existent gedacht wird, begreift man mehr Realität, als wenn A als möglich gedacht wird.« 1017 Das Addieren von Realitäten oder Füllepartikeln einer Sache als Zurückdrängen ihrer Mängel wird damit als Weg zum Existenzbeweis akzeptiert, weil es früher oder später auch die Existenz als solche Füllepartikel vereinnahmt. Auf der Linie dieses Aufstieges zum kraft Vollkommenheit existierenden Gott durch Addition von Füllepartikeln (Positiva, Vollkommenheiten, Realitäten) mit Ausfüllung von Mängeln liegen folgende Formulierungen: Gott ist die primitive Einheit, die Kreaturen sind zusammengesetzt aus 1 und 0, dem Positiven und dem Privativen. 1018 Vollkommenheit ist PG I 213–215, 222. Ebd. S. 216. 1017 Ebd. S. 266 (Leibniz an Eckhard, undatiert, zwischen Mai und September 1677), ähnlich Ak. PS. IV B 1358, 22: Perfectio est gradus seu quantum realitatis; 1429, 15: perfectio est gradus realitatis. PG VII 195: Perfectio est, quod plus essentiae involvit. 1018 Grua I 126 (an Morell, 04.–14. 05. 1698). 1015 1016

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Gott

reine Realität, das Positive oder Absolute in den Essenzen. Unvollkommenheit (das Schlechte) besteht in Begrenztheit. 1019 Gott ist die Verknüpfung aller einfachen absoluten Formen oder möglichen Vollkommenheiten. 1020 Die Dinge entspringen aus wechselnden Kombinationen der als Gott verknüpften Vollkommenheiten, entsprechend den verschiedenen additiven Darstellungsmöglichkeiten der 6 außer der gleichförmig verknüpfenden Darstellung als 1+1+1+1+1+1. 1021 Diese aggregative Auffassung von Gott als Summe einfacher positiver Vollkommenheiten, aus der durch beliebige Auswahl und Kombination die endlichen Dinge hervorgehen, entspricht der additiven Auffassung der göttlichen Allwissenheit: Gott sieht alle Dinge wie wir auch, nur in allen möglichen Sichten (Perspektiven) zugleich, während wir immer nur eine innehaben.953 Während Leibniz nach der Auseinandersetzung mit Eckhard die Existenz als Vollkommenheit gelten lässt, wird er den anderen Grund seines Misstrauens nicht los, nämlich den bis zur Widerlegung aufrecht erhaltenen Verdacht, der Begriff des ganz vollkommenen Wesens könnte widerspruchsträchtig und dieses daher unmöglich sein. Er bemüht sich, diesen Verdacht mit Hilfe der additiven Auffassung der Vollkommenheiten durch den Nachweis auszuräumen, dass alle die einfachen Füllepartikel (möglichen Vollkommenheiten), die Gott ausmachen,1020 mit einander verträglich sind. Schon ein Jahr vor der Diskussion mit Eckhardt (1676) trägt er Spinoza eine Ausführung dieses Programms mit der Gedankenwindung vor, dass deren Unverträglichkeit nicht durch Analyse bewiesen werden könne, da sie einfach seien, anders aber auch nicht bewiesen werden könne, jedoch, wenn sie vorläge, beweisbar sein müsse, da sie weder trivial noch zufällig sei. 1022 Sonderbare Vorstellung von einem Widerspruchsbeweis, als ob er durch bloße Begriffszergliederung zustande käme! Zwei Jahre später (1678) muss er in einem Brief an eine Fürstin – wahrscheinlich die Pfalzgräfin Elisabeth 1023 – zugeben, dass er seine Gesprächspartner aus dem Lager der Cartesianer damit nicht überzeugen konnte, 1024 doch hält er an dem Programm des Verträglichkeitsbeweises fest, den er nun mit Hilfe seiner geplanten Characte1019 1020 1021 1022 1023 1024

Grua II 324 (Notiones Generales). Ak. PS. III 521. Ebd. 518. PG VII 261 f. (Quod ens perfectissimum existit). Ak. Br. I 433–438, eigenhändiges Konzept. Ebd. S. 436.

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Leibniz

ristica universalis – einer Arithmetisierung, die komplexen Begriffen Zahlen zuordnet und die eindeutige Zerlegbarkeit dieser Zahlen in Primfaktoren zur Reduktion der komplexen Begriffe auf primitive Urbegriffe benützt 1025 – ausführen zu können hofft: »Denn die einfachen Gedanken sind die Elemente der Charakteristik, und die einfachen Formen sind die Quellen der Dinge.« 1026 Die Devise eines simplen Singularismus, der sich zur Vision einer rein arithmetischen Durchleuchtung der Struktur und des Wesens der Dinge versteigt, könnte nicht schlagender ausgedrückt werden. Die gewünschte Ergänzung des ontologischen Gottesbeweises durch einen Beweis der Widerspruchsfreiheit des Gedankens an ein alles Positive, alle mangellosen Vollkommenheiten, in sich vereinenden Wesens durch arithmetische Begriffsanalyse in einer Charakteristica universalis hat Leibniz nicht ausgeführt, aber sich mehrfach der gesuchten Widerspruchsfreiheit versichert: »Es gibt ein allervollkommenstes Seiendes, oder das höchst vollkommene Seiende ist möglich, weil es nichts anderes ist als rein Positives.« 1027 Die Vollkommenheiten des vollkommensten Wesens sind einfach, unauflöslich, positiv und unbeschränkt, daher in derselben Sache vereinbar; diese ist also möglich. 1028 Eigentlich kann die Verträglichkeit oder Unverträglichkeit immer nur für je zwei Vollkommenheiten festgestellt werden, da es sich um eine zweistellige Beziehung handelt, aber Leibniz schließt aus der paarweisen Verträglichkeit auf die allgemeine. 1029 Das ist natürlich logisch fragwürdig; ein Gegenbeispiel aus der Mengenlehre: Mit zwei Mengen ist ihre Paarmenge unbedenklich, aber die Menge aller Mengen krankt an dem bekannten Widerspruch. Darüber hinaus widerspricht Leibniz sich selbst, indem er zur Ableitung des Darwinismus der Möglichkeiten (32.2) die These als absolut erste Wahrheit aufstellt, dass eine Unverträglichkeit unter den Urelementen eben doch besteht: »Absolut erste Wahrheiten sind unter den Vernunftwahrheiten die identischen und unter den Tatsachenwahrheiten diejenigen, aus der alle Erfahrungen a priori bewiesen werden können, nämlich: Alles Mögliche verlangt Cout. 277. Ak. Br. I 437. 1027 Ak. PS. IV A 626, 24 f. (1685). 1028 Ak. PS. III S. 395 f., 572, 577, 578 f. 1029 Ak. PS. III 572, 8: si singula compatibilia sunt, etiam plura erunt, adeoque et composita. 572, 19 f.: duae quaelibet qualitates affirmativae sunt compatibiles, adeoque omnes omnibus. 1025 1026

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Gott

zu existieren, und daher würde es existieren, wenn nichts anderes hinderte, das auch zu existieren verlangt und mit dem vorigen unverträglich ist, woraus folgt, dass immer die Kombination der Dinge existiert, wodurch möglichst viele existieren (…). Jenes ist aber doch den Menschen unbekannt, woraus diese Unverträglichkeit Verschiedener entspringt, oder wie es geschehen kann, dass verschiedene Essenzen mit einander streiten, da alle rein positiven Termini unter sich verträglich zu sein scheinen.« 1030 Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, dass Leibniz zu seiner Ergänzung des ontologischen Gottesbeweises mit dem Ergebnis, dass das ganz vollkommene Wesen widerspruchsfrei denkbar oder logisch möglich und dann auch wirklich ist, kein volles Vertrauen gefasst hat. Im Jahre 1700 stellt er den Sachstand so dar: »Man hat zu beachten, dass ohne eine metaphysische Demonstration der Möglichkeit des ganz vollkommenen Wesens eine starke Vermutung bis an die Grenze der moralischen Gewissheit geht, ganz zu schweigen von den perfekten Demonstrationen des Daseins Gottes, die a posteriori, d. h. von den Effekten aus, geführt werden. Und ich zweifle sogar nicht, dass man zu einer perfekten Demonstration der Möglichkeit gelangen kann; danach wird die von St. Anselm in Angriff genommene und von Descartes vorangetriebene Demonstration a priori mit einer Striktheit wie nur irgendeine geometrische Demonstration ausgeführt sein.« 1031 Zehn Jahre später ist es immer noch nicht so weit; Leibniz zieht sich auf ein bescheidenes Zwischenergebnis zurück: »So viel Gutes wenigstens steckt in diesem Argument, dass von da her feststeht, dass Gott existiert, wenn er möglich ist, was von keiner anderen Substanz bejaht werden kann und an sich nicht zu verachten ist, weil die Möglichkeit vermutet und von anderer Seite bekräftigt wird. Einstweilen ist die Demonstration nicht vollständig, weil sie stillschweigend etwas unterstellt, nämlich die Möglichkeit der göttlichen Natur.« 1032 Nach weiteren 4–5 Jahren, als Leibniz kurz vor seinem Ende gleichsam einen Schlussstrich zieht und in kurzgefasster Form seine Metaphysik resümiert, wirft er alle solchen Bedenken über den Haufen und schreibt in der Monadologie § 45: »So hat Gott (oder das notwendige Wesen) allein das Privileg, dass er existieren muss, wenn er möglich ist. Und da nichts die Mög1030 1031 1032

PG VII 194 f. PG IV 404. PG VII 490 (Leibniz an Bierling, 10. 11. 1710).

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lichkeit dessen hindern kann, das keine Grenzen in sich schließt, keine Negation und folglich keinen Widerspruch, genügt das allein, um die Existenz Gottes a priori zu erkennen.« 1033

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32.3.2 Das notwendige Wesen Leibniz zieht dem ontologischen Gottesbeweis aus dem Begriff des allervollkommensten Wesens öfters als »näher liegend und strenger« eine vereinfachte Fassung vor, die nur mit dem Begriff des notwendigen Wesens – ohne Rücksicht auf Vollkommenheit – operiert und so lautet: »Das notwendige Wesen (oder das Wesen, dessen Essenz seine Existenz ist, oder das Seiende von sich aus) existiert, wie aus den bloßen Begriffen klar ist. Nun ist Gott ein solches Seiendes (laut Gottes Definition). Also existiert Gott.« 1034 Diese Vorliebe lässt sich leicht erklären mit der Rücksicht auf den Darwinismus der Möglichkeiten, die für ihren Kampf ums Dasein ein Substrat brauchen, weil sie als bloß fiktive Möglichkeiten nicht kämpfen könnten, 1035 und zwar, damit weitere Fragen nach einem zureichenden Grund abgeschnitten werden können, ein notwendig existierendes Substrat, ohne dessen Notwendigkeit das Bedürfnis von Leibniz, solche Fragen zu stellen, ungesättigt bliebe. Dafür genügt Gottes umfassender Verstand, in dem sich alle sonst fiktiven Möglichkeiten als Ideen absetzen; 1036 ob dieser Gott im Übrigen vollkommen, z. B. gut und mächtig, ist, spielt für den Darwinismus der Möglichkeiten keine Rolle, da diese durch ihre Konkurrenz mit Sieg der fittesten Koalition automatisch dafür sorgen, dass die Dinge auf die vollkommenste mögliche Weise existieren. 1037 Zwar gibt Leibniz zu, dass die Widerspruchsfreiheit für den Begriff des notwendigen Wesens nicht weniger fragwürdig ist als für den des ganz vollkommenen, 1038 doch erhält der auf das bloß noch notwendige Wesen Gott verkürzte Beweis zusätzliche Stützung durch den Rückschluss aus der Existenz zufälliger (kontinPG VI 614. PG IV 359 (zu Artikel 14 der Principia philosophiae von Descartes); PG VII 490 (an Bierling, 10. 11. 1710); PG I 212 (Aufzeichnung über das Gespräch mit Eckhardt am 05. 04. 1677). 1035 S. o. Anm. 1005 und Ak. PS. IV B 1634 f. 1036 PG VI 614 (Monadologie §§ 43–44). 1037 PG VII 194, 289–291. 1038 PG IV 359, s. Anm. 1034. 1033 1034

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Gott

genter) Dinge: »Wenn kein notwendiges Wesen wäre, würde auch kein kontingentes Wesen sein, denn ein Grund muss angegeben werden können, warum die kontingenten eher existieren als nicht existieren, und der kann nichts sein als das Seiende, das von sich aus ist, d. h. für dessen Existenz der Grund in seiner Essenz enthalten ist, so dass für einen Grund außer ihm kein Bedarf besteht. Und wenn auch bei den für die kontingenten Wesen angebbaren Gründen ins Unendliche gegangen würde, muss doch außer ihrer Serie, in der sich kein zureichender Grund befindet, ein Grund der ganzen Serie gefunden werden.« 1039 Zwei Begründungen für die im letzten Satz aufgestellte Behauptung versucht Leibniz in einer Anmerkung zu Mitteilungen Schullers über Spinoza 1040 : 1. Aus der unendlichen Kette von Gründen für die Existenz einer Sache könnten beliebig viele Glieder entnommen werden, also auch alle, so dass, wenn die Kette zureichender Grund sein sollte, dieser in ein pures Nichts verwandelt werden würde, was absurd sei. Das Argument ist selbst absurd; man kann höchstens am Anfang der ins Unendliche zurücklaufenden Kette endlich viele Glieder zusammenhängend abschneiden, wenn man weniger begründen will, aber die Kette bleibt immer unendlich lang. 2. Statt der ganzen Serie von Gründen könnte auch irgendeine andere gewählt werden, aber dann müsste man nach einem zureichenden Grund für den Vorzug der ersten Kette vor der zweiten fahnden. Ich würde einfach sagen: weil jenes die richtigen Gründe sind. Der Gedanke, dass für eine Serie von zureichenden Gründen, auch wenn sie ohne Anfang in einem Urgrund ins Unendliche zurückläuft, ein weiterer zureichender Grund für die Existenz der ganzen Serie postuliert werden müsse, kommt schon bei klassischen Denkern vor Leibniz vor. 1041 Er ist aber unlogisch, denn zur Unendlichkeit der Reihe kommt es ja nur dadurch, dass alle Gründe eingeholt werden sollen; wenn sich ein weiterer außerhalb der Reihe befände, wäre diese also doch nicht das, was sie ist, die Reihe aller Gründe. Zudem wäre die Verknüpfung des äußeren Grundes mit der Reihe selbst wieder eine zweigliedrige Reihe, für deren Bestehen PG VII 310 (Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis). Dass der zureichende Grund einer unendlichen Kette von Gründen außer ihr liegen müsse, behauptet Leibniz auch im Gespräch mit Stenius am 27. 11. 1677, Ak. PS. IV B 1375, 11– 20. 1040 PG I 138. 1041 Proklos, Elementatio theologica Satz 21 (ed. Dodds S. 24, 18–21); Suarez, Disputationes Metaphysicae d. 29.s.1 n. 28 (Opera omnia 26, Paris 1861, S. 29). 1039

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Leibniz

abermals ein Grund außerhalb ihrer selbst gesucht werden müsste, usw. ad infinitum, so dass nichts gewonnen wäre. Vielmehr besteht der zureichende Grund für alle Glieder der unendlich rückläufigen Reihe von Gründen darin, dass jeder Platz in ihr besetzt ist. Davon ganz abgesehen, ist die Suche eitel, die Leibniz hinter einer unendlichen Reihe sämtlich kontingenter zureichender Gründe für eine kontingente Sache nach einem notwendigen Wesen als letztem Grund der ganzen Reihe fahnden lässt; denn ein notwendiges Wesen ist unmöglich.888

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32.3.3 Das zwiespältige Wesen Aus der absoluten Vollkommenheit Gottes schließt Leibniz, dass Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen habe, mit folgenden Vorzügen: größte Vielfalt im Verein mit größter Ordnung, Maximum an Wirkung, erreicht auf den einfachsten Wegen, das Höchste an Macht, Erkenntnis, Glück und Güte für die Geschöpfe in dem Maße, wie das Universum es gestattet. 1042 Er verwendet dabei den Gottesbegriff des ontologischen Gottesbeweises, den des vollkommenen Wesens, das ohne Grenzen und Negationen ist,1033 also von keinen Einschränkungen belastet wird. Damit im Widerspruch steht das Charakterbild, das Leibniz in derselben Theodizee1042 von Gott zeichnet. Gott hat demnach den vorhergehenden Willen, das Glück aller Menschen zu fördern und ihr Elend zu verhindern. Das ist aber nur einer seiner vorhergehenden Willen unter anderen. Aus der gegenseitigen Abstimmung aller dieser Absichten ergibt sich Gottes nachfolgender Wille, der bei der Auswahl der wirklichen Welt unter allen möglichen Welten den Ausschlag gibt und zur Einbindung einiger Laster (sehr vorsichtig ausgedrückt!) in diese wirkliche Welt führt, obwohl Gott die Tugend in höchstem Maße liebt und das Laster im höchsten Maße hasst. 1043 Gott nimmt, um nach einfachen und allgemeinen Gesetzen handeln zu können, nicht nur überflüssige Ereignisse in Kauf, sondern – wie Leibniz zu den von ihm empfohlenen Ausführungen Malebranches, ausdrücklich die Verantwortung für den Zusatz übernehmend, hinzusetzt – sogar schlechte. 1044 Dieser 1042 1043 1044

PG VI 106 f. (Theodizee §§ 7–8), 603 (Principes de la nature et de la grace § 10). PG VI 250 f. (Theodizee § 222). PG VI 238 (Theodizee § 204).

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Gott

Gott verletzt also das aristotelische Prinzip der Billigkeit, der Gerechtigkeit nachzuhelfen, wenn kein allgemeines Gesetz der Aufgabe gewachsen ist, dem Einzelfall gerecht zu werden. 1045 Es handelt sich um einen Gott mit äußerst zwiespältigem Charakter, der seinen gutmütigen Wünschen und seiner fanatischen Leidenschaft für die Tugend nicht folgen kann, weil andere Interessen in die Quere kommen und das Laster und das Schlechte in seine Wahl einfließen lassen, namentlich Interessen ästhetischer und mathematischer Art, nämlich an Eleganz und Sparsamkeit, so viel wie möglich mit so wenig Aufwand an Mitteln und Regeln wie möglich zu erreichen. Dass es in diesem Charakter keine Reibungen und Negationen, keine Einschränkungen gegenläufiger Tendenzen, wie für das vollkommene Wesen gefordert war, gebe, kann man doch wirklich nicht behaupten. Nicht nur solche zur höchsten Vollkommenheit wenig passende Zwiespältigkeit kann man dem Gott von Leibniz vorhalten, sondern er ist auch moralisch nicht unverdächtig. Das Bedenken betrifft seine Gerechtigkeit, deren höchster Grad die Heiligkeit ist. 1046 Ist er überhaupt heilig? Seine Definition der Gerechtigkeit mit anschließenden Definitionen gibt Leibniz in seiner Vorrede zu dem von ihm herausgegebenen Codex iuris gentium diplomaticus 1047 und, darauf bezüglich, im Schriftwechsel mit Nicaise. 1048 Danach ist Gerechtigkeit die der Weisheit angepasste Caritas, diese universelles Wohlwollen als Disposition oder Neigung zum Akt der Liebe, die darin besteht, dass der Liebende sein Vergnügen aus dem Glück und der Zufriedenheit des anderen schöpft. Auf der anderen Seite ist die Weisheit, die der Gerechtigkeit die Regel gibt, nichts anderes als die Wissenschaft vom Glück, dieses also das Fundament der Gerechtigkeit. Das Vergnügen (plaisir) ist einer der Hauptpunkte des Glücks; dieses besteht in einem dauerhaften Besitz dessen, was man braucht, um das Vergnügen zu genießen. Nach den Nouveaux Essais ist Glück als felicité weiter nichts als dauerhafte Freude (joie) und als bonheur dauerhaftes Vergnügen (plaisir) mit ununterbrochenem Fortschritt zu weiteren Vergnügungen (plaisirs). 1049 Einschlägig ist auch folgende KetNikomachische Ethik 1137b 11–27. PG III 34. 1047 PG III 386 f. 1048 PG II 577 (Beilage zum Brief vom 09.–19. August 1697) und 581 (Brief vom 04.–14. Mai 1698). 1049 Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1705) I Kp. 2 § 3 und II Kp. 21 § 40, PG V 82 und 180. 1045 1046

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Leibniz

te von Definitionen: »Gerechtigkeit ist die Caritas des Weisen. Caritas ist allgemeines Wohlwollen. Wohlwollen ist der Habitus der Liebe. Jemanden lieben ist: von dessen Glück ergötzt werden. Weisheit ist die Wissenschaft vom Glück. Glück ist dauerhafte Freude. Freude ist ein Stand der Lüste, in dem der Sinn (die Empfindung, H. S.) der Lust von der Art ist, dass der Sinn (die Empfindung, H. S.) des Schmerzes dem gegenüber nicht bemerkenswert ist. Lust oder Ergötzen ist der Sinn der Vollkommenheit, d. h. der Sinn (die Empfindung, H. S.) für jede Sache, die fördert oder irgendeine Fähigkeit voranbringt. Vervollkommnet wird, wessen Fähigkeit vermehrt oder gefördert wird.« 1050 Um im höchsten Maße gerecht und dadurch heilig zu sein, müsste Gott sich hiernach vor allem mit Weisheit um das Glück seiner Geschöpfe bemühen, nämlich um deren Versetzung in dauerhafte Freude, die so groß wäre, dass Schmerzen gegen die Lust nicht ins Gewicht fielen, und zwar liebevoll, so dass er am Erfolg dieses Bemühens sich vergnügte und ergötzte. Nun ist zwar nach Leibniz das Glück der Geister unzweifelhaft das Hauptziel Gottes, das er so weit ausführt, wie die allgemeine Harmonie es gestattet, 1051 aber Gott bezweckt nicht nur das Glück der Geister, sondern nimmt im Interesse der Ökonomie und Eleganz seines Werkes auch deren Unglück in Kauf. 1052 Wie weit er dabei geht, zeigt die Stellungnahme von Leibniz zu dem Streit der Universalisten und Partikularisten über die Frage, ob Gott das Heil aller oder nur einiger Menschen wolle: Mit seinem vorhergehenden Willen will er alle Menschen retten, mit seinem nachfolgenden und alles entscheidenden Willen aber nicht; im Beschluss dieses Willens ist die Verdammung der Unglücklichen zur ewigen Höllenstrafe enthalten. 1053 Man kann doch nicht glauben, dass diese nach dem Tod end- und kompromisslos gequälten Menschen beständig so viel Freude und Vergnügen – gar noch mit Fortschritt zu immer mehr – empfänden, dass sie glücklich wären, und wie sollte Gott sich mit der Liebe, die sein allgemeines Wohlwollen aktiviert, daran ergötzen können, wo es gar keinen Anlass zu liebendem Ergötzen gibt, sondern allenfalls zum Entsetzen, falls die Liebe auch noch ein wenig zum Mitleid und nicht nur zur Mitfreude nei1050 1051 1052 1053

PG VII 73 (Definitiones). PG IV 430 (Discours de metaphysique § V, 1686). PG VI 169 f. (Theodizee § 119). PG 145–148 (Theodizee §§ 80–84).

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Gott

gen sollte? Eher müsste man annehmen, dass dieser Gott, wenn sein Wohlwollen wirklich so allgemein sein sollte, angesichts der Verdammten in der Hölle ein nicht ganz unbeträchtliches Unbehagen empfände. Leibniz hat seinen Gott in eine unhaltbare Schieflage gebracht, indem er ihn einerseits moralischen Ansprüchen unterstellt, denen dieser Gott nur genügen könnte, wenn er über seine Geschöpfe Freud’ und Wonne in weiser Dosierung ausgösse, ihm aber andererseits – natürlich auch mit Rücksicht auf die Tatsachen, die nicht dafür sprechen – ein überwiegendes Interesse an ästhetischer Ökonomie und daraus resultierender mathematischer Eleganz eingibt, das jenen guten Willen durchkreuzt. Nicht leicht ist einzusehen, warum Leibniz ihm diese überwertige Neigung eingibt. Eine mögliche Erklärung böte das Konzertgleichnis,1011 wenn Gott ein vollkommen egoistischer Musikfreund wäre, der als Einziger die wundervolle Klangfülle hört, in der das Universum sich zur Ganzheit zusammenschließt, während jeder Spieler nur seine eigene Stimme aus der unendlichen Partitur vernimmt. Aber ein solcher Egoismus ließe der Caritas, dem allseitigen Wohlwollen Gottes, keinen Raum. Man könnte auch fragen, ob Leibniz sein persönliches mathematisches Interesse einfach auf Gott überträgt. Er war nicht nur ein großer, sondern auch ein begeisterter Mathematiker; seine Faszination beim Entdecken wichtiger mathematischer Theoreme im Vorblick auf mögliche weitere Entdeckungen vergleicht er dem Hängen am Felsen der Sirenen. 1054 Aber einen so naiven Narzissmus, Gott nach seinem Bilde zu formen, sollte man ihm nicht zutrauen. Tiefer in seine Konzeption der besten Welt, mit deren Auswahl aus allen möglichen Welten er Gott bis zum Zwiespalt in dessen Charakter überlastet, führt folgende Schilderung ihrer Vollkommenheit: »Gottes Wege sind die einfachsten und gleichförmigsten, weil er Regeln wählt, die sich am wenigsten gegenseitig beschränken. Sie sind auch die fruchtbarsten im Verhältnis zur Einfachheit der Wege. (…) Man kann sogar diese beiden Bedingungen, Einfachheit und Fruchtbarkeit, auf einen einzigen Vorzug zurückführen: die meiste mögliche Vollkommenheit hervorzubringen.« 1055 Das ist nach 32.2 genau das Ergebnis, das sich einstellt, wenn man die Möglichkeiten ihren Kampf ums Dasein unter sich austragen lässt, wobei die stärkste Koalition sich durchsetzt, d. h. die 1054 1055

PG VII 323. PG VI 241 (Theodizee § 208).

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Leibniz

mit der geringsten Behinderung der möglichst positiven oder perfekten oder potenten1050 Teilnehmer, die nach diesen beiden Merkmalen – positiver Gehalt und Verträglichkeit – durch den bloßen Druck der Konkurrenz wie bei der biologischen Selektion nach Darwin zusammenfinden. Die Welt, die dabei herauskommt, hat in der Tat genau die mathematisch-ästhetischen Vorzüge, die Leibniz ihr zuschreibt, aber keineswegs die moralischen, die aus dem guten Willen Gottes hergeleitet werden, weil die Auslese nun automatisch durch den Kampf ums Dasein geschieht. Allerdings bleibt von dem Vorzug der Geister etwas übrig, auch nachdem dafür nicht mehr an Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit appelliert werden kann; denn auch im Darwinismus der Möglichkeiten haben die Geister einen Selektionsvorteil durch ihre ausgezeichnete Eignung zur Verträglichkeit, sich nicht wie undurchdringliche Körper im Raum zu verdrängen.996 Eine solche Welt hat klare Vorzüge, da sie aus einer Auslese nach eindeutig bestimmten Kriterien hervorgegangen ist, aber ihre Entstehung durch Kampf ums Dasein gibt ihr ein eher robustes und hartes als zärtliches Aussehen, wie es hinter der oberflächlichen Schminke mit schönen Worten auch der von Gott nach Leibniz ausgewählten Welt zukommt, da diese außer den Nöten, Leiden und Grausamkeiten der empirischen Welt auch noch die zusätzlich vom Christentum erdichteten enthält, etwa die ewigen Höllenstrafen der Vielen, die nicht zu den wenigen Auserwählten gehören. Die schiefe Stellung und das Zwielicht, in die Gott bei seiner Auswahl der besten möglichen Welt nach Leibniz gerät, geben also triftigen Anlass zu der Vermutung, dass er, der doch das allervollkommenste Wesen sein soll, in dieser Rolle weniger berufen als nur vorgeschoben ist und Leibniz sein Hauptziel, aus dem permutatorischen Singularismus einen ordinatorischen zu gewinnen (32.1), d. h. dem freien Spiel aller Möglichkeiten die schönste Ordnung zu entlocken, im Grunde dem Darwinismus der Möglichkeiten zuweisen möchte, wofür Gott nur als das alles denkende und allenfalls – um weitere Fragen nach zureichenden Gründen abzuschneiden – notwendige Wesen benötigt wird, damit die Möglichkeiten einen Sitz in seinem Verstand haben, wo sie als Ideen Gottes ihren Kampf führen können. Gottes vollkommene Wahl ist dann für Leibniz nur ein Vorhang vor dem Kampf der Möglichkeiten ums Dasein. Dass eine solche Strategie in sein Konzept passt, zeigt folgende Maxime: »Die Metaphysik ist mit genauen Definitionen und Beweisen auszustatten, aber nur das darf in ihr bewiesen werden, was den anerkannten 282

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Gott

Meinungen nicht zu sehr entgegensteht. So nämlich kann diese Metaphysik angenommen werden; wenn sie einmal gebilligt ist, können hinterher tiefer schürfende Untersucher selbst die nötigen Folgerungen ziehen.« 1056 Wie wichtig dabei die Rücksicht auf die Vorurteile der Theologen ist, zeigt folgende Warnung, die Leibniz dem Mathematiker Johann Bernoulli zukommen lässt: »Sorge gemäß deiner Klugheit dafür, dass du nicht die Theologen zu Feinden hast, denn überall auf Erden ist deren Autorität groß, und das verlangt der Stand der Dinge.« 1057 Seine wirkliche Meinung dürfte enthalten sein in einer in 24 Thesen zusammengefassten Darstellung der Genese der wirklichen Welt als der besten aller möglichen Welten ganz ohne Berufung auf eine gute Wahl Gottes. 1058 Dieser kommt dabei nur als das notwendige Fundament aller Möglichkeiten (s. o. 32.3.2) vor, das ihnen das Existurieren möglich macht, d. h. die Anstrengung (conatus) zum Existieren und den daraus folgenden Konflikt (conflictus), da nicht alle Möglichkeiten mit einander verträglich sind. In dieser Konkurrenz setzt sich die stärkste Koalition durch, so dass die größte Serie des Möglichen wirklich wird; welche es ist, ist eindeutig bestimmt. Also existiert die vollkommenste Welt mit einem Höchstmaß an Realität; sie ist für das Denken optimal durch ein Maximum distinkter Denkbarkeit. Diese gewährt Ordnung in der Sache und Schönheit für den Denkenden; Ordnung ist nämlich die Beziehung der Unterschiedsschärfe (relatio plurium distinctiva). Folglich ist die Welt ein Schmuckstück, das die Intelligenz befriedigt. Deren Lust ist nämlich nichts anderes als die Vorstellung der Schönheit, Ordnung und Vollkommenheit. Wenn uns etwas daran nicht gefällt, liegt das an der Unvollkommenheit unseres Verstandes. Für die Geister ist gesorgt, da durch sie die größte Vielfalt auf dem mindesten Raum erreicht wird. Soweit der Gedankengang bis These 22. In der 23., vorletzten These kommt auf einmal Gottes Güte vor, die das Maximum an Vollkommenheit hervorbringe und den Geistern größte Lust schenke. Das dürfte kaum mehr als ein Zugeständnis an die theologische Konvention sein, denn es ist durch nichts in den vorangegangeAk. PS. III 573. Leibniz, Mathematische Schriften hg. v. C. I. Gerhardt Band III, Halle 1856, S. 593 (Brief vom 26. 06. 1699) Demgemäß wendet sich Leibniz 1705 gegen die Annahme von Lehren, die die guten Argumente, die wir für das Dasein Gottes haben, schwächen könnten (PG VI 548). 1058 PG VII 289–291. 1056 1057

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Leibniz

nen Thesen motiviert. Vielmehr handelt es sich um so etwas wie eine Theodizee ohne Gottes Willen. Leibniz zeigt hier, wie er allein dem Darwinismus der Möglichkeiten mit ihrem von Gott als dem notwendigen Wesen getragenen Kampf ums Dasein sein Ziel abgewinnen kann, aus dem permutatorischen Singularismus ganz von selbst eine Ordnung des Universums abzuleiten (32.1). Die Überschiebung des Darwinismus der Möglichkeiten durch eine theologische Verbrämung wird besonders deutlich im Gedankengang einer Aufzeichnung von Leibniz, die die Herausgeber vermutungsweise auf März bis August 1689 datieren: Ohne das Existurieren (den Drang zur Existenz) aller Essenzen wäre kein Grund, warum eher diese als jene zur Existenz gelangen; denn kein Grund ist dafür vorhanden, dass einige existurieren, andere nicht. Wenn aber alle existurieren, ist der Grund (für die Existenz) gegeben durch die Übermacht von Essenzenkoalitionen, die unverträgliche andere vom Platz an der Sonne der Existenz verdrängen. Also strebt alles Mögliche von sich aus zur Existenz, wird aber per accidens eventuell daran gehindert. Andere Gründe der Nichtexistenz gibt es nicht. Die Essenzen bedürfen, um streben zu können, aber einer existierenden Wurzel, denn sonst wären sie Fiktionen. Diese Wurzel ist Gott, das notwendige Wesen, das frei auswählt, was in der Konkurrenz die größere Vollkommenheit besitzt. Nur in und durch Gott verschaffen sich die Essenzen den Weg zur Existenz. 1059 Die freie Wahl Gottes, die zu guter Letzt noch eingeschoben wird, steht im Widerspruch zu dem vorher gewonnenen Ergebnis, dass es keine anderen Gründe der Nichtexistenz als die eigene Konkurrenz der Essenzenkoalitionen gibt. Diese Konkurrenz kann in der Tat nur in Gott stattfinden; dass Leibniz ein »durch Gott« hinzufügt, ist abermals ein Symptom vorsichtiger Bemäntelung des Darwinismus der Möglichkeiten mit der orthodoxen christlichen Lehre.

32.4 Die Monaden Die Monaden – wörtlich übersetzt: Einsen – sind nichts als die einfachen Substanzen, die in die zusammengesetzten eintreten, 1060 doch sind diese gar nicht echte Substanzen, sondern nur Scheinwesen, de1059 1060

Ak. PS. IV B 1634 f. (De ratione cur haec existant potius quam alia). PG VI 607 (Monadologie § 1).

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Die Monaden

ren Realität ausschließlich in den einfachen Elementen besteht; denn deren Verhältnis (Rapport), das in der Ansammlung allein hinzukommt, besteht bloß im Geist, der es denkt. 1061 Alle Vielheiten sind aus Einheiten zusammengesetzt, wie die Zahlen – nach der allzu naiven Vorstellung, die bis zu Frege die herrschende war, siehe die Überleitung am Anfang des Bandes – aus Einsen. 1062 Leibniz lässt nur das numerische Mannigfaltige gelten, das aus einzelnen Sachen (numerischen Einheiten) besteht; er ist radikaler Singularist, für den alles ohne weiteres einzeln ist, und die paradoxen Konsequenzen dieses Singularismus, auch schon im Teilgebiet des Elementarismus – der Behandlung aller Bestimmungen, wodurch etwas als etwas bestimmt wird, als einzelne – (29.1), sind ihm fremd. In diesem Sinn spielt er die Monaden als Waffe gegen Spinoza aus: »Er hätte recht, wenn es keine Monaden gäbe; dann wäre außer Gott alles übergänglich und würde sich in bloße Akzidentien oder Modifikationen verflüchtigen, weil es in den Dingen nicht die Grundlage der Substanzen gäbe, die in der Existenz der Monaden besteht.« 1063 Spinoza arbeitet an der neuplatonischen Konzeption der Vieleinigkeit, Einheit und Vielheit mit Primat der Einheit zusammenfallen zu lassen, indem er die kühnen Lösungsversuche von Vorgängern wie Scotus Eriugena, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues in die banalere Fassung des aus der aristotelischen Tradition übernommenen Begriffspaares Substanz-Akzidens (Modus) bringt (31.2). Leibniz steht dieser Denkweise ganz fern, wie die Scholastiker mit ihrem Singularismus (24.1) seit Abaelard (21.2) bis zu dessen Radikalisierung durch Wilhelm von Ockham, der nur noch Absolutes gelten lässt,202 der wie Leibniz die Beziehungen zu bloßen Gedankendingen macht454 und sich wie dieser das Viele nur durch Zusammensetzung von Einzelnem begreiflich sein lässt.198 Nach Leibniz hat alles Teilbare keine Realität als die der darin enthaltenen unteilbaren Einheiten; 1064 die Vielheiten, die noch geteilt werden können – Körper, Raum, Zeit, Materie – sind zwar Ansammlungen der wahrhaft seienden Monaden, aber dennoch bloße, wenn auch auf wirklichen Fundamenten beruhende Scheinbilder wie Regenbogen, Spiegelbilder oder Träume, wenn es hoch

1061 1062 1063 1064

PG VI 516 (an die Königin Sophie Charlotte). PG VII 560 (an die Kurfürstin Sophie). PG III 575 (an Bourget, Dezember 1711). PG II 261 (an de Volder, 21. 01. 1704).

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Leibniz

kommt: Visionen Gottes. 1065 Das klingt unlogisch, denn wenn es viele wirkliche Dinge gibt, muss auch ihre Vielheit oder Versammlung wirklich sein. Leibniz meint aber wohl nur, dass alles, was als Brücke oder Verknüpfung zu den Monaden hinzukommt, insbesondere »die Ausdehnung als ein realer zusammenhängender Raum«, 1066 illusorisch ist. Man kann sich, was er meint, an einer modernen mathematischen Modellvorstellung klar machen, dem Cantor’schen Diskontinuum, das entsteht, wenn man eine Strecke in drei gleiche Teile teilt, den mittleren abzüglich der Grenzpunkte entfernt und das Verfahren auf alle verbleibenden Teilstrecken unendlich oft anwendet; als Durchschnitt der Menge aller Reste erhält man eine Punktmenge, in der in beliebig kleiner Umgebung jedes Punktes unendlich viele (sogar überabzählbar unendlich viele) Punkte der Menge liegen, die sich aber nirgends auch nur zu der allerkleinsten Strecke mehr zusammenfinden. Das Linearkontinuum ist ausgeräumt, aber alle Plätze sind (sozusagen) immer noch besetzt. Dieses Gleichnis kann auf die Monaden von Leibniz nur cum grano salis angewendet werden, weil er eine schwankende und schließlich ablehnende Stellung zur Vergleichung oder Gleichsetzung von Monaden mit Punkten in Nachbarschaftsverhältnissen nimmt. Jede Monade ist wie eine abgesonderte Welt, mit andern Monaden nur durch Scheinbilder ohne jeden weiteren Verkehr oder Verband (nexus) übereinstimmend. 1067 Sie, die individuelle Substanz, ist aber unendlich, weil sie zum ganzen Universum Beziehungen hat. 1068 Jede singuläre Substanz enthält in ihrem vollkommenen Begriff das ganze Universum einschließlich des vergangenen und künftigen, weil jede Sache im Verhältnis zu jeder bestimmt ist und es keine bloß äußerlichen Bestimmungen gibt. 1069 Solche Repräsentation (32.1) des Äußeren im Inneren, des Zusammengesetzten im Einfachen, der Mannigfaltigkeit in der Einheit macht das Wesen der Perzeption oder Vorstellung (im weitesten Sinn, einschließlich der unbewussten) PG II 268 (an de Volder, 30. 06. 1704), II 435 und 438 (undatierter Brief an des Bosses aus Anfang 1712 mit zugehöriger Studie), III 622 (an Remond, Juli 1714, Beilage). 1066 PG III 623 (wie eben). 1067 PG II 444 (an des Bosses, 26. 05. 1712). 1068 Ak. PS. IV B 1507, 8 f. 1069 Ak. PS. IV B 1646, 17–21, vgl. PG II 240 (an de Volder, April 1702): Einer der Hauptsätze von Leibniz besagt, dass jede äußerliche (relative) Bestimmung einer Sache eine dieser innewohnende Eigenschaft zur Grundlage hat. 1065

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Die Monaden

aus. 1070 Jede Sache ist durch ihre Modi mit den Modi der übrigen Sachen im ganzen Universum dermaßen verknüpft, dass Gott in jedem solchen Modus das Universum wie eingewickelt und eingeschrieben sehen kann. 1071 Bei jeder Perzeption eines Ganzen gibt es gleichzeitig Perzeptionen aller seiner aktuellen Teile und aller Modifikationen dieser Teile; alle diese vervielfachten Perzeptionen sind von einander verschieden, aber unsere Aufmerksamkeit reicht nicht aus, um sie alle zu unterscheiden, und das macht die Perzeptionen verschwommen (konfus). Jede distinkte Perzeption enthält eine Unendlichkeit solcher konfuser Perzeptionen, aufgrund der Beziehung zu allem, was außerhalb ist. 1072 An dieser Stelle rächt sich an Leibniz das allzu einseitige, bloß numerische Einheits- und Mannigfaltigkeitsverständnis des Singularismus. Die Abbildung des übrigen Universums in jeder Monade kann nur dann so genau und durchgängig sein, wie Leibniz will, wenn sie umkehrbar eindeutig ist, so dass jedes abzubildende Objekt seinen Vertreter im Inneren der Monade und umgekehrt jedes Ereignis in dieser seinen Partner draußen hat. Diese Genauigkeit verlangt vollständige Vereinzelung und damit Distinktheit aller Vorstellungen. Diese sollen aber bei allen Monaden außer Gott mehr oder weniger konfus und bei sehr vielen (mindestens unterhalb der Tiere) völlig konfus sein. Wie kommt es zu dieser Konfusion? Leibniz antwortet: durch Mangel an Beachtung. Die konfusen Perzeptionen sind nach seiner Auffassung eine Vielheit an sich distinkter Gedanken, nur zu klein, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und sich unterscheiden zu lassen. 1073 Aber zu geringe Beachtung könnte nur Lücken in die Abbildung reißen, also deren Vollständigkeit stören, nicht aber ihre Qualität, den Mannigfaltigkeitstypus, verändern. Der Übergang vom Distinkten zum Konfusen besteht aber in Preisgabe der Einzelheit des Unterschiedenen, der Distinktheit, durch Abgleiten zu einer chaotischen Mannigfaltigkeit, in der ganz oder teilweise entweder die Einzelheit (die Fähigkeit des Identischen, eine Anzahl um 1 zu vermehren) oder sogar die noch

PG VII 529 (an Rudolph Christian Wagner, 04. 06. 1710). Ak. PS. IV B 1668, 6–9, breiter ausgeführt in Grua II 553–555 (Double infinité chez Pascal et Monade). 1072 PG VI 628 (Schreiben an Masson, 1717, kurz vor dem Tod von Leibniz). 1073 PG IV 574 (Addition à l’explication du système nouveau (…) à l’occasion d’un livre intitulé Connaissance de soy meme). 1070 1071

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Leibniz

elementarere Identität fehlt. 1074 Wir sprechen zwar auch von Konfusion durch Unaufmerksamkeit, aber das liegt an einem Doppelsinn: Jemand ist unaufmerksam entweder deswegen, weil er Einzelnes in einem Vorrat von lauter Einzelnem übersieht, oder deswegen, weil sich ihm das numerische Mannigfaltige von lauter Einzelnem in chaotisches verwandelt, so dass ihm sozusagen der Leitfaden der Einzelheit zum Hindurchfinden durch das Gegebene abhanden kommt. Leibniz hat in seinem Begriffsapparat nur für die erste Bedeutung Platz und identifiziert sie mit der zweiten. Daraus ergibt sich in seinem Monadenverständnis eine widerspruchsvolle Überlastung der Perzeption. Diese muss sozusagen mit einem Schlage ihr Objekt distinkt und konfus vorstellen, distinkt, weil sie sonst nicht ihren Beitrag zur vollständigen Repräsentation des Universums leisten könnte, und konfus, weil sie sonst Perzeption Gottes wäre, der als Einziger solcher durchgängigen Distinktion des Vorstellens fähig ist. Ein nachträglicher Bearbeiter, der dem bei konfusen und distinkten Gedanken übereinstimmenden Stoff 1075 die Form der Verschwommenheit geben könnte, kommt ihr nicht zu Hilfe, und das bloße Unterlassen eines Beachtens kann die Bearbeitung nicht übernehmen. Der Widerspruch wäre vermeidbar, wenn die Monade ihre Informationen durch Stöße von außen empfinge und elastisch parierte. Dann könnte das distinkte Vorstellen ihre passive Seite sein, die ihr bloß von außen eingeprägte Information, während die aktive Elastizität, sich des Empfangenen zu bemächtigen und es anzueignen, der Distinktheit nicht gewachsen wäre und in konfuses Vorstellen ausliefe. Aber diesen Ausweg aus dem Widerspruch versperrt sich Leibniz durch die von ihm verordnete Abgeschlossenheit der Monade. Nur Gott hat transeunte, jede andere Substanz nur immanente Aktion. 1076 In der Monadologie drückt Leibniz das mit der berühmt gewordenen Metapher aus: Die Monaden haben keine Fenster. 1077

Vgl. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg i. Br. 2005, S. 51–61: Chaotische Mannigfaltigkeit. 1075 Ak. PS. IV B 1435, 6–9. 1076 Ak. PS. IV B 1458, 8 f. 1077 PG VI 607 (§ 7). 1074

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Das Kontinuum

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32.5 Das Kontinuum Dem Singularisten Leibniz, der alles in genau bestimmte Einzelheiten auflösen will, ist das Kontinuum suspekt, weil das Unbestimmte sein Wesen ist. 1078 Es ist nämlich von sich aus indifferent oder unbestimmt bezüglich der Frage, welche Einteilungen vorgenommen werden. 1079 »In der Realität gibt es nur diskrete Quantität, d. h. eine aus wahren Einheiten resultierende Vielheit; kontinuierliche Quantität, welche es nicht zum Schein, sondern exakt ist, gehört zu den Idealitäten und Möglichkeiten, weil sie etwas Unabgeschlossenes und Unbestimmtes in sich hat, das die wirkliche Natur nicht zulässt.« 1080 Es soll ja nichts Unbestimmtes, wie Teile von nicht feststehender Kleinheit, geben dürfen, sondern alles entweder keine Grenzen oder bestimmte haben.962 Alle Sachen, die in mehrere geteilt werden können, haben keinen wirklichen Bestand als in Gestalt der Endprodukte dieser Teilung; als Ansammlungen sind sie nur Gedankendinge oder, wie die spezifischen Sinnesqualitäten nach Demokrit, durch Konvention. 1081 Diesem Verdikt verfallen die Materie, die Bewegung, der Raum und die Zeit: Sie sind bloß geordneter und als Reflex des Seienden wohlbegründeter Schein wie der Regenbogen, die Spiegelbilder und die Nebensonnen. 1082 Nur zum Schein ist also die Materie ein Kontinuum; in Wirklichkeit ist sie diskret, d. h. aktual unendlich geteilt, während es sich bei Raum und Zeit um bloß ideale (gedankliche) Ordnungen von Möglichkeiten ohne Einteilungen, die nicht erst der Geist macht, handelt; auch die Veränderungen sind nicht wirklich kontinuierlich. 1083 Wie sehr aber auch Leibniz das Kontinuum loszuwerden sucht, so wenig kann er es entbehren, um von den zusammengesetzten Substanzen auf die einfachen schließen zu können: »Es muss einfache Substanzen geben, weil es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als ein Haufen oder Aggregat

PG VII 563 (an die Kurfürstin Sophie). PG II 336 (an des Bosses, 21. 07. 1707, mit dem Raum als Beispiel). 1080 PG II 282 (an de Volder, 19. 01. 1706, erster Entwurf). 1081 PG II 252 und 261 (an de Volder, 20. 06. 1703 und 21. 01. 1704). 1082 PG II 118 f. (an Arnauld, September 1687), 251 (an de Volder, Juni 1703) 262 (an de Volder, 21. 01. 1704), 281 (dgl., 19. 01. 1706, erster Entwurf), 390 (an des Bosses, 08. 09. 1709). 1083 PG II 278 f. (an de Volder, 11. 10. 1705). 1078 1079

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Leibniz

von einfachen.« 1084 Die bekannten Beispiele vom Volk, das aus Menschen, oder von der Truppe, die aus Soldaten besteht, tragen zum Erweis dieser These nichts bei, weil Soldaten und andere Menschen zunächst wieder durch kontinuierliche Körper gegeben sind. Also müssen die einfachen Substanzen dem Kontinuum durch Analyse abgewonnen werden. In der Tat konstatiert Leibniz eine »Analysis der Vielheit und der Phänomene in Einheiten und Realität«, aber nur, um gleich darauf hinzuzufügen: »Wenn man die Sache genau betrachtet, muss man sagen, dass nichts in den Dingen ist als die einfachen Substanzen und in ihnen nichts als Vorstellung und Appetit; die Materie und die Bewegung aber sind nicht sowohl Substanzen oder Sachen als Phänomene (Scheinbilder, H. S.), deren Realität in der Harmonie besteht, die die Wahrnehmenden mit sich selbst (zu verschiedenen Zeiten) und mit den übrigen Wahrnehmenden verbindet.« 1085 Das passt nicht zusammen: Durch Analyse von Illusionen kann man nicht die erzeugenden und fundierenden Realitäten entdecken, als ob diese in jenen darinsteckten, sondern dazu bedarf es kausaler Rückschlüsse. Wenn die einfachen Substanzen in den Kontinua enthalten sind, fehlt diesen keineswegs die Realität, sondern das Ideale ist dann bloß die Form der Zusammenfassung eines realen Gehaltes; wenn es sich aber um bloße Phänomene wie den Regenbogen, das Spiegelbild und die Nebensonnen handelt, ist das Kontinuum bloßes Resultat eines Zusammenwirkens erzeugender Substanzen, die ihm äußerlich bleiben. Leibniz schwankt zwischen beiden Auffassungen, wenn er schreibt, die Körper seien nicht Substanzen, sondern »immer bloß Ansammlungen oder Resultate der einfachen Substanzen oder veritablen Monaden.« 1086 In Wirklichkeit hat sich Leibniz von der Immanenz der einfachen Einheit in der kontinuierlichen Mannigfaltigkeit schon verabschiedet: »Streng genommen ist die Materie nicht aus einfachen Einheiten zusammengesetzt, sondern resultiert aus ihnen. (…) Die wahrhaft substantialen Einheiten sind nicht Teile, sondern Fundamente der Phänomene.« 1087 Die bei Leibniz häufige Rede vom Resultieren verwischt aber diese Distanzierung; denn man kann sie ja auch wie das Resultieren bei einer Additionsaufgabe verstehen, wo die Summanden in der Summe ent1084 1085 1086 1087

PG VI 607 (Monadologie § 2). PG II 270 (an de Volder, 30. Juni 1704). PG III 367 (an Lady Masham, 10. 07. 1705). PG II 268 (an de Volder, 30. 06. 1704).

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halten sind, wie in folgender Wendung: »Im Realen gibt es bloß diskrete Quantität, d. h. eine aus wahren Einheiten resultierende Vielheit.«1080 Die andere Bedeutung von »resultieren« als Erscheinen eines Trugbildes aus realer Quelle tritt im Abschiedsbrief an de Volder hervor, der sich von Leibniz über dessen Metaphysik brieflich belehren lassen wollte, aber verständnislos resignierte: »In jedem Vorstellenden ist aktive und passive Kraft (…); die Vorstellenden aber sind unendlich viele, nämlich so viele, wie es einfache Substanzen oder Monaden gibt. Deren in unseren Phänomenen ausgedrückte Ordnung macht die Begriffe der Zeit und des Raumes aus. Was aber aus den den Wahrnehmenden angetanen Ereignissen resultiert und den Phänomenen selbst den Umriss gibt, das macht insgesamt das Trugbild (Idol) der Masse oder der passiven Kraft der Körper.« 1088 Die Substanzen entfernen sich im sich entwickelnden Denken von Leibniz vom Raum als einem Kontinuum, das er anfangs als ihre Versammlung versteht, später als eine von ihnen ausgesandte Illusion, ein verschmiertes Trugbild, dessen Diffusion er einmal drastisch mit vergossener Milch vergleicht. 1089 In seiner Frühzeit dachte er die einfachen Substanzen mit dem bis zum Schluss1090 festgehaltenen Leitbild des menschlichen, vorstellenden (damals: denkenden) und strebenden (damals: in conatu befindlichen) Geistes als Punkte in den Raum hinein. 1091 Der Geist ist demnach »eine kleine in einem Punkt begriffene Welt«, 1092 eine Welt für sich wie später die Monade,1067 und auch das Motiv der unendlichfach iterierten Einschachtelung (32.1) scheint ihm schon vorzuschweben: Er spekuliert über Schichten der Unendlichkeit, nämlich unendlich kleine Größen, zu denen im Verhältnis wir unendlich groß wären, so wie der Winkel zwischen Kurve und Tangente im Verhältnis zu jedem im Bogenmaß angebbaren Winkel unendlich klein ist; 1093 demgemäß will er bewiesen haben, dass in den Punkten unseres Raumes, in denen die Geister untergebracht seien, abstandslos unendlichfach kleinere Punkte ent-

PG II 281 (19. 01. 1706). PG II 277 (an de Volder, ohne Datum, 1704/05). 1090 PG VI 608 f. (Monadologie § 14). 1091 PG I 52 f., 61, 72 f. (an Herzog Johann Friedrich, 21. 05. 1671 und an denselben, undatiert; an Arnauld, dgl.). 1092 Ebd. S. 61. 1093 Ak. PS. III 475; übertragen auf die Zeit führt das auf eine unendlich lange Zeit, die dennoch Zeit außer ihr hat (S. 481). 1088 1089

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Leibniz

halten seien. 1094 Diese Vorformen der später sogenannten Monaden dürften also ebenso wie diese ein überaus reiches »Innenleben« gehabt haben. Der alte Leibniz sieht auf diese nach seiner Meinung unreife Lokalisierung der Monaden in Punkten herab. 1095 Greifbar als Motiv des Wechsels ist in erster Linie ein logisch-mathematisches Missverständnis, das Leibniz als äußerst schwerwiegendes Problem empfand und nach dem Titel eines Buches von Fromondus, 1096 zu dessen Lektüre er sich schriftlich auffordert,1093 als (auswegloses) Labyrinth über die Zusammensetzung des Kontinuums (aus Punkten) bezeichnet. 1097 Wenn der kontinuierliche Raum nicht bloß ein geregeltes Scheinbild (Phänomen) wäre, sondern eine Substanz mit allen zugehörigen Teilen, darunter allen möglichen Punkten als wirklich existierenden, wäre das Labyrinth unentwirrbar. 1098 Worin die Schwierigkeit besteht, erfährt man aus dem 1776 verfassten sokratischen Dialog Pacidius Philalethei von Leibniz. 1099 Es handelt sich um Aporien nach Art der von Bolzano in dem nachgelassenen Büchlein Die Paradoxien des Unendlichen (Prag 1851) behandelten; die Verlegenheit beruht auf Verkennung der Möglichkeit und Notwendigkeit, dass eine unendliche Menge einer echten Teilmenge von ihr äquivalent ist (d. h. umkehrbar eindeutig zugeordnet werden kann). Man macht sich das ganz einfach am Beispiel konzentrischer Kreise klar, wo die Radien die umkehrbar eindeutige Zuordnung der kleineren Punktmengen der inneren Kreise auf die größeren der äußeren Kreise sinnfällig darstellen; das Beispiel von Leibniz betrifft Seite und Diagonale des Parallelogramms. Man hat darin früher eine Verletzung des unaufgebbaren Grundsatzes gesehen, dass das Ganze größer als ein Teil ist, während es sich bloß darum handelt, dass die Kardinalzahl nur für endliche Mengen ein genügend feines und für unendliche ein viel zu grobes Maß der Größe ist. Wie ernst Leibniz dieses Scheinproblem nimmt, zeigt sein 1679 geführter »Beweis« der Unmöglichkeit einer größten Zahl aller Einheiten und aller Zahlen aus dem vermeintlichen Widerspruch, dass die Menge aller Zahlen

PG I 72 (s. o. Anm. 1091). PG II 372 (an des Bosses, 24. 04. 1709). 1096 Libertus Fromandus, Labyrinthus de compositione continui, Antwerpen 1631. 1097 PG II 119 (an Arnauld, September 1687), 193 (an de Volder, 1699), 282 (dgl., 19. 01. 1706), IV 491 (Remarques sur les objections de M. Foucher, 1695); VII 467. 1098 PG III 612 (an Remond, 14. 03. 1714). 1099 Cout. 594–627, einschlägig S. 609–611; ähnlich Ak. PS. III 469 f. 1094 1095

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Das Kontinuum

der Menge aller geraden Zahlen äquivalent ist. 1100 Wohl aus diesem Grunde lässt er das aktual Unendliche nur distributiv, nicht kollektiv durch Zusammenfassung zu einem Ganzen oder einer unendlichen Menge, gelten. 1101 Einen Ausweg aus der Schwierigkeit wegen der Äquivalenz mit echten Teilmengen, die schon Duns Scotus zum Beweis dafür diente, dass die Linie nicht aus Punkten zusammengesetzt sei, 1102 findet Leibniz nur, indem er das Kontinuum aus der Realität entfernt und in die Schwebelage einer freilich zuverlässigen, insofern nicht täuschenden Vorspiegelung nach Art eines geordneten Traumes versetzt, während alle real existierenden Wesen diskret seien. 1103 Die diskrete Wirklichkeit, die Leibniz noch allein gelten lässt, zieht sich also von der stetig gleitenden Welt, in der wir uns als lebende Menschen finden, so sehr zurück, dass sie auch nicht mehr aus ihr gleichsam als der Bodensatz einer gründlich durchgeführten Analyse herauszuziehen ist. Die Seele als Musterbeispiel einer Monade hat für ihre Sicht auf die Welt nicht mehr einen Platz im Raum, wie das bekannte Gleichnis von den um eine Stadt herumgestellten Spiegeln für die perspektivische Abbildung des Alls in der Monade 1104 vermuten lassen könnte, sondern der Körper ist nur ihr Gesichtspunkt, von dem aus sie gegenwärtig das Universum vorstellt, 1105 nach Art eines geregelten Traumes, der ihr diese Perspektive anweist. Die Monadenwelt und die Welt in Raum und Zeit sind so weit aus einander gedriftet, dass Leibniz Spielraum für eine völlige Kehrtwendung hat, die die Monaden entbehrlich macht, nachdem die Brücke der Analyse vom Kontinuum zum Einfachen abgebrochen ist. Diese Alternative zur Monadenlehre hat er nicht publiziert, aber in der Korrespondenz mit dem Jesuiten des Bosses zwischen 1712 und 1716 als verbesserte peripatetische Philosophie 1106 skizziert. Der Anlass ist abstrus, nämlich ein Versuch von Leibniz, mit eigener Konstruktion die katholische Transsubstantiationslehre der vom zauberischen Priesterwort bewirkten Verwandlung von Brot und Wein in Christi Körper und Blut als realistisch zu erweisen. Zu diesem Zweck führt PG I 338 (Entwurf eines nicht abgegangenen Briefes, vermutlich an Malebranche). PG II 315 (Zettel, beiliegend einem Brief an des Bosses vom 01. 09. 1706); V 137 f. (Nouveaux essais sur l’entendement humain Buch II Kapitel 13 § 21). 1102 Lectura II d. 2 p. 2 q. 5–6 n. 358 (Opera omnia XVIII, Vatikanstadt 1982, S. 209 f.). 1103 PG VII 467 f. (an Tolomei, 17. 12. 1705). 1104 PG IV 434 (Discours de metaphysique, 1686, § 9), VI 616 (Monadologie § 57). 1105 PG III 357 (an Lady Masham, 31. 07. 1704); IV 483 (Système nouveau, 1695). 1106 PG II 511, 519 (29. 05. 1716). 1100 1101

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Leibniz

er das substantielle Band (vinculum substantiale) der zu einem lebendigen Körper gehörenden Monaden ein, das die aus Form und Materie im Sinn der Peripatetiker zusammengesetzte körperliche Substanz ist. 1107 Leibniz glaubt an dieses substantielle Band und drängt darauf, 1108 indem er, als Protestant katholischer als der Katholik des Bosses, diesem seine Transsubstantiationslehre schmackhaft zu machen sucht: bei der Wandlung vernichte Gott wunderbar das substantielle Band der Monaden des betreffenden Brotstückes, die davon nicht betroffen würden, und ersetze es durch das substantielle Band der Monaden des Körpers Christi; sein jesuitischer Korrespondent hält die Theorie dagegen, dass Gott bei dieser Gelegenheit die Monaden des Brotstückes vernichte und durch die Monaden des Christuskörpers ersetze, während ein von Gott substanzartig gemachter Modus oder ein entsprechendes Akzidens die fortbestehenden Broteigenschaften übernehme. 1109 Das substantielle Band macht den Monaden Konkurrenz: Es ist – wie Leibniz seine anfängliche Aufstellung korrigiert – wie sie unentstanden und unvergänglich, aber nicht essentiell oder metaphysisch an sie gebunden, so dass es, ohne dass ihnen etwas geschieht, von ihnen allmählich (im natürlichen Verlauf) oder plötzlich (mirakulös) getrennt und auch vernichtet werden kann. 1110 Von den Monaden unterscheidet es sich dadurch, dass es die Phänomene realisiert, während die Monaden auch sein könnten, wenn die Körper bloße Phänomene wären. 1111 Phänomene sind für Leibniz bloße Scheinbilder wie Regenbogen, Nebensonnen, Spiegelbilder und ein zusammenhängender Traum. 1112 Die Monaden haben keine räumliche Verbindung (commercium, nexus), nur Übereinstimmung (consentiunt) im Sinne der prästabilierten Harmonie; ohne substantielles Band sind sie ein bloßer, nur akzidentell (nicht per se) geeinter Haufen (aggregatum). 1113 Wenn man von ihnen alle eingebildeten räumlichen Verhältnisse des Abstandes und der Nachbarschaft abzieht, verschwinden die Schwierigkeiten mit den Punkten bezüglich der Zusammensetzung des Kontinuums, und auch nach Rehabilitation der körperlichen Substanz durch das Aufschließen zur 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113

PG II 435 f., 451, 474 (an des Bosses, 05. 02. 1712, 16. 06. 1712, 21. 01. 1713). PG II 511 (13. 01. 1716). Ebd. S. 459, 474 f., 505. Ebd. S. 481 f. (23. 08. 1713). Ebd. S. 475, 519 (24. 01. 1713, 29. 05. 1716). S. o. Anm. 1065 und 1082. PG II 444 (an des Bosses, 26. 05. 1712).

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Das Kontinuum

peripatetisch-scholastischen Lehre bleibt es dabei, dass sie nicht Bestandteile, sondern bloß erforderliche Voraussetzungen (requisita) der Materie sind. 1114 Für ihr bloß ideales, d. h. nur in der geistigen Vorstellung bestehendes Verhältnis zu einander bedarf es keines substantiellen Bandes, aber ohne dieses gibt es keine reale Kontinuität. 1115 Beide – Band und Monaden – können ohne einander existieren. 1116 Mit dem neuen Lehrstück vom substantiellen Band stößt Leibniz seine in den vorangegangenen Jahrzehnten stetig ausgeformte und in den Briefen an de Volder auf die Spitze getriebene idealistischspiritualistische Metaphysik um. Nach dieser sind die Körper und das Kontinuum bloße Scheinbilder, vorgespiegelt von den allein wirklichen, in diskreter Ordnung gegen einander abgeschotteten, wenn auch in der gesetzlichen Ordnung ihrer Vorstellungen auf einander abgestimmten einfachen Substanzen. Mit dem Übergang zu einem scholastisch peripatetisierenden realistischen Denken am Leitfaden des substantiellen Bandes lässt sich die Zweideutigkeit von Immanenz und Transzendenz der Substanzen im Verhältnis zur Erscheinungswelt – Immanenz als Erfordernis des Zugangs zu den Substanzen durch Zerlegung, Transzendenz wegen der Unmöglichkeit einer Zusammensetzung des Ganzen aus den Resultaten der Zerlegung 1117 – entzerren, aber das Opfer ist groß: Ein Haupttopos der Metaphysik von Leibniz besagt, dass jede Monade das ganze Universum ausdrückt. Das kann nicht mehr gelten, wenn es dabei bleibt, dass die substantiellen Bänder durch ihr Vorkommen nichts an den Vorstellungen der Monaden ändern 1118 und ihr Verschwinden diesen nichts antut. 1119 Wenn das Kontinuum als real anerkannt wird, wird ein Mannigfaltigkeitstyp zugelassen, von dem aus man nicht mehr auf das Einfache als notwendige Voraussetzung einer Mannigfaltigkeit Ebd. S. 450 f. (16. 06. 1712). Ebd. S. 517 (29. 05. 1716). 1116 S. 516 (ebd.). 1117 Aus den zuletzt (Anm. 1114 und 1115) referierten Texten geht besonders deutlich hervor, dass das Scheinproblem der Äquivalenz unendlicher Punktmengen mit echten Teilmengen – das sogenannte Labyrinth der Zusammensetzung des Kontinuums – der entscheidende Grund für die Rechtfertigung der Verbannung des Kontinuierlichen aus der Realität war, auch wenn solche Verbannung ohnehin das unersättliche Zerlegungsbedürfnis von Leibniz befriedigte. 1118 Wie Anm. 1115: »Quod vero additur monadibus ut phaenomena realizentur, non est modificatio monadum, quia nihil in earum perceptionibus mutat.«. 1119 PG II 474, 482, 516. 1114 1115

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Leibniz

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stiftenden Zusammensetzung schließen kann; davon hängt aber die Einführung der Monaden ab. Zwar hat sich Leibniz einen weiteren Zugang zu ihnen durch die Ich-Erfahrung geöffnet, 1120 aber dessen Verallgemeinerung gelingt ihm nur durch den Handstreich der Behauptung, auch die anderen Sachen hätten ein Recht, »ich« zu sagen. 1121 Der Ausflug in die Scholastik mit Einführung des substantiellen Bandes der Monaden bleibt bei Leibniz eine Episode seiner Diskussion mit einem katholischen Scholastiker, vielleicht mitbedingt durch die Enttäuschung an de Volder.

PG IV 473 (Système nouveau), 559 (Reponse aux reflexiones (…) de M. Bayle (…) sur le système de l’Harmonie preétablie). 1121 PG VI 488, 493 (Sur ce qui passe les sens et la matière). 1120

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33. Locke

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33.1 Die Wende Das Erscheinen von Lockes Essay on Human Understanding 1122 (1690) markiert einen Wendepunkt in der Geschichte philosophischer Selbstbesinnung. Auch die früheren Philosophen haben in ihren Entwürfen die Gebrechlichkeit und Beschränkung des menschlichen Erkennens mitbedacht, aber vom Ganzen des Entwurfs her, der geradezu der Welt übergeworfen wurde, als einen Ausschnitt aus der »Stellung des Menschen im Kosmos« (Max Scheler), also ohne den Vorblick auf das Ganze von vornherein durch den kritischen Rückblick auf das eigene Vermögen zum Doppelblick auszubilden. Bezeichnend ist für diese Haltung die Bemerkung des Aristoteles über Xenophanes, übrigens den ersten Denker, von dem wir eine skeptische erkenntnistheoretische Selbstkritik kennen (5.5): »Auf den ganzen Himmel blickend, sagt er, das Eine sei der Gott.« 1123 Auf den ganzen Himmel kann man nicht blicken, man müsste denn Periskopaugen haben. Locke ist der erste Denker, der systematisch die Reflexion auf die Beschränktheit der Perspektive menschlichen Erkennens zum zentralen Thema seines Philosophierens macht und zu konkretisieren sucht, indem er die Quellen, aus denen der menschliche Erkenntnisanspruch schöpft und auf die er zur Rechtfertigung sich berufen kann, hinsichtlich ihrer Art und Leistungsfähigkeit gründlich zu mustern unternimmt. Das Originelle dieser Tat ergibt sich aus der bekannten Geschichte, die er im Vorwort (Epistle to the Reader) von der Anregung zu seinem Unternehmen erzählt: »Fünf oder sechs Ich zitiere das Werk nach Buch-, Kapitel- und Paragraphenziffer, so dass z. B. »I 1, 1« bedeutet: Buch 1, Kapitel 1, § 1. Ich benütze die deutsche Übersetzung von Carl Winkler (2 Bände, Neuausgabe Berlin 1962/1969, Hamburg bei Meiner) mit Vergleich des Originaltextes in der Ausgabe von Roger Woodhouse, London (Penguin Books) 1997. 1123 Metaphysik 986b 24 f. 1122

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Locke

Freunde trafen sich in meiner Wohnung und erörterten ein von dem gegenwärtigen sehr weit abliegendes Thema; hierbei gelangten sie bald durch Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten erhoben, an einen toten Punkt. Nachdem wir uns so eine Zeit lang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns quälenden Zweifel irgendwie näherzukommen, kam mir der Gedanke, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müssten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei. Ich setzte das der Gesellschaft auseinander, und alle stimmten mir bereitwillig zu, worauf wir vereinbarten, dass dieser Frage unsere erste Untersuchung gelten sollte. Einige flüchtige, unausgereifte Gedanken über einen mir bis dahin ganz fremden Gegenstand, die ich im Hinblick auf unsere nächste Zusammenkunft zu Papier brachte, gaben den ersten Anstoß zu dieser Abhandlung.« Aus dem Keim dieser Fragestellung entfaltet Locke ein mustergültig durchdachtes und übersichtlich geordnetes System kritischer Rechenschaft von der Tragfähigkeit der mit dem philosophischen Wortgebrauch erhobenen Ansprüche nach Maßgabe der Erfahrungen, die diesem Gebrauch zugrunde liegen, und ihrer intellektuellen Verarbeitung. Seine Gewissenhaftigkeit gegen verbale Leichtfertigkeit 1124 ist vorbildlich, verglichen etwa mit der nebelhaften Berufung auf ein natürliches Licht, die Descartes alles liefert, was er zu den waghalsigsten Konstruktionen gerade braucht. Auf der anderen Seite ist Locke aber so weit entfernt von radikaler und damit revolutionärer Selbstbesinnung, dass er die fundamentalen Vorurteile der im baconischen Zeitalter (28) zur Weltbemächtigung drängenden philosophischen Überlieferung – die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung (28) und den Singularismus von Wilhelm von Ockham, Hobbes, Leibniz u. a. – als vermeintliche Selbstverständlichkeiten, die jeder Vernünftige zugeben müsse, fortschleppt und potenziert, ohne auch nur die Widersprüche zu beachten, in die sich solche Verflechtung überfliegender Dogmatik mit common sense verstrickt. Die Naivität dieser Legierung könnte man unverschämt nennen, wenn sie bei Locke nicht so liebenswürdig wäre.

»Ich suche mich so weit wie möglich von den Täuschungen frei zu machen, in die wir uns selbst zu versetzen geneigt sind, indem wir die Wörter für die Dinge nehmen.« (II 13, 18).

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Locke und Descartes

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33.2 Locke und Descartes Der eben zitierte Bericht Lockes über den Ursprung seines erkenntniskritischen Bemühens dürfte nicht ganz zuverlässig sein. Das Gespräch, auf das er sich bezieht, fand im Winter 1673 statt und befasste sich mit den Prinzipien der Moral und Religion; 1125 Locke hat aber schon kurz nach 1660 gegen Descartes die angeborenen Erkenntnisse in Zweifel gezogen und damit dem 1. Buch des Essay das Stichwort gegeben, so dass »die für sein ganzes Werk entscheidende erkenntniskritische Wende (…) als Ergebnis seiner Beschäftigung mit Descartes und Problemen der Erkenntnistheorie und Moralphilosophie« 1126 aufzufassen ist. Die wirksamste philosophische Leistung von Descartes war die Ergänzung des im Interesse naturwissenschaftlich-technischer Weltbemächtigung einseitigen Reduktionismus von Bacon und Hobbes durch seinen psychosomatischen Dualismus zur vollständigen psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung, wodurch die Interessen der Subjektivität berücksichtigt werden konnten, ohne jenem Reduktionismus für die physische Außenwelt Abbruch zu tun (30.1). Das wichtigste Hilfsmittel zur psychologistischen Abschließung des individuellen Erlebens in einer privaten Seele ist bei Descartes die Lehre von den Ideen, die Locke übernimmt und zum Hauptthema seiner Untersuchung macht. Während Descartes in etwas gewundener Formulierung die Idee als die Form ausgibt, durch deren unmittelbare Wahrnehmung ich mir eines Gedankens bewusst bin,798 also die Ideen nicht geradezu als die Gegenstände, sondern vielleicht eher als vermittelnde Begleiter des Denkens im weiten Sinne des Bewussthabens ausgibt, macht Locke aus ihnen das, was man denkt und gewahrt: »Was der Geist in sich selbst gewahrt, das unmittelbare Objekt des Gewahrens, Denkens oder Verstehens, nenne ich Idee.« (II 8, 8) Womit sich der Geist beim Denken befasst, sind die in ihm vorhandenen Ideen (II 1, 1). Er hat kein unmittelbares Objekt außer seinen Ideen; nur sie kann er betrachten, nur mit ihnen hat unsere Erkenntnis zu tun (IV 1, 1). Unser gesamtes Wissen besteht darin, dass Nach dem Bericht des Teilnehmers James Tyrrell, angeführt bei Woodhouse (s. Anm. 1122) S. 750. 1126 Reinhard Brandt: John Locke, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Überweg, völlig neubearbeitete Ausgabe, Die Philosophie des 17. Jahrhunderts Band 3 Buch 2, Basel 1988, S. 607–713, hier S. 624 mit S. 644 f. und S. 611. 1125

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Locke

der Geist seine eigenen Ideen betrachtet (IV 2, 1). Mit Descartes teilt Locke das von mir sogenannte Innenweltdogma, wonach dem Bewussthaber eine Sache seiner Außenwelt nur zu Bewusstsein kommen kann, wenn sie in seiner Innenwelt mindestens einen Vertreter hat; der ist für beide die jeweils zuständige Idee. 1127 Dieses Innenweltdogma ist nicht so stark wie das auf ihm aufbauende Immanenzdogma, wonach der Bewussthaber aus seiner abgeschlossenen Innenwelt keinen Zugang mehr nach draußen hat. Descartes wird davor durch die Mittlerrolle Gottes bewahrt, durch sein Gottvertrauen, das ihm die Zuversicht gibt, sich über die Außenwelt nicht zu täuschen, wenn er die in Gestalt seiner Ideen ihm vorliegenden Informationen nur verständig prüft, weil Gott zu vollkommen dafür sei, um ein täuschendes Spiel mit ihm zu treiben. Für Locke rückt dagegen das Immanenzdogma in nächste Nähe. Er vergleicht den Geist mit einem dunklen Kabinett, in das nur durch schmale Schlitze von außen etwas Licht hineinfällt, in Gestalt von Ideen der Dinge draußen (II 11, 17). Aber woher kann er von diesem Einfall und dessen Sendern wissen, wenn er nur mit seinen Ideen in diesem Kabinett erkennend zu tun hat? Zur Begründung seines Glaubens an die Realität der Außenwelt verwendet Locke in dem entsprechenden Kapitel des Essay (IV 11) lauter Argumente, die nur für einen naiven Realisten sinnvoll sind, ohne zu bedenken, dass er sich durch seine Ideenlehre (mit den Ideen als einzigen unmittelbaren Objekten) den naiven Realismus verboten hat. Mit Descartes stimmt Locke in der Introjektion der spezifischen Sinnesqualitäten (Farben, Geräusche, Wärmen usw.) überein, indem er sie als Resultate physikalisch-physiologischer Prozesse mit Übergabe im Gehirn, wo Reize zu Ideen würden (II 8, 12), verinnerlicht; in der Außenwelt bleiben dann nur die unspezifischen, von Locke als primär ausgezeichneten Qualitäten, zu deren von Aristoteles 1128 überlieferter Liste er, merkwürdig genug, die Undurchdringlichkeit (solidity) hinzufügt, gewiss keine empirisch prüfbare Eigenschaft. Während sich aber Descartes alle Mühe gab, die Abgrenzung der in der physischen Außenwelt nach Introjektion verbleibenden EigenZu Descartes s. o. Anm. 799–802, für Locke I 32, 25 (Der Mensch kann von einem Ding außer ihm einen Begriff nur durch die Idee erhalten, die er davon in seinem Geist hat), IV 4, 3 (»Es ist offensichtlich, dass der Geist die Dinge nicht unmittelbar, sondern nur über die Ideen betrachtet, die er von ihnen besitzt.«). 1128 De anima 418a 17 f.; bei Locke z. B. II 8, 9 und II 8, 23. 1127

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Locke und Platon

schaften zu begründen, geht Locke ganz naiv von einem Alltagsbegriff des festen Körpers aus und vindiziert diesem als unerlässlichen Bestand die geometrischen Merkmale einschließlich der solidity als primäre Qualitäten. Woher er wissen will, dass sich in der Außenwelt gerade solche Körper befinden, bleibt schleierhaft, wenn man sich nicht auf den Standpunkt des naiven Realismus stellt, den Locke sich durch seine Ideenlehre verbietet, auf den er aber auch bedenkenlos zurückfällt – so sehr, dass er unter den Gründen für die Realität der Außenwelt auch die Gewissheit anführt, die durch die fürchterliche Erfahrung der die Hand verletzenden Feuersglut geschaffen werde (IV 11, 8), womit ja eigentlich die Wärme aus der Innerlichkeit befreit und den primären Qualitäten zurückgegeben wird. Die Gründe für die Introjektion der spezifischen Sinnesqualitäten sind fadenscheinig und könnten ebenso auf die geometrischen Eigenschaften angewendet werden, z. B. wegen der Veränderung von Größe und Gestalt bei Annäherung und Entfernung.

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33.3 Locke und Platon Die Ideenlehren von Platon und Locke, so verschieden sie sonst auch sind, haben einen gemeinsamen, paradoxen Zug, der bei Platon alle (stets allgemeinen) Ideen betrifft, bei Locke die abstrakten oder allgemeinen Ideen, die Universalien: die Selbstanwendung, der gemäß die Idee selbst das ist, wovon sie Idee ist. Diese der platonischen Ideenlehre in Gestalt des Regressargumentes (11.2.3) verhängnisvolle Besonderheit geht bei Platon auf ein additiv-elementaristisches Denken zurück, das alle oder wenigstens ausgezeichnete Bestimmungen irgendwelcher Sachen zu idealen Aspekten oder Anblicken (»Ideen«) hochstilisiert, die in reiner Form das sind, was den Sinnendingen in verschwommener und getrübter Weise als Bestimmtheit durch sie (Teilnahme an ihnen) zuteil wird (11.8.1). Locke versteift sich auf die Selbstanwendung der allgemeinen Ideen, »die Schwierigkeit mit sich bringen und sich nicht so leicht anbieten, wie wir uns leicht einbilden. Zum Beispiel: Erfordert es nicht einige Mühe und Geschicklichkeit, die allgemeine Idee eines Dreiecks – keine der abstraktesten, kompliziertesten und schwierigsten – zu bilden, denn es darf weder recht- noch schiefwinklig, weder gleichseitig, noch gleichschenklig noch ungleichseitig und -winklig sein, sondern muss alle und keine von diesen Eigenschaften haben.« (IV 7, 9) Diese offenbar widersin301

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Locke

nige Konstruktion eines allgemeinen Dreiecks ist durch den rasch folgenden Spott Berkeleys, dem später Husserls Ereiferung folgte, berühmt geworden. Hinter dem Unsinn, die Gattung Dreieck in der Weise der ärgsten Begriffsrealisten selbst als Dreieck mit unvermeidlich unverträglichen Eigenschaften auszugeben, steckt die Methode einer konsequenten Weiterbildung des Singularismus. Dieser, wie ich ihn schon mehrfach bestimmt habe, ist die These, dass alles ohne weiteres einzeln ist. Sie besteht aus zwei Teilthesen. Die erste besagt, dass alles einzeln oder numerisch Eines ist, d. h. fähig, eine Anzahl um 1 zu vergrößern (Element einer endlichen Menge zu sein). Sie ist der Scholastik von Anfang an auf den Leib geschrieben und bricht bei Wilhelm von Ockham mit revolutionärer Aggressivität durch (24.1). Bezeichnend ist die Unschärfe des verwendeten Einheitsgedankens, wobei die numerische Einheit im Anschluss an Aristoteles mit der synthetischen oder auch – besonders bei Leibniz 1129 – der einfachen Einheit verwechselt wird (s. die Überleitung), so auch von Locke: »Wie dem Geist von allen Ideen, die wir haben, keine auf mehr Wegen zugeführt wird als die der Einheit oder der Eins, so ist auch keine einfacher. Sie enthält nicht die geringste Spur von Mannigfaltigkeit oder Zusammensetzung; jedes Objekt, das unsere Sinne beschäftigt, jede Idee unseres Verstandes, jeder Gedanke unseres Geistes bringt diese Idee mit sich.« (II 16, 1) Die zweite Teilthese besagt, dass die Einzelheit sich von selbst versteht, insbesondere nicht abhängt von einer Bedeutung oder Bestimmung, die es möglich macht, etwas als etwas zu bestimmen. Beide Teilthesen sind falsch (29.1). Die zweite wird aber nicht so unbedenklich wie die erste als gängige Münze weitergegeben. Duns Scotus versucht in geradezu paradoxer Weise, den Singularismus mit der Waffe des Elementarismus – der These, dass alle Bestimmungen einzeln sind – abzuwenden: in der Essenz einer Sache seien die einzelnen Bestimmungen oder Bedeutungen (Perfektionen, Realitäten, Naturen) real von einander verschieden, mit der sie unitiv enthaltenden Essenz aber identisch;354 diese werde erst durch eine hinzukommende letzte Individualdifferenz eine einzelne Sache (23.4). Descartes und Spinoza bewahren den Abstand von Sache und Bestimmung der Sache als etwas in der scharfen Unterscheidung von Substanz und Attribut. Descartes äußert im Gespräch mit Burman am 16. 04. 1648: »Außer dem Attribut, das die Substanz be1129

drastisch im Brief an Arnauld vom April 1687, GP (s. o. Anm. 943) II 97.

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Locke und Platon

deutet, muss obendrein die Substanz selbst aufgefasst werden, die diesem Attribut unterbreitet ist; so gibt es, wenn der Geist eine denkende Sache ist, außer dem Denken noch die Substanz, die denkt.« 1130 Für Locke beruht die Substanzidee nur auf einem Missverständnis, nämlich der Unaufmerksamkeit (inadvertency), die den Geist dazu verführt, an die Stelle einer Komplexion vieler zu einer Sache verbundener Ideen eine einfache Idee als vermeintlichen Träger zu setzen (II 23, 1). Die Weiterbildung der cartesischen Ideenlehre gestattet Locke eine folgenreiche Vervollständigung des Singularismus: Er nivelliert das Gefälle zwischen den Sachen und den Bestimmungen, wodurch sie als Fälle von etwas bestimmt und dadurch zur Einzelheit befähigt werden. Die Locke’sche Idee ist auf der einen Seite selbst eine solche Bestimmung als Idee von etwas, die einer Sache eine Bestimmtheit einträgt, vgl. z. B. II 21, 1: Jede Veränderung in einem Ding, jede Einwirkung auf es können wir nur durch die entsprechende Veränderung seiner Ideen feststellen, die Veränderung selbst nur als einen Wechsel bestimmter Ideen. Andererseits rücken die Ideen in die Rolle der Sachen selbst ein, mit denen der Geist sich beschäftigt, denn er hat dafür nichts als diese seine unmittelbaren Objekte. So werden die Bestimmungen von Sachen als etwas selbst zu den so oder so bestimmten Sachen. Diese Verwischung einer vor Locke noch spürbaren Differenz schlägt sich in seiner Abstraktionstheorie nieder: Allgemeine Ideen werden durch bloßes isolierendes Abschälen aus einem Verband von Ideen gewonnen, die sämtlich einzeln sind; das ist Locke ganz selbstverständlich (II 11, 9; III 3, 7–9). Alle unsere komplexen Ideen können in einfache aufgelöst werden, aus denen sie zusammengesetzt und ursprünglich gebildet sind (II 22, 9). Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit führt selbstverständlich zu der Absurdität des allgemeinen Dreiecks als eines nackten Dreiecks, das bloß noch Dreieck ist, abgeschält von allem, was unvermeidlich zu einem Dreieck gehört, z. B. gleiche oder ungleiche Seiten zu haben. An Locke rächt sich hier das Verwischen des Gefälles zwischen der so oder so bestimmten Sache und ihrer Bestimmung als etwas, z. B. als Fall der Gattung Dreieck, die, wie Lockes Landsmann John Wyclif (21.4) erkannte, kein Dreieck ist, sondern ein Sachverhalt, in meiner Version: der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass es mindestens ein Dreieck gibt (ohne Rücksicht darauf, ob es wirklich 1130

Œuvres ed. Adam et Tannery Band V, 1903, S. 156.

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Locke

ein solches gibt, s. o. 21.1). Lockes Universalientheorie, so naiv und unzulänglich sie auch ist, setzt ebenso wie seine Erkenntniskritik einen Wendepunkt in der Geschichte des modernen Denkens, hin zur Selbstgenügsamkeit des Singularismus: An die Stelle der Bestimmung des Einzelnen durch eine Bedeutung als etwas – wobei Sachverhalte, Programme und Probleme, jedenfalls aber Sachverhalte, als Bedeutungen in Betracht kommen – tritt die Position des Einzelnen in einem Netzwerk, einer irgendwie geordneten Zusammenfassung, wie es sich schon in der (von Duns Scotus, s. o. 23.3, bekämpften) Quantifizierung (22.1) und Skalierung (22.3) der Bestimmtheit durch Thomas von Aquino abzeichnet und dann von Leibniz in modernerer mathematischer Orientierung durchdacht wird. An die Stelle eines primär subsumierenden, auf das Eigentümliche von Gattungen und Arten bedachten Denkens tritt ein kombinatorisches, das beliebigen Elementen ihren Platz in einem vernetzten System anweist. Auf diese Weise verschwindet der Unterschied zwischen dem Singularismus, für den alles ohne weiteres einzeln ist, und dem Elementarismus, der solche durchgängige Einzelheit nur für die Bestimmungen annimmt, wodurch etwas als Fall von etwas bestimmt werden kann. An dieser Stelle ist es lehrreich, nochmals einen Blick auf Platon zu werfen. Platon ist Elementarist (11.8), aber keineswegs Singularist. Im Philebos (14c–15c) verfährt er sehr wählerisch mit der Vergabe der numerischen Einheit: Bei Sinnendingen, z. B. einzelnen Menschen, ist es bloß lächerlich, danach zu fragen, ob sie jeweils eine Sache oder viele Sachen sind; ernstlich taucht die Einheit, aber als Problem, erst angesichts der weder werdenden noch vergehenden idealen Bestimmungen auf, und da gilt es, zu untersuchen, ob es solche Einheiten (z. B. den Menschen, das Rind, das Schöne und das Gute) gibt, die diesen Titel wirklich verdienen, weiter, wie sie sich trotz ihrer jeweils spröden Einheit zu einem Ganzen zusammenfinden können, und schließlich, wie diese Einheit sich im Vielen der Einzelfälle behauptet, ob sie zerstreut wird oder gar, was das Allerunmöglichste wäre, als dieselbe zugleich in Einem und in Vielem ist (etwa so, wie der christliche Gott als derselbe die von einander verschiedenen drei göttlichen Personen ist). 1131 Weil Platon so vorsichtig

Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band II: Platon und Aristoteles, Bonn 1985, S. 188 f. (zu 15b 1 f.), 214–226.

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und bedenklich mit der Vergabe des Ranges numerischer Einheit ist, legt er im Folgenden (Philebos 16d.e) größten Wert darauf, in jedem Feld der Untersuchung die genaue Zahl idealer Bestimmungen zu ermitteln, ehe man das Ganze, das Eines und numerisch Vieles und zahllos Unendliches ist, ins Unendliche der Fälle, wo es sich nicht mehr lohnt, Einheit und Vielheit zu unterscheiden, fahren lässt. Erst Aristoteles hat das numerisch Eine durch seine These der gleichmäßigen Erstreckung des Einen und des Seienden trivialisiert, übrigens auch den Begriff des numerisch Einen verdunkelt, indem er es auf die Sachen beschränkte, die als Individuen keine Fälle mehr unter sich haben; nur gelegentlich haben Scholastiker wie Walter Burley180 aus diesem verengten Begriff des numerisch Einen den allgemeineren und grundlegenden herausgeholt. An Aristoteles schließt die Scholastik an; mit ihrem Axiom »ens et unum convertuntur«440 ist der Singularismus etabliert, wenn auch nicht schon explizit und deutlich (wie bei Wilhelm von Ockham) herausgearbeitet. Elitär ist die Vergabe des Einen in Stufen auf dem Wege zum schlaffen Zerlaufen in das zahllos Unendliche des Philebos bei den Neuplatonikern (15.2), sofern sie nicht wie Damaskios (17) das Eine im Vielen zu einem Problem erheben, dem das Denken nicht gewachsen ist; daraus ergibt sich eine Erweiterung des Verständnisses für Mannigfaltigkeit, die über den Typus des numerisch Einen und Vielen hinausgeht und noch bei Duns Scotus (23.2) aktuell ist, in der Neuzeit aber mit fortschreitender Durchsetzung des Singularismus – wie, auf hohem Niveau, bei Leibniz – schwindet und durch Lockes Einebnung des Unterschiedes zwischen Bestimmungen und bestimmten Sachen unter dem Titel der Ideen erst recht aus dem Blick gerückt wird. Locke hat also durch seine Ideenlehre der Herrschaft des Singularismus über die Geister eine neue Bahn gebrochen. Er ist ein strammer Singularist, der sich das Denkbare gar nicht anders als so vorstellen kann, dass sich von vornherein einzelne Ideen zu Verbänden zusammenfinden. »All things are only particulars.« (III 3, 6) Zuerst lassen die Sinne partikuläre Ideen in das Kabinett des Geistes ein. Diese werden im Gedächtnis gespeichert und mit Namen versehen. Später abstrahiert sie der Geist und erlernt allmählich den Gebrauch allgemeiner Namen. (I 1, 15) Aristoteles war klüger, indem er annähernd einsah, dass die geistige Orientierung der Menschen von der Kinderstufe an analytisch fortschreitet, indem aus Situationen (21.1, 29.1) mit binnendiffuser Bedeutsamkeit das Einzelne erst in Stufen durch Explikation von Bedeutungen mit abnehmender Allgemein305

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Locke

heit herausgeholt wird. 1132 Der Fehler von Lockes Polemik gegen angeborene Ideen im 1. Buch des Essay besteht darin, dass er diese Vorgeschichte des Einzelnhabens, die Leistung der Explikation aus binnendiffuser Bedeutsamkeit von Situationen, übersieht. Ein Beispiel ist die Identität. Um die Nachträglichkeit des Erwerbs dieser Idee zu erweisen, stellt er folgende rhetorische Fragen: »Hat ein Kind eine Idee von Unmöglichkeit oder Identität, bevor es eine solche von weiß oder schwarz, süß oder bitter besitzt? Beruht es auf der Kenntnis dieses Prinzips, dass es schließt, dass eine mit Wermut bestrichene Brust einen anderen Geschmack hat, als das Kind ihn dort zu finden gewohnt war?« (I 3, 3). Er denkt also nur an explizites Verständnis für Identität als einzelne Idee und merkt nicht, dass der Prototyp der Identität an der Wurzel des vitalen Antriebes, der Achse leiblich spürbarer Dynamik, die Enge des Leibes ist, die im plötzlich engenden affektiven Betroffensein, z. B. im Schreck, als Exposition primitiver Gegenwart im Zerreißen der gleitenden Dauer erfahren wird. 1133 Mit Identität ist das Kind, ja auch das Tier und wohl schon der Embryo, längst vertraut, ehe Einzelheit entdeckt wird, aber erst danach nimmt sie Gestalt einer reflexiven Beziehung einzelner Sachen zu sich selbst an, und erst dann kann man ein – von Locke ganz unangemessen formuliertes 1134 – Identitätsprinzip aufstellen, das mit gehöriger Vorsicht so ausgedrückt werden müsste: »Wenn etwas mit irgendetwas identisch ist (was längst nicht immer der Fall ist), dann ist es jedenfalls mit sich selbst identisch.« Einzelnes wird erst gewonnen, wenn die Verbindung von Identität mit Bestimmtheit als Fall von etwas durch Explikation einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen gelingt, und zur Stabilisierung dieses Ertrags ist satzförmige Rede nötig. Die Grundfunktion, die menschliche Rede vor der tierischen auszeichnet, ist demgemäß die explikative des Herausholens einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme aus Situationen. Davon Physik 184a 23–b 14. Über Identität, primitive Gegenwart und leibliche Dynamik habe ich seit 1964 immer wieder geschrieben und empfehle dafür die Sachregister meiner Bücher; jetzt nenne ich nur: für Identität: Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 21, 41–43, 50; für primitive Gegenwart: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 27– 32. 1134 Er schreibt »Was ist, das ist«, aber das hat mit Identität nichts zu tun, sondern ist eine Spezialisierung des Satzes, dass jede Satzform oder Satzfunktion sich selbst zur logischen Folge hat. 1132 1133

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Locke und Platon

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kann Locke angesichts der singularistischen Beschränkung seines geistigen Horizontes nichts wissen, und demgemäß reduziert er die Funktion der Wörter darauf, unsere Gedanken aufzuzeichnen und anderen mitzuteilen (III 9, 1). Die Moral ist für ihn grundsätzlich ebenso beweisbar wie die Mathematik, weil die Menschen ihre moralischen Ideen selbst zusammensetzen (III 11, 16). Demgemäß ist die Definition der einzige Weg, auf dem sich die genaue Bedeutung der moralischen Wörter feststellen lässt (III 11, 17). Auf diese Weise verbündet sich Locke noch einmal mit Platon, der in seinen Frühdialogen den Sokrates vorschickt, um die Könner ganzheitlicher Kompetenzen für die binnendiffuse Bedeutsamkeit zuständlicher Situationen (z. B., im Fall des Laches, für die Tapferkeit im Kampf) ratlos zu machen durch die dieser Kompetenz unangemessene Forderung, diese Bedeutsamkeit durch Definition in eine Konstellation einzelner Faktoren zu zerlegen, so ganz grundsätzlich in der Auseinandersetzung mit Protagoras (10.3).

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34. Hume

34.1 Humes Rache an Locke

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Hume 1135 ist hier wichtig als skeptischer Erkenntnistheoretiker, dessen Leitfaden das zersetzende Ausspielen der Zweideutigkeit und Nachlässigkeit Lockes gegen diesen in zwei Hinsichten ist: bezüglich des Immanenzdogmas und bezüglich der Relationen. Das Immanenzdogma, demgemäß der Geist nur mit den ihm innewohnenden Ideen zu tun hat und nie über diesen engen Horizont hinauskommt, wird bei Locke inkonsequent von einem naiven Realismus durchkreuzt, der mit einer dem Bewusstsein äußerlichen, empirisch zugänglichen Körperwelt rechnet (33.2). Diese Inkonsequenz verfolgt Hume durch Radikalisierung des Immanenzdogmas: Dem Geist ist nichts gegenwärtig außer seinen Perzeptionen. 1136 Alles, was sich ihm darstellt, besteht in kurzfristigen, in der Dauer unterbrochenen, von ihm abhängigen Perzeptionen; 1137 wir können nie etwas anderes vorstellen, daher müssen wir ihnen alles ähnlich machen, und man kommt auf diese Weise nie über sich selbst hinaus, mag auch die Ich zitiere den Treatise of Human Nature nach der Ausgabe von Selby-Bigge, Oxford 1888, reprinted u. a. 1951, anhand der Übersetzung von Theodor Lipps, die durch feinfühlige Präzisierung der nachlässigen Ausdrucksweise Humes in gewissem Sinn den Vorzug vor dem Original verdient (1904 für Buch I, 1909 für Buch II und III; Nachdruck in einem Band mit zwei Seitenzählungen Hamburg 1973). Der Seitenzahl der englischen Ausgabe folgt nach Schrägstrich die der deutschen, für Buch I On the understanding ohne vorgesetzte lateinische Ziffer, für die wenigen Zitate aus den folgenden Büchern mit vorgesetztem »II« zur Anzeige der zweiten Seitenzählung 1973. Außerdem ziehe ich Enquiry concerning human understanding gemäß der englischen Ausgabe in: David Hume, The Philosophical Works ed. by Green and Grose Band IV (London 1882, Nachdruck Aalen 1964), und der deutschen Übersetzung von R. Richter (Nachdruck Hamburg 1973) heran; im Zitat folgt nach »E« die Seitenzahl der englischen und dann nach Schrägstrich der deutschen Ausgabe. 1136 67/91; 197/263; 212/280. 1137 193/258. 1135

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Humes Rache an Locke

Einbildungskraft bis zum Himmel oder an die äußersten Grenzen des Weltalls vordringen. 1138 Diese Verengung des Horizontes nützt Hume, um den alltäglichen Glauben an beharrliche, auch ohne ständige Beobachtung fortwährende Gegenstände in der Außenwelt als Illusion zu denunzieren. 1139 Viel einschneidender und wirksamer ist Humes Demontage des Locke’schen Systems bezüglich der Relationen. Dieses System funktioniert nur durch Voraussetzung realer Kausalbeziehungen, in der Weise, dass die Körperwelt bei der sensation in den Geist hineinwirkt und der Geist diese Einwirkung tätig verarbeitet, wovon er durch reflexion Kenntnis nimmt. Bei Erörterung der Relation (Essay on human understanding Buch II Kapitel 25) beschränkt sich Locke aber auf die Relationsvorstellung, die durch vergleichendes Zusammenstellen der Beziehungsglieder zustande kommt, und drückt sich gewissermaßen um die ontologische Stellungnahme zu der Frage, ob und in welchem Sinn die Relation mehr ist als die Beziehungsglieder. Bei dieser Nachlässigkeit packt ihn (ohne ausdrückliche Bezugnahme) Hume, indem er Relationen als bloße Korrelate oder Abspiegelungen geistigen Vergleichens (conjunctions) unbedenklich gelten lässt, von Relationen im Sinne sachlicher Zusammenhänge (connexions) aber nichts wissen will. 1140 Damit erneuert er den radikalen Singularismus Wilhelms von Ockham, die Kappung der Zusammenhänge (24.2). Auf alles, was sich überhaupt vorstellen lässt, passt die Definition der Substanz als etwas, das durch sich selbst existieren kann, 1141 also als Seiendes von sich aus (ens a se) ganz wie nach Wilhelm.202 Die Begründung gleicht der cartesischen für die Getrenntheit der seelischen Substanz von der körperlichen,835 nur dass Hume nicht mehr mit Gottes Allmacht zu tun hat: Was klar und deutlich vorgestellt werden kann, kann in gleicher Weise existieren; nun können wir etwas klar und deutlich nur vorstellen, indem wir es unterscheiden, d. h. mindestens durch die Einbildungskraft trennen, und das ist bei allen unseren Perzeptionen möglich; also kann jede unabhängig existieren, und andere Gegenstände sind unserem Vorstellen gar nicht zugänglich. Auf dieser Argumentation, die Verschiedenheit 216/285; 67 f./91 f. Treatise 1. Buch, 4. Teil, 2. Sektion. 1140 Terminologie nach E58/85. 1141 233/305, wohl in Anlehnung an die berühmte cartesische Definition der Substanz als das, was keiner anderen Sache zum Existieren bedarf (Principia Philosophiae I § 51). 1138 1139

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Hume

und Geschiedenheit (mindestens potentielle) verwechselt, will ich nicht herumhacken. Sie führt Hume zu dem schon von Wilhelm452 vorweggenommenen Ergebnis, dass auch jedes Akzidens, jede Eigenschaft, ein Ding an sich ist, das nach Art einer Substanz für sich bestehen könnte, 1142 so dass sich der Geist in einen Haufen verschiedener Perzeptionen auflöst, von denen jede – abermals gemäß der Lehre Wilhelms521 – auch für sich allein bestehen könnte. 1143 Ein Unterschied zwischen beiden Denkern besteht nur darin, dass Wilhelm die Relationen ganz verwirft und nur absolute Sachen gelten lässt,456 während Hume da, wo es sich um bloße Gegenstücke eines – automatischen oder willkürlichen 1144 – Vergleichens handelt, unbefangen von Relationen spricht. Der Unterschied ist nicht groß, denn Wilhelm lässt statt der Ordnung als Beziehung wenigstens noch die entsprechend angeordneten Sachen gelten,477 so dass seine Leugnung der Ordnung wenig mehr als eine Spitzfindigkeit ist, und für eine so feine Unterscheidung hat Hume, wenn er von conjunction spricht, keinen Sinn. Die Kappung aller Zusammenhänge im Sinne Wilhelms, wenn auch ohne Anknüpfung an ihn, macht das Pathos der Hume’schen Philosophie aus. Alle Dinge (Seienden, beings) im Universum, in sich betrachtet, zeigen sich oder erscheinen als abgelöst und unabhängig von einander. 1145 Nichts in irgendeinem Objekt, wenn dieses für sich betrachtet wird, kann einen darüber hinaus führenden Schluss rechtfertigen, 1146 »so dass, aufs Ganze gesehen, quer durch die gesamte Natur nirgends ein Fall von Verknüpfung begegnet, der für uns vorstellbar wäre. Alle Ereignisse scheinen vollkommen abgelöst und getrennt. Ein Ereignis folgt dem anderen, aber wir können nie irgendein Band zwischen ihnen entdecken.« 1147 Ganz besonders vermissen wir es bei der Kausalität, wenn wir nach Macht, Kraft oder Energie suchen, die den Übergang von der Ursache zur Wirkung vermitteln könnte; diese beiden sind, an sich betrachtet, so getrennt wie beliebige Dinge und werden nur durch Gewohnheit und Einbildungskraft (durch Assoziation angesichts regelmäßig wiederkehrender Abläufe) 222/292. 207/275. 1144 13/24 f., wo die bloß willkürlichem Vergleichen entspringenden Relationen etwas ungeschickt und nicht sehr konsequent als philosophische ausgegeben werden. 1145 466/II 207. 1146 139/191. 1147 E 61/89 f. 1142 1143

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Humes Rache an Locke

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verbunden. 1148 Mit vollmundigem Pathos malt Hume die Enttäuschung der intellektuellen Wünsche und Erwartungen aus, die uns trifft, wenn wir bemerken, dass ein solches Band, statt uns als das wirksame Gestaltungsprinzip in der Welt zugänglich zu werden, weiter nichts ist, als das durch Gewöhnung automatisch gewordene Hinübergleiten der Vorstellung zum typischen Begleiter einer anderen. 1149 Eine andere Beziehung als die der räumlichen und zeitlichen Nachbarschaft zwischen Ursache und Wirkung ist nicht zu entdecken. 1150 Das ist dieselbe Reduktion des Weswegen (propter hoc) auf ein Danach und Dabei (post et apud hoc) wie bei Wilhelm von Ockham, 1151 dessen Kausalskepsis also von Hume bloß erneuert wird. Ebenso wie das Band der Kausalität zwischen Ursache und Wirkung entgeht uns nach Hume das Band persönlicher Identität zwischen unseren Perzeptionen; auch in diesem Fall entpuppt es sich als Produkt von Gewohnheit und Einbildungskraft, so dass vom Geist nichts übrigbleibt als ein Haufen oder eine Versammlung verschiedener Perzeptionen. 1152 Und nicht einmal das Kontinuum hält der Zersetzung in isolierte Elemente stand: Nach Hume, der hier in typischer Weise wie Leibniz1129 die vom Singularismus für durchgängig und selbstverständlich gehaltene numerische Einheit mit der einfachen verwechselt (siehe die Überleitung am Anfang des Buches), besteht es aus physischen Punkten, aus Atomen also, die, in immer gleicher Anzahl das Gesichtsfeld füllend, von der Einbildungskraft bald zur Aussicht von einer Bergspitze erweitert, bald auf ein enges Zimmer zusammengezogen werden. 1153

162/221; 405/II 143. 266 f./344. 1150 155/211. 1151 S. o. Anmerkungen 466 und 467. Dort scheint Wilhelm eine Ausnahme für Gottes Wirksamkeit machen zu wollen, aber dass er es nicht wirklich so meint, sondern sich als mittelalterlicher Mensch und Theologe nur anpasst, geht aus der Ordinatio l.I d.35 q. 4 (Opera theologica IV, St. Bonaventure 1979, S. 477 Z. 5–17) hervor: Gott erschafft und erhält die Kreatur ebenso, wie die Sonne wärmt. In beiden Fällen ist im Wirkenden keine reale Relation, weil es eine solche überhaupt nicht gibt. Das ist nicht einmal heterodox, weil die übrigen Scholastiker aus anderem Grund (wegen Gottes Einfachheit) gleichfalls eine reale Relation des Schaffens und Erhaltens von Gott ablehnen. 1152 259 f./335 f., 207/275. 1153 30/46; 112/153. 1148 1149

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Hume

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34.2 Humes Methode Lockes Ideenlehre ist der Sprung auf ein neues und höheres Niveau erkenntniskritischer Selbstbesinnung (33.1). Die Kritik trifft einerseits die Substanzidee und bringt andererseits das Ergebnis, dass alle sogenannten gemischten Modi – Ideen außer denen von Substanz, Relation, Sinnesqualitäten, Arten des Denkens und Wollens, Lust, Unlust, Kraft, Existenz, Einheit sowie deren Wiederholungen in Zahl, Ausdehnung und Dauer – bloßes Werk des kombinierenden Verstandes sind. Die Schärfe solcher Kritik wird aber durch die unter 33.1 und 33.2 besprochenen Naivitäten Lockes abgestumpft und eingeengt. Dagegen konzipiert Hume eine radikale Kritik aller geläufigen Vorurteile beim Erkennen, die vor nichts zurückschreckt. Sein Prüfungsinstrument ist die Zurückführung der ideas auf die impressions, der Vorstellungen auf die ursprünglichen Eindrücke, aus denen sie nach seiner Überzeugung geschöpft sein müssen. Er drückt sich darüber so aus: »Haben wir den Verdacht, dass ein philosophischer Ausdruck ohne irgendeine Bedeutung oder Idee gebraucht wird, wie nur allzu oft vorkommt, brauchen wir nur zu fragen: Von welcher Impression ist die angebliche Idee abgeleitet? Wenn es unmöglich ist, eine anzugeben, wird das dazu dienen, unseren Verdacht zu bestätigen. Indem wir Ideen in ein so klares Licht bringen, dürfen wir vernünftig hoffen, jeden Streit zu entfernen, der bezüglich ihrer Natur und Wirklichkeit entstehen könnte.« 1154 Wenn Hume Zweifel an der berechtigten Verwendung sprachlicher Ausdrücke in philosophischen Erörterungen hat, prüft er also nicht, ob eine gehaltvolle, stichhaltige und hinlänglich bestimmte Idee zugrunde liegt, sondern, ob es sich überhaupt um eine Idee handelt; denn Ideen, Vorstellungen, Begriffe und dergleichen sind nach seiner Meinung nur als Rückstände oder Nachbilder (entsprechend optischen Nachbildern) von Impressionen möglich, und, wenn keine passende Impression zur Verfügung steht, kann es sich also nur um gedankenloses Geschwätz handeln. Dieses merkwürdige Kriterium der Diskreditierung stammt aus einem grundsätzlichen Mangel der Hume’schen Unterscheidung von impressions und ideas. Er findet den Unterschied nur im Grad von Kraft und Lebhaftigkeit (force and vivacity). 1155 Nach Beendigung des 1154 1155

E 17/22. 96/129; 319/II 50.

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Humes Methode

Treatise befällt ihn ein Skrupel, ob es nicht doch noch andere Unterschiede gibt; besser, so meint er, hätte er geschrieben, es handle sich um ein anderes Zumutesein (feeling). 1156 Damit bleibt alles offen. Von Rechts wegen hätte Hume Behauptungen von Sachverhalten mit Anspruch auf Tatsächlichkeit, also gewisse Bedeutungen im von mir angegebenen Sinn, zum Gegenstand der Prüfung machen müssen, und es wäre darauf angekommen, den breiten Spielraum solcher – oft ausschweifender oder hohler – Behauptungen einzuengen auf unwillkürliche und unwidersprechlich sich als Tatsachen aufdrängende Sachverhalte, gleichfalls Bedeutungen. Nun hat aber Locke mit seiner Ideenlehre die Unterscheidung zwischen Bedeutungen und dadurch bestimmten Sachen unkenntlich gemacht (33.3). Das wirkt auf Hume. Ideas und impressions verklumpen ihm gewissermaßen zu Qualitäten, die als Stufen nur noch Unterschiede der Intensität (z. B. der Lautstärke bei Geräuschen) zulassen, hier von Kraft und Lebendigkeit. Demgemäß ist auch der Glaube (belief) im Sinne der Überzeugung, die den mit einer Behauptung verbundenen Anspruch auf Tatsächlichkeit begleitet und stärkt, nach seiner Auffassung »nichts als eine Vorstellung (conception), die intensiver und beharrlicher ist als das, was die bloßen Fiktionen der Einbildung begleitet.« 1157 Wenn die Ideen als weniger intensive Perzeptionen nur durch eine Art von Nachklingen aus den intensiveren, den Impressionen, hervorgehen, wie frisch behaltene Klänge oder optische Nachbilder, darf man sich nicht wundern, wenn sie bei Ausfall solcher Impressionen einfach fehlen, während Ideen im Sinne von Behauptungen oder vermeintlichen Tatsachen, die auf den Prüfstand der Fahndung nach Impressionen im Sinne sich als Tatsachen aufdrängender Sachverhalte gestellt würden, in ihrer bloßen Existenz nicht in Frage gestellt wären, wenn sie auf dem Prüfstand versagen. Außerdem wird Humes erkenntniskritische Methode des Rückganges auf impressions durch die unter 34.1 beschriebenen Vorurteile geschädigt, das Immanenzdogma und den bis zur Kappung der Zusammenhänge vorgetriebenen Singularismus. Das Immanenzdogma lässt Hume über die Existenz stolpern, der er gar keinen Sinn 636/364 (aus der Appendix). E43/63; im Treatise (96/129) definiert er belief als »a lively idea related to or associated with a present impression«. Ich habe eine zirkelfreie Begriffsbestimmung der Überzeugung ohne Rücksicht auf Wahrheit und Tatsächlichkeit – die zur zirkelfreien Einführung ihrerseits einer solchen Begriffsbestimmung zu bedürfen scheinen – vorgelegt; die reifste Fassung steht in: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 70 f. 1156 1157

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Hume

über den schon in bloßer (etwa dichterischer) Vorstellung einer Sache enthaltenen abzugewinnen vermag: »Was immer wir vorstellen, stellen wir als existierend vor«, weil »jedes Objekt, das sich präsentiert, notwendig existent sein muss.« 1158 Das soll so sein, weil »dem Geist nichts wirklich gegenwärtig ist als seine Perzeptionen« und wir daher auch mit der ausschweifendsten Einbildungskraft niemals irgendeine Art von Existenz fassen könnten außer solchen Perzeptionen, die in diesem engen Horizont unterkommen. 1159 Ganz offensichtlich widerspricht Hume, der die Existenz seiner Perzeptionen für selbstverständlich zu halten scheint, mit dieser Ausbootung der Existenz ins Überflüssige der Erfahrung und unwidersprechlich sich aufdrängenden Impressionen, denn wir haben jeden Augenblick allen Anlass, das Wirkliche vom bloß Fiktiven, aber auch von dem, was nicht mehr ist, und von dem, was möglicherweise einmal sein wird, zu unterscheiden. Auf der anderen Seite führt das Vorurteil des radikalen Singularismus Hume bei der Bestreitung empirischer Aufweisbarkeit einer kausal wirksamen Kraft in die Irre. Er geht von der Voraussetzung isolierter oder isolierbarer Dinge an sich aus, zwischen denen Kausalität nur durch das übertragende Band (tie) eines Zusammenhanges fließen könnte. Hierbei handelt es sich um die Kausalität der Dinge mit den drei Gliedern Ursache–Einwirkung–Effekt, z. B. fallender Stein–Stoß–Verschiebung oder Zertrümmerung des gestoßenen Gegenstandes (z. B. Glases). Von den Dingen habe ich die Halbdinge unterschieden, wie die Stimme, den Wind, die reißende Schwere, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt, den Schmerz als Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss, Gefühle als leiblich spürbar den Menschen ergreifende Atmosphären, die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung quälend aufdringlich wird, und mancherlei anderes. Halbdinge unterscheiden sich von Dingen durch unterbrechbare Dauer – sie kommen, gehen und kommen wieder, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben – und, worauf es hier ankommt, durch bloß zweigliedrige Kausalität: Ursache und Einwirkung fallen zusammen. Der Unglückliche, der abstürzt, erfährt die reißende Schwere als eine seine heftigen Abwehrversuche überwältigende Kraft, die 67/91, aus Buch 1 Teil 2 Sektion 6 (68–68/89–91): Von der Idee der Existenz, und von äußerer Existenz). 1159 67 f./91 f. 1158

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Humes Methode

in seinen Leib eingreift und ihn mit sich zieht, ohne von einer Ursache auf ihn überzugehen, da sie selbst die erfahrene Ursache ist. Der Wind, der einem entgegenschlägt, ist so, wie er ohne gedankliche Zutaten erfahren wird, gleichfalls eine nackte Kraft in heftiger Bewegung (übrigens ohne Ortswechsel); man darf, wenn man die impression des Windes rein auffassen will, nicht an bewegte Luft denken, denn die ist nicht mehr als ein nützliches, viele Erscheinungen umspannendes Konstrukt des Erklärungs- und Beherrschungswillens. 1160 Bei der Kausalität von Halbdingen ist der Ausgang von zwei an sich getrennten Sachen, die einer Verbindung bedürften, um durch Kraft eine Wirkung zu übertragen, ein verfehlter Ansatz. Hume verfällt ihm durch seinen radikalen Singularismus. Seine Kausalskepsis deckt nicht die Phänomene. Angesichts solcher Mängel ist die Erkenntniskritik Humes, obwohl das Morgenrot der Phänomenologie, in den Ergebnissen unergiebig. Ihr großes Verdienst besteht einerseits in der Radikalität des Ansatzes, der alle Redensarten auf den Prüfstand ihrer Ausweisung an ursprünglichen Eindrücken zu schicken bereit ist, wogegen man die Leichtfertigkeit halten möge, mit der sich Descartes der zunächst übernommenen phänomenologischen Aufgabe schnell wieder entledigt: Nachdem er (übrigens zu Unrecht, 30.2) eine unwidersprechlich in der Selbstbesinnung sich aufdrängende Tatsache als Grundlage seiner Spekulation ausgemittelt zu haben glaubt, entlehnt er ihr ein sogenanntes natürliches Licht, das er fortan bei den erstaunlichsten Gedankenkunststücken sich vorleuchten lässt. Das andere Verdienst der Erkenntniskritik Humes besteht in der Aufdeckung von Problemen, z. B. beim belief und der Kausalität, die zum Nachdenken dringend herausfordern.

Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 99–112: Die Luft und was wir als sie spüren. Die Begegnung mit dem entgegenschlagenden Wind widerlegt die Behauptung Humes: »Die Idee der Bewegung setzt notwendigerweise die eines bewegten Körpers voraus.« (228/298). Übrigens ist diese Behauptung inkonsequent angesichts der These von der Substanzhaftigkeit der Akzidentien, s. Anm. 1142.

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35. Kant

35.1 Die geschichtliche Stellung der Philosophie Kants Unter den berühmten Philosophen der aufsteigenden Moderne ist Kant 1161 der Erste, der die drei Säulen des Verfahrens der modernen Naturwissenschaft – die reduktionistische Abstraktionsbasis, die mathematische Modellierung und die experimentelle Methode788 – auch im Fall der dritten Säule beherzigt und gedanklich verarbeitet hat. Weder Bacon noch Hobbes noch Descartes berücksichtigen den Unterschied des Experimentes von der bloßen regelmäßigen Beobachtung; Leibniz hat sich mit einem Gedankenexperiment (gegen Descartes, bezüglich des Kraftmaßes) begnügt. Der experimentelle Naturwissenschaftler erprobt Regeln, die er sich für den Naturlauf ausgedacht hat, durch selektives Einwirken auf ausgewählte MerkIch zitiere Kant nach Bänden der Akademieausgabe (Ak.) mit römischer Band-, arabischer Seiten- und ggf. Zeilenziffer, die Kritik der reinen Vernunft (KrV) jedoch in der üblichen Weise nach Seiten der 1. Auflage (A) und der zweiten (B), die Kritik der Urteilskraft (KU) nach Seitenzahlen der 3. Auflage 1799. Für jene ziehe ich für den Text die Ausgaben von Raymund Schmidt (Hamburg, bei Meiner, Nachdruck 1944) und von Weischedel (Band III und IV seiner Kantausgabe, Darmstadt 1968) und für diese die Ausgabe von Vorländer (Hamburg, bei Meiner, Nachdruck 1959) heran. Auch bei der Kritik der praktischen Vernunft (KpV) gebe ich die Seitenzahlen der Originalausgabe nach Ak. an. Als Abkürzungen benütze ich noch: R. = Reflexion in der Zählung von Ak.; GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Prol. = Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. Bei Verweisen auf die KrV lasse ich diese Abkürzung gelegentlich weg und begnüge mich mit A und B für die beiden Auflagen. – Wie in Band I für die Vorsokratiker, Platon und Aristoteles berufe ich mich auch für Kant auf meine Vorarbeit, hier auf mein Buch: Was wollte Kant? (WK), Bonn 1989. Die subtilen Details der Stellen- und Quellenvergleiche und dergleichen können in der zusammenfassenden Überschau einer Geschichte der Philosophie nicht so weit ausgeführt werden wie in einer speziellen Monographie; hier geht es mehr um die geschichtliche Einordnung und die Würdigung der Philosophie Kants in ihren Hauptpunkten, aber auch um seine philosophische Motivation, auf die schon der Titel jenes Buches verweist. Ich empfehle es zur Ergänzung der gegenwärtigen Darstellung, die manches schärfer hervorhebt.

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Die geschichtliche Stellung der Philosophie Kants

malsorten passend bereitgestellter Gegenstände mit Prognosen nach jenen Regeln und schreibt diese im Erfolgsfall der Natur als für diese geltende Gesetze zu. Dieses Verfahren nimmt sich Kant in der Vorrede zur 2. Auflage der KrV zum Vorbild anhand dreier Experimente von Galilei, Torricelli und Stahl: Dadurch, schreibt er, »ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr gleichsam am Gängelbande leiten lassen müsse; (…).« (B XIII) An diese Maxime hält er sich mit seiner in Anlehnung an den Vergleich B XVI sogenannten kopernikanischen Wende, »dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.« (ebd.) »Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen lässt«, und zwar durch ein »Experiment mit Begriffen und Grundsätzen, die wir a priori annehmen« für »dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch (…) für die isolierte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft (…). Findet es sich nun, dass, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung.« (B XVIII f. Anmerkung) Die von Kant behauptete Analogie ist schief. Der Naturwissenschaftler begegnet im Experiment der Natur insofern fair, als er sich ihrer bestätigenden oder widerlegenden Antwort ohne Präjudiz aussetzt und das Wagnis seiner Aufstellung von Naturgesetzen für mögliche Korrekturen bereithält. In diesem Geist fühlen sich manche Naturwissenschaftler mit Kant solidarisch, so Helmholtz, wenn er das Kausalgesetz zur bloßen handlungsleitenden Maxime macht. 1162 Aber die Entsprechung zur experimentellen Bestätigung oder WiderHermann v. Helmholtz, Vorträge und Aufsätze Band II, 5. Auflage Braunschweig 1903, S. 244: »In dem, was mir immer als der wesentlichste Fortschritt in Kant’s Phi-

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Kant

legung ist in Kants Methode nur scheinbar. Er setzt sich keiner Widerlegung aus, sondern treibt durch bloßes Raisonnement einerseits die transzendent ausschweifende Vernunft in die Enge – ihr Missgeschick ist gewollt und gestellt, nicht wie vom Naturwissenschaftler als Enttäuschung der eigenen Forscherintention hingenommen – und erhebt durch nahverwandtes Raisonnement den Verstand zum Gesetzgeber der Natur, ohne diese zu fragen. Das ist das Verschließen eines gerade erst geöffneten Fensters, weil mit Kants Anleihe bei der experimentellen Naturwissenschaft zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie die Chance aufleuchtet, die den Rahmen und Horizont vorgebende Konzeption der philosophischen Weltanschauung als gewagten Entwurf zu verstehen, den der Philosoph selbst zu verantworten hat. Die seit Demokrit (9.1) in der europäischen Intellektualkultur einflussreiche und weitgehend dominante psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung (s. o. Überleitung; 28) ist ein solcher Entwurf, der die unwillkürliche Lebenserfahrung – was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – verkürzt und verzerrt, wird aber von ihren Verfechtern nie so gesehen, auch nicht von dem ihr mit Haut und Haaren verfallenen Kant. Dennoch hat der Lichtblick durch das mit der Orientierung der Kritik am Experiment von ihm geöffnete Fenster Wirkung auf die Offenheit für die Frage gehabt, wie viel von der die Richtung des Denkens leitenden und ihm den Horizont vorgebenden Konzeption selbst zu vertretender, kontingenter, geschichtlich bedingter Entwurf ist. Kant hat sich dieser Frage nie gestellt. Was er als Ergebnis seines angeblichen Experimentes präsentiert, ist ihm ein unveränderlich in die menschliche Natur eingeschmiedeter Panzer von Mitteln und Wegen, Forderungen, Aussichten und Verwehrungen des Erkennens in der Theorie und des Sollens in der Praxis. Er will einer für die nötige Selbstkritik vorher blind gewesenen Menschheit einmal für immer gezeigt haben, was sie – dem Rahmen nach – erkennen kann und tun soll; demnach »muss die kritische Philosophie sich durch ihre unaufhaltsame Tendenz zu Befriedigung der Vernunft in theoretischer sowohl als moralisch praktischer Absicht überzeugt fühlen, dass ihr kein Wechsel der Meinungen, keine Nachbesserungen oder ein anders geformtes Lehrgebäude bevorstehe, sondern das System losophie erschienen ist, stehen wir immer noch auf dem Boden seines Systems.« (Die Tatsachen der Wahrnehmung).

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der Kritik auf einer völlig gesicherten Grundlage ruhend, auf immer befestigt und auch für alle künftigen Zeitalter zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich sei.« 1163 Kants Werkzeug zu solcher Versteifung der Resultate des pseudo-naturwissenschaftlichen Experimentes der Kritik sind die synthetischen Urteile a priori. Dabei liegt seine Unterscheidung synthetischer und analytischer Urteile zugrunde. 1164 Diese Gegenüberstellung ist einer seiner wichtigsten und originellsten Beiträge von bleibender Bedeutung für die philosophische Erkenntnis. Zwar hat neuerdings Quine ihren Wert bestritten und dafür Respekt gefunden, aber ohne triftigen Grund. Allerdings ist Kants Begriffsbestimmung analytischer Urteile unzulänglich: »Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem Bewusstsein gedacht war.« (Prol. Ak. IV 266, 24–26) Erstens wird auf diese Weise nicht gesagt, wann ein Urteil analytisch ist, sondern, wann es für jemand analytisch ist, je nach dem, was er mehr oder weniger klar denkt, worüber schwerlich sicheres Wissen verbreitet werden kann; zweitens bezieht sich das Kriterium nur auf gleichsam gestammelte Mindestsätze, die durch Zusammensetzung eines Subjekts mit einem Prädikat gebildet werden, und das aus der Feder eines Mannes, der so komplizierten Satzbau liebt wie Kant. Stattdessen (s. u. 43.3.4.2) schlage ich vor: Ein wahres Urteil ist analytisch, wenn sein Negat (kontradiktorisches Gegenstück) einen Widerspruch zur logischen Folge hat. Diesen Begriff erkläre ich so: Ein Urteil B ist logische Folge eines Urteils A, wenn 1. A nur zusammen mit B wahr ist und 2. es dabei bleibt, wenn irgendwelche Tatsachen in der Phantasie durch untatsächliche Sachverhalte ersetzt werden. 1165 Die Begriffe von 1163

Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, 7. August 1799, Ak. XII

371. Ich bequeme mich hier der Ausdrucksweise Kants an und spreche von Urteilen, obwohl der Sinn dieses Wortes nicht genügend klar ist. Genauer müsste zwischen Sätzen (Regeln für die Darstellung von Sachverhalten, Programmen oder Problemen) und Satzaussprüchen (z. B. in mündlicher oder schriftlicher Form) unterschieden werden. Beides zusammenfassend kann man für den Fall, dass Sachverhalte dargestellt werden, von Aussagen sprechen, die dann, wenn Anspruch auf Tatsächlichkeit erhoben wird, Behauptungen sind. Kants Urteile sind genau besehen Behauptungen. Wahr und falsch sind primär Aussprüche von Aussagesätzen; man kann diese Prädikate auf die Sätze durch die Festsetzung übertragen, dass ein Satz wahr bzw. falsch heißen soll, wenn dies für jeden seiner Aussprüche gilt. 1165 Von Satzmengen (Urteilsmengen) brauche ich nicht zu reden, da sich jede endliche 1164

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Kant

Sachverhalt und Tatsache habe ich an anderer Stelle präzisiert. 1166 Ich bestimme Sachverhalte durch Fraglichkeit, d. h. die Möglichkeit, etwas in Frage zu stellen, indem es in Beziehung zum Sein oder der Wirklichkeit als Instanz möglicher Entscheidung tritt; nur Sachverhalte und Programme, bei denen aber die entscheidende Instanz eine andere ist, können fraglich sein. Sätze, die einen Widerspruch zur logischen Folge haben, stellen keinen Sachverhalt dar, 1167 ebenso wie formal wohlgebildete Unsinnssätze, bei denen nicht einmal dies der Fall ist. Kant muss man zugutehalten, dass er der Definition des analytischen Urteils durch widersprüchliche Folgen seines Negates nahekommt, wenn auch nur durch Ableitung aus seiner verfehlten Begriffsbestimmung, 1168 und demgemäß einen kleinen Abschnitt der KrV dem Satz vom Widerspruch als dem (laut Überschrift) »obersten Grundsatz aller analytischen Urteile« widmet. Die Gegenüberstellung analytischer und synthetischer Urteile dient Kant zur Herausarbeitung der synthetischen Urteile a priori, deren Wahrheit nicht so selbstverständlich, weil nach dem Grundsatz der Widerspruchsfreiheit einsichtig, ist wie die der analytischen und sich ihm daher dafür anbietet, nicht-triviale Einsichten in Wahrheiten, die absolut notwendig und schlechthin für alles gelten – sein Begriff von »a priori« – zu behaupten. Es handelt sich dabei großenteils um Urteile, die sofort mit geradezu zwingender Überzeugungskraft einleuchten können, wenn man sich nur das Gemeinte klarmacht, obwohl das Gegenteil widerspruchsfrei denkbar ist und Beobachtungen von Ereignissen in der Nähe des Beobachterstandpunktes nicht, wie bei empirischen Urteilen a posteriori, zur Bestätigung genügen. Solche Urteile gibt es; ein Beispiel ist der Satz: »Es Menge von Sätzen durch und-Verbindung in einen einzigen Satz verwandeln lässt. Die heute gern herangezogene Rede von möglichen Welten umgehe ich vornehmlich wegen der Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man versucht, dasselbe Individuum in verschiedenen möglichen Welten festzuhalten. 1166 Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 37–42 (Sachverhalte), 63–74 (Tatsächlichkeit). 1167 Man darf diesen Umstand aber nicht zur Definition der Sachverhaltlichkeit benützen, weil dann ein Zirkel in der Definition der logischen Folge entstünde. 1168 Prol. Ak. IV 267, 6–11: »Alle analytische Urteile beruhen gänzlich auf dem Satze des Widerspruches und sind ihrer Natur nach Erkenntnisse a priori, die Begriffe, die ihnen zur Materie dienen, mögen empirisch sein, oder nicht. Denn weil das Prädikat eines bejahenden analytischen Urteils schon vorher im Begriffe des Subjekts gedacht wird, so kann es von ihm ohne Widerspruch nicht verneint werden; (…).« Vgl. KrV A 598 B 626.

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gibt keine Farbe ohne Ausdehnung oder mit nur eindimensionaler.« Widerspruchsfrei denkbar wäre auch die Farbe einer Linie ohne jede noch so schmale Breite, aber die Zumutung wirkt absurd. Das euklidische Parallelenaxiom in der Fassung »In einer Ebene gibt es zu jeder Geraden und jedem Punkt außerhalb von ihr genau eine Gerade, die durch den Punkt geht und jene Gerade nirgends schneidet« ist ein anderes Beispiel. Die Herausarbeitung dieser eigenartigen Urteilsklasse ist gleichfalls ein gewichtiges Verdienst von Kant. Er geht aber zu weit, indem er der bestechenden Überzeugungskraft synthetischer Urteile a priori ihre beliebig verallgemeinerbare und unumstößlich notwendige Geltung entnimmt. Tatsächlich ist es ihm nicht gelungen, irgendein synthetisches Urteil a priori von solchem Grad der Zuverlässigkeit anzugeben. Er denkt in erster Linie an Geometrie und Arithmetik, bis hinab zum kleinen Einmaleins und dessen Vorstufe »7 + 5 = 12«. Die Geometrie hat durch die nichteuklidische Erweiterung ihres Horizontes den apriorischen Charakter verloren und ist zur empirischen Wissenschaft geworden, die der Prüfung unterliegt, welche Geometrie zu welchem Zweck und Untersuchungsgebiet passt. Das gilt nicht nur für kosmische Räume und sonstige Abstraktionen der Physik, sondern auch für den sogenannten Sehraum – den durch strikte Beschränkung auf Hinsehen herausschälbaren Raum, den man gewöhnlich übersieht, weil man im Sehen mehr wahrnimmt als sieht – kann man Anzeichen dafür sammeln, dass er nicht euklidisch ist. 1169 Die Begründung synthetischer Apriorität selbst so einfacher Additionsformeln wie der angegebenen durch Kant (KrV B 15 f.) wird hinfällig durch den Nachweis der Unangemessenheit seines Kriteriums für analytische Urteile; aus dem Negat des Satzes »7 + 5 = 12« kann man mit den Mitteln der modernen Mathematik leicht einen Widerspruch (der Form »A und nicht A« mit irgendeinem Satz A) ableiten, und dieser Satz ist also analytisch. Somit bleiben noch die Grundsätze der reinen Naturwissenschaft, die Kant als nicht unmittelbar einsichtig, wohl aber als erweislich als notwendige Bedingungen möglicher Erfahrung hinstellt. Sie sind zum Teil analytisch oder im Gegenteil mit Resten unklarer Metaphysik überladen, 1170 zum Teil leisten die Erweise nicht, was sie sollen Vgl. z. B. Handbuch der Psychologie 1. Band: Wahrnehmung und Bewusstsein, hg. v. W. Metzger, Göttingen 1966, S. 329, 590 f., 593–605. 1170 Prinzipien der Axiome der Anschauung und Antizipationen der Wahrnehmung; zu diesen vgl. WK 239–242. 1169

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Kant

(Analogien der Erfahrung, s. u. 35.3.3), und dem Rest wird gar keine solche Begründungsfunktion zugeschrieben (Postulate des empirischen Denkens überhaupt). Viel stärker fällt gegen die vermeintlich unumstößliche Zuverlässigkeit synthetischer Urteile a priori der Umstand ins Gewicht, dass nicht einmal die analytischen Urteile, deren Apriorität Kant für selbstverständlich hält,1168 bedingungsloses Vertrauen verdienen. Die Grundlagen einsichtiger Logik werden durch die Antinomien, sei es durch die der Mengenlehre oder die noch weit gefährlicheren semantischen, angefressen. 1171 Zwar kann man den Widerspruch durch Abschwächung zu unendlichfacher Unentschiedenheit (15.2) entkräften, wie ich z. B. an der (triftig formulierten und abgeleiteten) Antinomie des Lügners gezeigt habe, 1172 aber das ist nur eine Aushilfe, und es bleibt ein Anlass zum Staunen und zur Warnung, dass sich in analytischen Trivialitäten der Logik und Mathematik Fallen von abgründiger Tiefe auftun können. Kant steht im Rufe und gibt sich mit plakativer Verve den Anschein, ein Revolutionär der Denkungsart und unerbittlicher Kritiker der philosophischen, besonders der metaphysischen, Tradition zu sein. Das ist nicht der Fall. Nicht nur weicht er vor der Versuchung eines experimentellen Denkens in die synthetischen Urteile a priori aus, sondern er hängt wie nur je ein anderer an den Vorurteilen, die, der Antike und dem Mittelalter entsprungen, das neuzeitliche Denken prägen. Das gilt zunächst für die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung (s. o. Überleitung; 28). Seine weitergehenden Thesen über Raum und Zeit verteidigt er mit Berufung auf das, »was schon lange vor Lockes Zeiten, am meisten aber nach diesen allgemein angenommen und zugestanden ist«, nämlich die Subjektivierung der spezifischen Sinnesqualitäten im Zeichen des Reduktionismus und der Introjektion (Prol. Ak. IV 289, 15–34). Indem er weiter geht, verteidigt er diese Subjektivierung nachdrücklich (KrV A28 f. und kürzer an der entsprechenden Stelle B44). Ganz ausgeprägt ist die Introjektion der Gefühle in der Kritik der Urteilskraft: Gefühl ist Lust und Unlust ohne Vorstellung einer Sache (8–9); das erinnert an Spinozas Definition der Liebe als Lust, die von der Vorstellung einer äußeren Ursache (bloß) begleitet 1171 Vgl. den Artikel Antinomie von F. v. Kutschera in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band I, Basel 1971, Spalten 393–405. 1172 Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 256–262.

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wird. 1173 Das Gefühl des Erhabenen entsteht durch eine subjektiv zweckmäßige Bewegung des Gemüts, die teils auf das Erkenntnis-, teils auf das Begehrungsvermögen bezogen wird, wobei »in beiderlei Beziehung die Zweckmäßigkeit der gegebenen Vorstellung nur in Ansehung dieser Vermögen (ohne Zweck oder Interesse) beurteilt« wird; »da dann die erste, als eine mathematische, die zweite als dynamische Stimmung der Einbildungskraft dem Objekte beigelegt, und daher dieses auf gedachte zweifache Art erhaben vorgestellt wird.« (80) Das »Grausen und der heilige Schauer« beim Anblick erhabener Naturszenen (117), die ergreifende Macht der numinosen Atmosphäre, ist hiernach bloße Projektion eines Urteils über die Zweckmäßigkeit einer gewissen Gemütsbewegung für Erkennen und Begehren (aber ohne engagiertes Interesse) auf die Natur. Weit stärker ausgeprägt ist Kants Anhänglichkeit an das andere große Vorurteil der Neuzeit, den schon die Scholastik seit Abaelard durchziehenden (21.2), von Wilhelm von Ockham radikalisierten (24.1) Singularismus der Überzeugung: Alles ist ohne weiteres einzeln (zur Kritik: 21.1; 29.1). Mannigfaltiges kann sich Kant offenbar nur als Aufreihung von äußerlich verknüpftem Einzelnem denken. »Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können.« (KrV A 120) »Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn, als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.« (A 99) Absolute Einheit ist für Kant dasselbe wie Einfachheit, vgl. A 784 B 812. »Anschauung ist nämlich eine unmittelbare Vorstellung eines Gegenstandes, d. i. sie enthält nur einen Gegenstand; denn wären mehrere zugleich vorhanden, so könnten sie nur gemeinsam durch das Merkmal vorgestellt, d. i. durch Begriffe gedacht werden. Dieser Gegenstand kann also nur einzeln sein.« 1174 Die Zusammenfassung übernimmt die Einbildungskraft als »synthetischer Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn (…). Dieses nehmen wir auch jederzeit in uns wahr. Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen« 1173 1174

Ethica, 3. Teil, Affectuum Definitiones, VI. Ak. XXIX 971, 1–6 (Metaphysik K 3, Vorlesung 1794/95).

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Kant

(B 154), »ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte alle Teile nach und nach zu erzeugen und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen.« (A 162 f. B 203) Das geht nicht: Man kann nicht nach und nach vom Punkt zur Linie (Strecke) übergehen, sondern eine Strecke, und sei sie noch so klein, ist gleich da, sowie man den Punkt zeichnend verlässt. Daraus schloss Aristoteles, dass niemand einen Teil einer Linie durchlaufen könne, ohne nebenbei (per accidens) unendlich viele solche Teile zu durchlaufen. 1175 Kant verpasst diese binnendiffuse, vor der Artikulation des Einzelnen in Verschwommenheit gleichsam schlummernde, bloß privativ und nicht quantitativ un-endliche Mannigfaltigkeit (chaotische Mannigfaltigkeit, wie ich mich ausdrücke), weil er Mannigfaltiges nur als Produkt der Zusammensetzung von vielerlei Einzelnem vorzustellen vermag. Besonders deutlich wird diese Beschränktheit seiner Sicht auf Typen der Mannigfaltigkeit in einer Passage der anthropologischen Vorlesung von 1781/82 über dunkle Vorstellungen: Was Fernrohre an der Milchstraße in lauter Einzelsterne, Mikroskope an einem scheinbaren Staubkorn in Körperteile eines Wurmes auflösen, hat der Betrachter nach Kant von vornherein schon mit bloßem Auge gesehen, Stück für Stück, nur dunkel; ebenso hat ein Mensch den Wissensschatz, den man aus ihm herausfragen kann, schon vorher in allen Details parat, nur dunkel. 1176 Wo vieles da ist, muss es nach Kant lauter Einzelnes sein, so dass die Explikation nicht Verleihung der Einzelheit ist, sondern bloßes Auspacken des zuvor Vergrabenen. Kants Singularismus empfängt dadurch eine eigentümliche Note, dass er unter den großen Singularisten der neuzeitlichen Philosophie der Erste ist, der sich um den Singularismus gar nicht mehr zu bemühen braucht, weil dieser ihm so selbstverständlich geworden ist, dass keine entgegengesetzte Denkweise mehr in seinem Horizont auftaucht. Das unterscheidet ihn namentlich von seinem wichtigsten Anreger und zu überwindenden Gegenspieler Hume, der für seinen Singularismus noch die aggressive, der Wilhelms von Ockham ebenbürtige Schärfe bei Kappung aller Zusammenhänge benötigte (34.1). Kant ist von solcher Frontstellung als Erbe Lockes entbunden. Ich denke an meine Ausführungen über Lockes Ideenlehre unter 33.3. Lockes Ideen sind zugleich Ideen von etwas und als die direkten Gegenstände des Geistes selber dieses Etwas, in dessen Rolle sie eintre1175 1176

Physik 263b 3–9. Ak XXV/2, 867–869.

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ten, da das, wovon sie Ideen sein sollen, die Substanz, in Nebel verschwindet und manchmal nicht mehr ernst genommen wird. Auf diese Weise verbrauchen sie den Bedarf des Bestimmtwerdens durch von ihnen unterschiedene Bestimmungen und ersetzen ihn durch die Eignung zur Kombination durch Wiederholung oder Mischung in komplexen Modi. Als Erbe dieser Tendenz Lockes ersetzt Kant die Bestimmtheit als etwas, sofern sie eine Voraussetzung des Einzelnseinkönnens ist (21.1), durch die Verknüpfung vieler einzelner Gegenstände zu Netzwerken (Synthesis). Einzelne, an sich isolierte, einander fremde und getrennte Vorstellungen werden zur Erkenntnis erst durch eine vergleichende und verknüpfende Spontaneität (A 97) des Verstandes, dessen Denken nicht selbst ein Erkennen, sondern nur Verbinden und Ordnen des ihm gegebenen Stoffes ist (B 145). Die Anschauung bietet das Mannigfaltige, das ihr gegeben ist, der Einbildungskraft an; diese setzt es zusammen, und der Verstand bringt den Begriff als Vorstellung der Einheit dieses Zusammenhanges bei (KU 145). Vom Begriff absteigend, ist diese Zusammensetzung durch das »Schema der Einbildungskraft« programmiert, das dieser den Weg zum Zeichnen nach dem Begriff weist: »Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, das ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.« (A 141 B 180) Die Flexibilität des Schemas bewahrt Kant vor der gefährlichen, für Platon und Locke verhängnisvollen (33.3) Selbstanwendung der Idee oder des Begriffes, einer Gefahr, der er sich am Anfang des Kapitels über den Schematismus (A 137 B 176) durch die Behauptung einer Gleichartigkeit von Begriff und darunter zu subsumierendem Gegenstand aussetzt; dafür verliert der Begriff seine Selbstständigkeit, indem er zweideutig in das Schema übergeht oder, wie Kant sich unklar ausdrückt, dieses als eine Regel »bedeutet«. Der Begriff als inhaltliche Bestimmung, als Gattung im weitesten Sinn, wird auf diese Weise formalisiert zu einer Regel des Verfahrens, Bilder herzustellen, als »gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden« (A 142 B 181). Im Fall der reinen Verstandesbegriffe handelt es sich um »ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, (…) in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, sofern diese (…) a priori in einem Begriff a priori 325

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zusammenhängen sollten.« (A 142 B 181) Das ist die schon erwähnte »transzendentale Handlung der Einbildungskraft (synthetischer Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn), welche ich die figürliche Synthesis genannt habe«, die sich angeblich u. a. dadurch zu erkennen gibt, dass wir keine Linie denken können, ohne sie in Gedanken zu ziehen (B 154). Aus einem Begriff oder einer Gattung, unter die etwas so fallen kann, dass es dadurch als etwas bestimmt wird, macht Kant auch bei den reinen Verstandesbegriffen Konstruktionsregeln für die Herstellung eines Zusammenhanges. Dieselbe Tendenz, an die Stelle inhaltlicher Bestimmung Konstruktionsregeln der Zusammensetzung, Abstimmung und gegenseitigen Anpassung einzelner Faktoren zu setzen, greift von der Metaphysik der (physischen und psychischen) Natur auf andere Themengebiete Kants über. Die Entsprechung in der Moralphilosophie ist der von Scheler angeprangerte »Formalismus in der Ethik«, d. h. der Ersatz aller materialen praktischen Prinzipien, die nach Kant nur im Dienst »der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit« stehen 1177 und daher von der dagegen rücksichtslosen strengen Pflicht ausgelöscht werden, durch einen bloß an der Form eines allgemeinen Gesetzes abzulesenden kategorischen Imperativ, der die Tauglichkeit der Maxime des Handelns zum »allgemeinen Naturgesetze« (GMS Ak. IV 421, 19) der Verträglichkeit aller solcher Maximen zur einzigen Richtschnur sittlich geforderten Handelns macht. In Kants Ästhetik äußert sich diese Tendenz im Verzicht auf jede Semantik des Schönen, die es als Träger oder Erscheinung gewichtiger Bedeutungen hinstellen könnte, zugunsten seiner Zweckmäßigkeit für ein fortgesetzt sich erneuerndes freies Spiel der Unterhaltung zwischen Verstand und Einbildungskraft des Betrachters, das durch seine Bedeutungsarmut freilich auf die Dauer faden Überdruss aufkommen lässt, so dass Kant das Wohlgefallen am Schönen durch Anleihen bei der Moral stützen muss. 1178 Auch das Recht bestimmt Kant als Lösung einer Konstruktionsaufgabe ohne inhaltliche Vorgaben, lediglich bezüglich auf ein Maximum kompossibler Spielräume für die Willkür der Rechtsgenossen. 1179 KpV 40 (Ak. V 22, 6–8), Lehrsatz II. KU 214; Ak. XI 228, 21–29 (an Reichardt 15. 10. 1790), vgl. WK 168 f. 1179 »Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann.« (Ak. VI 230, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre). 1177 1178

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Die geschichtliche Stellung der Philosophie Kants

Erbe einer langen Tradition ist Kant schließlich noch mit der für sein System fundamentalen Betonung der Seelenvermögen wie Verstand, Vernunft, Einbildungskraft und Sinnlichkeit. Für uns hat die Rede von solchen Vermögen nur noch Sinn als Hilfe zur Klassifikation von Vorgängen, Zuständen und Leistungen einschließlich ihrer Abhängigkeit von der Funktion von Körperteilen. Bei Kant treten diese Vermögen dagegen wie selbstständige, mit und gegen einander wirkende Teilpersonen auf, indem etwa die Vernunft der Sinnlichkeit ein Gesetz (das Joch der Pflicht) auferlegt, diese dem Verstand durch Anschauung, Empfindung und Wahrnehmung Daten liefert, die dieser durch spontane Synthesis denkend durch Begriffe verknüpft und sich dabei der Einbildungskraft bedient, die die Verknüpfung passend zu den reinen Verstandesbegriffen ausführt. Hinzu kommt die Urteilskraft, die Kant etwas seltsam vom Verstand noch unterscheidet, nachdem er diesen als »ein Vermögen zu urteilen« (A 69 B 94) bestimmt hat; sie ist damit beschäftigt, teils unter Begriffe zu subsumieren, teils nach Begriffen zu suchen, unter die subsumiert werden kann. Über allen anderen Vermögen steht die Vernunft, die das Unbedingte fordert und dadurch den um das menschliche Erkennen gezogenen Bannkreis vergebens zu sprengen sucht, während sie dem menschlichen Begehren unnachsichtig Pflichten auferlegt. Alle solche Hypostasen sind Gebilde einer mythischen Psychologie, denen in der nachprüfbaren Lebenserfahrung lediglich der ruckartige Zuwachs an Können entspricht, der dem heranwachsenden Menschen beim Sprechenlernen durch den Erwerb satzförmiger Rede zuteil wird. Ich verstehe darunter nicht allein die syntaktisch gegliederte Rede, sondern jede Rede mit der explikativen Funktion, aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit einzelne Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme und Probleme) herauszuheben und zu Konstellationen zu vernetzen, statt nur – wie Tiere und Säuglinge – durch Rufe (Alarm-, Lockrufe u. dgl.) und Schreie solche Situationen ganzheitlich heraufzubeschwören, zu modifizieren und zu beantworten. Dieses analytische und kombinatorische Können des Einzelnen (d. h. dessen, was eine Anzahl um 1 vermehrt = was Element einer endlichen Menge ist) vollbringt nach meiner Überzeugung alle Leistungen, die Kant mit singularistischem Glauben an das von vornherein Einzelne einer Synthesis überträgt, die das schon Einzelne bloß noch zusammenstellt. Hinter den hypostasierten Agenten der Kant’schen Psychologie steckt demnach nichts als das Vermögen satzförmiger Rede. 327

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35.2 Die Motivation der Philosophie Kants

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35.2.1 Der transzendentale Idealismus Eine der drei Säulen des Kant’schen Kritik-Systems ist der transzendentale Idealismus, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft zweimal mit Definitionen vorstellt: »Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealism aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst, ansehen, und demgemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber vor sich gegebene Bestimmungen, oder Bedingungen der Objekte, als Dinge an sich selbst sind.« (A 369) »Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: dass alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transzendentalen Idealism.« (A 490 f. B 518 f.) Er kommt in zwei Fassungen vor, die Kant ohne Hinweis auf ihren wesentlichen Unterschied zufällig oder je nach Absicht mischt, so dass der Leser, der nichts davon merkt, vor Rätseln steht: als psychologischer Idealismus und als materialer Realismus, wie ich mit eigenen Worten die gegensätzlichen Versionen fixiere. Der Unterschied betrifft die Art, wie die Seele oder – wie Kant lieber sagt – das Gemüt von den Dingen an sich selbst affiziert wird. Wo Kant dem strikten Immanenzdogma (33.2) anhängt, 1180 muss er diese Affektion auf kausale Anregung, eine bloße Auslösung der Vorstellungsbildung in der Innenwelt, beschränken, da die Eigenschaften »einer gegenwärtigen Sache (…), wie sie an sich ist, (…) nicht in meine Vorstellungskraft hinüber wandern können« (Prol. IV 282, Wie KrV A 378: »Wenn wir äußere Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechterdings unmöglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung stützen, die in uns ist. Denn man kann doch außer sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst, und das ganze Selbstbewusstsein liefert daher nichts, als lediglich unsere eigenen Bestimmungen.« Ebenso A 106 f.: Wir haben nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun, ohne einen ihnen korrespondierenden Gegenstand, der »vor uns nichts ist«, so dass wir statt seiner »die formale Einheit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen« bemühen müssen, um diesen Einheit zu geben.

1180

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Die Motivation der Philosophie Kants

17–20). Dieser psychologische Idealismus, der in der transzendentalen Deduktion und besonders im Paralogismenkapitel von A krasse Blüten treibt, wird aufgeweicht, wenn den Dingen an sich bei der Affektion sozusagen ein Besuch in Raum und Zeit gestattet wird, so dass sie gegenwärtig da und geradezu greifbar sind, 1181 aber bis zur Unkenntlichkeit durch Raum und Zeit maskiert, so dass durch solchen materialen Realismus dieselbe gnoseologische Abgeschlossenheit der Innenwelt gegen das unerkennbare Ding an sich festgehalten wird; Kant beleuchtet ein solches Verhältnis durch das lustige Bild des Blindekuhspiels, 1182 wobei im transzendentalen Idealismus die Anschauungsformen Raum und Zeit die Binde vor den Augen der »blinden Kuh«, d. h. des sich zu einem unsichtbaren Gegenüber vortastenden Spielers, sind. Wegen der uneingestandenen Möglichkeit des Pendelns zwischen psychologischem Idealismus und materialem Realismus im Rahmen des festgehaltenen transzendentalen Idealismus kann Kant ebenso, Berkeleys »esse est percipi« für das Räumliche übernehmend, lehren, dass im Raum nichts sei, als was in ihm vorgestellt wird, weil er nichts als Vorstellung und mit allen seinen Erscheinungen nur in mir ist, 1183 wie andererseits, als er aus der Garve-Feder’schen Rezension von KrV einen ihm lästigen Vorwurf des »höheren Idealismus« herausgelesen hat, zur »Widerlegung des Idealismus« den »Lehrsatz« aufstellen: »Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusstsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.« 1184 Man kann sicher sein, dass Kant den transzendentalen Idealismus nicht wirklich geglaubt hat. Sonst hätte er keine Bücher geschrieben und dem Publikum zur Lektüre überlassen. Lesen geschieht im Raum, weil Bücher räumlich ausgedehnte Gegenstände sind; wenn alles, was im Raum vorkommt, ebenso wie dieser selbst, nur eine Vorstellung in Kant ist, die außer seinen Gedanken keine in sich gegründete Existenz hat, wird unbegreiflich, warum er mit seiNach einer Aufzeichnung Kants auf einem losen Blatt, die Adickes in die letzten 1780er Jahre datiert (Ak. XXI 421, 31–422, 7) sind die Dinge an sich »dasjenige Feste, was im Raum Widerstand leistet (und dadurch die Erscheinung Undurchdringlichkeit hervorbringt)«, s. WK 290 f. Anm. 398. 1182 R. 6350 (Juli–August 1797), Ak. XVIII 675, 25–676, 2. 1183 A 374 Anm., A 375. 1184 B 274 (»Widerlegung des Idealismus«), 275 (»Lehrsatz«). Das Nähere zu materialem Realismus und psychologischem Idealismus steht in WK S. 219–230, zur Widerlegung des Idealismus S. 288–304. 1181

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nen Vorstellungen käuflich im Druck verkehrt, statt bloß seine Gedanken zu wälzen. Entsprechendes gilt für alle Sozialkontakte, denen ein agnostischer Solipsismus, der andere Bewussthaber nicht leugnet, aber für unzugänglich hält, den Boden der Vernünftigkeit entzieht; Kant aber hält ohne Skrupel alle solche Kontakte aufrecht. Die Aussicht für diese wird nicht günstiger, wenn man vom psychologischen Idealismus zum materialen Realismus wechselt. Die Körper sind in dieser Sicht »bloße Erscheinung, wer weiß, welches unbekannten Gegenstandes« (A 387), zwar der Sache nach Dinge an sich, aber in einer Erscheinungsweise, die unkenntlich macht, um was für Dinge es sich handelt; bloß dies steht fest: dass sie raumlos und zeitlos sind. Das gilt auch für die Körper der Mitmenschen, die, abgesehen von ihrer Erscheinungsweise als Körper im Raum, niemals und nirgendwo sind. Man kann sich das Unheimliche einer solchen Anwendung des materialen Realismus nicht eindringlich genug vor Augen führen: Da begegnen mir Mitmenschen, die ich vielleicht herze und küsse, weil es sich um meine Frau und meine Kinder handelt, und ich kann nicht wissen, um was es sich handelt, außer, dass dieser Gegenstand niemals und nirgendwo existiert, wenn er auch im Raum wie durch eine undurchdringliche Maske als Körper erscheint. Abgesehen von dieser Unheimlichkeit ist der transzendentale Idealismus in beiden Formen unverträglich mit den Ansprüchen der Moral- und Rechtsphilosophie Kants. Sie orientieren sich an der Idee möglicher Übereinstimmung aller vernünftigen Wesen, zunächst der menschlichen; wenn aber jeder dem anderen im Raum bloß die Larve seiner Erscheinung entgegenhält und dahinter, was er an sich selbst ist, unentdeckbar zurückhält, wird solche Übereinstimmung wenigstens als Verständigung unmöglich und kann höchstens noch ein von höherer Hand arrangiertes Konzert sein, wie die prästabilisierte Harmonie nach Leibniz. Überdies kann man auf die Bedürfnisse der Mitmenschen keine Rücksicht mehr nehmen, wenn man nicht weiß, wer oder was hinter der undurchsichtigen Erscheinung steckt, falls diese nicht gar, wie gemäß dem psychologischen Idealismus, gar keine an sich gegründete Existenz außer meinen Gedanken hat. Solche Rücksichtnahme ist für Moral und Recht aber unentbehrlich. Kant scheint diese Diskrepanz zwischen seinem Dogma und der durch sein Tun bezeugten wirklichen Überzeugung nicht bemerkt zu haben; er trägt transzendentalen Idealismus und damit zusammengehörige Stücke seines Lehrgebäudes fast regelmäßig mit Gebrauch der ersten Person des Plurals (»Wir«) vor, ohne sich darum Sorgen zu 330

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Die Motivation der Philosophie Kants

machen, wen er anspricht. Eine so ausgeprägte Persönlichkeitsspaltung fordert zur Frage nach verdeckten Motiven heraus. Um ihr nachzugehen, frage ich nach den die Persönlichkeit leitenden Präferenzen, dem Ichideal Kants. Die Antwort ist einfach: Kants Verlangen geht auf Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, eigene Initiative. Die Zeugnisse sind dicht gesät. Ich streife sie zunächst in drei Etappen: 1. Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764/65): Alles der freien Willkür zu subordinieren, Unterordnung der gesamten Vermögen und Empfänglichkeiten unter sie, ist Vergnügen und größte Vollkommenheit (Ak. XX 144, 17–20; 145, 16–20). 2. Anthropologie-Vorlesung 1772/73: Größte Vollkommenheit besteht darin, alle Tätigkeiten in seiner Gewalt zu haben. (Ak. XXV 38, 1 f.) In der Macht der freien Willkür, alle Akte unseres Vermögens beliebig auszuüben oder zurückzuhalten, gegen alles gewaffnet und unüberwindlich zu sein, liegt das größte Glück der ganzen Welt. (ebd. 29, 31–30, 3) Ich will kein Spielball des Schicksals anderer sein, nicht bemitleidet werden, sondern selbstständig wohl tun (ebd. 206, 28–207, 3). 3. Metaphysik der Sitten Vigilantius: Es handelt sich um die Nachschrift einer Vorlesung Kants aus dem Wintersemester 1794/95, angefertigt von Kants Rechtsberater, einem reifen und mit dessen Gedankenwelt vertrauten Mann, daher besonders vertrauenswürdig, wenn auch nicht von dessen eigener Hand, sondern »in großer Kinderschrift« überliefert. »Das Misstrauen in seine Kräfte ist immer unbegründet; der Mensch hat ein Vermögen, sich von allen Wesen unabhängig zu erhalten.« (Ak. XXVII 606, 1–3) »Der Mensch ist schuldig, die äußersten Kräfte anzustrengen, um ein freies und unabhängiges Wesen gegen andere zu bleiben.« (ebd. 605, 35 f.) »Der Mensch gehört sich selbst an, homo est sui iuris.« (601, 8) Daraus ergibt sich Kants Ablehnung der geschlechtlichen Hingabe, der heroischen Tugend, womit der Mensch in einer sittlichen Höchstleistung ganz von sich absieht, und der Dankbarkeit durch Kant in dieser Vorlesung; man soll immer nur Gläubiger, nie Schuldner sein und entwürdigt sich, wenn man Wohltaten annimmt (WK 144–147). Zu diesen Stellungnahmen kommen entsprechende in den über Jahrzehnte verstreuten Reflexionen zur Moralphilosophie, die Kant in sein Exemplar von Baumgartens Initia philosophiae practicae eingetragen hat (Ak. XIX). Der größte Beweggrund der Vernunft besteht darin, Glückseligkeit zum Produkt der Spontaneität zu machen, was allerdings ohne Gottes Hilfe nicht ganz gelingen kann (196, 8–14). »Glückseligkeit ist eigentlich nicht die 331

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größte Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewusstsein seiner Selbstmacht zufrieden zu sein (…).« (276, 30–32) Solche Selbstzufriedenheit ist der Besitz eines von äußeren Dingen unabhängigen Wohlbefindens, der hohe innere (nicht aus Förderung der allgemeinen Wohlfahrt zu gewinnende) Wert der Tugend: dass wir selbst die Urheber sind, die sie ohne Rücksicht auf empirische Bedingungen hervorbringen (111, 19–22; 277, 29–35). Solche Rücksicht auf sich selbst unterscheidet in der Metaphysik der Sitten Vigilantius die von Kant begünstigte tugendhafte Gesinnung von der abgelehnten (s. o.) heroischen Tugend: Der Tugendhafte versteht sich darauf, sich »in der Aufopferung dessen, was seiner Moralität Abbruch tun würde, das Gefühl von moralischer Vollkommenheit mit einer gewissen Kraft und Stärke« zu verschaffen (Ak. XXVII 663, 14–20). Solche Aufopferung ist der Kampf gegen die Neigungen, der noch Kants ethischen Hauptschriften der 80er und 90er Jahre das Gepräge gibt und schon in der Anthropologie-Vorlesung 1772/73 scharf herausgearbeitet wird: »Alle Neigungen setzen uns in Sklaverei – wir haben immer alle Hände voll zu tun, um unseren Neigungen zu widerstehen. (…) Lasst uns doch nicht mit Neigungen an Sachen kleben, sie schaden immer, auch wenn sie auf was Gutes gerichtet sind. (…) Überhaupt fliehe man Neigungen wie Feinde unserer Freiheit.« (Ak. XXV 208, 8–10. 15–17. 26–29) Der Wille zum Kampf gegen die Neigungen folgt bei Kant also nicht, wie der Leser der Kritik der praktischen Vernunft glauben könnte, allein dem gebieterischen Pflichtgebot der Vernunft (s. u. 35.4.2), sondern dahinter steht noch das unbändige Verlangen nach persönlicher Unabhängigkeit, Freiheit und Eigenmacht. Die Abwehr der Neigungen ist nur eine Seite davon: »Die wesentliche Vollkommenheit eines frei handelnden Menschen beruhet darauf, dass diese Freiheit der Neigung nicht unterworfen werde und überhaupt gar keiner fremden Ursache unterworfen sei.« (Ak. XIX 105, 31–106, 2) Auch nicht Gott. Ich habe ausführlich und mit vielen Belegen gezeigt, dass Kant die Geschöpflichkeit, das Erschaffensein des Menschen durch Gott, als unverträglich mit der Freiheit eigenen, spontanen, selbstmächtigen Tuns ablehnt, genauso wie die Knechtschaft, die den Menschen zum Werkzeug eines anderen herabsetzt (WK 43–45). Dabei führt ihn die Erwartung, dass die bloße Kreatürlichkeit dafür ausreiche, dem Menschen die eigene Inititative zu rauben, so dass sich Gott an dessen Stelle in die Rolle des Urhebers der Tätigkeit setzen würde, wie der Herr durch den Knecht etwas tut, wenn er das den Knecht tun lässt. 332

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Die Motivation der Philosophie Kants

Mit dieser Sorge nähern wir uns dem Motiv des transzendentalen Idealismus bei Kant. Es handelt sich um die Sorge, mit der Freiheit seine Selbstständigkeit als Substanz, die er für sich und alle Dinge in Anspruch nimmt, 1185 in der Weise zu verlieren, dass er zu einer bloßen Bestimmung oder Modifikation eines anderen (nämlich Gottes) herabsinkt, der dann in Wirklichkeit statt seiner der Denkende und Handelnde wäre: »Der Begriff einer Substanz führt schon den Begriff der Freiheit mit; denn, würde ich nicht selbst handeln können unabhängig von äußerer Bestimmung, so würde meine Handlung nur die Handlung eines anderen, mithin ich eigentlich eines anderen Handlung sein, und nicht Substanz.« (R. 5094, Ak. XVIII 86, 2–5, ca. 1776–78) »(…) so entstehet der Begriff einer Substanz, indem ich an mir selbst wahrnehme, dass ich kein Prädikat mehr von einem andern Dinge sei. Z. B. wenn ich denke; so bin ich mir bewusst, dass mein Ich in mir denkt, und nicht etwa ein anderes Ding.« 1186 Offenkundig ist hier die warnende Anspielung auf Spinoza, für den die Seele (mens) und der Körper des Menschen einander zugeordnete Modifikationen (modi) Gottes sind, der Geist ein modus göttlichen Denkens, der Körper ein modus der göttlichen räumlichen Ausdehnung. Kant selbst stellt die Verbindung in der Kritik der praktischen Vernunft her: »Daher, wenn man jene Idealität der Zeit und des Raums nicht annimmt, nur allein der Spinozism übrig bleibt, in welchem Raum und Zeit wesentliche Bestimmungen des Urwesens selbst sind, die von ihm abhängige Dinge aber (also auch wir selbst) nicht Substanzen, sondern bloß ihm inhärierende Accidenzen sind« (Ak. V 101, 37–102, 4). Der transzendentale Idealismus, die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit als bloßer subjektiver Anschauungsformen, ist hiernach die einzige Rettung vor dem Spinozismus, der tödlichen Gefahr für Freiheit und Selbstständigkeit (Substantialität) der Person, das Ichideal Kants. So entscheidend ist der transzendentale Idealismus für die Freiheit nach Kant, dass in seiner Sicht beide als die beiden Angelpunkte des Systems der Kritik der reinen Vernunft unzertrennlich zusammengehören. 1187 »Dieser Begriff von einem Dinge lehrt uns aber, dass ein jedes Reale, was für sich existiert, ohne eine Bestimmung von einem andern Dinge zu sein, eine Substanz ist, folglich alle Dinge Substanzen sind.« (Religionslehre Pölitz, Vorlesung 1783/84, Ak. XVIII 1041, 36–39) »Ich bin selbst ein Ding und daher auch selbst eine Substanz« (ebd. 1042, 11 f.). 1186 Ak. XXVIII 1042, 3–7 (Religionslehre Pölitz, s. o.). 1187 R. 6353 (2. Hälfte 1797), Ak. XVIII 679, 15–19: »Das System der Kritik der reinen 1185

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Dass sich Kant die Rettung der Freiheit vor dem Spinozismus gerade vom transzendentalen Idealismus des Raumes und der Zeit verspricht, ist ein Ergebnis seiner Rezeption der barocken Raumtheologie, die sich gern (so bei Clarke in den Streitschriften gegen Leibniz) des Schlusses vom Spruch des Paulus über Gott »In ihm leben und weben und sind wir« (Apostelgeschichte 17, 28) auf den Raum, in dem wir leben und weben und sind, bedient, um diesen mit Gott oder wenigstens mit dessen Allgegenwart und Unermesslichkeit (immensitas) zu identifizieren. Ich habe diese Rezeption untersucht (WK 11–23) und bin dabei, außer auf Clarke und Henry More als Quellen, auf ein 1763 erschienenes Buch gestoßen, das im Anschluss an die Übersetzung einer französischen Abhandlung Leonhard Eulers über Raum und Zeit u. a. eine ausführliche Geschichte der Raumtheologie enthält und die Brücke von Newtons Dogma des absoluten Raumes und der absoluten Zeit zu Spinoza schlägt, für den der Raum (die Ausdehnung) Gott selbst unter einem seiner unendlich vielen Attribute ist; ich habe sehr wahrscheinlich gemacht, dass Kant dieses Buch gelesen und daraus geschöpft hat. 1188 In der von Herder mitgeschriebenen Metaphysik-Vorlesung Kants (zwischen 1762 und 1764) steht: »Der Raum muss der erste actus der göttlichen Allgegenwart sein: wodurch die Dinge in nexus kommen: der Raum macht Beziehung.« (Ak. XXVIII 888, 4–6) Da spricht Kant selbst als Raumtheologe. Später, als er sich dieser Theologie durch den transzendentalen Idealismus entzogen hat, nennt er den Raum nicht mehr »Akt«, sondern nur noch »Phänomen«, Erscheinungsbild göttlicher Allgegenwart, 1189 aber noch in einer Eintragung in sein Handexemplar der 1. Auflage von KrV bringt er den Raum als solches Phänomen der möglichen Gemeinschaft von Substanzen in Verbindung mit dem Spinozismus, der die Dinge an sich zu bloßen Akzidentien herabsetVernunft dreht sich um 2 Kardinalpunkte: als System der Natur und der Freiheit, deren eines auf die Notwendigkeit des anderen führt. – Die Idealität des Raumes und der Zeit und die Realität des Freiheitsbegriffs, von deren einem man analytisch zu dem anderen unvermeidlich geführt wird.«. 1188 WK 17–20, bezüglich auf: Vernünftige Gedanken von dem Raum, dem Ort, der Dauer und der Zeit, teils aus dem Französischen des Herrn Professor Eulers übersetzt, teils aus verschiedenen ungedruckten Schriften dieses berühmten Mannes mitgeteilt. Nebst einigen Anmerkungen und einem Versuche einer unparteiischen Geschichte der Streitigkeiten über diese Dinge, Quedlinburg, bei Gottfried Heinrich Schwans Witwe, 1763. 1189 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770), sectio IV scholion, Ak. II 410, 3: omnipraesentia phaenomenon.

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Die Motivation der Philosophie Kants

zen würde; anders aber sei deren Gemeinschaft nicht begreiflich. 1190 In seinen späten Metaphysik-Vorlesungen, lange nach Etabilierung des transzendentalen Idealismus, kommt Kant öfters auf die Idealität des Raumes als einzigen Ausweg aus dem Spinozismus, der alle Dinge in Gott versenkt, zurück. 1191 Der Raum ist ihm sozusagen der Magen Gottes, der die Substanzen zu verdauen droht und dadurch dem Anspruch Kants auf Freiheit und Selbstständigkeit gefährlich wird; deswegen muss er mit allem, was in ihm ist, durch den transzendentalen Idealismus aus der Realität abgeschoben werden. Die Subjektivierung im transzendentalen Idealismus erfasst die Zeit so gut wie den Raum, doch kommt es dabei für Kant mehr auf den Raum an. In seiner Abhandlung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum glaubt er 1768 mit seiner Beobachtung an inkongruenten Gegenstücken einen zwingenden Beweis dafür gefunden zu haben, »dass der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe« (Ak. II 378, 9–11), die sich daran zeigt, dass er den Körpern nicht nur äußerliche Beziehungen der Lage einträgt, sondern auch ein »innerer Unterschied« (382, 26), der schon einem isolierten Einzelkörper als unablegbare Eigenschaft zukommen würde, aus dem bloßen Raum stammt. Damit ist die spinozistische Gefahr, die gemäß der anonymen Euler-Amplifikation von 1763 vom absoluten Raum ausgeht,1188 akut geworden: Sie frisst die Körper in ihrem Ansichsein (vor allen Lagebeziehungen) an. Zwei Jahre später nimmt die Dissertation von 17701189 durch den transzendentalen Idealismus dem Raum diese Bedrohlichkeit, indem sie ihn mit der Zeit zusammen idealisiert. Ich habe zu zeigen versucht, dass das »große Licht«, von dem sich Kant nach R. 5037 (Ak. XVIII 69, 18–22) im Jahr 1769 erleuchtet fand, gerade die Entdeckung dieses Ausweges war, durch den transzendentalen Idealismus der spinozistischen Drohung des absoluten Raumes zu entkommen (WK 69–71). Obwohl dabei die Zeit in die Idealität mitgenommen wird, scheint sie der Ichsubstanz nicht so gefährlich Ak. XXIII 31, 34–32, 1: »Der Raum macht die Gemeinschaft möglich. (…) Die Gemeinschaft der Dinge an sich selbst muss entweder eine dritte Substanz haben, in der sie als Accidentia sind und gegen einander im Verhältnis sind – Spinozism –, oder, da dies nicht angeht, so bleibt sie unbegreiflich. Der Raum ist selbst das Phaenomenon der möglichen Gemeinschaft.«. 1191 Ak. XXVIII 567, 23–27, 732, 22–26, 803, 9–14, 829, 31–37; XXIX 977, 30–39, s. WK 52 f. 1190

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wie der Raum zu sein. In der transzendentalen Deduktion heißt es A123: »Denn das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption) macht das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus.« Dieser Satz hat nur Sinn, wenn dieses Ich als beharrend in der Zeit verstanden wird. In diesem Sinn wird nach A379 »das denkende Ich, gleichfalls als Substanz in der Erscheinung, vor dem inneren Sinne gegeben« wie die beharrende Materie als Substanz in der Erscheinung dem äußeren Sinn. Die Abgrenzung zwischen dem transzendentalen Apparat zur Ermöglichung der Erfahrung und der empirischen Erfahrung scheint bezüglich der zeitlichen Beharrung (als wesentlichem Merkmal der empirischen Substanz) durchlässig zu werden. Demgemäß verlegt Kant auf einem losen Blatt, das (gemäß der Datierung des Schriftstücks auf der anderen Seite) nach dem 20. Januar 1780 (also wohl kurz vor KrV A) entstanden ist, die »transzendentale Synthesis der Einbildungskraft« in die Zeit (Ak. XXIII 18, 31–36). So etwas kommt für den Raum nicht in Frage. In der 2. Auflage der KrV muss mit der Wendung des transzendentalen Idealismus zum materialen Realismus das denkende Ich seinen Platz als »Substanz in der Erscheinung« neben der Materie räumen. Wir haben nach B 278 »nichts Beharrliches, was wir dem Begriff einer Substanz, als Anschauung, unterlegen könnten, als bloß die Materie«.

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35.2.2 Die kopernikanische Wende und der kritizistische Immanentismus Die beiden anderen Säulen des Kantischen Kritik-Systems, neben dem transzendentalen Idealismus, sind die kopernikanische Wende und der kritizistische Immanentismus. Die kopernikanische Wende besteht in der These: Der Verstand gibt der Natur in Raum und Zeit a priori Gesetze. Der kritizistische Immanentismus ist die These: Wir können die Dinge an sich nicht erkennen, sondern nur ihre Erscheinungen in Raum und Zeit. Um die Motivation Kants zu diesen beiden Thesen zu durchschauen, ist es nötig, auf die Anregung durch Hume einzugehen, die er als das wichtigste Ereignis seiner philosophischen Entwicklung hinstellt: »Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.« (Prol. Ak. IV 260, 6–9) Dabei handelt es sich um Humes Ein336

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Die Motivation der Philosophie Kants

wurf gegen die »Verknüpfung von Ursache und Wirkung« (ebd. Z. 18–20), s. o. 34.1. Man muss aber sagen, dass Kant in dieser Beziehung bald wieder eingeschlafen ist und der Schlaf seit der ersten Entfaltung der Konzeption einer Kritik der reinen Vernunft im Brief an Herz vom 21. Februar 1772 (darüber gleich) alle drei Kritiken überdauert und Kant bis ans Ende begleitet hat. Er besteht darin, dass Kant mit gelassener Selbstverständlichkeit, ohne jeden Skrupel wegen der Kausalskepsis Humes, die Kausalität – und zwar nicht die transzendentalphilosophisch gegen Hume rehabilitierte, sondern eine ohne Erläuterung und Begründung beanspruchte – zu zwei Eckpfeilern des Eingangs in sein System macht: als transzendente Kausalität des die Sinnlichkeit affizierenden Dinges an sich, das die »intelligible Ursache der Erscheinungen« ist 1192 und als subjektive Kausalität des gleichfalls übersinnlichen Verstandes, der durch spontane Synthesis im »Gewühle der Erscheinungen« Erfahrung möglich macht (A111). Dennoch ist Kants Behauptung nicht falsch, dass seine »Bearbeitung der Kritik der reinen Vernunft (…) durch jene Humische Zweifellehre veranlasst ward« (KpV 92, Ak. V 52, 34 f.), und zwar durch Humes Kausalskepsis. Was ihn aus dieser inspirierte, war aber keineswegs deren Radikalität, sondern die psychologische Umdeutung, an die Stelle der Einsicht in eine notwendige Verknüpfung bloße Gewohnheit und Assoziation regelmäßig wiederkehrender Vorstellungen zu setzen. Damit schien Hume den Menschengeist auf das Niveau des Tieres herabzusetzen: »Subjektive Notwendigkeit, d. i. Gewohnheit, statt der objektiven, die nur in Urteilen a priori stattfindet, unterschieben, heißt der Vernunft das Vermögen absprechen, über den Gegenstand zu urteilen«, als ob man »nur ähnliche Fälle (mit den Tieren auf ähnliche Art) erwarten dürfe, d. i. den Begriff der Ursache als falsch und bloßen Gedankenbetrug verwerfen.« (KpV24, Ak. V 12, 19–28) Hume machte aus dem Prinzip der Affinität, dem a priori einsehbaren objektiven Grund aller Assoziation (A122) mit Sitz im Verstande, eine »Regel der Assoziation«, die »nur zufällige, gar nicht objektive Verbindungen darstellen kann« (A766 f. B 794 f.). Ohne die Funktion des Verstandes würden Sinneseindrücke »für mich, als erkennendes Wesen, schlechterdings nichts sein, wobei sie (wenn ich mich in Gedanken zum Tier mache) als Vorstellungen, die nach einem empirischen Gesetze der Assoziation verbunden wä-

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KrV A19B33 und A494B522.

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ren, (…) immerhin ihr Spiel regelmäßig treiben können (…).« 1193 Hume setzt den Menschen also auf das Niveau des Tieres herab, mit dem jener das auffassende Ich (die Apprehension) gemein hat, während ihn das denkende Ich, womit er sich seiner selbst und der Verknüpfung seiner Vorstellungen bewusst ist, von allen anderen Tieren unterscheidet und Spontaneität des Vorstellungsvermögens ist (R. 1531, Ak. XV/2 S. 958, 27–33). Solche Gleichstellung von Mensch und Tier trifft bei Kant auf phobische Abwehr, einen horror pecoris. Von dem greisen Kant berichtet Wasianski dessen Ablehnung der damals aufkommenden Pockenimpfung mit einem Kuhserum, denn der Greis »meinte sogar, dass die Menschheit sich zu sehr mit der Tierheit familiarisiere und der ersteren eine Art von Brutalität (im physischen Sinne) eingeimpft werden könne.« 1194 Eine erkenntnistheoretische Anwendung dieser Einstellung ist der Kommentar Kants zu einer Zeichnung des Fürsten von Beloselsky im Entwurf eines Briefes an diesen aus dem Sommer 1792: Die bloße Auffassung der Vorstellungen (apprehensio bruta) ist lediglich für das Vieh. Darüber erhebt sich der Verstand in allgemeiner Bedeutung, das obere Erkenntnisvermögen im Gegensatz zur Sinnlichkeit, der Sphäre der Dummheit (bêtise, eigentlich Tierheit). »Durch Vernachlässigung des Verstandes kann der Mensch bisweilen aus der Sphäre des Verstandes in das Leere der bêtise zurückfallen (…).« (Ak. XI 345) Die Fallhöhe ergibt sich aus folgender Charakteristik des Verstandes: »Verstand nennt man das obere, Sinnlichkeit das untere Erkenntnisvermögen. Die Dignität des Verstandes besteht in seiner Spontaneität, d. h. in der Macht, frei handeln zu können. Das obere Erkenntnisvermögen ist das Vermögen, mir jedes Zustandes des Gemüts bewusst zu sein, ihn nie länger dauern zu lassen, als ich will, und über alle Vorstellungen des Gemüts Herr zu sein; man nennt dies den Verstand.« 1195 Daraus geht hervor, dass Ak. XI 52, 7–15 (an Herz, 26. 05. 1789). Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasiansky, hg. v. Felix Groß, Berlin 1912, Nachdruck Darmstadt 1980, S. 231. 1195 Immanuel Kant’s Anweisung zur Welt- und Menschenkenntnis. Nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre 1790–1791 hg. v. F. Chr. Starke, Leipzig 1831, Nachdruck Hildesheim 1976, S. 7. Die Akademieausgabe ordnet den Text der Anthroplogievorlesung von 1781/82 zu, s. Ak. XXV/1 S. CXI, vgl. LV II f. Bemerkenswert ist die Übereinstimmung mit der unter 35.2.1 herangezogenen Stelle Ak. XXV/1 S. 29, 31–30, 3 aus der entsprechenden Vorlesung 1772/73, wo aber die freie Willkür statt des Verstandes 1193 1194

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Die Motivation der Philosophie Kants

Kant die Selbstständigkeit, Eigenmacht und Freiheit, die er nach 35.2.1 mit dem transzendentalen Idealismus gegen Gott verteidigt, durch die Auszeichnung des Verstandes gegen die Gleichstellung des Menschen mit dem Tier geltend machen will. Deswegen kann er unter den Titeln der Willkür und Selbstzufriedenheit Moralität und Verstand (Apperzeption 1196 ) als Parallelen behandeln: »Der Lehrbegriff der Moralität aus dem Prinzip der reinen Willkür. Dieses ist das Prinzip der Selbstzufriedenheit a priori als der formalen Bedingung der Glückseligkeit (parallel mit der Apperzeption).« (Ak. XIX 280, 17–20, 80er Jahre) Dass auch die Einbildungskraft Zutritt zu dem oberen Erkenntnisvermögen erhält und ihre transzendentale Handlung sogar als »synthetischer Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn« ausgegeben wird (B154), mag sie dem Umstand verdanken, dass sie uns »unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation« fühlen lässt (KU193). Der Stachel, den Hume in Kant hinterließ, bestand also nicht in dessen Skepsis, sondern in dem Heilmittel, das er gegen den Verdacht aufbot, »dass wir überhaupt gar keine Vorstellung von Verknüpfung oder Kraft besitzen, und dass diese Wörter gänzlich ohne Sinn sind«: 1197 in der Entwürdigung des menschlichen Verstandes (im weiten Sinn des oberen Erkenntnisvermögens), des Trumpfes der Eigenmacht, freien Willkür und Spontaneität im Menschen, durch Herabsetzung zum »Gewohnheitstier«, das vom Mechanismus der Assoziationen gesteuert wird. Dagegen will Kant die Ehre des oberen Erkenntnisvermögens als gesicherten Rechtstitel rehabilitieren. So greift er zu dem seltsamen Unternehmen einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in einem juristischen, nicht logischen Sinn von »Deduktion«. 1198 »Diese Deduktion, die meinem gepriesen wird; vielleicht ist dessen Einsetzung eine Spur der Stellungnahme Kants gegen Hume. 1196 Vgl. A119: »Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand.«. 1197 Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, wie Anm. 1135, S. 90. Hume fährt tröstend fort: »Indes bleibt noch ein Weg, diesem Schluss zu entgehen, und eine Quelle, die wir noch nicht geprüft haben.« Es folgt die psychologische Umdeutung der Kausalbeziehung in einen aus Assoziation und Gewohnheit sich ergebenden Glauben. 1198 KrV A84B116: »Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist, (quid iuris) von der, die die Tatsache angeht, (quid facti) und indem sie von beiden Beweis

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scharfsinnigen Vorgänger 1199 unmöglich schien, die niemand außer ihm sich auch nur hatte einfallen lassen, obgleich jedermann sich der Begriffe getrost bediente, ohne zu fragen, worauf denn ihre objektive Gültigkeit gründe, diese, sage ich, war das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte; (…).« (Prol. Ak. IV 260, 27–32) Im Gegenteil ist es seltsam verschroben, eine Deduktion von Begriffen zu verlangen; auch der Jurist im von Kant angegebenen Fall deduziert nicht einen Begriff, sondern einen Satz der Art, dass seinem Klienten dies und das gehört oder zusteht. Der Gebrauch eines Begriffes ist dann und nur dann gerechtfertigt, wenn es gelingt, einen mit seiner Hilfe formulierten Satz triftig zu begründen, sei es durch Argumente oder durch Berufung auf unmittelbare Erfahrung. Dennoch will Kant keine Untersuchungen kennen, »die zur Begründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zur Bestimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs, wichtiger wären, als die, welche ich (…), unter dem Titel der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, angestellt habe« (A XVI). Es geht ihm also um die Einsetzung des Verstandes – gängiger ausgedrückt: des menschlichen Geistes, soweit er sich über die Sinnlichkeit erhebt – in seine genau begrenzten, aber mindestens dem Tier überlegenen und verwehrten Rechte. Das betrifft in erster Linie die Spontaneität; sie gibt Kant selbst als die Hauptsache bei der »Deduktion der Kategorien« an: »Meinem Urteile nach kommt alles darauf an: dass, da im empirischen Begriffe des Zusammengesetzten die Zusammensetzung nicht vermittelst der bloßen Anschauung und deren Apprehension, sondern nur durch die selbsttätige Verbindung des Mannigfaltigen in der Anschauung gegeben und (…) vorgestellt werden kann, diese Verbindung und die Funktion derselben unter Regeln a priori im Gemüte stehen müsse, welche das reine Denken eines Objekts überhaupt (den reinen Verstandesbegriff) ausmachen (…). Nach dem gemeinen Begriffe kommt die Vorstellung des Zusammengesetzten als eines solchen mit unter den Vorstellungen des Mannigfaltigen welches apprehendiert wird als gegeben vor und sie gehört sonach nicht, wie es doch sein muss, gänzlich zur Spontaneität«. 1200 Weil die Spontaneität oder fordern, so nennen sie den ersteren, der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion.«. 1199 Hume. 1200 Ak. XI 376, 6. 12–21. 25–29 (an Beck, 16. 10. 1792).

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selbstständige Tätigkeit, die die Würde des Geistes ausmachen soll, die eigene des Menschen ist, knüpft Kant die Rechtfertigung des Gebrauches der Verstandesbegriffe an die Vorstellung Ich denke als einen »Aktus der Spontaneität« namens »reine«, »ursprüngliche« oder (wie meist) »transzendentale Apperzeption« an (B132) und schlägt von dort die sehr gewundene (also statisch unzweckmäßige) Brücke zur »notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen zueinander«, wodurch »ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist« möglich werden soll (B142). Es ist nicht recht einzusehen, wie die Tatsache, dass ich denke und mir das auch vorstelle oder vorstellen kann, die objektive Gültigkeit von Urteilen irgendwelcher Art ermöglichen und garantieren sollte. Viel besser scheint sich dazu ein kurzes Argument zu eignen, mit dem Kant den § 21 der Kritik der Urteilskraft eröffnet: »Erkenntnisse und Urteile müssen sich, samt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mitteilen lassen; denn sonst käme ihnen keine Übereinstimmung mit dem Objekt zu; sie wären insgesamt ein bloß subjektives Spiel der Vorstellungskräfte, gerade so, wie es der Skeptizism verlangt.« (KU 65) Der Gedanke, Objektivität als mögliche Intersubjektivität zu bestimmen – mit Schelling und Husserl, der von mir sogenannte Sozialapriorismus der Objektivierbarkeit 1201 – eignet sich hiernach vorzüglich zu dem Ziel der Deduktion nach B142, »ein Verhältnis, das objektiv gültig ist, und sich von dem Verhältnisse ebenderselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet,« herzustellen und damit dem Skeptizismus Humes, der Herabsetzung des Menschengeistes auf das Niveau des assoziativ gebundenen Tieres, die Stirn zu bieten. Kant wählt aber nicht diesen Weg, sondern eine sozusagen solipsistische Rechtfertigung der reinen Verstandesbegriffe aus dem Grundgedanken, »dass alle diese Erscheinungen, mithin alle Gegenstände, womit wir uns beschäftigen können, insgesamt in mir, d. i. Bestimmungen meines identischen Selbst sind« (A129). 1202 WK 258–260, vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band V S. 11–16; Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 134. 1202 Wörtlich verstanden, würde dies bedeuten, dass alle Gegenstände, womit sich die Leser von Kants Buch beschäftigen können, in Kant und Bestimmungen seines identischen Selbst seien. Das ist natürlich nicht gemeint; die Formulierung ist vielmehr Symptom der unter 35.2.1 festgestellten Bewusstseinsspaltung, dass Kant unbefangen von uns spricht, wo nach Prinzipien des transzendentalen Idealismus nur von ihm die Rede sein dürfte. 1201

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»Und aus diesem Grunde, dem einzigmöglichen unter allen, ist dann auch unsere Deduktion der Kategorien geführt worden.« (A130) Aus der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe schöpft Kant die Überzeugung der kopernikanischen Wende, »dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten« (B XVI), weil der Verstand der Natur seine Gesetze vorschreibt.1203 Damit löst Kant das Problem, von dem die Konzeption der KrV gemäß dem berühmten Brief an Herz vom 21. 02. 1772, worin er zuerst das Projekt des Werkes mitteilt, ausgeht: »Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von dem Gegenstande affiziert wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sei und wie diese Bestimmung unsres Gemüts etwas vorstellen d. i. einen Gegenstand haben könne. (…) Ebenso: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des Objekts aktiv wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die göttliche Erkenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellet, so würde auch die Konformität derselben mit den Objekten verstanden werden können. (…) Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali). Die reine Verstandesbegriffe müssen also nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahiert sein, noch die Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder in soferne sie vom Objekt gewirkt werden, noch das Objekt selbst hervorbringen.« 1204 Kant löst dieses Rätsel in der KrV und danach durch Verbindung der kopernikanischen Wende mit dem transzendentalen Idealismus: »Wären die Gegenstände, womit unsere Erkenntnis zu tun hat, Dinge an sich selbst, so würden wir von diesen gar keine Prol. Ak. IV 320, 11–13, im gleichen Sinn A127, B 127. Ak. X 130, 6–12. 16–21. 25–33. Der naive, von Humes Kausalskepsis gänzlich unberührte Glaube Kants an Verursachung tritt in diesem Text geradezu aufdringlich hervor, wenn z. B. die bloße Einwirkung des Objekts genügen soll, um den Gegenstandsbezug (die sogenannte Intentionalität) und Angemessenheit der Vorstellung »leicht einzusehen«. Da sich die KrV und mit ihr der Kritizismus Kants bis zum Schluss aus diesem Ansatz konsequent entwickeln, bleibt die Abschottung gegen Humes Skepsis eine Grundlage dieses Kritizismus.

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Erkenntnis a priori haben können. Denn woher sollten wir sie nehmen? Nehmen wir sie vom Objekt (…) so wären unsere Begriffe bloß empirisch, und keine Begriffe a priori. Nehmen wir sie aus uns selbst, so kann das, was bloß in uns ist, die Beschaffenheit eines von unseren Vorstellungen unterschiedenen Gegenstandes nicht bestimmen, d. i. ein Grund sein, warum es ein Ding geben solle, dem so etwas, wie wir in Gedanken haben, zukomme, und nicht vielmehr alle diese Vorstellung leer sei. Dagegen, wenn wir es überall nur mit Erscheinungen zu tun haben, so ist es nicht allein möglich, sondern auch notwendig, dass gewisse Begriffe a priori vor der empirischen Erkenntnis der Gegenstände vorhergehen.« (A128 f.) Diese Lösung sitzt wie angegossen auf der Fragestellung des Briefes. Der Verstand braucht seine Gegenstände nicht ab ovo hervorzubringen, um ihnen a priori Gesetze zu geben, sondern findet den Stoff dazu, den er nur noch zu bearbeiten braucht, in seiner sinnlichen Unterschicht vor, da diese Gegenstände doch nur Erscheinungen in Raum und Zeit, also im Gemüt sind, womit er etwas machen kann, ohne äußeren Gegenständen etwas anzutun oder vorzuschreiben. Auf diese Weise geht aus der kopernikanischen Wende der kritizistische Immanentismus hervor: »Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, dass diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber lässt dieses gänzlich unbestimmt«, da »die Idealität der Gegenstände der Sinne als Erscheinungen die einzige Art ist, die Möglichkeit zu erklären, dass ihre Formen a priori bestimmt werden können« (KU LV–LVI und 254). Anschauungen a priori und synthetische Sätze a priori sind nur möglich in einer Form der Anschauung, die nur im Subjekt ihren Sitz hat und daher nur Erscheinungen, nicht Dinge an sich, einlässt und betrifft; Dinge an sich könnten nur empirisch angeschaut werden. (Ak. IV 282 f., Prol. §§ 9–10) Der Verstand erkauft also sein Herrenrecht, »dass die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d. i. in unserem Verstande, liegen müsse« (Prol. Ak. IV 319, 13 f.), mit dem kritizistischen Immanentismus, der diese Natur auf die Welt in Raum und Zeit, d. h. bloße Erscheinungen der das Gemüt affizierenden Gegenstände, die in den Schleier undurchdringlichen Geheimnisses gehüllt bleiben, einschränkt. Um die Ehre des oberen Erkenntnisvermögens gegen Hume wiederherstellen zu können, muss Kant also alle transzendente Erkenntnis, die über die vom transzendentalen Idealismus zu343

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gelassenen Erscheinungen hinausführen könnte, abstreiten. Aus dieser Sorge erwächst dem kritizistischen Immanentismus für Kant ein so enormes Gewicht, dass er darin den »Hauptzweck des Systems« und speziell der transzendentalen Deduktion zu erkennen glaubt: »(…) wenn bewiesen werden kann, dass die Kategorien, deren sich die Vernunft in allem ihrem Erkenntnis bedienen muss, gar keinen anderen Gebrauch, als bloß in Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung haben können (dadurch dass sie in dieser bloß die Form des Denkens möglich machen), so ist die Beantwortung der Frage, wie sie solche möglich machen, zwar wichtig genug, um diese Deduktion wo möglich zu vollenden, aber in Beziehung auf den Hauptzweck des Systems, nämlich die Grenzbestimmung der reinen Vernunft, keineswegs notwendig, sondern bloß verdienstlich.« 1205 Eine fast phobische Scheu hält Kant zur Abdichtung der Mauer des Immanentismus gegen jeden Durchbruch der Erkenntnis ins Transzendente an, als gehe es für den Kritizismus um alles, wenn er sich gegen den Beweisversuch dafür wehrt, dass die Seele als Ding an sich eine einfache Substanz sei: »Ein großer, ja so gar der einzige Stein des Anstoßes gegen unsere ganze Kritik würde es sein, wenn es eine Möglichkeit gäbe, a priori zu beweisen, dass alle denkende Wesen an sich einfache Substanzen sind, als solche also (welches eine Folge aus dem nämlichen Beweisgrunde ist) Persönlichkeit unzertrennlich bei sich führen, und sich ihrer von aller Materie abgesonderten Existenz bewusst sein. Denn auf diese Art hätten wir doch einen Schritt über die Sinnenwelt hinaus getan, wir wären in das Feld der Noumenen getreten, und nun spreche uns niemand die Befugnis ab, in diesem uns weiter auszubreiten, und, nachdem einen jeden sein Glückstern begünstigt, darin Besitz zu nehmen.« (B409 f.) Die drei Säulen des Kantischen Kritik-Systems entstehen also mit einsichtiger Folgerichtigkeit aus einem eigenartigen Ichideal, dem entschiedenen Bestehen auf Eigentätigkeit (Spontaneität), Freiheit, Selbstständigkeit. Der transzendentale Idealismus fängt von diesem Ideal die Gefährdung durch Gott ab, der den Menschen aus der Rolle des denkenden und handelnden Subjektes zu verdrängen droht, zunächst als spinozischer Gott, dann aber auch als christlicher, da die Geschöpflichkeit ihm gegenüber vergleichbare Aussichten bietet. Dazu kommt der mächtige Einfluss der barocken Raumtheologie, Ak. IV 474, 25–32 (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, Vorrede, Anmerkung).

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der 1768 zur Bedrängnis wird, als Kant sich davon überzeugt, dass der absolute Raum den im Raum befindlichen Gegenständen sogar innere Eigenschaften, die sie an sich selbst betreffen, und nicht nur Verhältnisse eingibt. Die Erlösung aus dieser Bedrängnis gelingt durch das »große Licht« von 1769, die Entdeckung des transzendentalen Idealismus, ausgearbeitet in der Dissertation von 1770.1189 Der absolute Raum (und mit ihm die Zeit) gilt nun nur noch als Anschauungsform des Subjektes und kann dem Menschengeist nicht mehr als der ihn verdauende »Magen Gottes« gefährlich werden. Die andere Gefahr droht diesem Geist vom Tier, in der Weise, dass ihn Humes Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kausalzusammenhanges mit Ersatz der Einsicht in kausale Notwendigkeit durch Gewohnheit und Assoziation auf das Niveau des Tieres herabzuziehen droht. Dagegen besinnt sich Kant auf die a priori Natur und Erfahrung gestaltende Kraft des Verstandes, die er durch die Rechtmäßigkeit des Gebrauches der reinen Verstandesbegriffe in synthetischen Urteilen a priori erweist (kopernikanische Wende). Überlegungen über die Abhängigkeit der Erkenntnis von Kausalität, die Kant zuerst im Brief an Herz vom 21. Februar 1772 mitteilt1204 und die für sein späteres Denken richtungweisend werden, während die Dissertation von 1770 noch nichts davon verrät, 1206 zwingen Kant, zur Erhaltung des Herrenrechtes des Verstandes die kopernikanische Wende durch den kritizistischen Immanentismus zu ergänzen; für die nun der Erkenntnis verschlossene Welt der Dinge an sich erhält der Verstand zum Ersatz als Betätigungsfeld die aus anderem Motiv vom transzendentalen Idealismus bereitgestellte Erscheinungswelt in Raum und Zeit, in der er eine Natur organisieren kann. Die Bindung der kopernikanischen Wende an den kritizistischen Immanentismus hat für Kant aber die schlimme Folge, dass sein transzendentaler Standpunkt, auf dem er die gestaltende Leistung des Verstandes registriert, in seinem System unhaltbar wird. »Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsDass diese Überlegungen erst später kamen, ergibt sich aus dem vor dem Zitat gemäß Anm. 1204 in dem Brief befindlichen Geständnis Kants, er habe bei Fortführung und Ausbreitung der Gedanken der Dissertation bemerkt, »dass mir noch etwas wesentliches mangele, welches ich bei meinen langen metaphysischen Untersuchungen, sowie andere, aus der Acht gelassen hatte und welches in der Tat den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht.« (Ak. X 130, 2–6).

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weise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand.« (A119) »Eben diese transzendentale Einheit der Apperzeption macht aber aus allen möglichen Erscheinungen, die immer in einer Erfahrung beisammen sein können, einen Zusammenhang aller dieser Vorstellungen nach Gesetzen.« »(…) das Gemüt könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche (…) ihren Zusammenhang nach Regeln a priori allererst möglich macht.« (A108) Vor was für Augen? denen des Gemütes als Ding an sich oder denen der bloßen Erscheinung, da wir doch »nichts wahrnehmen können, als sofern es erscheint« (A540 B568) und das Gemüt »sich selbst anschauet, nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist« (B69, ähnlich 156). Dann wäre die kopernikanische Wende, die bei Kant völlig von der Spontaneität des Verstandes abhängt (B129 f.), bestenfalls aufgrund einer sehr bestreitbaren psychologischen Theorie eine empirisch-psychologische Behauptung darüber, wie etwas erscheint, von dem wir nicht wissen, wie es ist. So meint es Kant aber nicht. Er sucht sich der Alternative zu entziehen, indem er das Selbstbewusstsein »in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt« einschrumpfen lässt auf ein bloßes Denken, dass ich bin, ohne Anschauung (B157). Aber bloßes Denken, dass ich bin, liefert mir keinen Aufschluss über Spontaneität, über Zusammenwirken von transzendentaler Apperzeption mit Einbildungskraft oder anderen Seelenvermögen in der Synthesis, und »wir können keinen Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen« (B165). In welches Dilemma er sich begeben hat, wird beim Vergleich zweier Eintragungen in sein Exemplar von KrV A deutlich: »Ich denke ist ein Satz a priori: ist eine bloße Kategorie des Subjekts, intellektuale Vorstellung ohne irgendwo und irgendwann, 1207 also nicht empirisch.« (Ak. XXIII 39, 20–22) »Die Möglichkeit einer Ursache lässt sich ohne Beispiel aus Erfahrung nicht einsehen, also ist es gar kein Begriff, den man außer der möglichen Erfahrung brauchen kann.« (XXIII 35, 22–24) Was bleibt dann noch von der spontanen Wirksamkeit des als Verstand denkenden und »durch die transzendentale Handlung der Einbildungskraft (synthetischer Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn)« (B154) im 1207

Kant schreibt »irgendwenn« (Provinzialismus).

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»Gewühle der Erscheinungen« Ordnung schaffenden Ich? Das schlechte Gewissen Kants zeigt sich in seiner postumen Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, indem er, völlig korrekt nach Maßgabe des kritizistischen Immanentismus, streng zwischen dem Ich als Subjekt, dem logischen Ich, und dem psychologischen ObjektIch im empirischen Bewusstsein unterscheidet und jenes als unerkennbares Substantiale und Ding an sich hinstellt, dann aber sich sehr gewunden so ausdrückt, »dass das logische Ich, das Subjekt, zwar, wie es an sich ist, im reinen Bewusstsein, nicht als Rezeptivität, sondern reine Spontaneität anzeigt, weiter aber auch keiner Erkenntnis seiner Natur fähig ist.« 1208 Wenn es als Ding an sich unerkennbar ist, ist es auch nicht als Spontaneität erkennbar. Kant will die Spontaneität retten, weil ihr zuliebe der transzendentale Idealismus und die kopernikanische Wende erfunden worden sind, fühlt sich aber an den Immanentismus des jede übersinnliche Erkenntnis verwerfenden Paralogismenkapitels der KrV gebunden, wonach »das Subjekt der Inhärenz durch das dem Gedanken angehängte Ich nur transzendental bezeichnet werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken, oder überhaupt etwas von ihm zu kennen, oder zu wissen« (A355).

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35.3.1 Die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft Die rätselvolle Entstehung des Hauptwerkes Kants habe ich in Was wollte Kant?1161 eingehend studiert, 1209 doch ist die Untersuchung dort zu feinstichig, um sie hier im Detail wiederzugeben; ich hoffe aber, in der Verkürzung auf das Wichtigste das Ergebnis hier auf neue Weise einleuchtend machen zu können. Um die Entwicklung der in meinem Buch entfalteten Problematik in Kants Denken zu verfolgen, muss hinter seine ausdrücklichen Zeugnisse über die Entstehungsgeschichte zurückgegangen werden. Von größter Wichtigkeit ist folgende Eintragung Kants am Rand der Vorrede der Metaphysica Baumgartens in seinem Handexemplar: Ak. XX 270, 15–22. 23–25. 39–271, 3. WK 60–69 (Kants Weg in den transzendentalen Idealismus), 174–185 (Die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft), 185–201 (Ich denke).

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»Wenn ich nur so viel erreiche, dass ich überzeuge, man müsse die Bearbeitung dieser Wissenschaft so lange aussetzen, bis man diesen Punkt ausgemacht hat, so hat diese Schrift ihren Zweck erreicht. Ich sahe anfänglich diesen Lehrbegriff wie in einer Dämmerung. Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine Illusion des Verstandes vermutete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht.« 1210 Für die Bedeutung des großen Lichtes von 1769 spricht seine Rahmung durch zwei briefliche Mitteilungen Kants. An Herder schreibt er am 09. 05. 1768: »Was mich betrifft, da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre und aus allerlei Gesichtspunkten betrachte um zuletzt denjenigen zu treffen woraus ich hoffen kann es nach der Wahrheit zu zeichnen (…).« (Ak. X 74, 8–12) An Lambert, 02. 09. 1770: »Seit etwa einem Jahre bin ich, wie ich mir schmeichle, zu demjenigen Begriffe gekommen welchen ich nicht besorge jemals ändern, wohl aber erweitern zu dürfen und wodurch alle Art metaphysischer Quaestionen nach ganz sicheren und leichten Kriterien geprüft und, inwiefern sie auflöslich sind oder nicht, mit Gewissheit entschieden werden kann.« 1211 Das große Licht von 69 scheint also von einem unsicheren Herumtasten auf einen Standpunkt triumphierender Selbstgewissheit geführt zu haben. Desto merkwürdiger ist es, dass im ersten Absatz von R. 5037 doch wieder von einem Punkt die Rede ist, der solche Schwierigkeit hat, dass Kant alle Metaphysiker davon überzeugen will, die Bearbeitung ihrer Wissenschaft deswegen zeitweilig auszusetzen. Ein Schlüssel zur Entstehungsgeschichte der KrV wird sein, aufzuklären, worum es sich handelt und wie das zusammenhängt. Kant macht zwei Angaben über den Anstoß seiner Gedankenentwicklung zur KrV durch Weckung aus einem dogmatischen Schlummer: durch die »Erinnerung des David Hume« über Kausalität (Prol. Ak. IV 260, 6–9, s. o.) und die Antinomie der reinen Vernunft (an Garve, 21. 09. 1798, Ak. XII 257, 31–258, 3). Man hat darin einen erklärungsbedürftigen Widerspruch sehen wollen, aber ich bin überzeugt, dass beide Angaben bestens zusammenpassen, wenn man die Weckung aus dem dogmatischen Schlummer nur früh genug an1210 1211

R. 5037, Ak. XVIII 69, 15–22, von Adickes auf 1776–1778 datiert. Ak. X 97, 8–13.

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Die Kritik der reinen Vernunft

setzt. Zunächst zu Hume: Dass die Weckung durch ihn nach der Dissertation von 1770 stattgefunden haben könnte, kann ausgeschlossen werden. Der Brief an Herz vom 21. Februar 1772 zeigt mit der vorhin angeführten Passage,1204 dass Kant mit einem der Anregung durch Hume geradezu entgegengesetzten und damit unverträglichen Problem ringt, das sich aus der Bindung der Erkenntnis an Kausalität ergibt: Erkenntnis ist möglich, wenn der Gegenstand die Vorstellung oder die Vorstellung den Gegenstand hervorbringt; für die reinen Verstandesbegriffe ist Erkenntnis auf keinem von diesen beiden Wegen möglich; wie ist sie also durch sie möglich? Dass diese Fragestellung Kants Denken nach der Dissertation bald und auf lange beherrschte, ergibt sich aus Kants Brief an Bernoulli vom 16. 11. 1781, worin er das Unterbleiben seiner geplanten Zusammenarbeit mit Lambert zur Erneuerung der Metaphysik erklärt. Er bezieht sich zunächst auf einen am 13. November 1765 datierten Brief Lamberts an ihn mit den Worten: »Damals sahe ich wohl: dass es dieser vermeintlichen Wissenschaft an einem sicheren Probierstein der Wahrheit und des Scheins fehle, indem die Sätze derselben, welche mit gleichem Rechte auf Überzeugung Anspruch machen, sich dennoch in ihren Folgen unvermeidlicherweise so durchkreuzen, dass sie einander wechselseitig verdächtig machen müssen.« 1212 Nachdem er das Zwischenergebnis der Dissertation von 17701189 gestreift hat, fährt er fort: »Aber nunmehr machte mir der Ursprung des Intellektuellen von unserem Erkenntnis neue unvorhergesehene Schwierigkeit und mein Aufschub wurde je länger desto notwendiger, bis ich alle meine Hoffnung, die ich auf einen so wichtigen Beistand gesetzt hatte, durch den unerwarteten Tod dieses außerordentlichen Genie’s schwinden sah.« (Ak. X 278, 4–9). Diese Schwierigkeit ist offensichtlich das Problem aus dem Brief an Herz; sie ergab sich Kant hiernach bald nach der Dissertation (»nunmehr«) und begleitete ihn »je länger desto notwendiger« mindestens bis 1777, ins Todesjahr Lamberts. Danach ist es zu spät für die Weckung aus dem dogmatischen Schlummer. Die erste Passage1212 weist darauf hin, dass Kant schon 1765 einander widersprechende, obzwar gleich gut begründete metaphysische Sätze mit dem Verdacht eines (dialektischen) Scheins prüfte, ganz so wie im Kapitel über die Antinomie in der transzendentalen Dialektik der KrV. In diese relativ frühe Zeit gehört sicherlich auch die Weckung durch David Hume aus dem dogmatischen 1212

Ak. X 277, 23–28.

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Schlummer. Holzhey hat darauf hingewiesen, dass »in Sachen der reinen Vernunft« nach KrV A761 B 789 der erste Schritt dogmatisch, der zweite skeptisch und erst der dritte kritisch ist, wobei Hume in A856 B884 als Repräsentant für die skeptische Methode herausgestellt werde; danach sei zu erwarten, dass Kant dem dogmatischen Schlummer in seinem Denken nach Erwachen zunächst eine skeptische und erst danach eine kritische Phase folgen lasse. 1213 Eine skeptische Phase gibt es in Kants Denkgeschichte um 1765; ihr wichtigster literarischer Zeuge ist Träume eines Geistersehers, und im Brief an Mendelssohn vom 08. 04. 1766 findet Kant für den »Vorrat an Wissen«, der in der Metaphysik »öffentlich feil steht«, »nichts ratsamer«, »als ihm das dogmatische Kleid abzuziehen und die vorgegebene Einsichten skeptisch zu behandeln« (Ak. X 70, 33–37). Sein Vorbild ist dabei Hume, dem er in der Logik Blomberg (Nachschrift einer Logik-Vorlesung Kants von 1770 oder früher) ein unparteiisch pro et contra argumentierendes Verfahren nachsagt, das zuletzt »immer auf den Scepticismum« hinauslaufe (Ak. XXIV 217, 13–31). Dabei rühmt er Humes »sanfte, gelassene und vorurteilsfreie Prüfung« (ebd. Z. 21), übereinstimmend mit seiner Haltung zur Metaphysik 1768 nach dem Brief an Herder vom 09. 05. 1768 (s. o.). Damit wachsen die Zeugnisse Kants für Weckung durch Hume und durch die Antinomie der reinen Vernunft zusammen; in den Reflexionen, die Adickes dem Jahr 1769 zuweist, kommen dem Gedanken nach schon alle vier Antinomien der KrV (mit Ausnahme der Antithesis der 2. Antinomie) vor. 1214 Nach dem vorhin zitierten Satz aus dem Brief an Lambert vom 02. 09. 17701211 ist seit etwa einem Jahr, also doch wohl seit dem »großen Licht« von 1769, die Skepsis von Kant gewichen, und er traut sich nun zu, jede metaphysische Frage nach ganz leichten und sicheren Kriterien zu prüfen. Der literarische Niederschlag dieser neuen dogmatischen Überzeugung ist die Dissertation von 1770, in der demgemäß die erste und zweite Antinomie aus der KrV, implicite wohl auch die dritte, in einer Weise aufgelöst werden, die sehr viel vernünftiger und logisch haltbarer ist als das entsprechende Verfahren in der KrV. 1215 Diese Entscheidung steht auf der Grundlage des Helmut Holzhey, Kants Erfahrungsbegriff, Basel/Stuttgart 1970, S. 148 und 150. Ak. XVII 350, 28–351, 1 (3. Antinomie), 355, 7–10 (4. und 1. Antinomie), 372, 20– 23 (3. Antinomie), 376, 13–22 (Thesis der 2. Antinomie). 1215 Ak. II 415, 18–416, 9 (aus § 28). Zur dritten Antinomie wird zwar im Sinne der 1213 1214

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transzendentalen Idealismus, der wesentlichen Errungenschaft der Dissertation, die den Raum und die Zeit fast mit denselben Argumenten wie die transzendentale Ästhetik der KrV charakterisiert: Die Antinomien entstehen nach der Dissertation dadurch, dass die intelligible Welt der Dinge, wie sie sind, fälschlich nach den Grundsätzen der sinnlichen Welt bloßer Erscheinungen in Raum und Zeit beurteilt wird. Bis zum großen Licht erwog Kant die Antinomien skeptisch; das große Licht gab ihm neue dogmatische Gewissheit, mit der er die Antinomien auf der Grundlage des transzendentalen Idealismus löste; daraus kann man logisch schließen, dass das große Licht von 17691210 in der Entdeckung des transzendentalen Idealismus bestand, womit Kant seine gerade erst 1768 mitgeteilte Entdeckung des absoluten Raumes (35.2.1) über den Haufen wirft (Ak. II 403, 23–404, 3, § 15D). Der Lehrbegriff aus dem Brief an Lambert, den Kant nie mehr ändern will, ist also der transzendentale Idealismus, ebenso wie der Lehrbegriff, den er nach R. 50371210 anfangs nur wie in einer Dämmerung sah, als er sich an den einander antinomisch widersprechenden Sätzen mit Beweisversuchen pro et contra gemäß der skeptischen Methode Humes versuchte, um eine Illusion des Verstandes zu entlarven. Auf die Weckung aus dem dogmatischen Schlummer durch Hume und die Antinomien folgt also bei Kant mit der Einführung des transzendentalen Idealismus nach der skeptischen Phase eine neue dogmatische, die sich in der Lehre vom realen Verstandesgebrauch bezüglich der intelligiblen Welt 1216 manifestiert, ebenso in der etwas späteren Logik Philippi. 1217 Vom kritizistischen Immanentismus kann in dieser Phase also noch keine Rede sein, auch nicht zur Zeit des Briefes an Herz vom 21. Februar 1772, wonach die Einwirkung der affizierenden Ursache (des Dinges an sich) die Möglichkeit einer angemessenen Vorstellung davon leicht begreiflich macht. Ebensowenig ist schon die kopernikanische Wende in Sicht, die GeThesis Stellung genommen, aber nur, was die Abhängigkeit der ganzen Welt von Gott betrifft (415, 29–416, 1 f.), während die behauptete Unermesslichkeit der verflossenen Weltzeit (416, 5) eine ins Unendliche zurücklaufende Reihe innerweltlicher Ursachen im Sinne der Antithesis nahelegt. 1216 Dissertation § 6, ausgeführt in sectio IV. 1217 Nachschrift einer Logik-Vorlesung von 1772, vgl. XXIV 387, 36–388, 2: »Die Sinnlichkeit, die Art, wie wir affiziert werden, zeigt uns nur den Schein; aber der Verstand, wenn er unvermengt mit der Sinnlichkeit urteilet, zeigt uns die Wahrheit unvermengt mit dem Schein. Der Verstand ist also allein die Kraft, das zu finden, was allgemeingültig ist und was mit allen Urteilen stimmt.«.

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setzgebung des Verstandes für die Natur. Zu dieser gehört eine passive Sinnlichkeit, in die der spontane Verstand mit seiner Einbildungskraft synthetisch gestaltend eingreifen kann; dagegen ist die Sinnlichkeit nach der Logik Philippi ein höchst aktives Vermögen, und Raum und Zeit sind nach der Dissertation von der Eigentätigkeit des Geistes abstrahierte und dadurch erworbene Begriffe, 1218 während die Gegebenheit des Raumes in der KrV mit der Rezeptivität der Sinnlichkeit begründet wird (A26 B42). Wie die Briefe an Herz1204 und an Bernoulli (s. o.) zeigen, wird die dogmatische Selbstsicherheit der Phase 1769/70 bei Kant bald von einer Unsicherheit abgelöst, die auf einer der Kausalskepsis Humes gänzlich abgewandten Fragestellung beruht: Wenn alle Erkenntnis von Kausalität abhängt, wie ist dann eine Erkenntnis durch reine Verstandesbegriffe möglich? In den Bahnen dieser Fragestellung reift allmählich, aber kompliziert, die Kritik der reinen Vernunft heran; Spuren dieses Reifens sind die Briefe von Kant an seinen Schüler und Opponenten (bei Gelegenheit der Verteidigung der Dissertation 1770) Marcus Herz. Im Brief vom 21. 02. 1772 verspricht Kant die Herausgabe des ersten Teiles, der Quellen, Methoden und Grenzen der Metaphysik betreffen soll, binnen drei Monaten. Daraus wird nichts; dafür erhält Herz gegen Ende 1773 einen hochgemuten Bericht über die Aussichten der Arbeit: Kant will so weit gekommen sein, dass er sich im Besitz eines Lehrbegriffes sieht, »der das bisherige Rätsel völlig aufschließt und das Verfahren der sich selbst isolierenden Vernunft unter sichere und in der Anwendung leichte Regeln bringt. (…) Es leuchtet mir aber davon eine Hoffnung entgegen die ich niemand außer Ihnen ohne Besorgnis der größtesten Eitelkeit verdächtigt zu werden eröffne nämlich der Philosophie dadurch auf eine dauerhafte Art eine andere und vor Religion und Sitten weit vorteilhaftere Wendung zu geben zugleich aber auch ihr dadurch die Gestalt zu geben die den spröden Mathematiker anlocken kann sie seiner Bearbeitung fähig und würdig zu halten. Ich habe noch bisweilen die Hoffnung auf Ostern das Werk fertig zu liefern.« 1219 Andernfalls soll es »mit Gewissheit eine kurze Zeit nach Ostern« geschehen. Dann schweigt Kant drei Jahre lang. Am 24. 11. 1776 teilt er mit, das Feld der reinen Vernunft lasse sich vollständig übersehen, weil es uns selbst a priori liege; um es aber gegen Vernünftelei abzugrenzen, 1218 1219

Ak. II 406, 15–19, § 15 (Corollarium). Ak. X 144, 13–18. 29–36.

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bedürfe es einer Kritik, einer Disziplin, eines Kanons und einer Architektonik der reinen Vernunft. Er werde noch einen Teil des Sommers dafür brauchen, und man solle keine vorzeitigen Erwartungen hegen, die ihn belasten könnten. 1220 Nach dem folgenden Brief vom 20. 08. 1777 haben seine Untersuchungen systematische Gestalt gewonnen und ihn »zur Idee des Ganzen geführt, welche allererst das Urteil über den Wert und den wechselseitigen Einfluss der Teile möglich macht. Allen Ausführungen dieser Arbeiten liegt indessen das, was ich die Kritik der reinen Vernunft nenne, als ein Stein im Wege, mit dessen Wegschaffung ich jetzt allein beschäftigt bin, und diesen Winter damit völlig fertig zu werden hoffe.« 1221 Als das nächste Frühjahr da ist, ist das Projekt geschrumpft: »Die Ursachen der Verzögerung einer Schrift die an Bogenzahl nicht viel austragen wird werden Sie dereinst aus der Natur der Sache und des Vorhabens selbst wie ich hoffe als gegründet gelten lassen. (…) Wenn dieser Sommer bei mir mit erträglicher Gesundheit hingeht, so glaube das versprochene Werkchen dem Publikum mitteilen zu können.« 1222 Das schließlich zustande gekommene stattliche Buch will Kant in Torschlusspanik binnen 4 oder 5 Monaten verfasst haben, getrieben von der Sorge, er werde mit fortschreitendem Alter die Zeit zur Niederschrift verpassen. 1223 Aus der Reihe dieser Nachrichten lässt sich entnehmen, dass Kant im Ringen mit seinem gegen Bernoulli bekannten Problem aus dem Brief an Herz vom 21. 02. 1772 Ende 17731219 so weit gekommen war, dass er die im Brief an Lambert1212 ausgedrückte Selbstsicherheit der Jahre 1769/70 wiedererlangt hatte. Danach bricht diese wieder ein; er spricht von der Kritik der reinen Vernunft als einem Stein im Wege, und das große Projekt – das »Werk«1219 von 1773 – schrumpft 1778 zu einem nur noch für »dereinst« in Aussicht gestellten »Werkchen«. Aus der Zeit dieser Herabstimmung dürfte die in der Tat auf 1776–1778 datierte Reflexion 50371210 stammen. Im ersten Absatz ist von einer »Schrift« die Rede, wie auch 1778 das »Werkchen« genannt wird,1222 im Gegensatz zum »Werk«1219 von 1773. Ich nehme an, dass R. 5037, da an den Rand der Vorrede Baumgartens geschrieben, ein 1220 1221 1222 1223

Ak. X 199, 16–33. Ak. X 213, 28–36. An Herz Anfang April 1778, Ak. X 232, 1–4. 13–15. An Garve, 07. 08. 1783; an Mendelssohn, 15. 08. 1783 (Ak. X 338, 19–24 und 345, 1–

6).

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Fragment einer geplanten Vorrede für das geschrumpfte Projekt ist. Im ersten Absatz ist die Rede von einem Punkt, der erst ausgemacht werden müsse, ehe es sich lohnt, die Metaphysik wieder zu bearbeiten. Wenn meine Vermutung zutrifft, ist dies der Punkt der Schwierigkeit, die Kants Hoffnungen sinken, seinen Erfolg verzögern und das Erwartete quantitativ zusammenstreichen ließen. Was ist dann dieser Punkt? Ich habe in WK 190 f. mit ausführlichen Belegen die über die 70er Jahre sich erstreckenden Zeugnisse für Kants Überzeugung von der unmittelbaren und ursprünglichen Selbstanschauung des Ich als spontan tätige einfache Substanz, als Ding an sich, zusammengestellt; dazu kommt seither das Zeugnis aus der AnthropologieVorlesung von 1772/73, 1224 und man könnte sicherlich noch den einen oder anderen Text hinzunehmen. 1225 Klemme hat darauf hingewiesen, dass Kant in diesem Zusammenhang von »intellektueller« Selbstanschauung des Ich nur spricht, wenn es sich »um das Problem der transzendentalen Freiheit« handelt, 1226 aber das macht keinen großen Unterschied; denn in der Metaphysik-Vorlesung L1 entnimmt Kant zwar die transzendentale, absolute Freiheit schon dem richtigen Verständnis des Satzes »Ich tue es« (mit betontem »Ich«), 1227 aber genauso gut liegt diese unmittelbare Selbstanschauung für ihn auch schon im richtigen Verständnis von »Ich leide es«, 1228 wo es doch nicht um Freiheit geht. Kant befindet sich mit der Annahme einer über die Erfahrung bloßer Erscheinungen hinausgehenden Anschauung seiner selbst als Substanz und Ding an sich in der unter 35.2.2 beschriebenen Zwickmühle: Er braucht diese Annahme, um seinen transzendentalen Standpunkt rechtfertigen zu können, aber er kann sie sich nicht leisten, nachdem er die spontane apriorische Erkenntnis als Trumpfkarte des Menschen gegen Gott (transzendentaler Idealismus, 35.2.1) und gegen das Tier (35.2.2) eingeführt und sich damit den kritizistischen Immanentismus eingehandelt hat. Kant muss lange gezögert haben, wie er sich entscheiden soll, und hat wahrscheinlich 1778 oder etwas später ruckartig einen Ak. XXV 1 S. 10, 2–27; 14, 14–15, 1. Z. B. Metaphysikvorlesung L1, Ak. XXVIII 226, 5–9. 1226 Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjektes, Hamburg 1996, S. 123, 135 (Anm. 203). 1227 Ak. XXVIII 269, 5–12. 1228 Ak. XVII 511, 22–25: »Ich tue dieses heißt nicht: ein anderer wirkt dieses; und selbst, wenn ich sage: ich leide dieses, so bedeutet es doch die Anschauung eines Subjekts, was vor sich selbst ist und leidet.«. 1224 1225

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Entschluss zugunsten des kritizistischen Immanentismus gefasst, der ihm die Bahn für die rasche Niederschrift der KrV frei machte. Im Paralogismenkapitel der KrV besiegelt er diese Entscheidung. Den ersten Beleg für einen Entwurf dieses Kapitels findet Klemme1226 in R. 5553 (Ak. XVIII 223 f.), die Adickes auf 1778–1780 datiert. Die Komposition des Paralogismenkapitels in A verrät die Not, in die Kant durch den Verzicht geraten ist. Nach Abfertigung dreier sogenannter Paralogismen, betreffend die Substantialität, die Einfachheit und die Einheit (Einzelheit) der Seele, fügt Kant als vierten Paralogismus den Zweifel an der Realität der Außenwelt ein, der gar nicht dahin passt und auch nichts von einem Paralogismus an sich hat. Ein Vergleich mit der Metaphysik-Vorlesung L1 aus den siebziger Jahren zeigt, dass es sich um einen Lückenbüßer handelt. In dieser Vorlesung entsprechen den vier Paralogismen die vier Erkenntnisse a priori über die Seele: Substantialität, Einfachheit, Einzelheit, Spontaneität. Beide Listen stimmen bis auf die vierte Stelle überein. Da hat Kant die Spontaneität herausgenommen, weil er sie noch brauchte, und durch den Lückenbüßer ersetzt. 1229 Für die Anlage des seit 1772 geplanten Werkes sind die Briefe an Herz interessant, weil 1776 die Reihe Kritik–Disziplin–Kanon–Architektonik auftaucht, die danach nicht mehr erwähnt wird, im Aufbau der fertigen KrV aber in merkwürdig verschobener Weise wiederkehrt: Die Kritik ist zur transzendentalen Elementarlehre geworden, und Disziplin, Kanon und Architektonik folgen mit einem nichtigen Zusatz (Geschichte der reinen Vernunft) in der unauffällig zusammengedrängten Form der wie ein kurzer Anhang der Elementarlehre nachgeschickten Methodenlehre. Dennoch ist das KanonKapitel auch in der heute vorliegenden Gestalt der Höhe- und Drehpunkt, gleichsam das erlösende Wort, des ganzen Buches, weil es die in der transzendentalen Dialektik diskreditierte physikotheologische Metaphysik von der Moral her rehabilitiert. Ich habe den Eindruck, dass Kant auf diese Weise einen alten, weit umfassenderen Plan ausführt, dessen er sich inzwischen sozusagen schämt, weil der kritizistische Immanentismus der transzendentalen Dialektik ein solches Übergewicht verschafft hat, dass Kant ihr Gegenspiel, den Kanon der reinen Vernunft, zwar nicht vergessen kann, aber in einem unscheinbaren Anhang nahezu versteckt, nachdem er mit dem Schluss der transzendentalen Dialektik in A704 B 732 die Akten des Prozes1229

Näheres dazu WK S. 192.

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ses gegen die überfliegende Metaphysik im Archiv der menschlichen Vernunft bereits feierlich niedergelegt hat. Der doppelte Brückenschlag von der Metaphysik zur Moral und zurück zur Metaphysik ergibt sich im Kanon-Kapitel daraus, dass das Postulat des Daseins Gottes eine weit größere Bedeutung hat als später in der KpV, weil die moralischen Gesetze nach der Lehre der KrV zur »Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft« das »Dasein eines höchsten Wesens« voraussetzen (A633 f. B661 f.). Das wird im Kanon-Kapitel so erläutert: Ohne Gott wären »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung« (A813 B841) und als moralische Gesetze nur »leere Hirngespinste«, nicht »Gebote (…), welches sie aber nicht sein können, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.« (A811 B839) Dazu bedarf es des starken Armes Gottes. »(…) wenn wir aus dem Gesichtspunkte der sittlichen Einheit, als einem notwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effekt, mithin auch für uns verbindende Kraft geben kann, so muss es ein einiger oberster Wille sein, der alle diese Gesetze in sich befasst. Denn wie wollten wir unter verschiedenen Willen vollkommene Einheit der Zwecke finden? (…) Aber diese systematische Einheit der Zwecke (…) führt unausweichlich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen.« (A815 B843) »Die Welt muss als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden (…). Dadurch bekommt alle Naturforschung eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke, und wird in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie. Diese aber, da sie doch von sittlicher Ordnung, als einer im Wesen der Freiheit gegründeten und nicht durch äußere Gebote zufällig gestifteten Einheit, anhob, bringt die Zweckmäßigkeit der Natur auf Gründe, die a priori mit der inneren Möglichkeit der Dinge unzertrennlich verknüpft sein müssen, und dadurch auf eine transzendentale Theologie, die sich das Ideal der höchsten ontologischen Vollkommenheit zu einem Prinzip der systematischen Einheit nimmt, welches nach allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen alle Dinge verknüpft, weil sie alle in der absoluten Notwendigkeit eines einigen Urwesens ihren Ursprung haben.« (A815 f. B843 f.) In der transzendentalen Dialektik der KrV unterscheidet Kant vom »apodiktischen Gebrauch der Vernunft« einen hypothetischen, der nicht 356

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eigentlich konstitutiv, sondern nur regulativ ist (A646 f. B674 f.), der den »Begriff einer höchsten Intelligenz (…) von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee« (A670 B698) zu unterscheiden weiß und die Gegenstände der Erfahrung zwecks Annäherung an eine systematische Einheit der Natur nur modellhaft so ansieht, »als ob die Gegenstände selbst aus jenem Urbilde aller Vernunft entsprungen wären« (A673 B701), »als ob sie Anordnungen einer höchsten Vernunft wären« (A678 B706), »als ob sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätten« (A681 B709), »mithin als ob sie insgesamt aus einem einzigen allbefassenden Wesen, als oberster und allgenugsamer Ursache, entsprungen wären« (A686 B714). Mit der transzendentalen Theologie des Kanonkapitels kehrt Kant vom hypothetischen Vernunftgebrauch zum apodiktischen der Physikotheologie zurück. Die Reihenfolge Disziplin–Kanon–Architektonik in der Methodenlehre der KrV weist auf den Plan von 1776 zurück, in dem die Kritik der reinen Vernunft als bloßer Vorbau dieser Reihe vorgesehen war.1220 Die vorliegende Ausführung im Kanon-Kapitel gestattet eine Rekonstruktion dieses Planes, der nach einer anfänglichen Kritik metaphysischer Ausschweifungen und einer Disziplin, die diese theoretische Kritik methodologisch festigen sollte, von der Moral her auf eine Rehabilitierung der Metaphysik zielte. Diese sollte dann im Architektonik-Teil, dessen systematische Notwendigkeit in der vorliegenden Methodenlehre der KrV nicht zu erkennen ist, wahrscheinlich neu aufgebaut werden. Nur so lässt sich verstehen, warum das Werk nach dem Plan von 17731219 »der Philosophie eine vor Religion und Sitten weit vorteilhaftere Wendung« geben sollte und warum Kant 1777 behauptet, dass die »Idee des Ganzen (…) allererst das Urteil über den Wert und den wechselseitigen Einfluss der Teile möglich« machen werde:1221 Der von der anfänglichen Kritik herabgestimmte Metaphysiker hätte erst am Schluss der Lektüre, bei Übersicht über das Ganze, erleichtert feststellen können, dass ihm das Gedankengebäude doch wieder zu Füßen lag. Diese schönen Aussichten, denen die »Kritik der reinen Vernunft (…) als ein Stein im Wege lag«,1221 waren spätestens vorbei, als aus dem geplanten Werk 1778 ein »Werkchen« geworden war,1222 das für den großen Atem des Projekts nicht mehr genügend Umfang hatte. Dennoch hat Kant dieses Projekt nicht aufgegeben, aber in einem Anhang am Schluss des Buches so versteckt, dass man schon viel Geduld bei der Lektüre braucht, um sich so weit durchzulesen, und dann von der Wucht der 357

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im Hauptteil geführten Keulenschläge gegen die spekulative Metaphysik so getroffen ist, dass die flüchtigen Andeutungen einer Kehrtwendung kaum noch Wirkung zeigen.

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35.3.2 Die transzendentale Ästhetik Kant gliedert die Kritik der reinen Vernunft in die transzendentale Elementarlehre, die mehr als drei Viertel des Buches ausmacht und allein weitreichende denkgeschichtliche Wirkungen geübt hat, und die transzendentale Methodenlehre, einen Anhang, dessen Herkunft als Überbleibsel eines viel weiter ausgreifenden Planes aus der langen Entstehungszeit ich unter 35.3.1 erörtert habe. Er gliedert die transzendentale Elementarlehre in die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Logik, diese in die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik. Es ist aber geraten, Ästhetik, Analytik und Dialektik als drei koordinierte Glieder zu besprechen, weil jedes von ihnen eines der drei Hauptanliegen des Kantischen Kritizismus durchführt: die Ästhetik den transzendentalen Idealismus, die Analytik die kopernikanische Wende und die Dialektik den kritizistischen Immanentismus. Auf diese drei Abschnitte werde ich die folgende inhaltliche Analyse des Werkes beschränken. Die transzendentale Ästhetik, der kürzeste, aber grundlegende Teil der Elementarlehre, enthält außer einer Einführung und erläuternden Anmerkungen am Schluss je eine Betrachtung über den Raum und über die Zeit, von denen jede zwei Teile hat. Der erste ist eine Exposition in Form von vier Argumenten über den Raum sowie fünf über die Zeit, womit bewiesen werden soll, dass es sich um apriorische und reine, 1230 d. h. nicht durch Einwirkung affizierender (etwas antuender) Gegenstände mitbedingte, Anschauungsformen handelt. Jeder solchen Exposition folgt als zweiter Teil der Betrachtung eine Auswertung, die auf Zugehörigkeit von Raum und Zeit zur Ausstattung des erkennenden Subjektes schließt, mit der Folge, dass alles, was in Raum und Zeit vorkommt, nicht ein Ding, wie es an sich selbst ist, sondern nur dessen durch Raum und Zeit veränderte Er1230 A20 B34: »Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird.« A19 f. B34: »Die Wirkung des Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung.«.

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scheinung sein kann. Ich bespreche zunächst die beiden Expositionen und dann die beiden Auswertungen. 1231 Von den vier Raumargumenten (A23–25 B38–40 1232 ) soll das zweite den Raum als notwendige Vorstellung a priori erweisen, während das erste, dritte und vierte mit einander dem Nachweis gewidmet sind, dass der Raum kein aus der Erfahrung abstrahierter allgemeiner und diskursiver Begriff, sondern eine reine Anschauung ist. Zum Einstieg eignet sich das zweite Argument: »Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, dass keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.« Kant scheint sich nicht überlegt zu haben, was das für ein Raum sein könnte, in dem keine Gegenstände angetroffen werden. Dreidimensionalität kann nicht dazugehören, denn die kann nur in Bezug auf feste Körper definiert werden; gleichwohl trifft Kant die Feststellung, dass der Raum »nur drei Abmessungen« hat, A24 B41 als Paradebeispiel eines apodiktischen geometrischen Satzes an. Ferner gibt es ohne feste Körper keine Flächen, z. B. nicht in dem Raum, den der Schwimmer und Taucher bei geschlossenen Augen im flüssigen Element kennenlernt. Ohne Flächen kann es aber auch kein stabiles System von Orten mit Lagen und Abständen zwischen ihnen geben.1231 Unter einem solchen System liegt das große Reich flächenloser Räume, von denen Kant keine Notiz nimmt, z. B. der Raum des eigenleiblichen Spürens, des Schwimmens, des Wetters, des Schalls, der Stille, des entgegenschlagenden Windes (mit Bewegung ohne Ortswechsel). Solche Räume sind z. T. gegliedert Für das Verständnis meiner Bemerkungen zu den vier Raumargumenten dürfte eine Vertrautheit mit meiner Phänomenologie des Raumes nützlich sein. Die kürzeste Darstellung auf dem neuesten Stand befindet sich in Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 186–204: Der erlebte und der gedachte Raum. Die ausführlichste enthält mein Buch: System der Philosophie Band III Teil 1: Der leibliche Raum, Bonn 1967, mehrfach neu aufgelegt. Zur Ergänzung dient: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 9–97: Eckpunkte der Neuen Phänomenologie (darin S. 54–62: Raum). 1232 Zählung nach B. Das in A 3. Raumargument wird in B durch die transzendentale Erörterung B 40 f. ersetzt, die zur Auswertung gehört, und bedarf daher hier keiner Rücksicht. 1231

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durch unumkehrbare Richtungen, die entweder (wie der Blick) aus der spürbaren Enge des Leibes in die Weite führen oder umgekehrt in jene einstrahlen, oder sie sind (wie die Räume des z. B. warmen oder kalten Wetters, der feierlichen oder morgendlich zarten Stille, des unauffälligen Rückfeldes, das man bei kleinen unwillkürlichen Bewegungen wie z. B. Zurücklehnen in Anspruch nimmt) bloß noch Weiteraum mit einem aus ungegliederter Weite sich abhebenden absoluten Leibesort. Nach Verschwinden aller Gegenstände aus dem Raum bliebe nur noch diese ungegliederte Weite. Sie wird ursprünglich am eigenen Leib gespürt, dessen vitaler Antrieb (die Achse seiner Dynamik) in verschiedenen Verhältnissen zwischen Enge und Weite schwingt. In ihr gibt es keine Teile, so dass das 3. und 4. Raumargument entfallen. Wohl aber werden alle räumlichen Gliederungen dem Weiteraum, der die bloße Weite durch in ihr sich abhebende absolute Leibesorte ergänzt, aufgeladen oder aufmoduliert, so dass so etwas in der Tat »allen äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt«; das ist aber nicht der Raum, an den Kant denkt. Im ersten Raumargument unterscheidet Kant zwischen einem von äußeren Erfahrungen abgezogenen System von Orten, in dem die Gegenstände in verschiedenen Orten außer und neben einander sind, so dass etwas »auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde« bezogen werden kann, und der »Vorstellung des Raumes«, die »schon zum Grunde liegen« müsse, damit ein solches System möglich ist. Bei diesem handelt es sich in meiner Ausdrucksweise um einen Ortsraum, d. h. ein System relativer Orte (wohl zu unterscheiden vom spürbaren absoluten Ort des Leibes), die sich gegenseitig durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte bestimmen oder identifizierbar machen. Unter 29.1 habe ich gezeigt, dass ein solcher Ortsraum nicht aus sich bestehen kann, weil die Einführung von Orten bloß mit Hilfe von Lage und Abstand auf einen fehlerhaften Zirkel aufläuft: Der Ort setzt Ruhe, Ruhe setzt den Ort voraus. Insofern hat Kant Recht, wenn er einen anderen Raumtyp außer dem Ortsraum als von diesem vorausgesetzte Grundlage verlangt. Die Physiker wie Newton und Euler, von denen Kant abhängt, schlugen dafür den unendlich großen ruhenden absoluten Raum vor, der alle begrenzten und bewegten Räume in sich enthält. Daran denkt auch Kant, wie das 3. und 4. Raumargument zeigen. Es handelt sich aber um ein intellektuelles Konstrukt, das sich auf keine unwillkürliche Erfahrung zur Legitimation berufen kann. Neuerdings wird es entbehrlich durch das gleichfalls rein intellektu360

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elle Konstrukt nichteuklidischer Räume ohne Grenzen, aber mit endlichem Volumen. Wenn man davon absieht, bezieht das Konstrukt des absoluten und ganzheitlich übergreifenden unendlichen Raumes seine Überzeugungskraft lediglich aus dem Gedankenexperiment mit endlichen Räumen, hinter deren Begrenzung doch noch etwas sein müsse. Dieses Gedankenexperiment rechnet mit einem Ortsraum, der örtlich scharfe Grenzen hat; wenn diese sich zum Rand hin auflösten, indem die Ortsbestimmtheit in chaotischer Mannigfaltigkeit 1233 verschwommen würde, griffe das Argument nicht mehr. Solange es greift, führt es in einen Ortsraum, der durch Verlängerung von Abständen zu weiteren Orten über jede Grenze hinaus ad infinitum erweitert werden kann und ein unendliches Ganzes entsprechend der Vereinigungsmenge aller dieser Erweiterungen ist. Es handelt sich also immer noch um einen Ortsraum, der daher für die geforderte Fundierung des Ortsraumes durch einen Raumtyp anderer Art ungeeignet ist. Als Hintergrund räumlicher Erfahrung, auf dem die Einführung von Ortsräumen – endlichen oder unendlichen – möglich wird, kommen nur die eben angedeuteten primitveren Raumschichten, Weiteraum und Richtungsraum, in Betracht, nicht das, was Kant »der Raum« nennt. Von der Exposition des Raumes komme ich nun zur Exposition der Zeit. Kant spricht ohne Differenzierung von »der Zeit«. Was meint er damit? Die Antwort steht in KrV A177 B219: »Die drei modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein.« Die Beharrlichkeit gehört nicht hierhin. Beharrlich ist, was eine Zeit lang dauert, d. h. sie mit seiner Existenz ausfüllt. Dass die Zeit, wenn sie existiert, eine Zeit lang existiert, ist nicht mehr als selbstverständlich und kein Modus, der zu ihrer Charakterisierung beitrüge. Für diese bleiben bei Kant also nur Folge und Zugleichsein. Mit einander bilden sie das, was ich – mit der oben zu Spinoza eingeführten Terminologie,942 an der ich im Folgenden festhalte – »Lagezeit« nenne, d. h. eine Anordnung von Ereignissen (oder sonstigen Gegenständen) durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. Da Kant, wie der bestimmte Artikel zeigt, die Modi vollständig aufgezählt haben will, ist seine Zeit sogar eine reine Lagezeit. Eine solche gibt aber keine Richtung vor, weil die beiden Richtungen, nach denen sie abgelesen werden kann, von ihr aus gleichberechtigt sind. Ein mathematisches Beispiel wird das deutlich machen: Die Zahlenreihe weist eine 1233

Vgl. Situationen und Konstellationen S. 51–61: Chaotische Mannigfaltigkeit.

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lineare Ordnung des Kleineren und Größeren auf, entsprechend der zeitlichen Ordnung des Früheren und Späteren. (Das Zugleichsein kann man hinzunehmen, indem man statt der Zahlen Scharen von nach aufsteigender Anzahl geordneten Mengen betrachtet, doch würde das hier nichts bringen.) Beider isomorphen Ordnungen Struktur kann man eine abstrakte Früher-Später-Ordnung nennen. Eine speziellere innerhalb der Zahlenreihe ist z. B. das Potenzverhältnis. Offensichtlich läuft es auf dasselbe hinaus, ob man sagt, dass 4 die quadratische Potenz von 2 ist, oder dass 2 die Quadratwurzel von 4 ist. Gemeint ist in beiden Fällen das Potenzverhältnis, das beliebig abgelesen werden kann. So steht es auch mit dem Früheren und Späteren in der reinen Lagezeit. Wichtig wird die Richtung erst durch den Fluss der Zeit. Auch dafür gebe ich ein Beispiel: In Südostasien ereignete sich kürzlich ein fürchterliches Seebeben, in dessen Verlauf mehrere 100 000 Menschen, darunter fröhliche Urlauber, ums Leben kamen, Hütten und Hotelpaläste einstürzten usw. Dem Fluss der Zeit folgend, beginnt das Ereignis mit fröhlich am Strand vor prächtigen Hotelpalästen spielenden Menschen und endet mit Verängstigten, Schreienden, Leichen, Ruinen usw. Die umgekehrte Reihenfolge fängt mit solchen Schreckensbildern an und endet mit prächtigen Häusern und fröhlichen Menschen, die sich freilich seltsam bewegen (von vorn nach hinten, ohne anzustoßen) und wunderlich sprechen (immer vom Satzende zum Satzanfang hin). Das ist doch ein gewaltiger Unterschied, anders als beim Potenzverhältnis. Der Unterschied beruht auf dem Fluss der Zeit, der anders als die reine Lagezeit eine Richtung vorgibt. Prozesse sind aber nur als gerichtete möglich, also nur durch den Fluss der Zeit. Gegen dessen Unentbehrlichkeit für Richtungen fast aller Art (nur solche Richtungen wie die des Blickes brauchen keine Zeit) könnte man darauf hinweisen, dass schon die bloße zweistellige Beziehung von etwas zu etwas eine Richtung habe. Aber auch darin steckt der Fluss der Zeit. Das Beispiel vom Potenzverhältnis macht das ersichtlich. Dieses Verhältnis ist gleichgültig dagegen, ob man es als Quadrat oder als Wurzel darstellt. Der Bedarf nach so einseitiger Auffassung entsteht erst durch die Beschränktheit des menschlichen Geistes, der nur in einer Richtung (diskursiv) fortschreiten kann und daher das Mehrseitige zerlegen muss. Dazu braucht er Zeit, mindestens den (geringfügigen) Fluss der Zeit, der zum Ablesen des Verhältnisses vom gewählten Anfang bis zum entsprechenden Ende gehört. Dieser Fluss der Zeit gibt der Relation die Richtung des Prozesses vor, ein ungerichtetes Verhältnis aufspaltend 362

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einseitig abzulesen. Nicht nur Prozesse, sondern auch Relationen setzen also den Fluss der Zeit voraus. Ohne Relationen gibt es aber kein verbindendes Denken, auch keine Synthesis im Sinne von Kant. Wer Zeit nur als reine Lagezeit kennt und daher z. B. nicht sagen kann, wie das Jahr, in dem ich dies schreibe, vor allen Jahren einen allerdings nicht bleibenden Vorzug genießt (nämlich den, die Gegenwart zu enthalten), fasst von der Zeit nur den Rand auf und ahnt nicht, welche Tiefe er darunter voraussetzen muss, um überhaupt denken zu können. Das gilt für Kant wie für die Naturwissenschaft, der er sein Zeitverständnis entnimmt. Der Fluss der Zeit, dass die Gesamtvergangenheit unaufhörlich wächst, die Gesamtzukunft entsprechend schrumpft und die Gesamtgegenwart (die Masse aller gegenwärtigen Ereignisse und ggf. sonstigen Sachen) wechselt, wird nicht wie ein Fluss von Wasser sinnlich am Objekt wahrgenommen, sondern leiblich als Einschnitt in die gleitende Dauer gespürt, ursprünglich und grundlegend in plötzlich beengendem Betroffensein (z. B. Schreck, Stutzen, Angst, Schmerz) und abgeschwächt in leiseren Rucken des täglichen Lebens. Dieser Einschnitt besteht darin, dass die Ankunft des Neuen Gegenwart, in die hinein es sich ereignet, aussetzt oder abreißt (exponiert) und dadurch die Dauer zerreißt, die als etwas, das vorbei ist, in Vergangenheit zurücksinkt, um sich über dem Riss wieder zu schließen. Dieses Geschehen bezeichne ich als reine Modalzeit, weil noch keine Beimischung von Lagezeit darin enthalten ist, abgesehen vom Sich-wieder-schließen der Dauer. Die reine Modalzeit gibt der Lagezeit, die als reine Lagezeit nur eine Form linearer Anordnung ist, die spezifisch zeitliche Qualität der modalen Lagezeit mit Fluss der Zeit. Ohne reine Modalzeit hätten wir als Zeit nur so etwas wie eine vierte Dimension des Raumes ohne die spezifisch zeitliche Komponente des gerichteten Geschehens; freilich tritt diese Quelle des spezifisch Zeitlichen wegen der Legierung der Modalzeit mit Lagezeit in der Routine des Alltages etwas zurück, wird aber durch ihr Ausbleiben aufdringlich, wenn in Langeweile oder gespannter Erwartung die Zeit »erbärmlich lang« 1234 und dadurch auffällig wird. Insofern hat Kant völlig Recht, wenn er im ersten der fünf Zeitargumente (A30– 32, B46–48) die Wahrnehmung zeitlicher Aufeinanderfolge und Simultaneität davon abhängig macht, dass etwas anderes zugrunde liegt, das daraus erst zeitliche Folge und Zugleichsein werden lässt. 1234

Goethe, Faust, Vers 3315.

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Nur dass es sich dabei um »die Vorstellung der Zeit a priori« handle, hilft nicht weiter, denn auch wenn jemand die reine Lagezeit ganz und gar, und meinetwegen mit unendlicher Ausdehnung, von vornherein vorstellte, käme in seiner Vorstellung noch längst nichts Zeitliches vor. Nicht ein riesiges Ganzes von Zeit wird als Fundament benötigt, sondern im Gegenteil die Enge des Geschehens der reinen Modalzeit, die primitive Gegenwart als Spitze des unverwechselbaren Dieses, als Ursprung der Identität, der Subjektivität, des Hier und Jetzt. Dass »die Zeit« als notwendige Vorstellung allen Anschauungen zum Grunde läge (zweites Zeitargument), ist nichtssagend, wenn nicht angegeben wird, welche Nuance an der Zeiterfahrung gemeint wird, aber, wenn deren Sitz in der reinen Modalzeit getroffen wird, kann man rechtens mit Kant sagen: »Die Zeit ist a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.« (A31 B46) Ohne die primitive Gegenwart der reinen Modalzeit gäbe es keine Identität, keine Subjektivität (dass es sich um mich handelt, entsprechend für jeden anderen Bewussthaber), keine Prozesse, keine Relationen und vieles andere nicht. Aber so meint Kant es nicht. Sein Zeitverständnis reicht über reine Lagezeit nicht hinaus. Das dritte und das vierte Zeitargument beruhen auf der Voraussetzung, dass alle Zeitinhalte in der linearen Ordnung der Lagezeit eindimensional und zusammenhängend angeordnet werden können. Diese Voraussetzung ist deswegen problematisch, weil der Fluss der Zeit auch Ereignisse in die Vergangenheit verschlingen könnte, für die es keine präzise Zeitstelle gäbe, so dass die lineare Durchordnung nicht vollständig wäre. Dann könnte die Lagezeit in Fetzen zerfallen, die alle der Vergangenheit oder der Zukunft angehörten, aber sich nicht zu einer einzigen Dimension zusammenschlössen. Die Passage durch die Gegenwart garantiert nicht die Eindeutigkeit der Zeitstelle, denn diese ist der durch Sein vor Nichtmehrsein und Nochnichtsein ausgezeichneten Gegenwart nicht mit logischer Notwendigkeit aufgeprägt. Die vollständige lagezeitliche Durchordnung der modalen Lagezeit ist eine vernünftige Annahme, aber nicht absolut gesichert. Dennoch ist die Überzeugungskraft dieser Annahme so groß, dass sie, wie Kant will, als synthetisches Urteil a priori gelten kann. Im fünften Zeitargument behauptet Kant: »Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als dass alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei. Daher muss die ursprüngliche Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein.« Hier rächt sich an ihm die Verkür364

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zung der Zeit auf reine Lagezeit, die man in Gedanken über jede Grenze hinaus erstrecken kann wie den Ortsraum. Der Unterschied beider Fälle besteht aber darin, dass dem Ortsraum kein kontingentes Geschehen so zugrunde liegt wie der Lagezeit die reine Modalzeit. Den Ortsraum kann man in Gedanken immer weiter ausdehnen, ohne gleichsam von einem Kapital zu zehren, von dem nicht feststeht, ob es unerschöpflich ist. Die Zeit ist dagegen abhängig von der Ankunft des Neuen in Gegenwart, damit diese aus der chaotischmannigfaltigen Dauer herausgeschlagen wird und darüber eine modale Lagezeit erwächst, aus der schließlich mit einiger Künstlichkeit eine reine Lagezeit abstrahiert werden kann. Nichts bürgt dafür, dass solche Ankunft immer war und immer sein wird. Deswegen ist eine uneingeschränkte Zeit von unendlicher Größe ein Gebilde der Erwartung und konstruierenden Phantasie ohne gesicherte Realität. Von der Exposition des Raumes und der Zeit komme ich nun zur Auswertung dieser Exposition. Hier erübrigt sich eine getrennte Behandlung für beide, da das Wesentliche schon beim Raum gesagt wird. Kant will bewiesen haben, dass der Raum und die Zeit dem menschlichen Subjekt notwendig (a priori) anhängende Formen reiner, d. h. in keiner Weise von einwirkenden Dingen ihm angetaner Anschauung seien, in denen alles aufgefasst wird, was als in Raum und Zeit enthalten dem Subjekt zu Bewusstsein kommt. Daraus will er schließen, dass Raum und Zeit lediglich dem Subjekt angehörten und keine Dinge einließen, wie sie an sich selbst sind, sondern nur durch sie den affizierenden Dingen bis zur Unkenntlichkeit entrückte Erscheinungen. Das soll sich durch »Schlüsse aus diesen Begriffen« – als ob man aus Begriffen schließen könnte –, d. h. aus den in der Exposition vorgebrachten Argumenten, ergeben. Vor den so überschriebenen Abschnitt hat Kant in B40 f. einen Abschnitt »Transzendentale Erörterung des Begriffs vom Raume« gesetzt, worin er dieses Beweisziel mit Berufung auf die synthetischen Urteile a priori der Geometrie so gewinnt: »Wie kann nun eine äußere Anschauung dem Gemüte beiwohnen, die vor den Objekten selbst vorhergeht, und in welchen der Begriff der letzteren a priori bestimmt werden kann? Offenbar nicht anders, als sofern sie bloß im Subjekte, als eine formale Beschaffenheit desselben, von Objekten affiziert zu werden, und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben, d. i. Anschauung zu bekommen, ihren Sitz hat, also nur als Form des äußeren Sinnes überhaupt.« Kant hat mit »offenbar« aus der intimen Vertrautheit des Menschen mit dem Raum, die den Menschen zu in reiner An365

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schauung gegründeten synthetischen Urteilen a priori über den Raum befähige, zu schnell geschlossen, dass der Raum zum Menschen gehört. Wenn eine Sache A mit einer Sache B so intim vertraut ist, dass A über B unbedingtes Wissen besitzt, ohne auf Nachrichten oder andere kausale Informationen aus B warten zu müssen, kann das nämlich zwei Gründe haben: dass B zu A (der Raum zum Menschen) gehört oder dass A zu B gehört, hier in der Weise, dass der Mensch von vornherein, aus den Ursprüngen eigenen Wesens und nicht aus nachträglicher Belehrung, dem Raum so zugeeignet und innig verbunden ist, dass er seiner Natur nach in die Geheimnisse des Raumes gleichsam eingeweiht ist. Daran ist in der Tat etwas, weil, wie ich oben angedeutet habe, Menschsein aus Leiblichkeit und leiblicher Dynamik hervorgeht, deren Achse, der vitale Antrieb, zwischen Enge und Weite ausgespannt ist; in die Weite aber sind alle komplizierteren räumlichen Strukturen in genau verfolgbarer Weise, die ich durchmustert habe, eingetragen.1231 Selbst wenn Kants Behauptungen über synthetische Urteile a priori und über die von ihm dem Raum und der Zeit zugeschriebenen Eigenschaften richtig wären, wäre für den transzendentalen Idealismus (s. o. 35.2.1) nichts gewonnen. Daran ändert sich nichts durch die »Schlüsse aus diesen Begriffen« in A26 B42 – A30 B45 für den Raum und A32 B49 – A36 B53 für die Zeit. Dass der Raum keine Eigenschaft von Dingen an sich und kein Netz von Beziehungen zwischen ihnen sein kann, will Kant damit beweisen, dass das Dasein der Dinge, denen solche Bestimmungen zukommen, nicht a priori angeschaut werden könne und dann auch nicht die von diesem Dasein abhängende absolute oder relative Bestimmtheit der Dinge. Aber warum soll deren Dasein nicht a priori angeschaut werden können? Dafür würde genügen, dass das anschauende Wesen aus seiner eigenen Natur heraus, nicht erst durch dieser eingeflößte Informationen, von vornherein in die betreffende Anschauung vertieft wäre. Vor allem müsste die Möglichkeit besprochen werden, dass Raum und Zeit selbst Dinge an sich wären, nicht nur absolute oder relative Bestimmungen solcher. Für die Zeit erwähnt und verwirft Kant an der entsprechenden Stelle A32 B49 diesen Gedanken mit der unverständlichen Begründung, dass die Zeit dann »ohne wirklichen Gegenstand dennoch wirklich wäre«. Aber auch die Anschauung a priori von Raum und Zeit als Dingen an sich wäre so wenig undenkbar wie die Anschauung des Daseins solcher Dinge. Der Schluss von reiner apriorischer Anschauung auf bloße, den 366

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affizierenden Dingen an sich entfremdete, Subjektivität des Raumes, der Zeit und aller Erscheinungen in ihnen ist so vorschnell und lückenhaft geraten, weil ein massives dogmatisches Vorurteil, das mit den Beobachtungen an Raum und Zeit nichts zu tun hat, eingeflossen ist. Es bezieht sich auf das Verhältnis der Substanzen, sofern sie Dinge an sich sind, unter einander. Alle Dinge sind nach Kant Substanzen, 1235 auch die Dinge an sich, aber auf diese passt nur der nicht durch ein Schema auf Erfahrung zugeschnittene Substanzbegriff aus der reinen, an der Urteilstafel (hier am Subjekt des kategorischen Urteils) abgelesenen Substanzkategorie: »So würde z. B. Substanz, wenn man die sinnliche Bestimmung der Beharrlichkeit wegließe, nichts weiter als ein Etwas bedeuten, das als Subjekt (ohne ein Prädikat von etwas anderem zu sein) gedacht werden kann. Aus dieser Vorstellung kann ich nun nichts machen, indem sie mir gar nicht anzeigt, welche Bestimmungen das Ding hat, welches als ein solches erstes Subjekt gelten soll.« (A147 B186 f.) Tatsächlich glaubt Kant aber viel mehr von den Substanzen zu wissen, die Dinge an sich sind: dass sie (mit Hegel gesprochen) ein Ansichsein vor allem Sein für anderes, ein von allen äußeren Beziehungen unberührtes und diesen zugrunde liegendes Eigenwesen haben, das insbesondere von der äußeren Beziehung der Zusammensetzung frei und daher einfach ist. »Die Substanzen überhaupt müssen etwas Inneres haben, was also von allen äußeren Verhältnissen, folglich auch der Zusammensetzung, frei ist. Das Einfache ist also die Grundlage des Inneren der Dinge an sich selbst.« (A274 B330) Nach dem Kontext könnte man meinen, dass Kant hier nicht seine eigene Überzeugung ausspreche, sondern die dogmatische Metaphysik von Leibniz charakterisiere, aber eine Stelle aus der Anmerkung zur Antithesis der 2. Antinomie zeigt, dass Kant, indem er sich mit den »Monadisten« auseinandersetzt, seine eigene Überzeugung bekennt (A443 B470): Zunächst wählt er eine Formulierung, die allenfalls so verstanden werden könnte, als solle die Einfachheit der Dinge an sich dahingestellt gelassen werden: »Es mag also von einem Ganzen aus Substanzen, welches bloß durch den reinen Verstand gedacht wird, immer gelten, dass wir vor aller Zusammensetzung desselben das Einfache haben Ak. XXVIII 1041, 36–39: »Dieser Begriff von einem Dinge überhaupt lehret uns aber dass ein jedes Reale, was für sich existiert, ohne eine Bestimmung von einem andern Dinge zu sein, eine Substanz ist, folglich alle Dinge Substanzen sind.« (Philosophische Religionslehre, Nachschrift Pölitz).

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müssen (…).« Nachdem er dies für die Körper abgelehnt hat, fährt er aber fort: »Wären sie Dinge an sich selbst, so würde der Beweis der Monadisten allerdings gelten.« Als Kant 1790 Schütz die polemische Feder für eine Besprechung von Eberhards Philosophischem Magazin führen will, verfasst er einen Aufsatz, in dem er den transzendentalen Idealismus damit beweist, dass in Raum und Zeit nichts Einfaches vorkommen könne. »Denn, dass allen Objekten der Sinne, sofern sie als Sachen an sich selbst betrachtet werden, das Einfache zum Grunde liegen müsse, das eben behauptete die Kritik.« 1236 Das Dogma vom einfachen Ansichsein der Dinge an sich vor aller äußeren Beziehung und Zusammensetzung dient hier ausdrücklich zur Begründung des transzendentalen Idealismus, während es in der transzendentalen Ästhetik nur den unausgesprochenen Hintergrund bildet. Kant teilt das aristotelische Vorurteil gegen die relativen Bestimmungen als das wie ein Auswuchs am Seienden mindest Seiende (12.9). Realität reserviert er dem Absoluten der inneren Bestimmungen im Gegensatz zur Relation (Ak. XXIII 194 f.), und er benutzt das vermeintliche Fehlen dieses Absoluten in Raum und Zeit, für die er keine anderen Bestimmungen als relative und äußerliche gelten lässt, geradezu zur Begründung seines transzendentalen Idealismus, dass man es bei Raum und Zeit und allem, was darin vorkommt, nur mit Erscheinungen und nicht mit wahrhaft substantiellen Dingen (an sich) zu tun habe, 1237 »denn die Substanz muss vor aller Relation vorausgesetzt werden« (R. 4081, Ak. XVII 407, 18). Die Substanzen isolieren sich durch ihre Subsistenz und treten nur äußerlich und unwesentlich zu anderem in Beziehung, sofern nicht Gott mit seiner Allmacht (im Zuge des von mir sogenannten commercium-Beweises, dem Kant bis ins hohe Alter seine Gunst nicht entzieht) ihrer Sprödigkeit einen Zusammenhang abgewinnt. 1238 Diese Gebundenheit Kants an ein dogmatisches Vorurteil, das den vom kritizistischen Immanentismus vor den Dingen an sich für Erkenntnisansprüche gezogenen Bannkreis durchbricht, lässt verstehen, warum mein Vorschlag einer Alternative zu seiner Auswertung der Expositionen von Raum und Zeit für ihn nicht in Frage kommt: Die wesensmäßige Vertiefung einer Substanz in die andere bis zur apriorischen Vertrautheit mit dieser würde die vorausgesetzte Sprödigkeit des An1236 1237 1238

Ak. XX 390, 7–18, zitiert WK279, Anm. 388. B67, vgl. A285 B341 über die Materie und weitere Belege WK278. WK 24–26, vgl. dort die Belege S. 24, Anm. 45.

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sichseins der Substanzen gegen alles Sein für anderes überrennen. »Intime präsent ist keine Substanz der anderen; denn jede kann ohne die andere existieren; aber äußerlich gegenwärtig.« 1239 Ein für synthetische Erkenntnis a priori ausreichendes Hineinblicken einer Substanz in die andere wäre intime Präsenz; stattdessen bleibt es bei äußerlicher Gegenwart mit kausaler Affektion, die im Inneren der affizierten menschlichen Substanz ein dem Affizierenden völlig fremdes Gesicht annimmt, weil sich die Affektion im selbstständigen Empfänger wesentlich anders darbietet als im ebenso selbstständigen Sender. Damit wird auch das Pathos besser verständlich, mit dem Kant dem kritizistischen Immanentismus anhängt: Ihre Spontaneität kann die Subjekt-Substanz nur ausüben, indem sie sich nicht anderen Substanzen in allzu großer Vertrautheit anhängt, sondern nur an dem im eigenen Inneren vorgefundenen Stoff.

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35.3.3 Die transzendentale Analytik Die transzendentale Analytik hat die Aufgabe, die Ehre des menschlichen Verstandes gegen die Hume’sche Herabsetzung des Menschen zum assoziativ reagierenden Gewohnheitstier durch den Nachweis zu retten, dass der Verstand mit reinen Verstandesbegriffen a priori spontan tätig die Erfahrungswelt gestaltet (35.2.2). Die Problemstellung gleicht noch immer der des zuerst eine Kritik der reinen Vernunft ankündigenden Briefes an Herz vom 21. 02. 1772: »Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich aufeinander beziehen, und gleichsam einander begegnen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegenstand allein möglich macht.« (A92 B124) Jener Brief an Herz1204 formulierte das Problem, dass beides für die reinen Verstandesbegriffe nicht in Frage kommt. Den Ausweg aus diesem Dilemma bietet nun der transzendentale Idealismus: Der Verstand braucht sich nicht in der passiven Rolle des Empfängers von Informationen einem Gegenstand darzubieten, aber auch nicht wie Gott diesen Gegenstand zu erschaffen, sondern findet die ganze Natur in Raum und Zeit bei sich, im Inneren des Gemütes, dessen Verstand er ist, zur spontan gestaltenden Bearbeitung bereit. Wollte er sich auf äußere, nicht im Gemüt gelegene Ge1239

Ak. XXVIII 1310, 6 f., Danziger Rationaltheologie, Vorlesung 1783/84.

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genstände zur Erkenntnis einlassen – etwa auf Gott oder die Schau in Gott, womit Kant einmal in Gedanken spielt, 1240 – würde er sich wieder abhängig machen, vielleicht als spinozischer Modus in Gottes Denken verschlungen werden (35.2.1), und die Selbstbestätigung einbüßen. Daher ist leicht zu verstehen, dass Kant in der transzendentalen Analytik mit gleicher Energie die Gesetzgebung des Verstandes für die Natur (kopernikanische Wende), den transzendentalen Idealismus und den kritizistischen Immanentismus verteidigt. Die Hauptlast des Beweises legt Kant auf die transzendentale Deduktion, die aber in beiden Fassungen eher verwirrend ausfällt, während das Wesentliche in der vorausgehenden »metaphysischen« Deduktion (dem sogenannten Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe) bereits enthalten ist. Ich zeichne diesen Gedankengang kurz nach: Begriffe beruhen auf Funktionen, d. h. der »Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.« (468 B93) Sie gründen in der Spontaneität des Denkens. Der Verstand verwendet sie nur zu Urteilen, um viele Vorstellungen, unter denen wenigstens eine einen unmittelbar anschaulich gegebenen Gegenstand hat, auf einen Begriff zu beziehen, der für diese vielen Gegenstände gilt. Alle Urteile sind demnach Funktionen der Vereinigung unmittelbarer oder mittelbarer Gegenstandsvorstellungen durch mittelbare (nämlich Begriffe). Der Verstand ist ein Vermögen, zu urteilen, d. h. zu denken. (A68 f. B93 f.) Die Spontaneität unseres Denkens erfordert die Synthesis des im empfänglichen Gemüt bereitliegenden Mannigfaltigen, d. h. »die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.« (A77 B102) Was der urteilende Verstand durch Begriffe ohnehin tut, das leistet er in der noch vor dem Urteil liegenden Synthesis des Mannigfaltigen durch reine Verstandesbegriffe. »Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.« (A79 B104 f.) Diese grundlegende Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bedient sich der rein formalen Auffassung von Begriff und Urteil, die ich unter 35.1 durch Vergleich mit Lockes Ideenlehre beleuchtet habe: Die inhaltliche Bestimmung als Leistung des Begriffes für die so bestimmte Sache und die Brückenfunktion 1240

Ak. II 410, 16 (Dissertation von 1770, § 22, Scholion).

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des Urteils als Vermittler der Bestimmtheit durch diese Bestimmung kommen zu kurz gegenüber der konstruktiven Leistung des Zusammenstellens vieler einzelner Gegenstände unter einem Begriff. Deswegen versteht Kant den Begriff ausschließlich als Allgemeinbegriff mit vielen Fällen unter sich und ignoriert den Individualbegriff, dessen sprachliches Kennzeichen der bestimmte Artikel (der, die, das) ist. Dieser Verbrauch des begreifend-urteilenden Denkens zum Konstruieren ermöglicht das Umlenken der Urteilsfunktion in den Einsatz synthetischer Bearbeitung der anschaulichen Mannigfaltigkeit. Kant nimmt sich aber mehr vor als diesen neuen Arbeitsauftrag für den sonst nur urteilenden Verstand, nämlich die vollständige Durchleuchtung des Verstandes mit dem Ergebnis der Aufzählung aller reinen Verstandesbegriffe, die für die Synthesis in Betracht kommen. »Die Transzendental-Philosophie hat den Vorteil, aber auch die Verbindlichkeit, ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen; weil sie aus dem Verstande, als absoluter Einheit, rein und unvermischt entspringen, und daher selbst nach einem Begriffe, oder Idee, unter sich zusammenhängen müssen.« 1241 Dieser hochgespannte Anspruch an »das Systematische der Erkenntnis«, an »den Zusammenhang aus einem Prinzip« der Form eines Ganzen, »welches (…) jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen vermag«, wird in der transzendentalen Dialektik stark beschnitten: Er setzt »jederzeit eine Idee voraus«, aber »man kann eigentlich nicht sagen, dass diese Idee ein Begriff vom Objekte sei, sondern von der durchgängigen Einheit dieser Begriffe, sofern dieselbe dem Verstande zur Regel dient.« (A645 B673) Es handelt sich um »den hypothetischen Gebrauch der Vernunft« (A647 B675). Bei der Durchleuchtung des Verstandes setzt sich Kant über dieses Bedenken glatt hinweg und pocht auf kategorischen, konstitutiven, nicht bloß regulativen Gebrauch der Idee. »Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann. Dass dies aber sich ganz wohl bewerkstelligen lasse, wird der folgende Abschnitt vor Augen stellen.« (A69 B94) Es handelt sich um die im 2. Abschnitt des »Leitfadens« vorgeführte sogenannte Urteilstafel, die das so großartig angekündigte A67 B92, im selben Sinn: A13 B26 f., A763 B791, Prol. Ak. IV 263, 6–19 (Vorrede), Ak. X 199, 16–19 (an Herz 24. 11. 1776).

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Prinzip und den Nachweis der Vollständigkeit allerdings vermissen lässt. Es sind bohrende und penible Versuche unternommen worden, das Gegenteil zu beweisen und Kants Behauptung zu stützen, 1242 doch sind sie zum Scheitern verurteilt, weil nicht klar ist, was gestützt werden könnte: was Kant mit seiner Tafel darstellen will. Nach A69 B94 handelt es sich um »Funktionen des Verstandes«, die »Funktionen der Einheit in den Urteilen« sind und sich in der Tafel »vollständig darstellen« lassen; das wird ebd. so erläutert: »Alle Urteile sind demnach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht, und viel mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden.« Was dann aber in A70 B95 folgt, ist eine tabellarische Aufzählung von zwölf Typen von Urteilen, nicht von Verstandesfunktionen; so können mit den drei Momenten »Allgemeine Besondere Einzelne« nicht allgemeine, besondere und einzelne Funktionen gemeint sein, denn jede ist einzeln. Auch behandelt Kant in der Erläuterung jedes der zwölf Momente als Urteil. Ebensowenig erstrebt er aber eine vollständige Einteilung der Urteile in disDer meines Wissens jüngste Versuch ist das Buch von Michael Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, Frankfurt a. M. 1995. Wolff entnimmt alle Beweisstücke dem ersten Abschnitt des Leitfadens, A67–69 B92–94. Obwohl Kant hier ausdrücklich über »alle Urteile« (A69 B94; A68 B93: »In jedem Urteil«) sprechen will, legt Wolff ihn auf eine spezielle Klasse fest, nämlich die von ihm sogenannten Verstandesurteile, die keine Ausdrücke für Anschauungen oder die Beziehung von Begriffen auf Anschauungen enthalten (S. 85 f.). Dabei heißt es doch in A68 B93, dass nur die Anschauung unmittelbar auf den Gegenstand geht und jedes Urteil einen Begriff enthält, unter den eine unmittelbar auf den Gegenstand bezogene Vorstellung fällt; ich denke an KU147: »Mit der Wahrnehmung kann unmittelbar der Begriff von einem Objekt überhaupt, von welchem jene die empirischen Prädikate enthält, zu einem Erkenntnisurteile verbunden und dadurch ein Erfahrungsurteil erzeugt werden.« – Wolff beschränkt sich auf Ableitung der vier Gruppentitel und tröstet sich für die 12 Einzeltitel S. 163–174 mit der Anm. KU LVII, wonach jede synthetische Einteilung aus Begriffen a priori Trichotomie sein müsse. Aber drei Jahre vor der KU hat Kant im 3. Abschnitt des Leitfadens B110 drucken lassen, dass außer im Fall der Kategorientafel alle Einteilung durch Begriffe Dichotomie sein müsse. Wenn er sich später umbesonnen hat, trägt das zur Erklärung der Urteilstafel nichts bei. Schließlich verharmlost Wolff S. 181 zu Unrecht das Eingeständnis in B145 f., dass sich für Art und Zahl der Kategorien »ebensowenig ein Grund angeben« lasse, »als warum wir gerade diese und keine andere Funktionen zu Urteilen haben, oder warum Raum und Zeit die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.« Meines Wissens hat Kant nie Raum und Zeit aus einem Prinzip abzuleiten versucht. – Mehr billige ich die vorbildlich nüchterne und sorgfältige Monographie von Reinhard Brandt: Die Urteilstafel, Hamburg 1991.

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junkte Klassen. Die Verbindung der zwölf Urteilstypen mit den darin angeblich vollständig enthaltenen »Funktionen der Einheit in den Urteilen« ließe sich nur herstellen, wenn Kant in jedem Typ eine besondere Einheitsfunktion ausgeformt sähe und in allen zusammen alle solchen Funktionen; nur so kann er hoffen, sie in der Tafel »vollständig vor Augen zu stellen«. Aber nicht nur unternimmt er nichts, um die Kluft zwischen Funktionen und Formen durch den Nachweis umkehrbar eindeutiger Abbildung zu schließen, sondern er scheint im Gegenteil unter den Formen auch solche ins Auge zu fassen, die keine Funktionen der Einheit tragen. Das verneinende Urteil beschränkt er in A72 B97 auf die Leistung, Irrtum abzuhalten; das ist doch kein Zusammenwirken vieler möglicher Erkenntnisse in einer. Über die Modalität, den vierten Titel, sagt er A74 B99 f.: »Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, dass sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt, (…) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht.« Auch das ist keine Funktion der in A69 B94 angegebenen Art und überhaupt keine Funktion gemäß der oben angeführten Definition A68 B93. Was Kant bei der Modalität »Funktion« nennt, ist eine Bewertung, nicht eine Handlung des Unterordnens verschiedener Vorstellungen unter eine gemeinschaftliche. Er scheint also bei der Aufstellung und Erläuterung seiner Urteilstafel von der im 1. Abschnitt des Leitfadens ausgedrückten Absicht abzuirren und bloße Urteilsformen im Hinblick auf irgendeine Leistung vorzuführen. Wenn so unklar ist, was er demonstrieren will, ist der Versuch einer Unterfütterung seiner mit auffällig selbstsicherem Vertrauen auf Überzeugungskraft vorgeführten Demonstration durch interpretierende Argumente wenig aussichtsreich. Auf den Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe folgt deren transzendentale Deduktion, die Kant für die 2. Auflage völlig neu bearbeitet hat. Die erste Fassung ist ihm literarisch misslungen; er setzt mehrfach ohne organische Verknüpfung neu an und entschuldigt sich sowohl in der vorläufigen Erinnerung A98 als auch im späteren Vorwort A XVIf. für die Mängel der Darstellung, wobei er in der Vorrede einen Unterschied von subjektiver und objektiver Deduktion (von Analyse der Verstandestätigkeit und der Leistungsfähigkeit des Verstandes) einführt, der ihm bei der Ausarbeitung noch fernlag. Ich habe diese Schichten und Revisionsversuche in WK 202–219 verfolgt und die Verwirrung darauf zurückgeführt, dass Kant nach Preisgabe der ursprünglichen Selbstanschau373

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ung der Ich-Substanz zugunsten des kritizistischen Immanentismus (35.3.1) einen Ersatz für den damit preisgegebenen transzendentalen Standpunkt zwischen empirischer Psychologie und verbotenem Transzendieren sucht. Beiden Fassungen ist das vorhin noch einmal beschriebene Interesse der Selbstbestätigung zur Ehre des oberen Erkenntnisvermögens auf die Stirn geschrieben; in der B-Fassung kommt dieses Interesse besonders durch die substantivierte Formel »Ich denke« für die transzendentale Apperzeption, die Spitze dieses Vermögens, zum Ausdruck, als Zeichen dafür, dass es nicht um irgendeine Sache geht, sondern um mich, um mein Interesse spontaner Selbstbehauptung der unter 35.2 beschriebenen Art, wie es Kant selbst sieht, wenn er »den Lehrbegriff der Moralität aus dem Prinzip der reinen Willkür« als »Prinzip der Selbstzufriedenheit a priori« als »parallel mit der Apperzeption« ausgibt. 1243 Darauf will ich nun etwas eingehen. Der Kernsatz lautet B131 f.: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« Warum »für mich nichts«, wenn doch »in mir«? Zumal Kant fortfährt: »Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung.« Soll denn Anschauung für mich nichts sein? Aber wenn sie vor allem Denken gegeben ist, kann sie doch wohl nicht vom Ich denke begleitet werden. Während in der ersten Fassung eine ähnliche Wendung (A111 »für uns soviel als gar nichts«) unerklärt bleibt, gibt es B131 f. eine Verständnisbrücke durch die von Kant festgestellte Gleichwertigkeit der Formulierungen »Etwas würde in mir vorgestellt werden, was nicht gedacht werden könnte« und »Die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« Ich verstehe: Etwas würde in mir vorgestellt werden, aber von anderer Seite, nicht von mir, so dass es, wenn das überhaupt geschehen könnte, für mich nichts sein würde. Da von der Anschauung die Rede ist, gehe ich auf deren Einführung am Anfang der transzendentalen Ästhetik zurück, wo der zweite Satz von ihr sagt: »Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum nur dadurch möglich, dass er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.« (A19 B33) 1244 1243 1244

Ak. XIX 280, 17–20, aus R. 7202 (achtziger Jahre) s. o. 35.2.2. B ergänzt nach »wiederum«: »›uns Menschen wenigstens,«.

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Seine Wirkung auf die Vorstellungstätigkeit ist dabei Empfindung (A19 B34). Hier tritt der Gegenstand in doppelter Rolle auf: Er gibt (affizierend) und er wird gegeben. Bei der Anschauung wird der Gegenstand, wenn auch verkappt in Raum und Zeit, sozusagen in meine Vorstellungsfähigkeit hinein vorgestellt. Dass er dabei die Empfindung als Spur hinterlässt, passt dazu, dass nach A143 B182 das, was an den Gegenständen als Erscheinungen der Empfindung entspricht, die transzendentale Materie aller Gegenstände als Dinge an sich ist. Wenn der Gegenstand in mich hinein vorstellt, entsteht eine Vorstellung in mir, die für mich nichts ist, weil ich sie nicht besitze, sofern ich sie nicht mit dem Ich denke begleiten kann. Die Anschauung muss durch das Denken, die »Spontaneität der Begriffe« nach A50 B74, in Eigenbesitz überführt werden. Das Denken raubt gleichsam dem affizierenden Gegenstand den Besitztitel. Als mein Denken, das mich in Besitz der Vorstellungen in mir setzt, ist es ein Ich denke. Dieses ist aber auch selbst eine Vorstellung: »Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie (…) die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewusstsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muss begleiten können, und in allem Bewusstsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.« (B132) Das Ich denke als Actus der Spontaneität bringt hiernach sich selbst als Vorstellung hervor und entzieht sich dadurch jedem Verdacht, durch einen weiteren Begleiter aus Fremdbesitz erst noch angeeignet werden zu müssen. Dieses Besitzdenken ist der Motor der ganzen Deduktion. Vorhin habe ich die Stelle A84 B16 angeführt, wo Kant seinen Gebrauch des Wortes »Deduktion« auf den juristischen zurückführt,1198 der sich hauptsächlich auf die Verteidigung von Eigentums- und Besitztiteln bezieht. Mit dieser Einsicht in die Konkurrenz von Ich und Gegenstand um den Besitz an dem, was in mir vorgestellt wird, lässt sich vielleicht auch dem von Henrich angestoßenen und seither vieldiskutierten Problem der »Beweisstruktur der Deduktion B« 1245 etwas abgewinnen. Es handelt sich um die Frage, warum Kant, nachdem er schon (§ 20, Überschrift) gezeigt zu haben glaubt, dass alle sinnlichen Referat unter diesem Titel bei Klemme, wie Anm. 1226, S. 157–180. Meiner Erklärung aus Kants Reaktion auf die Rezension von Ulrich (WK 304–309) schicke ich damit eine vielleicht sachlich befriedigendere nach.

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Anschauungen unter Kategorien stehen, in § 21 (B144 f.) noch eine weitere Untersuchung für nötig hält, um zu sichern, dass dies auch für empirische (jedenfalls doch auch sinnliche) Anschauung gilt, und diese neue Untersuchung bis § 26 ausdehnt. Die empirische Anschauung rührt, wie gezeigt, vom affizierenden Gegenstand her, dem der Besitz vom denkenden Ich abgerungen werden muss. Nun lautet die Ankündigung der scheinbar überflüssigen Untersuchung in § 21 so: »In der Folge (§ 26) wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische Anschauung gegeben wird, gezeigt werden, dass die Einheit derselben keine andere sei, als welche die Kategorie nach dem vorigen § 20 dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt, und dadurch also, dass ihre Gültigkeit a priori in Anbetracht aller Gegenstände unserer Sinne erklärt wird, die Absicht der Deduktion allererst völlig erreicht werden.« Man beachte: »keine andere«. Es braucht nicht mehr gezeigt zu werden, dass die Einheit der empirischen Anschauung unter den Kategorien steht, wohl aber, dass es keine andere Einheit dieser Anschauung gibt, wodurch sie nicht für uns, aber für den affizierenden Gegenstand wäre. Der Beweis wird in § 24 (B155), dadurch geführt, dass der Verstand selbst als Konkurrent des Gegenstandes in affizierender Rolle auftritt: »Bewegung, als Handlung des Subjektes (nicht als Bestimmung des Objektes), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert.« Die betreffende Bewegung ist laut Anmerkung »ein reiner Actus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft« (B155), »welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist.« (B152) Der affizierende Gegenstand gibt uns das Mannigfaltige der Empfindung; der affizierende Verstand gibt durch sein Werkzeug, die synthetische Bewegung der Einbildungskraft, diesem Mannigfaltigen die Verbindung zur synthetischen Einheit, und so sind die Rollen zwischen Verstand und Gegenstand sauber verteilt. Durch Einführung der Einbildungskraft und ihrer transzendentalen Bewegung in § 24 will Kant erreichen, dass der Verstand mit der Synthesis dem Gegenstand zuvorkommt 376

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und damit die Regie über das Mannigfaltige »für uns« erobert; erst damit glaubt er sein Deduktionsziel erreicht zu haben. Kants Interesse für sich, das durch die Formel »Ich denke« ausgedrückt wird, ist aber nur extravertiert: Er will dem Gegenstand in der Anschauung so wenig unterworfen sein, wie Gott oder einem irdischen Herrn (35.2.1) mit der Selbstzufriedenheit seiner reinen Willkür.1243 Das introvertierte Interesse, sich selbst zu finden, ist dagegen so wenig entwickelt, dass in beiden Fassungen der transzendentalen Deduktion nur ein einziges Mal (A108) der Zusammenhang zwischen der Synthesis und dem Selbstbewusstsein begründet wird: »(…) denn das Gemüt könnte 1246 sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln allererst möglich macht.« Hier ist zwar nur von einer notwendigen Bedingung die Rede, aber da Kant ebd. »das ursprüngliche und notwendige Bewusstsein der Identität seiner selbst« hervorhebt, ist anzunehmen, dass er keine weiteren Voraussetzungen des Selbstbewusstseins zulässt; sonst könnte dieses nicht »ursprünglich« heißen. Dann aber wird es hier verkehrt herum konstruiert. Umgekehrt muss man fragen: Wie kommt die Handlung zu ihrer Identität als dieselbe in allem Mannigfaltigen? Wodurch entgeht sie dem Schicksal, in so viele verschiedene Handlungen zu zerfallen, als es Verknüpfungen von Vorstellungen gibt? Die Antwort kann nur lauten: weil sie meine Handlung ist. Die Einheit der Handlung setzt die des Selbstbewusstseins voraus und kann sie nicht erzeugen oder auch nur als hinzukommende notwendige Bedingung auslösen. Die Identität meiner selbst kann nicht an einer synthetischen Handlung abgelesen werden. Eine solche lässt immer die Frage offen, wer da handelt. Um dessen innezuwerden, dass ich es selber bin, bedarf es eines Geschehens, das mich in einer Weise auf mich aufmerksam macht, die mir keine Verschiebung meines Standpunktes, wodurch ich mich mit anderen vertauschen könnte, gestattet. Dazu bedarf es eines Betroffenseins, das mich so einengt, dass ich meinen Standpunkt nicht wechseln kann, und mich so in Anspruch nimmt, dass ich ihn nicht in Gleichgültigkeit dahingestellt sein lassen kann. Diese Bedingungen erfüllt nur das einengende affektive Betroffensein, das mir unaus1246

Konjiziert aus »konnte«.

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weichlich nahegeht, indem ich nicht umhin kann, mich in irgendeiner Weise darauf einzulassen. Die Quelle alles Selbstbewusstseins – sowohl im bloßen Betroffensein als auch in der Weise der Selbstzuschreibung, irgendetwas, z. B. einen synthetisch Handelnden, für mich selbst zu halten – ist demnach das leiblich einengende und dadurch die unauffällig gleitende Dauer zerreißende, Gegenwart aus ihr freisetzende affektive Betroffensein: die primitive Gegenwart, in der Subjektivität (das Relat der Identifizierung in der Selbstzuschreibung) und Identität (als Fixierung auf etwas ohne Spielraum) so zusammenfallen, dass zum Sichspüren keine identifizierende Selbstzuschreibung mehr nötig ist. Ein ins Mannigfaltige ausgreifendes synthetisches Handeln, an das Kant die Identität im Selbstbewusstsein bindet, wäre dagegen wie eine Reise, auf der man sich zerstreut, expansiv statt kontraktiv, wo doch eine Zusammenziehung zum Sichfinden gehört. Die transzendentale Apperzeption kann also »das Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis«, wie Kant sie in A114 nennt, nur aus der Wurzel der primitiven Gegenwart sein, die der Mensch vor aller Assoziation und Gewohnheit, die Kant gegen Hume mit ihr überbieten will, mit dem Tier gemein hat; denn auch Tiere können erschrecken, Angst und Schmerzen haben. Davon, dass das Radikalvermögen unserer Erkenntnis leiblich und daher allerdings auch tierisch ist, wie sehr der Mensch auch in der Entfaltung der primitiven Gegenwart über tierisches Niveau hinauswächst, würde Kant freilich nichts wissen wollen. In der transzendentalen Deduktion B unternimmt Kant einen neuen Anlauf, um zu zeigen, »wie nun Erfahrung vermittelst jener Kategorien möglich ist«, was nach einer Anmerkung zur Vorrede des ein Jahr vor der 2. Auflage der KrV gedruckten Buches Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft mit »Leichtigkeit (…) beinahe durch einen einzigen Schluss aus einer genau bestimmten Definition eines Urteils überhaupt (…) verrichtet werden kann.« (Ak. IV 475, 36–42) Diese Definition des Urteils wird in B § 19 vorgestellt: »Wenn ich aber die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urteile genauer untersuche, und sie, als dem Verstande angehörig, von dem Verhältnisse nach Gesetzen der reproduktiven Einbildungskraft (welches nur subjektive Gültigkeit hat) unterscheide, so finde ich, dass ein Urteil nichts anderes sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen. (…) Dadurch wird aus diesem Verhältnisse ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist und sich von dem Verhältnisse eben378

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derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet.« (B141 f.) Der in Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft in Aussicht gestellte leichte Schluss von dieser Auffassung des Urteils auf die Leistung der Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe für die Erfahrung wird in § 20 gezogen: Die Handlung des Verstandes, »durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (…) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile (§ 19). Also ist alles Mannigfaltige, sofern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewusstsein überhaupt gebracht wird. Nun aber sind die Kategorien nichts anderes, als eben diese Funktionen zu urteilen, sofern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist.« (B143) Während Kant in der ersten Fassung der Deduktion den fehlenden Gegenstand, »der für uns nichts ist«, durch die »Einheit der Regel« für die »Funktion der Synthesis« ersetzen wollte (A105), sucht er nun Objektivität in einer Neutralität des Urteils, die objektive Gültigkeit »ohne Unterschied des Zustandes des Subjektes« (B142) ermöglicht. Ich würde das so ausdrücken: Die Kategorien gewähren Zugang zu objektiven oder neutralen Tatsachen, d. h. zu Sachverhalten, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, und die überdies Tatsachen sind. Schief ist dann nur, dass immer noch von der wenn auch »objektiven Einheit der Apperzeption« die Rede ist und die geforderte Neutralität des Urteils als Zusammengehörigkeit der Vorstellungen »vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen« hingestellt wird (ebd.); denn die Subjektivität der Apperzeption (das: Ich denke) ist nicht diese Neutralität und hängt mit ihr nur sehr mittelbar zusammen. Kant nimmt darauf Rücksicht, indem er von einem »Bewusstsein überhaupt« spricht, einem gleichsam freischwebenden Bewusstsein ohne Subjekt, allerdings ohne Begründung und nähere Bestimmung. Dass aber immer noch die Frontstellung gegen Hume, das Interesse an der Erhebung über tierisches Niveau, ihn leitet, zeigt die Belegung der »bloß subjektiven Gültigkeit« mit den »Gesetzen der Assoziation«. Vielleicht ist überdies die zu weit getriebene Objektivierung der Apperzeption, der Ersatz des Ich denke durch ein Bewusstsein überhaupt, ein Grund dafür, dass Kant sich mit dieser Lösung der Deduktionsaufgabe in § 20 nicht zufrieden gibt und, was er für alle (reine oder empirische) Anschau379

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ung schon bewiesen hat, noch einmal besonders für die empirische sichern will. Ich habe eben gezeigt, dass in diesem Nachlauf das Subjekt, der Verstand, mit dem Gegenstand erfolgreich um die Anschauung konkurriert; so kommt die »subjektive Deduktion« gegenüber der »objektiven« (A XVII) wieder mehr zur Geltung. Auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe folgt in der transzendentalen Analytik nach dem hier unter 35.1 gestreiften Schematismuskapitel das System aller Grundsätze des reinen Verstandes, worin die reinen Verstandesbegriffe die Probe auf ihre »objektive Gültigkeit« (Prol. Ak. IV 260, 30) eigentlich erst abzulegen haben, weil die objektive Gültigkeit eines Begriffes nicht aus Erzählungen über das Zusammenwirken von Seelenvermögen zu entnehmen ist, sondern allein aus seiner Brauchbarkeit bei der Formulierung wichtiger evidenter oder erweislicher Sätze. Kant schreitet dafür seine der Urteilstafel entnommene Kategorientafel ab, auf deren einsichtige Vollständigkeit und Ordnung er aus unerfindlichen Gründen vertraut, obwohl auch schon die Suche nach einem Prinzip dafür wegen des vorhin Gesagten vergebens ist. Der Quantität entsprechen Axiome der Anschauung (die geometrischen) oder vielmehr ein transzendentales Prinzip derselben (B202: »Alle Anschauungen sind extensive Größen«), der Qualität die Antizipationen der Wahrnehmung mit dem Prinzip der intensiven Größe des in den Erscheinungen empfundenen Realen; der Plural »Antizipationen« bleibt unerklärt. Ich will mich dabei jetzt nur kurz aufhalten. Das Prinzip der Axiome der Anschauung wird so erklärt: »Eine extensive Größe nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also notwendig vor dieser vorhergeht). Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen.« (A162 B203) Das stimmt nicht, wie ich unter 35.1, auf Aristoteles als Zeugen mich berufend,1175 schon ausgeführt habe. Sein Singularismus spielt Kant einen Streich. Das geschieht abermals beim Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung mit dem Begriff der intensiven Größe: »Nun nenne ich diejenige Größe, die nur als Einheit apprehendiert wird, und in welcher die Vielheit nur durch Annäherung zur Negation = 0 vorgestellt werden kann, die intensive Größe.« (A168 B210) Das zweite Merkmal ist widerspruchsvoll: Einerseits soll die Vielheit »in« der Größe stecken, andererseits nur durch Annäherung zur Negation entdeckt werden können, wenn die 380

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ursprüngliche Größe schon durch Minderung verschwunden ist, so dass man nicht mehr feststellen kann, was in ihr steckt. Von solcher Anfüllung mit vielen niederen Intensitäten ist aber in einem intensiven Quale keine Spur, auch nicht, wie Kant meint (B201, Anmerkung), durch »Koalition«, d. h. (B416, Anmerkung) »Zusammenfließen mehrerer in eine einfache«; weder enthält ein lauter Schall eine Vielheit leiserer Schälle, noch der heftige Schmerz eine Vielheit zarter Schmerzen. Der Größenunterschied zwischen Graden einer Qualität ist nach meiner Auffassung vielmehr dynamisch durch »Abfärben« des vitalen Antriebs in leiblicher Kommunikation. 1247 Sein Singularismus verführt Kant zum Aufbau höherer Grade aus niederen mit dem damit schwer oder kaum verträglichen »Zusammenfließen mehrerer in eine einfache«. Viel wichtiger ist Kants Erörterung der den drei Relationskategorien zugeordneten synthetischen Grundsätze a priori unter dem Titel von Analogien der Erfahrung: des Grundsatzes der Beharrlichkeit der Substanz, des Grundsatzes der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität und des Grundsatzes des Zugleichseins nach dem Gesetz der Wechselwirkung. In den ersten beiden Fällen liegt der Grund für das Scheitern Kants in seiner Reduktion der Zeit auf reine Lagezeit (35.3.2). Er meint im Beweis des ersten Grundsatzes in B224 f., da die Zeit für sich nicht wahrgenommen werden könne, müsse sie einen Vertreter in Gestalt einer immer beharrenden Substanz haben, »an dem aller Wechsel und Zugleichsein durch das Verhältnis der Erscheinungen zu demselben in der Apprehension wahrgenommen werden kann.« Nun ist aber der Fluss der modalen Lagezeit942 nach 35.3.2 notwendig und zureichend für Prozesse und notwendig sogar für Relationen; er kann gewiss nicht mit Augen oder Ohren wahrgenommen werden, aber er wird am eigenen Leibe gespürt, wenn Ankunft des Neuen Gegenwart exponiert, indem sie Dauer zerreißt und in Vergangenheit absinken lässt; das geschieht schroff im Schreck und schwächer immer, wenn man merkt, dass etwas vorbei 1247 Vgl. System der Philosophie Band II: Der Leib, Teil 1, Bonn 1964, mehrfach wieder aufgelegt, S. 112–121: Die Kampfnatur der Intensität. Der höhere Grad überwältigt den niederen und setzt ihn bei Abschwächung wieder frei. Darin spiegeln sich die Gewichtsverhältnisse der antagonistischen Komponenten des vitalen Antriebs, die von sich aus nicht intensiv sind, sondern kausal mit der von mir oft (zuerst in: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, S. 216–219) behandelten unmittelbaren, zweigliedrigen Kausalität der Halbdinge, indem beide Bewegungssuggestionen einander verdrängen und dadurch antreiben.

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ist. Dass dies immerzu geschieht, kann man nicht spüren, aber es fließt aus Erfahrung ins Lebensgefühl ein. Irgend eine Substanz, die mit der Zeit nach Kant die völlige Starrheit teilte, wäre ein bloßes Konstrukt, das so wenig wie die Zeit für sich wahrgenommen werden und diese daher auch nicht in der Wahrnehmung vertreten könnte. Der zweite Grundsatz, das Kausalgesetz als Gesetz regelmäßiger Folge der Erscheinungen in der Zeit, wird von Kant mit dem Bedarf nach einem Kriterium für die Unterscheidung des Simultanen vom Sukzessiven begründet. Allerdings gibt er dafür zunächst ein empirisches Kriterium an, das schwächer ist als die Forderung durchgängiger Naturgesetze kausal geregelter Zeitfolge: Simultan sind Erscheinungen, wenn man (z. B. durch Blickwanderung hin und her) deren Sukzession umkehren kann, sonst sukzessiv. 1248 Dieses Kriterium hat zwei Schwachstellen: Es erfasst nicht die Gleichzeitigkeit von Momentanereignissen und es täuscht Gleichzeitigkeit bei Pendelprozessen vor, die zum Ausgangszustand zurückkehren. Insofern ist es verständlich, dass Kant, um ein schärferes Kriterium zu gewinnen, Naturgesetze zu Hilfe ruft. Aber die würden keine Zeitfolge festlegen, solange sie auf die Zeit im Sinne von Kant, die reine Lagezeit, beschränkt blieben. Zwar könnte man nach Kants Kausalgesetz, ergänzt durch empirisch aufzufindende besondere Naturgesetze, das Sukzessive vom Simultanen unterscheiden,1249 nicht aber das Frühere vom Späteren, weil ein rein lagezeitliches Verhältnis, wie ich unter 35.3.2 ausgeführt habe, gleich gut nach zwei Seiten abgelesen werden kann. Wenn aber der Fluss der modalen Lagezeit hinzugenommen wird, wie es in der normalen Lebenserfahrung unablässig geschieht, ist die Feststellung der Zeitfolge kein Problem mehr, weil dieser Fluss den Verhältnissen eine Richtung gibt, wodurch Prozesse entstehen. Was man aufgrund der Erfahrung dieses Flusses als objektiv real im Sinne von Kant – besser: als Tatsache, nicht Täuschung – gelten lassen will, kann man durch Beobachtung regelmäßiger Abläufe mit Überlegung herausfiltern, ohne den Rahmen eines allgemeinen Kausalgesetzes zu benötigen. Den Beweis des Grundsatzes der dritten Analogie, wonach SubA190 B235, A192 B237: Beispiele von der Betrachtung eines Hauses und vom flussabwärts fahrenden Schiff. 1249 Ich sehe davon ab, dass Kant sich in A202 f. B247–249 nur sehr unklar aus der Schwierigkeit herauswindet, dass Ursache und Wirkung oft, vielleicht immer, gleichzeitig sind, also keine Zeitfolge festlegen. 1248

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stanzen in durchgängiger Wechselwirkung stehen müssen, damit sie im Raum als zugleich wahrgenommen werden können, führt Kant B257 f. aus seiner singularistischen Voraussetzung, dass die Synthesis lauter von vornherein einzelne Erscheinungen »aufpicken« muss, um Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. »Die Synthesis der Einbildungskraft in der Apprehension würde also nur eine jede dieser Wahrnehmungen als eine solche angeben, die im Subjekte da ist, wenn die andere nicht da ist, und wechselweise, nicht aber, dass die Objekte zugleich seien (…). Folglich wird ein Verstandesbegriff von der wechselseitigen Folge der Bestimmungen dieser außer einander zugleich existierenden Dinge erfordert, um zu sagen, dass die wechselseitige Folge der Wahrnehmungen im Objekte gegründet sei, und das Zugleichsein dadurch als objektiv vorzustellen.« Dieser Verstandesbegriff soll der der dritten Relationskategorie sein. Der Bedarf entsteht aber nur durch den exzessiven Singularismus Kants (35.1), vgl. A99: »(…) als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.« Dieser Grundsatz, dass völlig isolierte punkthafte oder momentane Einzelerscheinungen erst durch sukzessive Synthesis in Verbindung gebracht werden können, läuft sich tot am Beispiel der Linie, die man sich nicht vorstellen könne, ohne ziehend ihre Teile nach und nach zu erzeugen; 1250 dass ein solches Ziehen gar nicht möglich ist, habe ich unter 35.1 und eben noch einmal festgestellt. Was aber für die Linie gilt, trifft ebenso für ein Haus, an dem der Blick entlangwandert, oder auch verschiedene neben und hinter einander aufgereihte Dinge zu: Man kann sie ohne sukzessive Synthesis als gleichzeitig wahrnehmen. Wiederum muss kritische Beobachtung prüfen, ob man sich getäuscht hat. Auf die vierte Gruppe synthetischer Grundsätze des reinen Verstandes, die der Modalität entsprechenden Postulate des empirischen Denkens überhaupt, gehe ich nicht ein, »weil sie ihren Begriff von Dingen überhaupt nicht vermehren, sondern nur die Art anzeigen, wie er überhaupt mit der Erkenntniskraft verbunden wird.« (A234 f. B287)

1250

B137 f., 154, 203 f.

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35.3.4 Die transzendentale Dialektik In der transzendentalen Dialektik wehrt Kant zugunsten des kritizistischen Immanentismus transzendente Ausschweifungen der Vernunft ab, die mit der Forderung nach Erkenntnis des Unbedingten und des vollständigen Ganzen den Bannkreis um die Erfahrung an bloßen Erscheinungen in Raum und Zeit durchbrechen will. Felder des Kampfes sind die Seele, die Welt und Gott, verstanden als das vollkommene Wesen des ontologischen Gottesbeweises (32.3.1), das von Kant sogenannte transzendentale Ideal. An der transzendenten Seelenlehre bemängelt Kant angebliche Fehlschlüsse (Paralogismen) auf die Seele als einfache, zum beharrlichen Bewusstsein ihrer selbst befähigte Substanz, womit ein Unsterblichkeitsbeweis beabsichtigt war; an der Welt will er mit Hilfe von vier Antinomien 1251 nachweisen, dass die Vorstellung von ihr als einem vollständigen Ganzen in Widersprüche verstrickt sei und sie vielmehr nur als regulative Idee (Horizont) für potentiell unendliches Fortschreiten der Synthesis verstanden werden dürfe; beim transzendentalen Ideal beschränkt er sich auf die Widerlegung von drei vermeintlichen Gottesbeweisen. Das Paralogismenkapitel musste Kant in der 2. Auflage ganz neu schreiben, da er den transzendentalen Idealismus mit der Widerlegung des Idealismus in B1184 vom psychologischen Idealismus zum materialen Realismus verschoben hat (35.2.1) und daher den radikalen psychologischen Idealismus der ersten Fassung nicht mehr brauchen kann. Die zweite Fassung ist unergiebig; in der ersten Fassung kann nur die Auseinandersetzung Kants mit dem »zweiten Paralogismus der Simplizität«, der aus dem Satz »Ich denke« gefolgerten Einfachheit der Seele (A351–361), grundsätzliches Interesse beanspruchen, und ich will mich hier darauf beschränken. Kant stellt diesen Paralogismus als »den Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre« vor, d. h. als ein Gedankenkunststück, das es an Raffinesse mit dem zenonischen Paradox aufnehmen kann. Er gibt ihm die Fassung: »Dasjenige Ding, dessen Handlung niemals als die Konkurrenz vieler handelnden Dinge angesehen werden kann, ist einfach. Nun ist die Seele, oder das denkende Ding, ein solches: Also usw.« (A351) Es handelt sich um ein altes 1251 Kant spricht nur im Singular von der Antinomie der reinen Vernunft, die er zu vier Widersprüchen entfalten will; es ist aber bequemer und üblich, diese selbst als Antinomien zu bezeichnen.

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Argument, das von Aristoteles 1252 vorbereitet und von Plotin 1253 in der uns erhaltenen Literatur zuerst ausformuliert wird. Beide Denker berufen sich auf das Bewussthaben einer Beziehung (der Verschiedenheit), Plotin zudem auf das eines gegliederten Ganzen (mit dem Beispiel des Gesichtes). Wenn es für jedes Beziehungsglied oder jeden Teil des Ganzen einen besonderen Bewussthaber gäbe, wäre niemand da, der die Beziehung bzw. das Ganze bewussthaben könnte; die Zusammensetzung der besonderen Bewussthaber würde nicht reichen, da keiner von ihnen die Übersicht hätte, aus den Gliedern und Teilen die Beziehung bzw. das Ganze zu entnehmen. Kant verdeutlicht dieses Argument mit folgendem Beispiel: »(…) weil die Vorstellungen, die unter verschiedenen Wesen verteilt sind, (z. B. die einzelnen Wörter eines Verses) niemals einen ganzen Gedanken (einen Vers) ausmachen: so kann der Gedanke nicht einem Zusammengesetzten, als einem solchen, inhärieren.« (A352) Dagegen wendet er ein: »(…) die Einheit des Gedankens, der aus vielen Vorstellungen besteht, ist kollektiv und kann sich, den bloßen Begriffen nach, eben sowohl auf die kollektive Einheit der daran mitwirkenden Substanzen beziehen, (wie die Bewegung eines Körpers die zusammengesetzte Bewegung aller Teile desselben ist) als auf die absolute Einheit des Subjekts. Nach der Regel der Identität kann also die Notwendigkeit der Voraussetzung einer einfachen Substanz, bei einem zusammengesetzten Gedanken, nicht eingesehen werden.« (A353) Diese vermeintliche Widerlegung beweist nur, dass Kant das Argument nicht verstanden hat. Dessen Schärfe kommt allerdings nur zum Vorschein, wenn man nicht das Bewussthaben eines Ganzen, sondern das einer Beziehung (z. B. der Verschiedenheit nach Aristoteles und Plotin) ins Auge fasst. Deswegen ist Kant auf der falschen Fährte, wenn er das Beispiel nur vom Ganzen (einem aus Worten bestehenden Vers) nimmt. Das Bewussthaben eines Verses kann man bei oberflächlicher Betrachtung in das Bewussthaben seiner Worte zerlegen, als ob es aus dessen Stücken Wort für Wort zusammengesetzt sei; die Sinneinheit und der Versrhythmus gehen allerdings verloren, aber viele Teile, die zum Bewussthaben des Verses gehören, bleiben übrig, nämlich für jedes Wort das Bewusstsein von ihm. Anders verhält es sich beim Bewussthaben einer Beziehung, z. B. der Verschiedenheit der Sonne vom Mond. Wenn ich es in die 1252 1253

De anima 426b 12–427a 16. Enneaden IV 7 [2] 6, 1–34.

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beiden Einzelakte, die Sonne bewusstzuhaben und den Mond bewusstzuhaben, zerlege, bleibt von der Verschiedenheit der Sonne vom Mond gar nichts übrig, denn weder an der Sonne noch am Mond ist etwas von dieser Verschiedenheit zu entdecken. Es handelt sich um ein fundiertes, nicht um ein kollektives Bewusstsein. Diesen Unterschied hat Kant übersehen. Das Argument Plotins erweist allerdings gegen dessen Intention nicht nur die Einfachheit des Bewussthabens von Beziehungen beliebiger Art (abgesehen von denen von etwas zu sich selbst), sondern auch dessen Vielfachheit, denn die einfache Beziehung kann nur in der Vielheit ihrer Glieder aufgefasst werden. Es handelt sich also um eine ambivalente Konkurrenz von Einfachheit und Mannigfaltigkeit wie bei der Husserl’schen Puppe (15.2). Der wohlverstandene »Achilles aller dialektischen Schlüsse« ist also die bequemste Hinführung zu der Einsicht, dass Bewussthaben instabile oder ambivalente Mannigfaltigkeit der von Plotin am Geist beschriebenen Art (15.1) mit unendlich schwacher Unentschiedenheit (15.2) voraussetzt. Kant setzt sich, da er von der Formel »Ich denke« ausgeht, auch mit der ersten grammatischen Person des Singulars auseinander und behauptet, »dass das Subjekt der Inhärenz durch das dem Gedanken angehängte Ich nur transzendental bezeichnet werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken, oder überhaupt etwas von ihm zu kennen, oder zu wissen. Es bedeutet ein Etwas überhaupt (transzendentales Subjekt), dessen Vorstellung allerdings einfach sein muss, eben darum, weil man gar nichts an ihm bestimmt, wie denn gewiss nichts einfacher vorgestellt werden kann, als durch den Begriff von einem bloßen Etwas.« (A 355) Das ist befremdlich, denn, wenn ich mir bewusst bin, dass ich denke, handelt es sich für mich nicht nur darum, dass irgendetwas denkt, sondern um etwas mir Wichtigeres und Näherliegendes. Kant sucht die semantische Funktion der ersten Person an der falschen Stelle. Ganz recht hat er damit, dass sie über das bereits Bekannte hinaus keine zusätzliche Information in Bezug auf das bezeichnete Individuum mitteilt, ihm keine weitere Eigenschaft oder Bestimmung zuweist. Die Bedeutung dieser Verbform, sofern sie über die pronominale Vertretung anders (nominal) gleichfalls verfügbarer Kentnisse hinausgeht, betrifft vielmehr den Aussagesatz als ganzen und besagt, wenn er eine Behauptung ist, dass die behauptete Tatsache eine subjektive ist, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Das trifft für die Tatsachen des (aktuellen oder potentiellen) affektiven Betroffenseins zu, die dem 386

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Betroffenen unvermeidlich nahegehen. Wenn ich merke, dass ich traurig bin, erfasse ich eine ganz andere, für mich unvergleichlich gewichtigere Tatsache als die, welche übrig bleibt, wenn ich davon absehe, dass es sich um mich handelt, und bloß noch feststelle, dass der Hermann Schmitz, der ich bin, traurig ist, aber ohne Rücksicht darauf, dass es sich um mich handelt. Dieser Unterschied besteht nicht in einem bloßen Wechsel der Gegebenheitsweise derselben Tatsache; denn wenn es sich um eine affektiv neutrale Tatsache des Gegebenseins für mich handelt, z. B., dass mir ein Laternenpfahl deutlicher oder verschwommener vorkommt als den meisten anderen Menschen (ohne dass ich mich deswegen für meine Augen sorge), entfällt die beschriebene Subjektivität, und die besondere Perspektive liefert mir eine genauso objektive oder neutrale Tatsache wie irgendeine physikalische. Auf den für mich subjektiven Tatsachen beruht ganz allein die Möglichkeit des Selbstbewusstseins von der Art, etwas für mich selbst zu halten; denn aus keiner Angabe objektiver Tatsachen, die den Hermann Schmitz, der ich bin, beschreibt, lässt sich entnehmen, dass ich er bin. (Objektiv sind Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann.) Nur die Tatsachen meines affektiven Betroffenseins geben mir Gelegenheit, mich in der Welt zu finden und dann in einem zweiten Schritt mich und die Welt durch Abschälung oder Abfall der Subjektivität für mich auf das Niveau einer objektiven Welt aus blasseren, bloß noch objektiven Tatsachen herabzusetzen – auf einen Boden, den ich mit jeder anderen Person teilen kann. Dabei sind subjektive und objektive Tatsachen im Inhalt (was bei ihrer sprachlichen Darstellung über was gesagt wird) gleich; der Unterschied besteht nur in der Tatsächlichkeit. Es gibt verschiedene Tatsächlichkeiten: so viele subjektive Tatsächlichkeiten als Bewussthaber und eine neutrale oder objektive Tatsächlichkeit. Diese objektive Tatsächlichkeit entsteht durch Verarmung der für irgendjemand subjektiven Tatsächlichkeit, was natürlich nicht bedeutet, dass alle objektiven Tatsachen einzeln aus für jemand subjektiven herausgeholt werden müssten. Das Beispiel zeigt, dass Kant von Subjektivität keine Ahnung hat, sofern es sich nicht um die Subjektivität von Subjekten, sondern um die von Tatsachen oder allgemeiner von Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen) handelt; ein subjektives Programm, entsprechend den Tatsachen des affektiven Betroffenseins, ist z. B. der Schlachtplan für die Offiziere als Sorge oder Wunsch (im Sinne von Programmen oder Problemen, nicht von Seelenzuständen) während 387

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der Schlacht, im Gegensatz zu dem bloß noch objektiven Programm, das übrig bleibt, wenn ein nüchterner Historiker später rein sachlich den Plan und Gang der Schlacht registriert. (Heute denkt man vielleicht eher an demokratische Politiker und Wahlkämpfe.) Dieser blinde Fleck, den Kant mit den meisten Philosophen vor ihm teilt, ist von größter philosophiegeschichtlicher Bedeutung wegen des folgenden Umschlags von Kant zu Fichte. Deswegen war es geboten, schon hier darauf einzugehen. Von der Seele gehe ich zur Welt über. Kant will der transzendierenden Vernunft beweisen, dass sie sich zu viel vornimmt, wenn sie die Welt möglicher Erfahrung in Raum und Zeit als ein vollständiges Ganzes betrachtet. Zu diesem Zweck baut er vier Antinomien auf, bestehend aus acht paarweise zu einander kontradiktorischen Sätzen, von denen nach Kant jeder unter der mithin falschen Voraussetzung, dass die Welt ein vollständiges Ganzes ist, gleich gut bewiesen werden kann. Obwohl Kant sich für die Richtigkeit aller dieser Beweise verbürgt (Prol. Ak. IV 340, 5 f.), ist unter ihnen kein einziger stimmig, so dass Kants Angriff auf die Vernunft in diesem Zusammenhang fehlschlägt. Ich will das zeigen, indem ich die einzelnen Sätze und Beweise der Reihe nach durchgehe. 1. Antinomie, Thesis: Die Welt kann weder (1) in der Zeit anfangslos noch (2) im Raum unendlich sein. Beweis für (1): Eine unendlich lange Folge gleich langer Schritte des Zeitverlaufes könnte niemals vollendet sein. Richtig ist daran nur, dass sie in endlicher Zeit (zwischen zwei Zeitpunkten) nicht vollendet sein kann. Hier wird aber eine unendlich lange abgelaufene Zeit vorausgesetzt. Beweis für (2): Man kann sich eine unendliche räumliche Ausdehnung nur »durch wiederholte Hinzusetzung der Einheit zu sich selbst«, also mit Durchzählen des Vielfachen einer Einheitsgröße, »gedenken« (A428 B456). Aber was heißt »gedenken«? Denken kann man so etwas ohne weiteres, ohne mit dem Zählen zu beginnen; die andere Bedeutung (sich erinnern 1254 ) legt den Gedanken an schrittweises Zurückgehen wohl näher, kommt hier aber nicht in Betracht. Übrigens hat Kant den Fehler des Beweises in der Dissertation von 1770 selbst aufgedeckt und als Erschleichung (vitium subreptionis)

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Grimms Wörterbuch Band IV Spalte 2008.

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gebrandmarkt, 1255 so dass man sich nur wundern kann, wenn er ihn jetzt als unbedenklich vorbringt. 1. Antinomie, Antithesis: Die Welt hat (1) keinen Anfang und (2) keine Grenze im Raum. Beweis für (1): Kant definiert Anfang als ein Dasein, vor dem eine Zeit vorhergeht. Ich habe unter 35.3.2 zum 5. Zeitargument der transzendentalen Ästhetik darauf aufmerksam gemacht, dass man die Unendlichkeit der Zeit nur dann selbstverständlich finden kann, wenn man die Zeit auf die reine Lagezeit beschränkt und deren Abkunft über die modale Lagezeit aus dem kontingenten Geschehen der reinen Modalzeit (Ankunft des Neuen in Gegenwart) vernachlässigt. Ein Anfang, dem keine Zeit vorangeht, ist also eine reale Möglichkeit. Der zweite Fehler in Kants Definition ist die Einseitigkeit der Bestimmung des Anfangs als ein Dasein. Anfang in der Zeit kann nämlich ebenso der letzte Augenblick des Nichtseins sein, der, wenn vorher keine Zeit war, ihr hinzugedachter Anfang wäre. In diesem Fall gäbe es keinen ersten Augenblick des Daseins, sondern jedem solchen Augenblick wären bis zum letzten Augenblick des Nichtseins unendlich viele Augenblicke des Daseins von Weltzuständen vorausgegangen. Die Möglichkeit einer solchen Anordnung war schon Aristoteles klar. 1256 In diesem Fall hätte jeder Weltzustand in vorangegangenen Zuständen die von Kant vermisste »unterscheidende Bedingung des Daseins vor die des Nichtseins« (A427 B455), und doch hätte die Welt einen Anfang. Beweis für (2): Eine endliche Welt im leeren unendlichen Raum soll unmöglich sein, weil der leere Raum nichts und kein Gegenstand sei. Aber erstens hat jeder leeren Raum vor sich, egal, ob er physikalisch leer ist oder nicht. (Der physikalische Raum braucht nicht mehr als eine prognostisch ergiebige Umdeutung des anschaulichen Raumes zu sein.) Zweitens verfängt das Argument nur, wenn die Welt im Ortsraum scharfe Grenzen hat. Ich habe aber unter 35.3.2 darauf hingewiesen, dass ihre Ortsbestimmtheit zum Rand hin auch in chaotische Mannigfaltigkeit1233 aufschmelzen kann. Dann könnte die Welt wie langsam verdämmerndes Licht ohne erkennbare Grenze zum Leeren gleichsam in eine Grauzone zwischen Fülle und Leere § 28, Ak. II 15, 18–30 (»vitium subreptionis«, Z. 24). Physik 236a 7–15, vgl. Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 1, Bonn 1985, S. 4.

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auslaufen. Schließlich bietet die moderne Konstruktion einer elliptischen Geometrie die Möglichkeit einer endlichen Welt ohne Grenzen an.

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2. Antinomie, Thesis: »Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überhaupt nichts als das Einfache, oder das, was aus ihm zusammengesetzt ist.« Beweis: Er beruht auf dem Zweitbegriff von Substanz als Ding an sich, den ich unter dem an der bloßen Substanzkategorie abgelesenen Begriff (Substanz als Subjekt, das nicht Prädikat sein kann) unter 35.3.2 als Kants Beweismittel für die Auswertung seiner Exposition des Raumes zugunsten des transzendentalen Idealismus in der transzendentalen Ästhetik nachgewiesen habe: Die Substanz ist das Einfache mit einem Inneren vor allen ihr nur äußerlich angehängten Relationen, namentlich der Zusammensetzung. Dann kann es freilich keine zusammengesetzten Substanzen geben. Dass der kritizistische Immanentismus ein solches Wissen über Substanzen nicht zulässt, ist hier kein Einwand, weil die transzendierende Vernunft Gelegenheit zum Räsonieren erhalten soll. Aber selbst ihr dürfte Kant diesen volleren Substanzbegriff nicht einräumen, da er lehrt, nach Absehen von allen einschränkenden Bedingungen der Sinnlichkeit bleibe vom »Begriffe der Substanz nichts übrig, als die logische Vorstellung vom Subjekt (…) ohne wovon ein Prädikat zu sein«, woraus »gar nichts weiter (…) zu machen, und nicht die mindeste Folgerung zu ziehen« sei (A242 f. B300 f.). Der Sache nach handelt es sich um ein ungerechtfertigtes Dogma. 2. Antinomie, Antithesis: (1) Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen. (2) Es existiert überhaupt nichts Einfaches in derselben. Beweis für (1): Das Einfache müsste einen Raum einnehmen und (wegen dessen unendlicher Teilbarkeit) ein »außerhalb einander befindliches Mannigfaltiges in sich fassen«, könnte also nicht einfach sein. Dieser Beweis beruht auf Äquivokation des Wortes »einnehmen«, erstens im Sinn von »sich an einem Ort befinden«, zweitens im Sinn von »einen Ort ausfüllen«. Wenn die einfachen Teile des Raumes z. B. Punkte wären, die zusammen in unendlicher Zahl einen Raum sehr wohl ausfüllen könnten, würde jeder von ihnen Raum im ersten, aber nicht im zweiten Sinn einnehmen, und das Argument griffe nicht mehr. Zwar wendet Kant ein, der mathematische Punkt 390

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sei »kein Teil, sondern bloß die Grenze eines Raumes« (A439 B467), aber warum soll eine Grenze kein Teil sein, und warum soll der einfache Teil der Punkt selbst sein, und nicht etwa eine Substanz mit einem Punkt als Sitz im Raum? Dem transzendierenden Räsonieren muss hier fairerweise freie Fahrt gelassen werden. Beweis für (2): Kant weicht vom Thema ab, indem er nur noch zeigen will, es könne »das Dasein des Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder äußeren noch inneren, dargetan werden« (A437 B465). Sein Argument dafür, dass deswegen in der »Sinnenwelt (…) überall (…) nichts Einfaches gegeben« und dieses aus »der ganzen Natur weggeschafft« sei (ebd.), beruht auf dem exzessiven psychologischen Idealismus, der ihn in der Anmerkung A374 behaupten lässt, im Raum sei nichts, als was in ihm vorgestellt wird. Diesen Standpunkt darf er den Dogmatikern, die hier das Wort haben, aber nicht zuschieben. Außerdem vergisst er, dass er in A99 selbst behauptet hat, was er hier bestreitet. 1257 3. Antinomie, Thesis: Zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen muss eine Kausalität durch Freiheit angenommen werden. Beweis: Dieser stützt sich auf das »Gesetz der Natur: dass ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe.« 1258 Deswegen soll »eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit« erforderlich sein. Nach der Anmerkung handelt es sich um den Charakter der »absoluten Spontaneität der Handlung, als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben«; Kant gibt folgendes Beispiel: »Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei, und ohne den bestimmenden Einfluss der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit (…) eine neue Reihe schlechthin an (…).« Aber eine so absolut spontane Handlung verträgt sich nicht mit dem zum Beweis angeführten Gesetz der Natur, weil sie ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache geschähe.

»(…) als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.« Zur Gleichsetzung von absoluter Einheit mit Einfachheit vgl. A784 B812. 1258 Diese lakonisch geratene Formulierung wird verständlicher amplifiziert in Ak. XXVIII S. 1523 n. 86 (Uneingerichtetes aus der Vorlesung K1 nach Benno Erdmanns Mitteilungen). 1257

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3. Antinomie, Antithesis: Kant argumentiert hier lediglich mit seinem Grundsatz der Kausalität aus der 2. Analogie der Erfahrung (35.3.3), den er den Vernünftlern oder Skeptikern, die hier das Wort haben, nicht zuschieben dürfte, da sie von anderen Voraussetzungen ausgehen können. Wenn Kant die absolute Spontaneität einer Handlung als eigentlichen Grund ihrer Zurechenbarkeit (Imputabilität) im Sinn sittlicher oder andersartig unbeliebiger Verantwortung ausgibt, irrt er, weil solche Verantwortung unabhängige Initiative verlangt, Initiative in dem Sinn, dass jemand selbst etwas tut. Indem die transzendentale Freiheit Unabhängigkeit garantiert, vereitelt sie die Initiative; denn was von selbst geschieht, kann man nicht tun, weil es dann Ergebnis eines Tuns wäre und nicht mehr von selbst geschähe. Indeterminismus ist mit sittlicher Freiheit nicht besser verträglich als Determinismus. Deswegen führt auch Kants Versuch bei Auflösung der 3. Antinomie, Freiheit und Naturgesetzlichkeit hypothetisch auf übersinnliche und sinnliche Welt zu verteilen, nicht weiter zum Verständnis und zur Rechtfertigung der Annahme sittlicher Freiheit. 4. Antinomie, Thesis: Zur Welt gehört, als Teil oder Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen. Beweis: Er beruht auf der Behauptung, es setze »ein jedes Bedingte, das gegeben ist, in Ansehung seiner Existenz, eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten voraus.« Aber eine vollständige Reihe von Bedingungen, die ins Unendliche zurückläuft, genügt durchaus (32.3.2). Außerdem ist die Annahme eines notwendigen Wesens widerlegbar (30.3888 ). 4. Antinomie, Antithesis: Es gibt kein schlechthin notwendiges Wesen. Beweis: Die Antithese ist vollkommen richtig, wie eben bemerkt. Kant beweist sie in zwei Etappen, je nachdem, ob das notwendige Wesen immanent oder als Weltursache transzendent ist. Gegen den ersten Fall führt er sein Kausalgesetz im Sinne der 2. Analogie der Erfahrung an, das hier so wenig wie im Beweis der Antithesis der 3. Antinomie am Platz ist. Überdies vertrüge sich dieses Gesetz, das ja nur regelmäßige Reihenfolge verlangt, mit der absoluten Notwendigkeit jedes beliebigen Gliedes des Kausalzusammenhanges, denn warum sollen schlechthin notwendige Wesen nicht regelmäßig gereiht sein können? Diese Möglichkeit lässt Kant unbedacht. Den 392

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zweiten Fall schließt er aus, weil die Kausalität der transzendenten Ursache »in die Zeit, eben darum (…) in die Welt gehören, folglich sie selbst, die Ursache, nicht außer der Welt sein« müsste. Aber daraus, dass der Erfolg einer Wirksamkeit, der Effekt, in der Zeit ist, folgt nicht logisch, dass auch die Wirksamkeit oder gar die Ursache in der Zeit ist. Das haben die Scholastiker für die göttliche Weltschöpfung herausgearbeitet, nachdem schon Aristoteles gelehrt hatte, dass zwar die Energie des Wirkenden, nicht aber dieses selbst, im Erleidenden sei. 1259 So löst auch Kant die Antinomie, so dass in der Sache keine Differenz besteht. Das dritte Thema der transzendentalen Dialektik ist Gott, verstanden als das Ideal der reinen Vernunft, d. h. das vollkommene Wesen des ontologischen Gottesbeweises. Kant entwickelt diesen Begriff ganz im Sinne der Tradition, der von Eckhard gegen Leibniz verteidigten communis opinio angeblich aller Philosophen,1016 in der von mir unter 32.3.1 abgelehnten Weise, Sachen aus Fülle und Mangel (je nach Beschaffenheit der ihnen zugesprochenen Prädikate) zusammenzusetzen und nach Abstreichen aller Mängel alle Fülle in einem einzigen, dann ganz vollkommenen Wesen zusammenzuführen. 1260 Für diese von ihm als Ausschweifung der Vernunft abgelehnte (A583 B611) Konstruktion wählt Kant einen originellen Ausgangspunkt in Gestalt des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung: »Ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, sofern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muss.« (A571 f. B599 f.) Dieser Grundsatz, den meines Wissens niemand vor Kant aufgestellt hat, gehört nicht zur formalen Logik und beruht insbesondere nicht nur »nicht bloß auf dem Satze des Widerspruchs«, wie Kant vermerkt, sondern folgt auch nicht aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der sich mit einfacher Unbestimmtheit glatt verträgt und erst bei iterierter teilweise außer Kraft gesetzt werden muss (15.2). 1261 Außerdem ist er falsch, weil er die Einzelheit aller Bestimmungen voraussetzt, die sich nicht damit verträgt, dass sie Bestimmungen von etwas als etwas sind (29.1). Für Kant müsste stärker ins Gewicht falPhysik III 3, 202a 13–b22. Vgl. dazu die Abhandlung von Eckhard in Form eines langen Briefes an Leibniz vom Mai 1777, PG (s. o. Anm. 943) I 224–266. 1261 Vgl. Band I S. 334 mit Anm. 604 ebd. 1259 1260

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len, dass dieser Grundsatz als synthetisches Urteil a priori die Grenzen möglicher Erfahrung überschreitet und also vom kritizistischen Immanentismus konfisziert werden müsste. In der Tat handelt es sich nach Kant um eine »Idee, welche lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauchs vorschreibt« (A573 B601). Merkwürdigerweise macht Kant vom Grundsatz der vollständigen Bestimmung aber einen immanent konstitutiven, nicht nur regulativen Gebrauch, indem er dem Inbegriff aller Realität oder vollkommenen Wesen, woraus nach der dogmatischen Konstruktion alle realen (Fülle statt Mangel enthaltenden) Prädikate geschöpft werden müssen, ein Analogon in der Erscheinung zur Seite stellt, nämlich »die einige allbefassende Erfahrung«, »die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne«, die, »als in einem Inbegriffe gegeben, vorausgesetzt werden« müsse, da »auf dessen Einschränkung allein alle Möglichkeit empirischer Gegenstände, ihr Unterschied von einander und ihre durchgängige Bestimmung, beruhen kann.« Dies ist »das empirische Prinzip unserer Begriffe der Möglichkeit der Dinge, als Erscheinungen«, denn es »kann ein Gegenstand der Sinne nur durchgängig bestimmt werden, wenn er mit allen Prädikaten der Erscheinung verglichen und durch dieselbe bejahend oder verneinend vorgestellt wird.« Einen Fehler machen wir erst, wenn wir »die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln, und an diesem Ganzen uns ein einzelnes Ding denken (…).« (A581 f. B609 f.) Demnach ist die durchgängige Bestimmung empirischer Gegenstände eine Bedingung ihrer Möglichkeit, und dafür muss die Materie dieser Möglichkeit als ein Topf oder Kuchen, aus dem alle realen empirischen Prädikate herausgeholt werden, vorausgesetzt werden, nur nicht als einzelnes Ding, sondern als bloßer »Inbegriff aller empirischen Realität« (A582 B610). Kant hat unter der Hand seinen aus der Kategorienliste entwickelten synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes einen weiteren hinzugefügt. Dabei missachtet er die Warnung aus A669 B697: »Man kann sich eines Begriffes a priori mit keiner Sicherheit bedienen, ohne seine transzendentale Deduktion zustande gebracht zu haben.« Für den Grundsatz der durchgängigen Bestimmung fehlt bei ihm eine solche Deduktion. Diese Bedenkenlosigkeit kann ich mir nur mit der fraglosen Selbstverständlichkeit seines Singularismus erklären, in dessen Licht alle Sachen und alle Bestimmungen von Sachen ohne weiteres einzeln sind, so dass sie beliebig bis zur durchgängigen Be394

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stimmung jeder Sache kombiniert werden können, mit einem Durchspielen aller Möglichkeiten, woraus schon Leibniz ein Individuationsprinzip machte.950 Kants kritische Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Ideal besteht in einer Widerlegung dreier Gottesbeweise. Die Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises (A592–602, B620–630) trifft im Ergebnis zu (s. o. 30.3; 32.3.1) und enthält den richtigen Gedanken, dass Sein (Dasein, Existenz, Wirklichkeit) kein Attribut (Kant sagt: »reales Prädikat«) ist, nur dass Kant keinen fassbaren Sinn dieses Ausdrucks »reales Prädikat« angibt. Er sagt nur: »was zu dem Begriff eines Dinges hinzukommen könne«. Das Wort »Begriff« versteht er ganz psychologisch als »Gedanke, der in euch (den angesprochenen Verfechtern des Beweises) ist«, als »Bestimmung meines Zustandes«. Dieser mein und euer Begriff soll nun so umfassend sein, dass hundert wirkliche Taler nicht mehr enthalten als hundert mögliche, die »den Begriff (…) bedeuten«, also das, was ich oder ihr denke/denkt, wenn ich mir (ihr euch) hundert Taler vorstelle (vorstellt). Der müsste geradezu allwissend sein, der sich effektiv ausdenken könnte, was 100 wirklichen Talern an Bestimmungen zukommt. Vernünftig kann der Begriff des Attributes nur ohne Anleihe bei der Psychologie bestimmt werden: Ein Attribut von X ist ein Kategorumenon (d. h. etwas, das richtig von X ausgesagt werden kann), welches für die Identität von X wesentlich ist (so dass ein Gegenstand, der dieses Attribut nicht besitzt, nicht X sein kann). Sein ist zwar ein Kategorumenon, aber kein Attribut von Sachen; das folgt daraus, dass es kein notwendiges Wesen gibt.888 Der Satz, dass hundert wirkliche Taler nicht mehr als hundert mögliche enthalten, drückt indirekt den richtigen Gedanken aus, dass zur Identität der hundert Taler ihre Attribute genügen, zu denen das Sein nicht gehört. Das Gegenteil wird in der Tat vom ontologischen Gottesbeweis unterstellt und auf Gott übertragen, indem behauptet wird, dass Gott nicht Gott sein könnte, wenn er nicht existierte. Diese im Kern triftige Widerlegung belastet Kant unnötig mit der falschen Zusatzbehauptung, dass es wenigstens für Gegenstände der Sinne ein Kriterium der Existenz (mit meinen Worten: eine zirkelfrei angebbare notwendige und zureichende Bedingung ihrer Existenz) gebe, nämlich, »in dem Kontext der gesamten Erfahrung enthalten« zu sein (A600 f. B628 f., vgl. A225 B273: »Die Wahrnehmung ist der einzige Charakter der Wirklichkeit.«) Kant übersieht, dass immer nur wirkliche Erfahrung, wirkliche Wahrnehmung gemeint sein kann, nicht die eingebildete 395

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eines Don Quijote, so dass seine These zwar richtig sein mag, aber kein zirkelfreies Kriterium des Seins liefert; ein solches kann es gar nicht geben.888 Die Ausführungen Kants gegen die beiden anderen von ihm angefochtenen Gottesbeweise sind im Großen und Ganzen untadelig; nur muss es verwundern, dass er bei seiner Empfehlung des physikotheologischen Beweises aus »der in der Welt durchgängig zu beobachtenden Ordnung und Zweckmäßigkeit« als vernünftig und nützlich (A624 B652; A627 B655) seinen transzendentalen Idealismus vergessen hat, nach dem »alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird (…), nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die (…) außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben« (A490 f. B518 f.). Nach der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe sind Erscheinungen »das bloße Spiel unserer Vorstellung« (A101), deren Ordnung von uns selbst durch synthetische Leistungen des Verstandes und der Einbildungskraft hervorgebracht wird. Die »Majestät des Weltbaues«, die Kant so bewundert, dass es um ihretwillen »trostlos« wäre, dem Beweis sein Ansehen zu entziehen (A624 B652), könnte ihm demnach eigentlich nicht einen göttlichen »Weltbaumeister (…) dartun« (A627 B655), sondern nur Selbstbewunderung eintragen, da es »ein Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen«.1262 Dass er sich stattdessen so nachdrücklich einem metaphysischen Realismus bei Anwendung des physikotheologischen Gottesbeweises auf seine Bewunderung der Natur hingibt, ist ein Signal dafür, dass der tranzendentale Idealismus nur oberflächlich auf Gemütsbedürfnisse aufgetragen ist (s. o. 35.2.1).

35.4 Praktische Philosophie 35.4.1 Das Sittengesetz Kants moralphilosophisches Hauptverdienst besteht in der energischen Hervorhebung der verbindlichen Geltung sittlicher Normen. Sein Eifern gegen pädagogische Versüßung der Pflicht, z. B. in der Methodenlehre der KpV, hat den Wert einer moralischen Reinigung. Verbindlichkeit kennzeichnet er durch »moralische Nötigung« (GMS 1262

KpV 183, Ak. V 102, 22 f.

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Praktische Philosophie

Ak. IV 439, 31 f.), die er dadurch näher bestimmt, dass »das unbedingte Gebot dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegenteils freilässt, mithin allein diejenige Notwendigkeit bei sich führt, welche wir zum Gesetze verlangen.« (ebd. 420, 8–11). Die Pflicht gilt also unbedingt, d. h. ohne Vorbehalte, und notwendig, d. h. unausweichlich, sowie gleichgültig gegen das Belieben; diese Gleichgültigkeit kann man auch als Allgemeinheit ausdrücken: Die Pflicht gilt für alle möglichen Weisen des Beliebens des Verpflichteten, auch die ihr inhaltlich entgegengesetzten, die Kant hervorhebt. Die so verstandene Allgemeinheit ist nur eine andere Formulierung des Gedankens der Unbedingtheit und Notwendigkeit; es handelt sich um eine sozusagen qualitative Allgemeinheit, die nur die Durchschlagskraft der moralischen Forderung ausdrückt. Kant macht daraus die quantitative Allgemeinheit der Geltung für einen sehr großen Adressatenkreis – es sollen, weit über die Menschheit hinaus, alle vernünftigen Wesen sein (ebd. 425, 12–31) – und gewinnt auf diese Weise seine Formel des Sittengesetzes, den sogenannten kategorischen Imperativ: »Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nur die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein der Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt. Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (ebd. 420, 26–421, 8) Wenn man dieses Zitat mit dem in Kants Text dicht davor stehenden vorigen vergleicht, fällt auf, dass Kant mit denselben begrifflichen Motiven arbeitet: Notwendigkeit, Unbedingtheit und Allgemeinheit, die in 420, 8–11 in der Negativform »kein Belieben« (jedes Belieben nicht) an dem Gedanken der Notwendigkeit und Unbedingtheit festgehalten war. Zu einem Inhalt der Pflicht, wie ihn die Formel des kategorischen Imperativs ausdrückt, kommt Kant nur, indem er den Sinn der Allgemeinheit in eine Richtung verschiebt, die aus dem Spezifischen der Pflicht unter den Normen des Verhaltens, ihrer verbindlichen Geltung, gar nicht abzuleiten ist. Der quantitative Universalismus des kategorischen Imperativs ist erschlichen. Das Entsprechende gilt für den Formalismus und den Rigorismus. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beginnt mit dem 397

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Preis des guten Willens als des einzig uneingeschränkt Guten. Dieser Ansatz wird dann beschränkt durch den »Begriff der Pflicht (…), der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen Einschränkungen und Hindernissen, enthält« (Ak. IV 397, 6–8), womit noch offen gelassen wird, ob es nicht auch guten Willen ohne solche Hindernisse, d. h. ohne pflichtwidrige Neigungen, geben kann. Das hat Kant aber gleich darauf vergessen, indem er »wahren sittlichen Wert« dem Handeln solcher Menschen abstreitet, die »ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten«, »ohne Beweggrund der Eitelkeit und des Eigennutzes« (398, 9–15). Soll der Wille nicht mehr gut sein, weil die gute Absicht nicht von »subjektiven Hindernissen und Einschränkungen« getrübt wird? Das Handeln »aus Pflicht« setzt sich an die Stelle des guten Willens. Daran ist eine weitere Begriffsverschiebung beteiligt: Ein Handeln aus Pflicht besteht zunächst nur darin, dass es von der Überzeugung getragen wird, dass es Pflicht ist, so zu handeln. Dafür genügt es, wenn die Pflicht als Motiv sozusagen in Reserve steht, so dass zwar andere Motive stärker das Verhalten leiten, aber dafür gesorgt ist, dass bei Fortfall dieser Motive immer noch die Überzeugung von der Pflicht, so handeln zu sollen, dafür ausreicht, dass so gehandelt wird. Kant deutet dieses Pflichtbewusstsein in der das Handeln leitenden Absicht um in die Absicht, die Pflicht um der Pflicht willen zu tun, als die einzige moralisch einwandfreie (Ak. IV 397, 33–399, 34), und entfernt so alle näher bestimmten Themen aus den Beweggründen des guten Willens: »Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgendeines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche dem Willen als Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. Hier ist nun die bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgendein auf bestimmte Handlungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Prinzip dient und ihm auch dienen muss, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll (…).« (402, 4–10) In der KpV macht Kant es sich mit der Allgemeinheit noch leichter, indem er in der an den Anfang von § 1 gesetzten Erklärung (Ak. V 19, 7–12) praktische Gesetze als allgemeine Bestimmungen des Willens für jedes vernünftige Wesen definiert. Er hat jetzt nur noch den Formalismus und den Rigorismus abzuleiten; das geschieht mit 398

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entscheidender Hilfe von Lehrsatz II: »Alle materiale praktische Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit.« (Ak. V 22, 6–8) Damit scheiden sie für allgemeine Gesetze an alle vernünftigen Wesen freilich aus. Der Beweis geht aus von der »Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache«. Dieser Begriff wird doppelsinnig verwendet. Nach der vorigen Seite (Lehrsatz 1, Beweis) handelt es sich um das Verhältnis der Vorstellung eines Objekts zum Subjekt, wodurch dieses zur Verwirklichung von jenem bestimmt wird (21, 21–25). 1263 Das kann die Anziehungskraft, der Glanz, das Lockende, Fesselnde eines Zieles sein. Solche Lust ist libido. Kant macht im Beweis des Lehrsatzes II daraus die vom Erfolg erwartete »Empfindung der Annehmlichkeit«, abzielend auf Glückseligkeit als »Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet.« Das ist Lust als voluptas. Durch die Begriffsverschiebung wird suggeriert, dass Menschen durch Lockung von Zielen auf deren Erlangung nur eingestellt würden, um sich danach wohl zu fühlen, d. h. zuständliche Lust zu empfinden; im Beweis von Lehrsatz III ist daraus das Verhältnis »der bestimmenden Vorstellung zum Gefühle der Lust und Unlust« geworden (Ak. V 27, 10 f.). Diese Auffassung menschlichen Strebens ist aber grundfalsch. Hume hat das durchschaut; in seinem für Kants Weckung aus dem dogmatischen Schlummer entscheidenden Buch Enquiry concerning human understanding beruft er sich in Auflagen von 1748 und 1751, die Kant vielleicht (in Übersetzung) nicht gesehen hat, auf Joseph Butlers Predigten für die Feststellung: »Es ist völlig einwandfrei bewiesen worden, dass selbst die gewöhnlich für selbstsüchtig gehaltenen Affekte den Geist über das Selbst hinaus geradewegs zu dem Gegenstande hinleiten; dass zwar die Befriedigung dieser Affekte uns Lust verschafft, doch die Aussicht auf diese Lust nicht Ursache des Affekts ist, dass vielmehr umgekehrt der Affekt der Lust vorangeht und dieselbe unmöglich ohne den ersteren existieren könnte; dass der Fall genauso bei den sogenannten wohlwollenden Affekten liegt, und dass folglich der Mensch nicht mehr selbstbeteiligt ist, wenn er seiMit der bei Kant fehlenden scholastischen Unterscheidung von finis obiectivus und finis formalis wird man allerdings meist sagen müssen, dass es sich nicht um Verwirklichung des Objektes selbst handelt, sondern um Realisierung (Vertatsächlichung) des Sachverhaltes, das Objekt in irgendeinem Sinn zu erlangen.

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nen eigenen Ruhm sucht, als wenn das Glück seines Freundes Gegenstand seiner Wünsche ist.« 1264 Kant wiederholt den Bruch mit dem archaischen Denken durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung, den ich für das Geschlechtsleben mit dem Gefälle zwischen dem schimmernden Glanz der Erotik, der goldenen Aphrodite des Mimnermos, und dem Verzicht auf den Geschlechtsakt für den Fall nicht zu erwartenden privaten Lustgewinns nach Aristophanes’ Lysistrate belegt habe (2, Band I S. 30). Dabei kann nichts den Menschen glücklicher machen, als wenn er sich ohne Rücksicht auf Selbstliebe und eigene Glückseligkeit aus Begeisterung einer Sache hingibt, und nichts ihm die Lust in fadere Langeweile verkehren, als wenn er immer danach sucht. Mit Recht sagt Meister Eckhart: »(…) quo minus quaerit delectationem, tanto maiorem sentit delectationem.« 1265 Weil aber nach Kant die Leute, so oft sie von einem Inhalt, einem Thema, einer Materie geleitet werden, doch nur aus Selbstliebe auf eigene Glückseligkeit aus sind, kann die »Materie eines praktischen Prinzips (…) kein praktisches Gesetz sein«, und so »bleibt von einem Gesetze (…) nichts übrig als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.« (KpV 48, Ak. V 27, 7–15) »Also ist die gesetzgebende Form, sofern sie in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann.« (29, 20–22) Damit sind der Formalismus und der Rigorismus (die Umdeutung des Handelns aus Pflicht in ein Handeln nur aus Pflicht um der Pflicht willen) erneut etabliert. Kant verdächtigt die von ihm als moralische Motive verworfenen materialen praktischen Prinzipien, »einer empirischen Bedingung (…) unterworfen« und dadurch zur Rolle praktischer Gesetze untauglich zu sein (KpV 48, Ak. V 27, 10–12), und sträubt sich mit aller Kraft gegen eine empirische Quelle der Moral. Dennoch will er das Bewusstsein der Geltung des Sittengesetzes »ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft (…) herausfünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdrängt« (56, Ak. V 31, 24–27). Und das soll keine Erfahrung sein? Kant kann sie als Quelle der Moral nur wegen seines allzu engen Erfahrungsbegriffes verkennen; wenn man unwillkürliche LeDavid Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. von Raoul Richter, unveränderter Nachdruck Hamburg1973, S. 13, Anmerkung. 1265 Sermo XL2, Opera Latina (s. o. Anm. 526) IV 341, 10. 1264

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benserfahrung wie ich versteht (als alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben), handelt es sich beim Kant’schen Faktum der Vernunft um ein typisches Beispiel von Erfahrung. Diese hat ihren Sitz sogar im Gefühl. Kant vergewissert in der KpV dem Leser sein Faktum der Vernunft durch allerlei Gedankenexperimente, die darauf hinauslaufen, dass ein Mensch, der das Sittengesetz verletzt, sich selbst verachten müsste. Dieser Verachtung entspricht auf der Gegenseite die Achtung als von Kant selbst benannte Quelle der Autorität des Sittengesetzes. Zwar stellt er es so dar, als schlage erst einmal das Sittengesetz als Faktum der Vernunft wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein und bewirke durch die Demütigung, die es den Neigungen und namentlich dem Eigendünkel antut, Achtung für sich als Triebfeder, ihm zu gehorchen (KpV 131 f., Ak. V 74, 19–30), aber aus Demütigung entsteht nicht Achtung, sondern Zorn und ohnmächtige Wut oder aber Verzweiflung. Ohne Gefühlsbasis wäre das aus keinen Vernunftgründen ableitbare Sittengesetz ein tyrannischer Zwangsimpuls, der den eigenen Willen des Unterworfenen mitnimmt und diesen nötigt, willentlich etwas zu tun, was er nicht will und nur unter Qualen tut; 1266 nur die Verankerung im Gefühl gibt der Pflicht die Kraft, in das eigene Streben so einzugehen, dass sie davon getragen wird und es nicht vergewaltigt. Mit der Abneigung Kants gegen eine Fundierung der Moral im Gefühl hängt auch das Scheitern seines berühmten Versuches zusammen, den kategorischen Imperativ als Prinzip der Menschenwürde umzuformulieren: »Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck behandelt werden.« (GMS Ak. IV 428, 7–10) Diese These enthält einen Kategorienfehler. Zwar kann man einen Menschen als Mittel gebrauchen und sehr oft übel missbrauchen, aber ein Zweck ist ein Programm, mit Mitteln etwas (die Vertatsächlichung oder

Wie die von mir in diesem Zusammenhang anderswo herangezogene innigfromme Diakonissin, die immer »Scheiße!« rufen musste, wenn sie den Namen »Jesus« las (Klaus Thomas, Handbuch der Selbstmordverhütung, Stuttgart 1964, S. 310).

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Realisierung eines Sachverhaltes) zu erreichen, 1267 und ein Mensch ist kein Programm der Realisierung eines Sachverhaltes; so verstanden, wäre er gerade wieder zum Mittel gemacht, zur Vorstufe eines Erfolges, die mit diesem hinfällig wird. Kants Absicht ist triftig, aber falsch rationalisiert. Besser müsste man sagen: Man soll einen Menschen mit gebührender Achtung, mit Respekt vor seiner Würde, behandeln, wobei dieses Gefühl selbst das passende Maß angibt. Kants Abneigung gegen die Gründung sittlicher Maximen auf solche Maßgabe des Gefühls treibt ihn hier in ein sich selbst vereitelndes rationalistisches Konstrukt. Kant scheint die Unzulänglichkeit gespürt und versucht zu haben, sie durch Umschreibungen zu reparieren. Wie man Menschen bloß als Mittel behandeln könne, sucht er an der Lüge zu verdeutlichen, bei der vom Lügner verkannt werde, dass die Mitmenschen »als vernünftige Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von ebenderselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen.« (GMS Ak. IV 430, 6– 9) Das ist zu wenig; der Lügner könnte den anderen immer noch missachten und vor allem belügen, auch wenn er glaubt, dass dieser denselben Zweck verfolgen könne. Was der Belogene wirklich nicht will, das ist, so belogen und dadurch als bloßes Mittel zu einem ihm nicht eingestandenen Zweck missbraucht zu werden, aber das hat nichts mit seiner Zwecksetzung zu tun. Nachher formuliert Kant sein Prinzip noch einmal neu: »(…) das Subjekt der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muss niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden.« (ebd. 438, 4–7) Wenn der Zweck die oberste einschränkende Bedingung im Gebrauch der Mittel wäre, würde jeder Gebrauch von Mitteln, z. B. Menschen, letztlich nur daran gemessen werden, ob er dem gewählten Zweck dient, und nur durch sich dabei herausstellende Zweckwidrigkeit beschränkt werden; das wäre das Gegenteil von dem, was Kant will. Auf einem ganz anderen Blatt steht, dass der Mitmensch immer eine einschränkende Bedingung (vielleicht nicht die oberste) für den Einsatz von Mitteln sein soll; aber auch da muss letzten Endes das (rational gestützte) Gefühl entscheiden, wo die Schranke liegt. Kant ebd. 427, 21–23: »Nun ist das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck (…).«.

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35.4.2 Die Triebfeder der Sittlichkeit Nach GMS und (ausführlicher) KpV schafft sich das Sittengesetz seine eigene Triebfeder, indem es mit seiner »feierlichen Majestät« (KpV 137, Ak. V 77, 25 f.) dem Menschen eine Achtung abnötigt, die diesen zum Gehorsam drängt. Anders ist die entsprechende Triebfederlehre der KrV im Zuge des unter 35.3.1 freigelegten, auf das Kanonkapitel zulaufenden Planes, auf dem Weg über das moralisch begründete Gottespostulat die theoretisch entwaffnete Physikotheologie zu rehabilitieren. Kant, der nicht ohne Spott den kosmologischen Gottesbeweis kurz und klein schneidet, verteidigt ihn um der moralischen Triebfeder willen: »Gleichwohl bleibt diesem Argumente eine gewisse Wichtigkeit und ein Ansehen, das ihm, wegen dieser objektiven Unzulänglichkeit, nicht sofort genommen werden kann. Denn setzet, es gebe Verbindlichkeiten, die in der Idee der Vernunft ganz richtig, aber ohne alle Realität in der Anwendung auf uns selbst, d. i. ohne Triebfedern sein würden, wo nicht ein höchstes Wesen vorausgesetzt würde, das den praktischen Gesetzen Wirkung und Nachdruck geben könnte: so würden wir auch eine Verbindlichkeit haben, den Begriffen zu folgen, die, wenn sie gleich nicht objektiv zulänglich sein möchten, doch nach dem Maße unserer Vernunft überwiegend sind, und in Vergleichung mit denen wir doch nichts Besseres und Überführenderes erkennen. Die Pflicht zu wählen, würde hier die Unschließigkeit der Spekulation aus dem Gleichgewicht bringen, ja die Vernunft würde bei ihr selbst, als dem nachsehendsten Richter, keine Rechtfertigung finden, wenn sie unter dringenden Bewegursachen, obzwar nur mangelhafter Einsicht, diesen Gründen des Urteils, über die wir doch wenigstens keine besseren kennen, nicht gefolgt wäre.« (A588 f. B616 f.) Es handelt sich um das später in der KpV sogenannte Postulat des Daseins Gottes, das Kant an etwas späterer Stelle der KrV so einführt: »Da es praktische Gesetze gibt, die schlechthin notwendig sind (die moralischen), so muss, wenn diese irgendein Dasein, als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft, notwendig voraussetzen, dieses Dasein postuliert werden, darum, weil das Bedingte, von welchem der Schluss auf diese bestimmte Bedingung geht, selbst a priori als schlechterdings notwendig erkannt wird. Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, dass sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur prak403

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tisch, postulieren; jetzt setzen wir diese Schlussart noch beiseite.« (A633 f. B661 f.) Diese Ankündigung wird im Kanonkapitel eingelöst: »Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien ebenderselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen. Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer, sofern sie der Moralität genau angemessen ausgeteilt ist. Dieses ist aber nur möglich in einer intelligiblen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genötigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müsste. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.« (A811 B839) »Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und eben durch dieselbe Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.« (A813 B841) Die Moralität gemäß dieser Triebfederlehre unterscheidet sich von der in GMS und KpV vertretenen durch die Unterscheidung zwischen Verbindlichkeit und verbindender Kraft der Pflicht. Die Verbindlichkeit 1268 ist genauso unbedingt wie beim kategorischen Imperativ der späteren Lehre, aber ihr fehlt die verbindende Kraft (A634 B662), wenn die Tugend sich nicht lohnt und das Laster keine abschreckende Strafe findet: »Die Moral führt also natürliche Verheißungen mit sich, denn sonst könnte sie uns nicht verbinden.« 1269 Um eine zureichende Garantie dieser verbindenden Kraft zu gewinnen, bedarf es eines allmächtigen, allwissenden und ganz gerechten Polizisten und Zahlmeisters, nämlich Gottes; Kant ist stolz auf seine Moraltheologie, die den »eigentümlichen Vorzug vor der spekulativen« habe, aus dem Postulat einer unbedingt zuverlässigen Garantie 1268 1269

A589 B617; A810 B838; A811 B839. Ak. XXVII 308, 7 f. (Ethik-Vorlesung).

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für genaue Angemessenheit von Lohn und Strafe für Pflichterfüllung beziehungsweise Pflichtwidrigkeit die gewünschten Eigenschaften Gottes zwingend ableiten zu können (A814 f. B842 f.). Ich habe in WK 84–90 sowie 93–97 mit einer Fülle von Zeugnissen aus den Vorlesungen und nachgelassenen handschriftlichen Notizen Kants gezeigt, dass diese Triebfederlehre etwa 20 Jahre lang (zwischen 1764 und 1784) der Moralauffassung Kants das Gepräge gibt, auch wo Kant das »Herz« des Menschen, die »Empfindungen einer wohlgearteten Seele«, gegen die »Spitzfindigkeit des Verstandes« mit seinen Gottesbeweisen ausspielt. Kant ist in diesen Jahrzehnten moralischer Eudämonist: »Der wirkliche Zweck ist: glücklich zu sein. Bedingungen sind Sittlichkeit und Geschicklichkeit.« 1270 Gott wird für diesen Zweck angestellt: »(…) er dient bloß, moralitatem zu roburieren.« 1271 »Zum Canon: Der Zweck der ganzen Metaphysik ist Gott und die Zukunft, und der Zweck von diesen unser Verhalten, nicht ob wir es der Moral gemäß anstellen, sondern ob es ohne Folgen sei.« 1272 Kant benützt in dieser Interpretation der Triebfederlehre des Kanon-Kapitels Gott als Mittel zum Zweck von Lohn und Strafe für Tugend beziehungsweise Laster. Der Tugendhafte ist ein Gläubiger Gottes; 1273 das Verhältnis zwischen ihnen ist also merkantil wie bei Augustinus.75 Wer seine Pflicht tut, ohne sich vergewissert zu haben, dass es sich auch lohnt, ist ein Phantast (Narr, Tor, grillenhaft, Geck der Tugend). 1274 Ein harter Kontrast entsteht durch den Zusammenstoß dieser Nutzenrechnung mit der anerkannten unbedingten Verbindlichkeit sittlicher Normen. Aber nicht einmal dieser Zusammenstoß genügt für die davon erhoffte Triebfeder zu gutem Handeln; R. 6889, Ak. XIX 194, 25 f. (nach Adickes / Berger wahrscheinlich zwischen 1776 und 1779). 1271 R 7303, Ak. XIX 307, 9 f. (achtziger Jahre). 1272 Ak. XVIII 273, 25–27. Es handelt sich um einige dem Kanon-Kapitel gewidmete Zeilen einer Vorarbeit zur KrV, notiert auf der Rückseite eines Immatrikulationsattestes vom 20. 03. 1780. Die Rücksicht auf »die Zukunft«, d. h. das Leben nach dem Tode, ist übrigens entbehrlich, denn dieses folgt aus dem Gottespostulat, falls dieses überhaupt benötigt wird, falls also die Aufrechnung von Lohn und Strafe gegen Tugend und Laster nicht schon in diesem Leben ausgeglichen ist. 1273 »Ein solcher Tugendhafter ist einem Creditore zu vergleichen, er hoffet das künftige Gute, gesetzt dass er auch davon noch keine Spur hat.« (Ak. XXIV 243, 25–27, Logik Blomberg, Vorlesung 1770 oder früher). 1274 Ak. XVII 485, 2–5 (R. 4256), 488, 20–24 (R. 4268), XIX 238, 8–15 (R. 7059), XXVIII 288 f. (Metaphysik L1), XXIX 43, 29–37 (Enzyklopädie, Vorlesung 1775), XXIX 777, 33–778, 2 (Metaphysik Mrongovius). 1270

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denn wenn keine Pflicht von sich aus die Triebfeder zum Gehorsam mitbringt, wird das auch für die Pflicht zum Glauben an Gott (um daraus eine Triebfeder zur Erfüllung sonstiger Pflichten zu ziehen) gelten, und die Sittlichkeit bleibt ohne »verbindende Kraft« lahm wie zuvor. Kant scheint sich von dieser Unzulänglichkeit seines Eudämonismus erst überzeugt zu haben, als er im Winter 1783/84 an die systematische Ausarbeitung seiner Moralphilosophie mit GMS als erstem Produkt ging. Bis kurz davor hing er offenbar noch dem alten Programm eines gemäß dem Kanon-Kapitel von der Kritik der Metaphysik über die Triebfederlehre der KrV mit dem Gottespostulat zur transzendentalen Theologie zurückführenden Bogens an. Das ergibt sich aus seinem Brief an Mendelssohn vom 16. August 1783 (Ak. X 346 f.). Kant fordert den Adressaten zu gründlicher Prüfung der Grundgedanken der KrV auf. »Wären wir erst soweit, so würde sich die Auflösung, darin sich die Vernunft selbst verwickelt, wenn sie über alle Grenze möglicher Erfahrung hinauszugehen versucht, von selbst geben, imgleichen die noch notwendigere Beantwortung der Frage, wodurch denn die Vernunft getrieben wird, über ihren eigentlichen Wirkungskreis hinauszugehen, mit einem Worte die Dialektik der reinen Vernunft würde wenig Schwierigkeit mehr machen und von da an würde die eigentliche Annehmlichkeit der Kritik beginnen (…).« Nachdem er seine Hoffnung auf diesen Erfolg wegen des Ausbleibens kompetenter Prüfer wie Mendelssohn heruntergeschraubt und ein Lehrbuch der Metaphysik für Vorlesungen angekündigt hat, fährt er fort: »Diesen Winter werde ich den ersten Teil meiner Moral, wo nicht völlig doch meist zustande bringen. Diese Arbeit ist mehrer Popularität fähig, hat aber bei weitem den das Gemüt erweiternden Reiz nicht bei sich, den jene Aussicht, die Grenze und den gesamten Inhalt der ganzen menschlichen Vernunft zu bestimmen, in meinen Augen bei sich führt, vornehmlich auch darum, weil selbst Moral, wenn sie in ihrer Vollendung zur Religion überschreiten will, ohne eine Vorarbeitung und sichere Bestimmung der ersteren Art, unvermeidlicher Weise in Einwürfe u. Zweifel, oder Wahn und Schwärmerei verwickelt wird.« Kants Herz hängt also immer noch an dem Plan, Inhalt und Grenzen der gesamten menschlichen Vernunft, nicht der theoretischen und der praktischen für sich, in einem großen Bogen auszumessen, dessen entscheidender Schritt die Vollendung der Moral durch Übergang zur Religion ist; davon kommt in GMS nichts und in KpV, wo das Gottespostulat nur ergän406

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zend die vollendete Moral begleitet, nichts Gleichwertiges vor. Dieses Projekt hat für Kant den das Gemüt erweiternden Reiz; es ist »jene Aussicht«, die er zuvor mit den angegebenen Worten skizziert hat, wozu auch die Beantwortung der Frage gehört, »wodurch die Vernunft getrieben wird, über ihren eigentlichen Wirkungskreis hinauszugehen.« Die transzendentale Elementarlehre der KrV sagt nichts darüber; es muss sich um die Moral handeln, die in der Vollendung zur Religion überschreitet. Verglichen mit diesem Gesamtplan der Vernunftkritik ist die Moralphilosophie für Kant damals viel weniger reizvoll; ihr fällt offenbar nur die in den ersten beiden Abschnitten von GMS gelöste Aufgabe zu, die Lücke zu füllen, die das Kanonkapitel A807 B835 mit der bloßen Annahme, dass es nicht näher spezifizierte »reine moralische Gesetze« gebe, auf das Zeugnis der »aufgeklärtesten Moralisten« und »das sittliche Urteil eines jeden Menschen« hin offen gelassen hatte. Die Moral ist für den Kant vom 16. August 1783 nur eine Phase auf dem Weg zur Religion. Das kann nur im Anschluss an die Triebfederlehre der KrV rekonstruiert werden. Bei der Ausarbeitung von GMS oder der Vorstufen dazu muss sich Kant ziemlich ruckartig von seiner bisherigen Triebfederlehre verabschiedet haben und zur Achtung vor dem Gesetz als Triebfeder übergegangen sein. Das spricht eine Stelle aus der Naturrechtsvorlesung im Sommersemester 1784 klar aus; 1275 verbindende Kraft durch Lohn und Strafe ist für Kant nun eine »contradictio in adiecto«. Auch die Moral Mrongovius II, 1276 Fragment einer Nachschrift von Kants Ethikvorlesung im Winter 1784/85, bringt die neue Lehre, zeigt Kant aber noch auf dem Rückzug von der alten. In GMS und KpV sind deren Spuren nicht mehr zu finden. Der Eudämonist Kant hat sich gleichsam ruckartig zum schärfsten Widersacher des Eudämonismus gewandelt. Freilich muss er dafür die herzerweiternde große Aussicht aus dem August 1783 (Brief an Mendelssohn) aufgeben, das Projekt einer integralen, Kritik, Moral und Religion zusammenfassenden Vernunftlehre, das schon in der KrV in die transzendentale Methodenlehre versteckt und mehr angedeutet als ausgeführt worden war. Das Gottespostulat hat seine nach der Triebfederlehre der KrV zentrale Bedeutung für die Moral verloren; insAk. XXVII 1326, 26–32 (Naturrecht Feyerabend, zur Datierung: Lehmann S. 1053), von mir zitiert in WK 105 f. 1276 Ak. XXIX 597–642, von mir besprochen in WK 103–105. 1275

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besondere ist es nicht mehr wie nach A589 B617 Pflicht, an Gott zu glauben (KpV 226, Ak. V 125, 31–34). Um das Postulat neu zu begründen, konstruiert Kant eine Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, nämlich außer der Sittlichkeit eine der Tugend genau angemessene Glückseligkeit, und zwar uneigennützig, nicht mehr wie in der alten Triebfederlehre im Hinblick auf die selbst zu erwartende Belohnung – als ob Gott, wenn er denn mit den von Kant ihm zugeschriebenen Eigenschaften existiert, solche Glückseligkeit nicht viel besser als der Mensch bewerkstelligen könnte, so dass dieser ihm mit seiner neuen Pflicht ins Handwerk pfuscht. Die Beförderung des höchsten Gutes nach beiden Richtungen ist dem Menschen nach Kant als Pflicht nur zuzumuten, wenn die Erreichung des Zieles auch möglich ist; das aber soll nur möglich sein, wenn Gott mit seiner Allmacht dafür sorgen kann, was die Glückseligkeit angeht. 1277 Die Fadenscheinigkeit dieser Begründung liegt auf der Hand. Eine so apodiktische Behauptung der Unmöglichkeit dürfte Kant als kritizistischer Immanentist sich nicht erlauben, da sie die Möglichkeit über die Grenzen des Erfahrbaren hinaus strapaziert. Vor allem ist es aber eine moralische Feigheit, das Tun der Pflicht davon abhängig zu machen, dass man des angestrebten Erfolges ganz sicher sein kann. Das gilt erst recht, wenn es sich um das Mitwirken an einem großen Ziel handelt, zu dem der Einzelne nur winzige Bausteine beitragen kann. Man muss für die Pflicht doch auch wagen können, sie schlimmstenfalls sogar auf verlorenem Posten tun. Und was ist gewonnen, wenn die Garantie nur in der Forderung einer für das Erreichen des Zieles zureichenden Ursache besteht? In der alten Triebfederlehre war der Bedarf nach dem Gottespostulat leicht einzusehen, wenn auch das Ziel, die Bereitschaft zum Gehorsam in Gang zu setzen, damit nicht erreicht werden konnte; nachdem aber das Sittengesetz sich selbst die Achtung und damit diese Bereitschaft erzwungen hat, läuft das Postulat nur noch an Krücken, ganz davon abgesehen, dass die Berücksichtigung der Glückseligkeit im höchsten Gut doch wieder eines der verbotenen materialen Prinzipien in die Willensbestimmung einführt und den Formalismus stört. Daher ist es nicht erstaunlich, dass mindestens in den neunziger Jahren Zeugnisse für Kants Bemühen

KpV 225, Ak. V 125, 14–16: »Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, insofern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat.«.

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auftauchen, das Gottespostulat herunterzuspielen oder loszuwerden (WK 115). Kants zentrales Interesse, das ihn bei der Ausarbeitung seiner kritizistischen Philosophie leitet, ist das Verlangen nach Behauptung seiner Selbstständigkeit und Eigenmacht, sowohl gegen Gott (35.2.1) als auch gegen das Tier, auf dessen Niveau Humes Entwaffnung der Spontaneität des Verstandes den Menschengeist herabzusetzen droht (35.2.2). Für diese Eigenmacht als praktische muss auch nach dem Bruch mit dem Eudämonismus gesorgt werden. An die Stelle der merkantilen Eigenmacht1273 tritt die nomothetische, die sittliche Autonomie, dass der Mensch sich das Pflichtgesetz selbst gibt, unter dem er steht. Die Autonomie taucht zusammen mit der Triebfederlehre der Achtung vor dem Gesetz in GMS auf und wird fortan von Kant zäh verteidigt. Der Vergleich der Moralvorlesung Mrongovius II (1784/85) mit der ein Jahr früheren Religionslehre Pölitz lässt erkennen, wie sich die Autonomie als neues Motiv an die Stelle des Abstandes setzt, den der vernünftige Käufer von Lohn für Tugend aus Gottes Hand vom unmittelbaren Gehorsam gegen das Pflichtgebot hat (WK 120). »Die Autonomie unseres Willens erhebt unsere Würde sehr.« 1278 Sie bestätigt dem Menschen seine Eigenmacht auch im Verhältnis zu Gott: »Gott ist nicht Autor der Moral.« 1279 Andernfalls wäre die sittliche »Pflicht nicht freie Tugend, sondern zwangsläufige Rechtspflicht.« 1280 Die Hauptsorge Kants, nicht Knecht zu sein (35.2.1), wird in der neuen Triebfederlehre durch die Autonomie ebenso befriedigt wie in der alten durch den der Vernunft eingeräumten Vorbehalt, angesichts der verbindlichen Pflicht zu prüfen, ob es sich auch lohnt, sie zu tun. 35.4.3 Das Verhältnis der praktischen zur Transzendentalphilosophie Kants Moralphilosophie passt nicht zu seinem transzendentalen Idealismus. Der eigentliche Grund der Zurechenbarkeit einer Handlung ist für ihn die transzendentale Freiheit, eine Handlung von selbst, d. h. ohne sie zureichend bestimmende Ursachen, auszuführen 1278 1279 1280

Ak. XXIX 629, 23 f. (Moral Mrongovius II). Ak. XXIX 633, 36 (ebd.). Ak. VI 99, 9 f. (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft).

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und damit eine Reihe von Folgen anzufangen (A448 B476); das aber ist in der räumlich-zeitlichen Sinnenwelt wegen durchgängiger Kausalverknüpfung unmöglich und muss also mit der gesamten Last moralischer Verantwortung in die für uns unerkennbare Welt der Dinge an sich ohne Raum und Zeit verlegt werden. 1281 Damit wird der kategorische Imperativ unanwendbar, das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft. Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (KpV 54, Ak. V 30, 56 f.) Wie soll man zeitlos jederzeit handeln? Uns Menschen in Raum und Zeit gilt die Forderung nicht, da wir nur Masken (Erscheinungen für uns) der eigentlich angesprochenen zurechnungsfähigen Täter sind, die in einer uns unbekannten Sprache zu Taten aufgefordert werden müssten, die sie nimmermehr und nirgendwo mit der Nebenfolge räumlicher und zeitlicher Erscheinungen zu vollbringen hätten. Eine solche Ethik hat auf Erden nichts zu suchen. Ihr Dilemma gleicht der größten Aporie der Ideenlehre nach Platons Parmenides 133b–134e: Wie dort das Wissen, ist hier die Tugend auf zwei Welten, die darüber nicht kommunizieren, verteilt, hier auf Erden aber nur Erscheinung von Tugend. Kant verschlimmert die Schwierigkeit noch, indem er die mit der neuen Triebfederlehre verbundene Autonomie benützt, um Freiheit und Autonomie zu identifizieren (KpV58, Ak. V 33, 19). Dann haftet Freiheit und mit ihr Zurechenbarkeit (Imputabilität) an der Gesetzgebung, nicht mehr an der Wahl der Maxime, und da die autonome Gesetzgebung sich nur auf das Sittengesetz beziehen soll, wird alle Freiheit diesem konform: »(…) was kann denn wohl Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als allgemeines Gesetz zum Gegenstand haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit; also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.« (GMS, Ak. IV 446, 24–447, 7) Es müsste sogar heißen: ein sittlicher Wille; denn die Freiheit als Autonomie ist mit der Aufstellung des Gesetzes schon verbraucht, und die kann gegen das Gesetz nicht verstoßen. Pflichtwidrigkeit ist ausgeschlossen. Von dieser Gleichsetzung ist Kant daher wieder abgekommen. 1281

KrV A554–556, B582–584; KpV 169–175, Ak. V 94, 22–98, 12.

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Nach der Metaphysik der Sitten ist nur die Willkür in der Wahl der Maxime, nicht der gesetzgebende Wille frei (Ak. VI 226, 4–11). Dennoch findet er ein unerklärliches Rätsel darin, wie es (im Fall eines Verbrechers) »dem Subjekt möglich ist, eine solche Maxime wider das klare Verbot der gesetzgebenden Vernunft zu fassen«; das »lässt sich schlechterdings nicht erklären; denn nur Begebenheiten nach dem Mechanismus der Natur sind erklärungsfähig.« (Ak. VI 321, 21–24) Kant tut hier so, als sei die Angabe von Ursachen und nicht die logische Klärung als Erklärung gefragt. Warum er sich mit dem Unerklärlichen begnügt, ist nicht schwer einzusehen. Den empirischen Menschen kann er aus dem angegebenen Grund mit der Verantwortung nicht belasten; wenn er aber dem in diesem Menschen erscheinenden Ding an sich die böse Maxime zuschreibt, schwindet für den Menschen als »ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen« der Trost, »eine bessere Person (…) zu sein, wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängigkeit von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt, ihn unwillkürlich nötigt« (GMS, Ak. IV 154, 1. 37–155, 4). Dieser Trost richtet das vom »Subjekt der reinen praktischen Vernunft als obersten Gesetzgeberin« gedemütigte »Gefühl eines vernünftigen von Neigungen affizierten Subjekts« wieder auf, da sein Gefühl auch Erhebung enthält, »da dieser Zwang bloß durch Gesetzgebung der eigenen Vernunft ausgeübt wird.« 1282 Wenn in der intelligiblen Welt hinter der Erscheinung auch böse Maximen vorkommen, ist nicht mehr mit Sicherheit darauf zu rechnen, dass der Zwang des Sittengesetzes auf das Individuum in der Sinnenwelt gerade aus dessen eigener Gesetzgebung stammt, denn dann kann es auch als Ding an sich eine dem kategorischen Imperativ widerstreitende Maxime haben. Diese Verderbnis wird von Kant in der Religionsschrift sogar auf die ganze Menschheit ausgedehnt, 1283 so dass von Erhebung keine Rede mehr sein kann. Die Gründung des Sittengesetzes auf Autonomie (eigene Gesetzgebung) des Menschen ist also unverträglich mit der Verweisung der Imputabilität in die übersinnliche Welt der Dinge an sich, sofern die Herkunft aus dieser dem Sittengesetz Legitimation und Würde geben soll. Das vernünftige Wesen verschafft sich selbst in dieser KpV 133 und 143, Ak. V 75, 8–11 und 80, 36 f. Ak. VI 21, 1–12 und 32, 13–33 (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft).

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übersinnlichen Welt seinen intelligiblen Charakter, das Gesetz seiner Wirksamkeit, und kann daher trotz der durchgängigen kausalen Determiniertheit seiner Erscheinung in Raum und Zeit »von jeder gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, (…), mit Recht sagen, dass es sie hätte unterlassen können«. 1284 Auf der anderen Seite besteht nach dem Autonomie-Konzept der Freiheit diese als Eigenschaft des Willens, sich selbst Gesetz zu sein, gerade darin, nur nach einer Maxime zu handeln, die sich selbst als allgemeines Gesetz zum Gegenstand haben kann, also sittlich gut zu sein (Ak. IV 447, 1–5, s. o.). In diesem Fall ist der Böse auch in der intelligiblen Welt nicht fähig, sich frei einen Charakter zu verschaffen, denn das einzige frei wählbare Gesetz des Handelns soll dann das moralische sein (KpV 59, Ak. V 33, 15–21). Entweder ist das Konzept der Freiheit als Autonomie verkehrt, oder die Zurechnung scheitert an der Charakterlosigkeit des Bösen. Kants Zwiespalt bezüglich der Charakterfähigkeit des Bösen schlägt sich, herabgfestuft auf empirisches Niveau, in widersprüchlichen Formulierungen seiner Anthropologie in pragmatischer Absicht nieder (WK 128 f.). Kant sucht sich diesen Schwierigkeiten, soweit er sie zur Kenntnis genommen haben mag, durch die Konstruktion des Menschen als eines hybriden Mitteldinges zwischen Ding an sich und Erscheinung zu entziehen, das »zu beiden Welten gehörig« ist (KpV 155, Ak. V 87, 9), als eine Erscheinung, die ein Vermögen hat, das selbst nicht Erscheinung, sondern intelligibel ist, aber die Ursache von Erscheinungen sein kann (KrV A538 B566; A544 B572). »Ich nenne das an einem Gegenstande der Erscheinung, was nicht selbst Erscheinung ist, intelligibel.« (A538 B566) Nun kann zwar im materialen Realismus (35.2.1) ein Ding an sich, indem es erscheint, auch selbst da sein, aber nicht an, sondern in der Erscheinung, verhüllt in ihr wie in einer undurchdringlichen Maske. Dabei bleiben Erscheinung und erscheinendes Ding inhaltlich genau getrennt. Die eben angeführten Stellen aus der KrV stehen in der Auflösung der 3. Antinomie; als »Schlüssel zu Auflösung« aller Antinomien wird in A490 f. B518 f. der transzendentale Idealismus vorgestellt, wonach »alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben.« Mangels irgendwelcher 1284

KpV 175, Ak. V 98, 5–8 mit KrV A539 B567.

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Praktische Philosophie

Aufschlüsse, die von diesen Erscheinungen zu den erscheinenden Dingen führen, gibt es keine Gelegenheit eindeutiger Zuordnung beider zu einander. Wir dürfen also z. B. von dem Menschen, den wir als uns selbst oder als Mitmensch mit seinen Schicksalen in Raum und Zeit kennen, nicht auf »das Ding an sich«, das in ihm erscheint, schließen und darüber etwas aussagen; es könnten auch viele Dinge sein, die kaum etwas mit einander zu tun haben, oder ein einziger deus sive natura nach Spinoza für alle Erscheinungen. Deswegen ist es illegitim vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus, wenn Kant denselben Gegenstand, einen Menschen, sowohl als Ding an sich als auch als Erscheinung ausgibt, und grotesk mutet es an, dass eine Vorstellung, die außer meinen Gedanken keine an sich gegründete Existenz hat, ein Vermögen mit solcher Existenz besitzen soll. Wie soll das Können mehr sein als der, der kann? Die Verwirrung löst sich erst, wenn man einsieht, dass der transzendentale Idealismus mit der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung, also auch der kritizistische Immanentismus, in den ethischen Spezialschriften Kants nur noch Fassade ist, hinter der ein handfester Realismus steht, eine Seele, die in der Zeit ist und im Sinne der platonischen und aristotelischen Seelenteilungslehre zwei Stockwerke hat, ein oberes der sittlich gebietenden Vernunft und ein unteres, sinnliches, mit demselben Menschen in beiden Stockwerken. Die Terminologie des transzendentalen Idealismus wird auf diesen andersartigen Dualismus übertragen. Das beginnt schon in der KrV. Um die Spekulation auf ein übersinnliches Vermögen an einem Gegenstand menschlicher Erfahrung zu unterbauen, hebt Kant den Menschen aus der leblosen und der tierisch belebten Natur heraus: »Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, andernteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann.« (A546 f. B574 f.) Das könnte der Kritizist Kant nie vertreten, der den Immanentismus auf die Apperzeption, das transzendentale Subjekt des Ich denke, so energisch ausgedehnt hat, dass er ihm die über bloße Denkbarkeit hinausgehende Erkennbarkeit bestreitet (B157) und jeder Frage nach dessen Beschaffenheit als »gänzlich nichtig und leer« die Antwort verweigert (A478 f. B506 f., Anmer413

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Kant

kung). Was ihn zu diesem Ausscheren aus dem Kritizismus befähigt, ist in den letzten Worten des Zitats gesagt: Kant deutet das ontologische Verhältnis von Ding und Erscheinung in das psychologische des oberen (spontanen) und unteren (rezeptiven) Seelenvermögens um, der zwei »Grundquellen des Gemüts« (A50 B74). Das Intelligible wird zum Intellektuellen, das Noumenon zum noo‰n (Nooun), ohne dass die Ausdrücke geändert würden. Diese Psychologisierung des Ontologischen ist der Schlüssel zur Übersetzung des Kritizismus Kants in seine Ethik. Die Autonomieproblematik verliert den Stachel, der aus der Projektion des Gesetzgebers unter die Dinge an sich entstand, und wird zum ambivalenten Spannungsverhältnis zweier Seelenteile, indem das Subjekt der reinen praktischen Vernunft als oberster Gesetzgeberin das vernünftige, aber von Neigungen affizierte Subjekt zwar demütigt (KpV 133, Ak. V 75, 8–11), aber zugleich zu sich erhebt, weil es sich um dasselbe Subjekt in zwei Stockwerken der Seele handelt, das auch als affiziertes unter der »Gesetzgebung der eigenen Vernunft« steht (143, V 80, 36 f.). In der weiteren Entwicklung der Ethik Kants, namentlich in der Metaphysik der Sitten, entspannt sich die Ambivalenz zunehmend durch dualistische Zersetzung in verpflichtende und verpflichtete Instanz bis hin zur Figur des inneren Richters im Gewissen, der Züge Gottes (machthabende Person, Weltherrscher) trägt (Ak. VI 439, 22–39, Anmerkung); dieses Transzendieren wird andererseits abgefangen von einer Subjektivierung, die im Opus postumum (Ak. XXI 25, 2–9) so weit geht, diesen Gott mit mir zu identifizieren, vgl. zu diesen Entwicklungen WK 136–139. Im Grunde ist für Kant an der Freiheit wohl nicht so sehr die Möglichkeit sittlicher Zurechnung wichtig, die am Verhältnis von Erscheinungswelt und übersinnlicher Welt problematisch durchgespielt wird, sondern die Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit, das sein Philosophieren treibende Hauptanliegen (35.2). Deswegen schwankt er im Lauf seiner Entwicklung hinsichtlich der Frage, ob der Böse überhaupt frei oder Bosheit nur eine Schwäche oder ein Unvermögen (Ak. VI 227, 4 f., Metaphysik der Sitten) sei, vgl. dazu WK 133–136. »Freiheit ist eigentlich die Selbsttätigkeit, deren man sich bewusst ist.« (R. 4920, Ak. XVII 462, 23 f.) »Da die Freiheit eine vollständige Selbsttätigkeit des Willens ist, ohne durch stimulos oder durch irgendetwas anderes, was das Subjekt affiziert, bestimmt zu sein, so kommt es bei ihr nur auf die Gewissheit der Persönlichkeit an: dass sie nämlich sich bewusst ist, sie handle aus eigener Willkür, 414

sthetik

der Wille sei tätig und nicht leidend, weder durch stimulos noch durch fremde Eindrücke. Sonst müsste ich sagen: ich bin getrieben oder bewegt, so oder so zu handeln, welches so viel heißt als: ich bin nicht handelnd, sondern leidend. Wenn Gott die Bestimmungen der Willkür regiert, so handelt er; wenn die Reize der Dinge sie notwendig bestimmen, so nötigen sie; in beiden Fällen entspringt die Handlung nicht aus mir, sondern ich bin nur das Mittel einer andern Ursache.« (R. 4225, Ak. XVII 464, 11–22) Kant verteidigt seine Freiheit gleichermaßen gegen Gott (35.2.1) wie gegen die Neigungen.

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35.5 sthetik Die Kritik der Urteilskraft, in der Kant seine Ästhetik systematisch entwickelt, ist sicherlich sein bestes Buch, zwar knorrig, steif und gekünstelt in vielen Konstruktionen und Formulierungen, aber reich an schlagenden, bisweilen fast witzigen Beobachtungen und scharfsinnigen Bemerkungen, straff und übersichtlich komponiert und dem Zeitalter – etwa in der Genieästhetik – aufgeschlossen, trotz altväterischer Naivität mancher Geschmacksurteile. Die Hauptsache in der größeren, der Ästhetik gewidmeten Hälfte des Buches ist die Analyse und Rechtfertigung des Geltungsanspruches des Geschmacksurteils, dass etwas schön ist; hinzu kommt eine kurze Analyse und Deutung des Erhabenen. Bezüglich des Schönen werde ich auf drei Errungenschaften Kants eingehen: die subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, das interesselose Wohlgefallen und die ästhetischen Ideen. Es wäre lächerlich, sagt Kant sehr einleuchtend, von einer Sache zu sagen, sie sei mir schön, so wie mir etwas angenehm sein kann, ohne dass ich das Gleiche anderen zumutete; wer etwas schön findet, hält die Sache selbst für schön und fordert von den anderen Einstimmung in sein Wohlgefallen (KU 19 f.). »Das Geschmacksurteil sinnt jedermann Beistimmung an; und wer etwas für schön erklärt, will, dass jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären solle« (KU 63). Im Unterschied vom Guten wird das Schöne aber nicht »durch einen Begriff als Objekt eines allgemeinen Wohlwollens vorgestellt« (KU 21), was nach Kant dazu führt, dass Urteile über das Schöne im Gegensatz zu denen über das Gute immer einzelne Urteile (nicht verallgemeinerbar) sind (KU 24 f.) und sich nicht begründen lassen (KU 26). In der Tat sind 415

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Kant

Gründe des Geschmacksurteils und daraus abgeleitete Verallgemeinerungen nur Hilfsmittel der Interpretation des gegebenen Eindrucks von nicht abschätzbarer Tragweite. Schönheit ist für sich nichts ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjektes (KU 30); das gebildete Gefühl muss entscheiden, was schön ist. Kant ist mit dieser Bestimmung der subjektiven Allgemeinheit des Geschmacksurteils eine bedeutende Entdeckung gelungen. Wie er dazu gekommen ist, habe ich in WK 154–165 (§ 13: Geschmack und Pflicht) nachgezeichnet. Sein Zugang hängt mit dem Übergang zur neuen Triebfederlehre (35.4.2) zusammen. Dadurch wurde für das Schöne ein Platz frei, den vorher das Gute besetzt hatte. Gemäß der alten, in der KrV benützten Triebfederlehre ist das Gute wie das Schöne bloße Geschmackssache, bis die Religion der Moral durch Bereitstellung einer Triebfeder, seine Pflicht auch zu tun, zu Hilfe kommt: »Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung (…).« (A813 B841) Demgemäß stellt Kant moralischen und ästhetischen Geschmack zusammen, als zwei Weisen, Anteil an dem zu nehmen, was zur Allgemeinheit gehört. 1285 Den Unterschied bestimmt er so: »Gut ist, was jedermann notwendig gefallen muss. Das Schöne gefällt aber nicht jedermann notwendig, sondern die Übereinstimmung des Urteils ist zufällig.« 1286 Wegen der Homogenität und Geselligkeit der menschlichen Natur ist sie aber weitgehend, und der Geschmack ist das Instrument des Herausspürens dieser Übereinstimmung. Ästhetische Allgemeinheit ist also das, was in KU 20 als komparative Allgemeinheit des gesellschaftlichen Geschmacks, z. B. Gäste geschmackvoll zu bewirten, den universalen Regeln, die das Geschmacksurteil aufzustellen beanspruche, gegenüberstellt (KU 20). Durch die neue Triebfederlehre ab 1784 wird die Moral praktisch, und nun kann das ästhetische Geschmacksurteil in den frei gewordenen Anspruch des moralischen auf notwendiges und allgemeines Wohlgefallen einrücken. Die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Guten ist fortan anders möglich. Während die Beobachtung der subjektiven Allgemeinheit des Geschmacksurteils ein Treffer ist, missglückt Kant die zugehörige 1285 1286

R. 769, Ak. XV / 1 S. 335, 25–28. Ak. XXVIII 249, 27–29 (Metaphysik L1).

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Rechtfertigung in einer (transzendentalen) Deduktion des Geschmacksurteils (KU § 38). Er beruft sich einfach auf das Recht, »dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen« (KU 152), was natürlich keinen Anspruch auf jedermanns Wohlgefallen an einer Sache rechtfertigen kann. Um eine Pointe in dieser Deduktion zu entdecken, muss man auf den § 21 zurückgehen, dessen erster Satz schon unter 35.2.2 zitiert wurde: »Erkenntnisse und Urteile müssen sich, samt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mitteilen lassen; denn sonst käme ihnen keine Übereinstimmung mit dem Objekt zu; sie wären insgesamt ein bloß subjektives Spiel der Vorstellungskräfte, gerade so, wie es der Skeptizismus verlangt.« Daraus folgert Kant in KU 65 f. den Bedarf nach einer zur Mitteilbarkeit erforderlichen Proportion der Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand und nimmt ohne weiteres die Existenz einer optimalen Proportion dieser Kräfte an, die für ihr belebendes freies Spiel mit einander – den Grund nach Kant, einen dieses Spiel anregenden Gegenstand für schön zu halten (35.1) – und daher auch für die (Mitteilbarkeit der) Erkenntnis »die zuträglichste« sei. Demnach könnte Rechtfertigung für das Geschmacksurteil die Sorge vor dem Skeptizismus sein, aber die liegt dem Urteilenden, wenn er etwas schön findet, so fern, dass die Konstruktion nicht tragen könnte. Auch muss man fragen, ob es für die Erkenntnis und ihre Mitteilbarkeit nicht viel besser ist, wenn die Proportion der Erkenntniskräfte nicht bei allen Menschen genau die gleiche ist, so dass auch die Bedingungen für deren freies Spiel bei ihnen unterschiedlich ausfallen. In Wirklichkeit hat Kant mit der subjektiven Allgemeinheit des Geschmacksurteils etwas anderes aufgetan als ein Bedürfnis der Erkenntnis, nämlich die Autorität der Gefühle 1287 als leiblich ergreifender Atmosphären (nicht privater Seelenzustände). Ich denke besonders an Zorn (Empörung), Scham, Trauer und Liebe. Nicht alle, aber manche Gefühle haben subjektive Allgemeinheit ihrer Autorität in der Perspektive des Ergriffenen, z. B. Empörung. Wer sich empört, mutet allen gleiche Empörung über das »schreiende Unrecht«, das ihn empört, zu, aber, was ihn empört, mag für ihn ein Treten heiliger Menschenrechte sein, während ein anderer das vielleicht ganz in Mit der Autorität der Gefühle habe ich mich seit 1973 (auf den so betitelten Seiten 131–135 von: System der Philosophie Band III Teil 3: Der Rechtsraum) oft beschäftigt, jüngst z. B. in Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003 Nummern 2.4, 5.4, 7.3.

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Ordnung oder gar geboten findet. An den durch die Autorität von Gefühlen verbindlich geltenden Normen muss man zwei Weisen unterscheiden, »für« jemand zu gelten: in der Perspektive von jemand und als Adressat. Der Kreis der Betroffenen im zweiten Sinn ist oft viel größer als der im ersten Sinn. Dann ist die Allgemeinheit subjektiv. Auf der vom Gefühl getragenen Autorität großer Massen gemeinsamer Überzeugungen und Probleme beruhen alle weltanschaulichen Kämpfe, beruht auch die Moral, nach Kant z. B. auf dem Gefühl der Achtung. Die zweite Errungenschaft, die ich an der Ästhetik Kants hervorheben möchte, besteht in der berühmten, oft angefochtenen Feststellung am Anfang des § 2 der KU: »Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse. Interesse wird das Wohlgefallen genannt, das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden.« Ihre Triftigkeit erhält diese Feststellung aus der Beziehung des Schönen zum spürbaren Leib. Ich habe unter 35.3.3 gegen Kants zu oberflächliche Begründung des Selbstbewusstseins (A108) auf die leiblich spürbare Beengung in primitiver Gegenwart als Quelle von Subjektivität und Identität hingewiesen und füge jetzt noch hinzu, dass es sich auch um die Quelle von Sein oder Existenz, wenigstens in unserem Erfahrungshorizont, handelt; 1288 ohne die Erfahrung leiblicher Einengung könnten wir keine Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem fiktiv Vorschwebenden machen, da es dafür kein (zirkelfreies) Kriterium gibt (35.3.4). Das Schöne hat die Kraft, uns solcher Enge zu entrücken, indem aus der Verschränkung von Engung und Weitung in einander – dem vitalen Antrieb, der Achse leiblicher Dynamik – Weitung freigesetzt wird. Man spürt das so: Vor dem Schönen wird uns das Herz weit, es geht uns auf, z. B. bei einer schönen Aussicht in die Ferne oder auf den Abendhimmel; wir sind entzückt, beschwingt, fühlen uns erleichtert vor dem Schönen, während das Hässliche abstößt und in die Enge des Leibes zurückschaudern lässt. Auf diese Weise entfernt das Schöne den von ihm Betroffenen auch von dem, was diesen am Sein oder der Existenz festhält, macht ihn gleichgültig dagegen und veranlasst ihn, die Existenz gleichsam zu überfliegen. Mein dritter Fund in Kants Ästhetik sind die ästhetischen Ideen: »Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. (…) Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anderes als 1288

Vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 27–32.

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das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.« (KU 192 f.) »Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine, einem gegebenen Begriff beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, dass für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken lässt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.« (KU 197) Kants Beispiele sind ganz unzulänglich. Man wird besser daran tun, an poetische Figuren wie Faust und Hamlet zu denken, die zu immer neu und anders gewendeter Darstellung auf der Bühne herausfordern, wodurch literarische Kritik und Reflexion angeregt werden, die wiederum zu Vortrag und szenischer Darbietung anregen usw. Auch hintergründige Dichtungen wie Kafkas Romane oder Goethes Wahlverwandtschaften können als ästhetische Ideen gelten, die den unaufhörlichen Wechsel von Interpretation und bloß aufnahmebereiter Vertiefung in das Original in Gang setzen, aber dazu genügen auch kleine dichterische Formen, Gedichte, die mehr zu sagen haben, als sich durch Reihung von Sätzen explizit sagen lässt. Wie sollen aber auf dem knappen Raum weniger Zeilen, z. B. eines japanischen Haiku, so ungeheuer und unerschöpflich viele Teilvorstellungen zusammenkommen? Kants Singularismus hindert ihn, an einen anderen Mannigfaltigkeitstypus als den numerischen vieler Einzelner zu denken. In Wirklichkeit handelt es sich um Situationen (29.1), die durch eine ganzheitliche, aber binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen zusammengehalten werden. Diese ist un-endlich nicht im quantitativen, sondern im privativen Sinn, weder endlich noch überendlich groß, weil keiner Anzahl fähig zu sein. Die Kunst des Dichters besteht darin, aus einer Situation, die in viele Situationen eingebunden oder eingetaucht sein kann, so sparsam einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme zu explizieren, dass die ganze Situation, die nicht direkt gesagt werden kann, durch den Schleier des Gesagten ungebrochen durchscheint. Kant hat dafür einen guten Ausdruck, indem er die ästhetische Idee als inexponible 419

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Kant

Vorstellung der Einbildungskraft in ihrem freien Spiele bezeichnet (KU 242). Goethe sprach von Symbolen. Nah verwandt mit den ästhetischen Ideen sind die Ideen als wissenschaftliche und philosophische Konzeptionen, die Kant auf den ersten Seiten des Architektonik-Kapitels der transzendentalen Methodenlehre der KrV (A832–838 B860–866) zur Sprache bringt und so charakterisiert: »Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne dass ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein, in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich zu Anfange von seiner Wissenschaft gibt, sehr selten seiner Idee; denn diese liegt, wie ein Keim, in der Vernunft, in welchem alle Teile, noch sehr eingewickelt, und kaum der mikroskopischen Beobachtung erkennbar, verborgen liegen.« (A834 B862) Es handelt sich sozusagen um eine inexponible Vorstellung des Verstandes, wie im vorigen Fall der Einbildungskraft. Kant findet es »schlimm«, dass der Urheber und seine Nachfolger oft lange um die Idee herumirren und viele Arbeit aufwenden müssen, bis es gelingt, »die Idee in hellerem Licht zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.« (A834 f. B861 f.) Dass er aber in dem nicht ausschöpfbaren Reichtum der Idee nicht nur einen Mangel für ein Übergangsstadium, sondern wenigstens im Fall der Philosophie auch ein endgültiges Schicksal sieht, scheint seine Formulierung anzudeuten: »Man kann also unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, aber nicht Philosophie (es sei denn historisch), sondern, was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosphieren lernen.« (A837 B865) Philosophie ist Ausformung des menschlichen Lebens in gedanklicher Rechenschaft als »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden zu seiner Umgebung«, wie ich mich oft ausgedrückt habe; sie teilt mit diesem Leben das Schicksal, entweder nicht ganz oder vorbei zu sein. Dafür gilt, was Jaspers so ausdrückt: »Man kann Ideen nicht anders erfassen, als nur dadurch, dass man in ihnen lebt.« 1289 Der Ästhetik-Teil der KU umfasst noch eine Analytik des Erhabenen, die dieses in der Natur als Produkt einer Verwechslung, ja Erschleichung (Subreption) ausgibt, indem die Erhöhung, die eigentlich dem Subjekt wegen seiner »Vernunftbestimmung« zukommt, in die Außenwelt projiziert wird (KU 97). »Also ist die Erhabenheit in Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 6. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1971, S. 477 (S. 465–486: Kants Ideenlehre).

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keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns überlegen zu sein uns bewusst werden können.« (KU 109) Das soll sogar für das Numinose gelten: »Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer bei dem Anblick himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tief beschatteter, zum schwermütigen Gedenken einladender Einöden usw. ergreift, ist bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um die Macht ebendesselben Vermögens zu fühlen, die dadurch erregte Bewegung des Gemüts mit dem Ruhezustand desselben zu verbinden und so der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohlbefindens Einfluss haben kann, überlegen zu sein« (KU 117). Aus der gespürten Abhängigkeit des Ergriffenen versetzt sich Kant zunächst in die distanzierte Position des geschützten Beobachters und schickt von da aus seine Einbildungskraft auf eine Patrouille zur Bewegtheit, aber mit der Seelenruhe im unversehrten Hintergrund, um durch geschickte Kombination beider Gemütszustände eine übernatürliche Erhabenheit zu empfinden. Sein Unabhängigkeitsstreben, seine ausgeprägte Selbstbezogenheit, erreicht damit einen merkwürdigen Höhepunkt.

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36. Fichte

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36.1 Ich Zwischen Kant und Fichte 1290 verläuft die tiefste Bruchstelle in der Geschichte der nachantiken Philosophie. Sie entsteht dadurch, dass in diese Geschichte zum ersten Mal ein Motiv eingeführt wird, das in der Antike gar keine Vorläufer hat. Über sich selbst haben die Menschen immer nachgedacht, ganz gewiss die Alten, aber nicht über die Eigenart der Identität und Identifizierung, die zustande kommt, wenn es sich bei etwas um mich selber – jeder denke an sich – handelt. In der Geschichte der Philosophie ist von Anfang an nach dem Menschen und seiner Stellung in der Welt gefragt worden, und die Antwort lautete, er sei von dieser oder jener Beschaffenheit und Bezogenheit auf anderes. Jeder konnte daraus das Seine für sich entnehmen, aber vor Fichte hat sich kein Philosoph und vielleicht niemand der Frage angenommen, was die Rede bedeutet, dass gerade ich dieser Mensch bin. »Das Schlimmste ist, dass es sich gar nicht objektiv denken, sondern nur innerlich fühlen lässt. Mein Ich, nicht das deinige. Wo ist der Unterschied? Freilich habe ich nur äußere Kennzeichen angegeben. Es scheint man kann nicht recht fixieren. – Das beste ist: es ist durchaus kein erzeugtes, sondern ein unmittelbar immanentes Wissen. – Wie ist die Vorstellung meines Schmerzes, u. des Schmer-

Ich zitiere Fichte nach der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA), Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 ff., mit vier Abteilungen: I Zu Lebzeiten veröffentlichte Druckschriften II Nachlass III Briefe IV Nachschriften. Im Zitat folgen nach der römischen Abteilungs- und der arabischen Bandziffer Seite (mit »S.«) und Zeile. – Wie für Kant stütze ich mich auch für Fichte auf eine Monographie von mir: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel, Bonn 1992, einschlägig S. 1–168 (ES). In der gegenwärtigen Darstellung beschränke ich mich auf die Motive Fichtes, die nach meiner Einschätzung geschichtsmächtige Tragweite besitzen, und verweise für das Übrige auf das Buch oder Darstellungen von fremder Hand.

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Ich

zes eines andern verschieden? Wer dieses sagt, findet es.« 1291 So ist vor Fichte nicht gefragt worden. Dabei liegt die Frage nahe, denn aus allen objektiven oder neutralen Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, ergibt sich für einen Menschen, den sie betreffen und dem sie in einem potentiell unendlich langen Steckbrief zugeordnet werden könnten, kein Grund für den Schluss darauf, dass er dieser Mensch ist. Ein triftiger Grund zu einer solchen Feststellung ergibt sich für (beispielshalber) mich erst, wenn mir in affektivem Betroffensein etwas nahegeht, denn nur dieses stellt mich als mich selbst, in dem Sinne, wie ein Jagdhund das Wild und die Polizei den Verbrecher stellt. Die Tatsache dieses affektiven Betroffenseins ist aber keine objektive, sondern eine für mich subjektive, die höchstens ich im eigenen Namen aussagen kann. Das bezeugt auch Fichte mit einem hübschen Beispiel für den Unterschied zweier Verwendungen des Wortes »ich«, einmal in Pronominalfunktion, sodann zur Anzeige der Subjektivität einer Tatsache des affektiven Betroffenseins: »Wenn ihr jemandem in der Finsternis zuruft; Wer ist da; und er gibt euch, in der Voraussetzung, dass seine Stimme euch bekannt sei, zur Antwort: Ich bin es: so ist klar, dass er von sich, als dieser bestimmten Person rede (…). Wenn ihr aber etwa – man verzeihe mir dieses Beispiel, das ich vorzüglich passend finde – einer Person an ihrem Leibe etwas an ihren Kleidungsstücken nähtet, schnittet und dergleichen und ihr verletztet unversehens sie selbst, so würde sie etwa rufen: höre, das bin ich, du triffst mich. Was wollte sie denn dadurch sagen? Nicht, dass sie diese Person sei, und keine andere, denn das wisst ihr sehr wohl; sondern dass das, was ihr getroffen, nicht ihr totes und fühlloses Kleidungsstück sei, sondern ihr lebendiges, und fühlendes Selbst; welches ihr nicht wusstet. (…) Diese Unterscheidung kommt im Leben unaufhörlich vor, und wir können ohne sie keinen Schritt auf dem Boden tun, und keine Hand in der Luft bewegen.« 1292 Von solchen subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins lässt sich mit Erfahrung und Konvention die Brücke von Gründen zu Hermann Schmitz schlagen, nicht aber umgekehrt; daran zeigt sich, dass die subjektiven Tatsachen nicht Schatten der objektiven sind, sondern die volleren, und diese ihre abgeblassten Reste. Das war auch Fichtes Meinung in der Zeit seiner originellen 1291 1292

GA II 6 S. 94, 16–27 (Materialien zur Wissenschaftslehre 1801/2). GA I 4 S. 256, 18–257, 4 (2. Einleitung in die Wissenschaftslehre § 9).

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Fichte

Konzeption (zwischen den letzten Oktobertagen und dem 8. Dezember 1793 1293 ) und ihrer ersten Reifung, deren Frucht die Rezension von Schulzes Kant- und Reinholdkritischem Aenesidemus war, wo Fichte schreibt: »Das Ich ist, was es ist, und weil es ist, für das Ich. Über diesen Satz hinaus kann unsere Erkenntnis nicht gehen.« 1294 »Freilich, A. will einen objektiven Beweis für die Existenz Gottes, und Unsterblichkeit der Seele. Was mag er sich dabei denken? oder ob ihm die objektive Gewissheit etwa ungleich vorzüglicher scheint als die – nur – subjektive? Das: Ich denke – selbst hat nur subjektive Gewissheit; und, so viel wir uns das Selbstbewusstsein Gottes denken können, ist Gott selbst für Gott subjektiv.« 1295 Diese Stelle bezeichnet eine Epochenwende in der Rede vom Subjekt. Kant versteht es noch substrathaft nach Art des aristotelischen Hypokeimenon als »Subjekt der Inhärenz« (KrV A355), als das Substantiale, das nach Weglassen aller Akzidentien übrigbleibt. 1296 Fichte verlegt die Bedeutung in das Für-jemand-subjektiv-sein als eine Seinsweise, die so stark ist, dass die Gewissheit darüber gleiches oder größeres Gewicht hat als die über das von Schulze allein zugelassene 1297 Ansichsein. Das Sein Gottes wird vermutungsweise als eine für ihn subjektive Tatsache hingestellt, die gemäß einem Zusatz in den Entwürfen der Rezension 1298 nur durch ihn ausgesagt werden kann. Diese Subjektivität wird in dem gleichzeitig entstandenen Manuskript Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie von Gott auf mich übertragen und verallgemeinert: »Alle obigen Grundsätze waren bestimmt durch das ›für mich‹. Für mich ist etwas absolut Notwendiges; für mich sind Grenzen der Wirklichkeit etc. Das möchte nun nichts tun: Denn, ich bin auch nur für mich. – Alles ist subjektiv, und es gibt gar nichts Objektives.« 1299 Das heißt, alle Tatsachen sind für jemand subjektiv. Einige Jahre später stellt Fichte die Subjektivität von Tatsachen mit einem durch seine drastische Banalität denkwürdigen Beispiel in Frage: »Ich schreibe, ich habe also eine Vorstellung von meinem Schreiben, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich Vgl. GA II 3, Einleitung der Herausgeber, besonders S. 6 f., 11 f. GA I 2 S. 57, 13 f. 1295 GA I 2 S. 65, 33–66, 5. 1296 Ak. XX 270, 18 f. (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik). 1297 GA I 2 S. 57, 10–12. 1298 GA II 2 S. 293, 2 f. mit dem Apparat zur Stelle: Nach »Was mag er sich dabei denken?« fügt Fichte ein: »Nur Gott kann sagen: Ich bin. Gott selbst für Gott«. 1299 GA II 3 S. 170, 16–19. 1293 1294

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Ich

nun, dass mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?« 1300 Fichte gibt damit eine Anwendung seiner Maxime: »Worin man befangen ist, was man selbst ist, das kann man nicht erkennen. Man muss aus ihm herausgehen, auf einen Standpunkt außerhalb desselben sich versetzen.« 1301 Seine Thematisierung des Subjektiven setzt eine ausgeprägte Neutralisierung des Tatsächlichen voraus. Er sucht nach einer Quelle, die dem Neutralisierten Subjektivität wieder zusetzt, und findet sie in der intellektuellen Anschauung: »Dieses dem Philosophen angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstsein, dass ich handle, und was ich handle; sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue. (…) Ich kann keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellektuelle Anschauung meines Selbstbewusstseins in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, dass ich es tue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln, und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objekte des Handelns.« 1302 Das Beispiel von Hand und Fuß verweist auf deren Erwähnung am Schluss der im vierten Paragraphen danach folgenden Stelle über die Verwendung des Wortes »ich« für affektives Betroffensein,1292 aber Fichte denkt weniger an dieses als an Handeln und Tun in sinnlichem Stoff und versteht solches konkretes Handeln als zusammengesetzt aus einer sinnlichen und einer intellektuell angeschauten Komponente: Der Philosoph findet die intellektuelle Anschauung nicht »als isoliertes Factum des Bewusstseins, sondern, indem er unterscheidet, was in dem gemeinen Bewusstsein vereinigt vorkommt, und das Ganze in seine Bestandteile auflöst.« 1303 Mit der nötigen Analyse verknüpft Fichte die problematische und in einen paradoxen Regress 1304 führende Vorstellung einer Zusammensetzung aus einem subjektiven und einem objektiven Bestandteil, statt GA IV 2 S. 232, 17–19. Der Band IV 2 enthält die anonyme Nachschrift einer von Fichte in Jena ab 1796 gehaltenen Vorlesung Wissenschaftslehre nova metodo. 1301 GA II 5 S. 119, 9–11 (Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [zum Atheismusstreit] § 8, 1799). 1302 GA I 4 S. 216, 36 – 217, 2. 11–15 (zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre § 5). 1303 Ebd. S. 218, 35–219, 4. 1304 Die von mir oft erörterte Paradoxie der Selbstzuschreibung, vgl. z. B. Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 68 f., auch ES 24–26, 34–36, 38–40, wo aber die zur völligen Auflösung gehörige Unterscheidung von Identität und Einzelheit (Was ist Neue Phänomenologie? S. 70–72) noch fehlt. 1300

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Fichte

aus der vollen subjektiven Tatsache die neutrale nur auszusondern. Eine wichtige Errungenschaft ist dabei aber, dass Fichte das Subjektive nicht als Akt, Zustand oder Eigenschaft charakterisiert, sondern sachverhaltlich (propositional) durch die Angabe, dass ich handle. Fichte bezieht sich für den Anteil der Subjektivität am gemeinen Bewusstsein auf Sachverhalte und Tatsachen, nicht auf Sachen oder Eigenschaften. Fichte verfügt nicht über mein Kriterium der Aussagbarkeit zur Unterscheidung subjektiver und objektiver Tatsachen, aber man tut seiner Konzeption von Ende 1793 und ihrer Entfaltung in den folgenden sechs Jahren zündender Wirksamkeit in Jena keine Gewalt an, wenn man sie im Licht dieser Unterscheidung als Entdeckung und Aufwertung der subjektiven Tatsachen bezeichnet, erst bis zur Leugnung aller Objektivität,1299 dann zur Verankerung des Unterschiedes der Tatsächlichkeit (nicht nur der Tatsachen) im untersten Grunde aller möglichen Kenntnis und Erkenntnis, so dass keine Information ihn ausgleichen kann. So bestimmt er selbst 1795 die »Seele meines Systems« und den Kern seiner Lehre vom Ich in einem Brief an seinen Amtsvorgänger Reinhold, so aufschlussreich für seine Denkweise, dass ein längeres Zitat am Platz ist: »Wer meine Schriften studieren will, dem rate ich, Worte Worte sein zu lassen, und nur zu suchen, dass er irgendwo in die Reihe meiner Anschauungen eingreife; fortzulesen, auch wenn er das Vorhergehende nicht ganz versteht, bis irgendwo an einem Ende ein Lichtfunken heraus springt. Dieser, wenn er ganz, und nicht halb ist, wird ihn auf einmal in die Reihe meiner Anschauungen, auf den Gesichtspunkt setzen, aus welchem das Ganze angesehen werden muss. Zum Beispiel die Seele meines Systems ist der Satz: Das Ich setzt schlechthin sich selbst. Diese Worte haben keinen Sinn, und keinen Wert, ohne die innere Anschauung des Ich durch sich selbst, die ich im Diskurs sehr oft aus Menschen entwickelt habe, die mich gar nicht begreifen konnten, und sodann mich vollkommen begriffen: es wird gesagt: dass ein Ich, und etwas ihm entgegengesetztes, ein Nicht-Ich sei, geht schlechthin allen Operationen des Gemüts voraus; und dadurch werden sie erst möglich. Es ist gar kein Grund, warum das Ich Ich, und das Ding nicht Ich sei, sondern diese Entgegensetzung geschieht absolut. (Wir lernen nicht aus der Erfahrung, was wir zu Uns rechnen, und nicht zu Uns rechnen sollen; ebensowenig gibt es einen Grundsatz a priori, nach welchem sich dies entscheiden lasse; sondern der Unterschied ist absolut, und erst durch ihn werden alle Grundsätze a priori, und alle Erfah426

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Ich

rung möglich)« 1305 Das Sichsetzen des Ich ist hiernach keine besondere Tätigkeit als konstituierendes Merkmal des Ichseins, und ebensowenig braucht das Ding oder Nicht-Ich einen entsprechenden Grund des Dingseins, denn sie befinden sich von vornherein auf verschiedenen Feldern der Tatsächlichkeit mit unübersteiglicher Grenze: Ein Ich zu sein, ist für jede mögliche Erfahrung und Kenntnisnahme anders, als ein Ding zu sein. Denselben Gedanken der jeder speziellen Information über Beschaffenheiten vorausgehenden Ursprünglichkeit der Subjektivität drückt Fichte drei Jahre später in Abwehr der Zurückführung meiner Wirksamkeit auf Abhängigkeit vom Gegebenen so aus: »(…) so liegt doch noch etwas in der Vorstellung von meiner Wirksamkeit, was mir schlechthin nicht von außen kommen kann, sondern in mir selbst liegen muss, was ich nicht erfahren und lernen kann, sondern unmittelbar wissen muss; dies, dass ich selbst der letzte Grund der geschehenen Veränderung sein soll.« 1306 Dass es sich um einen selbst handelt, ist also nichts, was man durch aufmerksames Registrieren des Vorfindbaren feststellen kann, sondern man muss es für jede Kenntnisnahme schon mitbringen, hier zur Wirksamkeit als der eigenen. Aus diesen Zeugnissen ist zu entnehmen, dass Fichtes konzeptionelle Errungenschaft in der Entdeckung der subjektiven Tatsachen, also der Inhomogenität der Tatsächlichkeit, besteht, womit er alle Vorgänger hinter sich gelassen und ein wesentliches und virulentes Motiv in die Geschichte des Denkens eingeführt hat. Fichte entdeckt für die Philosophie die Subjektivität, d. h. den Bereich der Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«, in einem strikten und radikalen Sinn, während alle Protagonisten der sogenannten »neuzeitlichen Subjektivität« vor ihm wie Descartes und Kant nur eine positionale Subjektivität kannten: die Subjektivität eines (z. B. als Quelle der Gewissheit oder als spontan konstituierender Organisator des Umfeldes möglicher Erfahrung fungierenden) Stelleninhabers, wobei unklar blieb, warum der gerade ich sein soll. Er geht mich so wenig an wie eine beliebige Sache im Milieu der objektiven Tatsachen, wie die res cogitans, die Descartes mit größter Selbstverständlichkeit aus dem cogito macht, ohne einen Verlust an Subjektivität zu befürchten. Leibniz1120 interessiert sich für das Ich nur als Modell einer einfachen Substanz, das er für seine Monaden-Meta1305 1306

GA III 2 S. 344, 4–22 (Fichte an Reinhold, 2. Juli 1795). GA I 5 S. 22, 32–23, 3 (Das System der Sittenlehre, Einleitung, 4.).

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physik braucht; Kant will in den siebziger Jahren, vor der Wendung zum kritizistischen Immanentismus des Paralogismenkapitels der KrV, eine Selbstanschauung des Ich als einfache, spontane Seelensubstanz aus dem bloßen Gebrauch der ersten Person des Singulars erweisen, ohne diesem Gebrauch und seiner Rechtmäßigkeit auf den Grund zu gehen (35.3.1), und belässt es später bei einer ihm unerklärlichen Spaltung des Selbstbewusstseins in ein bloß leer angezeigtes Ding an sich (das Subjekt der Apperzeption) und ein psychologisches Ich, das bloße Erscheinung ist, als Objekt. 1307 Erst Fichte besinnt sich auf Implikationen der Selbstzuschreibung. Daher hat er recht, wenn er dafür Originalität auch Kant gegenüber in Anspruch nimmt. 1308 Jedoch ist die Subjektivität im strikten Sinn, die er als erster systematisch ins Auge fasst, gelegentlich schon in der Mystik aufgeblitzt, so bei Meister Eckhart577 und in der Theologia Deutsch des anonymen Frankfurters (vor 1497), wo in Kapitel III steht: »Ob Gott auch alle Menschen an sich nähme, die da sind und jemals waren, und in ihnen allen vermenscht würde und sie in ihm vergottet, und es geschähe nicht auch an mir, mein Fall und Abkehren würde nimmer gebessert, es geschähe denn auch in mir.« 1309 Buchstäblich ist es ein Widerspruch, dass mit allen Menschen nicht auch ich, der ich ein Mensch bin, so begnadet werden sollte, aber der Autor will offenbar dem Empfinden Ausdruck geben, dass an der Begnadung dieses Menschen noch etwas fehlt, wenn nicht eigens hinzugenommen wird, dass er ich ist.

36.2 Die rezessive Entfremdung der Subjektivitt Fichte hat seine Entdeckung der strikten Subjektivität niemals zur vollen Klarheit gebracht, sondern sie mit bösen Folgen für die Rezipienten und Verbreiter dieser Entdeckung durch verschiedene Gegenmotive verstellt. Ein erstes ist seine Auffassung des SelbstAk. XX 270, 1 – 271, 3 (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik). GA IV 2 S. 73 Z. 13–19 (wie Anm. 1300): »Die Beziehung der Anschauung auf mich, wodurch sie meine Anschauung wird, ist nichts als ein Gefühl. Denn warum erscheint mir meine Anschauung als die meine? warum nicht als Bewegung-Eindruck p. von etwas außer mir? Warum rechnen wir unsere Vorstellungen als zu uns gehörig? Eine wichtige Frage, die bisher noch nie, auch von Kant nicht, aufgeworfen wurde.«. 1309 Eine deutsche Theologie, übertragen von Joseph Bernhart, München o. J. (published under Military Government Control), S. 134. 1307 1308

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Die rezessive Entfremdung der Subjektivitt

bewusstseins, die sich keineswegs an seine unter 36.1 entwickelten Gedanken anschließt. Die Subjektivität ist dort immer sachverhaltlich oder propositional verstanden, als Tatsache, dass ich bin oder etwas tue, z. B. Hände und Füße bewege. Beim Selbstbewusstsein verkennt Fichte dessen propositionale Züge und besteht mit größter Hartnäckigkeit darauf, dass in sich zurückgehendes Handeln und Identität von Subjekt und Objekt das Selbstbewusstsein ausmachten und damit das Ich zustande komme. 1310 In Wirklichkeit ist Identität von Subjekt und Objekt für Selbstbewusstsein weder notwendig noch zureichend. Ernst Mach berichtet: »Ich stieg einmal nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, als eben von der anderen Seite ein Mann hereinkam. ›Was steigt da doch für ein herabgekommener Schulmeister ein‹, dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber befand sich ein großer Spiegel.« 1311 Als Mach zuerst in den Spiegel sah, waren Subjekt und Objekt er selbst, identisch, aber dieses Bewusstsein war kein Selbstbewusstsein; hätte er dagegen irrig geglaubt, der Gespiegelte sei kein anderer, wäre er dadurch seiner selbst bewusst gewesen. Statt der Identität ist also die Identifizierung von etwas mit einem selbst für Selbstbewusstsein hinreichend, übrigens nicht einmal notwendig; denn außer dem identifizierenden Selbstbewusstsein, der Selbstzuschreibung, gibt es auch noch das Sichspüren in bloßem affektivem Betroffensein, wo in primitiver Gegenwart (35.3.3) Identität und Subjektivität in unbestimmter Eindeutigkeit zusammenfallen, so dass es keiner Identifizierung mehr bedarf. Hätte Fichte wenigstens auf die Identifizierung geachtet, also auf die Meinung, dass da jemand, der z. B. schreibt1300 oder Schmerzen hat,1291 ich selbst bin, so wäre ihm der Anschluss an die intellektuelle Anschauung, dass ich bin oder meinetwegen handle, leicht gefallen; durch die Verwechslung der Identifizierung mit Identität versperrt er sich diesen Zusammenhang. Stattdessen versteift er sich auf das in sich zurückgehende Handeln, das ja besser als der Reinhold gegebene Aufschluss1305 zum Wortlaut des Satzes »Das Ich setzt schlechthin sich selbst« passt. Durch das Zurückgehen in sich schließt das Ich sich ab, oder vielmehr, da es dadurch sich setzt, wird es zu einem Kreis, der sich selbst beIch habe die Stellen in ES, S. 46 f. Anmerkungen 83 und 84 zusammengetragen. »In sich zurückgehendes Handeln« ist übrigens widersinnig, da Handeln auf Veränderung, also auf ein vom Start verschiedenes Ziel, hinaus will. 1311 Ernst Mach, die Analyse der Empfindungen, 7. Auflage Jena 1919, S. 3 Anm. 1. 1310

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Fichte

schreibt, als reines In-sich-kreisen, eine Tathandlung, wie Fichte sagt, d. h. eine Tat, die sich selbst tut und weiter nichts. Er begeht damit denselben Fehler wie Kant im Paralogismenkapitel (35.3.4), aus der nicht-pronominalen Verwendung der ersten Person des Singulars den Anspruch auf eine Information über eine dadurch benannte Sache (statt über die Subjektivität eines Sachverhaltes) herauszulesen, aber während Kant die Information leer lässt, macht Fichte daraus das Absolute, das im Grunde ebenso leer ist, allerdings im höchsten Grade mit Spontaneität begabt wie das transzendentale Ich, dem Kant diese Spontaneität im Widerspruch mit dessen angeblicher Unerkennbarkeit gelassen hatte. Fichte isoliert das absolute Ich so, dass er es nicht mehr anbinden kann; die bloße Subjektivität von Tatsachen im Licht der intellektuellen Anschauung, dass ich selbst z. B. schreibe oder ein Schneider mich sticht, hätte mit solcher Isolierung nichts zu tun. Ein zweiter Grund dafür, dass Fichte sich die Subjektivität verstellt, ist sein Erkenntnisinteresse. Die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die Fichte als »vorzüglich passend«1292 zur Illustrierung des Ich einsetzt, sind die voll konkreten, aus denen zwar durch eine Art von Schrumpfung oder Verblassung die bloß noch neutralen oder objektiven abgezogen werden können, während es im Gegenteil nicht möglich ist, die Subjektivität, das bloße Mir-Nahegehen, rein herauszulösen. Es findet also keine Zusammensetzung zweier Bestandteile statt, wie Fichte meint,1303 aber er ist nicht an der Konkretion interessiert, sondern an der Befreiung durch objektivierende Reflexion. Bezeichnend dafür ist ein »Blitzgedanke«, den er sich in den ersten Wochen der Konzeption bei Niederschrift noch gärender Ideen unten auf der Seite notiert: »Ein Blitzgedanke! je höher die Vorstellung dem reinen Ich kömmt dem Bewusstsein, desto mehr wird wieder das, was vorher ›Ich‹ war, ›nicht-Ich‹. Sollte sich dieses Verhältnis nicht deutlich berechnen lassen. – Ich glaube es geht immer durch die Dreiheit. Ich – Mittelding – Nicht-Ich. Bei der Anschauung ist die Zeit – Ichlich – beim Begriffe wird sie Nicht-Ichlich. – Der Begriff aber Ichlich. (Alles Spontane ist Ichlich, alles Notwendige Nicht-Ichlich.) – So in der MoralPhilosophie ist der Begriff wieder Nichtichlich. – So steigt man schon in der theoretischen Philosophie herauf zur Freiheit. – Ohne Freiheit ist gar nichts möglich. – O ihr Fatalisten, wie steht ihr beschämt da.« 1312 Hiernach ist die 1312

GA II 3 S. 123, 26–35 (Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie).

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Theorie als gestufte Distanzierung vom zunächst Gegebenen durch objektivierende Reflexion selbst schon Akt und Erweis der Freiheit, der nicht auf die außergedankliche Praxis zu warten braucht und die Fatalisten beschämt, weil sie die Freiheit, die sie leugnen, als Reflektierende selbst ausüben müssen. Auch später ist Fichte bereit, die Freiheit der Reflexion über das bloße Erkennen schon zum Praktischen zu rechnen. 1313 Die Reflexion verbindet Theorie und Praxis als die Distanzierungskraft, das Ich zu absoluter Selbstständigkeit und Gewalt über sich nicht nur von allem Äußeren loszureißen, sondern sogar in sich zu spalten. 1314 Beide Motive Fichtes, das in sich zurückgehende Handeln des sich setzenden Ichs und die durch objektivierende Abspaltung befreiende Reflexion, setzen die zum Ich gleichsam verdickte Subjektivität in eine undurchlässige Kapsel, in der ihm der doch unvermeidliche Kontakt mit dem Nicht-Ich zum Skandal wird. Zwei Wege zeichnet Fichte zum Entkommen aus dem Skandal, aber der eine ist verzweifelt und der andere schwindlig. Der verzweifelte Weg besteht darin, die Last des Widerspruchs in Gestalt seiner Verwandlung in den kategorischen Imperativ von der Theorie auf die Praxis abzuwälzen, bis in alle Ewigkeit mit Sisyphusarbeit bei der unmöglichen Aufgabe zu verweilen, das Nicht-Ich wo nicht wegzuschaffen, doch zurückzudrängen, um das gegen alle Ausgesetztheit immune absolute Ich zustande zu bringen, was nie gelingen kann, 1315 »wodurch der Knoten nicht sowohl gelöst, als in die Unendlichkeit hinaus gesetzt wird.« 1316 Dieser Strategie des trotz mehr oder weniger siegreichen Vordringens nie endenden Ermattungskrieges, die schon in der ReGA II 5 S. 413, 9–13: »Schelling sagt: ohne unsere praktische Natur würde man nicht auf den transzendentalen Idealismus getrieben werden. Ich antworte: rechnest du auch die Freiheit der Reflexion (über das bloße Erkennen) zum Praktischen, dann hättest du recht. Wo nicht, so wird man schon durch die bloße Reflexion auf unser Wissen zum Idealismus getrieben.« (Bemerkungen bei der Lektüre von Schellings transzendentalem Idealismus, 1800). 1314 Das System der Sittenlehre (1798), GA I 5 S. 128, 4–6: »Durch die beschriebene Reflexion reißt das Ich sich los von allem, was außer ihm sein soll, bekommt sich selbst in seine eigene Gewalt, und stellt sich absolut selbstständig hin.« S. 80, 34–81, 8: Dem Ich, »welches durch die absolute Reflexion auf sich selbst sich losgerissen hat von sich selbst, und selbstständig hingestellt«, steht gegenüber »das objektive, strebende und treibende Ich«. 1315 GA I 2 S. 277, 24–35 und 403, 28–404, 4 (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre) (GW). 1316 GA I 2 S. 311, 19 f. (ebd.). 1313

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Fichte

zension des Aenesidemus als die Methode der Wahl angekündigt wird, 1317 steht die umgekehrte Methode des Rückzugs durch sich distanzierende Reflexion zur Seite. Auch auf diesem Weg ist das reine Ich ein unendlich fernes Ziel, bloß »ein Regulativ für das Denkvermögen«, 1318 auf das das »absolute Abstraktionsvermögen« mit der Richtschnur angesetzt wird: »Wenn alles Objektive aufgehoben wird, bleibt wenigstens das sich selbst bestimmende, und durch sich selbst bestimmte, das Ich, oder das Subjekt übrig.« 1319 Dieses Ziel ist aber nicht erreichbar, denn die Abstraktion kann nur distributiv, nicht kumulativ stattfinden: »Alles, von welchem ich abstrahieren, was ich wegdenken kann [wenn auch nicht auf einmal, doch wenigstens so, dass ich von dem, was ich jetzt übrig lasse, hinterher abstrahiere, und dann dasjenige übrig lasse, von dem ich jetzt abstrahiere] ist nicht mein Ich, und ich setze es meinem Ich bloß dadurch entgegen, dass ich es betrachte als ein solches, das ich wegdenken kann. Je mehreres ein bestimmtes Individuum sich wegdenken kann, desto mehr nähert sein empirisches Selbstbewusstsein sich dem reinen; – von dem Kinde an, das zum ersten Male seine Wiege verlässt, und sie dadurch von sich selbst unterscheiden lernt, bis zum popularen Philosophen, der noch materielle Ideen-Bilder annimmt, und nach dem Sitze der Seele fragt, und bis zum transzendentalen Philosophen, der wenigstens die Regel, ein reines Ich zu denken, sich denkt, und sie erweist.« 1320 Weiter, als die Regel der fortschreitenden Abstraktion zu denken und zu erweisen, kann also auch der Virtuose der Abstraktion und Reflexion, der transzendentale Philosoph, nicht kommen; das reine Ich bleibt auch auf dem Weg des Rückzugs unerreichbar. Aber dieser Weg hat einen Vorzug vor dem praktischen des ewig vergebens an Vertreibung des Nicht-Ich arbeitenden Sisyphus: die Wendigkeit des distributiven Vermögens, sich bald von dieser, bald von jener Position zurückzuziehen, jede objektivieren und damit Abstand von ihr nehmen zu können, an keinen Standpunkt gebunden zu sein. Dadurch gewinnt das absolute Abstraktionsvermögen einen spielerischen Zug, den sich die Romantiker zunutze gemacht haben. Die Subjektivität wird im Hinblick auf das reine Ich durch rezessive Entfremdung realisiert, durch die Kunst, sich in objektivierender Abstandnahme 1317 1318 1319 1320

GA I 2 S. 65, 1–12. GA II 3, 14 f. (Von den Pflichten der Gelehrten). GA I 2 S. 382, 30–381, 4. Ebd. S. 383, 6–17.

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Die rezessive Entfremdung der Subjektivitt

aus allem herauszuhalten, nicht auf einmal, sondern durch Wechsel des Standpunktes. »In der Vorstellung stehen demnach Ich und Nicht-Ich in Wechselwirkung«; dennoch versucht Fichte »in einer noch höhern Reflexion (…) das Ich selbst als das schlechthin Bestimmende« zu erweisen, und »so wird das Nicht-Ich in jedem Falle wieder ein durch das Ich bestimmtes (…): und so steht das Ich (…) bloß mit sich selbst in Wechselwirkung: eine Wechselwirkung, in der das Ich mit sich selbst vollkommen vereinigt ist, und über welche keine theoretische Philosophie hinauf steigt.« 1321 Aber diese Versöhnung kommt zu früh. Am Ende des folgenden, der praktischen Philosophie gewidmeten § 5 von GW1315 führt Fichte nämlich diesen Kunstgriff, die Wechselwirkung zwischen Ich und Nicht-Ich nur vom Ich her abzulesen und dadurch in eine vom Nicht-Ich nur vermittelte Wechselwirkung des Ich mit sich selbst umzudeuten, noch einmal vor, aber nun macht er einen Einwand, den er »interessant« findet: Die bestimmende Tätigkeit des Ichs ist selbst begrenzt, weil auf ein bestimmtes Objekt bezogen, aber das Ich – offenbar, da es im Sichsetzen aufgeht – kann sich nicht selbst begrenzen und muss daher von einem anderen begrenzt werden, das dann abermals vom Ich bestimmt werden kann usw. »Das Resultat dieser Untersuchung würde sein, dass wir unserm Gegner in die Unendlichkeit keinen einzigen Moment würden aufzeigen können, in welchem nicht für das Streben des Ich eine unabhängige Realität außer dem Ich vorhanden wäre; er aber auch uns keinen, in welchem nicht dieses unabhängige Nicht-Ich vorgestellt, und auf diese Art von dem Ich abhängig gemacht werden könnte. Wo liegt nun das unabhängige Nicht-Ich unsers Gegners, das durch jene Argumentation erwiesen werden sollte? Offenbar nirgends, und allenthalben zugleich. Es ist nur da, wenn man es nicht hat, und es entflieht, sobald man es auffassen will.« 1322 »Dies, dass der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss (ein Ding an sich) und dennoch von der andern Seite anerkennen muss, dass dasselbe nur für ihn da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel, den er ins Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann.« 1323 Durch diese Einsicht bleibt die Wissenschaftslehre »in ihren innersten Tiefen transzendental«, in der Mitte 1321 1322 1323

Ebd. S. 384, 8 f. 12–20. Ebd. S. 413, 16 – 414, 8. Ebd. S. 412, 20–24.

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Fichte

zwischen dogmatischem Idealismus und transzendentem realistischem Dogmatismus. 1324 Ich werde deshalb vom transzendentalen Zirkel sprechen. In gewisser Weise ist der transzendentale Zirkel dem absoluten Abstraktionsvermögen gleich, weil in beiden Fällen ein unendlich fortsetzbarer Wechsel zwischen Befreiung und Bindung formuliert wird: In der distributiven Abstraktion befreit sich das Ich von einem Objekt, das es wegdenken kann, und erhebt sich darüber durch objektivierende Reflexion, die es aber auf einen neuen Standpunkt versetzt und dadurch wieder bindet. Der Unterschied besteht aber darin, dass der transzendentale Zirkel das absolute Abstraktionsvermögen dynamisiert: Die Abstraktion, d. h. den Wechsel des Standpunktes durch objektivierende Reflexion, kann man auch lassen, und dann ruht das Vermögen; dagegen treibt der Dialog von realistischem Einwand und idealistischer Widerrede und umgekehrt den transzendentalen Zirkel immer weiter, so dass die Treppe des absoluten Abstraktionsvermögens zur Schraube ohne Ende wird, die sich unaufhörlich dreht. Diese Dynamik passt wenig zu der Rolle des Grundsteins, die Fichte dem transzendentalen Zirkel als dem gewissermaßen letzten Wort seines Systems zubilligt: »So wie die aufgestellte Idee der Grundstein des ganzen Gebäudes von innen ist, so gründet sich darauf auch die Sicherheit desselben von außen. Es ist unmöglich über irgendeinen Gegenstand zu philosophieren, ohne auf diese Idee, und mit ihr auf den eignen Boden der Wissenschaftslehre zu geraten.« 1325 In Wirklichkeit ist der transzendentale Zirkel ein fortgesetzter Entzug jedes Standpunktes in der Frage von Befreiung oder Bindung, Unabhängigkeit oder Abhängigkeit des Ichs. Das Denken, das sich auf ihn einlässt, gerät mit der Drehung der Schraube in einen Schwindelzustand. Das muss auch Fichte empfunden haben. Nach vier Jahren, in der Vorlesung des Winters 1798/99, hält er an dem Zirkel nur noch mit Verschiebung der fairen Ausgewogenheit beider Ansichten zugunsten der idealistischen fest; von der realistischen bleibt nur das Stigma unserer Endlichkeit, hinter dem Gesetzten etwas von unserem Setzen Unabhängiges suchen zu müssen, ohne dass schon gesagt werden dürfte, wir stellten es uns nur vor. 1326 In der Ebd. S. 411, 36; 412, 24–30. Ebd. S. 415, 21–24. 1326 GA IV 3 S. 383 Z. 6–11.14: »Eigentlich ist es nur dieser Zirkel, der uns begrenzt. Immerfort, wenn wir etwas setzen in uns als außer uns; so müssen wir etwas anderes 1324 1325

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Die rezessive Entfremdung der Subjektivitt

Bestimmung des Menschen (1800) wird die Schraube zugunsten der idealistischen Befreiung von aller Abhängigkeit des Ich so überdreht, dass sie auch das Ich selbst erreicht und in eine bloße Vorstellung ohne Vorstellenden verdampft. Der Sprecher Fichtes, genannt »Der Geist«, führt einen zuvor von seiner vermeintlichen Unfreiheit unter dem Naturgesetz gequälten Schüler durch Übertreibungen eines exzessiven Immanenzdogmas in der Weise Kants,1180 also mit unklarer und ungerechtfertigter Verwendung der Präposition »in« (»in mir«, »in meinem Bewusstsein« usw.), über die Aufhebung der Realität der Außenwelt bis zur Aufhebung der Realität des Ichs, so dass der Schüler ausruft: »Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind (…) Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt.« 1327 Die Schuld an solcher Depersonalisation und Derealisation gibt der aus dem Entsetzen wieder zu sich gekommene Belehrte, der als Schüler »Ich« hieß und nun in der ersten grammatischen Person weiterspricht, einer Spekulation, die nur der transzendentale Zirkel sein kann: »Ich weiß allerdings, und muss der Spekulation gestehen, dass man auf jede Bestimmung des Bewusstseins wieder reflektieren, und ein neues Bewusstsein des ersten Bewusstseins erzeugen könne, dass dahinter suchen, als nicht abhängig von uns u. s. f. Wer dieses Gesetzes sich nicht bewusst wird, der sagt: alles was ist, stellen wir uns nur vor; und ist transzendenter Idealist; wer aber glaubt, dass Dinge ohne unsere Vorstellungen da sein können, ist Dogmatiker. (…) Die Endlichkeit vernünftiger Wesen besteht darin, dass sie erklären müssen.« (Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift Krause). 1327 GA I 6 S. 251, 11–20. Höijer, ein dänischer Hörer der Vorlesung Fichtes über Logik und Metaphysik nach Platner im Sommer 1798, berichtet in seiner Nachschrift von einem damals geführten Gespräch mit Fichte, worin dieser das Projekt einer populären Schrift Die Bestimmung des Menschen entwickelt habe. Darin fehlt noch jeder Hinweis auf Zersetzung des Ichs; der Übergang von der Naturnotwendigkeit zur Freiheit und weiter zur Religion soll von dieser aus zeigen, dass »die Natur mit all ihren Erscheinungen (…) nichts anderes mehr ist als Erinnerungen an Pflicht«, um den durch Verlust der positiven Religion in Schwanken geratenen guten Menschen einen Ersatz zu bieten (GA IV 3 S. 232, 5–14).

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Fichte

man dadurch das unmittelbare Bewusstsein stets um eine Stufe höher rückt, und das erste verdunkelt, und zweifelhaft macht; und dass diese Leiter keine höchste Stufe hat. Ich weiß; dass alle Skepsis auf dieses Verfahren, ich weiß, dass jenes Lehrgebäude, das mich so gewaltig erschüttert hat, auf die Durchführung und auf das deutliche Bewusstsein dieses Verfahrens sich gründet.« 1328 Mit dem Raisonnement des sogenannten Geistes hat diese formale Konstruktion sich aufschichtender Reflexionen wenig zu tun, da er mit dem Immanenzdogma in einer an Berkeley erinnernden Weise durch Umdeutung von Erfahrungen an der Umwelt (Sinnesqualitäten, Dinge, Raum usw.) vorgeht und erst ganz zuletzt wie durch Zufall seinen Schüler auch noch das Ich angreifen lässt. Hinter solchem Raisonnement greift Fichte also sein eigenes Verfahren an, das er in Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als den »Grundstein des ganzen Gebäudes«1325 ausgezeichnet hatte. Der belehrte Sprecher in Die Bestimmung des Menschen verwirft, um der Verwirrung zu entkommen, mit dem Raisonnement des »Geistes« auf diese Weise die bisher von Fichte entwickelte IchPhilosophie: »Ich weiß, dass wenn ich mit diesem Lehrgebäude nicht bloß ein andere verwirrendes Spiel treiben, sondern nach demselben wirklich verfahren will, ich jener Stimme in meinem Innern den Gehorsam versagen muss. Ich kann nicht handeln wollen, denn ich kann nach jenem Lehrgebäude nicht wissen, ob ich handeln kann (…). Aller Ernst und alles Interesse ist denn rein aus meinem Leben vertilgt, und dasselbe verwandelt sich, ebenso wie mein Denken, in ein bloßes Spiel, das von nichts ausgeht und auf nichts hinausläuft. Soll ich jener inneren Stimme den Gehorsam versagen? – Ich will es nicht tun.« 1329 Fichte hat es durch die rezessive Entfremdung der Subjektivität und das Setzen auf die objektivierend sich distanzierende Reflexion als Vehikel der Annäherung an das stofflose reine Ich so weit gebracht, dass die von ihm entdeckte strikte Subjektivität, die den bloß neutralen Tatsachen erst das Blut und die Farbe des Mir-Nahegehens gibt, alles vertreibt, was mir nahegehen und als meine Sache wichtig sein kann. Dass ich es bin, der Hand und Fuß bewegt und von der Nadel gestochen wird, wie die intellektuelle Anschauung bezeugt (36.1), ist auf der Leiter des Aufstiegs zum Ich durch absolutes Abstraktionsvermögen und transzendentalen Zirkel verloren gegangen. 1328 1329

GA I 6 S. 256, 19–37. Ebd. S. 257, 1–10.

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Die Wissenschaftslehre

Dem von dem Verlust Erschütterten bleibt nichts übrig, als sich »in dem Standpunkte des natürlichen Denkens« zu halten1329 und das bisher auch in Bezug auf Gott bei Fichte dominierende Interesse an Freiheit und Selbstständigkeit zugunsten einer in langen gebetsähnlichen Tiraden im 3. Buch der Bestimmung des Menschen bezeugten Gottseligkeit und Gottergebenheit zu opfern. 1330 Das Ich ist für Fichte fortan nur noch ein Widersacher und die schlimmste Hemmung solcher Gottseligkeit, wie folgendes Gedicht bezeugt: Nichts ist denn Gott, und Gott ist Nichts denn Leben: Du schauest, ich mit dir schau’ in Verein, Doch wie vermöchte Schauen dazusein, Wenn es nicht Wissen wär von Gottes Leben? »Wie gern, ach! wollt ich diesem hin mich geben: Allein, wo find’ ich’s? Fließt es irgendein Ins Wissen, so verwandelt’s sich in Schein, Mit ihm gemischt, mit seiner Hüll’ umgeben.« Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet, Dein Ich ist sie: es sterbe, was vernichtbar, Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben.

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Durchschaue, was dies Sterben überlebet, So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar; Und unverschleiert siehst du göttlich Leben. 1331

36.3 Die Wissenschaftslehre Fichte belegt die Philosophie aus sprachlichem Purismus mit dem Namen »Wissenschaftslehre« und stellt sein System unter diesem Titel in einer langen Reihe sehr unterschiedlicher Vorlesungs- oder Vortragszyklen vor; nur den ersten und allein unmittelbar wirksam gewordenen, die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (GW), hat er zum Druck gegeben. Da die Tragik des Denkers, seine wichtige Entdeckung unter dem Einfluss von Gegenmotiven nie zur Klarheit 1330 1331

Dieser Kontrast wird genauer vorgeführt in ES, S. 140–142. GA II 9 S. 454.

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Fichte

gebracht und, als sie ihm unheimlich wurde, verworfen zu haben, schon zutage getreten ist, werde ich die Wissenschaftslehren hier nur in ganz summarischer Raffung besprechen, indem ich für das Nähere auf die Analysen in ES verweise. In GW beginnt Fichte mit Aufstellung der beiden Grundsätze »Das Ich setzt schlechthin ursprünglich sein eigenes Sein« und »Dem Ich wird schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich.« Die versuchte Zurückführung auf Gesetze der formalen Logik ist hilflos; es kommt aber auch nicht darauf an, weil die Motivation des ersten Grundsatzes schon klar geworden ist. Missglückt sind die Grundsätze deshalb, weil ihre von Fichte behauptete Unvereinbarkeit nicht zu erkennen ist, wie immer man den Ausdruck »Nicht-Ich« auch verstehen mag. Tatsächlich meint Fichte andere Formulierungen, die er an unauffälliger Stelle später einfließen lässt, z. T. mit der falschen Behauptung, sie seien früher schon vorgekommen; der Grund dieser Verwirrung dürfte in der Überstürzung des Vortrages liegen, zu der Fichte gezwungen war, weil er durch die rasche Berufung nach Jena Gedanken formulieren musste, die noch nicht ausgereift waren. 1332 Diese Formulierungen, aus denen tatsächlich eine Unverträglichkeit folgt, lauten: »Im Ich ist nur, was durch das Ich gesetzt ist« 1333 und »Das Ich kann sich nicht selbst beschränken«; 1334 wenn hinzugenommen wird, dass es tatsächlich (sogar ursprünglich) beschränkt ist, wie Fichte expressis verbis allerdings erst nach GW formuliert, 1335 ergibt sich in der Tat ein Widerspruch. Sein und Wesen des Ich bestehen bloß darin, dass es sich als seiend setzt; 1336 dazu passt keine Beschränktheit. Dieses Ich ist übrigens auch als individuelles (»mein Ich«) gemeint, 1337 entgegen einer späteren Behauptung Fichtes; der Zwiespalt zwischen Individualität und überindividueller Absolutheit ergibt sich aus der Spannung zwischen der Subjektivität »für mich« (36.1) und der rezessiven Entfremdung (36.2). Die beiden Grundsätze sinken durch ihre von Fichte ihnen zugeschriebene Unvereinbarkeit zu korrekturbedürftigen Hypothesen Vgl. GA I 2 S. 98, Vorwort der Herausgeber. GA I 2 S. 371, 6 f.; 388, 35 f.; 401, 4 f. (GW) und in anderen Schriften, vgl. ES, S. 69, Anm. 138. 1334 GA I 2 S. 413, 27 f.; 433, 30 f.; 445, 8 (GW). 1335 Stellen ES, S. 69, Anm. 140. 1336 GA I 2 S. 259, 23 f. 1337 GA I 2 S. 263, 11, vgl. 282, 10 (»eines jeden Ich«), 420, 17 f. (»Jeder, der mit uns die gegenwärtige Untersuchung anstellt, ist selbst ein Ich.«). 1332 1333

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Die Wissenschaftslehre

herab, vergleichbar der Thesis und Antithesis in Kants Antinomien, die dieser mit dem Schlüssel des transzendentalen Idealismus reguliert. Eine erste Regulierung versucht Fichte mit einem dritten, als Versöhnungsmittel abgeleiteten Grundsatz der Quantifizierung: Im Ich wird einem teilbaren, d. h. endlichen und begrenzten, Ich ein ebenso teilbares Nicht-Ich gegenübergestellt. Der Konflikt besteht jetzt nicht mehr zwischen Ich und Nicht-Ich, sondern zwischen Unbeschränktheit und Beschränktheit (Endlichkeit) des Ich. Diese doppelte Fassung des durch GW zu bewältigenden Zwiespaltes, eine dialogische und eine monologische, zieht sich durch das ganze Buch: Dialogisch handelt es sich um Unabhängigkeit oder Abhängigkeit des Ichs im Verhältnis zum Nicht-Ich, monologisch um seine Entzweiung in sich zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit. In dem der theoretischen Philosophie gewidmeten § 4 von GW gewinnt Fichte nach »bloßen Hypothesen« versuchter Ausgleichungen – einem schwer durchschaubaren »Glasperlenspiel« formaler Konstruktionen – ein »Faktum«, dem er »Realität« zuschreibt, aber nicht durch unmittelbaren Aufweis, sondern als einzig gangbaren Ausweg aus dem vorausgesetzten Widerspruch in der monologischen Fassung; 1338 es ist das »Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren, dieser Widerstreit derselben mit sich selbst«. 1339 Diese Einbildungskraft ist kein Seelenvermögen, wie der Name sagt, sondern ein Zustand instabiler, ambivalenter Mannigfaltigkeit der von den Neuplatonikern (15.2; 16.3; 18.3) und Duns Scotus (23.2) gepflegten Art, wo mehrere Sachen um Identität mit derselben Sache konkurrieren. »Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproduziert, indem das Ich Unvereinbares vereinigen will, jetzt das Unendliche in die Form des Endlichen aufzunehmen sucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder außer derselben setzt, und in dem nämlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft.« 1340 Dieses Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit des Ich entspricht genau der irritierenden Überlagerung von Dame und Puppe im Schaufenster oder Wachsfigurenkabinett nach Husserl (15.2); da1338 1339 1340

GA I 2 S. 364, 36–365, 9. GA I 2 S. 360, 30 f. GA I 2 S. 359, 7–14.

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Fichte

bei »erscheint in eins mit der Puppe zugleich die Dame: zwei perzeptive Auffassungen, bzw. zwei Dingerscheinungen durchdringen sich, nach einem gewissen Erscheinungsgehalt sich sozusagen deckend. Und sie durchdringen sich in der Weise des Widerstreits, wobei der aufmerkende Blick bald dem einen, bald dem anderen der erscheinenden, aber sich im Sein aufhebenden Objekte zuwenden kann.« 1341 Es handelt sich um eine widerspruchsfreie Struktur, denn keine unvereinbaren Sachverhalte werden als Tatsachen ausgegeben, sondern in einem Verdrängungswettbewerb, einer dynamischen Konkurrenz der Gegenteile, ist ein Drittes unentschieden, ob es dieses oder jenes ist. Die Einbildungskraft nach Fichte ist nur eine andere Fassung desselben Gedankens, der sich auch im absoluten Abstraktionsvermögen und im transzendentalen Zirkel ausdrückt: des Gedankens der Untrennbarkeit und Unausgleichbarkeit zweier zwiespältig zusammengehöriger Seiten des Ichs, nämlich der Unendlichkeit und der Endlichkeit (monologisch) oder Unabhängigkeit und Abhängigkeit (dialogisch). Die Einbildungskraft hält den Zwiespalt durch Schweben zusammen, das absolute Abstraktionsvermögen durch seine distributive Eigenschaft, die Befreiung durch Reflexion mit der Bindung an einen neuen Standpunkt zu vereinigen, und der transzendentale Zirkel durch die Schraube ohne Ende gegenseitiger Aufhebung der Seiten des Zwiespalts in dialogischer Fassung. Der weitere Gedankengang in § 4 von GW führt von der Einbildungskraft in einem »Deduktion der Vorstellung« betitelten Abschnitt zur Vorstellung des Vorstellenden im absoluten Abstraktionsvermögen. Das bloße Schweben, das alles unentschieden lässt, soll nach dem folgenden § 5 von GW durch praktisches Tun ergänzt werden, womit sich das Ich an der unmöglichen Befreiung von dem es begrenzenden und beschränkenden Nicht-Ich für immer abzuarbeiten hat. Es schlägt gleichsam mit der Faust nicht auf den Tisch, sondern in eine weiche Masse, die im Zurückweichen den Schlag abfängt. »Der Mensch soll sich der unerreichbaren Freiheit ins Unendliche nähern.« 1342 Dazu bedarf er eines strebenden Ichs. »Im Begriffe des Strebens selbst aber liegt schon die Endlichkeit, denn dasjenige, dem nicht widerstrebt wird, ist kein Streben.« (404, 9) 1343 Für das Ich ist Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, II. Band 1. Teil, Halle 1928, S. 443; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juni 1978, S. 15: Der seelenlose Winkemann, von mir zitiert in: Der unerschöpfliche Gegenstand S. 149, Anm. 41. 1342 GA I 2 S. 277, 34 f., noch in § 3. 1343 Zur Entlastung der Anmerkungen nenne ich nur noch Seite und Zeile aus GA I 2. 1341

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Die Wissenschaftslehre

das Widerstrebende etwas Fremdartiges, das sich in ihm auftut, ohne aus seinem inneren Wesen ableitbar zu sein; jeder kann es sich nur in eigener Erfahrung dartun (400, 1–6). Um von diesem Skandal zum Streben zu kommen, führt Fichte in das Sichsetzen eine neue Bedingung ein: Das Ich muss Setzendes und Gesetztes (Subjekt und Objekt) in sich unterscheiden können, ist dieser Aufgabe als absolutes Ich, in dem sich nichts unterscheiden lässt, aber nicht gewachsen (399, 30–35), und daher »öffnet es sich, sozusagen, der Einwirkung von außen« (409, 4 f.). Dabei gilt weiterhin: »Das Ich setzt sich selbst schlechthin, und dadurch ist es in sich selbst vollkommen, und allem äußern Eindrucke verschlossen.« (409, 1 f.) Aber »so wäre es kein Ich, es setzte sich nicht selbst, und wäre demnach Nichts.« (404, 10 f.) Trotz seiner Absolutheit und gegen diese muss das Ich also gegen eine Hemmung anstreben. Damit setzt sich Fichte einer neuen Schwierigkeit aus: Das Streben beruht auf der Hemmung; andererseits setzt die Hemmung ein Streben schon voraus, denn nur ein Streben kann gehemmt werden. Fichte überspielt diese Schwierigkeit durch ein Postulat: Streben und Hemmung sind »schon an und für sich synthetisch vereinigt (…). Dass sie aber überhaupt gesetzt werden, liegt in dem bloßen Begriffe des Ich, und wird mit ihm zugleich postuliert.« (401, 10–13) Das Ich nach diesem neuen Begriff setzt nicht mehr ursprünglich, sondern nur noch reaktiv sein eigenes Sein. Damit ist Fichte in die Falle eines dogmatischen Realismus geraten. Das Ich ist nur noch Produkt des Zusammentreffens eines absoluten Ich, das noch gar kein Ich, sondern Nichts ist (399, 30–35; 404, 9–11), mit einer fremdartigen Einwirkung, der es sich in rätselhafter Weise öffnet. Damit hat Fichte den Standpunkt der Wissenschaftslehre, wie er in § 3 formuliert worden ist, 1344 verlassen. Um diesen Schaden zu heilen – ein anderer Grund ist nicht ersichtlich –, fügt er am Ende der Abhandlung der praktischen Philosophie in GW den transzendentalen Zirkel an (410, 22 – 416, 5), getarnt als beiläufiger Exkurs (»Und hierbei noch eine wichtige Bemerkung …«). Das Ich ist nun nicht mehr Abkömmling der Begegnung eines strebenden Nichts mit einer hemmenden fremdartigen Einwirkung, sondern Ich GA I 2 S. 279, 27–31: »Darin besteht nun das Wesen der kritischen Philosophie, dass ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts Höheres bestimmbar aufgestellt werde und wenn diese Philosophie aus diesem Grundsatze konsequent folgert, so wird sie Wissenschaftslehre. Im Gegenteil ist diejenige Philosophie dogmatisch, die dem Ich an sich etwas gleich und entgegensetzt (…).«. 1344

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Fichte

und Nicht-Ich stehen sich wie in § 4 frontal gegenüber, aber eingespannt in eine Schraube ohne Ende, in der jede Drehung einen Übergang vom Idealismus zum Realismus oder umgekehrt bedeutet. Damit ist das »Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren«1339 wiederhergestellt. Eigentlich gehört diese fortwährende Reflexion in die theoretische Philosophie, weil es sich nicht um eine praktische Bestimmung des Nicht-Ich durch das Ich handelt. Sie steht aber hier, wo Fichte sie braucht, um seinen Idealismus durch ein faires Kompromiss mit dem Realismus hinlänglich zu rehabilitieren. Wie um sich für das Gelingen Mut zu machen, schließt er mit der besonders kraftvollen Versicherung, dass der transzendentale Zirkel als »Grundstein des ganzen Gebäudes« der Wissenschaftslehre eine unüberwindliche Wahrheit sei, vor der jeder Gegner die Waffen strecken müsse, da es »immer ein leichtes sein« werde, »ihm die Binde von den Augen zu reißen.« Die Fassade, mit der GW dem Leser gewaltig imponiert, wird von dem ungeheuren Grundsatz, dass das Ich schlechthin ursprünglich sein eigenes Sein setze, und der nicht zu entmutigenden Forderung eines Strebens ins Unendliche nach einem unerreichbaren Ziel beherrscht; dazu kommt der Anschein eines strengen und kohärenten Aufbaus aus drei Grundsätzen, gefördert durch die Ankündigungsschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre, die mit der Ausführung kaum etwas zu tun hat. Diese markanten, pathetischen Züge, an die sich die meisten Leser und erst recht die professionellen Konkurrenten Fichtes, Schelling und Hegel, gehalten haben, werden in der Ausführung weggewischt: Die drei Grundsätze, erst recht der oberste und schlechthin unbedingte, steigen vom Rang der Axiome herab in das Arsenal korrekturbedürftiger Hypothesen, aus denen als glaubwürdiges Faktum erst das Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren hervorgeht, und das praktische Streben verliert sein idealistisches Fundament, dessen völlige Vernichtung nur durch Ausweichen in die skeptische Unentschiedenheit des transzendentalen Zirkels vermieden werden kann. So behaupten sich auf dem Prüfstand der §§ 1–5, denen die kurzen §§ 6–11 nur unwesentliche psychologische Details nachschicken, nur drei Lehrstücke: die schwebende Einbildungskraft, das absolute Abstraktionsvermögen und der transzendentale Zirkel. Sie sind, wie gezeigt wurde, drei Fassungen desselben Gedankens ambivalenter Vermittlung unvereinbarer Positionen. Die Frühromantiker sind dem Buch gerecht geworden, als sie bei ihrer enthusiastischen Fichte-Rezeption nur diesen Gedanken he442

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Die Wissenschaftslehre

rausgriffen und die aktivistischen und praktizistischen Züge von GW vernachlässigten. Schon ein Jahr nach GW (1794/95) hat Fichte die Wissenschaftslehre ab 1796 in stark veränderter Fassung vorgetragen, »nova methodo« (mit neuer Methode), wie es im Vorlesungsverzeichnis heißt. Diese Fassung bildet den systematischen Hintergrund aller von Fichte zwischen 1796 und 1799 veröffentlichten Spezialschriften. Sie ist als Wissenschaftslehre nova methodo (WNM) durch zwei Nachschriften überliefert, von denen ich nur die anonyme1300 berücksichtige, da sie mir philosophisch weit ergiebiger scheint als die von Krause (GA IV 3 S. 307–523). Fichtes Gedankengang ist viel unübersichtlicher und methodisch weniger diszipliniert als in GW, so dass man ihn sich durch Kombination vieler Textstellen zusammensuchen muss; ich gebe hier nur einen Überblick über mein Ergebnis und verweise für das Nähere auf ES S. 110–136. Fichte hat aus dem Scheitern seines Idealismus beim Übergang vom absoluten zum strebenden Ich in GW die Konsequenz gezogen, alle Bezüge zur Unendlichkeit des Ich zu entfernen; weder das absolute Ich, das ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein setzt, noch dessen Vermittlungen mit dem endlichen und vom Nicht-Ich beschränkten Ich durch Einbildungskraft, absolutes Abstraktionsvermögen, unendliches Streben und transzendentalen Zirkel kommen mehr vor, und das Nicht-Ich wird nicht mehr schlechthin dem Ich entgegengesetzt, sondern es entsteht erst durch die Erklärung, mit der sich das Ich von seiner ursprünglichen Beschränktheit Rechenschaft gibt. Der Sache nach ist diese ursprüngliche Beschränktheit als Vereinigung von Streben und Hemmung »in dem bloßen Begriffe des Ich« nach GW § 5 (401, 10–13, s. o.) schon enthalten. Das Ich kommt nur noch als Individuum, als einzelner Mensch, in Betracht; an die Stelle seines Sichsetzens tritt die Selbstbestimmung als Sichherausgreifen aus der Masse der allgemeinen Vernunft, gleichsam die Platzanweisung für sich unter allen vernünftigen Wesen. Sie ist das Sichlosreißen aus einem Dämmerzustand bestimmbarer Unbestimmtheit, wodurch jedes Ich seine eigentümliche sittliche Bestimmung empfängt, die sich ihm aber erst Schritt für Schritt im Lauf der Zeit enthüllt, als »individuelles Gesetz« im Sinne der späteren Begriffsprägung durch Georg Simmel. Die Anregung zu solcher Selbstbestimmung empfängt das Ich durch eine Aufforderung (z. B. in Gestalt einer Frage), die die Freiheit zur Selbstbestimmung weckt, ohne sie durch Nötigung zu ersticken. Fichte entwirft ein Ich, das sich, 443

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Fichte

gehalten durch die Fessel eines im Gefühl ursprünglich beschränkten Strebens, mit freischwebender Reflexion auf ein dunkles Urwollen nach weckender Aufforderung zu freiem Handeln seine Individualität durch Herausgreifen aus der Masse der vernünftigen Wesen unter Anleitung durch ein ihm gleichsam auf den Leib geschnittenes Sittengesetz selbst bestimmt. Heute könnte man dieses Konzept als existenzphilosophisch bezeichnen: Selbstbestimmung durch Wahl seiner selbst in Abhängigkeit von einem vorgegebenen Rahmen bestimmbarer Möglichkeit, so etwas wie geworfener Entwurf im Sinne von Heidegger. Dieses existenzphilosophische Konzept wird in WNM durch exzessiven psychologischen Idealismus durchkreuzt, der den Kantischen (35.2.1) in der transzendentalen Deduktion und dem Paralogismenkapitel der 1. Auflage der KrV noch übertrumpft. Der Abkapselung des reinen Ich von GW, dessen Sein und Wesen bloß darin besteht, dass es sich als seiend setzt,1336 entspricht in WNM die Abkapselung des individuellen Ich: »Das Ich verschließt sich, es kommt in dasselbe nichts fremdes hinein.« 1345 Das verträgt sich nicht mit dem Beginn der Selbstbestimmung als Empfang einer Aufforderung zu freiem Handeln. »Ich = x, Leib, Geist und Sinnenwelt ist ganz dasselbe, nur verschieden angesehen. Dieses ist der Geist der Wissenschaftslehre.« (228, 13–15) »(…) der einzige Gegenstand des Bewusstseins bin immer ich selbst, und dieses Ich spaltet sich immer mehr nach den Gesetzen des Bewusstseins selbst.« (228, 20–22) »Die ganze Natur ist Produkt der Einbildungskraft.« (216, 12 f.) »Mein reines Denken hingeschaut ist Erscheinung und gibt die Welt.« (243, 14) »Durch mein Sehen werfe ich den Raum hinein.« (112, 18 f.) Vom psychologischen Idealismus Berkeleys unterscheidet sich dieser als Projektionismus, der die Sinnenwelt durch aktive Projektion vom Ich in seine Außenwelt erklärt; diese ist die engere Sphäre um das Ich, sein eigenes Nicht-Ich, mit ihm in der weiteren Sphäre des abgeschlossenen Ich enthalten. 1346 Demgemäß ist nicht Gott der Schöpfer der Sinnenwelt, die nur für die endliche Intelligenz und keine andere ist (227, 12–28). Auch die Zeit ist nur für uns, nämlich »das gefärbte Glas, wodurch wir alles in der Zeit erblicken« (187, 28 f.); das Ich ist nicht in der Zeit (196, 37). Davon ist die Folge, dass die Individuen, die je ein Ich sind, nicht in der Zeit und der Sinnenwelt kommunizie1345 1346

GA IV 2 S. 74, 25. Die folgenden Zitate geben nur Seiten und Zeilen aus GA IV 2 an. GA IV 2 S. 74, 25–32, mit illustrierender Zeichnung.

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Die Wissenschaftslehre

ren können. Ihre Abstimmung auf einander ist nur gemäß dem Konzertgleichnis von Leibniz1011 möglich, also so, dass jedes Ich für sich ein Programm wie eine Stimme in der Partitur harmonisch mit den Programmen anderer Iche abspielt. Demgemäß nähert sich Fichte zur Zeit von WNM Leibniz und der Monadenharmonie, wenn er auch wegen der Freiheit Bedenken hat; 1347 nach einer Äußerung von 1797 hat Leibniz wohlverstanden recht. 1348 Kritisch wird der Konflikt zwischen Freiheit und prädestinierendem Programm im System der Sittenlehre (1798) an der Frage, wie ein vernünftiges Wesen seiner Pflicht, auf die freien Handlungen aller anderen Rücksicht zu nehmen, nachkommen könne, wenn es, eingesperrt in seine Sinnenwelt, von ihnen nicht sinnlich Kenntnis nehmen kann, sondern nur durch eine ihm eingegebene Information. Fichtes vermeintlich »nicht schwer« zu findende Auflösung lautet so: Alle freien Handlungen sind von Ewigkeit her, d. h. außer aller Zeit, durch die Vernunft prädestiniert und in dieser Form den Individuen zur gebührenden Rücksichtnahme zugänglich; nicht aber ist prädestiniert, wessen Handlungen es sind, so dass sich jeder – wenn ich mir dieses grobe Bild herausnehmen darf – aus dem großen Topf frei seine Erbsen wählen kann. 1349 Dieser Versuch der Versöhnung von Freiheit und Prädestination ist nicht zu Ende gedacht. Meine Handlungen stehen dann nämlich von vornherein fest als der Durchschnitt aller Mengen freier Handlungen, auf die ein Individuum außer mir Rücksicht zu nehmen hat. Für jedes freie Individuum muss die Menge aller freien Handlungen anderer feststehen, damit es weiß, worauf es Rücksicht nehmen soll. Das gilt auch für alle außer mir. Für jedes vernünftige Wesen außer mir gibt es also die wohlbestimmte Menge aller freien Handlungen anderer vernünftiger Wesen, und der Durchschnitt aller dieser Mengen ist die Menge meiner freien Handlungen, die demgemäß sehr wohl prädestiniert sind. Fichtes Lösungsversuch schützt mir gegenüber die Freiheit der anderen, aber für niemand seine eigene Freiheit. In der Tat bekennt sich Fichte 1800 zur Rücknahme dieser Argumentation, ohne allerdings einen Grund anzugeben. 1350 Der Fall ist aber wichtig, weil er zeigt, dass Fichte in der WNM vor der GA II 4 S. 329, 12–15 und IV 1 S. 374, 35–37 (Manuskript bzw. Nachschrift der Platner-Vorlesung Sommer 1799). 1348 GA I 4 S. 265, 15–17 (2. Einleitung in die Wissenschaftslehre, § 10). 1349 GA I 5 S. 205, 22 – 207, 16. 1350 Gemäß seinem Brief an Reinhold vom 18. 09. 1800, GA III 4 S. 314, 3–5. 1347

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Fichte

Entscheidung zwischen der Freiheit und dem exzessiven psychologischen Idealismus steht. Wenn er diesen preisgeben und realistisch zulassen könnte, dass Menschen in Raum und Zeit von einander Notiz nehmen, hätte er keine Prädestination nötig. Fichte hat die Entscheidung für den psychologischen Idealismus getroffen und die problematische Vermittlung zwischen den eingekapselten Individuen, damit sie pflichtmäßig auf die Freiheit der anderen Rücksicht nehmen können, in der Bestimmung des Menschen Gott übertragen, der »nur in unseren Gemütern« die Welt erschafft und »in unsere Gemüter durch den Ruf der Pflicht eingreift, sobald ein anderes freies Wesen etwas in derselben verändert.« 1351 Gott mit seinem »unendlichen Willen, der alle in seiner Sphäre hält und trägt«, wird gemäß dem 3. Buch Glaube der Bestimmung des Menschen benötigt, um die sonst unbegreifliche »gegenseitige Erkenntnis und Wechselwirkung freier Wesen schon in dieser Welt« zu erklären, 1352 als »das Band, das die ganze intelligible Welt verknüpft« 1353 und über den »unbegreiflichen Realgrund der Getrenntheit der Einzelnen« hinweg »das Band aller« ist. 1354 Das erinnert an Kants Commercium-Beweis für das Dasein Gottes als einzig möglichen Vermittlers der von sich aus gegen einander verschlossenen Substanzen.1238 Durch den dogmatischen (wenn auch »transzendental« genannten) psychologischen Idealismus von WNM ist Fichte zum dogmatischen Realismus einer unvermittelt heraufbeschworenen Theologie geführt worden, auf der Flucht1328 vor der »im Innersten transzendental«1324 bleibenden Vermittlung zwischen Idealismus und Realismus im transzendentalen Zirkel. Die Freiheit wird Gott anvertraut: »Deine Stimme ertönt in mir, die meinige tönt in dir wider; und alle meine Gedanken, wenn sie wahr und gut sind, sind in dir gedacht.« 1355 Das ist ein anderer Glaube als der an die Freiheit zwei Jahre früher: »(…) ich will selbstständig sein, darum halte ich mich dafür. Ein solches Fürwahrhalten aber ist ein Glaube. Sonach geht unsere Philosophie aus von einem Glauben, und weiß es.« 1356 Binnen eines Jahres,

1351 1352 1353 1354 1355 1356

GA I 6 S. 296, 12–18. GA I 6 S. 294, 29–33. GA II 5 S. 385, 28 f. (Bearbeitung der Wissenschaftslehre 1800). GA III 5 S. 48, 11–13 (Fichte an Schelling, 31. Mai bis 7. August 1801). GA I 6 S. 296, 30–31 (Die Bestimmung des Menschen). GA I 5 S. 43, 9–11 (Das System der Sittenlehre, 1798).

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Die Wissenschaftslehre

um den Atheismusstreit von 1799 herum, hat sich Fichtes Stellung zu Gott diametral gedreht. 1357 Auf diesem Boden wächst die Mystik der späten Wissenschaftslehre Fichtes. Seine beiden Sonette, von denen eines zitiert wurde,1331 formulieren in dichterischer Sprache angemessen den Gehalt, den diese Umgestaltungen des Systems in die Form einer harten scholastischen Dogmatik bringen, die mit schwacher Logik einen aggressiven, steilen Geltungsanspruch verbindet. Die Gottseligkeit durchzieht ein autoaggressiver Hass gegen die Ich- und Subjektivitätsphilosophie des früheren Fichte; in Spott kleidet sich der Hass, wenn Fichte »zur näheren Würdigung des Spaßes, dass die Wissenschaftslehre in der Subjektivität, und auf einem Reflektierpunkte stehe«, dem Subjektiven bescheinigt: »Es müsste annihiliert werden können.« 1358 »Demzufolge hängt die Frage über die Möglichkeit der Philosophie davon ab, ob das Ich zugrunde gehen, und die Vernunft rein zum Vorscheine kommen könne.« 1359 Der Idealismus hat ausgespielt: »Der mit seiner Gültigkeit an sich abgewiesene Idealismus ist gleich dem absoluten, unmittelbaren Bewusstsein: demnach, dass wir jetzt, worauf es ankommt, mit aller Strenge aussprechen, die Wissenschaftslehre leugnet die Gültigkeit der Aussagen des unmittelbaren Bewusstseins, schlechthin als solche (…), und beweist ihre Ableugnung; und so allein bringt sie die Vernunft zur Ruhe und zur Einheit.« 1360 Es ist die Ruhe vor der Reflexion als der Schraube ohne Ende im transzendentalen Zirkel, die dem Idealismus, dem Ich und dann gleich auch dem unmittelbaren Bewusstsein zum Verhängnis wird. Stattdessen setzt sich Fichte in der für die späten Wissenschaftslehren exemplarischen 2. Wissenschaftslehre von 1804 das Ziel, »alles Mannigfaltige zurückzuführen auf absolute Einheit«, 1361 d. h. auf »reines Wissen an und für sich, darum Wissen von Nichts, oder (…) in die Wahrheit und Gewissheit an und für sich, die da nicht ist Gewissheit von irgendetwas, indem dadurch schon die Disjunktion zwischen Sein und Wissen gesetzt würde.« 1362 An die Stelle des Sichsetzens des Ich tritt die Selbstkonstruktion Gottes, des Absoluten, in Gestalt seiner Er-

1357 1358 1359 1360 1361 1362

Vgl. ES, S. 141 f., 168 Anm. 357. Fichte, Wissenschaftslehre 1805, hg. v. H. Gliwitzki, Hamburg 1984, S. 9. GA II 8 S. 284, 15–17 (Zweite Wissenschaftslehre von 1804). Ebd. S. 204, 11–16. Ebd. S. 8, 10–12. Ebd. S. 20, 9–14.

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Fichte

scheinung, Äußerung oder Offenbarung. 1363 Es soll bewiesen werden, dass das absolute Sein, das Licht, sich nicht setzen kann, ohne sich so zu konstruieren. 1364 Zu diesem Zweck wird gezeigt, dass es ein Vonsich sein muss, sofern es überhaupt ein Von (d. h. von etwas) ist. Aber ist es ein Von? Der Beweis für die bejahende Antwort wird so geführt: »(…) denn muss das absolute, unveränderlich und unwandelbar sich gleiche Licht Creation begleiten, so gibt es durchaus kein Licht ohne Creation (…).« 1365 Hier macht Fichte zu Unrecht aus der zureichenden Bedingung eine notwendige: Aus »Wenn Creation, dann Licht« folgt ja keineswegs »Wenn Licht, dann Creation.« Die Form dieses Fehlers erhebt er sogar zur »Summe unseres ganzen Systems«, das sich in folgenden »Vernunftsschluss« auflöse: »Soll es zur Erscheinung des absoluten Wissens kommen, so muss u. s. w.; nun ist das Wissen also bestimmt, mithin muss es schlechthin dazu kommen sollen.« 1366 Hier scheint folgende Schlussart intendiert zu sein: Wenn A, dann B; B; also A. Solche Logik ist schwach. Das wichtigste Beweismittel dieser Wissenschaftslehre ist aber nicht die formale Argumentation, sondern die Verwandlung des Vortragenden und seines Auditoriums in das, was bewiesen werden soll: »(…) wir erblicken uns daher selber so, wie wir die Gewissheit beschrieben haben, als unveränderlich verharrend in demselben Einen Was der Konstruktion; wir sind, was wir sagen, und sagen, was wir sind.« 1367 »Schon früher und heute wieder ist der Beweis über wesentliche Merkmale des Wissens aus unserem Vermögen, es also zu fassen, geführt worden; der Nervus des Beweises ist klar: Wir sind selber das Wissen, da wir nur so wissen können, und dermalen wirklich also wissen, so ist das Wissen also beschaffen.« 1368 So auch zum Beweis des Satzes, dass das Licht ein Von ist: »Dass es nun in dieser Rücksicht dies ist, haben wir ja durch die Wirklichkeit dieser Ansicht unmittelbar faktisch bewiesen.« 1369 »Und so gibt sich die Wissenschaftslehre mit allem Rechte für eine vollständige Lösung des Rätsels der Welt und des Bewusstseins.« 1370 Und das sogar mit mathe1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370

Ebd. S. 186, 14–17; 258, 32–260, 2 (fortlaufender Text auf der jeweils linken Seite). Ebd. S. 278, 29–31. Ebd. S. 294, 33–35. Ebd. S. 376, 32–35. Ebd. S. 348, 30–33. Ebd. S. 312, 21–25. Ebd. S. 302, 10–11. Ebd. S. 308, 26–28.

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Die Wissenschaftslehre

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matischer Exaktheit: »Der Unterschriebene erbietet sich zu einem fortgesetzten mündlichen Vortrage der Wissenschaftslehre, d. h. der vollständigen Lösung des Rätsels der Welt und des Bewusstseins, mit mathematischer Evidenz.« 1371 Diese Evidenz ist zugleich »Vernichtung des Ich am reinen Licht (…) und das Ergriffen- und Hingerissenwerden von der Evidenz, die nicht ich mache, sondern die sich selbst macht, ist das erscheinende Bild meines Vernichtetwerdens und Aufgehens in’s reine Licht.« 1372 Auf diesem Weg, der die Wissenschaftslehre ist, dieser zu folgen, ist eine »immerfort allen Intelligenzen, die in der Reihe der Bedingungen bis zu deren Möglichkeit gekommen sind, anzumutende Pflicht. In diese Reihe der Bedingungen aber kommt man durch innere herzliche Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegen sich selbst.« 1373 Fichte fasst seine Mitmenschen gleichsam am moralischen Porte-épée: Wer ein anständiger Mensch ist und sich nicht selbst belügt, hat die Pflicht, sein gelehriger Schüler zu werden. Durch strenges Raisonnement will er die Einkehr in das Eine erreichen, die für Plotin ein glückliches Ereignis war. 1374 Der Wissenschaftslehrer Fichte aber »spricht kategorisch (…). Er braucht gar nicht zu sagen: ich weiß: nicht einmal in dieser Rücksicht auf sich zu reflektieren, – dass er weiß: sondern er weiß eben schlechtweg, wie und inwiefern er weiß. Ohne Reden ergibt sichs.« 1375

Anzeige Fichtes in den Berlinischen Nachrichten vom 5. Januar 1804, GA I 7 S. 49 (Vorbericht der Herausgeber). 1372 GA II 8 S. 116, 21 f. 27–29 (Zweite Wissenschaftslehre von 1804). 1373 GA II 6 S. 324, 7–10 (Darstellung der Wissenschaftslehre 1802). 1374 Enneaden IV 8 [6] 1, 1–7. 1375 GA II 4 S. 235 Z. 10. 16–18 (Manuskript der Platner-Vorlesung 1812/13). 1371

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37. Schelling

In einem aufschlussreichen Geständnis schildert Schelling, 1376 im Rückblick, was er von Fichte verstand, nachdem dieser sich von der Ichspekulation abgewandt hatte: »Es war nämlich allerdings eine Zeit, in welcher ich selbst Herrn Fichte nicht ganz zu verstehen glaubte, obgleich er dies selbst meinte und in allewege rühmte; es war die Zeit, wo ich etwas Höheres und Tieferes in seiner Lehre suchte, als ich doch in der Tat finden konnte. Wirklich gehörte nicht weniger dazu als die ganze Reihe seiner letzten Schriften, die über den angeblichen Atheismus, die Bestimmung des Menschen, der Sonnenklare Bericht, um die Überzeugung in mir hervorzubringen, dass ich ihn vollkommen verstanden, und dass diese Selbstgenügsamkeit nicht mehr verberge, als sie darstelle.« 1377 Schellings Worte verraten ein feines Gefühl. In der Tat hatte Fichte mit der Entdeckung der strikten Subjektivität Neuland betreten, sich darin aber so wenig zurechtgefunden, dass es dem Uneingeweihten nur wie ein verschleierter Hintergrund durchscheinen mochte, und sich daraus bald wieder in konventionelle Bahnen zurückgezogen, woraus Schelling schließen durfte, es sei nichts gewesen. Fichte reagiert mit seiner genialen Konzeption1293 zwar nicht thematisch, aber inhaltlich auf Hume, der bei dem Versuch, sich selbst zu finden, nur Bündel von Perzeptionen in der Art von Wärme und Kälte, Liebe und Hass zu entdecken vermochte. 1378 Und das soll ich sein? Wo bleibe ich? Das ist Fichtes Frage, lapidar in den Worten ausgedrückt: Woher weiß ich, dass mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?1300 Ich weiß es ja, kann es aber den von Hume übriggelassenen Daten nicht Ich zitiere Schelling mit Band- und Seitenzahl nach der 1. Abteilung der Gesammelten Werke, Stuttgart/Augsburg 1856–1861, hg. v. H. F. K. Schelling. 1377 VII 23 (Darstellung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, 1806). 1378 Treatise on human nature, Buch 1 Teil 4 Abschnitt 6. 1376

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entnehmen. Hume muss also etwas übersehen haben. Für eine Antwort ist der Bereich der objektiven Tatsachen durch Humes totale Selbstobjektivierung verstopft; so bleibt nur die Versetzung des Gesuchten in den Bereich der subjektiven Tatsachen, den Fichte dafür auch ins Auge fasst,1295 1299 doch gelingt ihm davon kein deutlicher Begriff, und so zieht er das Ich aus allen Tatsachen heraus als die einsame Tathandlung, sich selbst zu setzen, eine Tat, die bloß sich selber tut und sich in solcher Isolierung nicht halten kann. Es bleibt der Gewinn, dass ihm der Platz für sich selbst außerhalb des Milieus der objektiven Tatsachen auffällig und problematisch wird. Die allem Erlernbaren schon vorausgesetzte Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich1305 ist ihm so rätselhaft, dass er für die »wichtige Frage«, warum wir unsere Vorstellungen zu uns gehörig rechnen, (mit Recht) Priorität sogar vor Kant beansprucht.1308 Keine Spur solcher Problematik kommt bei Schelling vor. Er ist sich seiner selbst fraglos gewiss. 1379 »Dass ich bin (denke, will, u. s. w.), ist etwas, das ich wissen muss, wenn ich nur überhaupt etwas weiß. (…) Aber wie komme ich dazu, Sein, Leben u. s. w. auf Dinge außer mir überzutragen.« 1380 Demgemäß ist er mit der Selbstbestätigung durch Selbsterzeugung schnell fertig: Das Ich bringt sich durch sein Denken als absolute Identität selbst hervor, so dass es auf dasselbe hinausläuft, zu sagen »Ich bin ich« oder »Ich bin.« 1381 Offenbar hat er die Fragwürdigkeit des cogito ergo sum (30.2) nicht durchschaut. Darauf baut sein System des transzendentalen Idealismus (1800) im Ausgang vom Selbstbewusstsein als »Identität des Vorgestellten mit dem Vorstellenden« auf: »Das Selbstbewusstsein ist der Akt, wodurch sich das Denkende unmittelbar zum Objekt wird, und umgekehrt, dieser Akt und kein anderer ist das Selbstbewusstsein. – Dieser Akt ist eine absolut-freie Handlung, zu der man wohl angeleitet, aber nicht genötigt werden kann. – Die Fertigkeit, sich in diesem Akt anzuschauen, sich als Gedachtes und als Denkendes zu unterscheiden und in dieser Unterscheidung wieder als identisch anzuerkennen, wird in der Folge beständig vorausgesetzt.« 1382 »Indem ich nur durch »Was sich allein unmittelbar, und dadurch erst alles andere, erkennt und versteht, ist das Ich in uns.« (I 366, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre) »Denn wir kennen unmittelbar nur unser eigen Wesen, und nur wir selbst sind uns verständlich.« (II 37, Ideen zu einer Philosophie der Natur). 1380 II 51 f. (Ideen zu einer Philosophie der Natur). 1381 I 47, 58 f. (Vom Ich als Prinzip der Philosophie). 1382 III 365. 1379

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das Selbstbewusstsein zum Objekt werde, entsteht mir der Begriff des Ich, und umgekehrt, der Begriff des Ich ist nur der Begriff des Selbstbewusstseins.« 1383 Die Identität von Subjekt und Objekt ist für das Selbstbewusstsein vielmehr belanglos; zureichend ist dafür die Identifizierung von etwas mit mir in der Selbstzuschreibung (36.2). Diese meint Schelling als den freien Akt, Gedachtes und Denkendes zu unterscheiden und als dasselbe anzuerkennen. Wenn er aber glaubt, dass dadurch der Begriff des Ich entstehe, irrt er. Dieser ist für die Selbstzuschreibung schon vorausgesetzt, denn es geht ja nicht darum, Gedachtes mit irgendetwas zu identifizieren, sondern mit mir, genauer: als das, was ich bin, anzuerkennen. Das dazu nötige Selbstbewusstsein kann nicht aus der Selbstzuschreibung stammen; nur der kann es erlangen, der durch heftig engendes affektives Betroffensein (in primitiver Gegenwart, 35.3.3) bei sich gestellt wird, wie der Jagdhund das Wild stellt, indem ihm etwas so nahegeht, dass er ohne Spielraum zum Ausweichen sich selber spürt. Dann ist allerdings absolute Identität da, aber in ernsterem Sinn als Schelling sie meint: nicht die relative von Subjekt mit Objekt, sondern die absolute der Auszeichnung von etwas als unausweichlich dieses und ich, wofür die relative nur eine nachträgliche Umschreibung ist, um diese primäre Eindeutigkeit des Identischen auf das Einzelne (21.1) zu übertragen. Der Begriff des Ich entsteht also nicht im freien Akt denkender Selbstkonstruktion, sondern stammt aus einer wesentlich passiven Erfahrung des Betroffenseins, die allerdings nicht bloß passiv ist, da sich der Betroffene in irgendeiner Weise einlässt auf das, was ihm widerfährt; sein Gestelltwerden ist zugleich ein Stellungnehmen, denn sonst würde er nicht zum Sichspüren geweckt, sondern nur zum Geschehenlassen des Widerfahrenden. Derselbe Fehler, sich voreilig mit dem Gedanken eines sich setzenden Ichs abzufinden, wird auch in der Freiheitsschrift von 1809 dem Versuch Schellings zum Verhängnis, Unabhängigkeit und Initiative des Ich durch ein Grundwollen zu retten, als das das Ich sich selbst setze: »Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigene Tat; Bewusstsein ist Selbstsetzen – aber das Ich ist nichts von diesem Verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber. Dieses Bewusstsein aber (…) setzt wie alles bloße Erkennen das eigentliche Sein schon voraus. Dieses vor dem Erkennen vermutete Sein ist aber kein Sein, wenn es gleich kein Erkennen ist; es ist reales Selbstsetzen, ein Ur- und Grundwol1383

III 366.

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len, das sich selbst zu etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist.« 1384 Solches reales Selbstsetzen ist jedenfalls ein Identifizieren, zwar nicht als Tatsache, aber als Programm, etwa durch den Entschluss: Dieses Wollen soll das meinige sein. Solche Identifizierung braucht ein Relat, das dabei als ich selbst verstanden wird; es kann sich also nicht um ein ursprüngliches Sichmachen oder Sichkonstituieren handeln, sondern mir muss etwas als das, was ich bin, schon ersichtlich sein, damit ich mich zu diesem Wollen als dem meinigen entschließen kann, statt es irgendeiner Sache aufzuerlegen. Die Forderung ist erfüllbar, aber nur durch ein Sichspüren der angegebenen Art, das primär ein erleidendes Betroffensein und nicht ein Sich-machen ist. Weil Schelling diese Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewusstseins nicht kennt, will er die Subjektivität, das Ich, dem bloß Objektiven durch eine hinzukommende Selbstzuschreibung gleichsam aufpfropfen: »Jenseits des Selbstbewusstseins ist bloße Objektivität. (…) Erst durch das Selbstbewusstsein kommt die Subjektivität hinzu.« 1385 Das Objekt wird erst Ich, »indem das Reflektierende es als identisch mit sich setzt, welches aber erst im freien und bewussten Handeln geschieht; (…). Abstrahiere ich nun davon, was in das Objekt des Philosophen erst durch das freie Handeln gesetzt wird, so bleibt es als ein rein Objektives zurück.« 1386 Eine solche nachträgliche Erzeugung von Subjektivität durch identifizierende Selbstzuschreibung eines Gegebenen ist, wie gesagt, unmöglich, weil ihr kein Relat für die Identifizierung zur Verfügung stünde, und würde sich daher in einem regressus ad infinitum endloser Suche nach einem solchen totlaufen; auch wurde schon unter 36.1 gezeigt, dass sich zwar von den vollen subjektiven Tatsachen aus ein begründeter Übergang zu den ärmeren neutralen oder objektiven Tatsachen finden lässt, weil mein affektives Betroffensein mir den Leitfaden dafür liefert, mich auch an einem Platz in der durch neutrale Tatsachen bestimmten Welt zu finden, während aber in allen objektiven oder neutralen Tatsachen – die z. B. den Hermann Schmitz betreffen – durchaus nichts zu entdecken ist, was als Grund der Annahme dienen könnte, dass ich er bin. Aus der Umkehrung dieser Reihenfolge ergibt sich für SchelVII 385 (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände). 1385 III 390 (System des transzendentalen Idealismus). 1386 IV 86 (Über den wahren Begriff der Naturphilosophie, 1801). 1384

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ling das Programm seiner Naturphilosophie, aus Keimen von Subjektivem und Objektivem, die mit Ausdrücken verschwommenen Sinnes wie »das Ideale« und »das Reale« umschrieben werden und z. B. das Licht bzw. die Schwere sein können, das Subjektive so zu »potenzieren«, bis es endlich zum richtiggehend Subjektiven in Gestalt des Selbstbewusstseins und des Wollens wird. »Ich fordere zum Behuf der Naturphilosophie die intellektuelle Anschauung, wie sie in der Wissenschaftslehre gefordert wird; ich fordere aber außerdem noch die Abstraktion von dem Anschauenden in dieser Anschauung, eine Abstraktion, welche mir das rein Objektive dieses Akts zurücklässt, welches an sich bloß Subjekt-Objekt, keineswegs aber = Ich ist, aus dem mehrmals angegebenen Grunde.« 1387 Die intellektuelle Anschauung, die für Fichte das ganz gewöhnliche und alltägliche, nur vor der philosophischen Reflexion nicht eigens abgehobene und thematisierte Innesein der Subjektivität für mich von Tatsachen ist (36.1), hat für Schelling nie, auch nicht anfangs, als er mehr oder weniger noch Fichte nachschreibt, diesen propositionalen (sachverhaltlichen) Charakter, sondern kommt erst als Ekstase selbstvergessener Versunkenheit und dann als Wollen vor; 1388 als Vehikel der Naturphilosophie liefert sie das Ich ganz dem Objektiven aus. Schelling hat den ganz richtigen Instinkt, zu fühlen, dass das Ich Fichtes wegen der rezessiven Entfremdung der Subjektivität (36.2) gar zu kahl und verstiegen ausfällt, indem es gleichsam auf dem äußersten Ast eines hohen kahlen Baumes angesiedelt ist, und einer ergänzenden Füllung bedarf. Diese wäre in allem zu finden, was die subjektiven Tatsachen voll und konkret macht und bei der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) schon im Altertum (9.1) verdrängt und vergessen worden ist. Da affektives Betroffensein immer leiblich spürbar ist, käme dafür der Leib mit seiner eigentümlichen, in leiblicher Kommunikation alle Kontakte fundierenden Dynamik auf der Grundlage (hauptsächlich) von Enge und Weite in Frage, des Weiteren die Gefühle als Atmosphären und die bedeutsamen Situationen, die als Grundgegebenheiten zu entdecken Goethe 1797 im Begriff war, als er von Schillers Kantianismus »zurückgepfiffen« und an der fruchtbaren Entwicklung dieses Keims gehindert wurIV 87 f. (ebd.). I 318–327 (Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, 1795); I 401 (Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, 1796/97).

1387 1388

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de. 1389 Stattdessen bemüht sich Schelling um eine Anleihe bei der aus der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung hervorgegangenen (28) modernen Naturwissenschaft und bringt einen wunderlichen Bastard von Reduktionismus, Physik, Biologie und Subjektivität als Naturphilosophie zustande, die die Konstruktion des Ich durch Konstrukte der Naturwissenschaft nur noch übertrumpft, wie in der These: Alle Qualität ist Elektrizität. 1390 Eine vollständige Verwerfung der Fichte-Ergänzungen Schellings wäre dennoch verfehlt, weil dieser wenigstens in einem Punkt einen wichtigen Beitrag zu der eben von mir angemahnten, sonst von Schelling versäumten Ergänzung der Einseitigkeiten Fichtes leistet. Es handelt sich um die Wiederaufnahme der stoischen Konzeption des tno@ (Tonos), des Ineinandergreifens kontraktiver und expansiver Tendenz, wodurch die Struktur des vitalen Antriebs als der Konkurrenz von Engung und Weitung (als Spannung und Schwellung verschränkt) in die Natur und in Gott projiziert wird (13). 1391 Anregung dazu fand Schelling nicht etwa in der Stoa, sondern in Kants dynamischer Theorie der Materie 1392 und in § 5 von Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre; dieser Anregungen hat er sich schon in der Anfangszeit seiner Schriftstellerei als halb treuer, halb rebellischer Fichte-Adept energisch angenommen, indem er z. B. die Einbildungskraft nach Kant als Tonos von Engung (Affektion) und Weitung (Synthesis) rekonstruiert, den Geist als Tonos nach außen gehender (erfüllender) und nach innen begrenzender Tätigkeit, die Selbstanschauung der Seele als Tonos, den Tonos als Prinzip der Konstruktion aller Lebenserscheinungen.1393 Im System des transzendentalen Idealismus wird das Selbstbewusstsein als Tonos zentrifugaler und zurück zum Mittelpunkt gehender Tätigkeit konstruiert, als Tätigkeit, die wie Fichtes Einbildungskraft1339 zwischen entgegenVgl. Hermann Schmitz, Höhlengänge, Berlin 1997, S. 203–207. III 295 (Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799); III 452 (System des transzendentalen Idealismus). 1391 In meinem Buch Der Leib, 1. Teil (System der Philosophie Band II Teil 1, zuerst 1965) habe ich die Tonoslehre bei Schelling durch den transzendentalen Idealismus, die Weltalterphase und das Spätwerk verfolgt (S. 578–586) und in den Zusammenhang der romantischen Entdeckung des Leibes (S. 567–586) gestellt. 1392 Ebd. S. 554–559. 1393 I 357 (Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre) I 368 (ebd.), I 379 f. (ebd.), III 304 (Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie). 1389 1390

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gesetzten Richtungen schwebt und deren Identität vermittelt, obwohl sie sich im Widerstreit aufheben; das Ich ist auf diese Weise nach Schelling ein fortdauernder Widerspruch in sich, der nur Bestand hat durch das Bestreben, ihn zu unterhalten. 1394 Der Tonos macht bei Schelling Pause in der Phase der sogenannten Identitätsphilosophie (1801–1804 oder 1807), die auf der Forderung der Abstraktion von sich (»das Subjektive [Absondernde, Individuelle] in sich selbst zu vergessen«) beruht 1395 und gemäß der ersten Darstellung der Identitätsphilosophie, »der einzigen, welche der Urheber als die streng wissenschaftliche von jeher anerkannt hat«, 1396 die totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven als die absolute Vernunft aufstellt und mit der Formel »A = A« für das Absolute durchhält. Dieses geht dennoch mit einer quantitativen Differenz in der Weise zusammen, dass das Eine und immer gleich Identische mit einem Übergewicht der Objektivität (des Seins) oder der Subjektivität (des Erkennens) gesetzt wird; jedes einzelne Sein ist also bestimmt durch absolute Identität (A = A) unter der Form einer quantitativen Differenz (A = B) in unendlichen Reihen solcher Bestimmungen, in denen sich die Gewichte monoton verschieben. 1397 Der Grundgedanke dieser Identitätsphilosophie ist »die Idee einer absoluten Einheit, einer Einheit, die unmittelbar zugleich, ohne durch die Vielheit hindurch zu gehen, Totalität ist«, d. h. »einer solchen Einheit (…), in Ansehung welcher der Gegensatz der Einheit und Vielheit selbst gar keine Bedeutung hätte und die Vielheit vielmehr in der Einheit, unbeschadet der höheren Einheit, wäre, in der beide begriffen sind«; das können nur die verstehen, »die sich des höchsten Punkts der Philosophie wirklich bemächtigt haben.« 1398 Schelling erneuert damit das Konzept des Damaskios, das ich als präimmanente Einheit (17.2) bezeichnet habe: Einheit und Vielheit so vollständig in einander zu schieben, dass das Viele unbeschadet seiner Vielheit in der einfachen Einheit Platz findet. Während aber Damaskios mit der Paradoxie dieses Gedankens bis an den Rand der Resignation ringt (17.3), macht Schelling es sich damit ganz leicht, wie auch sein Vorgänger in der Damaskios-Nachfolge, Nikolaus von 1394 1395 1396 1397 1398

III 391–393. IV 116 (Darstellung meines Systems der Philosophie, 1801). X 147 (Zur Geschichte der neueren Philosophie). IV 114, 124, 123, 131 f. (Darstellung meines Systems der Philosophie). IV 392 f. (Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, 1802).

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Kues (26.2). Dieser konnte sich solche Leichtfertigkeit gestatten, da er im Zeichen des christlichen Gottesbildes dachte; dieser Gott wird, namentlich in der für Nikolaus vorbildlichen Mystik seit Pseudodionys, mit so extravaganten, jedes Maß der Ratio sprengenden Formeln seiner Großartigkeit verherrlicht, dass das Bekenntnis zum offenen Widerspruch als erbauliches Gotteslob glatt hingenommen werden kann. Der Schelling der Identitätsphilosophie kann sich in kein vergleichbares Auffangnetz fallen lassen. Er hat sich die Berufung auf prä-immanente Einheit weder durch erkenntnistheoretische Bemühung noch durch christliche Mystik verdient. Daher wirkt seine Identitätsphilosophie mit all ihrem Schönheitspreisen flach und hohl. Hegel hat ihn überholt, indem er die Ambivalenz ernst nahm. Schelling stellt dagegen neben die absolute Indifferenz unvermittelt die quantitative Differenz in unendlichen Reihen, darin ein Nachfolger der Quantifizierung der Bestimmtheit bei Thomas von Aquino (22.1). Die Identitätsphilosophie ist wegen der bloß quantitativen Differenz der Bestimmtheiten vollkommen statisch gedacht. Sie weicht bei Schelling einer Dynamisierung mit Wiederkehr des Tonos, indem die beiden im Übergewicht differierenden Faktoren, das Objektive und Subjektive oder Reale und Ideale, sich nun als kontraktive, anziehende, und expansive, ausdehnende Kraft gegenübertreten und zusammenfinden. In der Freiheitsschrift von 18091384 ist diese Konstellation nur einmal angedeutet, 1399 aber in den fast gleichzeitigen Stuttgarter Privatvorlesungen durchzieht sie Körperwelt, Menschsein und Gott. 1400 Nach der Schrift gegen Jacobi (1812) müsste ein persönlicher Gott geleugnet werden, wenn in ihm nicht ein Tonos wäre, ein Gegensatz der bejahenden, ausbreitenden und der einschränkenden, verneinenden Kraft; diese auf es selbst zurückgehende Kraft eines Wesens ist die Persönlichkeit, Selbstheit, Egoität, und alles Bewusstsein ist Konzentration, Sammlung, Zusammennehmen, Zusammenfassen seiner selbst. 1401 Diese Tonos-Dynamik ist erst ein Vorspiel ihrer vollen EntfalVII 400: »Eine attrahierende und repellierende Kraft für sich zu denken, ist unmöglich, denn worauf soll das Repellierende wirken, wenn ihm nicht das Attrahierende einen Gegenstand macht, oder worauf das Anziehende, wenn es nicht in sich selbst zugleich ein Zurückstoßendes hat?«. 1400 VII 423, 429, 439. 1401 VIII 73 f. (F. W. J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi). 1399

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tung im Fragment des ersten Teils (Vergangenheit) der Weltalter, die eigentlich dazu bestimmt waren, die drei Phasen der Geschichte (vor der Schöpfung: Vergangenheit; während der Schöpfung: Gegenwart; nach Ende des Zeitalters der Schöpfung: Zukunft) zu erzählen, aber nur im Ansatz ausgeführt sind, dafür aber in vielen Fassungen, von denen nur einige erhalten sind, wovon die wichtigste, auf die ich mich hier beschränke, in den gesammelten Werken1376 in Band X S. 199–344 veröffentlicht ist. Der Tonos expansiver und kontraktiver Kraft, die beide dasselbe Wesen sind, gehört in Gott zum Notwendigen (noch vor seiner Freiheit); sie können nicht ohne einander bestehen, sondern sich aber als besondere Einheiten von einander und bleiben dasselbe als durch den Gegensatz gesteigerte Einheit; das Eine unzertrennliche Urwesen ist so Einheit beider Kräfte wie ihr Gegensatz, und alle drei zusammen sind Gott. Derselbe Tonos durchzieht die körperliche Natur. Das von der anziehenden Kraft geengte und zurückgedrängte geistige Wesen, das für sich unfühlbar wäre, wird sich durch diesen Druck empfindlich und dringt umso mächtiger hervor, je mehr es in die Enge gebracht wird; seine wesentlich expansive, ausfließende Natur bleibt so lange gezwungen, nach innen zu wirken, bis sie durch eine höhere Potenz in Freiheit gesetzt wird und die Geisterwelt, frei ausfließend, in die Natur wirken kann. Ohne einschließenden Willen (Zorn) wäre die Liebe in Gott ohne tragende Stütze. Das An- und Eingezogene ist die ewige Natur, das All. Dies ist das Verhängnis alles Lebens, dass es aus der Weite in die Enge verlangt, um sich selbst fühlbar zu werden, aus dieser Enge aber wieder zurück in die Weite verlangt und doch nicht zurück kann, weil es sein sich selbst zugezogenes Leben damit aufgäbe. Dadurch entsteht ein steter Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung, gleichsam das schlagende Herz der Gottheit. Das Zusammennehmen durch den in sich ziehenden Geist bewirkt das Auseinanderwollen der Kräfte umso stärker, je mehr sie in die Enge gebracht und dadurch wirkender geworden sind. So ruft die Zusammenziehung ihr genaues Gegenteil hervor, einen Orgasmus der Kräfte. Das Weltall ist durch eine von außen nach innen zusammenziehende Kraft räumlich geworden. Dieses räumlich ausgedehnte Weltall ist das schwellende Herz der Gottheit. Die einzelnen Dinge entstreben der anziehenden Kraft, dem allgemeinen Mittelpunkt. So entsteht ein Turgor (Schwellung), ein Ausweichen nach allen Seiten. Dadurch aber, dass die Dinge sich der anziehenden Kraft entwinden, vergeht ihre Selbstheit, so dass sie aufs Neue in die Schärfe der anziehenden Potenz geraten, die sie zu 458

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immer höherer Selbstheit entflammt. In diesem steten Wechsel wird die Materie mehr und mehr zum äußeren Typus des Geistes zubereitet. Was in der Natur Kontraktion ist, ist in der Geisterwelt Expansion. 1402 Die Konkurrenz von Spannung und Schwellung (Engung und Weitung) im vitalen Antrieb wird mit solchen gleichsam beschwörenden Formulierungen treffend vergegenwärtigt, namentlich nach ihrer rhythmischen Seite mit Fluktuation des Übergewichtes, freilich in phantastischer Projektion auf Natur und Gott. Diese Nähe zum leiblich Spürbaren gibt dem Weltalter-Fragment dennoch einen besonderen Rang unter allen Produktionen Schellings. Im Alter hat Schelling der negativen Philosophie bloßer Denkgegenstände eine positive Philosophie der Existenz entgegenzustellen versucht. 1403 Das ist sehr verdienstlich, besonders als Reaktion auf den Intellektualismus Hegels, der das Sein, weil es in der Tat das unbestimmte Unmittelbare ist, für leer wie das Nichts erklärte.259 Er entwertet diesen fruchtbaren Ansatz, der die Philosophie von der konstruierenden Spekulation zur Besinnung umlenken könnte, aber sogleich, indem er ihn bloß theologisch versteht, Existenz als Existenz Gottes, dessen Spuren in der Welt durch einen philosophischen Empirismus abgelesen werden sollen. Er übersieht dabei, dass der monotheistisch als Unikum verstandene Gott selbst schon ein bloßer Denkgegenstand ist, bestimmt dazu, dass das mit Unermesslichkeit und Spontaneität als das Zufälligste widerfahrende Göttliche 1404 durch rein begriffliche Maximierung auf eine Eindeutigkeit festzulegen, 1405 die Gott berechenbar macht und ihm als Kehrseite der ihm zugesprochenen unüberbietbaren Großartigkeit eine dienende Rolle auferlegt: die eines exakten Zahlmeisters von Lohn und Strafe in genauer Angemessenheit an Tugend und Laster, wie Kant gerade aus den postulierten Maximaleigenschaften Gottes logisch zwingend ableitet. 1406 Mit der Orientierung der Existenz am Monotheismus bleibt Schelling also in der negativen Philosophie.

VIII 211–213, 215–218, 243–245, 247, 250 f., 311 f., 319 f., 325–327, 334. X 125 (Zur Geschichte der neueren Philosophie). 1404 Hermann Schmitz, Das Göttliche und der Raum (System der Philosophie Band III Teil 4), zuerst Bonn 1977, S. 8 und 10. 1405 Kant, Kritik der reinen Vernunft A 665 B693: »Denn das Größeste und absolut Vollständige lässt sich bestimmt gedenken, weil alle restringierenden Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen worden.«. 1406 KrV A 814 f. B842 f., s. o. 35.4.2. 1402 1403

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38. Die Frhromantik und Stirner

Schellings Fichte-Rezeption ist eine Sackgasse, da er den motivierenden Hintergrund des Ich-Gedankens – die Entdeckung der strikten Subjektivität der subjektiven Tatsachen – nicht verstanden hat. Die geschichtsmächtige Wirkung dieses Gedankens verläuft über die Frühromantik, die die strikte Subjektivität als rezessiv entfremdete von Fichte aufgenommen und nach verschiedenen Seiten gewendet hat. Diese Fichte-Schüler haben, feinfühliger als Schelling, verstanden, dass durch Angabe neutraler Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, für niemand ein Grund zu der Einsicht, dass es sich um ihn selber handelt, zu finden ist, es sei denn, er hat schon eine andere Quelle des Wissens über sich, die ihm gestattet, sich von einer solchen Angabe getroffen zu fühlen. Da aber alle Tatsachen als neutrale und in diesem Sinn objektive gelten – sonst wären sie »ein bloß subjektives Spiel der Vorstellungskräfte, gerade so wie es der Skeptizismus verlangt« 1407 –, scheint für jeden er selber ins Unfassliche rezessiver Entfremdung von allem Tatsächlichen zu entschwinden. Das bezeugen Bonaventura (Friedrich August Klingemann) in den Nachtwachen (1805) und Jean Paul mit makabrer Tönung. 1408 In der 14. Nachtwache fällt die Schauspielerin der Ophelia auf der Bühne in den Wahnsinn, ihrer Rolle zu verfallen, und muss ins Irrenhaus gebracht werden, wo sie eine Korrespondenz mit Hamlet beginnt, in der sie klagt: »Eine Hülse sitzt über der anderen, und ich bin oft auf dem Punkte, den Verstand darüber zu verlieren. Hilf mir nur meine Rolle zurücklesen, bis zu mir selbst. Ob ich denn selbst noch außer meiner Rolle wandle, oder ob alles nur Rolle, und ich selbst eine dazu.« Hamlet schließt seinen Kant, Kritik der Urteilskraft, § 21, 1. Satz, s. o. 35.2.2 und 35.5. Vgl. von mir: Die entfremdete Subjektivität (wie Anm. 1290) S. 17–19; Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 35 f.

1407 1408

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Die Frhromantik und Stirner

Antwortbrief: »Liebe mich kurz und gut, ohne weiteres Grübeln! Hamlet.« Das ist Parodie auf die kurz entschlossene Abwehr der Depersonalisation und Derealisation1327 wegen des sich immer höher schraubenden Wechsels der Standpunkte im transzendentalen Zirkel1328 durch Entschluss zum schlichten Glauben1329 nach Fichtes Bestimmung des Menschen.1330 Was für Bonaventura die Iteration der Rollen, ist für Jean Paul die Iteration der Spiegel, in deren Folge das Ich in Facetten zerspringt und im Abgrund versinkt: »Aus den Spiegeln der Spiegel sah er ein Ichs-Volk blicken.« 1409 »Ich! Ich! du Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft. – Ich! du Spiegel im Spiegel – du Schauder im Schauder!« 1410 Friedrich Schlegel, der wichtigste Vermittler der für die gesamte Folgezeit nachhaltigen Wirkung Fichtes, 1411 verwendet dasselbe Motiv ohne makabren Beigeschmack zur Charakteristik der romantischen Poesie: Sie kann »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden (…) auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.« 1412 Der Anschluss an die zwischen Unvereinbaren schwebende Einbildungskraft1339 und die Iteration im transzendentalen Zirkel nach Fichte ist unverkennbar, aber optimistisch in beflügelte Steigerung (Potenzierung) gewendet. Schlegel will den Spielraum nützen, der durch die rezessive Entfremdung über den objektiven Tatsachen geöffnet ist, den Spielraum der »unendlichen Reflexion in der Fichteschen Lehre«, die auf »potenzierter Reflexion, ein Bewusstsein im Bewusstsein, gleichsam drunter noch eine Etage tiefer« beruht; in diesem Sinn hat Fichte den Anfang der Metaphysik gemacht, »nicht aber im Ich und Nicht Ich, sondern in der innern Freiheit der Reflexion.« 1413 Diese Freiheit kennzeichnet Schlegel durch sein folgenschweres Schlagwort der (romantischen) Ironie, womit er sich an die Pforte des bis zur Gegenwart und sicherlich noch darüber hinaus reichenden ironistischen Zeitalters stellt; Ironie ist »das innerste Mysterium der kritischen Phi-

Titan, 34. Jobelperiode, 139. Zykel. Hesperus, 28. Hundsposttag. 1411 Ich schöpfe im Folgenden aus dem Friedrich-Schlegel-Kapitel in Die entfremdete Subjektivität, S. 195–214 und zitiere nach der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, München/Paderborn/Wien ab 1960, mit Band- und Seitenzahl. 1412 II 182 f. (Athenaeum-Fragment 116, 1798). 1413 XVIII 320, 414, 280 (Philosophische Lehrjahre IV 1535, V1116, IV1019). 1409 1410

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losophie«, 1414 wobei man nicht an Kant zu denken hat, sondern gemäß der Orientierung Schlegels an Fichte an den transzendentalen Zirkel, durch den die Wissenschaftslehre »ein kritischer Idealismus« 1415 ist. Die Ironie »enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten« 1416 wie Fichtes Einbildungskraft,1340 an der sie abgelesen ist. »Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stets sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken« 1417 und gleicht damit sowohl der Einbildungskraft als auch dem transzendentalen Zirkel nach Fichte, dem Schlegel in diesem Sinn zu Recht »transzendentale Ironie« als »das ewig bewegliche – zurückfließende Prinzip« bescheinigt. 1418 Die Ironie ist insgesamt unbegrenzte Wendigkeit, die den Spielraum rezessiver Entfremdung voll ausnützt: »Ein recht freier und gebildeter Mensch müsste sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.« 1419 Diese Wendigkeit hat zwei Seiten: sich von allem abwenden, jeder Position entziehen zu können und eben deshalb fähig zu sein, sich auf jeden Standpunkt zu versetzen. Ich bezeichne jene Seite als rezessive, diese als produktive Ironie. Beide Seiten sind in Fichtes Wissenschaftslehre vorgebildet als das absolute Abstraktionsvermögen, alles Wegdenkbare wegzulassen, »wenn auch nicht auf einmal, doch wenigstens so, dass ich von dem, was ich jetzt übrig lasse, hinterher abstrahiere, und dann dasjenige übrig lasse, von dem ich jetzt abstrahiere«1320 . Schlegel knüpft daran an, indem er die »Totalisierung der reflexen Abstraktion« als die Handlung bezeichnet, die »der einzige Anfang und vollständige Grund der Wissenschaftslehre« sei. 1420 Die reine Negativität der rezessiven Ironie fasst er in die Forderung: »Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können; sonst fehlt uns, was wir auch für andre Fä-

1414 1415 1416 1417 1418 1419 1420

XVIII 285 (V 1067). GA I 2 S. 412, 29 (zur Zitierweise s. Anm. 1290). II 160 (Lyceum-Fragment 108). II 184 (Athenaeum-Fragment 121). XVIII 468 (VI 357). II 154 (Lyceum-Fragment 55). VIII 28 (Besprechung von Niethammers Philosophischem Journal 1797).

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higkeiten haben, der Sinn für das Weltall.« 1421 Demgemäß sieht er aus »Treue gegen das Universum« dem Liebeskummer seines Freundes Friedrich von Hardenberg (Novalis) hartherzig zu. 1422 Dass die distributive Abstraktion oder Abwendung vom Einzelnen nicht nur der Näherung an das Ich, sondern auch der Verantwortung für das große Ganze dient, ist ein gegenüber Fichte neuer Gedanke, ebenso, dass das absolute Abstraktionsvermögen vom Abstrahierenden auch gegen sich selbst gerichtet wird: Durch die Ironie »setzt man sich über sich selbst weg«;1416 in eins mit der produktiven Kehrseite wird Ironie dadurch zum »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«. 1423 Wenn die Person wie bei Bonaventura nur noch vorläufig, als Rolle oder Schale, fassbar und als Kern durch rezessive Entfremdung unerreichbar geworden ist, kann sie mit sich selbst Schaffen und Vernichten spielen und durch diese extreme Verfügbarkeit für sich Macht ausüben wie Napoleon Bonaparte, der nach einem 1798 veröffentlichten Aphorismus eine große Rolle gespielt hat, »weil er Revolutionen schaffen und bilden, und sich selbst annihilieren kann.« 1424 Diese Entfestigung des eigenen Wesens trägt bei Bonaventura und Jean Paul unheimliche Züge, weil sie den Menschen mit Selbstverlust und Persönlichkeitsspaltung bedroht; Schlegel sieht darin nur die Chance einer Horizonterweiterung, die die Person zum Universum reifen lässt: »Aber sich willkürlich bald in diese bald in jene Sphäre, wie in eine andre Welt, nicht bloß mit dem Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer Seele versetzen; bald auf diesen bald auf jenen Teil seines Wesens frei Verzicht tun, und sich auf einen andern ganz beschränken; jetzt in diesem jetzt in jenem Individuum sein Eins und Alles suchen und finden, und alle übrigen absichtlich vergessen: das kann nur ein Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich enthält, und in dessen Innern das Universum, welches, wie man sagt, in jeder Monade keimen soll, ausgewachsen, und reif geworden ist.« 1425 Schlegels engster Verbündeter bei der frischen Verarbeitung der Anregungen Fichtes ist Friedrich von Hardenberg, genannt Nova1421 1422 1423 1424 1425

II 131 (Über Goethes Meister). XXIV 148 (an Schleiermacher, Mitte Juli 1798). II 172 (Athenaeum-Fragment 51). II 247 (Athenaeum-Fragment 422). II 185 (Athenaeum-Fragment 121).

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lis. 1426 Den Ausdruck »Ironie« macht er sich nicht zu eigen, aber in der wendigen Ausnützung des Spielraumes der entfremdeten Subjektivität stimmt er mit Schlegel überein; wie sehr, zeigt sich schon daran, dass die »Personenlehre«, mit der eben von Schlegel beschriebenen Virtuosität zugleich eine Person und in mehrere Personen geteilt zu sein, eines seiner Lieblingsmotive ist. 1427 Das Analogon von rezessiv-produktiver Ironie im Gefolge von Fichtes absolutem Abstraktionsvermögen drückt er in Formulierungen wie diesen aus: »Je mehr wir bestimmen, aus uns herauslegen, desto freier, substantieller werden wir – wir legen gleichsam das Beiwesen immer mehr ab und nähern uns dem durchaus reinen, einfachen Wesen unseres Ich.« 1428 »Die Beschränkungsfähigkeit wächst mit der Schrankenlosigkeit.« 1429 Das heißt, wenn ich richtig verstehe: Der Spielraum für Stellungnahmen in produktiver Ironie wächst mit dem Rückzug rezessiver Ironie aus solchen. Die von Schlegel geforderte willkürliche Versetzungsfähigkeit1419 nimmt Novalis so ernst, dass er seine Stimmungen willkürlich zu erzeugen sucht und für die vollendete Bildung einen bunten Wechsel von Berufen empfiehlt (ES, S. 220). »Das Leben sollte kein gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman sein.« 1430 Die Originalität der Fichte-Rezeption des Novalis besteht in dem, was ich »Raffung der Ironie« genannt habe. Man kann es so ausdrücken: Novalis optiert für das Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren1339 gegen den transzendentalen Zirkel, die »Schraube ohne Ende« fortgesetzter Potenzierung »in einer endlosen Reihe von Spiegeln« nach Friedrich Schlegel.1412 Die Schwierigkeit Fichtes mit dem sich setzenden Ich, das dennoch eines Anstoßes von außen bedarf, weil es sich nicht selbst beschränken kann und dennoch für sein Streben auf Beschränkung angewiesen ist (36.3), vermeidet Novalis, 1431 indem er das Sein, Freisein, Ichsein mit dem Schweben Hierzu beziehe ich mich auf das Novalis-Kapitel in Die entfremdete Subjektivität (ES) S. 215–237. Ich zitiere nach den Bänden II und III (Das philosophische Werk) der Ausgabe: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Kluckhohn und Samuel, 3. bzw. 2. Auflage 1975–1983, Lizenzausgabe Darmstadt 1981/1985. Zu Band-, Seiten- und Zeilenzahl füge ich die Angabe der Abteilung und Nummer der Notiz hinzu. 1427 Belege ES, S. 217, Anm. 447. 1428 II 288, 4–7, Abt. II n. 647. 1429 III 406, 5 f., Abt. IX n. 717. 1430 II 563, 13 f., Abt. VI n. 187. 1431 III 418, 30 – 419, 2 (Abt. IX n. 775): »Sollte Fichte mit dem Satze – das Ich kann sich 1426

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(der Einbildungskraft), also der Ambivalenz instabiler Mannigfaltigkeit nach dem Vorbild der Husserl’schen Puppe1341, von vornherein identifiziert. 1432 Dabei handelt es sich »um ein unendliches Factum, was in jedem Augenblick ganz geschieht – identisch ewig wirkendes Genie – Ichsein.« 1433 Dadurch ist das Drehen der Schraube iterierter Potenzierung ausgeschlossen. Das Schweben ist sozusagen die Balance der Kräfte, die nach entgegengesetzten Seiten ziehen, vergleichbar dem Äquivalenzprinzip Heraklits (4.2). Es kann keine Lösung des Konflikts bewirken, bedarf ihrer aber auch nicht. »Durch das freiwillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freie Tätigkeit in uns – das einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsere Unvermögenheit, ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebene Absolute lässt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, dass durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen.« 1434 Es gibt keine Erlösung: »Es können goldene Zeiten erscheinen – aber sie bringen nicht das Ende der Dinge – das Ziel des Menschen ist nicht die goldene Zeit – Er soll ewig existieren und ein schön geordnetes Individuum sein und verharren – dies ist die Tendenz seiner Natur.« 1435 Solches Aushalten im ungelösten und unlösbaren Konflikt ist nicht die Sisyphusarbeit des Anrennens gegen nie überwindbaren Widerstand wie bei Fichte,1315 sondern schon der Sieg oder die Apotheose: »Gott sind wir – als Individuen denken wir. Wenn Transzendenz zur Immanicht selbst begrenzen – inkonsequent – nachgiebig gegen den Satz des zureichenden Grundes sein. Die Möglichkeit der Selbstbegrenzung ist die Möglichkeit aller Synthesis – alles Wunders und ein Wunder hat die Welt angefangen.« III 385, 11 f. (Abt. IX n. 639): »Echter Fichtism ohne Anstoß – ohne Nicht-Ich in seinem Sinn.«. 1432 II 267, 9–23 (Abt. II n. 556): »Das Ich scheint im Widerspruch zu sein (…) – aber eben dadurch handelt es mit sich selbst in Übereinstimmung (…) – nämlich weil es nichts als ein Schweben etc. (…) – Es kann ohne so zu verfahren gar nicht hervorbringen – denn alles Hervorbringen geht auf Sein und Sein ist Schweben etc. (…) Sein, Ichsein, Freisein und Schweben sind Synonyme« II 266, 19–29 (Abt. II n. 555): »Frei sein ist die Tendenz des Ich – das Vermögen frei zu sein ist die produktive Imagination – (…) des Schwebens zwischen Entgegengesetzten. (…) Alles Sein, Sein überhaupt ist nichts als Freisein – Schweben zwischen Extremen, die notwendig zu vereinigen und notwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Objekt und Subjekt sind durch ihn, und er durch sie. Ichheit oder produktive Imaginationskraft, das Schweben – bestimmt, produziert die Extreme, wozwischen geschwebt wird.«. 1433 II 267, 34 f. (Abt. II n. 556). 1434 II 269, 33– 270, 6 (Abt. II n. 566). 1435 II 269, 18–22 (Abt. II n. 565).

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nenz wird, so ists die Idee der Gottheit – i. e. wenn die Vorstellung zur Anschauung wird – so sind wir im Gebiete des göttlichen Ich – die Einbildungskraft, als Anschauung, ist Gott.« 1436 Gott ist – genau wie nach Heraklit (fr. 67 Diels/Kranz) – das Schweben (der Einbildungskraft nach Fichte) zwischen Unvereinbaren, und dieses Schweben sind wir, deren Gedanken bei den ungelösten Konflikten sind, in denen wir schweben. An die Stelle der endlos wiederholbaren Spiegelung oder Potenzierung tritt durch die Raffung des Novalis der Ruck der Erhebung über sich, »der Akt des sich selbst Überspringens«. 1437 Dazu gehört die Selbstbemächtigung: »Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendenten Selbst zu bemächtigen – das Ich seines Ich’s zugleich zu sein.« 1438 Der Mensch soll sich als ewig wirkendes Genie1433 und Gott,1436 das (der) er als Ich und Schweben ist, auch ergreifen und nicht nur auf die unvereinbaren Gegenteile, befangen in ihrem Konflikt, anwenden. Novalis hat diese Selbstbemächtigung zu hybriden Konsequenzen getrieben: »Vollständiges Ich zu sein, ist eine Kunst – Man kann, und man ist, was man will. Man ist mehr oder weniger Ich, ja nachdem man will.« 1439 »Was ich will, das kann ich. Bei dem Menschen ist kein Ding unmöglich.« 1440 »Kunst allmächtig zu werden – Kunst unsern Willen total zu realisieren. Wir müssen den Körper, wie die Seele in unsre Gewalt bekommen. Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt – wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen.« 1441 Novalis liebäugelt mit dem Gedanken, »uns einen Körper zu geben, welchen wir wollen«, bis wir »auch unsre Sinne nach Gefallen modifizieren und dirigieren können.« 1442 Später hat er solche Exzesse eines magischen Idealismus als »logische Krankheiten – Wahnarten – in denen sich allerdings das Ideal (…) offenbart, oder spiegelt«, und ihre Propheten als »heilige – isolierte Wesen – die das höhere Licht wunderbar brechen«, kritischer gesehen. 1443

1436 1437 1438 1439 1440 1441 1442 1443

II 168, 3–7 (Abt. II n. 218). II 556, 8 (Abt. VI n. 134). II 425, 14 f. (Blütenstaub n. 28). II 294, 26–28 (Abt. II n. 659). III 660, 31 f. (Abt. XII n. 635). II 587, 18–22 (Abt. VI n. 256). II 584, 8–16 (Abt. VI n. 248). III 384, 27–385, 9 (Abt. IX n. 638).

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Mit Novalis teilt Max Stirner 1444 den Anspruch auf Selbstbemächtigung: »Ich bin einzig. (…) Und nur als dieses einzige Ich nehme ich Mir Alles zu eigen, wie Ich nur als dieses Mich betätige und entwickle: Nicht als Mensch und nicht den Menschen entwickle ich, sondern als Ich entwickle Ich – Mich. Dies ist der Sinn des – Einzigen.« (EE 406) »Im Einzigen kehrt der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren ward. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell’ ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.« (EE 412, Schlussworte) Wenn dieses Pathos verstiegen ist, steht es jedenfalls auf der Leiter der von Stirner äußerst scharf durchschauten rezessiven Entfremdung der Subjektivität. Gegen die zeitgenössische Verherrlichung des Menschen (statt Gottes) durch Feuerbach setzt Stirner die Frage: »Erfüllt jenes Prädikat ›Mensch‹ die Aufgabe des Prädikats, das Subjekt ganz auszudrücken, und lässt es nicht im Gegenteil am Subjekte gerade die Subjektivität weg und sagt nicht, wer, sondern nur, was das Subjekt sei?« 1445 Hier gewinnt Stirner die Stellung Fichtes gegen die Forderung eines objektiven Beweises für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele in der Rezension des Aenesidemus1295 zurück: Die objektiven Tatsachen, die durch richtige Subsumtion unter ein Attribut wie Mensch angegeben werden, reichen nicht an die Subjektivität, wer einer ist, heran, denn die hängt von den für ihn subjektiven Tatsachen ab; da aber Stirner keine solchen gelten lässt, sondern nur objektive Tatsachen kennt, fallen vollkommen einsichtig alle Bestimmungen durch irgendwelche Tatsachen von ihm ab, und es bleibt »die wirkliche Nacktheit, die Entblößung von allem Fremden« (EE 153 f.) eines Wesens, dessen Konkretion nicht mehr objektivierend bestimmt, sondern nur noch von ihm selbst gelebt werden kann: »Der Einzige hinIch beziehe mich auf das Stirner-Kapitel in meinem Buch Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität (Bonn 1995) S. 62–89 und zitiere Stirner (alias Caspar Schmidt, 1806–1856) nach der Reclam-Ausgabe seines (1845 zuerst erschienenen) Hauptwerkes Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981 (EE), sowie den Kleineren Schriften, hg. v. Mackay, Berlin 1914 (KS). Eine neuere Ausgabe dieser Schriften: Max Stirner, Parerga Kritiken Repliken, hg. v. B. Laska, Nürnberg 1986. 1445 KS 349 (Rezensenten Stirners). 1444

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gegen hat gar keinen Inhalt, ist die Bestimmungslosigkeit selber; Inhalt und Bestimmung wird ihm erst durch dich.« 1446 »Durch das Wort Einziger soll nicht gesagt werden, was du bist, wie man dadurch, dass man bei der Taufe dir den Namen Ludwig beilegt, nicht sagen will, was du bist.« 1447 Diese Bestimmungslosigkeit des rezessiv entfremdeten Ich ist von Fichte in § 3 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre vorweggenommen worden, wo er über thetische Urteile spricht: »Das ursprüngliche höchste Urteil dieser Art ist das: Ich bin, in welchem vom Ich gar nichts ausgesagt, sondern die Stelle des Prädikats für die mögliche Bestimmung des Ich ins Unendliche leer gelassen wird.« 1448 Gegen Fichte setzt Stirner ganz entschieden »das sich selbst auflösende Ich«, denn »nur das endliche Ich ist wirklich Ich. Fichte spricht vom absoluten Ich, Ich aber spreche von mir, dem vergänglichen Ich.« (EE 199) »Alle Wahrheiten unter Mir sind Mir lieb; eine Wahrheit über Mir, eine Wahrheit, nach der ich Mich richten müsste, kenne ich nicht. Für Mich gibt es keine Wahrheit, denn über Mich geht nichts! (…) Und zwar über Mich, diesen ›Tropfen am Eimer‹, diesen ›unbedeutenden Menschen‹.« (EE 399) Stirner leugnet also keineswegs das Zutreffen aller bekannten objektiven Tatsachen über ihn als diesen (unbedeutenden, vergänglichen) Menschen und entzieht sich trotzdem jeder Subsumtion, weil er fühlt, dass dieser Mensch nicht der ist, der er wirklich ist. Das ist insofern legitim, als von objektiven Tatsachen irgendwelcher Art kein begründeter Schluss auf die für jemand subjektiven möglich ist, wie ich zuletzt gegen Schelling ausgeführt habe; nicht im Inhalt der tatsächlichen Bestimmungen liegt ein Unterschied, sondern in der Art der Tatsächlichkeit. Erst die subjektiven Tatsachen geben Gelegenheit, für die Selbstzuschreibung, dass etwas mir zukommt, ein Relat zu finden. In ihnen fände Stirner genügend Anknüpfungspunkte zur Einfädelung in die Welt der objektiven Tatsachen, aber sie sind ihm unbekannt. Von seinem Standpunkt aus, dem der rezessiv entfremdeten Subjektivität, ist es daher einsichtig, dass er sich durch keine Wahrheit (über objektive Tatsachen) fassen lassen will. Stirners Nihilismus hat das große Verdienst, die Paradoxie der rezessiv entfremdeten Subjektivität scharf herausgearbeitet zu haben: Mit der Entdeckung, dass, wer ich bin, unter objektiven 1446 1447 1448

KS 346 (ebd.). Ebd. 346 f. GA I 2 S. 277, 5–8.

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Tatsachen nicht zu finden ist, auf halbem Wege vor den subjektiven Tatsachen stehen geblieben zu sein. Die Unerreichbarkeit des Einzigen dehnt Stirner von den Tatsachen (Wahrheiten) auf die Programme aus, die Normen und Wünsche, bei denen es ja ebenso den Unterschied der subjektiven (die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann) und der objektiven (die jeder aussagen kann, der genug weiß und gut genug sprechen kann) vorkommt, wie ich am Beispiel der Offiziere oder Politiker in der Schlacht bzw. Wahlschlacht, verglichen mit der Neutralisierung durch den nüchtern registrierenden Historiker, belegt habe. Dabei wird klar, dass Stirner sich wirklich nur gegen die Unterordnung des Einzigen unter neutrale oder objektive Programme wehrt. Gegen den Vorwurf des Egoismus verteidigt er sich nämlich durch die Beteuerung, dass er kein Feind der Liebe, Hingabe und Aufopferung sei, sofern es sich um wirkliches Interesse handle; er wende sich nur gegen die heilige Liebe, das heilige Denken usw. in dem Sinn, in dem das Heilige »das absolut Uninteressante (…), d. h. subjektlos Interessante« sei, 1449 woraus hervorgeht, dass es gerade nur der Abzug der Subjektivität für den Betroffenen ist, der seine Unbotmäßigkeit herausfordert. Dass diese aber zur fessellosen Selbstermächtigung gegen alle Geltungen ausartet, ist die Frucht seiner Anhänglichkeit an das von Kant in die Ethik eingeführte Autonomieprinzip (35.4.2). Er äußert sich darüber in einem Vergleich zwischen Selbstsucht, Liebe und Vernunft als Richtschnuren des Verhaltens unter der Voraussetzung, dass der »Wert des Menschen in die Selbstbestimmung« gesetzt wird. 1450 In der Liebe, anders als in der Selbstsucht, werde der Mensch zwar schon zum »Schöpfer seiner selbst«, aber er lasse sich bestimmen, während der freie Mensch, der Vernünftige, sich rein aus sich bestimme und keinen anderen Willen verwirkliche als den seinen. Indem die Liebe den Eigensinn breche, lasse sie zugleich »den Willen nicht aufkommen, der dem Menschen erst die Würde des freien Menschen verleiht«. Das klingt, als spräche Kant. Stirner verwechselt Subjektivität und Autonomie. Die Emanzipation von allen neutralen, bloß noch objektiven Normen gehört nicht zusammen mit der Emanzipation von der Autorität der Gefühle und der Evidenz, sofern diese dem Menschen verbindlich geltende Normen auferlegen, denen er seine Bereitschaft zum Gehorsam nicht 1449 1450

KS 375 und 359 (Rezensenten Stirners). KS 274–276 (Einiges Vorläufige vom Liebesstaat).

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unbefangen entziehen kann. Solche Autoritäten kommen ebenso als für jemand subjektive (im affektiven Betroffensein von Gefühlen wie der Liebe) vor wie als neutrale und objektive (in der Evidenz).

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39. Hegel

39.1 Die Denkform der Philosophie Hegels Die dialektisch-spekulative Denkform, mit der Hegel 1451 in der Geschichte der Philosophie einzigartig dasteht, lässt sich ziemlich leicht verstehen, wenn man sie im Licht einer Durchmusterung der allgemeinsten Typen der Mannigfaltigkeit betrachtet. Deswegen beginne ich mit einer Unterscheidung von drei solchen Typen und komme dann zu Hegel. Der bekannteste Typ, der gewöhnlich allein in Betracht gezogen Ich zitiere Hegel tunlichst nach den (gegebenenfalls an die Vorlage in der Kritischen Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften angelehnten) Studienausgaben der Philosophischen Bibliothek des Verlages Felix Meiner (Hamburg) mit Seiten- und Zeilenzahl, im Fall der Grundlinien der Philosophie des Rechts und der Encyclopädie nur mit Paragraphenzahl. Ich verwende folgende Abkürzungen: J I = Jenenser Systementwürfe I, hg. v. Düsing und Kimmerle, Hamburg 1986; J II: Jenenser Systementwürfe II: Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, hg. v. Horstmann, Hamburg 1982; J III: Jenenser Systementwürfe III, hg. v. Horstmann, Hamburg 1987; Ph: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wessels und Clairmont, Hamburg 1988; L I: Wissenschaft der Logik: Die Lehre vom Sein (1832), hg. v. Gawoll, Hamburg 1990; L I1 : Wissenschaft der Logik: Das Sein, Erstausgabe von 1812, hg. v. Gawoll, Hamburg 1986; L II: Wissenschaft der Logik: Die Lehre vom Wesen, hg. v. Gawoll, Hamburg 1992; L III: Wissenschaft der Logik: Die Lehre vom Begriff, hg. v. Gawoll, Hamburg 1994; Enc.: Encyclopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830); Rph.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Die nachgelassenen Jugendschriften zitiere ich nach der Ausgabe in: G. W. F. Hegel, Frühe Schriften, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 601, Frankfurt a. M. 1986 (FS). Ich beziehe mich nur auf eigene Texte Hegels und übergehe die Nachschriften von Vorlesungen. Deren inzwischen reichliche Versammlung in rezenten Drucken bildet ein Dickicht für Spezialstudien mit teilweise (so im Fall der Ästhetik) enttäuschendem Ergebnis, gemessen an der Kompilation in der alten Ausgabe der Freunde des Verewigten. Eine Übersichtsdarstellung in einer Gesamtdarstellung der Philosophiegeschichte wäre von diesem Material überfordert. Den Hintergrund meiner Ausführungen bildet mein Buch Hegels Logik (Bonn, Berlin 1992) (HL) sowie für 39.2 der Abschnitt Hegel (S. 239–302) meines Buches Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel (Bonn 1992) (ES).

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Hegel

wird, ist das numerische Mannigfaltige, das höchstens Einzelnes (numerisch Eines 1452 ) enthält. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, also genau das, was Element einer endlichen Menge und daher – da Mengen immer Mengen der … (Gattungstitel) sind – Fall einer Gattung (im weitesten Sinn dessen, wovon etwas ein Fall sein kann) ist. Da numerische Mannigfaltigkeit für die Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung notwendig und zureichend ist und die Anzahl oder Zahl in der Eignung zu umkehrbar eindeutiger Abbildung besteht – Anzahl einer Menge M ist die Eignung einer beliebigen Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden (s. die Überleitung am Anfang des Buches) –, ist das numerische Mannigfaltige genau das, was eine (endliche oder transfinite) Anzahl besitzt. Von anderer Art ist das chaotische Mannigfaltige, in dem nicht nur (eventuell gar nichts) Einzelnes enthalten ist. Es kommt in zwei Schichten vor: als konfuses Mannigfaltiges, dem es sogar schon an Identität und Verschiedenheit (durchgängig oder teilweise) mangelt, und als diffuses, in dem trotz vorhandener Identität und Verschiedenheit ein Mangel an Einzelheit besteht. Ein Beispiel des konfusen Mannigfaltigen ist das räumliche oder zeitliche Kontinuum, z. B. eine durchdöste Frist, in der sich viele Phasen flüssig überschneiden, ohne dass sich eine Spur von Verschiedenheit abzeichnete. So, als konfuses chaotisches Mannigfaltiges, erlebt auch der Schwimmer das Wasser. Ein Beispiel für diffuses chaotisches Mannigfaltiges ist eine Sprache für den kompetenten Sprecher. Eine Sprache ist eine Masse von Sätzen, d. h. Regeln oder Rezepten für mögliche Darstellung von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen. Der kompetente Sprecher, der sich dieser Sprache bedient, greift zielsicher in den Vorrat hinein und holt das für seine Darstellungsabsicht passende Rezept heraus. Die Kompetenz besteht darin, dass er sich nur selten vergreift, also vor Verwechslungen geschützt ist. Dieser Schutz besteht darin, dass der Vorrat für ihn schon genug Verschiedenheit (also auch Identität) besitzt, um eine treffende Auswahl zu gestatten. Zur Einzelheit können die verfügbaren Sätze beim Hineingreifen aber noch

Da Hegel »Einzelheit« (er sagt: Einzelnheit) als Begriffswort verwendet, werde ich im Folgenden, wo sonst eine Verwirrung seiner und meiner Terminologie drohen könnte, »numerisch Eines« statt »Einzelnes« in meinem Sinn sagen; als Plural von »Eines« verwende ich »Einheiten«.

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Die Denkform der Philosophie Hegels

nicht gediehen sein, denn als einzelner kann ein Satz nur gefunden werden, wenn man ihn (eventuell verkürzt) ausspricht oder – eher noch – schon ausgesprochen hat. Ein anderes Beispiel ist die geführte Gliederbewegung, z. B. beim Gehen, Laufen, Springen, Tanzen. Die eigenen Glieder können nur koordiniert werden, wenn man sie nicht verwechselt, aber sobald sie als einzelne vorkommen, ist es mit der flüssigen Bewegung vorbei. 1453 Für alle anderen routinierten Kompetenzen gilt entsprechendes. Neben dem numerischen und dem chaotischen Mannigfaltigen steht als dritter Typ das instabile (ambivalente, multivalente) Mannigfaltige von der Art, dass verschiedene Sachen (im allgemeinsten Sinn: Etwasse; die deutsche Sprache verbietet leider die Substantivierung von »etwas«) um Identität mit derselben Sache konkurrieren. Die Konkurrenten können einzeln sein, also ein numerisches Mannigfaltiges bilden; das Ganze hat wegen der Konkurrenz keine Anzahl, obwohl es natürlich als einzelner Fall der Gattung instabiles Mannigfaltiges aufgefasst werden kann. Ein unter 35.3.4 schon besprochenes Beispiel ist das Beziehungsbewusstsein, wo Einfachheit des Bewussthabens der Beziehung und Mannigfaltigkeit des Bewussthabens ihrer Glieder um Identität konkurrieren, wofür ich dort das Beispiel des Bewussthabens der Verschiedenheit des Mondes von der Sonne angegeben habe. Andere Beispiele ergeben sich aus dem Fluss der modalen Lagezeit, dass die Gesamtvergangenheit wächst, die Gesamtzukunft schrumpft und die Gesamtgegenwart wechselt (35.3.2),901 indem sie sich in die Zukunft gleichsam hineinfrisst. Obwohl sich dieser Fluss jedem Menschen so drastisch aufdrängt, dass der sich damit abfinden muss, hat es nicht an Versuchen gefehlt, ihn als Illusion zu entlarven. Davon sollte man Abstand nehmen, weil die Möglichkeit sinnvollen Denkens vom Fluss der Zeit abhängt. Wenn man ihn wegdenkt, bleiben nämlich statt gerichteter Relationen nur Anordnungen übrig, die zwei- oder mehrseitige Verhältnisse ohne Auszeichnung einer Richtung des Ablesens sind. Der menschliche Geist ist aber so einseitig (diskursiv) veranlagt, dass er solche Verhältnisse nur auffassen kann, indem er sie aufspaltet und aus gerichteten Relationen zusammensetzt. Dafür benötigt er den Fluss der

Ich erinnere an den bekannten Scherz vom Tausendfüßler, der nicht mehr laufen kann, wenn man ihn heimtückisch fragt: Wie machen Sie das eigentlich, Ihre tausend Beine zu bewegen?

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Zeit, der eine Richtung vorgibt. In diesem Fluss kommt die wechselnde Gegenwart bei einer Gegenwart an, die sich zur Zeit im Jahr 2005 n. Chr. befindet. Diese ist mit der wechselnden nicht schlechthin identisch, denn das wäre kein Ankommen, bei sich selbst anzukommen; sie ist aber auch nicht schlechthin von jener verschieden, denn das wäre keine Gegenwart, die nicht jetzt wäre. Die wechselnde Gegenwart konkurriert also mit der absoluten, bei der sie ankommt, um Identität mit der Gegenwart. Ebenso konkurrieren Vergangenheit und Gegenwart um Identität mit einer vergangenen Gegenwart, denn zwar kann Vergangenes nicht gegenwärtig sein, aber andererseits muss es als Geschehen gegenwärtig sein; ein Geschehen wie die Ermordung Caesars ist nur gegenwärtig möglich. Ich habe gezeigt, wie der Widerspruch vermeidbar ist: durch Erweiterung der Aussagenlogik um die Figur der unendlichfachen (d. h. unendlich schwachen) Unentschiedenheit (15.2.2). Hegels Denkweise lässt sich dadurch bestimmen, dass er von allen Typen der Mannigfaltigkeit nur den instabilen gelten lässt, den Plotin (15.2) und seine neuplatonischen Nachfolger (Proklos, Damaskios, Scotus Eriugena) aufgebracht haben. Er äußert sich darüber so, dass »die Betrachtung von allem, was ist, an ihm selbst zeigt, dass es in seiner Gleichheit mit sich sich ungleich und widersprechend und in seiner Verschiedenheit, in seinem Widerspruch, mit sich identisch und an ihm selbst diese Bewegung des Übergehens einer dieser Bestimmungen in die andere ist, und dies darum, weil jede an ihr selbst das Gegenteil ihrer selbst ist.« (L II 28, 8–13) Trotz dieses Bekenntnisses zum Widerspruch und entgegen manchen Äußerungen seiner Selbsteinschätzung ist Hegels Gedankengang widerspruchsfrei, weil er seiner Intention nach nicht in der Zusammensetzung einzelner Behauptungen, von denen einige anderen widersprechen, besteht, sondern in einem Sinngleiten, das einzelne Sätze mit dem Motor des Widerspruchs flüssig durchläuft, weil für Hegel die Wahrheit »die Bewegung ihrer an ihr selbst« ist (Ph 36, 14), »der bacchantische Taumel« im »Gerichte einer Bewegung«, in der die »bestimmten Gedanken« zwar nicht bestehen, aber »positive notwendige Momente« und zugleich »negativ und verschwindend« sind (Ph 35, 16–23), als vom Lauf des Gedankens ohne Aufenthalt durcheilte Stationen. Der Mathematik wirft Hegel demgemäß »fixierte, tote Sätze« vor, statt dass »der erste sich selbst zum andern fortbewegte« (Ph 33, 26–28) und damit »die dialektische Bewegung des Satzes selbst« (Ph 48, 9) ausführte; denn »das Wahre ist nicht ein Ruhendes, Seiendes, son474

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dern nur als sich selbst bewegend, als lebendig«. 1454 Man soll Hegels Sätze anders als üblich lesen, nämlich nicht mit festem, sondern mit gleitendem Sinn; deswegen geht er so weit, das Urteil als einzelne begründete Behauptung samt seiner Begründung als ungeeignet zur Darstellung von Wahrheit zu verwerfen. 1455 Hegel ändert nicht die Gesetze der Logik, sondern das Substrat der Wahrheit: wahr ist für ihn nicht die einzelne Behauptung, die allein im Widerspruch zu einer anderen stehen könnte, sondern der solche Behauptungen gleitend durchlaufende Sinn. Für diesen Ausweg aus dem förmlichen Widerspruch handelt Hegel sich aber einen performativen ein, etwas zu tun, das er sich selbst verbietet; denn seine Sätze führen den dialektischen Gang nicht einfach aus, sondern steuern ihn, indem sie ihm statt eines beliebigen Taumels die Richtung einer konsequenten, begründeten Gedankenführung geben, die in metasprachlicher Reflexion aus der jeweils eingenommenen Position Widersprüche herauszuholen sucht; für diese Steuerung des Kurses der Gedanken beansprucht Hegel buchstäbliche Wahrheit einzelner Behauptungen im üblichen Sinn, obwohl er sie verbietet. 1456 Mit seinem Bekenntnis zur ausschließlich instabilen Mannigfaltigkeit weicht Hegel vom im neuzeitlichen Denken herrschenden Singularismus ab, dem Erbe der durch Wilhelm von Ockham in dieser Hinsicht radikalisierten Scholastik (24.1). Kant ist der erste Denker, der sich diesen Standpunkt in keiner Weise, namentlich polemisch, mehr erarbeiten muss, sondern in völliger Ahnungslosigkeit über Gegenmöglichkeiten Singularist ist (35.1). Deswegen sind beider Denkformen inkommensurabel, während Fichte mit der zwischen Unvereinbaren schwebenden Einbildungskraft ein Modell des instabilen Mannigfaltigen eingeführt (36.3) und Novalis es vertieft (38) hat. Im Gegensatz zu den Neuplatonikern, die außer dem instabilen oder multivalenten Mannigfaltigen in der Welt des Geistes auch das numerische Mannigfaltige der Sinnenwelt (als Schwächezustand durch Lockerung intensiver Integration) gelten lassen (15.3), will Hegel dem numerischen Mannigfaltigen allen legitimen Boden entziehen. Da er aber in einer vom Singularismus geprägten UmHegel an Duboc, 30. 07. 1822 (Briefe von und an Hegel, hg. v. Hoffmeister, 3. Aufl. Hamburg 1969, II 329). 1455 L III 28, 34–37; Ph 36, 10–13; Enc. § 31 (Zitate in HL S. 17, Anm. 33). 1456 Vgl. HL 7–26 (Das dialektische Wahrheitsverständnis und seine Aporie, zuerst gedruckt in: Hegel-Studien Beiheft 17, 1977, mit Zusatz (1990) zum Widerspruch bei Hegel). 1454

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gebung lebt, muss er beim numerischen Mannigfaltigen ansetzen und dieses mit dem Werkzeug des logischen Widerspruchs in instabiles Mannigfaltiges konvertieren. Dazu kommt, dass er vom chaotischen Mannigfaltigen – z. B. von der binnendiffusen Bedeutsamkeit zuständlicher Situationen wie dem, was die mit ihm gleichzeitigen und z. T. gleichörtlichen Matadore der historischen Schule der deutschen Romantik »Volksgeist« nannten – gar nichts wissen will und insofern mit dem Konstellationismus übereinstimmt, der statt der Situationen mit ganzheitlich binnendiffuser, chaotisch-mannigfaltiger Bedeutsamkeit aus Sachverhalten (Überzeugungen), Programmen und Problemen nur Konstellationen, d. h. Vernetzungen einzelner Faktoren, zulässt. Der Unterschied Hegels von den modernen Konstellationisten besteht nur darin, dass deren Konstellationen stabil sein sollen, die Hegels aber instabil. Hegel expliziert nicht aus Situationen, sondern stellt einzelnen Positionen unverträgliche andere, die er aus jenen durch Aufdeckung in ihnen schlummernder Widersprüche entwickelt, als Antithese entgegen; von einer Synthese als Zusammensetzung nach Art der Synthesis Kants kann man bei ihm aber nicht sprechen, und er selbst spricht fast immer mit Verachtung davon (HL 43–47). Die dialektische Aufhebung der Gegenteile in einander, im Doppelsinn von Zerstörung und Bewahrung, ergibt vielmehr ein instabiles Mannigfaltiges wie das Schweben der Einbildungskraft nach Fichte, eine vieldeutige Zwischenlage, deren Analyse Hegel jeweils Gelegenheit zur Fortführung des dialektischen Prozesses gibt. Plotin beschreibt die instabile Mannigfaltigkeit des Geistes vertikal, vom Geist als ganzem her, der sich in die vielen Ideen so entfaltet, dass sie mit einander um die Identität mit ihm konkurrieren, wie er mit ihnen um Identität mit ihnen (15.2.1). Ähnlich sieht Duns Scotus die Identität der verschiedenen Perfektionen mit der sie in continentia unitiva verschmelzenden Essenz (23.2). Auch Hegel bemüht sich vielfach, wenngleich nicht durchgängig, um eine ganzheitliche Sicht, die wie bei Plotin vom Geist ausgeht und diesem das Bewusstsein der Individuen bis zur Deckung etwa so einordnet, wie Scotus die Perfektionen der Essenz; als bezeichnend greife ich folgende Formulierung heraus: »Dies ist das Ziel, die absolute Realität des Bewusstseins, in die wir seinen Begriff zu erheben haben. Es ist die Totalität, die es als der Geist eines Volkes hat, der absolut das Bewusstsein aller ist, den sie anschauen und als Bewusstsein sich entgegensetzen, aber ebenso unmittelbar ihre Entgegensetzung, ihre 476

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Einzelnheit in ihm aufgehoben erkennen oder ihr Bewusstsein als absolut Allgemeines.« (J I 190, 9–16) Soviel ich sehe, hat Hegel aber niemals die dialektische Konstruktion vom Ganzen her eingeleitet; dieses ist immer nur deren Ziel, »das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen« (Ph 15, 20 f.). Plotins multivalente Mannigfaltigkeit des Geistes, die sich im Zuge der Emanation vom Einen zum Vielen entfaltet, ist horizontal (in der Dimension des Vielen) und vertikal (im Verhältnis zwischen den vielen Geistern und dem einen ganzen Geist) ausgewogen; Hegel setzt dagegen die Dialektik immer horizontal an, bei als numerische Einsen imponierenden Polen, und schraubt sie durch Vermittlung empor zur Integration, die das Wahre als das Ganze (Ph 15, 20) mehr oder weniger vorläufig erreicht. Durch diese Vermittlung von Gegenteilen ist jedes relativ geschlossene Segment seiner Dialektik dreiphasig; dieser allgemeinste Typ des dialektischen Ganges teilt sich aber in zwei deutlich unterschiedene Untertypen, von denen der eine zweipolig, der andere dreipolig ist. Im zweipoligen Fall sind die Gegenteile für einander Vermittler der Integration; die drei Phasen sind dann etwa ihr Außersichkommen, die Aufhebung des Gegenteils und die Rückkehr in sich wie bei der Bewegung des Anerkennens nach Ph 128, 11–30 oder der Schluss der chemischen Verbindung als »die vermittelte Beziehung seiner selbst durch das andere, jedes ist Mitte« (J III 96, 29 f.). Den Anfang des Prozesses macht nach Wissenschaft der Logik die Aufhebung von Sein und Nichts im Werden (1. Phase), das sich in Entstehen und Vergehen differenziert (2. Phase), die durch gegenseitige Aufhebung in die ruhige Einfachheit des Daseins zusammensinken (3. Phase). Hier ist nur von zwei Polen die Rede, die sich durch gegenseitige Vermittlung integrieren. So sieht Hegel anfangs auch das Verhältnis des Unendlichen und Endlichen: »Dies ist allein die wahrhafte Natur des Endlichen, dass es unendlich ist, in seinem Sein sich aufhebt. Das Bestimmte hat kein anderes Wesen als diese absolute Unruhe, nicht zu sein, was es ist; es ist nicht Nichts, indem es das Andere selbst, und dies Andre ebenso das Gegenteil seiner selbst, wieder das erste ist.« (J II 33, 5–9). Später hat Hegel die dialektische Aufhebung des Endlichen und Unendlichen in einander durch einen dritten Pol bereichert, die wahre oder affirmative Unendlichkeit, in der sich »zwei solche Einheiten« (das unendlich gewordene Endliche und das endlich gewordene Unendliche) zu einer Einheit verbinden, die »das Gemeinschaftliche 477

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Hegel

beider Bestimmtheiten«, worin sie ihre qualitative Natur verlieren, ist (L I 144, 15–19): die wahre oder affirmative Unendlichkeit, die als »in das einfache Dasein zusammengesunkene Unendlichkeit« zum Fürsichsein wird (L I 160, 32 f.) und weiter zum Fürsichseienden; »indem in dieser Unmittelbarkeit seine innere Bedeutung verschwindet«, ist es »die ganz abstrakte Grenze seiner selbst – das Eins.« (L I 166, 31–33) Hier wiederholen sich die drei Phasen des Übergangs von Sein und Nichts als Werden mit Entstehen und Vergehen in Dasein, aber durch den dritten Pol, die affirmative Unendlichkeit, so dass die Dreiphasigkeit eine etwas kompliziertere Gestalt annimmt: Die Gegenteile heben sich in einander auf (1. Phase) und integrieren sich dadurch zu einem ambivalenten Dritten (2. Phase), das sich wegen dieser Zweideutigkeit nicht halten kann und in eine spröde, abstrakte Einheit zusammenfällt (3. Phase). Dieser Rhythmus ist – in der Sprache der drei Hauptteile von Hegels Logik: Sein, Wesen, Begriff – die Logik des Begriffs, so wie der dreiphasig-zweipolige die Logik des Wesens; am Begriff stellt er sich dar als die Integration des Allgemeinen und Besonderen zum (beide Seiten einschließenden) Einzelnen (L III 46, 4–9), das wegen seiner brüchigen Zweideutigkeit aber »nicht nur die Rückkehr des Begriffes in sich selbst, sondern unmittelbar sein Verlust« ist (L III 56, 5 f.) und gleiches Schicksal mit dem affirmativen Unendlichen erleidet: Als »gesetzte Abstraktion« ist es »Fürsichseiendes«, »ein qualitatives Eins oder Dieses« (L III 56, 17–23), »das aus der Vermittlung hergestellte Unmittelbare« (L III 57, 11 f.), und so tritt es als »abstrakte Einzelheit« (L III 67, 17) in der Rolle des grammatischen Subjektes in das positive Urteil ein. Dieser Übergang der einschließenden, konkreten, integrierenden Einzelheit (z. B. eines durch die Verfassung wohlgeordneten Staates) in die abstrakte, punkthafte, ausschließende Einzelheit (desselben Staates im Verhältnis zu anderen Staaten) macht das »Salz«, das forttreibende Moment, der dreipoligen Begriffsdialektik aus, die sonst in harmonischer Abrundung stationär bliebe. Ein anderes Beispiel ist der Absturz des Einzelnen in Unmittelbarkeit aus dem dreipoligen Schluss von Allgemeinheit, Besonderheit und integrierender Einzelheit (L III 149, 12–19) in die »an sich selbst nicht bestimmte Einzelheit« des Mechanismus mit bloß äußerlicher, gleichgültiger Ordnung der Bezogenen (L III 159, 9–19). Nach der Einleitung zu Grundlinien der Philosophie des Rechts beginnt der Wille als dreipolige Integration von Allgemeinheit, Besonderheit und (einschließender) Einzelheit, in der »Selbstbestimmung des Ich« 478

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aus unbestimmter Allgemeinheit zum Besonderen (§ 7), als nur an sich freier, unmittelbarer Wille mit Begierden und Willkür, die sich an Gegebenem abarbeitet, und erhebt sich aus dieser Abstraktheit eines ausschließend einzelnen Willens zum wahrhaft unendlichen Willen, der in seinem Gegenstand bei sich ist, ohne Abhängigkeit von etwas anderem, und dessen Dasein das Recht ist (§§ 11, 15, 22, 23, 29). Die Struktur der instabilen Mannigfaltigkeit, dass zwei Sachen um Identität mit einem Dritten konkurrieren, ist erst in der dreipoligen Dialektik dadurch voll ausgeprägt, dass das Dritte als eigener Pol fassbar wird, während es in der zweipoligen gleichsam flüssig bleibt als Schluss der Vermittlung, in der jeder dem anderen Mitte der beiderseitigen Aufhebung und Rückkehr in sich ist (J III 96, 23 f., s. o.), wie in folgender Charakteristik des Ich: »Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein anderes, und greift zugleich über das andre über, das für es ebenso nur es selbst ist.« (Ph 120, 31–34) Zu klassischer Klarheit erhebt sich die dreipolige Dialektik dagegen in einer beschwörenden Charakteristik des Ich als des Dritten, das der instabile oder ambivalente Kampfplatz des Endlichen und Unendlichen ist, in Hegels Manuskript seiner Vorlesung über Religionsphilosophie: »Ich erhebe denkend mich zum Absoluten – über alles Endliche – und bin unendliches Bewusstsein und zugleich bin ich endliches Selbstbewusstsein – und zwar nach meiner ganzen empirischen Bestimmung – und beides ist für mich – und es ist ihre Beziehung für mich – die wesentliche Einheit meines unendlichen Wissens – und meiner Endlichkeit – Sie suchen sich und fliehen sich – diese beiden Seiten, Ich bin – und es ist in mir dieser Widerstreit und diese Einigung; bin mir selbst als unendlich gegen mich als endlich und als endliches Bewusstsein gegen mich als unendliches bestimmt – mein Denken Bewusstsein als unendlich. Ich bin die Anschauung, Empfindung, Vorstellung – dieser Einigkeit und Widerstreits. Ich bin das Zusammenhalten derselben, die Bemühung dieses Zusammenhaltens, die Arbeit des Gemüts, dieser Entgegensetzung, die ebenso für mich ist, Meister zu werden. (…) Ich bin die Beziehung dieser beiden Seiten; – diese beiden Extreme sind jedes selbst Ich, und das Zusammenhalten Beziehen ist selbst dies in Einem sich Bekämpfende, dies im Kampf sich Einende; – oder ich bin der Kampf, und der Kampf ist eben dieser Widerstreit, – der nicht in Gleichgültigkeit der beiden als Verschiedener ist, sondern der das Zusammengebundensein beider ist – Ich bin nicht einer der im 479

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Kampfe Begriffenen – Ich bin beide Kämpfenden, Ich bin der Kampf selbst. Ich bin das Feuer und Wasser, die sich berühren, – und die Berührung bald Getrennter, Entzweiter; – bald Versöhnter, Einiger; – Einheit dessen, was sich schlechthin flieht – und diese Berührung ist selbst doppelt, widerstreitend seiende Beziehung als Beziehung.« 1457 Dieser metaphysische Konflikt im Ich hat die Struktur der Husserl’schen Puppe,1341 des anschaulichen Zwitters von Dame und Puppe, wovon Husserl als Berliner Student im Wachsfigurenkabinett irritiert wurde, als er seine anfängliche Auffassung der Figur als liebenswürdig lächelnde, freundlich winkende Dame nicht aufrecht erhalten konnte; später hat er dieses Beispiel in die anschauliche Konkurrenz einer Dekorateurin mit einer Kleiderpuppe im Schaufenster eines Textilgeschäfts umfingiert. So banal das Beispiel ist, so gut kann es als Modell des instabilen Mannigfaltigen auch bei Hegel verwendet werden. Die zweipolige Dialektik des Wesens, für die Hegel die Formeln des absoluten oder reinen Unterschiedes seiner von sich selbst, des Anderen seiner selbst und der Sichselbstgleichheit (d. h. Identität) im Anderssein verwendet, hat den Nachteil, dass die Integration im flüssigen Element gegenseitiger Vermittlung der Gegenteile zweideutig bleibt, weil mangels eines integrierenden dritten Pols nicht eindeutig feststeht, ob der Prozess ein Ganzes oder zwei Ganze liefert. Hegel stößt auf diese Schwierigkeit in der Ph beim Selbstbewusstsein, dessen vollendeter Begriff aus zwei Momenten resultiert, deren Wahrheit »vielmehr die gedoppelte Reflexion, die Verdoppelung des Selbstbewusstseins« ist (Ph 126, 31–40), zwar »Verdoppelung des Selbstbewusstseins in seiner Einheit« (129, 30 f.), aber einer Einheit, die nur im Spiel der Antagonisten mit verteilten Rollen besteht. Als hätte er diese Zweideutigkeit von Monismus und Dualismus bemerkt, hilft sich Hegel in dieser Situation mit einem Vorblick auf den Geist: »Was für das Bewusstsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewusstsein, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (Ph 127, 19–24) Ich habe auf diese Beobachtung die durch viele Anzeichen gestützte Vermutung gegründet, dass diese Problematik der Integration durch Hegels Gesammelte Werke, hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Band XVII S. 52, 8–20. 26–53, 9.

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zweipolige Dialektik für Hegel der Grund war, mitten im Strom der Ausarbeitung des Buches 1806 die Pferde zu wechseln, wodurch aus der geplanten Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins eine Phänomenologie des Geistes wurde, deren Stationen von einem gewissen Punkt an und in gewissen Grenzen »statt Gestalten nur des Bewusstseins, Gestalten einer Welt« sind (Ph 290, 25 f.). Nach dem ursprünglichen Plan sollte auf das Kapitel über das geistige Tierreich und den Betrug oder die Sache selbst nach einem Einschub gegen Kants praktische Philosophie, gebildet aus den Kapiteln über gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft und der Polemik gegen Kants Ethikotheologie in den Kapiteln über die moralische Weltanschauung und die Verstellung, das Kapitel über das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung folgen, als die letzte Erfahrung des Bewusstseins, die es zum absoluten Wissen reif macht. Um den Spalt zwischen Dualismus und Monismus in der zweipoligen Dialektik zugunsten des Monismus zu schließen, fügte Hegel gemäß der Ankündigung Ph 127, 19–24 das Kapitel über den wahren Geist (die Sittlichkeit) ein, und, um den Anschluss an das Gewissen wiederherzustellen, noch das folgende Kapitel über den sich entfremdeten Geist (die Bildung); aus anderen, nicht so ersichtlichen Gründen bereicherte er das Werk um die Kapitel über beobachtende Vernunft und Religion (HL 278–297, 306 f.). So entstand die »unselige Verwirrung«, die nach Hegels Worten »den ganzen buchhändler- und druckerischen Verlauf, sowie zum Teil die Komposition sogar selbst beherrschte.« 1458 Umso erstaunlicher ist es, dass Hegel zwar mit Worten die zweipolige Dialektik des Wesens gegen die dreipolige des Begriffs herabsetzt 1459 und diese im Aufbau seiner Logik als die höhere, zur Vollendung führende Stufe auszeichnet, in der Tat aber immer wieder aus der dreipoligen Logik in die zweipolige zurückfällt, ganz besonders da, wo er die Vollendung logisch-dialektischer Spekulation mit der absoluten Idee erreicht zu haben glaubt und von seiner dialektischen Methode Rechenschaft gibt; für das Nähere verweise ich auf HL 60–71, 166–177 (für Wissenschaft der Logik) und S. 326–328 (für Grundlinien der Philosophie des Rechts). Ich kann mir dieses verblüffende Zurückbleiben der Ausführung hinter der Ankündigung nur so erklären, dass Hegel von der Auseinandersetzung mit Briefe von und an Hegel hg. v. Hoffmeister Band I (Hamburg 1952, 3. Aufl. 1969), S. 161 (an Schelling, 01. 05. 1807). 1459 Wie Anm. 1457, S. 108, 20: »Wesen – ist wenig«, vgl. HL 333–335. 1458

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dem herrschenden Singularismus nicht loskommt und dadurch auf die Aufgabe fixiert bleibt, die numerische Einheit und Mannigfaltigkeit mit den Figuren des Unterschiedes seiner von sich selbst und der Identität im Anderssein zu überwinden, statt sich auf die Konsolidierung des dadurch gewonnenen Bodens mit dreipoliger Dialektik zu konzentrieren. Er fühlt sich vor allem dafür verantwortlich, gegen die Gläubigen der numerischen Mannigfaltigkeit, die Identität und Nichtidentität für »etwas Wahres, Festes, Wirkliches« halten, das Gegenteil einzuschärfen: »Nicht das eine oder das andre hat Wahrheit, sondern eben ihre Bewegung, dass das einfache Dasselbe die Abstraktion und damit der absolute Unterschied, dieser aber als Unterschied an sich, von sich selbst unterschieden also die Sichselbstgleichheit ist.« (Ph 509, 2–8) Diese dialektische Bewegung ist nichts Physisches und verdient daher nicht den Vorwurf von Trendelenburg und anderen gegen Hegel, die Logik mit Sinnlichem kontaminiert zu haben, sondern es handelt sich wie bei Plotin, der den doch zeitlos beharrenden Geist als stürmisch bewegten schildert (15.2.1; 16.1), um die immanente Unruhe des instabilen, ambivalenten Mannigfaltigen, die man sich einigermaßen am Witz klar machen kann, der dadurch entsteht, dass verschiedene Sachverhalte identifiziert werden, aber nur kapiert werden kann, wenn bei der Identifizierung auch ihre Verschiedenheit bewusst ist. 1460 Man kann sich an Hegels Ideal des Wahren, das das Ganze ist, ungefähr herantasten, indem man es einem Universalwitz vergleicht, in dem alle möglichen Gedanken zusammenlaufen, gleichgültig, ob sie wahr oder falsch sind, bis alle einseitigen Stellungnahmen im Ganzen aufgehoben sind, aber mit systematischer Konsequenz, nicht beliebig und chaotisch wie beim Witz; demgemäß schreibt Hegel in der Differenzschrift von 1801: »Die Seite, von welcher das Erkennen ein Trennen, und ihr Produkt ein Endliches ist, macht jedes Wissen zu einem beschränkten, und damit zu einer Falschheit; aber insofern jedes Wissen zugleich eine Identität ist, insofern gibt es keinen absoluten Irrtum.« 1461 »Trennen« und »End-

Vgl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, 2. Aufl. 1995, S. 164–166; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 86 f. 1461 Jenaer Kritische Schriften I, hg. v. Brockard und Buchner, Hamburg 1979 (Philosophische Bibliothek Band 319a), S. 78 (Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie). 1460

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liches« meinen hier Einseitigkeit, »Identität« meint Integration, Verganzung zur Viel- bis Allseitigkeit.

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39.2 Die Motivation der Philosophie Hegels Nach Lektüre von Schillers Wallenstein hat Hegel 1800 oder 1801 aufgeschrieben, was der »unmittelbare Eindruck« des Stückes auf ihn war. Er charakterisiert den Helden: »(…) seine erhabene, sich selbst genügende, mit den größten Zwecken spielende und darum charakterlose Seele kann keinen Zweck ergreifen, sie sucht ein Höheres, von dem sie gestoßen wird; (…). Eben die Einseitigkeit des Unbestimmtseins mitten unter lauter Bestimmtheiten, der Unabhängigkeit unter lauter Abhängigkeiten bringt ihn in Beziehung mit tausend Bestimmtheiten (…); und diese Bestimmtheit (…) ergreift ihn mehr, als dass er sie machte. Dieses Erliegen der Unbestimmtheit unter die Bestimmtheit ist ein höchst tragisches Wesen und groß, konsequent dargestellt; (…). Der Eindruck von diesem als einem tragischen Ganzen steht mir sehr lebhaft vor.« (FS 618 f.) Was Hegel persönlich so betroffen macht, ist die Tragödie der rezessiv entfremdeten Subjektivität (36.2) in der Weise, wie später Kierkegaard sie dem Höhenschwindel vergleicht, mit dem die Freiheit in die eigenen Möglichkeiten niederschaut und sodann die Endlichkeit packt, um sich daran zu halten. 1462 Im Frankfurter Systemfragment, das Hegel auf den 14. September 1800 datiert hat, nennt er sie »ein Schweben des Ich über aller Natur« (FS 427) nicht ohne Bezug auf Fichte, 1463 der mit dem (von Novalis vertieften) Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren der romantischen Ironie das Leitmotiv gab (s. o. 38). Mit dieser Ironie, die den von rezessiver Entfremdung eröffneten Spielraum zu unbeschränkter Wendigkeit in Ab- und Zuwendung nützt, zeigt Hegel sich nicht nur vertraut, sondern er macht sie sich auch früh und spät zu eigen, etwa mit dem packenden Vergleich des Zugriffs des wollenden Ich mit Krallen von Samt im 3. Jenaer Systementwurf von 1805/06: »Dies eben macht die Kraft seines Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, deutsch von E. Hirsch, 2. Aufl. Düsseldorf 1983, S. 60 f. 1463 Der Bezug ergibt sich daraus, dass Hegel wenige Zeilen vorher auf die abschließende Klimax von Fichtes Appellation an das Publikum über die (…) ihm beigemessenen atheistischen Äußerungen (1799) anspielt. 1462

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Hegel

Schlusses, seines Willens, dass es, insofern [es] eine Seite hinausbietet, in dieser in sich zurückgenommen ist, dadurch nicht eine Bestimmtheit ausstellt, an der es gefasst werden kann, es sind pattes de velour, die gegen den anderen Krallen sind, aber wie er sich dagegen wendet, greift er in den flüssigen Samt, den er nicht festkriegen kann. – Er ist also darin Ganzheit, und eben darum unangreifbar.« (J III 186, 19–25) Der romantische Ironiker lässt sich nicht fassen, weil er zwischen Zu- und Abwendung frei zu schweben versteht. Später (1821) findet Hegel sogar eine knapp schlagende Formulierung für dieses Doppelvermögen beliebigen Stellungnehmens und Stellungräumens (produktive und rezessive Ironie laut Kapitel 38), so nonchalant, als handle es sich um eine jedermann zumutbare Selbstverständlichkeit: »Jeder wird zunächst in sich finden, von allem, was es sei, abstrahieren zu können und ebenso sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu können (…).« (Rph § 4). Außer der Wendigkeit betont Hegel eine härtere Gestalt des absoluten Abstraktionsvermögens (der rezessiven Ironie) der rezessiv entfremdeten Subjektivität (36.2). Friedrich Schlegel hatte die Ironie als »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« beschrieben1423 und das Charisma Napoleons darauf zurückgeführt, dass dieser »sich selbst annihilieren kann.«1424 Hegel versteht die Selbstvernichtung buchstäblich und assoziiert daher die ironische Freiheit mit dem Tod: »(…) es ist die Freiheit seines Eigensinns; der Einzelne kann sich zu diesem Punkte machen, er kann von allem absolut abstrahieren, alles aufgeben; er kann nicht abhängig gemacht, an nichts gehalten werden, jede Bestimmtheit, an der er gefasst werden soll, kann er von sich abtrennen und im Tode seine absolute Unabhängigkeit und Freiheit, sich als absolut negatives Bewusstsein realisieren.« (J III 207, 31–208, 4) Man kann an Dostojewskis Kirilow (Die Dämonen) denken. In diesem Exzess der Abstraktion entdeckt Hegel seinen zu überwindenden Feind: »Die Antwort, die Robespierre auf Alles gab – hier hatte einer dies gedacht, jenes getan, dies gewollt oder jenes gesagt – war: la mort! Ihre Einförmigkeit ist höchst langweilig, aber sie passt auf Alles. Ihr wollt den Rock: hier habt ihr ihn; auch die Weste: hier; Ihr gebt einen Backenstreich: hier ist auch der andere Backen; Ihr wollt den kleinen Finger: haut ihn ab. Ich kann alles töten, von Allem abstrahieren. So ist der Eigensinn unüberwindlich und kann an ihm selbst Alles überwinden. Aber das Höchste, was zu überwinden wäre, wäre gerade diese Frei484

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Die Motivation der Philosophie Hegels

heit, dieser Tod selbst.« 1464 Robespierre und Jesus gehören also für Hegel zusammen als Virtuosen in exzessiver Übung des absoluten Abstraktionsvermögens, jener sthenisch (durch Töten), dieser asthenisch (durch Dulden gemäß Matthaeus-Evangelium 5, 40). Diese sthenische Abstraktion als »vollendete Absonderung des Einzelnen von seinem Geschlecht« ist für Hegel der »Wahnsinn«, den er den Juden nachsagt als »Verruchtheit der Absonderung zu morden und sich [morden] zu lassen bis der Staat zerrüttet ist.« 1465 Ebenso ist »die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion« nach Grundlinien der Philosophie des Rechts § 5 »die Freiheit der Leere, welche zur wirklichen Gestalt und Leidenschaft erhoben und (…) zur Wirklichkeit sich wendend, im Politischen wie im Religiösen der Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und die Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen (…) wird.« Die Heilung dieser als rezessive Ironie im absoluten Abstraktionsvermögen diagnostizierten Krankheit schlägt Hegel in den Anfangsjahren seiner Privatdozentenzeit in Jena als homöopathische Kur (aber nicht mit verdünnter Lösung, sondern mit massiv gesteigerter Dosis) vor, indem er den Tod als freie Selbstvernichtung (nach Friedrich Schlegel) in Dienst nimmt und in den Tod für das Vaterland umdeutet, so die Absonderung der absoluten Abstraktion zur Gemeinschaft zurückführend. Das ist der Grundgedanke breiter Ausführungen in dem 1802 verfassten und 1803 veröffentlichten Aufsatz Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts 1466 und dem wohl fast gleichzeitig entstandenen System der Sittlichkeit. 1467 Im Naturrechtsaufsatz entwirft Hegel eine Ständelehre im Anschluss an Platon mit zwei oder drei Ständen, von denen der edle Stand der Freien, des absoluten Abstraktionsvermögens mächtig, seine Aufgabe im Töten mit Todesbereitschaft für das Vaterland hat und nebenbei als »göttliche Komödie« die Kultur besorgt, deren Genies (wie Homer, Sophokles, Platon u. a.) an der sittlichen Organisation als »göttliche Monstrositäten der Schönheit ihrer Gestalt nicht schaden, sondern komische Züge sind, die einen Moment ihrer Gestalt Hegels Gesammelte Werke, Akademieausgabe Band V, Düsseldorf 1998, S. 493, 9– 16 (Jenenser Notizbuch n. 31). 1465 Ebd. S. 158 Z. 2–7 (aus den Fragmenten einer Schrift über die Verfassung Deutschlands). 1466 Wie Anm. 1461, Band II S. 90–178, dazu ES, S. 252–258. 1467 Wie Anm. 1464 S. 279–361, dazu ES, S. 258–261. 1464

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erheitern«. 1468 Der gemeine zweite Stand (zusammen mit dem eventuell dritten, der als Kanonenfutter dient) unterscheidet sich vom edlen durch das Fehlen der rezessiven Ironie, aufgrund der hausbackenen Bindung an irdische Güter und Geschäfte. Im System der Sittlichkeit stellt Hegel der Wut der Verwüstung auf dem Extrem der absoluten Abstraktion die Idee der absoluten Sittlichkeit gegenüber, anschaubar als Volk mit absolutem Einssein der Individualitäten, das hauptsächlich im Krieg gelebt wird, wo der Hass gegen den Feind von allem Persönlichen frei ist; das Volk selbst wird der Verbrecher, und dieses Verbrechen ist »die sittliche Bewegung Gottes absolut, nicht Verbrechen und Schwächen, sondern absolutes Verbrechen, der Tod.« 1469 Dieser Tod soll aber nicht im Nahkampf gegeben und empfangen werden, sondern »leer«, »unpersönlich aus dem Pulverdampf« 1470 mit dem »Schießgewehr« als der »Erfindung des allgemeinen, indifferenten, unpersönlichen Todes«. 1471 Es kommt also nur auf die Integration an, auf die Umlenkung der ironischen Selbstvernichtung in die Gemeinschaft des Volkes mit Gipfel im Tod für das Vaterland; die Entfremdung wird als Abstraktion von der Farbigkeit des Sterbens nicht nur in Kauf genommen, sondern sogar gefordert, um einer Absonderung des persönlichen Engagements von der Gemeinschaft zuvorzukommen. Damit zeichnet sich ein Hegel beherrschendes Interesse an der Integration gegen die Absonderung ab. Die Übereinstimmung mit der dialektisch-spekulativen Denkweise ist augenscheinlich; denn diese ist abgestellt auf Wahrheit als Ganzheit, als Integration einzelner und daher durch numerische Einheit ursprünglich abgesonderter Positionen in multivalente Mannigfaltigkeit (39.1). Diese Übereinstimmung begründet die Vermutung, dass die Auseinandersetzung mit der rezessiven Entfremdung der Subjektivität bei Fichte und den Frühromantikern für Hegel eine treibende Kraft der Entwicklung seiner Denkweise gewesen ist. Dazu passt, dass diese Auseinandersetzung sich vielmehr gegen die rezessive Ironie der Abwendung und Absonderung als gegen die produktive der Zuwendung richtet. Zwar empfiehlt Hegel Arbeit, Ordnung, Fixieren der Aufmerksamkeit bis zur Selbstverdinglichung im Auswendiglernen als Heilmittel gegen das Ich als die »Form der reinen 1468 1469 1470 1471

Wie Anm. 1466, S. 148, 11–13. Wie Anm. 1467 S. 361, 23–25 (Schlussworte). Randnotiz Hegels zu J III 251, 17. Wie Anm. 1467, S. 331, 6 f.

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Unruhe, Bewegung, oder Nacht des Verschwindens«1472 , und diese Unruhe kann als ironische Wendigkeit nach beiden Seiten, der rezessiven und der produktiven, verstanden werden, aber der Akzent liegt auch hier auf der rezessiven Seite, dem Rückzug, wie die Umschreibung der Unruhe als Nacht des Verschwindens zeigt. Der späte Hegel der Berliner Zeit bemüht nicht mehr so drastische Mittel zum Abfangen der Subjektivität und steht dieser im Sinne der subjektiven Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, worum es ursprünglich Fichte ging (36.1), sogar näher als Hegel in Jena. Das zeigt sich in folgender Passage über die Religion aus dem Entwurf seiner Antrittsrede als Professor in Berlin 1818: »Religion ist meine Angelegenheit, Ich bin persönlich als dieser darin, aber ich soll darin sein, – eben nach meinem Wesen, nicht meine Partikularität darin geltend machen, sondern vielmehr mich über sie stellen, über sie hinaus sein, – abstrahieren, – ich soll als objektiv mich darin verhalten; es ist gerade mein OBJEKTIVES Sein. (…) Im Kultus wird das Göttliche zum Selbstbewusstsein, (…) wovon nur die Form, nämlich das Selbstbewusstsein, mir als Subjekt zukommt, (…) und das Göttliche zum Selbstbewusstsein wird. Diese Objektivität – die ebenso sehr Subjektivität – macht allein die Religion aus.« 1473 So wie Fichte zu jeder eigenen Körperbewegung außer der bloßen Wahrnehmung davon eine intellektuelle Anschauung, dass ich es tue, verlangte,1302 gehört zur Religion für Hegel, dass derselbe Akzent auf meiner Angelegenheit als meiner liegt, was durch meinen Begriff der subjektiven Tatsache präzisiert werden kann. Diese strikte Subjektivität soll aber dadurch gezügelt werden, dass sie sich der Objektivität des Göttlichen unterordnet und darauf beschränkt, diesem im Kultus die Form des Selbstbewusstseins zu verleihen. Dadurch soll die beliebige Wendigkeit der romantischen Ironie abgefangen werden, die Hegel in § 140e von Rph zur moralischen Frivolität verzerrt, als »Spitze der sich als das Letzte erfassenden Subjektivität«, »die Eitelkeit alles sittlichen Inhalts der Rechte, Pflichten, Gesetze, – das Böse, und zwar das in sich ganz allgemeine Böse«, dem die Ironie obendrein »die subjektive Eitelkeit, (…) sich selbst als diese Eitelkeit alles Inhalts zu wissen, und in diesem Wissen sich als das Absolute zu wissen«, verleiht. Gegen solche Überspitzung der einseitigen Subjektivität beruft sich Hegel auf die ambiva1472 1473

J III 177, 28–36; 179, 17. 23–181, 3; 189, 7–12. Akademieausgabe Band 18, Hamburg 1995, S. 23, 12–28.

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lente Einheit der Idee: »Die Einheit der Idee ist Subjektivität, Denken, Unendlichkeit und dadurch wesentlich von der Idee als Substanz zu unterscheiden, wie diese übergreifende Subjektivität, Denken, Unendlichkeit von der einseitigen Subjektivität, dem einseitigen Denken, der einseitigen Unendlichkeit, wozu sie sich urteilend, bestimmend herabsetzt, zu unterscheiden ist.« (Enc. § 215) Die Integration der Subjektivität ergibt also immer noch nicht eine stabile Substanz, sondern behält die Struktur der instabilen Mannigfaltigkeit, indem die übergreifende Subjektivität sich selbst zur einseitigen herabsetzt, in der von mir zur Beschreibung der dreipoligen Begriffsdialektik gewählten Sprache: indem die einschließende Einzelheit – die Selbstbestimmung aus der unbestimmten Allgemeinheit zur bestimmten Besonderheit nach Rph. § 7 – sich zur ausschließenden, unmittelbaren Einzelheit reduziert.

39.3 Die Logik

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39.3.1 Wissenschaft der Logik Im Folgenden referiere ich summarisch den Gedankengang von Hegels Hauptwerk Wissenschaft der Logik. Es erschien in erster Auflage mit zwei Bänden 1812 (Objektive Logik, 1. Buch: Das Sein, 2. Buch: Die Lehre vom Wesen) und 1816 (Subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff), doch werde ich mich an die zweckmäßigere Einteilung von Lasson halten: 1. Buch: Das Sein (L I), 2. Buch: Das Wesen (L II), 3. Buch: Der Begriff (L III). Kurz vor seinem Tod hat Hegel das 1. Buch gründlich überarbeitet; die 2. Auflage mit unverändertem 2. und 3. Buch erschien 1833. Daran halte ich mich. Die drei Bücher unterscheiden sich durch die Beschaffenheit der dem dialektischen Prozess unterworfenen Terme. Die Terme des Seins sind numerische Einheiten1452 im Sinne der singularistischen These, dass alles ohne weiteres numerisch Eines (einzeln) ist. Die Dialektik erweist nach Hegel den Irrtum dieser These, indem sie im numerisch Einen latente Widersprüche aufdeckt, an denen die numerische Einheit zerbricht und zur Integration instabiler Mannigfaltigkeit freigesetzt wird. Die Terme des Wesens haben aus dieser Erfahrung des Seins gleichsam gelernt, indem sie sich die dialektische Aufhebung angeeignet haben und dieser, da sie von vornherein doppelsinnig sind, keinen direkten Angriffspunkt bieten. Sie entziehen 488

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sich dem Zugriff an einer bestimmten Stelle, weil sie je schon nicht mehr da sind, sondern gegenüber bei einem anderen, in das sie sich und das sie in sich aufgehoben haben. Da sie die Stellung geräumt und nichts zurückgelassen haben, ist ihre Reflexion »die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück« (L II 14, 15 f.). Die aufhebende Dialektik erreicht sie daher nicht an den Polen, sondern greift bei konträren Bewegungsrichtungen an (setzende und äußere Reflexion). Der Mangel dieser Dialektik besteht darin, dass sie nicht sicher zwischen monistischer und dualistischer Integration zu unterscheiden gestattet: ob die Bewegung auf ein einziges Ganzes abzielt oder auf zwei durch wechselseitige Aufhebung in einander greifende Ganze. Als Abhilfe bietet sich die Struktur des Begriffs an. Dessen Dialektik ist nicht nur zweipolig wie die des Wesens (mit Identität des einen im anderen und des anderen im einen), sondern dreipolig in der Weise, dass zwar jeder der drei Pole gemäß der Reflexion des Wesens er selbst in jedem der anderen (durch gegenseitige Aufhebung) ist, der hinzukommende dritte Pol aber die zusätzliche Aufgabe übernimmt, die beiden anderen gemeinsam (und nicht nur jeden von ihnen besonders, in zweipoliger Dialektik) einzuschließen. Die drei Pole des Begriffs sind das Allgemeine, das Besondere und das Einzelne; die Rolle des monistisch integrierenden dritten Pols überträgt Hegel nach einigem Schwanken dem Einzelnen, das sich als Motor der Dialektik durch seine doppelte Fähigkeit eignet, die beiden anderen Pole einzuschließen, aber auch als unmittelbare oder spröde, auf das Niveau des Seins zurückfallende Einzelheit auszuschließen. Die Logik des Seins beginnt mit Degradation des Seins zum Nichts als gegenseitigem Umschlagen beider, der das Werden ist, dessen beide Seiten – Entstehen und Vergehen – sich durch Aufhebung der Unruhe des Werdens zum Dasein ausgleichen. Dieser Anfang ist misslungen; denn zwar mag das Sein irgendwie als das unbestimmte Unmittelbare aufgefasst werden können – unbestimmt, weil es keine zirkelfrei angebbare notwendige und zureichende Bedingung dafür, dass etwas ist, geben kann, und unmittelbar durch primitive Gegenwart, 1474 – aber beileibe nicht als Nichts, abgesehen davon, dass die Großschreibung von »nichts« mit dem bestimmten Artikel davor eine sinnwidrige Erschleichung ausdrückt. Wenn ich Hegels Anlie1474

Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 21–24, 27–32,

35 f.

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gen richtig bestimmt habe – als Überführung der numerischen Mannigfaltigkeit, vielmehr instabile zu sein, und fortschreitende Integration dieser instabilen Mannigfaltigkeit zum Wahren als dem Ganzen –, dann beginnt der dialektische Prozess rechtens, wo zwei numerische Einheiten zuerst ein Mannigfaltiges bilden, nämlich beim Paar Etwas und ein Anderes, indem für beide ihr Ansichsein (absolute Bestimmtheit) und ihr Sein für einander (relationale Bestimmtheit) als vermeintlicher Widerspruch bezüglich der Frage, ob die Bestimmtheit dies oder jenes ist, gegen einander ausgespielt werden. Daraus ergibt sich ein erster Fall instabiler Mannigfaltigkeit als die Grenze, in der sie zusammenfallen und doch geschieden sind, so dass sie (meine Ausdrucksweise) um Identität mit ihr konkurrieren. Indem die Grenze in das Etwas gesetzt wird, ist es das Endliche, das dadurch, da die Grenze Beziehung auf das Begrenzende ist, durch endlose Wiederholung über sich hinausgeht ins Unendliche. Damit setzt die Reflexion des Wesens ein, aber als ein den Termen des Seins bloß angetanes Schicksal: Das Endliche verschwindet im Unendlichen, das Unendliche im Endlichen, und beide konkurrieren um Identität mit dem wahren, affirmativen Unendlichen, einem weiteren Fall instabiler Mannigfaltigkeit. Weil die Reflexion den Termen aber noch nicht immanent ist, fallen sie ab in die »in das einfache Sein zusammengesunkene Unendlichkeit« (L I 160, 32 f.), »die ganz abstrakte Grenze seiner selbst – das Eins« (L I 166, 32 f.). Die beiden Seiten der Grenze, das Trennen und das Zusammenfallen der Getrennten, fallen aus einander; gegen das Zusammenfallen behauptet sich das Eins durch Ausschließen (Repulsion) anderer Eins, numerischer Einheiten, die wegen des Fehlens näherer Bestimmungen unbestimmt viele sind; aber wegen der anderen Funktion der Grenze, die Begrenzten zu vereinigen, konkurriert mit der Repulsion die konträre Attraktion, wodurch die vielen Eins ein einziges Eins sind. Repulsion und Attraktion sind bereits die beiden Richtungen der Reflexion des Wesens; Hegel könnte gleich zu diesem übergehen, aber er führt das Eins auf dem Boden des Seins auf folgende Weise zur Quantität hinüber: Die vielen Eins (z. B. Atome oder Menschen, verstanden bloß als abstrakte Rechtspersonen ohne Rücksicht auf ihre Individualität) sind gleichgültiger Stoff für die Reflexion von Repulsion und Attraktion an ihnen; daraus ergibt sich die Möglichkeit gleichgültiger Bestimmtheit, und das ist die quantitative, da dieselbe Qualität mehr oder weniger sein kann, also gleichgültig dagegen, in welchem Ausmaß. Die Attraktion als Identität im Unterschied ist in 490

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der Quantität Kontinuität, die Repulsion als Unterschied in der Identität diskrete Quantität. Im unendlichen Progress ist die Gleichgültigkeit der quantitativen Bestimmtheit ausdrücklich gesetzt. Indem das Quantum als Zahl mit sich selbst multipliziert (potenziert) wird, bezieht es sich auf sich selbst; dadurch ist es nicht mehr gleichgültig, sondern fähig, Qualitäten zu bestimmen; es wird Maß mit einem Spielraum der Toleranz für invariante Qualität. Die Wiedereinführung der quantitativen Gleichgültigkeit als Progress (Knotenlinie von Maßverhältnissen) und die daraus sich ergebende Indifferenz löscht die Behauptung der einzelnen Positionen; so wird das Sein reif zum Wesen. »Die Wahrheit des Seins ist das Wesen.« So beginnt Hegel das 2. Buch. Wahrheit ist für ihn Integration, und die Terme des Wesens sind integrierter als die Terme des Seins, weil sie die dialektische Aufhebung als den Unterschied seiner von sich selbst, die Identität im Anderssein, sich angeeignet haben. Die Hintergründigkeit, etwas anderes als er selbst zu sein (deswegen aber noch lange nicht nicht er selbst), erleidet der Term des Seins als dialektisches Schicksal, während der Term des Wesens sie zu eigen hat. Die Dialektik des Wesens verläuft zunächst in dieser Hintergründigkeit, führt dann aber zu dem höheren Doppelsinn, hintergründiger Vordergrund oder doppelsinnige Unmittelbarkeit des Seins numerischer Einheiten im Sichzeigen (Manifestieren) als Eintrag des Wesens ins Sein zu sein. Das nennt Hegel »Wirklichkeit«. Das Wesen erreicht dieses Niveau in einem Kreisgang, der zunächst vom hintergründigen Doppelsinn der Reflexion zur einfachen Unmittelbarkeit der Existenz führt (2. Buch, 1. Abschnitt), dann umgekehrt von der Existenz zurück zur reinen Reflexion des Inneren und Äußeren, die durch ihren Gegensatz zusammenfallen (2. Buch, 2. Abschnitt). Mit diesem Kreisgang von Vermittlung über Unmittelbarkeit zur Vermittlung ist das Wesen zur Wirklichkeit (2. Buch, 3. Abschnitt) reif geworden. Die Glättung durch Import des Andersseins in sich (setzende Reflexion) ist zugleich Trennung von sich durch Export seiner selbst ins Anderssein (äußere Reflexion), beides zusammen bestimmende Reflexion, die sich in die Reflexionsbestimmungen (Identität, Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz, Widerspruch) entfaltet, die verschiedene Seiten der Identität im und als Unterschied, des Anderen seiner selbst, sind. Das Aufgehobensein des Gegensatzes ist das Positive, das Aufgehobensein im Gegensatz das Negative, beides widerspricht sich und ist doch dasselbe, nämlich instabile Mannigfaltigkeit 491

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Hegel

des Wesens: seine Einheit, durch die Negation ihrer selbst mit sich identisch zu sein. Diese Identität ist der Grund; sein Begründetes ist die Reflexion zweier Reflexionen (des Positiven als des Negativen und des Negativen als des Positiven), die Form des Grundes. Im Verhältnis zur Form wird der Grund zur Materie. Die Einheit von Form und Materie ist der Inhalt. An ihm realisiert sich der Doppelsinn des Wesens als Doppelsinn von Wesen und Sein. Die Rolle des Seins übernimmt für den Inhalt die Bedingung, verstanden als bloß notwendige; sie führt zur Unmittelbarkeit des Daseins zurück, weil es unübersehbar viele abgesonderte und unterschiedliche notwendige Bedingungen von etwas gibt. Das zur Unmittelbarkeit wiederhergestellte Wesen (Inhalt) und das in seinen Doppelsinn aufgenommene Dasein (Bedingung) vereinigen sich zur Existenz als durch Aufhebung der Vermittlung mit sich identischer Unmittelbarkeit. Auf diesen Gang des 1. Abschnittes im 2. Buch folgt im 2. Abschnitt der umgekehrte Gang von der Unmittelbarkeit zur Reflexion. Zunächst entspringt durch Vereinigung des Inhaltes mit der Bedingung das Ding an sich, das viele Dinge an sich ist, die dasselbe Ding an sich sind, ganz entsprechend dem Verhältnis von Repulsion und Attraktion des Eins. Damit ist die Reflexion zurückgekehrt. Sie setzt die Existenz zur Erscheinung herab, damit zum Wesen, das sich durch sein Nichtsein als bloßer Schein (bloße Erscheinung) mit sich vermittelt. Ihr steht das Naturgesetz als zur Identität erstarrtes Wesen gegenüber. Beide Seiten vervollständigen sich zur erscheinenden und ansichseienden Welt, die gemäß der Doppelsinnigkeit des Wesens dieselbe Welt sind: eine Totalität, die sich in zwei Totalitäten abstößt, von denen eine die unmittelbare, die andere die reflektierte ist. Das ist das wesentliche Verhältnis. Hegel führt es zunächst (unzulänglich) als Verhältnis des Ganzen und der Teile vor, dann (einleuchtender) als Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung, oder vielmehr zweier Kräfte, die einander sowohl anstacheln (sollizitieren) als auch von einander angestachelt werden, so dass sie in instabiler Mannigfaltigkeit – Konkurrenz jeder Kraft mit der anderen um Identität mit der Kraft, die beide sind und die jede von beiden ist – zusammenfallen. Daher ist die Äußerlichkeit jeder Kraft (Beziehung auf die andere) mit ihrer Innerlichkeit (Beziehung auf sich selbst) identisch. Das Innere ist nur das Äußere und umgekehrt, jedes ist unmittelbar sein Gegenteil. Damit ist die reine Reflexion zurückgekehrt und der dialektische Gang des 2. Abschnitts abgeschlossen. An der Spitze des 3. Abschnittes des 2. Buches steht ein Kapitel 492

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über das Absolute als das durch den Doppelgang von der Vermittlung in die Unmittelbarkeit selbstsicher zum Hervorgang in die Wirklichkeit gewordene Wesen. 1475 Reflexion und Unmittelbarkeit stehen sich als Möglichkeit und Wirklichkeit gegenüber. Der Möglichkeit presst Hegel wegen ihrer Ambivalenz, Möglichkeit auch des Gegenteils zu sein, durch einen logischen Fehler 1476 den zur Reflexion gehörigen Widerspruch auf. Die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit ist die Zufälligkeit, in der nach Hegel der Widerspruch steckt, einen Grund und auch keinen Grund zu haben. (Warum einen Grund? Vielleicht denkt er an Leute, die für alles einen Grund, mindestens einen zufälligen, verlangen.) Als unvermitteltes Umschlagen der Reflexion und der Unmittelbarkeit in einander ist Zufälligkeit die Notwendigkeit, das Analogon des Inhalts als der Identität des Grundes mit sich im Begründeten (der Form) und umgekehrt. Die Notwendigkeit ist zunächst die formelle dieser bloßen Form, zweitens die reale, in der sich der Inhalt zu verschiedenen Inhalten differenziert. Als Totalität aller notwendigen Bedingungen und des dadurch verwirklichten Bedingten ist sie die Sache selbst, reale Notwendigkeit als Aufgehobensein von Möglichkeit und Wirklichkeit im Zufälligen. Diese Einheit von realer Notwendigkeit und Zufälligkeit ist die absolute Notwendigkeit. Das absolut Zufällige ist das absolut Notwendige, unbegründbar und daher unanfechtbar, weil mangels kausaler Anknüpfung nicht beeinflussbar. Es ist absolut frei, geht aber unter, weil es ein bestimmter Inhalt ist, nicht aber als absolutes Verhältnis der Selbstbegründung des Seins als sich mit sich vermittelndes Wesen. Dieses Sein ist als sich begründendes Substanz, als von sich begründetes die Akzidenzen. Beide Seiten sind dasselbe, aber diese Selbigkeit ist noch nicht an ihnen ausgedrückt (gesetzt). Daher muss die unabhängige Seite (Substanz) in die abhängige (Akzidenzen) übergehen. Das geschieht, indem sie als Ursache in die Wirkung übergeht und sich in dieser endlos wiederholt. Erst in der Wechselwirkung wird der Unterschied vom anderen zum Unterschied seiner von sich selbst, indem alles Wechselwirkende in gleicher Weise aktiv und pasHegel benützt dieses Kapitel zur versteckten Polemik gegen Schellings Identitätsphilosophie, vgl. HL 131. 1476 L II 178, 20–22, über die Möglichkeit: »Als diese Beziehung aber, dass in dem einen Möglichen auch sein Anderes enthalten ist, ist sie der Widerspruch, der sich aufhebt.« Es kann möglich sein, dass A, und obendrein, dass nicht A, aber daraus folgt nicht, wie Hegel hier will, dass es möglich und nicht möglich ist, dass A. (Die Negation hat unerlaubt ihren Platz gewechselt.). 1475

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siv, also das Tun zugleich Erleiden und insofern von sich unterschieden ist. Damit ist die Reflexion im Sein vollständig wiederhergestellt und der Begriff erreicht. Der Begriff ist das instabil oder ambivalent Mannigfaltige seiner drei Momente; Hegel schwankt in L II über die Wahl des zentral integrierenden Begriffsmomentes und teilt diese Rolle gelegentlich dem Allgemeinen zu, 1477 am Schluss von L II dem Besonderen. 1478 Erst in L III ringt er sich zur klaren Entscheidung für die Einzelheit als zentral integrierendes Begriffsmoment durch; sie ist »die Tiefe, in der der Begriff sich selbst erfasst und als Begriff gesetzt ist« (L III 53, 35 f.), worin die Bestimmtheit (d. h. Besonderheit) mit der Allgemeinheit zum Einfachen verbunden ist; sie ist zugleich aber auch Motor der Dialektik durch ihre Fähigkeit, aus der einschließenden Einzelheit zur ausschließenden, gegen die beiden anderen Momente festgehaltenen abzurutschen und dadurch für den Begriff »der gesetzte Verlust seiner selbst« zu werden (L III 46, 4–15). Mitten in dieser konsequenten Entwicklung der Dreipoligkeit des Begriffs scheint Hegel, seltsam genug, den Faden zu verlieren und den Begriff mit dem zweipoligen Wesen zu verwechseln. Den »Begriff des Begriffes« fasst er so: »(…); seine Unterschiede, weil er unmittelbar das An- und Fürsichsein ist, sind selbst der ganze Begriff, in ihrer Bestimmtheit allgemeine und identisch mit ihrer Negation.« (L III 28, 20–24) Diese das Gegenteil übergreifende Identität führt nicht über das Wesen hinaus. Hegel verschärft diesen Rückfall auf das vorige Niveau durch das Beispiel, mit dem er seine Definition erläutert (L III 12, 24–13, 14): das Ich als »der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist«. Es ist »absolut Allgemeines, das

1477 L II 157, 22–30: »Die Bewegung des Wesens ist überhaupt das Werden zum Begriff. In dem Verhältnis des Inneren und Äußeren tritt das wesentliche Moment desselben hervor, dass nämlich seine Bestimmungen gesetzt sind, so in der negativen Einheit zu sein, dass jede unmittelbar nicht nur als ihre Andere, sondern auch als die Totalität des Ganzen ist. Aber diese Totalität ist im Begriff als solchem das Allgemeine, – eine Grundlage, die im Verhältnis des Inneren und Äußeren noch nicht vorhanden ist.« Vgl. (zum Begriff als instabilem Mannigfaltigem) auch L II 191, 15–18: »(…); diese gesetzte Einheit seiner in seinen Bestimmungen, die als das Ganze selbst und damit ebenso sehr als Bestimmungen gesetzt sind, ist alsdann der Begriff.«. 1478 L II 211, 36–39, vom Allgemeinen und Einzelnen: »Diese ihre einfache Identität ist die Besonderheit, welche vom Einzelnen das Moment der Bestimmtheit, vom Allgemeinen das Moment der Reflexion-in-sich in unmittelbarer Einheit enthält.« S. 212, 6 f.: »Dies ist der Begriff, das Reich der Subjektivität oder der Freiheit.«.

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ebenso absolute Vereinzelung ist«, »indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert, und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht.« Die Besonderheit (Bestimmtheit und Inhalt) wird also von der unmittelbaren Beziehung des Einzelnen und Allgemeinen ausgestoßen, die Dreipoligkeit zur Zweipoligkeit verkürzt: Vom Ich wie vom Begriff ist »nichts zu begreifen, wenn nicht die angegebenen beiden Momente zugleich in ihrer Abstraktion und in ihrer vollkommenen Einheit aufgefasst werden.« Die Einzelheit wird eingeführt als »Reflexion des Begriffs aus seiner Bestimmtheit in sich selbst. Sie ist die Vermittlung desselben durch sich, insofern sein Anderssein sich wieder zu einem Anderen gemacht [hat], wodurch der Begriff als sich selbst Gleiches hergestellt, aber in der Bestimmung der absoluten Negativität ist.« (L III 53, 16– 21) Das passt ebenso auf die Reflexion des Wesens, die zweipolige Dialektik. Diese Tendenz zum Rückfall in die Wesenslogik durchzieht die Entwicklung des Begriffs und erreicht den Gipfel auf dem Schluss- und Höhepunkt des Ganzen, bei der absoluten Idee; darüber gleich. Das wichtigste Konstruktionsprinzip der Begriffslogik ist der Abfall der einschließenden Einzelheit in bloß noch ausschließende mit folgendem Wiederaufstieg der Integration; solche Brüche ereignen sich beim Übergang von der Exposition des Begriffs zum positiven Urteil, vom Schluss zum Mechanismus, vom Zweck zum Entschluss, vom Leben zum lebendigen Individuum. Aus dem Übergang in die Objektivität erholt sich der Begriff im Mechanismus noch einmal zu einer schönen dreipoligen Struktur: Aus der Repulsion der einander ausschließenden Einzelnen mit Widerstand, Gewalt, Schicksal und Entgegensetzung des in seiner Einzelheit freien Ich gegen das objektiv Allgemeine entwickelt sich eine Attraktion, in der das Einzelne, etwa als Zentralkörper eines Planetensystems oder als Regierung im Staat, das Besondere der vielen Einzelnen mit dem Allgemeinen zusammenschließt. Im anschließenden Chemismus wird diese dreipolige Totalität mit einschließender Einzelheit wieder zur zweipoligen Reflexion, z. B. im Geschlechterverhältnis mit Liebe und Freundschaft (chemisch im Sinne von Goethes Wahlverwandtschaften); Lösungsmittel der chemischen Bindung sind das Wasser und die Sprache als übergreifende allgemeine Natur, worin sich die Gegenteile reflektieren. Nach seinen Gesellen- und Wanderjahren in der Objektivität durch Mechanismus und Chemismus vollbringt der Begriff sein Meisterstück, wodurch er zur Idee reif wird, mit der Te495

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leologie als dem Vorgriff auf ein Ziel mit dem absoluten Unterschied von sich selbst, in die Gegenwart planend das Zukünftige einzuholen; durch Einbezug des Mittels aus der mechanisch-chemischen Äußerlichkeit wird ein Schluss mit drei Gliedern (gegenwärtiges Planen – künftiges Ziel – integrierendes Mittel) hergestellt. Da aber das Mittel äußerlich bleibt, gilt dies auch für das Ziel, dessen Erreichen daher logisch belanglos ist. Der Ertrag der Teleologie besteht vielmehr darin, dass der Begriff die Voraussetzungen, die er in der äußerlichen Objektivität hat, durch Wahl der Mittel selbst setzt und sich dadurch aneignet. Diese Aneignung schreitet beim Leben so fort, dass der Begriff dem Mittel seine Subjektivität zur Substanz gibt, einfacher mit meinen Worten ausgedrückt: Die Mittel der Lebenserhaltung werden vom Lebendigen assimiliert (verdaut). Daraus ergibt sich die unmittelbare Einheit des Begriffes und der Realität als zweipoliges Urteil: die Idee. Dieses Urteil hat zunächst die Form der Beziehung des ausschließend einzelnen Individuums zur allgemeinen Gattung. Hegel streift kurz den dreipoligen Schluss, optiert dann aber für zweipolige Dialektik des Lebens mit Auszeichnung des Schmerzes als Vorrecht lebendiger Naturen, sich in ihrem Anderssein zu erhalten; »die Wahrheit des Lebens als absolute negative Einheit ist daher, die abstrakte oder, was dasselbe ist, die unmittelbare Einzelheit aufzuheben und als Identisches mit sich identisch, als Gattung sich selbst gleich zu sein. Diese Idee ist nun der Geist.« (L III 234, 8–12) Den Weg zu dieser Wahrheit bahnt sich das Leben durch »Verdopplung des Individuums – ein Voraussetzen einer Objektivität, welche mit ihm identisch ist, und ein Verhalten des Lebendigen zu sich selbst als einem anderen Lebendigen« (L III 225, 24–26), also abermals eine Reflexion auf dem Niveau des Wesens. Auf das Leben folgen noch: die Idee des Erkennens, die Idee des Guten und die absolute Idee. Die Idee des Erkennens ist der Trieb des Begriffs, das Anderssein der Welt aufzuheben und im Objekt die Identität mit sich anzuschauen, teils mit Hervorhebung der Identität (analytisches Erkennen mit dem kleinen Einmaleins als Muster), teils mit Hervorhebung des Andersseins (synthetisches Erkennen nach dem Modell der Elemente Euklids). In der Idee des Guten geht es dagegen nicht darum, sich im Objekt zu finden, sondern das Subjekt behauptet sich als zugleich ausschließende und das Allgemeine einschließende Einzelheit, indem es der objektiven Welt den allgemeinen Anspruch einer absoluten Forderung auferlegt, die aber jeweils nur beschränkten, besonderen Inhalt hat und daher in der Ausfüh496

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rung hinter dem Erstrebten zurückbleibt. Dieser Mangel wird durch die Einsicht geheilt, dass es auf das Erreichen des guten Zweckes im Einzelfall gar nicht ankommt und das Subjekt seine Unzufriedenheit über die Welt, gemessen am Ideal, »nicht gegen eine äußere Wirklichkeit, sondern gegen sich selbst zu richten« hat (L III 282, 24–26). Dann ist »die vorgefundene Wirklichkeit«, mag sie auch noch so übel sein, »als der ausgeführte absolute Zweck bestimmt«, als »objektive Welt, deren innerer Grund und wirkliches Bestehen der Begriff ist. Das ist die absolute Idee.« (L III 283, 20–25). Die Ausführungen Hegels über die absolute Idee, die »alle Wahrheit« (L III 284, 14) ist, d. h. die dialektisch-spekulative Methode, schlagen dieser Einführung sozusagen ins Gesicht, da er sie nur als zweipolige Dialektik des Wesens charakterisiert, nicht als dreipolige des Begriffs. Er charakterisiert sie durch drei Stadien: 1. das mit latentem Widerspruch gesetzte Sein. 2. dessen (erste) Negation durch Manifestation des Widerspruchs mit Aufhebung des Gesetzten. 3. das zweite Negative, die Aufhebung des Widerspruchs im absoluten Unterschied als Negation der Negation mit Repositivierung zum Identischen, Allgemeinen. Diese Charakteristik ist, modern gesprochen, bloß aussagenlogisch mit Berufung auf das Gesetz, dass doppelte Negation Position ergibt; es fehlt die logische Quantifizierung und Unterscheidung des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen. Das Ergebnis ist »der Begriff, der sich durch das Anderssein realisiert und durch Aufheben dieser Realität mit sich zusammengegangen und seine absolute Realität, seine einfache Beziehung auf sich hergestellt hat. Dieses Resultat ist daher die Wahrheit.« (L III 298, 38–299, 2) Aber diese Einheit von Wesen und Sein, von Reflexion im aufgehobenen Anderssein und vordergründiger Realität, ist bereits in Gestalt der Wirklichkeit vollbracht, als Thema des 3. Abschnittes der Lehre vom Wesen. Die absolute Idee ist immer noch nicht über dieses hinausgekommen, wie sehr sie sich auch mit dem Titel des Begriffs bekleidet. Allerdings führt Hegel das Einzelne und das Allgemeine in der absoluten Idee zusammen: »Wie das Anfangende das Allgemeine, so ist das Resultat das Einzelne, Konkrete, Subjekt; (…). Der Begriff selbst ist, für uns zunächst, sowohl das an sich seiende Allgemeine als das für sich seiende Negative als auch das dritte An-und-für-sich-Seiende, das Allgemeine, welches durch alle Momente des Schlusses hindurchgeht; aber das Dritte ist der Schlusssatz, in welchem er durch seine Negativität mit sich selbst vermittelt, hiermit für sich als das Allgemeine und Identische seiner 497

Hegel

Momente gesetzt ist.« (L III 299, 8–10. 14–21) Dieser Schluss mag dreiphasig sein, aber er ist zweipolig; das Besondere fehlt. Die zweipolige Dialektik des Wesens behält das letzte Wort.

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39.3.2 Die Entwicklung der Logik Hegels Während ich unter 39.3.1 einen wenn auch summarischen, doch zusammenhängenden Überblick über den Gedankengang des logischen Hauptwerkes Hegels bieten konnte, muss ich mich hier auf Charakteristiken »aus der Vogelperspektive« beschränken, werde aber das Entsprechende aus der ausführlichen Einzeluntersuchung in HL (S. 178–348) für genaueres Studium jeweils angeben. Von den drei großen Jenaer Systementwürfen aus den Jahren 1803/04, 1804/05 und 1805/06 (J I, II, III) bietet der erste eine schöne Beschreibung der instabilen Mannigfaltigkeit des Bewusstseins: »Das Wesen des Bewusstseins ist, dass unmittelbar in einer ätherischen Identität absolute Einheit des Gegensatzes sei; es kann dies nur sein, indem unmittelbar, insofern es entgegengesetzt ist, die beiden Glieder des Gegensatzes es selbst sind, an ihnen als Glieder des Gegensatzes unmittelbar das Gegenteil ihrer selbst, die absolute Differenz, sich selbst aufhebende und aufgehobene Differenz sind, einfach sind.« (J I 189, 3–10) In J II, dem als ausgearbeitete Logik, Metaphysik und Naturphilosophie hier ergiebigsten Text, 1479 fordert er gegen Schellings äußerlich bleibende Deklaration der absoluten Identität des Einen und Vielen die Einlösung dieses Anspruchs mit instabiler Mannigfaltigkeit als dem Unendlichen: »Im Unendlichen aber ist diese Bewegung des sich Entgegensetzens oder Anderswerdens und des Anderswerdens dieses Anders oder des Aufhebens dieses Gegensatzes selbst, indem das Unendliche dieses Einssein seines Andersseins an ihm selbst ist (…), diese absolute Reflexion ist.« (J II 35, 18–22. 27) »Unendlichkeit« und »Reflexion« sind in J II synonym, ganz im Sinn der zweipoligen Reflexion des Wesens nach L II; sogar deren Formel – »die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück« – kommt ein Jahr später 1480 vor und wird so erläutert: »(…) da das Unterschiedene kein Dasein, keine Bestimmtheit gegen das Andere hat, so ist es das Nichts, das sich vom Nichts unter1479 1480

Dazu HL 178–218. J III 5, 6: »diese Bewegung des Nichts durch Nichts zu Nichts oder zu sich selbst«.

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Die Logik

scheidet, und also unmittelbar nicht unterschieden ist.« 1481 Diese Unendlichkeit oder Reflexion ist dominant destruktiv, Aufheben jeder Bestimmtheit in ihrem Gegenteil, absolute Unruhe des In-sich-kreisens, wofür Hegel gern das Bild der achsendrehenden Bewegung gebraucht, 1482 und wegen gleichsam unendlicher Geschwindigkeit zugleich Ruhe (so wie ein hinlänglich schnell sich drehendes Rad dem Auge Ruhe zeigt). Diese Konzeption des Unendlichen reicht tief in die Phänomenologie des Geistes (1806) hinein. Die unruhige Ruhe des Ganzen ist für die Teile ihre Vernichtung durch Aufhebung im Anderen und Wiederherstellung durch dessen Aufhebung. Dieses direkte Hin und Her ist die einfachere Form des dialektischen Prozesses nach J II; eine kompliziertere ergibt sich, indem die Gegenteile im Unendlichen aufgehoben werden und dieses Dritte dann wieder in ihnen, z. B. beim Übergang der einfachen Beziehung in Verhältnis (J II 36, 7–16). Von der Dreipoligkeit der späteren Begriffslogik, die in J II nicht vorkommt, unterscheidet diese sich dadurch, dass das aufhebende Dritte nicht integriert, sondern nur zerstört. Diese Reflexion kann monistisch oder dualistisch abgelesen werden (39.1); in J II überwiegt die monistisch-destruktive Sicht des Unendlichen als Prozess des Ganzen gegen die Teile oder Werden des Ganzen im Zerbrechen seiner Momente an dem Widerspruch, ihr eigenes Gegenteil zu sein. 1483 Jedoch wird in J II 273, 7–16 mit schlichtem »zugleich« neben diese monistische Sicht der Reflexion auch schon die dualistische gestellt, wo zwei Partner sich gleichsam in einander spiegeln oder mit gegenseitiger Aufhebung wie Spinnen ihre Netze ziehen, um sich gegenseitig zu verdauen. Später beruhigt sich diese destruktive Unruhe, indem die dualistische Perspektive der Reflexion stärker wird. Man kann das an der Darstellung des Verhältnisses des Endlichen und Unendlichen in der 1. Auflage von Wissenschaft der Logik (1812) erkennen. Die »vernichtende Unruhe des Unendlichen« (J II 36, 3) als »das absolute Aufheben der Bestimmtheit« (J II 29, 8 f.) ist durch so etwas wie einen Paartanz des Unendlichen und Endlichen ersetzt, wobei das Endliche »sich selbst aufzuheben« und dadurch »seine Unendlichkeit zu erlangen« vermag, während die Unendlichkeit »das Andere ihrer« ist, das sich »aus seiner Flucht zurückruft«;

1481 1482 1483

Ebd. 4, 33–5, 2. Belege in HL S. 190, Anm. 179 und für J III S. 227 f. So auch in der Phänomenologie des Geistes, vgl. Ph 114, 9–27 und 116, 27–32.

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Hegel

jedes »ist an ihm selbst das Gegenteil seiner und Einheit mit seinem Anderen.« 1484 Die Trias der Begriffsmomente nach Wissenschaft der Logik – das Allgemeine, Besondere und Einzelne – ist Hegel in J II durchaus schon geläufig, wird aber als Trias nicht dialektisch produktiv, da der dialektische, dreiphasige Prozess hier immer zweipolige Reflexion bleibt (vgl. HL 193–197); wichtig wird deswegen nur die Auswahl von zwei Momenten aus ihr, besonders des Einzelnen und Allgemeinen. Das Ich ist Unendlichkeit des Einzelnen und Allgemeinen mit Abstreifung des Besonderen 1485 wie noch bei der Einführung des Begriffes in L III (12, 24–13, 4, s. o. 39.3.1); Hegel mag an die Wendigkeit der romantischen Ironie oder ihrer Quelle, der produktiven Einbildungskraft und des absoluten Abstraktionsvermögens nach Fichte, denken. Die Paarung des Allgemeinen mit dem Besonderen spielt dagegen eine geringere Rolle. In J III (HL 227–238) gibt Hegel der dialektischen Entwicklung vielfach die Gestalt eines Schlusses der Begriffsmomente, wobei er mit diesem ihm anscheinend neuerdings beliebt gewordenen Instrument in der Naturphilosophie gekünstelt spielt (HL 230), während er beim Geist dreiphasige, zweipolige Schlüsse vorführt, so dass die zweipolige Reflexion des Wesens weiterhin bestimmend bleibt. Sofern dabei die Begriffsmomente erwähnt werden, tritt das Besondere hinter die zweipolige Verbindung des Einzelnen und Allgemeinen zurück. In der Phänomenologie des Geistes 1486 beherrscht Hegel die dreipolige Struktur mit den Begriffsmomenten, wenn auch noch ohne die einschließende Einzelheit, setzt sie aber nur sporadisch ein, vor allem nicht zur Abwendung einer dualistischen Integration, wobei die Partner der Reflexion aus der gegenseitigen Aufhebung je für sich in sich zurückkehren und ihre eigenen Wege gehen, statt zu dem einzigen wahren Ganzen zusammenzuwachsen. Ich habe unter 39.1 gezeigt, dass in jenem Werk da, wo ein solcher Dualismus im Selbstbewusstsein sich abzeichnet und der Spalt zunächst nicht geschlossen werden kann, die unvermittelte Ankündigung des Geistes eingeschoben ist: »Was für das Bewusstsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschie1484 1485 1486

L I1 94, 18–95, 6 (Originalausgabe, Nachdruck Göttingen 1966, S. 86). HL 196 mit Belegen aus J II: 174, 22–26; 172, 5–10. 16–18; 168, 29 f.; 166, 17–20. HL 238–307: Die Logik der Phänomenologie des Geistes.

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Die Logik

dener für sich seiender Selbstbewusstsein, die Einheit derselben ist: Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (Ph 127, 19–24) Meine durch viele Indizien gestützte Vermutung, dass Hegel die Kapitel über den wahren Geist (die Sittlichkeit) und den sich entfremdeten Geist (die Bildung) durch Erweiterung des Planes während der Ausarbeitung eingeschoben und so die anfangs beabsichtigte Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zur Phänomenologie des Geistes ausgedehnt hat, habe ich mit jener Beobachtung durch die Hypothese zusammengebracht, dass Hegel den wahren Geist einführt, um den Zwiespalt dualistischer oder monistischer Integration zugunsten der monistischen zu heilen. Es handelt sich um den von mir sogenannten Solidarbegriff des Geistes, der an späterer Stelle so beschrieben wird: »In dem allgemeinen Geiste hat daher jeder nur die Gewissheit seiner selbst, nichts anders in der seienden Wirklichkeit zu finden, als sich selbst; er ist der andern so gewiss als seiner. – Ich schaue es in allen an, dass sie für sich nur diese selbstständigen Wesen sind, als Ich es bin; Ich schaue die freie Einheit mit den andern in ihnen so an, dass sie wie durch Mich, so durch die Andern selbst ist. Sie als Mich, Mich als Sie.« (Ph 236, 11–18) Dieser Geist nach dem Solidarbegriff ist weder zweipolig noch dreipolig zu nennen; man könnte ihm eine unimultipolare Struktur zuschreiben. In Wissenschaft der Logik kommt er nicht vor, obwohl er im Sinne Hegels als logische Figur zu gelten hat und mit dessen Volksideal (39.2) – auch in Ph 236, 19 spricht er von einem »freien Volke« als Beispiel des Gemeinten – zusammengehört. Im weiteren Verlauf des Buches wird der Solidarbegriff durch einen Reflexionsbegriff des Geistes – der Geist als das andere seiner selbst, die Identität im Anderssein, so noch bei Explikation des absoluten Wissens in der Zusammenfassung Ph 526, 34–39 1487 – abgelöst. Das ist leicht zu verstehen, wenn man annimmt, dass Hegel nach Einfügung der beiden Geistkapitel wieder zum alten Plan einer Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zurückkehrt und den dafür vorgesehenen Reflexionsbegriff des Geistes reaktiviert. Insgesamt behält in Ph die zweipolige Dialektik den Vortritt vor der dreipoligen. 1488 In einem von Pöggeler herausgegebenen Logik-Fragment Hegels, das den Mechanismus, Chemismus, Organismus und das Erkennen behandelt, aus der Zeit zwischen Ph (1807) und L (1812) (HL 1487 1488

Vgl. HL 256–259: Zwei Geistbegriffe. Vgl. HL 266–274: Der Vorrang der zweipoligen Dialektik.

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Hegel

307–314) scheint zum ersten Mal in der Logik des Begriffs das Motiv der einschließenden Einzelheit aufzublitzen, wird aber mit einem Federstrich wieder ausgeschieden. In der ersten Fassung der Seinslogik von 1812 (HL 314–325) ist nicht nur, wie auch in der 2. umgearbeiteten Auflage von 1831, der dialektische Prozess von vornherein die dreiphasig-zweipolige Reflexion des Wesens, sondern auch die Terme, jedenfalls nach dem Dasein, stehen auf diesem Niveau. Demgemäß fehlt auch der in der Endfassung markante Einschnitt durch Absturz der flüssig reflektierenden affirmativen Unendlichkeit in das bloß noch spröde Eins; dieses hat in der 1. Auflage von vornherein Anteil an der Reflexion. In der 2. Auflage arbeitet Hegel schärfer die Hemmungen des Aufstiegs zum Wesen im Sein heraus. Man darf also annehmen, dass er die objektive Logik einschließlich des Seins vom Wesen her entwickelt hat, wie nach der eben beschriebenen Vorgeschichte in den Jenaer Systementwürfen nicht anders zu erwarten war. Nach dem Abschluss von Wissenschaft der Logik (1816) folgt 1821 Grundlinien der Philosophie des Rechts (HL 325–328). In der Einleitung entfaltet Hegel die dreipolige Begriffsdialektik mit einschließender Einzelheit am freien Willen, fällt dabei aber schon in § 7 auf die Reflexionslogik des Wesens zurück, indem er die Unendlichkeit, die Identität im Anderssein nach § 22, als das Innerste der Spekulation ankündigt. Derselbe Rückfall ist laut § 279 und Hegels handschriftlichem Kommentar zu § 10 1489 an der Umdeutung der Regierung als einschließender Einzelheit des Staates gemäß der Logik des Mechanismus (39.3.1) in die ausschließende Einzelheit der natürlichen Person des Monarchen beteiligt. Aus demselben Jahr stammt das von Walter Jaeschke in Band 17 der Akademieausgabe edierte Manuskript der Vorlesung Hegels über die Religionsphilosophie (HL 329–335). In diesem Text ist die Dialektik ausschließlich zweipolig durch Auslassung eines Begriffsmomentes, entweder der Einzelheit (bei der Bestimmung des Begriffs, S. 200, 10–17) oder der Besonderheit in der Charakteristik der christlichen Religion als der Religion des Begriffs. Diese Religion ist die Einheit von unendlicher Liebe (dem Allgemeinen, das in L III 36, 3 als »freie Liebe und schrankenlose Seligkeit« bestimmt wird) und unendlichem Schmerz, weil die ausschließende Einzelheit des spröden Individuums nicht mit diesem Allgemeinen zusammenpasst. Gegen diesen von der Dreipoligkeit zur Zweipoligkeit des Wesens herabgesetzten Begriff 1489

Rph. hg. v. Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 312 f.

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Die Logik

muss das Wesen, das eigentlich dahin gehörte, unter sein Niveau herabgesetzt werden. Religionen des Wesens sind die griechische und die israelitische; auf S. 110, 19 f. scheint Hegel dem Wesen die Notwendigkeit, die ihm nach L II gehört, sogar »stehlen« zu wollen, indem er von der griechischen Religion des Wesens die israelitische der Notwendigkeit unterscheidet. Das Wesen ist nach S. 108, 20 »wenig«; Hegel hält ihm vor, sein Dasein sei zwar Manifestation, »aber als des Innern, seiend, bleibend das Innre« (108, 28 f.), obwohl doch das Innere als Figur des wesentlichen Verhältnisses nach L II (39.3.1) bloß das Äußere ist. Die letzte Ausgabe der Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) enthält sozusagen das logische Vermächtnis des 1831 gestorbenen Hegel. Er behandelt darin den Begriff in Zusammenhang mit dem Geist, und diesen an zwei Stellen, in der Logik und in der Philosophie des Geistes. Die Einführung des Begriffes in § 163 vermeidet den in Wissenschaft der Logik verführerischen Absturz in zweipolige Reflexion durch klare Einführung der drei Begriffsmomente und der Einzelheit als einschließender und ausschließender. Dem geht aber in § 158 eine Ankündigung des Begriffes voraus, die Züge der Reflexion des Wesens 1490 mit solchen des Geistes nach dem Solidarbegriff (»die Selbstständigkeit, welche das sich von sich Abstoßen in unterschiedene Selbstständige (…) ist«) verbindet. In der Tat wird am Schluss des folgenden § 159 »freier Geist« neben Ich, Liebe, Seligkeit als Beleg für die Befreiung zum Begriff genannt, und daran knüpft Hegel ausdrücklich in § 164 zur Verteidigung der Konkretheit des Begriffes folgende Charakteristik des Geistes an: »Das absolut Konkrete ist der Geist (s. Anm. § 159), – der Begriff, insofern er als Begriff, sich unterscheidend von seiner Objektivität, die aber des Unterscheidens ungeachtet die seinige bleibt, existiert.« Hier ist nun gar nicht mehr an die Dynamik der Reflexion zu denken, das sich von sich Abstoßen, die Absorption im anderen und des anderen in sich, sondern es bleibt bei einer ruhigen Zusammengehörigkeit mit dem Unterschiedenen als dem Seinigen, wie beim Geist nach dem Solidarbegriff als »diese absolute Substanz, 1490 »Sich von sich abstoßen«, »als dies Abstoßen identisch mit sich«, »bei sich selbst bleibende Wechselbewegung nur mit sich«, vgl. dazu die Einführung der Unendlichkeit als des inneren Unterschiedes in Ph 114, 7–11. 26 f.: »Abstoßen des Gleichnamigen als Gleichnamigen von sich selbst«, »Es ist der reine Wechsel, oder die Entgegensetzung in sich selbst, der Widerspruch zu denken.«.

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Hegel

welche in der vollkommenen Freiheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewusstsein, die Einheit derselben ist« (s. o.). Ein ganz ähnliches Schwanken zwischen der Reflexion und dem Solidarbegriff des Geistes durchwirkt die Hinführung zum Geist in den §§ 436–439. In der Anmerkung zu § 436 spricht Hegel vom »Begriff, der sich in seiner Objektivität als mit sich identische Subjektivität und darum allgemein weiß«. Das ist eigentlich schon der Geist, wie die Übereinstimmung der Formulierung mit der in § 164 zeigt. Als Beleg nennt Hegel »die Form des Bewusstseins der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staates (…).« Das ist der Geist nach dem Solidarbegriff, »diese absolute Substanz« (Ph 127, 20, s. o.). Im folgenden § 437 wird aber »diese Einheit des Bewusstseins und Selbstbewusstseins« auf den »Unterschied, der keiner ist« zwischen den so vereinigten Einzelnen zurückgeführt, und damit auf die »Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewusstseins – die Vernunft.« Jetzt ist an die Stelle des Geistes nach dem Solidarbegriff die Grundfigur der Reflexion, der Unterschied seiner von sich selbst, und das zweipolige Verhältnis des Einzelnen und Allgemeinen getreten. Diese Vernunft in der doppelten Bedeutung des das Ich durchdringenden und befassenden Objekts und des das Objekt übergreifenden und in sich befassenden reinen Ich (§ 438) ist der Geist (§ 439). Er ist wieder zweipolig geworden und gleicht damit der Idee, die nach den ersten Worten von § 214 die Vernunft im eigentlich philosophischen Sinn und nach dessen letzten beiden Sätzen das unendliche Urteil von Begriff und Objektivität ist – eine zweipolige Reflexion. Hegel kann den Primat dieser Denkform so wenig durch den Solidarbegriff des Geistes überholen wie durch die dreipolige Begriffslogik, die er lediglich zur Konstruktion der christlichen Gottestrinität in § 567 noch einmal hervorholt.

39.4 Das System Hegel erweitert seine Logik zu dem von ihm in Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1491 ausführlich skizzierten System, indem er die absolute Idee durch Abfall ihrer maxiIch halte mich im Folgenden an die abschließende 3. Auflage von 1830 mit Angabe der Paragraphen.

1491

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Das System

mal integrierten instabilen Mannigfaltigkeit in die »Äußerlichkeit« numerischer Mannigfaltigkeit auf die Reise in die Natur schickt. Deren numerische Mannigfaltigkeit erweist sich mit stufenweise aufsteigender Reintegration als verkappte instabile, bis der spekulativdialektische Begriff die Kappe der Äußerlichkeit abwirft und als Geist auf der Grundlage der Natur die Flüssigkeit zweipoliger Dialektik zurückgewinnt, die Hegel, wie unter 39.1 und 39.3.1 gezeigt wurde, der eigentlich dreipoligen Dialektik des Begriffs zu unterschieben geneigt ist. Die Idee tritt die Reise aber nicht, wie sonst üblich, durch einen dialektischen Umschlag an, sondern indem sie »in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen.« (§ 244) Schelling hat gespottet, es sei ihr wohl in bloß logischem Sein zu langweilig geworden, und Hegel vorgeworfen, dass er für dieses »Abbrechen der Idee, d. h. des vollendeten Begriffs, von sich selbst (…) in seinem System keine Kategorie« habe. 1492 Dieser Vorwurf eines logisch unmotivierten Übergangs von der Idee zur Natur trifft Hegel nicht. Ich habe gezeigt (39.3.1), dass er (allerdings unpassend) die Idee bloß mit der zweipoligen Dialektik des Wesens ausstattet, also mit dem Doppelsinn der ekstatischen Unendlichkeit, aus sich entrückt, als sein eigenes Gegenteil, bei sich und damit selbst zu sein. Dieser Doppelsinn spielt sich nach dem 2. Buch von Wissenschaft der Logik zunächst auf dem Boden der reinen Vermittlung, immanent im Wesen, als doppelter Kreislauf von Vermittlung (Reflexion) zur Unmittelbarkeit und zurück ab, führt dann aber zur Wirklichkeit als potenziertem Doppelsinn durch Eintrag des Wesens in die Unmittelbarkeit des Seins numerischer Einheiten als Manifestation (39.3.1). Eine ähnliche Steigerung ist für die absolute Idee ihr Entschluss zur Natur: In der maximal integrierten multivalenten Mannigfaltigkeit konkurrieren nicht nur die auf dem Weg zu ihr aufgehobenen Stationen um Identität, sondern die Multivalenz umfasst nun auch die Ambivalenz von multivalenter, instabiler Mannigfaltigkeit der Idee und pseudo-stabiler numerischer Mannigfaltigkeit der Natur. Die Rede von Entlassung oder Entschluss ist insofern einsichtig, als in der instabilen Mannigfaltigkeit die numerische der Konkurrenten gebunden ist und frei wird, wenn die Konkurrenz entWie Anm. 1376, Band X S. 212 f. (Vorrede zu einer philosophischen Schrift des Herrn Victor Cousin, 1834).

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Hegel

fällt. Aber Hegel will die absolute Idee an diese Entspannung, die dem Hervorgang der Sinnenwelt nach Plotin (15.3) entspricht, nicht preisgeben, auch nicht in der Weise der im früheren Naturrechtsaufsatz ausgemalten »Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt, dass es sich ewig in die Objektivität gebiert, in dieser seiner Gestalt hiermit sich dem Leiden und dem Tode übergibt, und sich aus seiner Asche in die Herrlichkeit erhebt.« 1493 Deswegen betont er die Freiheit der Entschließung, wobei die Idee, wie es am Schluss von Wissenschaft der Logik heißt, »sich selbst frei entlässt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend«. Die Natur ist »die Idee im Elemente des Außereinander« (§ 312), abstrakt (ohne räumliches Bild) gesprochen: als numerische Mannigfaltigkeit (39.1), die aber nur Fassade ist, deren Hinfälligkeit sie selbst gestehen muss; so ist die Schwere »sozusagen das Bekenntnis der Nichtigkeit des Außersichseins der Materie« (§ 262), und zwar lassen die »Größebestimmungen an einem Konkreten (…) sich in ihrer Verschiedenheit ruhig nebeneinander stellen und aussprechen; aber wie sie in Reflexionsbestimmungen verwandelt werden, tritt ihre Dialektik hervor, dass jede sich vielmehr in das Gegenteil dessen, was sie sein soll, um ihrer Untrennbarkeit willen verkehrt.« 1494 Die instabile Mannigfaltigkeit, als deren Modell die Husserl’sche Puppe1341 – der anschauliche Zwitter von Dame und Puppe im Wachsfigurenkabinett oder Schaufenster – dienen kann, setzt sich damit als Konkurrenz zweier Einzelner um Identität mit einem Dritten wieder durch, so gleich in den ersten Elementen der Natur als Konkurrenz von Raum und Zeit um den Ort und die Bewegung: »Der Ort ist die räumliche somit gleichgültige Einzelheit und ist dies nur als räumliches Jetzt, als Zeit, so dass der Ort unmittelbar gleichgültig gegen sich als diesen, sich äußerlich, die Negation seiner und ein anderer Ort ist. Dies Vergehen und Sichwiedererzeugen des Raums in Zeit und der Zeit in Raum, dass die Zeit sich räumlich als Ort, aber diese gleichgültige Räumlichkeit ebenso unmittelbar zeitlich gesetzt wird, ist die Bewegung.« (§ 261) Diese Struktur der Konkurrenz um Identität taucht auf komplizierteren Stufen mehrfach wieder auf. Ich nenne zunächst den meteorologischen »Prozess der Erde« aufgrund von »Spannung in die Momente des selbstständigen Gegensatzes in Starrheit und in selbstlose Neutralität, wodurch die Erde der Auflösung zugeht, einer1493 1494

Wie Anm. 1466, S. 146. § 267, nur in der 2. Auflage von 1827 enthaltener Schluss von Anm. 1.

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Das System

seits zum Kristall, einem Monde, andererseits zu einem Wasserkörper, einem Kometen, zu werden« (§ 287); die »vollständige Erscheinung dieses Prozesses« ist das Gewitter als »sich entzündende Verzehrung des versuchten verschiedenen Bestehens, durch welche ihre wesentliche Verknüpfung sich herstellt, und die Erde sich als reelle und fruchtbare Individualität geworden ist.« (§ 288) Der Klang ist das »innere Erzittern des Körpers in ihm selbst« durch doppeltes Negieren: erstens des Außereinanderbestehens der materiellen Teile, zweitens dieses Negierens mit Wiederherstellung dieses Außereinanderseins, »Wechsel der einander aufhebenden Bestimmungen« (§ 299). Im Magnetismus schließt sich das Spröde zum Unterschied des Begriffs auf; die Extreme (Momente) haben kein eigenes Bestehen mehr und sind nur durch ihre Beziehung gehalten, welche erscheinend ihre Mitte und Indifferenzpunkt ist; dieser Indifferenzpunkt ist die Einheit, in der sie als Bestimmungen des Begriffs sind, so dass sie Sinn und Existenz allein in dieser Einheit haben. (§ 312) Die Farbe ist eine solche Verbindung von Helligkeit und Verdunkelung, dass die beiden Bestimmungen, indem sie auseinander gehalten werden, ebenso sehr in eins gesetzt werden (§ 320). Im tierischen Organismus ist die Äußerlichkeit schon an der Schwelle ihrer Aufhebung in den Begriff: Er ist »die Reduktion der außereinander gefallenen unorganischen Natur in die unendliche Einheit der Subjektivität, aber in dieser zugleich ihre entwickelte Totalität (…), deren Momente, weil sie noch natürliche Subjektivität ist, besonders existieren« (§ 358). Der Weg zum Geist ist nur noch kurz. Dieser ist »die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee (…), deren Objekt ebenso wohl als das Subjekt der Begriff ist. Diese Identität ist absolute Negativität, weil in der Natur der Begriff seine vollkommene äußerliche Objektivität hat, diese seine Entäußerung aber aufgehoben und er in dieser sich identisch mit sich geworden ist.« (§ 381) Dieses Verhältnis der absoluten Negativität als aus dem Anderssein in sich zurückgekehrter Identität zu ihrer als aufgehoben gesetzten Voraussetzung kommt in der Logik des Wesens nach Wissenschaft der Logik als das von Inhalt und Bedingung vor (39.3.1); tatsächlich führt der Geist, wie Hegel ihn in Enc. behandelt, nicht über den zweipoligen Doppelsinn des Wesens hinaus, aber ohne die mit diesem verbundene Unsicherheit, ob die Integration monistisch oder dualistisch verläuft (39.1; 39.3.2). Vielmehr pocht Hegel, der zu glauben scheint, dieser Unsicherheit auch zweipolig entgehen zu können, energisch bis pathetisch auf die monistische Integration im dadurch dem Wesen 507

Hegel

überlegenen Begriff, der als der Geist realisiert ist; der »sich mit sich zusammenschließende Begriff« ist »die wahre Idee und damit die lebendige und geistige Wirklichkeit«, wobei »die nächsten Kategorien des Begriffs die der Allgemeinheit und Einzelheit sind und deren Verhältnis das der Subsumtion der Einzelheit unter die Allgemeinheit ist« (§ 541), also das zweipolige (qualitative, abstrakte) Urteil nach § 169 und nach Wissenschaft der Logik, während das Besondere ganz zurücktritt. Die nähere Entwicklung des Geistes verläuft in Enc sehr schematisch, z. T. (beim objektiven Geist) als grober Abriss von Rph; immer wird ihr der Begriff im Sinne unendlicher Reflexion sich in einander aufhebender Gegenteile als Maßstab vorgehalten, und jedes Erreichen der Angemessenheit wird konstatiert.

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39.5 Die Dialektik der Standpunkte Hegels spekulative Umdeutung der Wahrheit und der Mannigfaltigkeit ist ein geistreiches Gedankenexperiment, das mindestens den Nutzen hat, dem herrschenden Vorurteil des Singularismus eine radikale Alternative anzubieten. Von bleibendem Wert ist dagegen Hegels Pionierleistung durch eine spezielle Anwendung der Dialektik auf die Dynamik der Standpunkte. Hegel ist der Erste, der Standpunkte als Gegenstände ernst genommen und einen Schlüssel zur Rekonstruktion ihrer Entwicklungstendenz einschließlich ihres »Umkippens« in einen anderen Standpunkt gefunden hat. Standpunkte sind Situationen in dem unter 29.1 angegebenen Sinn, sofern sie nicht – was hier und bei Hegel außer Betracht bleibt – in einzelnen starr festgehaltenen Grundsätzen oder bloßen Bündeln von solchen bestehen. Lebendige Standpunkte der hier zu besprechenden Art kommen ebenso als persönliche wie als kollektive vor; sie sind binnendiffus-ganzheitliche Massen von Sachverhalten, Programmen und Problemen und aufgrund solcher Binnendiffusion tolerant gegen Inkonsistenzen, die so lange versteckt bleiben, bis die unverträglichen Bedeutungen (Sachverhalte oder Programme) einzeln hervortreten und mit ihrer gegenseitigen Unverträglichkeit aufdringlich werden. Die Integration des Standpunktes, namentlich durch Vorbilder und Symbole, bewahrt ihn vor Zerbrechen an der latenten Inkonsistenz. Ein christlicher Standpunkt – eine von den vielen Weisen, Christ zu sein und sich als solcher zu fühlen – trägt in sich z. B. die Unverträglichkeit der beiden Leitfiguren des synoptischen und des 508

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Die Dialektik der Standpunkte

johanneischen Jesus mit ihren weitgehend konträren Botschaften, 1495 und dennoch reicht die Integrationskraft der Christus-Figur zur Stabilisierung des christlichen Standpunktes. Für konservative und liberale Standpunkte (in Politik oder Erziehung), für kommunistische, rassistische, vaterländische, esoterische usw. Standpunkte wird mehr oder weniger entsprechendes gelten. Einen guten Beleg der Binnendiffusion liefern die Proteststandpunkte junger Leute, die im Negativen, also bezüglich dessen, wogegen sie sich wenden, schon sehr bestimmt sind, bezüglich dessen, was die jungen Leute selber wollen, aber erst keimhafte Andeutungen eines noch zu erwartenden Profils erkennen lassen. Standpunkte sind eine unentbehrliche Hilfe zur Führung und Orientierung des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, weil sie die sonst übergroße Komplexität der dabei zur Berücksichtigung sich aufdrängenden Faktoren viel besser und glatter (dank weitgehend unwillkürlicher Selbstverständlichkeit ihrer Bildung und Weitergabe) reduzieren als die künstlichen Veranstaltungen, denen Niklas Luhmann solche Reduktion übertragen wollte. Sie sind aber der Weiterbildung mit oder ohne völlige Zersetzung durch die von ihnen aufgenommenen und dadurch einheitlich lebbar gemachten Inkonsistenzen ausgesetzt, sobald diese durch herausfordernde Ereignisse oder bewusst in sie eindringende analytische Auseinandersetzung ans Licht gezogen werden. Dann kann der Standpunkt »platzen« und durch Zerfall und/oder Verschmelzung andere Standpunkte freisetzen. Hegel hat keinen Sinn für die chaotisch-mannigfaltige Binnendiffusion der Bedeutsamkeit (39.1), vermag aber die Ganzheit und latente Inkonsistenz der Standpunkte auf andere Weise durch sein dialektisches Widerspruchsprinzip einzuholen, wonach in allem, was sich überhaupt denken lässt, unverträgliche Komponenten in instabiler Mannigfaltigkeit um Identität konkurrieren. Dadurch gewinnt er einen Hebel zur Konstruktion und Zersetzung idealtypischer Standpunkte mit weitertreibender Dynamik, und auf diesem Feld entfaltet sich seine Dialektik zu virtuoser Meisterschaft. Ich will diese in ihren wichtigsten einschlägigen Leistungen hier kurz verfolgen und verweise für breitere Ausführung auf die entsprechende Darstellung in HL S. 392–427. Kaum braucht gesagt zu werden, dass Hegel in diesem Zusammenhang nicht mit dem Maßstab historischer Korrektheit beurteilt werden darf, da er an idealtypischen Modellen vor1495

Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 115–121.

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Hegel

führt, wie Standpunkte von sich aus umschlagen und weiterführen können. Seine volle Meisterschaft dieser Kunst beweist Hegel schon als Hofmeister in Frankfurt, vor der akademischen Laufbahn und der formalen Installierung der Dialektik, in der Schrift über Judentum und Christentum, die zuerst 1907 von Hermann Nohl in Theologische Jugendschriften herausgegeben wurde (FS 274–418). Der Gründungsakt des jüdischen Geistes ist für Hegel Abrahams Auszug laut Genesis Kapitel 12, den er als Abriss aus der natürlichen Solidarität in gewachsenen Bindungen der Heimat zugunsten sich isolierender Selbstständigkeit versteht. »Abraham wollte nicht lieben und darum frei sein.« (FS 277) Ich spreche von implantierenden Situationen, d. h. solchen, die die zuständlichen persönlichen Situationen 1496 in sich eingepflanzt haben, so dass diese nicht leicht und nicht ohne Verlust herausgerissen werden können; Abraham entzieht sich nach Hegel der Verwurzelung seiner Persönlichkeit in implantierenden Situationen. In der gewollten Isolierung, die er damit den Juden aufprägt, fühlen diese sich der Umwelt gegenüber schwach; zum Ausgleich dieser Schwäche schaffen sie sich das Idol eines mächtigen Gottes, dem sie dienen, damit er ihnen zur Unterwerfung fremder Völker dient. Die fixe Idee dieses übermächtigen Idols wird aber zum Tyrannen für sie selbst, so dass sie sich um die Früchte ihres Strebens nach Unabhängigkeit bringen: Statt der feindlichen Umwelt unterliegen sie einem Produkt ihrer Einbildung, das ihre Freiheit in die Fesseln kleinlicher Gesetze der Lebensführung zwängt. Diese Fesseln will Jesus lösen, indem er »diesem Unendlichen des Herrschens und Beherrschtwerdens (…) das reine Gefühl des Lebens« entgegensetzt (FS 371), wo keine Trennung der Individuen nach abstrakten Maßstäben mehr stattfindet, sondern Liebe als unzertrennliche Zusammengehörigkeit in implantierenden Situationen, »und liebe deinen Nächsten als dich selbst heißt nicht, ihn so sehr lieben als sich selbst; denn sich selbst lieben ist ein Wort ohne Sinn; sondern: liebe ihn als der du ist; ein Gefühl des gleichen, nicht mächtigeren, nicht schwächeren Lebens.« (FS 363) Damit er diese Innigkeit aufrecht erhalten kann, muss Jesus der Welt eine radikale Absage erteilen, um aus seinem Kreis Gegensätze fern zu halten, an denen doch die DyVgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band IV, zuerst Bonn 1980, S. 287– 473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136. Die persönliche Situation ist ungefähr das, was man volkstümlich als die Persönlichkeit einer Person bezeichnet.

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namik vollen Lebens hängt; die Liebe bleibt daher unentwickelt, als das höchste Leben unlebendig, und diese »Beschränkung der Liebe auf sich selbst (…), diese Entfernung von allem Schicksal ist gerade ihr größtes Schicksal, und hier ist der Punkt, wo Jesus mit dem Schicksal zusammenhängt, und zwar auf die erhabenste Art, aber von ihm litt.« (FS 397) Seiner Gemeinde hinterließ er das unerfüllte Leben objektloser Liebe; ihr Geist war »ebenso arm als der jüdische, aber er verschmähte den Reichtum, um dessen willen der jüdische diente.« (FS 404) »Weil die Liebe Liebe sein und nicht leben sollte«, bedurfte sie eines Wirklichen, Objektiven, woran sie sich erkennen konnte (FS 410), und so kam es zur Apotheose Jesu; der Mann, der den Gegensatz von Herrschaft und Unterwerfung auflösen wollte, wird selbst zum vergötterten Herrn und bringt mit sich eine Masse objektiver Festsetzungen, die zum reinen Lebensgefühl der Liebe nicht passen. »(…) zwischen diesen Extremen, die sich innerhalb der Entgegensetzung Gottes und der Welt, des Göttlichen und des Lebens befinden, hat die christliche Kirche vor- und rückwärts den Kreis durchlaufen (…); und es ist ihr Schicksal, dass Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in Eins zusammenschmelzen können.« (FS 418) Von Frankfurt nach Jena übergegangen und Hochschullehrer geworden, entwickelt Hegel im dritten Jenaer Systementwurf (1805/06) die Lehre vom Willen (J III 186–204) als eine dynamische Folge von Standpunkten mit teils überraschenden, teils einsichtig fortschreitenden Wendungen. Der Wille besitzt die der romantischen Ironie und dem absoluten Abstraktionsvermögen nach Fichte abgeschaute Wendigkeit, den ihm zugrunde liegenden Trieb zum Gegenstand machen und sich daher auch zurückziehen zu können; seine Klauen sind Klauen von Samt (pattes de velour), die man nicht festnageln kann und die ihn unangreifbar machen (186, 22–25). Diese Distanzfähigkeit ermöglicht ihm den Einsatz von Werkzeugen, die er listig für sich arbeiten lässt. »Durch die List ist der Wille zum Weiblichen geworden.« (190, 25 f.) Dem Mann als dem Draufgänger mit blindem Geschlechtstrieb, diesem Stier, begegnet das Weib als Torero mit Klauen von Samt; es kann abwartend mit dem Trieb des Mannes spielen. Dann aber setzt sich gegenseitige Liebe durch; eine Familie wird gegründet mit andere ausschließendem Besitz. Der ausgeschlossene andere verletzt diesen Besitz, um sein Selbst in das Wissen der anderen zu setzen und sich dadurch ein Selbstgefühl zu geben. Erst durch die Verletzung merkt der Familienvater, dass sein 511

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Hegel

ruhig abgeschlossener Besitz die aggressive Spitze hat, den Fremden auszuschließen. Er ist im Zorn über die Verletzung außer sich, wie der Ausgeschlossene im Zorn über sein Ausgeschlossensein. Jeder will dem anderen gelten; sein Zweck ist, sich im anderen anzuschauen. Aus dem Angriff auf den Besitz ist ein Ringen um Anerkennung geworden. Die Rollen sind vertauscht: Der anfangs gereizte Beleidiger ist nun befriedigt, weil er sein Ziel, das Ausschließen aufzuheben, erreicht hat; der zuerst im ruhigen Besitz Befriedigte ist nun gereizt. Zwischen beiden Männern kommt es zum Kampf auf Leben und Tod, wobei sie sich gegenseitig als »reines Selbst« (203, 25) sehen: Wer dem Tod ins Auge blickt, will nur noch überleben und legt auf feinere Unterschiede keinen Wert mehr. Als reines Selbst, abstrakte Personen, sind die Kämpfer aber gleich; damit ist die Brücke zur gegenseitigen Anerkennung geschlagen, und aus dem Kampf entspringt das Recht als Ordnung abstrakt gleicher Personen. Binnen eines Jahres folgt auf den dritten Jenaer Systementwurf das jetzt »Phänomenologie des Geistes« genannte Buch, das interessanteste von Hegel wegen der darin mit beachtlicher Konsequenz durchgeführten Dialektik einer sich aus Unzulänglichkeiten und Widersprüchen ergebenden Entwicklung von Standpunkten aus Standpunkten. Der bei Druckbeginn von Hegel vorgesehene Titel war »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins«; er wurde aus von mir unter 39.1 vermutetem (oder einem anderen) Grund von Hegel durch den endgültigen ersetzt. 1497 Was es mit dieser Erfahrung auf sich hat, wird in der auf die Vorrede folgenden, unbetitelten sogenannten Einleitung auseinandergesetzt. Es handelt sich um die »dialektische Bewegung« (Ph 66, 22), durch die das Bewusstsein von Standpunkt zu Standpunkt weitertreibt, auf einem »Weg der Verzweiflung« (Ph 61, 5) zu fortgesetzter Selbstkorrektur genötigt, die aber endlich belohnt wird, indem das Bewusstsein sein Wesen erfasst und so die Natur des absoluten Wissens bezeichnet (Ph 68, 27–29). Diese Dialektik setzt sich nach einem erkenntnistheoretischen Vorspann (Kapitel I–III) vom 4. Kapitel an mit Standpunkten fort, die Lebensformen sind, ausgehend wiederum vom Kampf zweier Individuen um Anerkennung. Hegel begründet diesen durch eine Konstruktion des Selbstbewusstseins, das er irrig (36.2) für Identität von Subjekt und Objekt hält, wobei er aus der Verschiedenheit der beiden Phänomenologie des Geistes, neu hg. v. H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg 1988, S. 547 f.

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Bestimmtheiten als Subjekt und als Objekt eine Verschiedenheit zweier Sachen macht, von denen die eine, das Subjekt, zwecks Herstellung der Identität in der anderen sich finden muss, wie in einem Spiegel, der ihr Gelegenheit zur Selbstdarstellung gibt; dazu bedarf nach Hegel das Selbstbewusstsein der Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein. Die damit gesuchte Anerkennung ist von ganz anderer Art als die des Willens im dritten Jenaer Systementwurf, obwohl sie ebenso wie diese im Kampf auf Leben und Tod gesucht wird. Sie unterscheidet sich von dieser durch das Motiv der Aneignung, sich selbst im anderen finden zu wollen. Dadurch gerät der Kampf um Anerkennung in ein Dilemma, das in J III keine Entsprechung hat, das Paradox der Aneignung: Der eine will im anderen sich finden, daher diesen aufheben und sich an dessen Stelle setzen, also auf den Tod des anderen gehen; wenn er dieses Ziel erreicht hätte, wäre aber niemand mehr da, in dem er sich finden könnte. Er muss also den anderen ebenso schonen wie zu vernichten suchen, und dadurch vereitelt der Kampf sich selbst. Dieses Paradox, dass zwecks Selbstobjektivierung ein Objekt subjektiviert werden muss, so dass es kein Objekt mehr ist und also auch nicht zur Selbstobjektivierung taugt, durchzieht als Leitfaden die Dialektik der Standpunkte in der in der Einleitung vorgezeichneten Geschichte der Erfahrung des Bewusstseins. Diese Erfahrung ist nicht der Weg zu einem vermeintlichen absoluten Wissen, sondern eine Geschichte fortgesetzter Selbstvereitelung des Bemühens um Selbstobjektivierung durch Aneignung. Dadurch wird zwar das Ziel Hegels verfehlt, der Wert seiner Dialektik idealtypischer Standpunkte aber nicht in Frage gestellt; denn er beruht nicht auf dem Ziel, sondern auf der Methode und auf dem Scharfsinn und Erfindungsreichtum ihrer Anwendung. Der Kampf auf Leben und Tod ist in Ph eigentlich ein Kampf des Willens mit sich selbst bei jedem der beiden Kämpfer: Jeder will den Tod des anderen sowohl herbeiführen als auch vermeiden. Daher wird der Kampf abgebrochen, indem einer von beiden sich dem anderen unterwirft. Dieser ist der Herr, jener der Knecht. Der Herr verschont den Knecht und nimmt ihn in Dienst. Damit hat er sich selbst, in Gestalt seiner diesem zur Besorgung aufgetragenen Bedürfnisse, in den anderen verlegt, ohne diesen aufzuheben. Er schöpft sein Selbstbewusstsein aus dem Unterworfensein des Unterworfenen, so dass er sich als Herr in diesem keineswegs wiederfindet und als Selbstbewusstsein – gemäß der von Hegel gestellten Aufgabe der Selbstobjektivierung – abgedankt hat. 513

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Hegel

Eine bessere Chance zur Verwirklichung seines Selbstbewusstseins durch Sichfinden im Objekt hat der Knecht. Um sie zu realisieren, müsste er den Kreis der Reflexion des Wesens – die »Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück« (39.3.1) – durchlaufen: erstens von sich loskommen, um in das andere zu gelangen, aber so, dass zweitens auch das andere in ihm aufgehoben wird, so dass er durch dessen Vermittlung sich im anderen finden könnte. Die erste Bedingung wird erfüllt durch die Furcht des Todes, womit der Herr ihn bedroht: Er »hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt. Diese reine allgemeine Bewegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens ist aber das einfache Wesen des Selbstbewusstseins (…).« (Ph 134, 28–31) Wenn das Objekt des Knechtes sich ebenso verflüssigte, könnte der Kreis des gegenseitigen Übergangs geschlossen und ein Selbstbewusstsein der von Hegel ins Auge gefassten Art erreicht werden. Aber dabei hapert es. Das Objekt des Knechtes ist ein materielles Ding, das er im Auftrag des Herrn durch seiner Hände Arbeit formiert. In der erlangten Form wird ihm seine Arbeit zwar gegenständlich, so dass er sich darin findet wie der Meister in seinem Werk, aber dieses Objekt bleibt ihm gegenüber fest und beschränkt, ohne sich in ihm aufzuheben; der Kreis der Reflexion schließt sich nicht. Die beiden Momente seiner selbst als des Gegenstandes und dieses Gegenstandes als eines Bewusstseins, das sein eigenes Wesen sein könnte, fallen ihm auseinander (Ph 137, 4–8). Auch dem Knecht misslingt daher die zum Selbstbewusstsein gehörige Aneignung, obwohl Hegel so unvorsichtig ist, die dem Gegenstand aufgeprägte Form als das reine Fürsichsein des Knechtes auszugeben (Ph 135, 40). Aus dem Auseinanderfall der vom Knecht erlangten und der dem Objekt, worin er sich als Arbeiter findet, versagten Flüssigkeit des Selbstbewusstseins ergibt sich der Stoizismus als ein leeres Selbstbewusstsein, das sich über die Gegebenheit des Objektiven als gänzlich davon unabhängig hinwegsetzt, während der Skeptizismus mit dem gleichgültigen Ausspielen aller Positionen gegeneinander nur noch die Flüssigkeit ohne bleibende Bestimmtheit übrig lässt (Ph 140, 15–21) und damit erst recht das Selbstbewusstsein verfehlt, das nicht sein kann, wenn ihm der Unterschied nicht auch die Gestalt des Seins hat (Ph 121, 22 f.). Der Konflikt des Knechtes, der die von Todesfurcht freigesetzte Perspektive der Unendlichkeit über allen festen Bestimmungen mit der beschränkten Endlichkeit des Objekts seines Sichfindens nicht zusammenbringt, wird zum Thema des dem 514

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Zwischenspiel aus Stoizismus und Skeptizismus folgenden unglücklichen Bewusstseins: Eine ärmliche, beschränkte Persönlichkeit bebrütet sich und ihre tierischen Funktionen in unglücklicher Aussicht auf die ersehnte, aber versagte Befreiung von der Beschränktheit. Diese gelingt in überraschender Weise durch völlige Verleugnung des Selbstbewusstseins und seiner Reflexion: Während der Knecht sich an dem Ding, das er formiert, nur abmüht, macht das unglückliche Bewusstsein sich selbst zum Ding: Durch Fasten und Kasteien, mechanische Arbeit und mechanische Rituale (»indem es etwas Fremdes ihm sinnloses vorstellend und sprechend sich bewegt«, Hegel denkt an mittelalterlichen Katholizismus) hat es die Gewissheit, seines Ich sich entäußert und sein unmittelbares Selbstbewusstsein zu einem Ding gemacht zu haben (Ph 155, 11–14). Damit ist die Spannweite zwischen Selbst und Ding überbrückt, zwar noch nicht das Selbstbewusstsein realisiert, aber der Weg zur »Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst« (Abschnitt V B) geöffnet. Nach dem nicht dialektischen Intermezzo der beobachtenden Vernunft betritt diesen Weg die Lust, um die Früchte möglicher Aneignung in dem vom unglücklichen Bewusstsein eröffneten Spielraum durch Genuss beliebiger Dinge zu ernten. Sie will durch beliebigen Wechsel der Lustobjekte über das Allgemeine (den Spielraum ganz allgemein) verfügen und sich in sprödem Egoismus dagegen behaupten. An diesem Mangel der Anpassung an ihr Objekt zerbricht sie. Aus dieser Erfahrung lernt das Bewusstsein, das Allgemeine sich anzueignen, es zum Gesetz des Herzens zu machen. Das Allgemeine lässt sich aber nicht so privatisieren; darauf reagiert das Gesetz des Herzens mit dem Wahnsinn des Eigendünkels, die bloße Subjektivität als allgemeines Gesetz zu behaupten. Da es viele Herzen gibt, entstehen viele einander durchkreuzende Gesetze. So ergibt sich eine allgemeine Befehdung, in der jeder an sich reißt, was er kann, und seine eigene Gerechtigkeit ausübt, die von der der anderen durchkreuzt wird. Das ist der Weltlauf. Es folgt der Kampf der Tugend mit dem Weltlauf. Hegels Vorbild ist, wie ich in HL 411– 415 im Einzelnen gezeigt habe, Mandevilles Bienenfabel. In Anlehnung an Mandeville kombiniert Hegel im Ritter der Tugend zwei Züge, die jener aus der Moral Shaftesburys und der verlogenen konventionellen Moral zusammengestellt hatte, obwohl sie eigentlich nicht zusammenpassen: den Optimismus, dass im Grunde alle eigentlich das Gute wollen, und die dann nicht mehr nötige Forderung asketischer Selbstverleugnung. Der Weltlauf salviert sich gegen den 515

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Hegel

Ritter der Tugend, indem er ihm das Unpassende dieser Zusammenstellung vorrechnet. Damit sind wir im geistigen Tierreich – ein von Hegel nicht erklärter Ausdruck, wohl Anspielung auf die Bienenfabel – angekommen. Hegel behandelt es in einem Kapitel mit der Überschrift: »Das geistige Tierreich und der Betrug, oder die Sache selbst«. Die Sache selbst ist der Spielraum der Fassung (dessen, was man verliert, wenn man die Fassung verliert 1498 ) zwischen Selbstdarstellung und selbstlosem Dienst an einer Aufgabe. Die Zweideutigkeit des Spielens in diesem Spielraum ist der Betrug. Die Fassung oder innere Haltung 1499 spielt im geistigen Tierreich souverän auf dem Klavier der Aneignung. Hegel lässt dies als Vermittlung des Einzelnen und Allgemeinen gelten. Die folgenden Kapitel über den wahren und den sich entfremdeten Geist durchbrechen die Kette der bloßen Erfahrung des Bewusstseins durch »Gestalten einer Welt«, die nicht mehr »Gestalten nur des Bewusstseins« sind (Ph 290, 25 f., s. o. 39.1). Danach folgt, im Anschluss an das Intermezzo der Abrechnung mit Kants Moraltheologie als moralischer Weltanschauung, das Kapitel über das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung. Das ist wieder eine bloße Gestalt des Bewusstseins, nicht einer Welt. Es handelt sich um die beliebige Verfügung des Individuums über das moralisch Allgemeine, das Gute, eingekleidet in eine Literatursatire, die dieses durch Beliebigkeit zum Bösen gewordene Gute als moralisch gewendete romantische Ironie darstellt, mit Anspielung auf Friedrich Schlegel und Jacobi. 1500 Seltsam plötzlich folgt auf das Geständnis des Bösen, dass er böse ist, seine Versöhnung mit dem Ankläger, dem durch dieses Geständnis sein hartes Herz bricht, und ein gegenseitiges Anerkennen, das der absolute Geist ist (Ph 441, 13–17). »Das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich gleich bleibt, und in seiner vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewissheit seiner selbst hat; – es ist der erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen.« (Ph 442, 29–35) Von so etwas war bis dahin nicht die Rede. Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 157–173: Fassung als Spielraum der Person. 1499 Jürg Zutt: Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1963, S. 1–81: Die innere Haltung. 1500 Vgl. dazu ES (s. Anm. 1290) S. 291 f. 1498

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Unvermittelt scheint das Ziel gegenseitiger Aneignung erreicht zu sein. Das Schlusskapitel entnimmt diesem Ereignis das absolute Wissen. Es ist klar, dass die Literatursatire ein solches Glück nicht bescheren kann. Wie kommt sie hierhin? Diese Frage habe ich in HL S. 418– 420 durch Vergleich mit Passagen in dem kurz vor Ph entstandenen dritten Jenaer Systemfragment beantwortet. Hegel wollte die Rolle des Bösen ursprünglich nicht einigen zeitgenössischen Literaten, die in sie nur durch grobe Verzerrung gepresst werden können, aufladen, sondern einem souverän die Staatsmacht handhabenden machiavellistischen Tyrannen, einer großartigeren Figur, der diese Rolle besser angestanden hätte. In den Jahren der Siege Napoleons bei Austerlitz und Jena fand er es dann nicht opportun, mit der Apologie des großen Tyrannen und Völkerbezwingers zu schließen, und griff zum Ersatz durch eine Literatursatire. In Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) geht es nicht um die Erfahrung des Bewusstseins überhaupt, sondern um die Erfahrung des Willens. Dieser lernt in einer konsequent aufgebauten Folge von Standpunkten, die in seiner Struktur gemäß der Einleitung (39.1) enthaltenen Chancen zu objektivieren und sich verfügbar zu machen, bis hin zur moralischen Genialität des Bösen gemäß dem eben besprochenen Kapitel der Phänomenologie des Geistes. Von da ab geht die Standpunktfolge mit logisch fadenscheiniger Begründung in die anders angelegte Institutionenlehre (Sittlichkeit mit Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat) über, die hier nicht mehr zu besprechen ist. Die Aufstufung bis dahin folgt einem Rezept, das Fichte einmal so formuliert: »Ein höheres wird subjektiv, sobald das bisher subjektive objektiv wird.« 1501 Ich unterscheide sechs Stufen. Erste Stufe: Die Person bedarf einer Sphäre äußerer Freiheit, die ein von ihr Trennbares enthalten muss, damit sie sich als reines, abstraktes Selbst davon abheben kann (§ 45), ein Eigentum (§ 48), wobei man eher als an das römische Rechtsinstitut an Zubehör kindlicher Entwicklung (Teddybären usw., »Übergangsobjekt« nach Winnicott) denken sollte. Zweite Stufe: Ich muss mich meines Eigentums entäußern, damit mir mein Wille, der dem Eigentum gegenüber subjektiv ist, gegenständlich wird; dazu gehört ein anderer und der mit ihm gemeinsame Wille, der den Vertrag begründet (§ 73). Dritte Stufe: Der vorbehaltene eigene Wille gegen den im Vertrag dokumentierten gemeinsamen und insofern allgemeinen Willen wird gegenständ1501

GA II 3 (s. Anm. 1290) 124, 33 f. (Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie).

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Hegel

lich im Begehen von Unrecht (§ 81). Vierte Stufe: Die gegen den eigenen Willen zurückschlagende Allgemeinheit des allgemeinen Willens wird in der Strafe des Verbrechens gegenständlich (§ 104), so dass die beiden Seiten des einzelnen und des gemeinsamen Willens, die im Vertrag unartikuliert zusammenhingen, einander unvermittelt gegenübertreten. Beide Seiten können nun, nachdem sie besonders objektiviert sind, in die Regie des subjektiven Willens genommen werden. Damit ist die Moralität erreicht. »Der moralische Standpunkt ist der Standpunkt des Willens, insofern er nicht bloß an sich, sondern für sich unendlich ist.« (§ 105) Unendlich ist er, weil er sowohl den allgemeinen Willen in die Hand des Einzelwillens nehmen (privatisieren) als auch diesen dem allgemeinen Willen übergeben, also die Identität im Anderssein nach beiden Seiten verwirklichen kann. Fünfte Stufe: Hier hat sich die Person zwischen beiden Möglichkeiten noch nicht entschieden, hat also ihre Freiheit noch nicht voll ausgenützt; der Wille ist insofern noch »abstrakt, beschränkt und formell.« (§ 108) Den Übergang zur entscheidenden Gegenüberstellung macht die Not, indem sie die Zufälligkeit der bloß abstrakten, noch nicht festgelegten Freiheit sowohl offenbart als auch beendet; nunmehr stehen sich gegenüber: »das Gute, als das erfüllte, an und für sich bestimmte Allgemeine, und das Gewissen, als die in sich wissende und in sich den Inhalt bestimmende unendliche Subjektivität.« (§ 128) Sechste Stufe: Die Objektivierung ist nun so weit gediehen, dass die Person auch über das allgemeine Gute verfügen kann. »Diese Subjektivität als die abstrakte Selbstbestimmung und reine Gewissheit nur ihrer selbst, verflüchtigt ebenso alle Bestimmtheit des Rechts, der Pflicht und des Daseins in sich, als sie die urteilende Macht ist, für einen Inhalt nur aus sich zu bestimmen, was gut ist, und zugleich die Macht, welcher das zuerst nur vorgestellte und sein sollende Gute eine Wirklichkeit verdankt.« (§ 138) Durch geschickte Ausnützung der guten Seite, die an jedem noch so bösen Zweck zu finden ist, vermag das Selbstbewusstsein jeden beliebigen Zweck »für andere und sich selbst als gut zu behaupten – für andere, so ist es Heuchelei, – für sich selbst, so ist es die noch höhere Spitze der sich als das Absolute behauptenden Subjektivität.« (§ 140) »Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche, und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt, und in diesem ironischen Bewusstsein, in welchem Ich das Höchste untergehen lasse, nur mich genieße.« (§ 140e) Hegel denkt an Friedrich Schlegel und dessen ro518

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mantische Ironie; das zeigt seine Verteidigung Solgers, der in anderem Sinn von Ironie gesprochen hatte, gegen Schlegel (§ 140e Anmerkung). Der Sache nach trifft er vielmehr prophetisch den erst 24 Jahre später publizierenden Stirner, der als Erbe Schlegels die romantische Ironie, die die rezessive Entfremdung der Subjektivität (36.2) zu totaler Wendigkeit nützt, zum Überspielen aller verbindlichen Geltung von Normen durch vollendete Frivolität ausbaut, da er dem Irrtum anhängt, die verbindlichen Normen müssten immer auch die objektiven oder neutralen (sogenannten heiligen) sein (38).

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Die Denkfiguren des Deutschen Idealismus und der Frühromantik – das absolute Ich, die produktive Einbildungskraft und das absolute Abstraktionsvermögen, der transzendentale Zirkel, die romantische Ironie, die dialektische Denkform Hegels – verarbeiten laut 36.2 und 3, 38 und 39.2 die schlichte, ursprüngliche Einsicht Fichtes, dass subjektive Tatsachen der Art, dass es sich um mich – jeder denke an sich – handelt, bei den objektiven nicht unterkommen. In der ersten Mitteilung seiner Entdeckung hatte Fichte geschrieben: »A. will einen objektiven Beweis für die Existenz Gottes, und Unsterblichkeit der Seele. Was mag er sich dabei denken? oder ob ihm die objektive Gewissheit etwa vorzüglicher vorkommt als die – nur – subjektive? Das: Ich denke – selbst hat nur subjektive Gewissheit; und, so viel wir uns das Selbstbewusstsein Gottes denken können, ist Gott selbst für Gott subjektiv.«1295 Kierkegaard 1502 ist auf diese ursprüngliche Einsicht zurückgegangen. Im Sinn der Worte Fichtes meint er: Das Problem des Christentums ist subjektiv, nicht objektiv. 1503 Für das Subjektivwerden kommt es darauf an, das Gewicht der Objektivität abzuwerfen. 1504 Das Problem, woran das Subjekt in Leidenschaft unendlich interessiert ist, kommt nicht mehr auf, wenn man zu objektiv geworden ist und sich die Leidenschaft »von der Objektivität abschwinFolgende Schriften Kierkegaards ziehe ich – in deutscher Übersetzung von Emanuel Hirsch bzw. (für Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift) von Hans Martin Junghans, veröffentlicht im Eugen Diederichs-Verlag Düsseldorf/Köln – mit abgekürzten Titeln heran: Angst: Der Begriff Angst, Lizenzausgabe Gütersloh 1983; Ironie: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, 1961; Nachschrift: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I 1957, II 1958; Krankheit: Die Krankheit zum Tode, 1957; Stadien: Stadien auf des Lebens Weg, 1958. In Klammern setze ich den Quellenangaben aus diesen Büchern die dort am Rande notierte entsprechende Stelle der dänischen Gesamtausgabe mit Band- und Seitenzahl hinzu. 1503 Nachschrift I 21 (VII 15). 1504 Ebd. 59 (VII 50). 1502

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Kierkegaard

deln« lässt. 1505 Besser und tiefer als Fichte sieht Kierkegaard, dass diese Subjektivität am affektiven Betroffensein (36.1) haftet: »Das Christentum ist Geist, Geist ist Innerlichkeit, Innerlichkeit ist Subjektivität, Subjektivität ist wesentlich Leidenschaft, und im Maximum unendliche, persönlich interessierte Leidenschaft für die ewige Seligkeit.« 1506 Fichte hatte gefragt: Woher weiß ich, dass mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?1300 Dass dies keine objektive Tatsache ist, zeigt Kierkegaard an der sonderbaren Frage des Buchhändlers Soldin, der sich »in die Objektivität des Geschwätzes verloren« hatte, an seine Frau: »Rebekka, bin das ich der da redet?« 1507 Er hält dagegen, »dass ein jeder Mensch, der auf sich selbst aufmerkt, weiß, was keine Wissenschaft weiß, da er weiß, wer er selbst ist« 1508 , so dass er keinen Anlass hat, Soldins Frage an Rebekka zu stellen; aber von der Wissenschaft, die nur objektive Tatsachen im Visier hat, könnte er sich darüber in der Tat nicht belehren lassen, da von ihnen aus kein irgendwie begründeter Schluss möglich ist, dass es sich um mich (für jeden um sich selbst) handelt (36.1). Dass der Unterschied an der anderen Tatsächlichkeit liegt, hatte der Verfasser der Theologia Deutsch (um 1500) in die paradoxe Formel gekleidet, dass die Vergottung aller Menschen für mich (einen Menschen) nichts brächte, wenn sie nicht auch an mir geschähe;1309 auf denselben Abstand der Subjektivität für mich vom Allgemeinen, von dem ich ein Fall bin, macht Kierkegaard aufmerksam: »(…) dass ich sterbe, ist für mich gar nicht so etwas im allgemeinen; für andere ist das, dass ich sterbe, so etwas. Ich bin auch nicht für mich so etwas im allgemeinen; vielleicht bin ich für andere so etwas im allgemeinen. Aber ist die Aufgabe die, subjektiv zu werden, so wird ja jedes Subjekt für sich selbst gerade das Entgegengesetzte von so etwas im allgemeinen.« 1509 Die wesentliche Einsamkeit, die sich daraus ergibt, dass für jedes Subjekt die Tatsachen, wodurch es als Subjekt (Bewussthaber) ist, immer nur die seinen, für es subjektiven, als solche mit niemand teilbaren sind, darf aber nicht mit der Isolierung verwechselt werden, die in der Abscheidung aus gemeinsamen Situationen (29.2) bestünde, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit (29.1) Tatsachen mit vielen an 1505 1506 1507 1508 1509

Ebd. 22 f. (VII 16). Ebd. 28 f. (VII 21). Angst 50 (IV 322). Ebd. 79 (IV 347). Nachschrift I 158 (VII 138).

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verschiedene Bewussthaber adressierten Tatsächlichkeiten zusammenfließen. Das Subjekt braucht sich nicht aus dem Gemeinschaftsleben zurückzuziehen und erst recht nicht vor der Objektivität zu fliehen, um zur Subjektivität der für es subjektiven Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) zu finden; ein solcher Respekt vor der Objektivität der neutralen Tatsachen und sonstigen Bedeutungen ist fehl am Platz, weil diese Neutralität oder Objektivität nur ein Restprodukt der Verarmung oder Verblassung der vollen subjektiven Bedeutungen ist, wie Fichte gesehen hat, als er im Rausch seiner Entdeckung überschwänglich meinte, alles sei subjektiv und es gebe gar nichts Objektives.1299 Der falsche Respekt vor der Objektivität, der das Subjekt ins Exil der Innerlichkeit schickt, kommt nur zustande, wenn man alle Tatsachen ausdrücklich oder ahnungslos für objektiv hält und daher mit Wittgenstein 1510 dem Subjekt höchstens einen Randplatz an der Grenze der Welt der (objektiven) Tatsachen gönnt. Daraus ergibt sich die rezessive Entfremdung der Subjektivität (36.2). Ihr ist auch Kierkegaard nicht entgangen, wie seine Gleichsetzung der Subjektivität mit sich isolierender Innerlichkeit und der Gemeinschaft mit zu vermeidender Objektivität zeigt: Der subjektive Denker denkt zwar das Allgemeine, aber »als existierend in diesem Denken und es erwerbend in seiner Innerlichkeit wird er immer mehr subjektiv isoliert.« 1511 Die in der Innerlichkeit der Isolation existierende Subjektivität will das Leben der Ewigkeit ausdrücken, wo alle Sozialität und Gemeinschaft undenkbar ist und sich keine wesentliche Mitteilung denken lässt. 1512 Immer wenn in der Erkenntnis das Subjektive wichtig ist, müssen die Subjektivitäten aus einander gehalten werden, damit sie nicht gerinnend in Objektivität zusammenlaufen. »Dies ist das Abschiedswort der Objektivität an die Subjektivität.« 1513 Mit solchen Überlegungen will Kierkegaard seine Darstellungsweise indirekter Mitteilung (durch vorgeschobene pseudonyme Autoren seiner Erfindung) rechtfertigen. Er verwickelt sich durch die Vermengung der Subjektivität mit Innerlichkeit in einen Widerspruch seiner Stellung zur Abstraktion, die er als Preisgabe der einzigartigen, nicht teilbaren Subjektivität (der Sachverhalte, Programme und Probleme, wie ich sage) ver1510 1511 1512 1513

Logisch-philosophische Abhandlung 5.631 und 5.632. Nachschrift I 65 (VII 56). Ebd., Anm. Ebd. I 71 (VII 60).

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wirft, 1514 als Voraussetzung ewiger Seligkeit aber mit dem größten Nachdruck fordert, da »die ewige Seligkeit gerade in dem durch die äußerste Anstrengung erworbenen abziehenden (abstrahierenden) Selbstgefühl der Subjektivität liegt.« 1515 Mit seiner Option für Innerlichkeit unterstellt sich Kierkegaard der Introjektion im Rahmen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28); wie er dem zugehörigen Psychologismus anhängt, zeigt seine traditionelle Anthropologie, die den Menschen als »eine Synthesis von Seele und Leib, getragen vom Geist« 1516 ausgibt. Dank der rezessiven Entfremdung der Subjektivität ist Kierkegaard in spannungsvoller Geistesverwandtschaft mit der romantischen Ironie verbunden, die die produktive Einbildungskraft nach Fichte – das Schweben zwischen unvereinbaren Gegenteilen, das Ichsein nach Novalis – in die Form einer universalen Wendigkeit bringt, sich von allem abwenden und eben deshalb auch allem nach Belieben zuwenden (jeden Standpunkt einnehmen) zu können (38). In seiner Dissertation über den Begriff der Ironie, auf der Schwelle seiner schriftstellerischen Laufbahn, setzt er sich ausführlich und abfällig mit dieser Haltung auseinander. Reifer und grundsätzlicher ist die Auseinandersetzung in seinem Spätwerk Die Krankheit zum Tode; dort muss man sie aber erst durch ein Lesen »gegen den Strich« identifizieren, weil Kierkegaard die romantische Ironie mit dem Stoizismus verwechselt. Es handelt sich um die Verzweiflung, verzweifelt (d. h. ohne Bauen auf Gott) man selbst sein zu wollen; Kierkegaard führt sie in seiner Typologie solcher Verzweiflungen als diejenige an, auf die alle anderen Arten von Verzweiflung zurückgeführt werden können. 1517 Er will sie »Stoizismus« nennen, »doch in dem Sinne, dass man dabei nicht bloß an jene Sekte dächte.« 1518 Was er schildert, ist aber ganz unstoisch: In der Dialektik des Selbst, das verzweifelt man selbst sein will, gibt es »nichts Festes; was das Selbst ist, steht in keinem Augenblicke fest, d. h., ewig fest. Die negative Form des Selbst übt ebenso sehr die Lösegewalt wie die Bindegewalt aus; es kann durchaus willkürlich jeden Augenblick von vorne anfangen, und wie weit auch ein Gedanke verfolgt werde, die gesamAngst 147 (IV 407): »Die abstrakte Subjektivität ist gerade ebenso ungewiss und entbehrt in gleichem Maße der Innerlichkeit wie die abstrakte Objektivität.«. 1515 Nachschrift 51 f. (VII 42). 1516 Angst 116 (IV 390). 1517 Krankheit 9 (XI 128). 1518 Ebd. 68 (XI 179). 1514

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te Handlung liegt innerhalb einer Hypothese. (…) Das verzweifelte Selbst baut somit fort und fort nichts als Luftschlösser; und führt fort und fort bloße Lufthiebe. Es sieht glänzend aus mit allen diesen experimentellen Tugenden; sie (…) grenzen fast ans Märchenhafte. Ja, das tun sie allerdings; und auch was dem Ganzen zugrunde liegt, ist Nichts. Das Selbst will verzweifelt ganz die Befriedigung genießen, dass es sich selber macht (…).« 1519 Die Spur von dieser Charakteristik zur romantischen Ironie führt in die Dissertation: »Dagegen wird in der Ironie, indem alles zur Eitelkeit gemacht wird, die Subjektivität frei. Je mehr alles eitel wird, umso leichter, umso inhaltsleerer, umso flüchtiger wird die Ironie.« 1520 »Ließ sie etwas bestehen, so wusste sie, dass sie Macht hatte, es zu vernichten, und das wusste sie in dem gleichen Augenblick, in dem sie es bestehen ließ. Setzte sie etwas, so wusste sie, dass sie Vollmacht hatte, es aufzuheben, und das wusste sie in dem gleichen Augenblick, in dem sie es setzte. Sie wusste sich überhaupt im Besitz der unbedingten Gewalt zu binden und zu lösen.« 1521 Diese biblische Formel für die Schlüsselgewalt des Petrus (Matthaeus 16, 19) schlägt die Brücke von der Ironie zur Verzweiflung, verzweifelt man selbst zu sein.1519 Die dieser Verzweiflung zugeschriebene Absicht des Selbst, sich selbst zu machen, 1522 kommt überein mit der Macht der Ironie zum »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« nach Friedrich Schlegel.1423 An den Stoizismus kann man denken, wenn Kierkegaard die rezessive Ironie so charakterisiert: »In der Ironie ist das Subjekt auf einem dauernden Rückzuge, bestreitet jeder Erscheinung die Wirklichkeit, um sich selber zu retten, d. h. um sich selber zu bewahren in der negativen Unabhängigkeit von allem.« 1523 So darf man im Geist Kierkegaards in der Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen, getrost die romantische Ironie erkennen. Andererseits wäre es falsch, in ihm nur deren Gegner, nicht auch deren Entleiher zu sehen. In der Erklärung über seine pseudonyme Verfasserschaft am Schluss von Nachschrift begründet er diese Gewohnheit so: »Ich bin somit das Gleichgültige, d. h. es ist gleichgültig, was und wie ich bin, gerade weil die Frage wiederum, ob es nun auch 1519 1520 1521 1522 1523

Ebd. 69 f. (XI 180 f.). Ironie 263 (XIII 332). Ironie 281 (XIII 348). S. o. Anm. 1519 und Krankheit 68 (XI 179). Ironie S. 262 (XIII 332).

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in meinem Innersten in der Weise mir selbst gleichgültig ist, was und wie ich bin, etwas dieses Werk absolut nichts Angehendes ist.« 1524 Die pseudonym vorgeschobenen Verfasser müssen in pathetischselbstherrlicher Weise ihren Autor wegwünschen und doch auch »ironisch aufmerksam« dabei zu haben wünschen, denn sein Verhältnis zu ihnen ist »die Einheit des Sekretärseins und, recht ironisch, des dialektisch reduplizierten Verfasser-Seins von dem Verfasser oder den Verfassern.« 1525 Kierkegaards Leser sollen sich gewöhnen, »mit der doppeltreflektierten leichten Idealität eines dichterisch-wirklichen Verfassers zu tanzen«, statt sich mit seiner persönlichen Wirklichkeit abzuschleppen. 1526 Kierkegaard zieht sich Hegels »Krallen von Samt« (39.2) an, um in ironisch-tänzerischer Ambivalenz von Zu- und Abwendung die »Personenlehre« des Novalis1427 und Friedrich Schlegels,1425 nach dem Vorbild der göttlichen Trinität Einundderselbe in vielen Personen zu sein, an sich selbst auszuprobieren und dabei in der Unerreichbarkeit des gleichgültig über seinen Rollen schwebenden Dandys zu verharren; der Dandy des 19. Jahrhunderts, der seine Lebensform in Gestalt des Ideals, »cool« zu sein, der Jugend des 20. und 21. Jahrhunderts vermacht hat, ist der Haupterbe der romantischen Ironie als rezessiver Ironie. Victor Eremita, Kierkegaards Pseudonym in Entweder-Oder, beschließt seine Rede über das Weib beim Symposion der Pseudonyme mit dem Satz: »Der Mann, für den jeder unmittelbare Ausdruck nichts als eine falsche Münze ist, er, und zwar er allein, ist besser gesichert, als wenn er ins Kloster ginge, er bleibt ein Eremit und reiste er gleich Nacht und Tag im Omnibus.« 1527 Kierkegaard ist auf dem Weg zu dieser vollen Dandy-Existenz. Ein ganz wesentlicher Schritt zur abgerundeten Ausformung der rezessiven Entfremdung der Subjektivität (36.2) gelingt Kierkegaard, indem er die Kehrseite der romantischen Ironie als die Angst entlarvt, die der Höhenschwindel der über ihren Möglichkeiten schwebenden Freiheit ist. Die Zusammengehörigkeit von Ironie und Schwindel glaubt er in der Dissertation schon bei Sokrates fassen zu können; danach »brauchte Sokrates die Ironie, indem er das Griechentum vernichtete; sein Verhalten gegen dieses war ständig iro1524 1525 1526 1527

Nachschrift II 340 (VII 546). Ebd. 341 (VII 547). Ebd. 342 (VII 547). Stadien 68 (VI 65).

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nisch (…). Aber der Eifer in diesem Dienst hat ihn verzehrt, und zuletzt packte die Ironie ihn, es schwindelte ihm, alles verliert seine Wirklichkeit.« 1528 Über diesen Schwindel schreibt Kierkegaard in einer prägnanten Kurzcharakteristik der Angst: »Angst kann man vergleichen mit Schwindel. Der, dessen Auge es widerfährt, in eine gähnende Tiefe niederzuschauen, er wird schwindelig. (…) Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will und die Freiheit nun niederschaut in die eigene Möglichkeit und sodann die Endlichkeit packt, sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen.« 1529 So wenig dies zu einer allgemeinen Charakteristik der Angst im geläufigen Sinn des Wortes taugt, so genau ist es auf die Angst als Kehrseite der romantischen Ironie im Ganzen der rezessiven Entfremdung der Subjektivität zugeschnitten. Dem romantischen Ironiker werden ob seiner beanspruchten grenzenlosen Wendigkeit alle Wirklichkeiten zu bloßen Möglichkeiten, über denen er in beständigem Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung zwischen unvereinbaren Positionen schwebt. Dieses frei Schweben in »experimentellen Tugenden«, die »nichts Festes« übrig lassen,1519 ängstigt in dem Augenblick, wo die Synthesis als Landung der Möglichkeit in der Wirklichkeit gesucht wird, und endet mit dem Absturz, zu dem der Höhenschwindel die Versuchung ist: Die Freiheit, die unendlich ist und aus nichts entspringt, 1530 weil ihr nichts zugrunde liegt,1519 kann nicht mehr schweben, sinkt zusammen und packt, um sich zu halten, die Endlichkeit in Gestalt eines ideologischen »Gehäuses« 1531 – des Katholizismus bei Friedrich Schlegel und Clemens Brentano, der gottseligen Holzhammer-Mystik in Fichtes Fall – oder wendet sich einer anderen Gestalt »der Enge zu, die uns allein beglücke.« 1532 Ich habe diese Angst als Ichangst bezeichnet, 1533 d. h. als die Angst, ich zu sein, ohne Rücksicht auf die Gefahren, die dem Menschen, der ich bin, drohen mögen. Solche Ichangst kann erst entdeckt werden, wenn das Sein und Sosein dessen, der ich bin, gemäß der ursprüngIronie 269 (XIII 338). Angst 60 f. (IV 331). 1530 Angst 116 (IV 381). 1531 Karl Jaspers, Die Psychologie der Weltanschauungen, 6. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York 1971, S. 304–326: Der Halt im Begrenzten: Die Gehäuse. 1532 Goethe, Kampagne in Frankreich, letzte Zeile. 1533 Zuletzt in: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 205–222: Angst zwischen Leib und Ichangst. 1528 1529

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lichen Einsicht Fichtes (36.1) aus dem Bereich der objektiven oder neutralen Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, entrückt ist. Eine Errungenschaft der rezessiven Entfremdung der Subjektivität bei und nach Fichte ist die Sprengung des herrschenden Singularismus durch Rückbesinnung auf den neuplatonischen, von Plotin (15.2) entdeckten, vom scholastisch-neuzeitlichen Denken nach Scotus Eriugena (18) und allenfalls Paracelsus (27.2) aber verdrängten Typus des instabilen Mannigfaltigen (39.1) – zuerst in Gestalt der Umdeutung des absoluten Ich, das als Extrem rezessiver Entfremdung eine Tathandlung ist, die bloß sich selbst tut (setzt), in das Faktum der produktiven Einbildungskraft, die als Wechsel des Ich in und mit sich selbst1340 zwischen Unvereinbaren schwebt,1339 sodann als Identifizierung dieses Schwebens mit dem Ichsein1433 und mit Gott1436 durch Novalis und schließlich zu Hegels, zum Abfangen der rezessiven Entfremdung (39.2) bestimmter, Umdeutung der numerischen Mannigfaltigkeit in nur dialektisch konstruierbare instabile mit Integrationstendenz (39.1). Die dadurch bedingte, von Novalis vorbereitete Auffassung des Ich bringt Hegel in die schon zweimal (unter 4.2 und 39.1) zitierte Form: »Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein anderes, und greift zugleich über das andere über, das für es ebenso nur es selbst ist.« (Ph1451 120, 31–34) Ich ist hiernach nicht nur vom Beziehen bezogenes Glied, sondern das Beziehen selbst, das sich (als erstes Glied oder Referens im Relat) auf sich selbst bezieht. Dafür setzt Kierkegaard die prägnante Formel ein: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.« 1534 Er übertrumpft Hegel, der hier nur vom einseitig gerichteten Beziehen spricht, durch Rückgang auf das Verhältnis, in dem die zu einander konversen Beziehungen ungeschieden und richtungslos beisammen sind, ehe sie durch den Fluss der Zeit freigesetzt werden (39.1). Der Singularismus, der nur numerische Einheiten gelten lässt, stößt auf eine unüberwindliche Absurdität, an der er – schon logisch – scheitern muss, bei der numerische Einheiten verbindenden Relation, weil, wenn alles einzeln ist, auch jeder Fall des Zukommens einer Bestimmung zu dem durch sie als etwas Bestimmten einzeln sein müsste, so dass eine unendliche Iteration von Bestimmungen des Zukommens der Bestimmung den Zugang zum Bestimmten (das Bestimmen als etwas) entziehen würde (21.1; 1534

Krankheit 9 (XI 127).

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29.1). Für instabile Mannigfaltigkeit entfällt diese Aporie (wie in anderer Weise bei Zulassung chaotischer Mannigfaltigkeit, ebd., 39.1): Wenn zwei Etwasse um Identität mit demselben Etwas konkurrieren, ist dieses in gewissem Sinn dieses Konkurrenzverhältnis, und dann kann (schon wegen dessen Identität mit sich) ein Verhältnis sich zu sich selbst verhalten. Dramatischer als in dem eben aus der Phänomenologie des Geistes angeführten Satz führt Hegel diese Sachlage in seiner Selbstbesinnung aus der religionsphilosophischen Vorlesung aus,1457 indem er sich als die in Einigkeit und Widerstreit kämpfenden beiden Seiten des unendlichen Bewusstseins und endlichen Selbstbewusstseins darstellt, aber nicht nur als diese, sondern auch als »der Kampf selbst« zwischen ihnen, die »jedes selbst Ich« sind, während er »die Bemühung dieses Zusammenhaltens« ist, »die Arbeit des Gemüts, dieser Entgegensetzung, die ebenso für mich ist, Meister zu werden«. Kampf ist mehr als eine Beziehung, nämlich im angegebenen Sinn ein Verhältnis; von dieser Stelle, an der Hegel allerdings nur von Beziehung spricht, lässt sich also leicht die Brücke zu Kierkegaards Formel schlagen, und es ist nicht von der Hand zu weisen, obwohl kaum belegbar, dass dieser zu ihr durch die entsprechende Stelle in Hegels gedruckter Religionsvorlesung, 1535 die er kannte, angeregt wurde. Hegels Worte beschreiben nicht nur den »Ich« Genannten als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, sondern machen auch deutlich, dass um Identität mit diesem Zweie, die jedes selbst Ich sind, konkurrieren, ganz nach dem Muster der Husserl’schen Puppe.1341 Mit der Charakteristik des Selbst als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, übernimmt Kierkegaard also die Struktur der Reflexion aus Hegels Wissenschaft der Logik, der Urform des Wesens als der die Positionen mit einander wechselnden Partner eines Verhältnisses (39.1; 39.3.1), mit dem »Paartanz« des Unendlichen und Endlichen1484 als Muster, das ebenso bei Kierkegaard vorkommt: »Die Entwicklung muss darin bestehen, dass man unendlich von sich selber loskommt in Verunendlichung des Selbsts, und dass man unendlich zu sich selber zurückkehrt in der Verendlichung.« 1536 Das sind die konträren Partner, deren Kampf Hegel sein will,1457 und der Bemühung und Arbeit des Gemüts, der er sich dabei unterzieht, ist sich Georg Friedrich Wilhelm Hegels Werke hg. durch einen Verein der Freunde des Verewigten, Band 11, 2. verbesserte Auflage Berlin 1840, S. 64. 1536 Krankheit 26 (XI 143). 1535

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Kierkegaard ebenso bewusst: »Zum täglichen Gebrauch aber die Dialektik der Unendlichkeit zu haben und in ihr zu existieren ist natürlich die höchste Anstrengung; und wiederum ist die höchste Anstrengung vonnöten, dass die Übung nicht, anstatt einen zu üben in ihr zu existieren, einen trügerisch aus ihr herauslocke.« 1537 Schlecht passt zu dieser instabilen Mannigfaltigkeit die stabile, die Kierkegaard ihr als Gottesverhältnis aus seinem Christentum heraus aufdrückt. Das Verhältnis der beiden Glieder, das Selbst also, ist von einem Dritten (Gott) gesetzt. 1538 Verzweiflung ist das Missverhältnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhält. Sie stammt daraus, dass Gott das Verhältnis, indem es sich zu sich selbst verhält, gleichsam aus seiner Hand entlässt. 1539 Zwischen Gott und dem Menschen gibt es einen unendlichen Qualitätsunterschied. 1540 »Glaube ist: dass das Selbst, indem es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig sich gründe in Gott.« 1541 In solcher Durchsichtigkeit halten die unendlich gegensätzlichen Partner des Verhältnisses stabil und unerbittlich zusammen, mit einem Gegensatz, der wie bei kontrastierenden Farben durch das Nebeneinanderhalten verschärft wird. 1542 Davon erhofft sich Kierkegaard die Befreiung von der Angst des Höhenschwindels der rezessiv entfremdeten Subjektivität: Wer sich von der Angst bilden, d. h. zum Glauben führen lässt, versinkt nicht mehr mit Schwindel im Blick in der Möglichkeit, sondern bleibt bei der Angst, die ihn wie ein dienender Geist dahin führt, wohin er will. 1543 Es ist klar, dass dies zu Hegels Reflexionsstruktur nicht passt. Auch Hegel erhofft sich Stabilisierung durch einen dritten Pol in der Logik des Begriffs, aber nur so, dass zu der zweistelligen Beziehung eine dreistellige hinzukommt, indem nicht nur die beiden Partner des Verhältnisses sich in einander aufheben, sondern auch ein Drittes sich mit einem Schlag in beiden aufhebt wie sie in ihm. Ein stabiler Gegensatz von Mensch und Gott wäre für Hegel nicht nur eine Illusion, sondern geradezu das Elend, die Verzweiflung, die Kierkegaard damit heilen will, indem das Endliche im progressus ad infinitum endlos sehn-

1537 1538 1539 1540 1541 1542 1543

Nachschrift I 78, Anm. (VII 67). Krankheit 9 (XI 126). Ebd. 11 (XI 130). Ebd. 128 (XI 235). Ebd. 81 (XI 194). Ebd. 123 (XI 231). Angst 165 (IV 424).

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süchtig und vergebens nach einem unerreichbaren transzendenten, durch die Gegenstellung in Endlichkeit verkehrten Unendlichen auslangte.

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41. Schopenhauer

In einer Anmerkung aus § 54 im 1. Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung beschreibt Schopenhauer 1544 seine Selbsterfahrung: »(…) sobald wir (…) in uns gehen und uns, indem wir das Erkennen nach innen richten, einmal völlig besinnen wollen; so verlieren wir uns in eine bodenlose Leere, finden uns gleich der gläsernen Hohlkugel, aus deren Leere eine Stimme spricht, deren Ursache aber nicht darin anzutreffen ist, und indem wir so uns selbst ergreifen wollen, erhaschen wir mit Schaudern nichts als ein bestandloses Gespenst.« (W I 384) Diese Worte sind das Echo einer Stelle aus der 5. Nachtwache der zur Fichte-Rezeption gehörigen Nachtwachen des Bonaventura-Klingemann:1408 »(…) – dann schaue ich aber plötzlich tief in mich selbst hinein, wie in einen unermesslichen Abgrund, in dem die Zeit, wie ein unterirdischer nie versiegender Strom dumpf dahinrauscht, und aus der finsteren Tiefe schallt das Wort ewig einsam herauf, und ich stürze schaudernd vor mir selbst zurück, und kann mir doch nimmer entfliehen.« 1545 Bonaventura drückt mit diesem Bild die rezessive Entfremdung der Subjektivität (36.2) aus, die Verdampfung des Ich im transzendentalen Zirkel1323 gemäß der Bestimmung des Menschen.1328 1546 Zu dieser Ich zitiere Schopenhauer nach Band und Seitenzahl seiner Sämtlichen Werke in der Ausgabe von Wolfgang Freiherr von Löhneysen (2. Auflage Stuttgart/Frankfurt 1968, Nachdruck Darmstadt 1989) mit folgenden Abkürzungen: W I bzw. II = Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I bzw. II = Band I bzw. Band II der Ausgabe; PP II = Parerga und Paralipomena Band II. Außerdem ziehe ich den handschriftlichen Nachlass (N.) in der Ausgabe von Arthur Hübscher heran: Band I Frankfurt a. M. 1966, Band III ebd. 1970, Band V 1968. 1545 Bonaventura, Nachtwachen, zuerst Penig 1805, Ausgabe bei Reclam, Stuttgart 1964, S. 40. 1546 Vgl. ebd. S. 93 (10. Nachtwache): »(…) – wie? steht kein Ich im Spiegel, wenn ich davortrete – bin ich nur der Gedanke eines Gedanken, der Traum eines Traumes – (…) Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, wenn ich euch zuhalte, ihr Masken, und mich selbst anschauen will – alles verhallender Schall ohne den verschwundenen Ton – nir1544

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Schopenhauer

Entfremdung von den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen in zugleich ironisch-wendiges (38) und angstvolles (40) Schweben des Höhenschwindels beim Herabblicken auf die eigenen Möglichkeiten1529 kommt bei Schopenhauer eine Verfremdung dessen, worauf hinabgeblickt wird, weil man sich trotz allen Schwebens nicht davon losreißen kann: des unmittelbaren Sichspürens in affektivem Betroffensein, umgedeutet in einen dämonischen Willen, der sich dem Persönlichen, Eigenen als »bloßer Wille, blinder Drang« (W I 260) entzieht, der »das innere Wesen der Welt« (W I 238) ist. In der ersten Fassung jener Anmerkung verschiebt Schopenhauer diese doppelte Entfremdung in die Vogelsperspektive eines aus der Welt herausgenommenen Betrachters einerseits, die Kulissenperspektive eines in uns bloß erscheinenden Willens andererseits: »Der Geist des Menschen gleicht den gläsernen Hohlkugeln, aus denen eine Stimme hervorgeht, die aber doch leer sind (…). Denn wir sind zum Teil das Subjekt des Erkennens, d. h. die ergänzende Bedingung der Möglichkeit dieser objektiven Welt, und zum Teil sind wir Erscheinung des Willens zum Leben, der in jedem Dinge der Welt erscheint: aber diese Duplizität unsers Wesens ruht nicht in einer gemeinschaftlichen Einheit (…).« (N I 385, 1816) Die rezessive Entfremdung der Subjektivität in wendiger (romantischer) Ironie und Angst entfernt das Subjekt nur nach einer Seite, durch Rückzug von den objektiven Tatsachen; Schopenhauer zerreißt es beim Sichfinden nach zwei Seiten, indem nicht nur das Findende als reines Subjekt der Erkenntnis der Welt entzogen wird, sondern auch das, als was das Subjekt sich findet, unter oder hinter alles Objektivierbare in den Willen als rätselhaftes Ding an sich entweicht. Zwar ist der Wille unser eigenes Selbst, die Subjektivität (W II 474, 475), aber, obwohl »unser Wesen an sich, unser eigenes Wesen«, ist er »ein Fremdes« gegen »das Erkennende«, »unserm Intellekt ein Rätsel« (W II 638). Diese »Zersetzung des so lange unteilbar gewesenen Ichs oder Seele in zwei heterogene Bestandteile« gilt Schopenhauer als »der Grundzug meiner Lehre.« 1547 Jeder Mensch hat ein zwiefaches Dasein als Wille und als Subjekt der Erkenntnis, in dessen Bewusstsein die objektive Welt allein ihr Dasein hat; aber als Wille ist er wiederum doppelt: erstens das Individuum, das vollauf gends Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts das ich sehe!« Vgl. dazu Fichte, s. o. Anm. 1327. 1547 III 339 (Über den Willen in der Natur).

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zu tun und zu leiden hat, und zweitens das innere Wesen der Welt (W II 479 mit W I 238). Deshalb ist »unser Ich (…) aus zwei selten oder nie ganz richtig zusammengehenden Uhrwerken zusammengesetzt« (N III 13, 1820), aber beide haben in uns keinen Platz: Das reine Subjekt der Erkenntnis ist leiblos, unerkennbar, nicht in Raum und Zeit, der Alternative von Einheit oder Vielheit nicht unterworfen, mit dem Individuum als von ihm bloß zeitweilig vorgestelltem, ihm entbehrlichem Träger behaftet (W I 33, 34; W II 14 f., 29); das andere Uhrwerk, der Wille, kann sich nicht einmal der Vielheit öffnen, da er als das innere Wesen der Welt »an sich selber zehren muss, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden.« (W I 227) Was jemand ist, hat er demgemäß bloß geliehen, zur Hälfte vom Subjekt, zur Hälfte vom Willen, und Schopenhauer schwankt, welche von beiden Hälften »ich« heißen darf: »im Grunde« der Wille (W II 180), »in Wahrheit« das Erkennende (PP II § 27, V 48). Für die Zusammensetzung des Selbstbewusstseins aus Erkennen und Wollen hat Schopenhauer einen Vorgänger. Fichte stellt in § 1 seines Buches System der Sittenlehre (1798) den Lehrsatz 1 auf: »Ich finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend.« 1548 Das erläutert er, bezüglich auf eine hinzugedachte Substanz: »Nun gibt es nur zwei Äußerungen, die unmittelbar jener Substanz zugeschrieben werden: Denken (im weitesten Sinn des Worts, Vorstellen, oder Bewusstsein überhaupt) und Wollen. Das erstere ist ursprünglich und unmittelbar für sich gar kein Objekt eines besonderen neuen Bewusstseins, sondern das Bewusstsein selbst.« 1549 Schopenhauer hat das Buch 1812 gelesen und mit ungnädigen Randbemerkungen (auch zur hier betreffenden Passage) versehen (N V 53 f.). Im folgenden Jahr ist er in Jena mit seiner Dissertation Über die vielfache Wurzel des Satzes vom Grunde zum Doctor promoviert worden; es heißt da in § 41: »Erkannt wird das Subjekt nur als ein Wollendes, eine Spontaneität, nicht aber als ein Erkennendes. Denn das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es als notwendiges Korrelat aller Vorstellungen Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden.« (III 828) Und in § 42: »Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend. (…) Die Identität nun aber des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, ver1548 1549

GA I 5 (s. o. Anm. 1290) S. 37 Z. 8. ebd. S. 38, 34–39, 3.

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möge welcher (und zwar notwendig) das Wort ›Ich‹ beide einschließt, ist schlechthin unbegreiflich.« (III 171 1550 ). Es ist nicht auszuschließen, dass Schopenhauer von Fichte abgeschrieben hat; dass er sich stets nur abfällig über diesen äußert, spricht nicht dagegen. Die Unversöhnlichkeit des Dualismus von Vorstellen (Erkennen) und Wollen ist indessen eine originelle These Schopenhauers. Nach Fichte vereinigen sie sich in der »Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen; und diese Tendenz ist es, was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich ohne alle Beziehung auf etwas außer ihm gedacht wird.« 1551 Schopenhauer schreibt dazu an den Rand: »Grundfalsch: jedes Ich hat eine Tendenz zur Ruhe und wird zur Tätigkeit gebracht allein durch nötigende Motive.« (N V 54) Schopenhauers Ich sehnt sich nach Ruhe und wird genötigt durch den Willen, der sein eigenes Wesen und doch ihm fremd ist. Der Wille, wie Schopenhauer ihn versteht, umfasst alle Affekte und Leidenschaften, auch Lust und Unlust, da alle diese Weisen des affektiven Betroffenseins »Bewegungen des entweder gehemmten oder losgelassenen, befriedigten oder unbefriedigten eigenen Willens« seien, »desselben Willens, der in Entschlüssen und Handlungen tätig ist«, 1552 womit freilich in den Willen eingeführte Impulse umgedeutet werden in von ihm ausgeführte oder gar ausgehende. Was veranlasst Schopenhauer zu dieser Umdeutung, was treibt ihn, das »innere Wesen der Welt« (W I 238, s. o.) mit dem sonst für besonnenes Wollen reservierten Wort zu bezeichnen, da dieser Wille nach seiner Lehre doch vielmehr »an sich selbst ein so wilder, ungestümer Drang ist wie die Kraft, die im herabstürzenden Wasserfall erscheint – ja, wie wir wissen, im tiefsten Grunde identisch mit dieser« (W II 275) als »bloßer Wille, blinder Drang« (W I 260)? Ist blinder Drang denn Wille? Aber die Verschiebung des normalen Wortsinns hat Methode. Schopenhauer will die Ziellosigkeit des Willensdranges – das »Streben und Fliegen ohne Ziel« in »Ermangelung eines letzten Zweckes« (W I 221) – als Vergeblichkeit denunzieren: »Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden.« (W I 279) Leiden an unbefriedigtem Bedürfnis nach einem zu erreichenden Ziel kann es aber nur bei Sicht auf das Ziel geben, und an solcher Die letzten drei Worte von S. 829; die Abweichungen des Urtextes von der 2. Auflage 1847 sind im Anhang des Bandes abgedruckt. 1551 GA I 5 S. 45, 26–30. 1552 III 528 f. (Preisschrift über die Freiheit des Willens), ähnlich W II 260 und 309. 1550

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Sicht fehlt es dem »blinden« Drang. Vergeblichkeit kommt also erst für Streben, nicht schon für Drang in Betracht. Schopenhauer benützt das Wort »Wille« als Gelegenheit, um den ungestümen Drang, der im Wasserfall oder im rasenden Zorn sich ergießt, in ein Streben umzudeuten: »Wir haben längst dieses den Kern und An-sich jedes Dinges ausmachende Streben als dasselbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es sich am deutlichsten, am Lichte des vollsten Bewusstseins manifestiert, Wille heißt.« (W I 425) Als ob der Drang (wenn es ihn gibt) des stürzenden Wassers ein Streben zur Erde wäre! Wille (Wollen) strebt, bloßer Drang nicht, nicht z. B. der élan vital nach Bergson, ein schöpferischer, die Welt durchwaltender Schwung ohne Ziel und deshalb ohne Vergeblichkeit, das optimistische Gegenstück zum pessimistisch gefärbten Willen nach Schopenhauer. Die ungehinderte Entfaltung der natürlichen Anlage ist nach Aristoteles das Wesen der Lust, 1553 die »Funktionslust« (Bühler) des spielenden, »herumtollenden« jungen Tieres und Menschen, ein frei sich entfaltender Drang ohne Leiden und Vergeblichkeit, weil ohne eingepflanzte Sicht auf ein Ziel. Sogar Schopenhauer berührt flüchtig diesen lustvollen Drang: »(…) es gibt eigentlich gar keinen Genuss anders als im Gebrauch und Gefühl der eigenen Kräfte.« (W I 420) Für das trostlose Bild eines erlösungsbedürftigen Welt- und Menschenwesens Wille, das er zeichnen will, kann er solchen lustvollen Drang aber nicht brauchen. Durch Infektion mit dem zur Vergeblichkeit seines Strebens verurteilten Willen, der im menschlichen Subjekt dessen Subjektivität ist (W II 475), wird diese zur »Quelle des Elends«, die aber »für den Augenblick (…) geschwunden« ist, wenn wir »die Dinge der Welt objektiv betrachten, d. h. kontemplieren« (N I 47, 1813); wir sind dann – besonders in ästhetischer Hingabe, der das 3. Buch von W gewidmet ist – »reines Subjekt der Erkenntnis« als »das eine Weltauge, das aus allen erkennenden Wesen blickt« (W I 282), und damit uns selbst los (V 491, PP II § 205). Dieses reine Subjekt der Erkenntnis ist so frei vom Willen, dass es »an nichts Anteil oder Interesse nehmen kann, sondern ihm das Sein und Nichtsein jedes Dinges, ja sogar seiner selbst gleichgültig ist.« (W II 638 f.) Für diese Gleichgültigkeit muss allerdings in Kauf genommen werden, dass die objektive Welt, die seine Vorstellung ist (W I 238) und allein in seinem Bewusstsein ihr Dasein hat (W II 479), in vom Willen gereinigter Ge1553

Nikomachische Ethik 1153a 12–15.

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stalt »wie ein wesenloser Traum oder ein gespensterhaftes Luftgebilde an uns vorbeiziehen müsste, nicht der Betrachtung wert« (W I 156); erst vor dem Hintergrund des Willens erhält der Inhalt der Vorstellung die »gefühlte Bedeutung, vermöge welcher diese Bilder nicht, wie es außerdem sein müsste, völlig fremd und nichtssagend an uns vorüberziehn, sondern unmittelbar uns ansprechen, verstanden werden und ein Interesse erhalten, welches unser ganzes Wesen in Anspruch nimmt« (W I 151), die Subjektivität subjektiver Tatsachen in meinem Sinn (35.3.4; 36.1). Wenn es gelingt, die Vorstellung auf diesem Hintergrund zu objektivieren, ohne sich zu verstricken, lohnt sich die Kontemplation, da zwar »der Wille, das Dasein selbst, ein stetes Leiden und teils jämmerlich, teils schrecklich ist; dasselbe hingegen als Vorstellung allein, rein angeschaut oder durch die Kunst wiederholt, frei von Qual, ein bedeutsames Schauspiel gewährt.« (W I 372) Indessen ist solche perfekte Distanzierung mit dem Bewusstsein, in dem die objektive Welt doch allein ihr Dasein haben soll, nach Schopenhauers eigener Lehre unverträglich; denn das Bewusstsein »erfordert (…) stets einen zentralen Einheitspunkt«, »in welchem es selbst mit dem wollenden Ich, dessen bloße Erkenntnisfunktion es ist, als identisch sich darstellt.« (W II 324) In einer Nachlass-Aufzeichnung aus dem Jahr 1823 versucht er diese Verstrickung zu lösen: Der Wille gibt der Erkenntnis ein Ich als Zentrum ihres Horizontes, indem er ihr »einen ängstlichen Anteil an einem bestimmten Punkt aufdringt der ihr außerdem so gleichgültig wie jeder andre Punkt wäre«; wenn »durch die Wendung des Willens, durch die Wiedergeburt« dieser ängstliche Anteil und mit ihm der Egoismus aufhört, verschwindet das Ich und »bloß die objektive Welt bleibt übrig: wir sehn noch die Dinge und ihre Verhältnisse zu einander: aber wir hören auf, sie alle auf uns zu beziehen: die Erkenntnis ist ohne Centrum: es ist kein Egoismus und eo ipso auch kein Ich mehr da: bloß ein schwacher Schatten desselben erscheint dann und wann durch das Fortbestehen des Leibes und der Zeit.« 1554 Diese Vision trägt den Widerspruch im Gesicht: Wenn niemand mehr für sich »ich« ist, wie sollen »wir« noch die Dinge sehen? Demgemäß widerruft Schopenhauer schon im nächsten Jahr: Die Vorstellung erfordert ein Subjekt der Erkenntnis, das nur im Willen wurzeln kann; wo N III 166 f. Dieses Gedankenspiel ist wohl die erste Ankündigung des Empiriokritizismus (s. u. 43.1) nach der Zulassung subjektlosen Denkens und Wollens durch Wilhelm von Ockham (24.4, s. Anm. 521).

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diese zum Willen hinzukommt, entsteht daher ein Punkt, der beiden gemeinsam ist, ein Ich (N III 180). Da also auch der Weg zur Erlösung durch Flucht in die ichlose Vorstellung verbaut ist, bleibt nur die traurige Resignation: »Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, dass wir besser nicht dawären.« (W II 775) »Was aber habe ich vom Dasein? Ist es beschäftigt, habe ich Not; ist es unbeschäftigt, Langeweile.« (V 378, PP II § 172) Zwischen Schmerz und Langeweile ist jedes Menschenleben hin und her geworfen (W I 432). Nur der ständige Wechsel von Erfüllung zu neuen Wünschen verhindert »jenes Stocken (…), das sich als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertötender languor zeigt.« (W I 241) Dieser Pessimismus leidet an starker Kurzsichtigkeit. Erstens ignoriert er, was Scheler die »Schichtung des emotionalen Lebens« nennt. Ich habe drei Schichten unterschieden: die alle Gefühle grundierenden reinen Stimmungen Zufriedenheit und Verzweiflung, die bloß gerichteten Gefühle (reine Erregungen) und die zentrierten Gefühle, bei denen sich die Erregungen um ein (eventuell in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt differenziertes) Zentrum organisieren. 1555 Schopenhauer berücksichtigt nur die durch Streben nach einem Ziel zentrierten Gefühle. Wenn aber das Auf und Ab von Wunsch und Wunscherfüllung von Zufriedenheit als reiner erfüllter Stimmung getragen wird, kann es mit gelassener Dankbarkeit und Zuversicht ohne Jammer angenommen werden; so ist wohl zu verstehen, was Hegel seiner Braut schreibt: »Hatten wir am Abend vorher nicht bestimmt davon gesprochen oder es ausgemacht, dass wir es Zufriedenheit heißen wollen, was wir zusammen zu erreichen gewiss sind, und: ›Es gibt eine selige Zufriedenheit, die, ohne Täuschung betrachtet, mehr ist als alles, was glücklich sein heißt.‹« 1556 Zweitens beachtet Schopenhauer nur die kurzen Sprünge der augenblicklichen Aufregungen, Launen und wiederkehrenden körperlichen Bedürfnisse, nicht die langfristig wirkenden prospektiven Tendenzen in der zuständlichen persönlichen

Der Gefühlsraum (System der Philosophie Band III Teil 2) S. 219–330 (wo aber noch mit veralteter Terminologie von intentionalen statt zentrierten Gefühlen die Rede ist); Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 296–302; Die Liebe, S. 50–59; und an anderen Stellen. 1556 Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister, Band I, Hamburg 1952, 3. Aufl. 1969, S. 367. 1555

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Situation, 1557 das, was Hans Thomae umschreibt als »eine Art allgemeinen Generalentwurfs der individuellen Existenz, durchaus schon mit den Konturen versehen, welche die Biographie der Existenz einzeichnete, und doch noch nicht in spezialisierte Gerichtetheiten, Reaktionsbereitschaften und Erfahrungsbestände ausgegliedert.« 1558 Was dem Menschen an wechselnden Erfolgen und Misserfolgen widerfährt, geht sein Glück oder Unglück weniger an als das Verhältnis seines tatsächlich geführten Lebens zu dem, was ihm gemäß ist, weil es in der Richtung liegt, in die seine Persönlichkeit ganzheitlich strebt, ohne dass er Herr darüber ist und im Einzelnen davon genaue Rechenschaft geben kann. Wenn sich eine ausreichende Übereinstimmung ergibt, kann ein Mensch trotz vieler Entbehrungen glücklich sein und braucht sich auch dann nicht zu langweilen, wenn gerade keine auffälligen Herausforderungen seine Erwartungen spannen. Von dieser Ganzheit des Lebensglücks wusste Aristoteles; 1559 die Verflachung seines Eudaimoniegedankens durch Leibniz1049 und Kant, 1560 denen es für die Glückseligkeit darauf ankommt, dass alles in einem fort wunschgemäß und ergötzlich ist, dürfte zur Verstellung der Blickrichtung Schopenhauers beim Urteil über Wert oder Unwert des Lebens beigetragen haben. Wenig erfolgreich ist Schopenhauer in der Metaphysik. Unfreiwillige Komik umgibt den Handstreich, durch den er mit dem ersten Satz seines Hauptwerkes – »Die Welt ist meine Vorstellung« – den psychologischen Idealismus als unmittelbar gewisse Wahrheit etablieren will. Jeder, der den Satz versteht, soll sich sofort davon überzeugen können, »dass die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.« In der Tat beweist der Satz sich selbst, wenn nur gemeint ist: Ich stelle mir die Welt vor; das liegt – bei hinlänglich weitem Verständnis des vagen Wortes »Vorstellung« Vgl. von mir: Selbstdarstellung als Philosophie, Bonn 1995, S. 115–117; Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 73–85: Warum bleiben wir am Leben?; Die Liebe, Bonn 1993, S. 90–97: Der Leiteindruck; zur persönlichen Situation: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136. 1558 Hans Thomae, Der Mensch in der Entscheidung, München 1960, S. 145. 1559 Metaphysik 1075a 8 f.: Der menschliche Geist hat das Wohl nicht in dem und jenem Augenblick, sondern in einem gewissen Ganzen das Beste, wobei er selbst aber etwas anderes ist. 1560 Die Definitionen der Glückseligkeit durch Kant habe ich in Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 88 Anm. 151 zusammengestellt. 1557

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– einfach daran, dass er das Wort »Welt« enthält und der sinnvolle Gebrauch des Wortes irgendeine Vorstellung von dem, was gemeint ist, impliziert. Aber daraus folgt doch nicht, dass die Welt nur existiert, wenn ich sie vorstelle, und in dem Maß, wie ich sie vorstelle. Schopenhauer aber hält sich fortan für befugt, sich selbst als das reine Subjekt der Erkenntnis, das er ohne Unterschied von jedem anderen Bewussthaber ebenso wie dieser zu sein glaubt, als Voraussetzung der objektiven Welt, die nur im Bewusstsein dieses Subjektes ihr Dasein habe, anzusehen (W II 479). Dieser psychologische Idealismus, der das Subjekt und sein Bewusstsein zur Voraussetzung der Natur und der Zeit macht, kollidiert mit dem materialistischen Naturalismus, den derselbe Schopenhauer ebenso aufdringlich vertritt: Neben die Abhängigkeit der Natur und Zeit von dafür vorausgesetztem Bewusstsein stellt er die Abhängigkeit des Bewusstseins von dafür vorausgesetzter Natur und Zeit, in dem Sinn, dass erst im Verlauf einer langen Entwicklung der anorganischen und organischen (pflanzlichen und tierischen) Natur ein Gehirn entsteht, dessen Funktion dann dieses Bewusstsein (und das zugehörige Subjekt) ist. Der Vorschlag, den Widerspruch dadurch auszugleichen, dass die objektive Welt nur die äußere Seite der Welt und der Wille als Ding an sich ihr innerstes Wesen sei, 1561 hilft natürlich nicht weiter, denn das Gehirn und die ihm zeitlich vorausgehenden anorganischen und organischen Bildungen gehören natürlich zur äußeren Seite. Der Wille als Ding an sich ist ein visionäres Angebot, das imponieren und in manchem Geist einen verwandten Ton anschlagen, aber nicht mit Gründen überzeugen kann. Verdienstlich bleibt die Auszeichnung des spürbaren Leibes als privilegierter Zugang zum Willen als dem Ding an sich. Der seit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (Überleitung, 28) zwischen Körper und Seele vergessene Leib wird von Schopenhauer zuerst als philosophisches Thema zur Sprache gebracht, allerdings nur so, dass bekannte Ausdrücke der Umgangssprache und der Psychologie in direkte Beziehung zu Körperteilen gesetzt werden. 1562 Von einer Beachtung der spezifischen Struktur des spürbaren Leibes, seiner Räumlichkeit und Dynamik nach, ist bei Schopenhauer nichts zu finW I 66 f., ähnlich N. I 381. W I 168: »Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivierte Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen.«.

1561 1562

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den; Schelling ist ihm mit seinen Umschreibungen des vitalen Antriebes, der freilich nicht dem Leib zugedacht, sondern in Gott projiziert wird, in Die Weltalter (37) in dieser Hinsicht weit überlegen.

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42. Nietzsche

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42.1 Nietzsche im Gefolge des Christentums Das wirksamste Erziehungswerk, das das Christentum auf dem Boden des weströmischen Reiches den Europäern mit inzwischen global bestimmend gewordenen Folgen angetan hat, ist die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht. Die Schulzeit dieser Erziehung ist das christliche Jahrtausend zwischen dem Edikt von Mailand und der Katastrophe des Papstes Bonifaz VIII. (312–1303). Schon vorher war die Macht ein wichtiges Thema des affektiven Betroffenseins, aber nur eines unter vielen von gleicher Naturwüchsigkeit, wie Essen und Trinken, Liebe und Geschlechtslust, Gedeihen der Familie, Alter, Krankheit, Schmerz und Tod. Erst das Christentum unterstellte jedes dieser Themen der ständigen Rücksicht auf die Allmacht Gottes mit ängstlicher Selbstprüfung jedes Betroffenen im Blick auf die Aussicht für Heil und Unheil im vermeintlich ewigen Weiterleben nach dem Tod. Es fügte Tausende großer und kleiner Anlässe solcher Selbstprüfung in lebhaftem affektivem Betroffensein durch Aufblätterung des Lebens in Versuchungen zu sogenannten Sünden hinzu, einschließlich bloßer Gesinnungssünden (Kapitalsünden wie Geiz, Trägheit, Zorn). Mit dem passiven Verhältnis zur Macht Gottes und seines irdischen Stellvertreters verband sich das aktive in deren Dienst, z. B. als Kämpfer auf Kreuzzügen. Der Missbrauch der im Namen Gottes ausgeübten Macht zu irdischen (z. B. politischen und finanziellen) Zwecken nahm ihr den transzendenten Nimbus und trug zum Ende des christlichen Jahrtausends um 1300 (darstellbar als Triumvirat aus Philipp dem Schönen, Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham, 25.3) bei. Ich habe diese Entwicklung sowie die sie fortführende in Adolf Hitler in der Geschichte (Bonn 1999) ausführlich untersucht und zum Teil in Kapitel 28 kurz rekapituliert; die Fortführung bestand darin, dass die Menschen ab 1600 die Macht, an die ihr affektives Betroffensein gebunden blieb, zwecks 541

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Nietzsche

Weltbemächtigung mittels der mathematisch gesteuerten Technik in die eigenen Hände nahmen, wodurch sich das transzendente Glücksinteresse mehr und mehr in das Streben nach irdischem Glück verlagerte oder (wie im Puritanismus nach Max Weber) damit verband. Dafür maßgeblich wurde die Art, wie die Aufklärung, indem sie dem Christentum säkularistisch entgegentrat, von diesem in zwei Hinsichten infiziert wurde: erstens durch die eben angegebene dynamistische Verfehlung (Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht) und zweitens durch die autistische Verfehlung, d. h. die Isolierung und Nivellierung der Individuen durch Zurückdrängung der implantierenden (die zuständlichen persönlichen Situationen oder Persönlichkeiten von Personen in sich einpflanzenden) Situationen; zurückgedrängt wurden diese zwar nicht aus dem Leben, dem das Christentum solche implantierende Situationen vielfach bescherte, wohl aber aus dem menschlichen Selbstverständnis im Sinne des (gehörten oder nur gespürten) Zurufes: »Rette sich, wer kann!« (20.3) Das Ergebnis nach Säkularisierung des Christentums ist das Bündnis der modernen (nicht der antiken) Aufklärung mit dem Privatkapitalismus, das es jedem freistellt, bei Beachtung formaler Rahmenbedingungen die gewaltigen Machtmittel der modernen Maschinentechnik für sein privates Wohlergehen einzusetzen. Bis zu Nietzsche 1563 bindet sich das affektive Betroffensein an das Thema der Macht durch das Interesse der Selbstbekümmerung, 1564 der Sorge für das eigene Leben und Glück. Der epochale Fortschritt Nietzsches auf dem vom Christentum eingeschlagenen Weg besteht darin, die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht von der Selbstbekümmerung zu lösen. Stattdessen soll die Faszination der Macht unmittelbar wirken, d. h. von der bloßen Lockung ihres Wachstums gegen Widerstände ausgehen, verIch zitiere Nietzsche nach der Kritischen Studienausgabe von Colli und Montinari, 15 Bände, Berlin 1980, mit Band- und Seitenzahl, Titelangabe und einem Klammerzusatz bei den nachgelassenen Fragmenten (Bände 7–13); darin folgt auf die von Montinari gewählte Nummer des von Nietzsche beschrifteten Heftes in eckigen Klammern die Nummer der Notiz und danach die Zeitspanne der Beschriftung laut Montinari. Ich verwende folgende Abkürzungen: MAN = Menschliches Allzumenschliches; M = Morgenröte; FW = Die fröhliche Wissenschaft, Z = Also sprach Zarathustra, J = Jenseits von Gut und Böse, EH = Ecce Homo, DD = Dionysos-Dithyramben, KSB = Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, 8 Bände, Berlin 1986. 1564 Dieses treffende Wort verwendete Heidegger anfangs für das, was er später (namentlich in Sein und Zeit) minder passend »Sorge« nannte. 1563

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Nietzsche im Gefolge des Christentums

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stärkt durch die Lust am Schaffen bei Einsatz der erlangten Macht. In diesem Sinn wird das Glück – als privates Leitmotiv des Christen seit Augustinus (20.1), energisch nochmals durchgesetzt gegen den amour pur von Fénelon und Frau v. Guyon um 1700 – umgedeutet 1565 und das alternativ zum Glück von Spinoza und Darwin vorgeschlagene konservative Motiv des Machtstrebens, Selbsterhaltung und Kampf ums Dasein oder Überlebenswille, heruntergespielt. 1566 »Leben ist Wille zur Macht.« 1567 Damit verbindet Nietzsche den Aufruf zum Schaffen, der Z I durchzieht. 1568 Dazu bedarf es aber des dem Schaffen Raum schaffenden Zerstörens, und die Einheit solchen Schaffens und Zerstörens ist Dionysos als »wütende Wollust des Schaffenden, der zugleich den Ingrimm des Zerstörenden kennt«, 1569 »der Wille zur Macht« als die »dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens (…) ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt«, »und auch ihr selber« – ruft Nietzsche seinen Lesern zu – »seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« 1570 Dionysisch ist »der Wille zum Leben im Opfer seiner höchsten Typen seine eigne Unerschöpflichkeit genießend«, 1571 bis hin zur »Lust an der Vernichtung des Edelsten und am

1565 Glück ist »das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird« (VI 170, Der Antichrist § 6). »Man will nicht sein ›Glück‹ ; man muss Engländer sein, um glauben zu können, dass der Mensch immer seinen Vorteil sucht; unsere Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen – ihre aufgestaute Kraft sucht Widerstände.« (XIII 42, 11 [89] November 1887–März 1888). 1566 IX 479 (11 [108] Frühjahr–Herbst 1881): »Es gibt keinen Selbsterhaltungstrieb!« Z II, Von der Selbst-Überwindung, IV 149: »Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!« Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, § 14, IV 120: »Anti-Darwin. – Was den berühmten Kampf um’s Leben betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamtaspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht …« Fast gleichlautend FW § 349, III 585 f. 1567 XII 161 (2 [190] Herbst 1885–Herbst 1886). 1568 IV 83: »Ich liebe den, der über sich hinaus schaffen will und zu Grunde geht.« (Vom Wege des Schaffenden) »Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben!« (IV 92, Von Kind und Ehe) »Eine schenkende Tugend ist die höchste Tugend. (…) Macht ist sie, diese neue Tugend;« (IV 97 und 99, Von der schenkenden Tugend) »Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.« (IV 130, Z II Von den Taranteln). 1569 XII 115 (2 [110] Herbst 1885–Herbst 1886). 1570 XI 611 (38 [12] Juni–Juli 1885). 1571 XIII 628 (24 [1] n. 9, Oktober–November 1888).

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Nietzsche

Anblick, wie er schrittweise in’s Verderben gerät« als »dionysische Weisheit«. 1572 Zur Ablösung des Willens zur Macht von der Selbstbekümmerung gehört seine Befreiung von Hemmungen, die den Mut zu seiner freien Entfaltung an der Selbstbekümmerung festhalten könnten, und das sind für Nietzsche die Rücksichten auf Gott, moralisches Sollen und Verantwortung. Ein Sollen gibt es nicht mehr, Moral und Religion sind vernichtet, 1573 denn »niemand ist für seine Taten verantwortlich, niemand für sein Wesen«, 1574 und »Alles ist Notwendigkeit.« Diese Einsicht wird, wie Nietzsche hofft, der Menschheit einmal die Kraft geben, »den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmäßig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen (…) hervorbringt.« 1575 Das wäre die von Nietzsche ersehnte »Unschuld des Werdens: ohne Zweck«, die dadurch zu gewinnen ist, »dass man die Zwecke ausschließt«. 1576 Dann wird der Wille zur Macht zu ganz spontaner Entladung frei, etwa nach Art des Gewitters, das Nietzsche schon fast 20 Jahre vor diesen Formulierungen angesichts eines solchen Naturschauspiels dem verantwortlichen und verständigen Wollen des Menschen vorzieht. 1577 Einem näher dem Menschen verwandten Beispiel solcher ungehemmten Machtentfaltung wendet der spätere Nietzsche, der sich zur Unschuld des Werdens bekennt, seine Neigung zu: »Ich liebe die prachtvolle Ausgelassenheit eines jungen Raubtiers, das zierlich spielt und indem es spielt zerreißt«. 1578 Die »ganze europäische Moral« soll im Zuge einer langen »Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz« von Hemmungen solcher Spontaneität zusammenfallen, wenn »das größte neuere Ereignis, – dass ›Gott tot ist‹, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist«, sich auswirkt; »wir Philosophen und ›freien Geister‹« fühlen uns davon ermutigt und erleichX 335 (8 [14] Sommer 1883). II 54 (MAN I § 34, Zur Beruhigung). 1574 II 64 (MAN I § 39). 1575 II 105 (MAN I § 107). 1576 X 323 (7 [268] Frühjahr bis Sommer 1883), X 245 (7 [21], dgl.), das Schlagwort auch X 237 (7 [7], dgl.), X 343 (8 [26] Sommer 1883), X 475 (14 [1] Sommer 1883). 1577 KSB II 121 f. (an v. Gersdorff, 07. 04. 1866): »Was war mir der Mensch und sein unruhiges Wollen! Was war mir das ewige »Du sollst« »Du sollst nicht«! Wie anders der Blitz, der Sturm, der Hagel, freie Mächte, ohne Ethik! Wie glücklich, wie kräftig sind sie, reiner Wille, ohne Trübungen durch den Intellekt!«. 1578 XII 54 (1 [193] Herbst 1885–Frühjahr 1886). 1572 1573

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Nietzsche im Gefolge des Christentums

tert, weil der Horizont wieder frei ist und unsere Schiffe auf jede Gefahr hin auslaufen dürfen. 1579 Solche Befreiung von Zwecken und Pflichten kann das Thema der Macht davor bewahren, an der Bindungsstelle des affektiven Betroffenseins von einem Ziel verdrängt zu werden, für das die Macht nur noch in der untergeordneten Stellung eines Mittels zum Zweck benötigt würde; aber die Kehrseite dieser Erleichterung ist der »Nihilism: es fehlt ein Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum?‹« 1580 »Ich sehe etwas Furchtbares voraus. Chaos am nächsten, Alles Fluss. 1. Nichts, was an sich Wert hat – nichts, was befiehlt ›du sollst‹. 2. Es ist nicht auszuhalten – wir müssen das Schaffen dem Anblick dieser Vernichtung entgegenstellen. 3. Diesen wandelnden Zielen müssen wir ein Ziel entgegenstellen – es schaffen«, und zwar »5. Den Übermenschen schaffen«; 1581 demgemäß drehen sich Nietzsches Gedanken um die Frage: »Wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?« 1582 Dem Willen zur Macht kommt seine spontane Schaffenskraft zu Hilfe, um den Verlust gesetzter Ziele durch das Setzen neuer Ziele wettzumachen; damit daraus ein großer Wurf werden kann, bedarf es freilich maßgeblicher Führergestalten wie des Philosophen, den Nietzsche als »cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Kultur« auszeichnet, 1583 so dass nur wenigen Auserlesenen richtungweisende Macht zukommen könnte. Aber auch dieser Ausweg aus dem Nihilismus wird von Nietzsches Dogma der ewigen Wiederkehr bedroht: »das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend (…). Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!« 1584 In den letzten Tagen seines noch geisteskräftigen (schon vom Wahnsinn heimgesuchten) Lebens scheint sich ihm dieses Grauen zu einer schauerlichen Vision verdichtet zu haben: Der ungeheure Tod blickt glühend braun und kaut, – sein Leben ist sein Kaun … 1585

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III 573 f. (FW § 343). XII 350 (9 [35] Herbst 1887). X 137 (4 [80] November 1882–Februar 1883). XII 281 (7 [6] Ende 1886–Frühjahr 1887). V 136 (J § 207). XII 213 (5 [71] Sommer 1886–Herbst 1887). VI 387 (DD, Unter Töchtern der Wüste 3).

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Immerhin lässt Nietzsche so lange globale Perioden zu, dass der Spielraum für begrenzte Zielsetzungen nicht eingeschränkt wird, und kann daher den Nihilismus »als Ideal der höchsten Mächtigkeit des Geistes, des überreichsten Lebens« sogar feiern, 1586 weil dieser die unvermeidliche Kehrseite der Freisetzung des Willens zur Macht ist. Übrigens scheint Nietzsche, wenn er schon aus dem Fehlen eines Zieles, »dass die obersten Werte sich entwerten«,1580 den Nihilismus als völlige Sinnlosigkeit herausliest, demselben Fehler wie Schopenhauer zu verfallen, der seinen Pessimismus nur mit der wiederholten Vereitelung kurzfristigen Strebens begründet und die langfristig wirkenden prospektiven Tendenzen in der zuständlichen persönlichen Situation1557 wie auch den Nomos binnendiffuser Bedeutsamkeit gemeinsamer implantierender Situationen (29.2) übersieht. Auch die Griechen hatten in ihrer klassischen Zeit keinen konsistenten Kanon oberster Werte oder Ziele 1587 und waren dennoch keiner nihilistischen Überwältigung durch Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit ausgeliefert, weil der Nomos persönlicher und implantierender gemeinsamer Situationen sie führte, auch ohne explizite dogmatische Auszeichnung einzelner Programme. Damit der Wille zur Macht sich frei von Selbstbekümmerung entfalten kann, darf er nicht von vorgegebenen Werten und Bedeutungen zur Reflexion genötigt werden; Nietzsche wird daher zum Klassiker des von Wilhelm von Ockham begründeten203 Projektionismus, der alle Bedeutsamkeit als Ergebnis einer Projektion aus dem Seelenleben auf die von sich aus gleichgültige Umwelt ausgibt: Wir sind die Koloristen, die in die Dinge die Farbe gebracht haben, wodurch die Welt »so wunderbar bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden ist.« 1588 Öfters bedient er sich dafür der klassischen Topik des (naturwissenschaftlichen) Reduktionismus und Physiologismus, 1589 einmal in materialistischer Fassung wie bei Hobbes. 1590 Auf diese Weise will er gerecht sein: den Menschen zurückgeben,

XII 353 (9 [38] Herbst 1887). Man denke an die Orestie, den Hippolytos und Platons Euthyphron. 1588 II 36 f., MAM I § 16, ähnlich oft: III 189 f. (M§ 210), VIII 468 (23 [178] Ende 1876–Sommer 1877), VIII 500 (27 [82] Frühling–Sommer 1878), IX 580 (12 [26] Herbst 1881), IX 624 (14 [8] Herbst 1881), XII 154 (2 [174] Herbst 1885–Herbst 1886). 1589 VIII 458 (23 [150] Ende 1876–Sommer 1877); IX 446 (11 [13] Frühjahr–Herbst 1881). 1590 IX 437 (34 [54] April–Juni 1885, s. o. 29.1 mit Anmerkungen 800 und 801. 1586 1587

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was deren (irrtümlich projiziertes) Eigentum sei, 1591 und den Dingen ersparen, was ihnen durch die Projektion angetan werde: Mit unseren Projektionen von Bedeutungen tun »wir den Dingen wehe und Gewalt«, »denn ihre wirklichen Eigenschaften haben ein Recht, und endlich müssen wir dies höher ehren als uns.« 1592 Hier offenbart sich als Wurzel des Projektionismus ein ganz naiver Singularismus, dem es selbstverständlich ist, dass ohne weiteres einzelne Dinge einzelne Eigenschaften haben, während es doch vielmehr Einzelnes nur auf dem Hintergrund von Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen) und letztlich ihrer Verschmelzung zu ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit von Situationen geben kann (21.1; 29.1). Nietzsche erweist sich damit als Nachfolger Kants, dem zuerst der Singularismus eine von allen Skrupeln gereinigte, gar nicht mehr thematisierbare Selbstverständlichkeit seines Denkens war (35.1); auch ist Kant wie Nietzsche Projektionist, wenigstens in seiner Ästhetik (35.5), nicht allerdings mit der Rettung des Ansehens der Physikotheologie bei der Kritik der Gottesbeweise (35.3.4). Das den Projektionismus motivierende Bedürfnis teilt Nietzsche aber nicht mit Kant, nämlich die Abwehr einer Rückwirkung der projizierten Bedeutungen: »Gesetzt aber, wir legen in die Dinge gewisse Werte hinein, so wirken diese Werte auf uns zurück, nachdem wir vergessen haben, dass wir die Geber waren.« 1593 Die Rückwirkung könnte den Willen zur Macht an freier Entfaltung hindern.

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42.2 Nietzsche im Gefolge der Frhromantik Das menschliche Selbstverständnis steht seit Fichte im Zeichen der rezessiven Entfremdung der Subjektivität (36.2). Diese beruht auf der Entdeckung der strikten Subjektivität der subjektiven Tatsachen, wodurch Fichte den Bereich für unverzerrte Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« zuerst zugänglich gemacht hat (36.1), doch hat er diesen Bereich sofort wieder verstellt, weil er die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins nicht als solche deutlich begriff, sondern nur im Negativ der Unzulänglichkeit objektiver, neutraler IX 582 (12 [34] Herbst 1881), IX 583 (12 [38], dgl.), XIII 41 (11 [47] November 1887–März 1888). 1592 IX 261 (6 [239] Herbst 1880). 1593 XII 192 (5 [19] Sommer 1886–Herbst 1887). 1591

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Tatsachen zur Bestimmung dessen, was ich bin, indirekt erfasste. Seine Tastversuche in dem von ihm noch ohne Konturen entdeckten Bereich der strikten Subjektivität führten ihn auf das Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren (36.3), woraus Novalis das Schweben als Ichsein machte, Friedrich Schlegel aber die romantische Ironie (38), womit er das Schicksalswort prägte, dem das inzwischen die Menschheit rund um den Erdball bestimmende ironistische Zeitalter gefolgt ist. 1594 Es handelt sich um die beanspruchte Wendigkeit, sich von jedem Standpunkt zurückziehen und eben deshalb auf jeden versetzen zu können, locker und willkürlich; sie beruht auf der Ortlosigkeit des aus der Welt der objektiven Tatsachen, die fälschlich für alle Tatsachen gehalten werden, ausgewiesenen Subjektes, und damit auf einer Entfestigung und Entsicherung, die einerseits zur souveränen Beweglichkeit des ironischen Spiels mit beliebigen Stellungnahmen – mit den »Krallen von Samt« nach Hegel (39.2) – ermächtigt, andererseits aber die Angst als Höhenschwindel über den eigenen Möglichkeiten1529 zur Kehrseite hat. Eine verwandte, aber etwas anders motivierte Unsicherheit prägt die erste metaphysische Konstruktion Nietzsches aus der Zeit seiner Anhänglichkeit an Schopenhauer und Wagner, die von ihm sogenannte Artisten-Metaphysik. 1595 Schopenhauer hatte dem Menschen sein leiblich-affektives Betroffensein, den Sitz der für ihn subjektiven Tatsachen, als den Willen entfremdet, der das dem empirischen Subjekt in Raum- und Zeitlosigkeit entrückte, mit heillos vergeblichem Streben den Menschen heimsuchende Ding an sich sei (41). Daraus macht der junge Nietzsche in seiner Artisten-Metaphysik das Ur-Eine, das als gequälter Wille die Welt hervorbringt und sich bis zum Menschen durchringt, um schließlich im künstlerischen Genie verzückende Visionen zu genießen. Daraus ergibt sich für das Subjekt die Ambivalenz, aus seiner Rolle als Bewussthaber vom UrEinen verdrängt zu werden: Wir sind die Figuren im Traum eines Gottes, die erraten, wie er träumt; wir leiden und wissen nicht, was wir leiden, da vielmehr das Ur-Eine in uns leidet und unser Schmerz

Vgl. Hermann Schmitz, Ironie und Pathos im nachromantischen Zeitalter, in: Sinn und Form, Jahrgang 51, 1999, S. 862–880. 1595 Belegstellen in meinem Buch Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 127, Anm. 348. Auf den Seiten 157–285 aus dem Nietzsche-Kapitel dieses Buches beruhen die unter 42.2 folgenden Ausführungen. 1594

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nur vom Ur-Einen vorgestellter Schmerz ist. 1596 Das Eigenste und Unmittelbarste, das wir erleiden, das uns nahegeht, und darüber hinaus unser ganzes Bewussthaben oder Vorstellen (im Sinne von Schopenhauer) ist demnach zugleich etwas Fremdes, Gemachtes; wir können nicht fassen, wer wir sind, nicht einmal wissen, ob wir es selber sind, wenn wir denken und fühlen. Diese Ambivalenz malt Nietzsche sich noch einmal breit aus, nachdem er die Artisten-Metaphysik im Übrigen längst verlassen hat. 1597 »Alles, was in uns vorgeht, ist an sich etwas Anderes, was wir nicht wissen.« 1598 »Wie wundervoll und neu und schauerlich und ironisch fühle ich mich mit meiner Erkenntnis zum gesamten Dasein gestellt! (…) Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, – dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der ›Erkennende‹, meinen Tanz tanze (…).« 1599 Dieser Unfähigkeit, sich als etwas zu treffen, entzieht sich Nietzsche, indem er sich stattdessen als etwas darstellt, aber aus einer Distanz, die sich die völlige Identifizierung erspart: »Meine Schriften reden nur von meinen eigenen Erlebnissen (…): ich bin darin, mit Leib und Seele (…). Aber es bedurfte bei mir immer erst einiger Jahre Distanz, um jene gebieterische Lust und Kraft zu verspüren, welche jedes solche Erlebnis, jeden solchen überlebten Zustand darstellen heißt. Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings sehr wesentlichen Ausnahme zurückdatiert.« 1600 Die Methode dieser Selbstdarstellung ist die Projektion seiner selbst in erfundene Typen: »Ich bin außerdem Artist genug, um einen Zustand festhalten zu können, bis er Form, bis er Gestalt wird. Ich habe, mit Willkür, mir jene Typen erfunden, die in ihrer Verwegenheit mir Vergnügen machen, z. B. den ›Immoralisten‹ – einen bisher unerhörten Typus.« 1601 Der erste in dieser Weise von Nietzsche zur Selbstdarstellung VII 165, 217, 200 (7 [116] (204] [157] Ende 1870–April 1871). IX 434 f. (10 [93] Frühjahr 1880–Frühjahr 1881). 1598 IX 443 (11 [7] Frühjahr–Herbst 1881). 1599 III 416 f. (FW § 54). 1600 XII 232 (6 [4] Sommer 1886–Frühjahr 1887), fast gleichlautend II 369 (Vorrede 1886 zur 2. Auflage von MAN II) Die wesentliche Ausnahme ist Also sprach Zarathustra. 1601 KSB VIII 363 (Entwurf eines Briefes an Overbeck kurz nach dem 20. 07. 1788). Damals beabsichtigte Nietzsche, der Schrift Der Antichrist an nächster Stelle Der Immoralist folgen zu lassen. 1596 1597

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komponierte Typ ist der des freien Geistes, dessen Rolle er 1876 aus Ekel an der Überspanntheit und Fragwürdigkeit seiner metaphysischen Ausschweifungen angenommenen haben will. 1602 Wenn es ernst wird, kann er ihn eilig ablegen; der geliebten Lou Salomé, die sich ihm entziehen will, schreibt er: »Lassen Sie sich nicht über mich täuschen – Sie glauben doch nicht, dass ›der Freigeist‹ mein Ideal ist?!« 1603 Das hindert ihn nicht, vier Jahre später in Jenseits von Gut und Böse mehrfach von uns freien Geistern zu schreiben, auch mit der preziösen Verstärkung: »wir (…) freien, sehr freien Geister«. 1604 Den freien Geist charakterisiert die Kurzformel: »›Freigeist‹ – über mich weg!«1602 Damit ist eine Spannung im Verhältnis zu sich gemeint: »Wer die Präposition ›über‹ ganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzes und Elends begriffen. Wer über den Dingen ist, ist nicht in den Dingen – also nicht einmal in sich. Das letztere kann sein Stolz sein.« 1605 Als das Kunststück seines Lebens gibt Nietzsche die Kraft aus, eine Distanz in sich zu schaffen, sich zu trennen, auseinanderzuhalten, eine Hälfte Jahre lang zu vergessen; er nennt es seine »Bescheidenheit«. 1606 Sie gibt dem Vornehmen den Raum, mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit zu leben, immer jenseits, sich auf seine Affekte zu setzen wie auf Pferde, oft wie auf Esel, Herr seiner Tugenden zu bleiben. 1607 Das ist die romantische Ironie, angewendet vom Ironiker auf sich selbst, nach Friedrich Schlegel: »bald auf diesen, bald auf jenen Teil seines Wesens frei Verzicht tun, und sich auf einen anderen ganz beschränken« zu können;1425 wie für Schlegel1424 ist auch für Nietzsche 1608 Napoleon ein Könner dieser Kunst. Entsprechend will Novalis lernen, sich nach Belieben in Stimmungen und Zustände zu versetzen 1609 , damit das eigene Leben ein selbst gemachter Roman wird.1430 Die ironische Distanz ist für Nietzsche »eine Art Vogel-Freiheit und Vogel-Umblick, etwas wie Neugierde und Verachtung zugleich«; 1610 »wir lerX 147 (4 [111] November 1882–Februar 1883); ebenso Friedrich Schlegel, wie Anm. 1416: Die (romantische, er schreibt: sokratische) Ironie »ist die freieste aller Lizenzen, denn dadurch setzt man sich über sich selbst hinweg.«. 1603 KSB VI 282 (24. 11. 1882). 1604 V 13 (J, Vorrede). 1605 VIII 303 (17 [33] Sommer 1876). 1606 XIII 595 f. (22 [26] [27] September–Oktober 1888). 1607 V 231 f. (J § 284), vgl. III 326 (M § 560). 1608 IX 258 (6 [229] Herbst 1880). 1609 Wie Anm. 1426, Band IV S. 40 (Tagebuch 23. Mai 1797). 1610 XI 665 (40 [65] August–September 1885). 1602

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nen verachten, wenn wir lieben, und gerade, wenn wir am besten lieben.« 1611 So entspricht Nietzsche der Forderung Schlegels, sich aus Sinn für das Weltall über die eigene Liebe zu erheben und das Angebetete in Gedanken vernichten zu können;1421 sogar diese Begründung der abweisenden Haltung mit der »Hinsicht des Ganzen« kehrt bei Nietzsche wieder. 1612 Aus der rezessiven Ironie, der bei Nietzsche 1613 wie bei dem Bonaventura der Nachtwachen1408 gemäß dem transzendentalen Zirkel der rezessiv entfremdeten Subjektivität nach Fichte1328 unbegrenzter Iteration oder Verschachtelung fähigen Rückzugsmöglichkeit, ergibt sich ohne weiteres die produktive Ironie, sich allem zuwenden zu können. Bei ihrem Protagonisten Schlegel1419 besteht sie in der Fähigkeit, das Universum in sich auswachsen und reif werden zu lassen, bis der Geist »ein ganzes System von Personen in sich enthält«;1425 das ist die von Novalis gepflegte »Personenlehre« der Virtuosität, zugleich eine Person und in mehrere Personen geteilt zu sein.1427 Sie wird von Nietzsche geteilt. 1614 Der Reifung der Person zum in ihr ausgewachsenen Universum nach Schlegel entspricht bei Nietzsche die »große Gesundheit« des Geistes, »der naiv, das heißt ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hieß«; 1615 gemäß der Maxime der »Freiheit des Geistes«: »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.« 1616 Solange diese ausschweifende Versetzungskunst in der Hand souveränen eigenen Verfügens bleibt, ist die Schwelle zum Verfallen und Verströmen an den Wechsel noch nicht überschritten, aber bedenklich steht es damit schon »im dionysischen Zustande« der »Unfähigkeit, nicht zu reagieren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten).« Der dionysische Mensch »geht in jede Haut, in jeden Affekt ein; er verwandelt sich V 152 (J § 216). XI 292 (27 [67] Sommer bis Herbst 1884). 1613 I 340 (Schopenhauer als Erzieher § 1). 1614 XI 168 (26 [73] Sommer–Herbst 1884): »Die Vielheit der Personen (Masken) in einem ›Ich‹.« XI 631 f. (40 [8] August–September 1885): »Wir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene, nämlich die Intensitäts-Grade auf dem Wege zum Individuum, zur ›Person‹ zu bezeichnen. (…) Ich habe einmal den Ausdruck ›viele sterbliche Seelen‹ gebraucht: ebenso wie Jeder das Zeug zu vielen personae hat.«. 1615 III 635–637: Die große Gesundheit, das Zitierte auf S. 637 (FW § 382). 1616 V 399 (Zur Genealogie der Moral III § 24), die Devise auch XI 88 Z. 15 und 155 Z. 6 f. (1884). 1611 1612

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beständig.« 1617 Diese Gefahr bezieht Nietzsche schreckhaft auf sich selbst: »Ich bin zu voll: so vergesse ich mich selber, und alle Dinge sind in mir, und nichts gibt es mehr als alle Dinge. Wo bin ich hin?« 1618 Er schreibt sich die umfänglichste Seele unter allen Europäern einschließlich der vergangenen zu, eine Seele, die Platon und Voltaire umfasst und zum Buddha Europas werden könnte. 1619 Die romantische Ironie wird dem dionysischen Freigeist Nietzsche in der Spannung zwischen rezessiver Vereinsamung und produktiver Verausgabung zur Zerreißprobe: O wärmt mich! liebt mich gebt heiße Hände erschreckt ob meines Eises nicht! Zu lange gespensterhaft auf Gletschern – umhergetrieben, aufgewirbelt auf welchen Spiegeln habe ich nicht gesessen ich Staub auf allen Oberflächen außer sich, vor Hingebung dem Hunde gleich Hohl, Höhle, voller Gift und Nachtgeflügel umsungen und umfürchtet, einsam –. 1620 Nietzsche ist der Ausschweifung seiner produktiven Ironie bekanntlich zum Opfer gefallen. Schon in den letzten Wochen seiner Besonnenheit identifiziert er sich mit Dionysos; 1621 in den ersten Januartagen 1889 folgen die phantastischen Identifikationen auf den berühmten »Wahnsinnsschreiben«. Zur Rettung vor solchem Untergang bedarf der freie Geist eines stabilisierenden Gegengewichtes seiner produktiven Ironie, wovon sich Nietzsche in folgender Reflexion klarsichtige Rechenschaft gibt: »Als Mittel dieser Freigeisterei erkannte ich die Selbstsucht als notwendig, um nicht in die Dinge hinein verschlungen zu werden: als Band und Rückhalt. Jede Vollendung der Moralität ist nur möglich in einem Ich: insofern es sich lebendig, gestaltend, begehrend, schaffend VI 117 f. (Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, § 10). X 215 (5 [1] 238, November 1882–Februar 1883). 1619 X 109 (4 [1] November 1882–Februar 1883). 1620 XI 301 f. (28 [9] Herbst 1884). Das Spiegelmotiv ist charakteristisch für die rezessive Entfremdung im Anschluss an Fichte, s. o. Anm. 1409 (Jean Paul) und 1412 (F. Schlegel). 1621 XIV 526 (Lesart zu Nietzsche contra Wagner). 1617 1618

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verhält, und in jedem Augenblick dem Versinken in die Dinge widerstrebt, erhält es sich seine Kraft, immer mehr Dinge in sich aufzunehmen und in sich versinken zu machen. Die Freigeisterei ist also im Verhältnis zum Selbst und zur Selbstsucht ein Werden, ein Kampf zweier Gegensätze, nichts Fertiges, Vollkommenes, kein Zustand: es ist die Einsicht der Moralität, nur vermöge ihres Gegenteils sich in der Existenz und Entwicklung zu erhalten.« 1622 Damit ist im freien Geist der Konflikt zwischen Beweglichkeit und Beharrung oder Fliegen und Stehen angebahnt, den Nietzsche im vierten Dionysos-Dithyrambus Zwischen Raubvögeln 1623 ausspielt, indem er gemäß seinem Bekenntnis »Ich gehe als Richter und Henker an mir zugrunde« 1624 seinem Zarathustra und damit sich selbst mitleidlos den Prozess macht. Das feste Stehen am Abgrund der rezessiv entfremdeten Subjektivität, das als Gegengewicht zum Fliegen unerlässlich ist, erweist sich als mit diesem unverträglich und dem höhnend-zersetzenden Angriff der rezessiv-produktiven Ironie, der Virtuosität des Standpunktwechsels, hilf- und wehrlos ausgeliefert. Die Paradoxie, nicht in den Dingen und daher nicht einmal in sich zu sein1605 – das Stigma der rezessiv entfremdeten Subjektivität –, klafft als unerträglicher Zwiespalt auf, der in Zwischen Raubvögeln am Ende zu der Diagnose zusammengefasst wird: »Oh Zarathustra! … Selbstkenner! … Selbsthenker! …« In Also sprach Zarathustra wird dieses Verhängnis vom Geist der Schwere angesprochen, der als Zwerg Zarathustra warnt, dieser habe sich selbst (in rezessiver Ironie) als Stein in die Höhe geworfen, aber dieser Stein werde, wie jeder hochgeworfene Stein, wieder fallen und auf ihn selbst zurückfallen. 1625 Im Kapitel Von der Menschen-Klugheit aus dem 2. Teil von Also sprach Zarathustra kleidet sich dieser Zwiespalt in das Bild des Kletterers Zarathustra, dessen einer Wille zum Übermenschen hinauf verlangt, während der andere sich in der Tiefe durch Kontakt mit den gewöhnlichen Menschen festhalten möchte, so dass der Blick nach oben im Schwindel hinunterstürzt, während die Hand, die den Menschen unten entgegenzustrecken wäre, vielmehr zum Klettern nach oben greift. 1626 X 20 f. (1 [42] Juli–August 1882). Ich habe diesen Text in dem in Anm. 1595 angegebenen Buch aus S. 202–225 sorgfältig in sich und in seinen Bezügen analysiert. 1624 X 157 (4 [146] November 1882–Februar 1883). 1625 IV 198 (Z III Vom Gesicht und Rätsel 1). 1626 IV 216, dazu wie Anm. 1623 S. 216. 1622 1623

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Die Konstruktion des freien Geistes, der auf das labile Gleichgewicht von Stehen und Fliegen angewiesen ist, erweist sich damit als unhaltbar. Die Folgen zieht Nietzsche, indem er Zarathustra, die imaginäre Verkörperung dieses Typus, im 6. Abschnitt des dem Buch Also sprach Zarathustra gewidmeten Teiles von Ecce Homo (1888) in Dionysos, mit dem er sich selbst identifiziert,1621 umdeutet. Der Dionysos von Ecce Homo ist der im vorletzten Paragraphen von Jenseits von Gut und Böse beschriebene. 1627 Dieser Dionysos gibt keinen Halt; als »der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen« entlässt er aus seiner Berührung jeden »unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens«. 1628 Dieselbe Doppelbewegung bildet die beiden Seiten im »Begriff des Dionysos«, den Zarathustra nach Ecce Homo exemplarisch erfüllt: Als der »jasagendste aller Geister« ist er »in dieser Zugänglichkeit zum Entgegengesetzten (…) die höchste Art alles Seienden«, während er zugleich »in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein tut, zu Allem, wozu man bisher Ja sagte«. Dieser »Zarathustra ist ein Tänzer«; er braucht nicht mehr »Band und Rückhalt«, weil er den Spielraum von rezessiver und produktiver Ironie ungehemmt durchläuft: »Die Leiter ist ungeheuer, auf der er auf und nieder steigt.« 1629 Der Zarathustra von Ecce Homo steigt noch auf und nieder; er ersetzt die Spannung von Statik und Kinetik, an der der freie Geist scheitert, durch die Spannung einer doppelläufigen Bewegung. Noch vollständiger wäre die Lösung des Problems der rezessiv entfremdeten Subjektivität, wenn sie gar keiner Rückbindung nach unten mehr bedürfte, sondern in freiem Schweben über allen Dingen (über der Welt der objektiven Tatsachen) verweilen könnte. Das ist der seligste Wunsch Zarathustras, ausgesprochen im siebenten Siegel des Sieben-Siegel-Liedes, womit Also sprach Zarathustra »eigentlich« schließt: 1630 »Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eigenen Flügeln in eigne Himmel flog: Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner Freiheit Vogel-Weisheit Laut IV 307 f. (Ecce Homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, § 6). V 237 (J § 295). 1629 VI 343–345 (Ecce Homo, Also sprach Zarathustra, 6). 1630 Es folgt noch ein vierter Teil, ein von Nietzsche verspätet angehängter geschmackloser Klamauk. 1627 1628

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kam: – so aber spricht Vogel-Weisheit: ›Siehe, es gibt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter!‹« 1631 Das Symbol dieser Vision ist für Nietzsche der Vogel Albatros, dem er in Idyllen in Messina ein Gedicht gewidmet hat, das er in verstümmelter (und in der Überschrift veralberter) Form in der Gedichtsammlung Lieder des Prinzen Vogelfrei als Anhang zu FW nachdrucken ließ. 1632 Nach dem Muster des Albatros hat Nietzsche sein Ideal des Übermenschen geformt, der gar nichts von den großen und höheren Menschen an sich hat, den Herren der Erde, die nach Nietzsches Plan eine neue herrschende Kaste bilden sollen, aus denen hier und da der Übermensch, der Verklärer des Daseins entspringt, ganz epikurischer Gott, 1633 der sich um die gemeinen Menschen nicht kümmert. 1634 Wo immer Nietzsche einen Schockeffekt sucht, indem er mit einem Gewaltmenschen – etwa Cesare Borgia – als einer Art Übermensch droht, unterscheidet er auch sprachlich diesen Quasi-Übermenschen von dem eigentlichen. Der Übermensch, wie Nietzsche ihn sieht, gehört »in südlichere Süden, als je ein Bildner träumte«; 1635 er ist warm, nackt, einsam und scheu, der große Mensch dagegen kalt, maskiert und darauf aus, im Verkehr mit Menschen etwas aus ihnen zu machen. 1636 Die vier Typen, in denen Nietzsche teils mit mehr oder weniger realistischer Tendenz, teils1631 nur visionär träumend sich selbst darstellt, sind also der freie Geist, Zarathustra, Dionysos (in Zarathustras Gestalt) und der Übermensch nach dem Modell des Vogels Albatros. Dieses Modell zu realisieren, war ihm von vornherein versagt. Zum Lösen der ihn zerreißenden Spannung rezessiv entfremdeter Subjektivität blieb ihm daher nur der Abstieg in den Kontakt mit Menschen und damit ins Banale gemäß dem unteren Willen nach Von der Menschen-Klugheit.1626 Dazu rät ihm in der Tat seine ihm als Mädchen erscheinende Wahrheit im neunten, letzten Gedicht IV 291 (Z, Die sieben Siegel, 7). Der vollständige Text III 341 f., von mir angeführt wie Anm. 1595, S. 232, dort einschlägig S. 231–251: Albatros oder der Übermensch. 1633 XI 541 (35 [73] Mai–Juli 1885). 1634 X 244 (7 [21] Frühjahr–Sommer 1883). 1635 IV 186 (Z II, Von der Menschen-Klugheit). 1636 Begründung mit Belegen wie Anm. 1595, S. 243–251. Ausnahmsweise kommt aber auch der umgekehrte Übermensch vor, der den Konflikt von Fliegen und Stehen zugunsten des Stehens löst: X 430 Z. 1–5 (13 [1] Sommer 1883, Zarathustra-Paralipomenon). 1631 1632

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Von der Armut des Reichsten der Dionysos-Dithyramben. Es gibt Anzeichen dafür, dass Nietzsche, als ihn der Wahnsinn packte, auf dem Weg zu dieser Lösung war. 1637 Eine andere wäre der Freitod gewesen, dessen »heimlichsten, süßesten Vorgenuss« der sechste Dithyrambus feiert. 1638 Der ausbrechende Wahnsinn hat ihm die Entscheidung abgenommen. Seine Dokumentation seines Schicksals im Gefolge der Frühromantik durch Typen der Selbstdarstellung hat die exemplarische Bedeutung, mit großer Ehrlichkeit und Konsequenz die Problematik der rezessiv entfremdeten Subjektivität durchzuspielen.

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42.3 Die vornehme Moral Das neunte, letzte Kapitel von Jenseits von Gut und Böse hat den Titel: »Was ist vornehm?« Die Essenz seiner Antwort fasst Nietzsche in dem gesperrt gedruckten Kernspruch zusammen: »Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.« 1639 Er stellt sich damit in eine Tradition von Demokrit 1640 bis Goethe, der als oberste Ehrfurcht die Ehrfurcht vor sich selbst auszeichnet, »so dass der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, dass er sich selbst für das Beste halten darf, was Gott und die Natur hervorgebracht haben«, und das ohne Dünkel. 1641 Die Konkretisierung dieses Ideals hat Nietzsche in einer feinfühlig treffenden Charakteristik Goethe so zugeschrieben: Goethe »konzipierte einen hoch gebildeten, sich selbst im Zaum haltenden, vor sich selbst ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Reichtum der Seele und der Natürlichkeit (bis zum Burlesken und Buffonesken) zu gönnen wagen darf, weil er stark genug dazu ist; den Menschen der Toleranz nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran eine durchschnittliche Natur zugrunde geht, zu seiner Förderung zu gebrauchen weiß, den umfänglichsten, aber darum nicht chaotischen Menschen.« 1642 In seiner eigenen näheren Bestimmung dessen, was vornehm ist, hält sich Nietzsche an die RehabiliWie Anm. 1595, S. 283–285. IV 396 (Die Sonne sinkt, 3). 1639 V 233 (J § 287). 1640 Diels und Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 68B264. 1641 Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 1. Kapitel. 1642 XI 444 (9 [179] Herbst 1887, ganz ähnlich in: Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, § 49 (VI 151). 1637 1638

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Die vornehme Moral

tierung der adeligen Tugend im 4. Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, speziell an die Megalopsychie, also die Tugend des Mannes von großem Format, hochgemut zu sein, die Krone aller Tugenden nach Aristoteles. Ich habe diese Abhängigkeit Nietzsches im Einzelnen u. a. an seiner brieflich gegebenen Aufzählung von Merkmalen 1643 nachgewiesen, ferner eine von Montinari nicht gefundene Quelle eines Nietzsche-Zitats 1644 in den betreffenden Ausführungen des Aristoteles identifiziert und eine Stelle aus dem Jahr 1872 angegeben, wo Nietzsche seine Leser als Hochsinnige mit Berufung auf Aristoteles anredet. 1645 Merkwürdigerweise bekennt er sich trotzdem nie zu Aristoteles, sondern verspottet dessen Konzept der Tugendmitte als »Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaß«, womit er die Meinung des Aristoteles gründlich verkennt. 1646 Ein anderer Vorläufer, von dem als solchem Nietzsche aber nicht Notiz zu nehmen scheint, ist Descartes, der die Vornehmheit (générosité) zum Schlüssel aller Tugenden erhebt, als den mit Bescheidenheit verträglichen Stolz eines Menschen, im Streben nach dem jeweils Besten Meister seiner selbst und seiner Leidenschaften und dadurch in gewisser Weise Gott ähnlich zu sein. 1647 Mit Schiller stimmt Nietzsche in der Ablehnung des Kant’schen rigoristischen Tugendverständnisses als Tun der Pflicht »aus Pflicht« (35.4.1) gegen widerstrebende Neigungen überein; er setzt dagegen die schöne Maxime: »Alles Gute ist Instinkt – und, folglich, leicht, notwendig, frei.« 1648 Demgemäß stellt er die Engkrateia (die Selbstbeherrschung gegen widerstrebende Neigungen) unter die »goldene Natur«, das Sollen unter das Wollen und dieses unter das Sein; 1649 dem entspricht der Aufstieg vom Kamel über den Löwen zum Kind in den Reden Zarathustras. 1650 Auch hiermit befindet er sich grundsätzlich im Einklang mit Aristoteles, der im Gegensatz zu Platon (Staat, PhaidrosMythos vom Wagenlenker) die Engkrateia nicht als Tugend, sondern KSB VII 68 f. (an Köselitz 23. 07. 1885), ferner an V 273 Z. 12–24 (zur Genealogie der Moral, 1. Abhandlung, § 10). 1644 XI 182 f. (26 [122] Sommer bis Herbst 1884). 1645 Wie Anm. 1595, S. 314–318. 1646 Ebd. S. 317 f. mit Bezug auf Aristoteles, Eudemische Ethik, 1234a 34–bb. 1647 Ebd. S. 318 mit Bezug auf Les passions de l’âme §§ 152–161. 1648 VI 90 (Götzen-Dämmerung, Die vier großen Irrtümer, § 2; vgl. VII 112 Z. 12–19 (5 [80] September 1870–Januar 1871). 1649 XI 105 (25 [351] Frühjahr 1884). 1650 IV 29–31 (Z I, Von den drei Verwandlungen). 1643

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Nietzsche

nur als Mischprodukt (mit beigemischter Tugend) gelten lässt, 1651 offenbar, weil ihm die Tugend ein Habitus, ein virtuoses Können, eine von selbst das Handeln bestimmende Neigung ist. Ebenso ist es nach Nietzsche Kennzeichen der Vornehmheit, »vor sich keine Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken zu fliegen, wohin es uns treibt – uns freigeborene Vögel!« 1652 Die Liste der seiner Moral der Vornehmheit gemäßen Tugenden fasst Nietzsche so: »Redlich gegen uns selber, und wer sonst uns Freund ist, mutig gegen den Feind, großmütig gegen die Besiegten, höflich gegen Alle.« 1653 Mit dieser Haltung bekämpft er das »christliche Ideal«, dem er vorwirft: »das vornehme Ideal wird negiert: Schönheit, Weisheit, Macht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der ›zukünftige‹ Mensch«. 1654 Besonders gilt diese Abneigung der »zudringlichen und gleichsetzenden Menschenliebe der Christen«, 1655 gegen die er einwendet: »Man soll diese Geringschätzung des Menschen überhaupt nicht übersehen, welche im christlichen Gefühle der Menschenliebe liegt: ›du bist mein Bruder, ich weiß schon, wie es dir zumute ist, was du auch seist – schlecht nämlich.‹ Tatsächlich ist ein solcher Christ eine äußerst zudringliche und unbescheidene Art.« 1656 Diese Kritik hat den berechtigten Kern, dass der barmherzigen Menschen- oder Nächstenliebe die Reflexivität fehlt, die z. B. der Gerechtigkeit eigen ist, da man sie nur ausüben kann, wenn man nach einem Maß zugleich für die anderen, denen man gerecht werden will, und für sich selber sucht. Die Barmherzigkeit oder Nächstenliebe führt dagegen keinen solchen Spiegel mit sich, der den Eifrigen auf sich selbst hinweist und ihn zur Einstellung auf gehörige Diskretion und Zurückhaltung erzieht. Dazu kommt die in der Barmherzigkeit angelegte Verachtung als Folge davon, dass diese Tugend nur im Besitz einer Überlegenheit ausgeübt werden kann, weil sie voraussetzt, dass der Barmherzige schon etwas hat, das der Adressat seiner Zuwendung braucht.

Nikomachische Ethik, 1128b 33 f. III 535 (FW § 294). 1653 X 83 (3 [1] n. 253, Sommer bis Herbst 1882); Albumblatt an Fräulein Simon, Nizza, 06. 02. 1884, KSB VI 476. 1654 XIII 160 (11 [363] November 1887–März 1888). 1655 XII 30 (1 [78] Herbst 1885–Frühjahr 1886). 1656 XII 27 f. (1 [66] dgl.). 1651 1652

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Die Erkenntnistheorie

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42.4 Die Erkenntnistheorie Die Kompetenz Nietzsches zu erkenntnistheoretischen Provokationen reicht an die Kompetenz seiner Moralkritik nicht heran. Sie schleppt mangelhaft durchdachte, großenteils übernommene und angelesene Vorurteile mit. Diese finden sich zum größten Teil schon in der 1873 verfassten Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne 1657 zusammen, so der Physiologismus, 1658 der Glaube an Dinge an sich 1659 und die der psychologistisch-reduktionistischintrojektionistischen Vergegenständlichung zu verdankende Trennung von Subjekt und Objekt als von »zwei absolut verschiedenen Sphären«, zwischen denen es »keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck« gebe. 1660 Mit der Selbstverständlichkeit eines Kant hängt Nietzsche dem Singularismus an, und daraus leitet er den Vorwurf gegen das Denken in Begriffen ab, es verfälsche die Wirklichkeit durch »Gleichsetzen des Ungleichen«, »Weglassen des Ungleichen«, »Übersehen des Individuellen und Wirklichen« bis hin zu »der Verpflichtung nach einer festen Konvention zu lügen«. 1661 Er fällt also auf die Verwechslung der Abstraktion als Pointierung des Allgemeinen mit einem Wegdenken zum Opfer, einem längst richtiggestellten Missverständnis. 1662 Später macht er daraus einen Großangriff gegen die Logik, der er die Umfälschung des Ungleichen zu Gleichem vorwirft, das es gar nicht gebe. 1663 Die Logik hat aber gar kein Interesse an gleichen Fällen; sogar zu einander ausschließenden Begriffsumfängen bedarf es bloß einer symmetrischen und transitiven (also auch reflexiven) Äquivalenzrelation, die nicht Gleichheit zu sein braucht, sondern etwa auch Vollgeschwisterschaft oder Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung sein kann. Nietzsche aber bildet sich ein, es gäbe »keine Gattung, sondern lauter verschiedene Einzelwesen!« 1664 Er verkennt, dass ohne Gattungen im weitesten Sinn – I 875–890. Z. B. 878: »Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten.«. 1659 879: »Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus.«. 1660 I 884. 1661 I 879–881. 1662 Aristoteles Physik 193b 35; Duns Scotus, Quaestiones subtilissimae in metaphysicam VII q. 1 n. 6, Werke ed. Wadding (s. o. Anm. 173) IV 673b, letzte Zeile: abstrahentium non est mendacium. 1663 Vgl. wie Anm. 1595, S. 145. 1664 IX 508 (11 [178] Frühjahr–Herbst 1881). 1657 1658

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Nietzsche

ohne irgendwelche, durch Sachverhalte, Programme und/oder Probleme mit Inhalt gefüllte Bestimmungen von etwas als Fall von etwas – gar kein Einzelwesen zustande kommen könnte, wobei es sich freilich nicht unbedingt, jedenfalls aber auch um allgemeine Gattungen (Universalien) handelt (21.1; 29.1). Eine Verschärfung des Singularismus, nach dessen Grundsatz alles ohne weiteres einzeln ist, ist der Absolutismus, entweder in der krassen Gestalt bei Wilhelm von Ockham, dass es überhaupt nur absolute Sachen (keine Beziehungen) gibt,202 oder in der Weise einer Degradation der Beziehungen zu bloßen Anhängseln absoluter Sachen (12.9), die mit abgeschlossener Wesenheit den Beziehungen zugrunde lägen. In Kapitel 35.3.2 wurde gezeigt, dass dieser Gedanke der versteckte tragende Grund bei Kants Ableitung des transzendentalen Idealismus aus seinen Behauptungen über Raum und Zeit ist. Er scheint schon in Nietzsches Abhandlung von 18731657 durch und wird von ihm in einer gleichzeitigen Notiz zusammen mit einer späteren zur Speerspitze der Skepsis gegen die Erkenntnis ausgebaut: »Ein bestimmter Körper ist gleich so und so viel Relationen. Relationen können nie das Wesen sein, sondern nur Folgen des Wesens.« 1665 »Was also ist Erkenntnis? Ihre Voraussetzung ist eine irrtümliche Beschränkung, als ob es eine Maßeinheit der Empfindung gäbe; überall wo Spiegel und Tastorgane vorkommen, entsteht eine Sphäre. Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntnis auch weggedacht – ein Auffassen von ›absoluten Relationen‹ ist Unsinn. Der Irrtum ist also die Basis der Erkenntnis, der Schein.« 1666 Wenn man die erste Stelle im Licht der zweiten liest, glaubt man Kant mit seinem »ontologischen« Beweis für das Ding an sich hinter der Erscheinung1237 zu hören: »Zur Bestätigung dieser Theorie von der Idealität (…) aller Objekte der Sinne, als bloßer Erscheinungen, kann vorzüglich die Bemerkung dienen: dass alles, was in unserem Erkenntnis zur Anschauung gehört, (…) nichts als bloße Verhältnisse enthalte (…). Nun wird durch bloße Verhältnisse doch nicht eine Sache an sich erkannt: also ist wohl zu urteilen, dass, da uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnisvorstellungen gegeben werden, dieser auch nur das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt in seiner Vorstellung enthalten könne, und nicht das Innere, was

1665 1666

VII 495 (19 [242] Sommer 1772–Anfang 1773). IX 311 f. (6 [441] Herbst 1880).

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Die Erkenntnistheorie

dem Objekte an sich zukommt.« 1667 Der Unterschied besteht nur darin, dass Nietzsche von Schein spricht, Kant von Erscheinung. In Wirklichkeit ist vielmehr das absolutistische Vorurteil eine Illusion; Relationen sind Sachverhalte 1668 und als solche Voraussetzung für das Einzelnsein irgendwelcher absoluter Sachen, die nicht Sachverhalte sind. Eine Lockerung des starren Singularismus könnte sich von fern in Nietzsches Ablehnung des Positivismus abzeichnen: »Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehen bleibt ›es gibt nur Tatsachen‹, würde ich sagen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum ›an sich‹ feststellen; vielleicht ist es Unsinn, so etwas zu wollen. ›Es ist alles subjektiv‹ sagt ihr; aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.« 1669 Mit seinen vielfältigen Kritiken an einer vermeintlich illusorischen Konstruktion des Subjektes (= Bewussthabers1670 ) versetzt sich Nietzsche auf das Niveau Humes zurück (36.1) und verkennt mit Kant (35.3.4), dem er viel näher steht, als er ahnt, ebenso die subjektiven Tatsachen wie den (instabilen, ambivalenten) Mannigfaltigkeitstyp (39.1) der Person, da er offenbar nur an einzelne Subjekte mit numerischer Einheit denkt, während doch Identität einfacher ist als Einzelheit 1671 und niemandem erspart bleibt, der leiblich engend (auf primitive Gegenwart hin, 35.3.3) affektiv betroffen wird, ganz gleich, ob er sich außerdem in personaler Selbstzuschreibung ein vielleicht problematisches IchKonstrukt zurecht macht. Nietzsche selbst kommt vom Subjekt nicht los, gleich ob er einen anonymen subjektiven Konstrukteur (»wir«) für das angeblich fiktive Ich-Konstrukt einführt 1672 oder zu einem neutralen, nicht weniger mysteriösen Ich-Setzer greift. 1673 Die Rede Kritik der reinen Vernunft B67. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 45 (S. 33–50: Relationen). 1669 XII 315 (7 [60] Ende 1886–Frühjahr 1887). 1670 z. B. IX 443 (11 [7] Frühjahr–Herbst 1881), XII 32 (1 [87] Herbst 1885–Frühjahr 1886) XIII 592 (22 [20] September–Oktober 1888). 1671 Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 112–131: Identität und Einzelheit. 1672 IX 211 f. (6 [70] Herbst 1880). 1673 XI 597 (38 [3] Juni–Juli 1885): »– – – durch das Denken wird das Ich gesetzt.«. 1667 1668

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Nietzsche

von Interpretation könnte den ganz richtigen Sinn haben, dass Erkennen immer Explizieren von Tatsachen aus der kontingenten, binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen ist, aber das ist kein Grund zur Relativierung der Wahrheit bei der jeweiligen Entscheidung zwischen Ja und Nein 1674 und keine subjektive Zutat wie die Interpretation oder Deutung einer Quelle. Eine Interpretation ohne Interpretierenden ist ein Widerspruch in sich.

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42.5 Die ewige Wiederkehr Der auffälligste, ja seltsamste Beitrag Nietzsches zur Metaphysik ist seine Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen, ein erratischer Block, entsprungen einer plötzlichen Intuition auf einem Spaziergang im August 1881, 1675 mit nur krampfhaft nachträglich hinzugedachter fadenscheiniger Begründung 1676 und in krassem Widerspruch zu Nietzsches eigener Behauptung, dass es nichts Gleiches gibt. 1677 Welchen Wert das gleichsam vom Himmel gefallene und fortan von Nietzsche mit höchster Ehrfurcht gehegte Dogma für ihn besitzt, kann man nur seinem Hinweis entnehmen, dass es sich um das neue, das größte Schwergewicht handle, 1678 vermutlich so etwas wie »Band und Rückhalt« des freien Geistes1622 im Konflikt von Stehen und Fliegen (42.2). Warum der Skeptiker Nietzsche dafür so weit in phantastische Metaphysik ausholt, ist nicht leicht einzusehen; man darf tiefere Gründe erwarten. Ich vermute ein erotisches Motiv. Eine typische partielle Situation in den prospektiven Anteilen der zuständlichen persönlichen Situation des Mannes ist die von C. G. Jung beschriebene Anima, d. h. das Bedürfnis, ein durch unberechenbaren Rhythmus von Entfernung und Näherung, Zurückhaltung und Zuwendung, VerschlossenHermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 167–174: Die Erkenntnis. 1675 IX 494 (11 [141] Frühjahr bis Herbst 1881); VI 335 (Ecce Homo, Also sprach Zarathustra, 1). 1676 Näheres wie Anm. 1595 S. 142 f., 286, Anm. 873. Ein Jahr nach Nietzsches Verblödung veröffentlichte Poincaré den mathematischen Beweis des Satzes, dass jedes abgeschlossene mechanische System jeden seiner Zustände mit beliebig genauer Annäherung periodisch wiederholt. 1677 XI 464 (34 [131] April–Juni 1885); III 471 (FW § 111). 1678 Wie Anm. 1675 und III 570 (FW § 341). 1674

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Die ewige Wiederkehr

heit und Öffnung irritierendes und bezauberndes Leitbild auf eine Frau zu projizieren. Schiller stellt in seinem Gedicht Das Mädchen aus der Fremde eine gelungene Projektion als »ein Mädchen, schön und wunderbar« vor, das in jedem Frühling in einem Tal bei armen Hirten, Blumen verteilend, auftaucht und wieder verschwindet; ihre Nähe ist beseligend (Zuwendung), während zugleich »eine Würde, eine Höhe« die Vertraulichkeit entfernt. Hier fehlt die Dämonie, die das feuchte Weib, Goethes Anima-Figur in Der Fischer (eine andere ist Adelheid in Götz von Berlichingen) besitzt, und das Unberechenbare des Rhythmus bei nur einjähriger Periode der Wiederkehr; indem Nietzsche diese Periode zu »ungeheuren Jahren« 1679 von unabsehbarem Ausmaß längt, bringt er diesen Zug hinzu und schafft sich statt einer Frau die periodisch wiederkehrende ganze Welt als metaphysisch ins Riesige gesteigerte Anima. Um seine Besessenheit von dieser Projektion zu verstehen, muss man sich in die erotische Tragik seines Lebens versetzen, die in seiner Unfähigkeit besteht, seine Anima an eine Frau loszuwerden, weil vor diesem Erfolg die lebenslange übermächtige Bindung an seine ihm andererseits unerträgliche 1680 Schwester stand, eine zur Anima-Projektion extrem ungeeignete Frau (im Gegensatz etwa zu Trakls Schwester Gretel). Für die Gewalt der Anima über Nietzsche zeugt die Fülle und Mächtigkeit allegorischer Weiber, die durch alle Werke und Aufzeichnungen Nietzsches spuken und von ihm – im Gegensatz zum empirischen Weib, das von ihm stets geringschätzig kommentiert wird – mit größter Hochachtung behandelt werden: Zarathustras »geliebte Wahrheit« mit lieblich-bösem Mädchenblick, 1681 seine Weisheit, das Leben, die Wahrheit, die Lust, das Glück, die Ewigkeit. 1682 Nur einmal kommt die Wahrheit, die häufigste WeibAllegorese bei Nietzsche, ganz schlecht weg: Sie – »ein Weib, nichts Besseres« – tut verschämt, indem sie ihre Vulva mit der Hand bedeckt, möchte aber im Grunde genotzüchtigt werden, und demgemäß fordert der Dichter die Weisesten auf, ihr harte Gewalt anzutun. 1683 Diese Extravaganz dürfte einen persönlichen Grund haben. In Nietzsches Aufzeichnung geht unmittelbar das Gedicht die Hexe voran, 1679 1680 1681 1682 1683

XI 610 (38 [12] Juni–Juli 1885). X 111 (4 [9] November 1882–Februar 1883). VI 408 (Von der Armut des Reichsten, Dionysos-Dithyramben IX). Vgl. wie Anm. 1595, S. 269, Anm. 818. XIII 557 (20 [48] Sommer 1888); voran steht 20 [47] die Hexe, s. gleich.

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Nietzsche

das sich auf Nietzsches Zusammensein mit Lou Salomé in Tautenburg zu beziehen scheint. 1684 In Lou fand Nietzsche 1882 den AnimaPrototyp, den er brauchte, aber sie entzog sich ihm; die produktive Verarbeitung dieser Niederlage war Also sprach Zarathustra. 1685 Zarathustra ist selbst eine Anima-Projektionsfigur, die auf ungeheurer Leiter auf- und niedersteigt,1629 sich in unberechenbarem Wechsel den Menschen zuwendet und in die Einsamkeit entzieht. Mangels weiblicher Anima-Figuren wendet sich Nietzsche Anima-besessenen Männern zu, sei es erfundenen wie Zarathustra oder wirklichen wie Richard Wagner, der ihm von einem Faszinosum zu dem dämonischskurrilen, mordenden Possenreißer in Zarathustras Vorrede wurde. 1686 Die endlich gefundene, aber Nietzsche versagte Anima Lou Salomé wird in Also sprach Zarathustra zum Leben; ihr Hymnus auf das Leben, den Nietzsche vertont, bahnt den Weg zu dieser Metamorphose. In Ecce Homo weist er »ausdrücklich«, wie er hervorhebt, auf diese Rollenverteilung, diese Zusammenarbeit am Gemeinschaftswerk des Hymnus, hin;1685 in Also sprach Zarathustra wird daraus Zarathustras mit erotischer Rauferei verbundener Tanz mit dem Leben, das idealtypische Anima-Züge trägt (Das andere Tanzlied). Während dieses Preislied unmittelbar vor dem krönenden Schluss des Werkes, dem Ja-und-Amen-Lied auf die ewige Wiedekehr,1630 steht, hat Zarathustra schon vorher, im 2. Teil, tanzenden Mädchen ein Preislied gesungen, in dem er sich mit zwei charmanten Anima-Damen, seiner Weisheit und dem Leben, dem er von jener erzählt, zu einer ménage à trois zu bereiten scheint. Auch das Leben als Weib (Vita femina), das in FW § 339 porträtiert wird, trägt die Züge der Anima. 1687 Es ist aufschlussreich, Nietzsches enthusiastische Behandlung allegorischer Weiber mit der melancholischen durch Goethe zu vergleichen. 1688 Goethe hatte weniger Schwierigkeiten mit der realen Anima-Projektion, so dass er sich nicht so sehr in die Idealisierung flüchten musste. Wie Anm. 1595, S. 272. VI 336 f. (Ecce Homo, Also sprach Zarathustra, 1). 1686 Vgl. wie Anm. 1595, S. 181–202. 1687 III 569: »verheißend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch«. Die Ambivalenz von Zuwendung und Zurückhaltung kommt hier deutlich zum Ausdruck, während mir schleierhaft bleibt, in welchem Sinn das Leben spöttisch und mitleidig sein könnte. 1688 Faust, 2. Teil, 5. Akt: Mitternacht. Vier graue Weiber treten auf: der Mangel, die Schuld, die Sorge und die Not. 1684 1685

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Die ewige Wiederkehr

Auf der anderen Seite kocht die Frustration durch Lou, die weibliche Anima, als Wut in Nietzsche und mag zur geschmacklosen Herabsetzung des Weibes Wahrheit1683 gleich im Anschluss an das auf das Zusammensein mit Lou bezügliche Gedicht die Hexe1684 beigetragen haben. »Du Hexe« wird auch das Leben in Das andere Tanzlied von Zarathustra angerufen, als er droht, es mit der Peitsche zum Schreien zu bringen. Die Beziehung zwischen Nietzsche und Lou war sado-masochistisch unterlegt, wie diese noch im Alter bezeugt, indem sie berichtet, dass beide, als sie sich das indirekt eingestanden hatten, sich hinterher nicht anzusehen wagten. 1689 Das hilft zum Verständnis der Figur der Ariadne in Nietzsches letzter Arbeitszeit. 1690 Ariadne wäre nach Ecce Homo die Antwort auf den Klaggesang der Sonne Zarathustra-Dionysos über ihre Einsamkeit angesichts des Fehlens adäquater Nehmer ihrer überreichen Gaben. 1691 Diese Antwort gibt Zarathustras Wahrheit in Von der Armut des Reichsten;1681 sie darf also als Ariadne gelten und ist dem Leben aus Das andere Tanzlied durch ihren lieblich-bösen Mädchenblick verwandt, gleichfalls eine Anima. Nietzsche hat die seit 1884/85 von ihm ausgearbeitete und verschiedenen Sprechern in den Mund gelegte Klage des Zauberers im 4. Teil von Also sprach Zarathustra in die DionysosDithyramben als Klage der Ariadne übernommen und durch eine Schlussszene ergänzt. In der durch die Umwidmung an eine Sprecherin drastisch sexualisierten Klage windet sich eine Frau in brünstiger Liebe nach einem sie mit höhnischen Blicken sadistisch marternden Henkergott, der sie ganz haben will. In der Schlussszene tritt Dionysos in smaragdener Schönheit hervor und beruhigt die erregte Frau unter Hinweis auf die ihm und ihr gemeinsamen kleinen Ohren durch den Vorschlag zur Güte: »Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll?« Denselben Vorschlag macht Nietzsche der Hexe in die Hexe.1683 Er selbst ist der in Klage der Ariadne in smaragdener Schönheit hervortretende Dionysos; das zeigt die Berufung auf die kleinen Ohren, da Nietzsche in ihnen die größte Zierde seines Körpers sah, wovon er sich beträchtliche sexuelle Anziehungskraft versprach.1692 Ariadne ist also die von Nietzsche ersehnte weibXV 125, nach: Lou Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud, hg. v. E. Pfeiffer, Zürich 1958, S. 155 f. 1690 Zum Folgenden vgl. wie Anm. 1595 S. 266–275: Ariadne. 1691 VI 348 (EH, Also sprach Zarathustra, 8). 1692 Wie Anm. 1595, S. 270. 1689

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Nietzsche

liche Anima, von der er sich nach einer Zeit des Hasses und der höhnischen Marterung Liebe erträumt. Das passt auf Lou, die Nietzsche als seinen Jünger anlernen wollte; denn darunter versteht er einen Menschen, der ihm ein unbedingtes Gelübde macht, und dazu »bedürfte es einer langen Probezeit und schwerer Proben.« 1693 Kurz vorher vergleicht er seinen Grimm über das von seiner Schwester verschuldete Ende der Beziehung zu Lou mit dem eines Mannes, dem man seinen Lieblings-Hund gestohlen hat. 1694 In Klage der Ariadne fragt die vom höhnischen Gott gemarterte Frau: »Oder soll ich, dem Hunde gleich, vor dir mich wälzen?« Zwar hat der wahnsinnige Nietzsche an Cosima Wagner als an die Prinzess Ariadne, seine Geliebte, geschrieben, eine für die Anima-Rolle wenig qualifizierte Frau; die Figur der Lou dürfte aber hintergründig wirksamer gewesen sein. Die Begegnung mit ihr folgt etwa nach 8 Monaten auf die Konzeption der ewigen Wiederkehr und wirkt ebenso stark, nur versteckter auf Nietzsche fort; in beiden Fällen dürfte der gehemmte AnimaKomplex Nietzsches die wesentliche Triebkraft sein. Auffällig ist an Nietzsches Lehre, dass er auf den Unterschied von Wiederkehr des Gleichen und Wiederkehr des Selben nicht aufmerksam wird, obwohl die Brisanz für den Einzelnen, von der sich Nietzsche ungeheure Wirkung auf das menschliche Selbstverständnis verspricht, darin bestehen soll, dass jeder sich überzeugt, dass er selbst jeden Zustand seines Lebens unendlich oft wiederholen wird. Wenn es sich dagegen bloß darum handelte, dass mir unendlich viele genaue Kopien von mir folgen sollen, brauchte mich das nicht mehr zu berühren als die Vorstellung unendlich vieler »Zwillinge« von mir in anderen Teilen des Universums. Die Dauer der Person ist keine neutrale oder objektive Tatsache, sondern nur eine für den Betreffenden subjektive, aus der sich auch keine objektive durch Abschälung der Subjektivität gewinnen lässt, während es allerdings die objektive Tatsache gibt, dass es jene subjektive gibt. 1695 Für die Entscheidung der Alternative kommt es also auf die betreffenden subjektiven Tatsachen an. Indem Nietzsche die Alternative ignoriert, zeigt er, dass er von subjektiven Tatsachen und strikter Subjektivität keine Ahnung hat, so sehr er auch im Bann der aus ihrer Entdeckung folgenden rezessiven Entfremdung steht (32.2; 42.2). 1693 1694 1695

KSB VI 510 (an v. Meysenbug, Juni 1884). KSB VI 505 (an dieselbe, Mitte Mai 1884). Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 121 f.

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43. Positivismus

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43.1 Empiriokritizismus Die rezessive Entfremdung der Subjektivität (36.2) versetzt die Person in eine Schwebelage aus Ironie und/oder Angst über den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen, in deren Milieu die Person sich nicht mehr findet, unfähig, sich auf die subjektiven Tatsachen zu berufen und die objektiven oder neutralen als deren abgeblasste Reste durchschauen zu können; Nietzsche hat die Gefahren dieser Schwebelage hemmungslos ironischer Wendigkeit in einer Folge erdachter Typen dargestellt und bis zur Katastrophe wahnhafter Identifizierungen durchgemacht (42.2). Auf der anderen Seite setzt diese Entfremdung der Subjektivität die objektiven Tatsachen frei zu nackter, von Subjektivität vollkommen gereinigter Neutralität, die den Menschen vor Fichte sogar im Zeichen des mechanistischen Weltbildes der Naturwissenschaft seit Descartes noch nicht zu Bewusstsein gekommen war, selbst wenn dadurch ihr eigener Körper ihnen in die Abgeschlossenheit des Mechanismus der Außenwelt entrückt und sowohl ihrem Willen entzogen als auch als Nachrichtengeber durch die Sinne unbrauchbar wurde: Geulincx, der diese Konsequenzen des postcartesischen Occasionalismus zog (25.4), zeigt keine Spuren einer gespürten Entfremdung vom eigenen Körper wie Fichtes Zeitgenossen Tieck und Jean Paul, 1696 weil sein Selbstgefühl die Chance einer Abhebung von den objektiven Tatsachen, die für ihn die Tatsachen überhaupt sind, noch nicht wahrnimmt. Das Entsprechende gilt für seinen Zeitgenossen Spinoza, der sich als Seele für einen bloßen Modus, gleichsam eine Äußerung, des göttlichen Denkens hält und damit genau in der Lage des Nietzsche der Artisten-Metaphysik1595 ist, aber ohne jede Spur des schauerlich-ironischen Entfremdungserlebnisses, das diesen ergreift,1599 wenn er sich die Besessenheit 1696

Vgl. ES (s. o. Anm. 1290) S. 55 f.

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Positivismus

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durch ein ihn aus der Subjektrolle verdrängendes Ur-Eines vergegenwärtigt. Dass den Menschen das, wovon ihre Subjektivität ausgeschlossen wird, in eine befremdend neutrale Tatsächlichkeit entgleitet, scheint ihnen demnach vor Fichte nicht aufzugehen; erst Fichte deutet in Spinozas System die völlige Ichlosigkeit hinein, die Abweisung der Subjektivität. 1697 Solche Reinigung der objektiven Tatsachen, die für alle Tatsachen gehalten werden, von jeder Subjektivität stellt die Denker vor die Wahl, entweder mit Kierkegaard und Nietzsche an der rezessiv entfremdeten Subjektivität in ihrer theoretisch ungesicherten oder gar bestrittenen Schwebelage festzuhalten oder die Subjektivität ganz zu streichen, da sie in den Tatsachen kein Fundament zu haben scheint. Den zweiten Weg geht mit mehr oder weniger Entschlossenheit und Konsequenz der Positivismus im hier gemeinten Sinn, 1698 am Konsequentesten in seiner ersten Schicht als Empiriokritizismus. 1699 Dessen führende Vertreter sind Avenarius und Mach. Es genügt, von Avenarius die Schrift Der menschliche Weltbegriff heranzuziehen, von Mach das 1. Kapitel Antimetaphysische Vorbetrachtungen seines Buches Die Analyse der Empfindungen. 1700 Das Buch von Avenarius, gleichsam seine Eintrittskarte in die Gesellschaft der Klassiker der philosophischen Weltliteratur, verfolgt zwei sachlich nicht notwendig zusammengehörige Themen: im 2. Abschnitt »Die Variation des natürlichen Weltbegriffes« die Introjektion, im 3. Abschnitt »Die Restitution des natürlichen Weltbegriffes« die Beseitigung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses mit Ersatz GA II 3 S. 236, 30–34 (s. ebd.): »Hier ist die theoretische Vernunft selbst darstellend das Nicht-Ich und kein Ich gibt es gar nicht, oder es gibt nur eine Substanz. Die konsequente Verfolgung dieses Systems ist der Spinozismus. Er widerstreitet aber dem gesunden Menschenverstande, und dem Satze: Ich bin. Spinoza leugnet diesen Satz (…).« (Praktische Philosophie, 1793/94, aus dem Nachlass). 1698 Dass Auguste Comte den Positivismus als Anti-Metaphysik ins Leben gerufen hat, ist für mich von nur antiquarischem Interesse und für die von mir verfolgte Entwicklung ohne Belang. 1699 Titel in Anspielung auf das zweibändige Werk von Richard Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig 1888–1890, 2. Auflage 1907–1908. 1700 Richard Avenarius, Der menschliche Weltbegriff, Leipzig 1891, von mir benützt in der dritten, um einige Anhänge (offener Brief von Wilhelm Schuppe an Avenarius mit dessen Stellungnahme dazu; Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie, von Avenarius) erweiterten Auflage, Leipzig 1912. Ich zitiere aus dem Buch mit »W« und Seitenzahl. Von Ernst Mach benütze ich Die Analyse der Empfindungen (zuerst 1886) im Nachdruck der 9. Auflage von 1922, Darmstadt 1991, mit bloßer Angabe von Seitenzahlen. 1697

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Empiriokritizismus

durch die Prinzipialkoordination. Ich werde beide Gedankengänge nach einander besprechen. Die europäische Intellektualkultur wird seit dem Bruch mit dem archaischen Denken (9.1) – mit Ausnahme nur im antiken heidnischen Neuplatonismus (15.3) – von der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) beherrscht, die aus dem Bemühen um Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen (1; 2) hervorgeht 1701 und den Menschen so selbstverständlich geworden ist, dass erst neuerdings eine Vereinfachung um sich greift, indem der Reduktionismus den Psychologismus verschlingt: Das (reduktionistisch verstandene) Gehirn setzt sich an die Stelle der Seele. Das ist allerdings auch bei Avenarius (siehe gleich) der Fall, aber viel schwerer wiegt die philosophische Großtat, dass er als erster auf die Fragwürdigkeit der Introjektion aufmerksam gemacht und dabei dieses Wort geprägt hat. Er rekonstruiert sie nicht historisch, sondern psychologisch aus der Erfahrung am Mitmenschen: Der Mensch M versteht nach Avenarius gewisse Laute und Bewegungen seines Mitmenschen T als Aussagen, die noch etwas anderes als sich selbst, nämlich z. B. Affekte, Willen oder Unwillen, bedeuten, und wählt unter »verschiedenen denkbaren Formen« der Beziehung dieses anderen auf T die Einlegung (Introjektion), wodurch die Affekte usw. zu etwas »in« T gestempelt werden (W 25, 26 f., §§ 37 und 40). Anschließend versetzt sich M auf den Standpunkt des T und schreibt nun auch sich die entsprechende Introjektion seiner Affekte usw. zu (W 29–31) womit er »unter der Hand der Selbstverwechslung mit T anheimgefallen ist« (W 57). Dass diese genetische Konstruktion sich nicht halten lässt, zeigt die übliche Ausdehnung der Introjektion auf Tiere, die nichts aussagen; 1702 die Erweiterung des anderes Bedeutenden von der Aussage auf Ausdruck überhaupt würde nichts für Avenarius bessern, da Vieles Ausdruck hat, ohne dass ihm eine Seele als Inneres im Sinne der Introjektion zugeschrieben würde, z. B. eine Geige oder eine Gewitterlandschaft. So unbrauchbar aber auch die Herleitung der Introjektion durch Avenarius ist, so bahnbrechend ist sein Hinweis, dass es sich nicht um etwas Selbstverständliches handelt und die Introjektion Vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 75–88: Die Entstehung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise. 1702 Wieviel verblüfften Protest zog nicht Descartes auf sich, als er den Tieren die Seele (das »Innenleben«) absprach! 1701

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Positivismus

nur eine unter »verschiedenen denkbaren Formen« ist, das Ausgedrückte und Ausgesagte in der Welt unterzubringen. Bessere Formen zu finden, ist der Inhalt meiner phänomenologischen Lebensarbeit, wofür ich auf meine Schriften verweise. 1703 Scharfsichtig verfolgt Avenarius die Verkünstelung der Wahrnehmung durch die Introjektion: Die den spezifischen Sinnesgebieten hauptsächlich zugeordneten Körperteile, wie Augen und Ohren, werden durch die Introjektion zu Sinnes-organen oder –schleusen, die allein noch den Zugang von Informationen aus der Außenwelt vermitteln, aber wegen ihrer begrenzten Transportkapazität nur einen dürftigen Rest des Gehaltes unverkünstelter Wahrnehmung durchlassen, nämlich Empfindungen, die dann im Inneren durch Zutaten des Verstandes zu brauchbaren Bildern wahrgenommener Gegenstände aufgerüstet werden müssen; so zieht der Physiologismus den Rationalismus herbei. 1704 Als Konsequenz der Umsiedlung verkürzten und verkünstelten Weltstoffes in ein zurechtgemachtes Inneres des Menschen leitet Avenarius den psychologischen Idealismus bei Kant, Schopenhauer, F. A. Lange und schon bei Platon und Descartes her (W 49–62). Der Ertrag aus Entlarvung und Überholung der Introjektion sollte nach der Absicht von Avenarius die Wiederherstellung eines natürlichen, unverkünstelten Weltbegriffes sein. Diesen Erfolg verdirbt er sich aber, indem er das Kind mit dem Bade ausschüttet: mit der falsch von der Außenwelt abgespaltenen Innenwelt auch den Bewussthaber, das Subjekt, so dass in der von Avenarius als natürlich restaurierten Welt niemand mehr zu finden ist, der etwas erlebt und bewusst hat (auch nicht Avenarius selbst als Bewussthaber). Eine solche Welt gleicht keineswegs der, worin wir leben. Diese fatale Übertreibung verrät schon der noch harmlos klingende Satz: »Durch die Introjektion ist die natürliche Einheit der empirischen Welt nach zwei Richtungen gespalten worden: in eine Außenwelt und in eine Innenwelt, in das Objekt und das Subjekt.« (W 29, § 47) Die Weltspaltung wird trefflich angeprangert, unversehens aber auch die Welt von allen Objekten und Subjekten gereinigt; übrig bleibt eine neuNicht einmal für das Gedächtnis, auf das die Metapher einer Speicherung im Inneren (der Seele oder des Gehirns) am ehesten zu passen scheint, ist sie brauchbar, vgl. Hermann Schmitz, Begriffene Erfahrung (mit Beiträgen von G. Marx und A. Moldzio), Rostock 2002, S. 99–112. 1704 W 39, 41, 43–46 (§§ 72, 75, 82–86), vgl. von mir: System der Philosophie Band III Teil 5: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, öfters nachgedruckt, S. 188–196: Scheinprobleme im Gefolge des Physiologismus. 1703

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Empiriokritizismus

trale Vorfindung ohne jemanden, der etwas vorfindet: »Wie der Ausdruck ›Empfindung‹ bereits heute im wissenschaftlichen Sprachgebrauch den so anfechtbaren Gegensatz ›Empfindendes – Empfundenes‹ ausgeschaltet hat, so würde es sich empfehlen, analog statt vom ›Vorgefundenen‹ von der ›Vorfindung‹ zu sprechen. Die Bezeichnung ›Vorfindung‹ würde dann (…) den Vorteil haben, zugleich das Befreitsein von der Beziehung Subjekt-Objekt (im Sinne unserer Auseinandersetzung) mit zum Ausdruck zu bringen.« (W 119) Es ist nämlich nur »eine Konzession an den Sprachgebrauch, wenn gesagt wurde: ich finde von dem gewählten Standpunkte aus einen Umgebungsbestandteil vor … ein Umgebungsbestandteil ist mein Vorgefundenes. Das Ich-Bezeichnete ist selbst nichts anderes als ein Vorgefundenes, und zwar ein im selben Sinn Vorgefundenes wie etwa ein als Baum Bezeichnetes. Nicht also das Ich-Bezeichnete findet den Baum vor, sondern das Ich-Bezeichnete und der Baum sind ganz gleichmäßig Inhalt eines und desselben Vorgefundenen.« 1705 »Ich erfahre den Baum in genau demselben Sinne wie mich – als Zugehörige Einer Erfahrung, und wenn ich sage: Ich erfahre den Baum, so soll das nur heißen: eine Erfahrung besteht aus dem reichhaltigeren Elementenkomplex ›Ich‹ und dem andern weniger reichhaltigen Elementenkomplex ›Baum‹.« (W 83, § 147) Wilhelm Schuppe erregt sich in seinem offenen Brief an Avenarius über diesen Satz: »Sagen Sie, Hochverehrtester Herr Kollege, was heißt hier ›bestehen‹ ? Doch nur, dass Beides, sowohl das Ich als auch der Baum, Bestandteile derselben einen Erfahrung sind! Und sagen Sie, ich bitte!, wodurch werden diese zu einer Erfahrung geeint? Worin besteht diese Einheit? worin auch die des ›Elementenkomplexes‹ ? Wenn Sie in Gedanken die Voraussetzung machen, dass irgendwo ein Stein nicht weit von einem Baume steht, sind deshalb Stein und Baum eo ipso schon Bestandteile einer Erfahrung?« (W 171) Dieser Einwand trifft Avenarius nicht. Wie nach der von ihm beanstandeten Auffassung zu jeder Erfahrung Subjekt und Objekt gehören, so bildet nach der seinen den nicht weiter zerlegbaren Urbaustein jeder Erfahrung eine (subjekt- und objektlose) Vorfindung in Gestalt einer »Prinzipialkoordination«, bestehend aus einem Ich-Bezeichneten (ohne Bezeichner) als Zentral- oder Vorderglied und der in die Erfahrung eingehenden Umgebung des Ich-Bezeichneten als Hinterglied (W 83 f., § 148). »(…) wir können uns (als Zen1705

W 82, § 143. Das vorangehende Zitat ist Anm. zu diesem Satz.

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Positivismus

tralglied) gar nicht wegdenken.« (W 130) Alle aus Erfahrung geschöpften Erkenntnisse gelten nach Avenarius (laut der zum Exkurs ausgeweiteten Anmerkung W 121–131 über Verträglichkeit unvereinbarer Erfahrungsberichte) nur relativ auf ein Ich, aber nicht als Subjekt, sondern als ich-bezeichnetes Zentralglied einer Vorfindung. Merkwürdig trifft Avenarius sich an dieser Stelle mit seinem idealistischen Antipoden Fichte, der dasselbe so sagt: »Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewusst, mit hinzu zu denken: man kann von seinem Selbstbewusstsein nie abstrahieren.« 1706 Beide Autoren verwechseln in diesem Zusammenhang zweierlei: sich weg denken und sich weg schaffen. Wenn man etwas bewusst hat (denkt, erfährt), kann man sich als den, der bewusst hat – in der Version von Avenarius: als Zentralglied einer Prinzipialkoordination –, nicht wegschaffen, aber das ist eine bloße Tautologie, die nichts besagt. Sehr wohl aber kann man sich weg denken, so dass es für die Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung – z. B., dass das Gegebene genauso gut da sein könnte, wenn es mich oder uns oder sonst jemanden in der Rolle des Bewussthabers oder Zentralgliedes nicht gäbe – auf dieses unwegschaffbare Dabeisein gar nicht ankommt. Aus dem Ersatz des Subjektes durch das Zentralglied der Prinzipialkoordination ergibt sich glatt verständlich der scheinbare neurologische Materialismus von Avenarius. Weder ein Subjekt noch eine Seele kann er brauchen, aber er benötigt einen Ersatz, um den Platz des Zentralgliedes der Prinzipialkoordination zu besetzen und daran gleichsam den Zügel der Koordination des Erfahrungsinhaltes so zu befestigen, dass dem von Schuppe ausgemalten Zerlaufen der jeweiligen Erfahrung in ganz beliebige Zusammenstellungen vorgebeugt werden kann. Der Menschenkörper (oder Tierkörper) käme in Frage, wenn er sich auf ein Standard-Format bringen ließe, aber er kann ja auch verstümmelt sein, ohne dass dies seiner Eignung zum Gewinn von Erfahrung Abbruch tun müsste. Daher hält sich Avenarius an den Teil des Körpers, von dem er annimmt, dass ohne ihn keine Erfahrung zustande kommen kann, nämlich an das Gehirn oder vielmehr das System C (cerebrum), nämlich den (offen gelassenen) Teil des zentralen Nervensystems, der nach der Vermutung von Avenarius diese Bedingung erfüllen würde. Damit ist kein reduktionistischer Materialismus verbunden; keineswegs behauptet Avenarius, das Ge1706

GA I 2 S. 260, 16–18 (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre § 1).

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Empiriokritizismus

hirn bringe Erfahrungsinhalte hervor, so wenig wie er diese mit Gehirnteilen oder Gehirnfunktionen identifiziert. Das Gehirn braucht gar nichts zu den aus der Erfahrung gewinnbaren Erkenntnissen beizutragen, es muss nur als Zentralglied der Prinzipialkoordination, die jeweils eine Erfahrung ist, bereitstehen. Die Ontologie von Avenarius mag roh sein, in der Weise, dass er nur einzelne Sachen und deren Verknüpfungen zulässt, aber er legt sich darauf nicht fest, weder in W noch in Kritik der reinen Erfahrung.1699 Was er schreibt, steht einer Zulassung des seit Demokrit und Wilhelm von Ockham von der europäischen Intellektualkultur ausgesperrten Vorrats der Lebenserfahrung – den bedeutsamen Situationen (z. B. vielsagenden Eindrücken), den Atmosphären des Gefühls, dem Leib mit seiner Dynamik und Kommunikation, den flächenlosen Räumen, den Halbdingen – nirgends im Weg; nur müsste es stets an ein Gehirn als Zentralglied einer Vorfindung (ohne Vorfindenden) angeknüpft werden. Im Gegensatz dazu ist Mach ein entschlossener Singularist, der mit einem einzigen Sensenhieb Substanzen und Subjekte, Dinge, Körper und Materie zugunsten der Vernetzung einfacher (aber nicht immer bis auf den Grund der einfachen Urbestandteile analysierter) Elemente wegmäht. Diese Elemente bestehen in »den sogenannten Merkmalen«, z. B. Farben und Tönen, deren Zusammenhang (und weiter nichts) jeweils »Ding, Körper, Materie« heißt (5). Ein an einen bestimmten Körper gebundener Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, dessen langsame Änderung Beständigkeit vorgaukelt, wird als Ich bezeichnet (2 f.). Der Gegensatz zwischen Ich und Welt, Empfindung (oder Erscheinung) und Ding, fällt weg; es handelt sich lediglich um den Zusammenhang der Elemente (11). Vorstellungen, Wille, Gefühle, kurz, die ganze äußere und innere Welt, setzen sich aus einer geringen Zahl von Elementen in bald flüchtigerer, bald festerer Verbindung zusammen (17 f.). Die Elemente bilden das Ich, das unrettbar ist, nämlich »nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit« (19 f.). Wenn man über den Elementenkomplex hinaus noch fragt, wer empfindet, welches Subjekt erlebt, zeigt man bloß, dass man den Komplex noch nicht genug analysiert hat, um ihn als ein Gewebe von Elementen darstellen zu können (20 f.). »Man betone nicht die Einheit des Bewusstseins.« Vielmehr »ist ein mannigfaltiger zusammenhängender Inhalt des Bewusstseins um nichts schwerer zu verstehen, als der mannigfaltige Zusammenhang in der Welt.« (22 f.) Hier verfällt Mach in denselben Irrtum wie Kant bei der Entwertung 573

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des »Achilles aller dialektischen Schlüsse« im Paralogismenkapitel der KrV, die ambivalente oder instabile Mannigfaltigkeit mit einer kollektiven oder numerischen zu verwechseln, wie ich unter 35.3.4 am Beziehungsbewusstsein gezeigt habe. Mach gliedert die Elemente in die drei Klassen der außenweltlichen mit den Variabel-Symbolen A, B, C …, der eigenkörperlichen mit K, L, M … und der seelischen mit a, b, g … Sofern die drei Klassen auf einander bezogen werden, heißen ihre Elemente auch »Empfindungen«. Dieser Begriff ist so weit zu fassen, »dass Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden können, als Farben und Töne« (6). Es fragt sich aber, ob er schon weit genug ist, um zu leisten, was Mach ihm zumutet. Mag auch ein Wunsch ein Element aus der Reihe a, b, g sein, wie steht es mit seinem Inhalt, z. B. im Fall des Wunsches: »Nie wieder Krieg!«? Um dem gerecht zu werden, was Brentano, Husserl und ihre Nachfolger »Intentionalität« (der psychischen Phänomene oder des Bewusstseins) nennen, müsste als vierte Elementenklasse die der Bedeutungen (d. h. der Sachverhalte, Programme, Probleme) hinzugenommen werden. Auch wären neben den seienden Elementen die nichtseienden zuzulassen, denn ohne die gibt es keinen Fluss der Zeit (vom Nichtmehrseienden zum Nochnichtseienden) und ohne den kein menschliches (diskursives) Denken (35.3.2). Die vornehme Verachtung des Subjektes als bloß unanalysierter Komplex von Elementen würde Mach schnell vergehen, wenn ein Entsetzen ihn aus der Fassung brächte, wenn er z. B. plötzlich in Flammen stünde. Dann würde er merken, dass nicht nur ein Komplex von Elementen durch einwirkende Hitze zerlegt wird, sondern dass er selber, ein Bewussthaber, das erleidet und ihm das nahegeht. Es würde auch ein Verbrennen im übertragenen Sinn genügen, wenn Mach sich z. B. einmal gründlich schämte wie Petrus, als er den Herrn dreimal verleugnet hatte und der vorhergesagte Hahn krähte; 1707 man spricht ja von »brennender« Scham.

Ich verdanke dieses Beispiel Michael Großheim, Politischer Existenzialismus, Tübingen 2002, wo im 3. Kapitel die Ausstrahlungen des Empiriokritizismus auf die zeitgenössische (besonders österreichische) Literatur verfolgt werden. Auf S. 128 zitiert Großheim nämlich aus Otto Weiningers Einwänden gegen die Ichleugnung die Worte: »Urtatsache der Scham!«.

1707

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Wittgenstein

43.2 Wittgenstein

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43.2.1 Die rezessive Entfremdung der Subjektivität Zur rezessiven Entfremdung der Subjektivität (36.2) kommt es, wenn alle Tatsachen für objektiv und neutral – in dem Sinn, dass jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann – gehalten werden, andererseits aber bemerkt wird, dass keine solchen Tatsachen einen Erkenntnisgrund zu der Annahme liefern, dass es sich bei irgendetwas um mich selbst handelt. Dann falle ich als der, auf den ich aufmerksam werde, wenn mir etwas nahegeht oder ich merke, dass etwas mich betrifft, aus der Welt heraus, von der Wittgenstein 1708 (T 1.1) sagt, dass sie die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge ist; aber auch dann, wenn ich mich als Ding in der Welt verstehe, kann ich nicht mehr sagen, was ich bin, sofern nach Wittgenstein nur Sätze der Naturwissenschaft sich sagen lassen (6.53) und die Gesamtheit der wahren Sätze mit der gesamten Naturwissenschaft zusammenfällt (T 4.11), denn wahre Sätze der Naturwissenschaft beziehen sich immer auf neutrale Tatsachen, nie auf solche, die für jemand subjektiv sind, in dem Sinn, dass höchstens er sie aussagen kann. Wittgenstein steckt exemplarisch in der Falle der rezessiven Entfremdung der Subjektivität. Er drückt sich darüber so aus: »Der Solipsist flattert und flattert in der Fliegenglocke, stößt sich an den Wänden, flattert weiter. Wie ist er zur Ruhe zu bringen?« 1709 »Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich.« (T 5.62) »Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität.« (T 5.64) Der Solipsist nach Wittgenstein entspricht dem Einzigen nach Stirner (38), dessen Bestimmungslosigkeit1446 dem ausdehnungslosen Punkt nach Wittgenstein; in beiden Fällen entfallen die Bestimmungen, weil sie für den rezessiv Entfremdeten nur von den objektiven Tatsachen hergenommen Ich zitiere Wittgenstein mit Band- und Seitenzahl der Werkausgabe bei Suhrkamp in Taschenbuchform (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 501–508), Frankfurt a. M. 1984 und die Logisch-philosophische Abhandlung (Tractus logico-philosophicus) mit den von Wittgenstein den Sentenzen beigefügten Nummern, meist mit vorangestelltem »T«. 1709 Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a. M. 1989, S. 76. 1708

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werden könnten, aus denen sich aber nicht ergibt, dass ich – jeder denke an sich – es bin, und mit den Bestimmungen entfallen die Unterschiede, die mir Gelegenheit geben könnten, mich als einen unter anderen, einen von Vielen, mit ihnen zu vergleichen; ich werde Einziger, solus ipse. Als solcher kann ich mich neben oder über alles stellen, mit der souveränen Wendigkeit des an nichts mehr gebundenen romantischen Ironikers; so entspringt der »Größenwahn« des Novalis1441 und Stirners, dem in der Sonne des Bewusstseins seiner Einzigkeit jedes höhere Wesen, Mensch oder Gott, erbleicht (38); eine Spur davon findet sich auch bei Wittgenstein: »Es gibt zwei Gottheiten: die Welt und mein unabhängiges Ich.« 1710 In der Logisch-philosophischen Abhandlung findet Wittgenstein ein treffendes Bild für die rezessive Entfremdung: »Wenn ich ein Buch schriebe ›Die Welt, wie ich sie vorfand‹, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht, etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt. Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein.« (T 5.631) In der Einstellung des bloßen Registrierens, das an allen außer objektiven Tatsachen vorbeisieht, ist niemand zu finden, der auf den Gedanken kommen könnte, dass es sich bei etwas um ihn selbst handeln könnte, weil dazu über gewöhnliche Identifizierungen hinaus der Sprung in das Milieu der für einen subjektiven Tatsachen gehört (36.1). Wittgenstein kann diesen Sprung so wenig tun wie Avenarius, dessen subjektloser »Vorfindung« (43.1) er hier sogar in der Wortwahl nahe kommt, und es ist wohl auch nur eine »Konzession an den Sprachgebrauch« wie bei diesem,1705 wenn er trotzdem noch die erste Person des Singulars verwendet. Im Gegensatz zu Avenarius räumt er aber nicht die Position der rezessiv entfremdeten Subjektivität, sondern hält am Subjekt als einer »Grenze der Welt« (T 5.632) fest: »Es gibt also wirklich einen Sinn, in welchem in der Philosophie nichtpsychologisch vom Ich die Rede sein kann. Das Ich tritt in die Philosophie dadurch ein, dass ›die Welt meine Welt‹ ist.« (T 5.641) Die Welt ist einerseits die Welt der objektiven Tatsachen, andererseits aber auch die Welt der für mich subjektiven Tatsachen, wovon jene nur ein blasses, weil der Subjektivität beraubtes Nachbild ist; da Wittgenstein keine subjektiven Tatsachen kennt, kann er diese Differenz 1710

I 169 (Kriegstagebuch 08. 07. 1916).

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Wittgenstein

nur widerspruchsvoll ausdrücken, indem er »die« Welt im Singular der Einzigkeit einerseits als die Welt der naturwissenschaftlichen Tatsachen ausgibt, die über mein Leben hinweggehen, andererseits als »meine Welt«, als »die Welt«, die beim Tod aufhört (T 6.431) und als »die Welt« des Glücklichen eine andere ist als die Welt des Unglücklichen (6.43), ja sogar »eine glückliche Welt«. 1711 In der Verlegenheit dieses Widerspruchs streckt Wittgenstein die Waffen des Behauptens: »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.« (T 6.54) »Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.« (6.52; 6.521) Es ist ein sehr gefährlicher Optimismus, zu erwarten, dass die Probleme des Lebens und seiner Führung dadurch verschwinden, dass dem damit Beladenen versagt ist, sie zu äußern, indem er Fragen stellt und Antworten sucht. Nach Publikation der Logisch-philosophischen Abhandlung ist Wittgenstein der Problematik der Subjektivität auf der Spur geblieben, aber mit der Tendenz, sie durch Umdeutung los zu werden. 1712 Sein Grübeln gleicht bis aufs Beispiel dem Grübeln Fichtes,1291 indem er vergebens nach einem Merkmal sucht, wodurch sich meine Schmerzen als die meinigen von den Schmerzen anderer unterscheiden müssten. 1713 Ihm ist so zumute, als müsse der Gebrauch der ersten grammatischen Person des Singulars dem sprechenden Individuum ein Merkmal anheften, das an objektiven Tatsachen abzulesen wäre, aber er kann keines finden, natürlich nicht, weil sich aus keiner objektiven Tatsache ergibt, dass es sich um mich handelt. Sein Fehler gleicht dem von Kant im Paralogismenkapitel der KrV (35.3.4), die nicht-pronominale Bedeutung dieser ersten Person (z. B. des Wortes »Ich«) in einer Information über das benannte Individuum zu suchen, statt in einer Information über die spezifische Tatsächlichkeit der behaupteten Tatsache (entsprechend die Sachverhaltlichkeit des untatsächlichen Sachverhaltes, die Programmheit des Programmes,

1711 1712 1713

I 172 (ebd. 19. 07. 1916). Das Nähere darüber: wie Anm. 1595, S. 367–381. II 91 (Philosophische Bemerkungen § 61).

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die Problemheit des Problems). Die Strategie der Wegdeutungsversuche Wittgensteins ist teils konventionalistisch, teils expressionistisch. Die erste macht aus dem Sinn von »ich« eine praktisch nützliche Konvention, die Wittgenstein mit dem König im Schachspiel vergleicht, einer beliebigen Holzfigur, die so genannt wird, damit man Schach spielen kann. Aber das Bekenntnis »Ich habe Zahnschmerzen« ist ganz etwas anderes als eine konventionelle Rollenübung, z. B. aus Höflichkeit. Der expressionistische Wegdeutungsversuch setzt das Bekenntnis »Ich habe Schmerzen« einer spontanen Ausdrucksbewegung, dem Stöhnen, gleich, im Gegensatz zu der Feststellung über einen anderen: »Er hat Schmerzen.« Das ist unhaltbar: erstens, weil man von sich genauso gut im Ernstfall wie beim Fehlen der entsprechenden Tatsache sprechen kann, während das Stöhnen spontan sein muss, um echt zu klingen; zweitens, weil die Behauptung einer Zuwendung zu sich bedarf, die Ausdrucksbewegung aber nicht; drittens, weil die Behauptung zur Begründung (z. B., mit der Arbeit aufzuhören) dienen kann, während das Stöhnen oder eine andere Ausdrucksbewegung im Allgemeinen, wenn die Umstände nicht besonders klar sind, erst nach einer Tatsache suchen lässt, die dann zur Begründung angeführt werden könnte. Die subjektiven Tatsachen des leiblich-affektiven Betroffenseins, für die Wittgenstein immer nur das simple und grobe Beispiel des Schmerzes hat, können also nicht ausgeräumt werden, und eine Kenntnisnahme, einschließlich des Wissens, kann es von ihnen genauso gut geben, wie von irgendwelchen anderen Tatsachen. Damit will sich Wittgenstein aber noch in seinem Spätwerk nicht abfinden: »Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im Spaß), ich wisse, dass ich Schmerzen habe. Was soll es denn heißen – außer etwa, dass ich Schmerzen habe«? 1714 Aber erstens kann man sehr wohl Schmerzen haben, ohne es zu wissen, etwa, wenn man gerade aus der Betäubung aufwacht, und zweitens kann jemand, dem man seine heftigen Schmerzen nicht glauben will, seine Position stärken, indem er nachdrücklich versichert: »Ich weiß nur zu gut, dass ich Schmerzen habe.« Er bezieht sich damit direkt nicht auf seinen Schmerz, sondern auf sein Wissen davon, und das eventuell so ernsthaft und echt, dass er die Zweifler überzeugt. Sehr bezeichnend für Wittgensteins Blickverengung auf die bloß objektiven Tatsachen ist

1714

I 357 (Philosophische Untersuchungen I § 246).

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Wittgenstein

sein Versuch, seine Leugnung mit dem vermeintlichen Bedarf nach einem Kriterium für Zuschreibung eines Schmerzes an jemand zu begründen: »Was heißt es denn: wissen, wer Schmerzen hat? Es heißt, z. B., wissen, welcher Mensch in diesem Zimmer Schmerzen hat: also, der dort sitzt, oder, der in dieser Ecke steht, der Lange mit den blonden Haaren dort, etc. – Worauf will ich hinaus? Darauf, dass es sehr verschiedene Kriterien der ›Identität‹ der Person gibt. Nun, welches ist es, das mich bestimmt, zu sagen, ›ich‹ habe Schmerzen? Gar keins.« 1715 Wittgenstein fahndet hier im Interesse seiner expressionistischen Wegdeutung (wieder einmal durch Vergleich mit dem Stöhnen) nach einer Fata Morgana, denn die subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins bedürfen keines Merkmals in ihrem Inhalt für die Zuschreibung an mich, weil diese Zuschreibung schon in der Eigenart ihrer Tatsächlichkeit (auch abgesehen vom Inhalt) enthalten ist. Wieder einmal ist Wittgenstein auf der falschen Fährte, den nicht-pronominalen Sinn von »ich« in der Angabe eines Merkmals des Sprechers und nicht der Tatsächlichkeit der Tatsache (oder Sachverhaltlichkeit des Sachverhaltes) zu suchen. Nicht nur das Wissen von dem, was ihn affektiv betroffen macht (z. B., dass er Schmerzen hat), sondern auch das Wissen von dem, was er denkt, versagt Wittgenstein dem Menschen. 1716 Man könnte das als sonderbaren Einfall eines Philosophen auf sich beruhen lassen, wenn nicht eine Sperre der Rechenschaft bei der Überschneidung beider Bereiche, des Denkens und des affektiven Betroffenseins, üble Folgen haben könnte. Wittgenstein will auch den Sinn der Redensart »Nur du kannst wissen, was du fühlst« umdeuten. 1717 Wenn du nur immer wissen könntest, was du fühlst! Ein großer Teil des unterschwelligen Leidens der modernen Menschen, namentlich der vom Zeitgeist begünstigten Ultrovertierten, 1718 besteht im Abreißen der Verbindung zwischen Besinnung und Betroffensein, wodurch sie gehindert werden, von den Gefühlen, von denen sie ergriffen sind, besonnene, reflektierte Kenntnis zu nehmen, und dann ist es oft wichtig (auch zur Vermeidung gesundheitlicher Katastrophen und I 407 (ebd. § 404). I 565 (Philosophische Untersuchungen, 2. Teil, Abteilung XI): »Ich kann sagen, was der Andere denkt, nicht was ich denke. Es ist richtig zu sagen ›Ich weiß, was du denkst‹, und falsch: ›Ich weiß, was ich denke.‹ (Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre.)«. 1717 I 564 (ebd.). 1718 Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 127 f. 1715 1716

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sozialer Missstände), das Wissen vom eigenen Denken und Fühlen, die kognitive Einstellung zu den betreffenden subjektiven Tatsachen, zu stärken, statt einen Schirm vor das eigene Wissen davon zu bauen.

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43.2.2 Der Singularismus Platons Ontologie ist elementaristisch, beruhend auf der Voraussetzung, dass alle Bestimmungen, wodurch etwas als etwas bestimmt wird, einzelne Sachen (Umstände, nicht Eigenschaften) sind; diesem Elementarismus entspricht seine linguistische Inventartheorie, wonach die Rede (Logos) in einer inventarisierenden Folge von Aufrufungen der zum Was eines Gegenstandsbereiches gehörigen Einzelheiten (mit der Aufzählung von Merkmalen in einer Definition als Leitbild) besteht (11.6.1). Aristoteles überwindet mit der Satztheorie in De interpretatione sowie mit seiner Kategorienlehre (abzüglich der pseudo-aristotelischen Schrift Kategorien) dieses altertümliche Sprachverständnis Platons von der Rede als gliedernder Aufzählung des Was (12.2). Er versteht die Aussage nicht mehr, wie Platon, als Abbildung, sondern als Antwort auf eine Frage. 1719 Das Erstaunliche an der Ontologie und Sprachtheorie, die Wittgenstein in den ersten vier Kapiteln seiner Logisch-philosophischen Abhandlung aufstellt, besteht darin, dass er mit harter dogmatischer Festsetzung ohne Begründung hinter Aristoteles zu Platon zurückkehrt, dessen linguistische Inventartheorie er nur dadurch verfeinert, dass er statt bloßer Aufzählung ein strukturiertes Inventar, eine Konfiguration, verlangt. Andererseits geht er über Platon hinaus, indem er dessen Elementarismus zum Singularismus verschärft, wonach alles ohne weiteres einzeln ist, nicht nur jede Bestimmung von etwas als etwas; Platon verhielt sich gegen diese Verschärfung reserviert (33.3). Sicherlich hat Wittgenstein im Grundsatzstreit der beiden antiken Koryphäen nicht absichtlich Partei genommen; es hat ihn instinktiv auf eine Seite gezogen. Ich will das nun belegen. Dabei unterlasse ich den hier überflüssigen Zusatz von »T« zu den Sentenzennummern des Traktats. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge (1.1) 1719

Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Band I Teil 2, Bonn 1985, S. 104–

108.

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und zerfällt in Tatsachen (1.2). Die Tatsache ist das Bestehen von Sachverhalten (2), der Sachverhalt eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen) (2.04). Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt (2.0277). Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt (2.04). Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Darum können sie nicht zusammengesetzt sein. (2.021) Der Gegenstand ist einfach (2.02). Wittgenstein argumentiert hier wie Kant für die Thesis der 2. Antinomie und mit dessen Substanzbegriff, s. o. 35.3.4. Im Sachverhalt hängen die Gegenstände in einander, wie Glieder einer Kette (2.03). Einfache, mit einander verkettete Gegenstände bilden nach Wittgenstein in Konfigurationen die Sachverhalte. Die Struktur der Tatsache, die das Bestehen von Sachverhalten ist (2), besteht aus den Strukturen der Sachverhalte (2.034). Wir machen uns Bilder der Tatsachen (2.1). Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes (2.13). Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke (3); dessen sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck ist der Satz (3.1), d. h. das Satzzeichen in projektiver Beziehung zur Welt (3.12). In der Schrift sieht es ähnlich wie ein Wort aus, aber das täuscht (3.143), denn es ist eine Tatsache (3.14), und das wird klar, wenn man sich vorstellt, es sei nicht aus Wörtern, sondern z. B. aus Tischen, Stühlen und Büchern zusammengesetzt; die gegenseitige räumliche Lage dieser Dinge würde dann den Sinn des Satzes ausdrücken (3.1431). Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding, und unter einander sind sie so verbunden, dass das Ganze wie ein lebendes Bild den Sachverhalt vorstellt (4.0311). Sätze sind für Wittgenstein also komplexe Verhältnisse vor der Aufspaltung in gerichtete Relationen (35.3.2), und zwar Verhältnisse, die durch eine Projektion (isomorphe Abbildung) die Struktur von Sachverhalten oder Tatsachen getreu wiedergeben und daher selbst Tatsachen sind. Die allgemeine Regel, die Struktur der isomorphen Abbildung, ist das Gesetz der Projektion (4.0141) wie bei der Grammophonplatte oder der Notenschrift (4.014); Wittgenstein übernimmt hier (unwissentlich?) den Repräsentationsbegriff von Leibniz977 für die abbildende Beziehung, »die zwischen Sprache und Welt besteht« (4.014). Der Konfiguration der einzelnen Zeichen im Satzzeichen entspricht die Konfiguration der Gegenstände in der Sachlage (3.21). Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist. (3.221) Wittgenstein reproduziert damit (wohl unwissentlich) die 581

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Theorie der Urelemente aus dem sogenannten Traum des Sokrates in Platons Theätet 201d8–202c5 (11.2.1). 1720 Der wahre Satz (2.21; 2.222) ist für Wittgenstein also die treue Abbildung einer Tatsache durch ein strukturiertes Inventar; in ihm muss gerade so viel zu unterscheiden sein, wie an der Sachlage, die er darstellt (4.04). Offenbar unterschätzt Wittgenstein die Varianz der Satzform; die explizite Darstellung »Regen fällt« ist ohne Verlust an Sinn eingerollt in das Impersonale »Es regnet« (im Griechischen geht es sogar ohne Analogon von »es«). Sachlage und Satz stehen sich nach Wittgenstein in genauer Passung gegenüber wie Stempel und Abdruck, vermittelt durch die gemeinsame Form; diese kann nicht mit abgedrückt werden, und so kommt Wittgenstein zu der für seine erkenntnistheoretische Resignation maßgeblichen Überzeugung von den Grenzen der Sprache: »Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie darstellen zu können – die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müssten wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt.« (4.12) »Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen.« (5.61) Die Kombination des Singularismus mit dem platonischen Elementarismus einschließlich der Inventartheorie der Sprache führt Wittgenstein so über eine vermeintliche Unzulänglichkeit der sprachlichen Darstellung (bezüglich der logischen Form) wegen der unterstellten Isomorphie der Darstellung mit dem Dargestellten zur Annahme einer entsprechenden Unzulänglichkeit der dargestellten Tatsachen und ihrer Gesamtheit, der Welt: »Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.« (6.432) »Die Tatsachen gehören alle zur Aufgabe, nicht zur Lösung« (6.432) Damit schwenkt die Sprachanalyse der Logisch-philosophischen Abhandlung ein in die Bahn der rezessiven Entfremdung der Subjektivität, die eine Unzulänglichkeit der Welt darin gefunden hatte, dass das Subjekt in der Welt nicht zu entdecken ist und sie daher mich mit meinen Lebensproblemen allein lässt. Beide Stränge der Argumentation vereinigen

Sokrates berichtet die Theorie als Traum an Stelle eines Traumes, weil ihm so zumute ist, als habe er sie gehört. Platon verschleiert mit dieser distanzierenden Einführung seinen innerakademischen Streit mit den extrem elementaristischen, die Ideen radikal isolierenden Ideenfreunden (s. o. 11.2.1).

1720

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sich in der These: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522) Nach der Logisch-philosophischen Abhandlung hat Wittgenstein den platonischen Elementarismus einschließlich der Inventartheorie der Sprache (besser: der Rede) aufgegeben, den Singularismus aber festgehalten. Das zeigt ein Lieblings-Topos seines späteren Philosophierens, das Paradox der Regelbefolgung. 1721 Wittgenstein will nicht glauben, dass ein für unbestimmt häufige Wiederholung aufgegebenes (unbegrenzter Wiederholung der Ausführung fähiges) Programm, eine Regel, durch eine anfangs auf den Weg gegebene Vorschrift unmissverständlich ausgedrückt werden könnte, so dass Abweichungen von der Vorschrift dem Beauftragten einleuchten müssten. Der Grund seines Zweifels besteht in der Annahme, dass die allgemeine Regel aus lauter einzelnen Vorschriften für jeden Schritt gebildet sein müsse und für so viele Einzelvorschriften bei Menschen keine Kapazität vorhanden sei. Er überträgt also die singularistische Maxime, dass alles ohne weiteres einzeln ist, von den Sachen (im gewöhnlichen Sinn) auf die Normen (die Programme für möglichen Gehorsam) und opponiert auf dieser Grundlage gegen die Regeln wie die Nominalisten – oder besser die Singularisten wie Wilhelm von Ockham – gegen die Universalien. Nach dem, was unter 21.1 und 29.1 gegen den Singularismus gesagt worden ist, erübrigt sich eine Widerlegung. Im Gegenteil gehen Regeln, oder wenigstens Programme mit unbestimmt häufiger Anwendbarkeit (etwa Wünsche), im Bewusstsein des Kindes den Normen (d. h. Programmen für möglichen Gehorsam), die keine Regeln (sondern nur einmal oder eine bestimmt begrenzte Zahl von Malen anwendbar) sind, sicherlich voraus; denn dem Säugling ist zwar Identisches (schon durch die primitive Gegenwart, 35.3.3), nicht aber Einzelnes (das eine Anzahl um 1 vermehrt) zugänglich, weil sich ihm die Situationen mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit, in denen er erlebt, noch nicht durch Explikation einzelner Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aufgespalten haben und er daher noch nicht in der Lage ist, etwas als Fall von etwas zu erfassen und dadurch die Identität zur Einzelheit zu bereichern. Wittgenstein fehlt es in diesem Zusammenhang an genügend scharfen Begriffen, z. B. für Bedeutung und Regel. Ein Beleg dafür ist folgende Äußerung: »Die Bedeutung der Regel erraten, sie intui1721

Das Nähere darüber: wie Anm. 1595, S. 382–392.

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tiv zu erfassen, könnte doch nur heißen: ihre Anwendung erraten. Und das kann nicht heißen: die Art, die Regel ihrer Anwendung erraten. Und vom Erraten ist hier überhaupt keine Rede.« 1722 Eine Regel hat keine Bedeutung (außer zufällig durch eine ihr hintergründig, z. B. durch Aberglauben, aufgeladene Bedeutsamkeit) sondern ist eine Bedeutung, die intuitiv erfasst wird, d. h. das Verhalten führt, ohne dass beim Könner eine Spur eines Problems auftauchte, einer weiteren Regel ihrer Anwendung habhaft zu werden, gar noch diese zu erraten. Zeugnis dafür gibt das Sprechen, das treffsicher Sätze, d. h. Regeln oder Rezepte für die Darstellung von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen, gemäß der jeweiligen Darstellungsabsicht aus der Sprache durch den sprechenden Gehorsam selbst herausgreift, nicht durch Auswählen einzelner Sätze, denen dann erst das Sprechen folgte. Diese intuitive Erfassung von Regeln nennt man: eine Sprache sprechen können. Wittgenstein ist sich offenbar nicht klar über das Verhältnis von Sprache und Sprechen. Das zeigt sich an seiner Gebrauchstheorie: »Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung!« 1723 »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« 1724 Wittgenstein verwechselt Sprache und Rede. Gebrauch gibt es nicht in der Sprache, sondern von der Sprache für die Rede. Die jeweilige Sprache ist ein Regelsystem, nämlich eine Situation mit diffus chaotisch-mannigfaltiger (39.1) Bedeutsamkeit aus Regeln, nämlich Sätzen. Von ihnen macht man Gebrauch, indem man satzförmig redet, und mit ihnen treibt man Missbrauch, wenn der sprechende Gehorsam Fehler aufweist, die der Sprecher spätestens dann zu korrigieren sucht, wenn die von ihm gewünschte Verständigung in der Sprache daran scheitert. In der Sprache wird nicht gesprochen und daher nichts gebraucht; mit der Sprache wird geredet, und diese Rede wird zu allerlei Zwecken, u. a. zur Verständigung mit anderen, gebraucht. Die Bedeutung von Worten und anderen sprachlichen Ausdrücken gehört zur Sprache, nicht zur Rede, und hat daher mit Gebrauch nichts zu tun. 1725 Wohl kann man, wenn man die Sprache kennen VII 294 (Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band II, § 409). I 413 (Philosophische Untersuchungen I § 421). 1724 I 262 (ebd. § 43). 1725 Die entsprechenden Definitionen stehen in meinem Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (Bonn 1994) auf S. 234. 1722 1723

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lernen will, ihr System aus dem beobachteten Gebrauch in der Rede erschließen, aber der Könner, der die Sprache gelernt hat oder von Kind auf in sie hineingewachsen ist, hat das nicht nötig, sondern er ist entweder in sie als Muttersprache mit seiner persönlichen Situation eingepflanzt (implantiert) oder er kann in diese Situation leicht hineinschlüpfen, wenn er eine Fremdsprache beherrscht. Wittgenstein spricht selbst von Situationen, die das menschliche Verhalten leiten, aber ihm als radikalem Singularisten fällt dazu nichts ein als Konstellationen, Vernetzungen einzelner Faktoren, sogenannte Sprachspiele nach dem Muster des Schach- oder Fußballspiels, d. h. von Verhaltenssequenzen, die in lauter einzelne Schritte gegliedert sind. 1726 Deswegen steht er nicht ohne Sensibilität, aber ohne theoretisches Verständnis vor einer ganz besonders wichtigen und für menschliches Leben und Überleben beständig unentbehrlichen Klasse von Situationen, den vielsagenden Eindrücken oder impressiven Situationen, d. h. solchen, deren ganzheitlich-binnendiffuse Bedeutsamkeit mit einem Schlage ganz zum Vorschein kommt, ohne ihre chaotisch-mannigfaltige Diffusion zu verlieren. Ein gutes Beispiel sind die zu sofortiger Bewältigung anstehenden Gefahren, z. B. des Autofahrers auf nasser, dicht befahrener Straße, der einem drohenden Unfall durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen nur entgeht, weil er die binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten (der Straßenlage), Problemen (des drohenden Unfalls und der bei Ausweichen hinzukommenden möglichen weiteren Unfälle) und Programmen (möglicher Rettung) mit einem Schlage erfasst und auch schon zweckmäßig beantwortet, ohne die relevanten Bedeutungen (außer wenigen) einzeln herauszuholen; dann wäre das Unglück nämlich längst geschehen. Sowohl die Motorik als auch die Sensibilität des Menschen (erst recht des Tieres) ist im Wesentlichen ein Umgang mit vielsagenden Eindrücken; 1727 Wittgenstein thematisiert diese nur bei der Sensibilität, etwa so: »›Dies Gesicht hat einen Zum Schachspiel vgl. I 386 (Philosophische Untersuchungen I § 337) Zum Fußballspiel: »Dyson erinnert sich einer Geschichte Wittgensteins, die recht interessant ist: Als Wittgenstein eines Tages an einem Platz vorbeikam, auf dem gerade Fußball gespielt wurde, sei ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass wir in der Sprache Spiele mit Wörtern spielen. Ein zentraler Gedanke seiner Philosophie, der Begriff des ›Sprachspiels‹, hat offenbar in dieser Begegnung seinen Ursprung.« (Norman Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1987, S. 89 f.). 1727 Vgl. Hermann Schmitz, Hermeneutik leiblicher Expressivität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 339–347. 1726

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ganz bestimmten Charakter‹ – heißt eigentlich: es ließe sich viel darüber sagen. – Wann sagt man dies? Was berechtigt einen dazu? Ist es eine bestimmte Erfahrung? Weiß man schon, was man sagen wird; hat man sich’s schon im Stillen vorgesagt? Ist die Situation nicht ähnlich wie die: Jetzt weiß ich weiter!« 1728 Diese Fragen, mit denen Wittgenstein den vielsagenden Eindruck eines menschlichen Gesichtes anfechten will, verraten einen eingefleischten oder in der Wolle gefärbten Singularisten, der die unwillkürliche Erfahrung nicht einfach so, wie sie sich gibt, gelten lassen will, sondern einzelne Explikate und Rechtfertigungsgründe sucht, die sozusagen Stück für Stück auf den Tisch gelegt werden können. In Wirklichkeit geht man mit vielsagenden Eindrücken andauernd um, auch ohne das geringste Bedürfnis, etwas von dem Vielen, das sie zu sagen haben, herauszuholen; man weiß dann zwar weiter (z. B. in der akuten Gefahr, oder im Umgang mit Menschen), aber ohne den Ruck, der in der Feststellung »Jetzt weiß ich weiter« signalisiert wird, vielmehr im geläufigen, glatten oder kämpferischen Umgang leiblicher Kommunikation mit antagonistischer oder solidarischer Einleibung. 1729

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43.2.3 Gegen die Introjektion Am Kampf gegen die Introjektion beteiligt sich Wittgenstein mit allerlei treffenden Einwänden gegen die »gewöhnliche verbreitete Denkkrankheit, hinter allen Handlungen der Menschen Zustände der Seele zu vermuten, aus denen die Handlungen entspringen«, 1730 auch mit Witz. 1731 Er überzieht aber den Angriff, indem er zwar nicht die ganz privaten und intimen Erlebnisse, wohl aber ihre sprachliche Zugänglichkeit bestreitet, weil dazu eine Privatsprache gehören würde, die kein anderer als der Betroffene verstehen könnte; 1732 bei solcher Flucht aus der gemeinsamen Sprache gelange man »dahin, wo man nur noch einen unartikulierten Laut aussprechen möchte«, 1733 VII 102 (Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I § 505). Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 34–43: Leibliche Kommunikation. 1730 V 216 (Das Braune Buch, § 133); Näheres wie Anm. 1595, S. 414 f. 1731 I 419 (Philosophische Untersuchungen I § 442): »›Der Knall war nicht so laut, wie ich erwartet hatte.‹ – ›Hat es etwa in deiner Erwartung lauter geknallt?‹«. 1732 I 356 (ebd. § 243). 1733 I 363 (ebd. § 261). 1728 1729

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und es gäbe dann für die Richtigkeit des Sprachgebrauches in der Privatsprache kein Kriterium, weil sich der Privatsprecher dafür nur auf seine eigene Erinnerung verlassen, diese aber nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen könnte. 1734 Das alles ist falsch. Sicherlich gibt es Erlebnisse, die der Betroffene allem Anschein nach mit niemand teilt und doch sprachlich festhalten kann, z. B. bei Epileptikern und Ekstatikern wie bei der Entrückung des Paulus in den dritten Himmel; 1735 dazu ist aber keine Privatsprache erforderlich, die ein anderer nicht verstehen könnte. Wittgenstein jongliert hier äquivok mit zwei Bedeutungen der Redewendung »eine Sprache verstehen«. Damit kann gemeint sein: das, wovon beim Reden in dieser Sprache gesprochen wird, direkt vor Augen haben (im übertragenen Sinn von »Augen«); das ist dann allerdings ausgeschlossen, aber zur sprachlichen Verständigung mit anderen keineswegs erforderlich. Eine Sprache verstehen, kann nämlich auch meinen: in ihr genügend allgemeine Gattungen vorfinden, unter die das jeweils Besprochene subsumiert werden kann, so dass über diese Subsumtion Verständigung erzielt wird. In diesem Sinn kann der Blinde eine Farben betreffende Sprache verstehen, und nichts spricht dagegen, so auch mit ganz singulären Erfahrungen zu verfahren. Zu deren sprachlicher Erfassung gehört dann keinerlei Privatsprache, sondern es genügt die gemeinsame Sprache mit einer Ergänzung, die, wenn sie geschickt und feinfühlig gewählt wird, eine schätzenswerte Bereicherung dieser Sprache sein kann, alles andere als ein unartikulierter Laut. Auch Wittgensteins Sorge um ein Kriterium für die Richtigkeit der Sprachverwendung ist unberechtigt. Er begründet sein Bedenken mit der fragwürdigen Zuverlässigkeit der Erinnerung. Für die Richtigkeit der Rede kommt es aber nicht auf zeitlichen Zusammenhang an, sondern nur auf gelingenden Gehorsam des Redens gegen Sätze der gerade verfügbaren Sprache. Wenn diese ohne Vorbereitung gleichsam vom Himmel fiele, wie etwa bei spiritistischen Séancen – wenn Medien plötzlich in einer noch nie gehörten Sprache zu reden anfangen – oder bei pfingstlichen Ereignissen geschehen könnte, wäre die Grenze zwischen sprachlich korrektem und unkorrektem Verhalten eventuell genauso scharf gezogen wie bei Verwendung einer längst etablierten Sprache. Das Gespenst einer Privatsprache hat also kein Recht, sich

1734 1735

I 362 (ebd. § 258). 2. Korinther 12, 2.

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zwischen ganz intime und private Erlebnisse und die sprachlich geleitete, besonnene Reflexion zu schieben. Wittgenstein belastet unnötig die Privatheit im Sinne der Unzugänglichkeit für direkte Erfahrung anderer, die man dem Erleben der Menschen gönnen sollte – schon bei so banalen Vorkommnissen wie dem Kopfrechnen und geheimen Absichten, womit er Schwierigkeiten hat 1736 – mit dem unnötigen Gewicht einer Privatsprache, das sie der Rechenschaft im Gespräch mit verständigen Normalsprachlern und damit der rational sensiblen Beleuchtung, aber auch der Dichtersprache, entzieht. So könnte die gute Absicht, die Kruste des Psychologismus und der Introjektion in der seit Demokrit dominanten Vergegenständlichungsweise der europäischen Intellektualkultur aufzubrechen, in einen Beitrag zur Verrohung menschlichen Erlebens durch Mangel an Pflege mit der gemeinsamen Sprache entgleisen. Durch diese Übertreibung wirft die rezessive Entfremdung der Subjektivität lange Schatten in Wittgensteins Spätwerk. Der frühe Wittgenstein versteckt die Subjektivität ins Unsagbare hinter der unübersteigbaren Mauer der Sätze der Naturwissenschaft; der späte versteckt sie hinter der Mauer der Konvention der Sprachspiele und sonstigen Lebensformen. Deren Hervorhebung könnte ein Gewinn sein, wenn er die Situationen nicht in Konstellationen verkehrte (43.2.2). Das Verstecken hinter objektiven Tatsachen der Wissenschaft oder hinter Konventionen entrückt die Subjektivität ins Niemandsland rezessiver Entfremdung.

43.3 Logischer Positivismus 43.3.1 Frege Frege ist der Erste, der eine vernünftige Überlegung über das Wesen der Zahl angebahnt und ganz wesentlich gefördert hat. Bis zu ihm war der Umgang der Philosophen und Mathematiker mit diesem Thema beschämend naiv; man unterbot die nötige Abstraktionsstufe, indem man Mengen, die Zahlen haben, so behandelte, als ob sie selbst die Zahlen seien, und erfasste nie – abgesehen von einer Andeutung bei Hume 1737 – die umkehrbar eindeutige Abbildung als 1736 1737

I 396 (Philosophische Untersuchungen I § 366); I 568 (ebd. II, Abteilung XI). Ein Traktat über die menschliche Natur, übersetzt von Theodor Lipps (s. o.

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Brücke vom Zählen zur Zahl. Freges Schriften sind voll von sarkastischem Spott gegen große und weniger bedeutende Mathematiker seiner Zeit um der Gedankenlosigkeit ihrer Einführung der Zahl in die Zahlentheorie willen. Ich will seinen Fortschritt an Äußerungen von Kant und Cantor verdeutlichen. Kant: »Also ist die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch, dass ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.« 1738 Cantor: »Unter einer ›Menge‹ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente der Menge genannt werden) zu einem Ganzen.« 1739 »Da aus jedem einzelnen Elemente, wenn man von seiner Beschaffenheit absieht, eine ›Eins‹ wird, so ist die Kardinalzahl M selbst eine bestimmte aus lauter Einsen zusammengesetzte Menge, die als intellektuelles Abbild oder Projektion der gegebenen Menge M in unserem Geiste Existenz hat.« 1740 Der übereinstimmende Fehler beider Autoren besteht darin, dass für Menge bzw. Zahl eine Verbindung zwischen den Elementen angenommen wird, für die es weder im einen noch im anderen Fall eine Grundlage gibt; zugrunde liegt die Verwechslung der Sache mit einer Operation, die häufig, aber nicht notwendig, an der Ermittlung oder mehr oder weniger anschaulichen Vergegenwärtigung der Sache beteiligt ist. Im Fall der Zahl ist es das Zählen, wofür man Zeit braucht; dadurch entsteht die Verknüpfung von Zahl und Zeit bei Kant, der höchst sonderbar obendrein glaubt, dass er die Zeit beim Zählen erzeuge. Cantors Zahldefinition krankt an der phantastischen Vorstellung, dass durch bloßes Absehen von der Beschaffenheit aus einer Sache eine andere, zur Eins verdünnte Sache werden könne, als ob gegen das Votum des Aristoteles und Duns Scotus1662 das AbstraAnm. 1135) Buch I Teil 3 Abschnitt 1, S. 96 f.: »Wenn zwei Zahlen so zusammengeordnet werden können, dass immer eine Einheit der einen einer Einheit der anderen entspricht, so nennen wir sie gleich.« Auch Hume hängt also dem traditionellen Fehler an, verschiedene Mengen als gleiche Zahlen statt als zwei Mengen mit derselben Anzahl zu behandeln. 1738 Kritik der reinen Vernunft A142 f. B182. 1739 Georg Cantor, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, hg. v. Ernst Zermelo, Berlin 1932, Nachdruck 1980, S. 282 (Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre 1). 1740 Ebd. S. 283.

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hieren doch ein Lügen sei. Frege hat das Verdienst, die Verwechslung von Sache und Operation und den Gedanken einer Verbindung von Elementen aus beiden Begriffen entfernt zu haben. Die Zahl ist weder das Zählen noch entsteht sie dadurch, sondern sie ist das, was die Welt dem Denken so entgegenbringt, dass Zählen möglich wird: die Zählbarkeit einer Menge. Diese besteht in der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung im Verhältnis zwischen der Menge und einer Zählmenge, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese den Voroder Nachbereich des Verhältnisses bildet. Demgemäß lautet die Formel für einen natürlichen Zahlbegriff: Zahl einer Menge M ist die Eignung einer beliebigen Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden. 1741 Da es sich um eine symmetrische und transitive Äquivalenzrelation handelt, 1742 besitzt jede Menge gemäß der Definition höchstens eine Zahl, und, da jede Menge auf sich selbst so abgebildet werden kann, auch mindestens eine; jede Menge besitzt also genau eine Zahl, wodurch sie zählbar wird. Eine weitere Aufgabe besteht darin, für jede Menge unter allen Zahlen ihre bestimmte Zahl auszusuchen. Zu diesem Zweck muss man eine Zählmenge auszeichnen. Die Wahl ist beliebig; im Alltag nimmt man gewöhnlich eine Reihe von Zahlwörtern. Wenn man eine für alle Fälle ausreichende, sowohl natürliche Zahlen als auch transfinite Kardinalzahlen umfassende und zudem von empirischen Zufällen unabhängige Skala sucht, bietet sich die Reihe an, die man sich so gebildet denken kann, dass, von der leeren Menge ausgehend, als nächstes Glied immer die Menge aller schon aufgenommenen Mengen – auch wenn es unendlich viele sind – hinzugenommen wird. Diese Klasse 1743 erzeugt aus der leeren Menge – dem Umfang einer durch nichts erfüllbaren Bedingung – Repräsentanten aller natürlichen und transfiniten Zahlen. Mit Rücksicht auf diese Zählklasse W 1744 kann die Definition so verfeinert werden, dass die AnIch habe diese Definition 1964 aufgestellt (System der Philosophie Band I S. 288). Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 1 S. 487–495. (Es ist üblich, aber überflüssig, zusätzlich zur Symmetrie und Transitivität auch noch Reflexivität zu fordern.). 1743 Mit Rücksicht auf die Antinomien der Mengenlehre spricht man hier lieber von einer Klasse als von einer Menge. Während jede Menge ihre Zahl hat, ist diese Klasse zahllos. 1744 Johann v. Neumann wollte mit dieser Konstruktion den Zahlbegriff ersetzen und hat dafür aus technischen Gründen mathematischer Vereinfachung breite Zustimmung gefunden (vgl. Arnold Oberschelp, Allgemeine Mengenlehre, Mannheim 1994, S. 174), doch ist so für einen natürlichen Zahlbegriff nichts zu gewinnen. 1741 1742

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zahl einer Menge M die Eignung einer beliebigen Menge dazu ist, sowohl auf M als auch auf ein Element von W umkehrbar eindeutig abgebildet zu werden; nach dem Gesagten1742 kommt dafür immer nur ein einziges in Frage, dessen Platz in W die Stelle der Zahl von M in der Reihe der natürlichen Zahlen oder transfiniten Ordnungszahlen ist. Die Zahl 1 ist dann die Eignung einer beliebigen Menge dazu, auf den unmittelbaren Nachfolger der leeren Menge in der nach aufsteigender Größe geordneten Klasse W umkehrbar eindeutig abgebildet zu werden. So kann man präziser bestimmen, was es heißt, dass einzeln (numerisch Eines) ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt (wenn man nicht lieber gleichwertig sagen will: was Element einer endlichen Menge ist). Der Bezug auf die Zählklasse W ist aber nur ein konventioneller Behelf, die einzelnen Zahlen zu unterscheiden und jeder Menge die ihrige zuzuweisen. Grundlegend ist nur die erste Definition, und die ist so natürlich, dass sie in präzisierter Form das trifft, was der gemeine Mann meint, wenn er bis 3 zählt und sich dabei der Auswechselbarkeit beliebiger hinlänglich großer Zählmengen oder -klassen bewusst ist. Frege hat diese Definition durch ein extensionales Äquivalent vorbereitet, indem er als Zahl von M nicht die angegebene Eignung bestimmte, sondern die Klasse aller Mengen, die für M diese Eignung besitzen. Er drückt sich darüber – das Hauptresultat seiner Schrift Grundlagen der Arithmetik knapp zusammenfassend – so aus: »Ich habe in meinen Grundlagen § 68 den Begriff F dem Begriffe G gleichzahlig genannt, wenn es möglich ist, die unter F fallenden Gegenstände den unter G fallenden beiderseits eindeutig zuzuordnen und dann definiert: Die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, ist der Umfang des Begriffes ›Begriff gleichzahlig dem Begriff F‹.« 1745 Diese extensionale Auffassung passt zur mathematischen Denkweise, hat aber große Nachteile: Die betreffenden Begriffsumfänge sind so riesig, dass sie in den Sog der Cantor’schen Antinomie der Menge aller Mengen geraten, und niemand denkt an sie, wenn er bis 3 zählt. Frege wurde von den Antinomien zur Resignation veranlasst; er hielt schließlich seine Bemühungen um den Zahlbegriff für gescheitert. 1746 Das war voreilig, sofern es nur um einen einwandfreien, naNachgelassene Schriften, hg. v. Hermes, Kambartel, Kaulbach, 2. Aufl. Hamburg 1983, S. 81 (Über den Begriff der Zahl). 1746 Ebd. S. 224 und 282; Frege, Wissenschaftlicher Briefwechsel, Hamburg 1976, S. 269 f. (an Zsigmondi). 1745

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türlichen Zahlbegriff geht. Das intensionale Gegenstück, das ich angegeben habe, reicht aus und ist obendrein einfacher und fasslicher als Freges extensionale Definition der Zahl als Begriffsumfang. Ein zusätzliches Verdienst Freges besteht aber darin, dass er Mengen als Begriffsumfänge – ich sage lieber: Gattungsumfänge – einführt und damit den Gedanken an eine Verbindung der Elemente beiseite lässt, denn eine Menge kann aus unverbundenen Elementen so gut wie aus verbundenen bestehen oder mit einem einzigen oder gar keinem Element auskommen; dann kann von Verbindung erst recht keine Rede sein. Der Segen, den Frege dem Nachdenken über die Zahl eingetragen hat, wird leider aufgewogen durch den Fluch, den er für seine Missdeutung des Seins oder der Existenz verdient. Der Satz »Es gibt Julius Caesar« ist nach seinen Worten weder wahr noch falsch, sondern sinnlos. 1747 Der Existenzsatz, dass etwas ist, wird von Frege mit dem partikulären Satz identifiziert, dass mindestens eine Sache eine Eigenschaft besitzt oder Bedingung erfüllt (man sagt meist, weniger genau: einige Sachen), sowie mit der Eigenschaft eines Begriffes, dass sein Umfang nicht leer ist; Sein, Wirklichkeit kommt demnach nur uneigentlich dem Wirklichen zu, als Reflex einer Beschaffenheit des Umfanges eines Begriffes. Breit entwickelt Frege diese sehr künstliche Auffassung in seinem Dialog mit Pünjer. 1748 Er hat damit so großen Erfolg gehabt, dass man seine Umdeutung einen »Eckstein positivistischer Metaphysik« genannt hat 1749 und in der mathematischen Logik die Bezeichnung der partikulären Quantifikation als »Existenzquantor«, »Seinszeichen« (Hilbert) mit Übersetzung durch »Es gibt« selbstverständlich geworden ist. Das Fehlerhafte dieses Umgangs mit dem Sein kann man so einsehen: Wer als Wissenschaftler gelten will, hat schon zugegeben, dass einiges noch nicht ist. Andernfalls hätte er nämlich keine Gelegenheit, etwas zu lernen, d. h. ein Wissen zu erwerben, das er noch nicht hat. Wissenschaftler ist aber nur, wer seine Thesen nicht dogmatisch für bedingungslosen Glauben hinstellt, sondern bereit ist, sie zu prüfen und prüfen zu Kleine Schriften, hg. v. Ignacio Angellini, Darmstadt 1967, S. 174. Wie Anm. 1745, S. 60–75. 1749 Rainer W. Trapp, Analytische Ontologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 24: »Bergmann nennt mit Recht das Gelingen der Rekonstruktion des umgangssprachlichen Sinnes von ›existieren‹ durch den Existenzquantor einen ›Eckstein positivistischer Metaphysik‹.« Brands, wie Anm. 874, S. 161 verwirft jedes Hinausgehen über den »Existenzbegriff des partikulären Urteils« als »ontologischen Wildwuchs«. 1747 1748

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lassen, so dass er aus der Prüfung lernt, ob sie richtig oder falsch sind. Indem er sich dazu bereit macht, gibt er also zu, dass etwas noch nicht ist. Was noch nicht ist, ist nicht (z. B. das Ergebnis der betreffenden Prüfung). Dann gilt zwar, dass diese Sache nicht ist, und als logische Folge der partikuläre Satz, dass einiges (mindestens eine Sache) nicht ist, aber keineswegs der Satz, dass es etwas gibt, das nicht ist, denn das wäre nur eine andere Formulierung des Widerspruchs, dass es etwas gibt, das es nicht gibt. Also ist es falsch, den Existenzsatz auf den partikulären Satz zu reduzieren und in dem partikulären Quantor ein Seinszeichen sehen zu wollen. Ebensowenig ist der Umfang eines Begriffes leer, wenn er nur auf etwas zutrifft, das es nicht gibt. Ein Gegenbeispiel ist der Begriff der noch ausstehenden Prüfung der Thesen eines Wissenschaftlers. Existenz ist geradezu von der existierenden Sache, z. B. von Julius Caesar,1747 auszusagen, woraus aber keinesweg folgt, dass sie ein Attribut des Betreffenden (d. h. etwas, das dazu gehört, dass er Caesar ist) sei. 1750 Die Trivialisierung des Seins durch Frege ist eine Verführung zur Flachheit in der Philosophie. Ein weiteres bekanntes Lehrstück Freges ist die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn. 1751 Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, sofern er etwas bezeichnet, soll das Bezeichnete sein, der Sinn aber die »Art des Gegebenseins«. Was er meint, macht Frege einerseits am unterschiedlichen Sinn der Ausdrücke »Morgenstern« und »Abendstern« trotz identischer Bedeutung klar, andererseits am Sinn von Nebensätzen, die, wenn sie keinen Widerspruch zur logischen Folge haben, einen Sachverhalt darstellen, ohne Anspruch auf dessen Tatsächlichkeit zu erheben. In diesem zweiten Fall ist klar, dass es sich beim Sinn um einen (eventuell untatsächlichen) Sachverhalt handelt, den Frege »Gedanke« nennt. Diese Benennung ist nicht sehr glücklich, weil man von einem Gedanken erwartet, dass er gedacht wird, was für Sachverhalte nicht wesentlich ist. Auch für den ersten Fall, beim Sinn von Wörtern wie »Abendstern« und »Morgenstern«, kann die vage Rede von einer Art des Gegebenseins so präzisiert werden. Ich zeige das, indem ich die für Gattungen unter 21.1 gegebenen Bestimmungen genauer fasse. Der Sinn eines (kategorematischen) Wortes im Sinn von Frege ist eine Gattung (im weitesten Vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 20–32 und 35 f. (auch zu anderen Seiten des Seinsproblems). 1751 Wie Anm. 1747, S. 143–162: Über Sinn und Bedeutung. 1750

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Sinn). Zum Verständnis dafür, was eine Gattung im weitesten Sinn ist, wird die Form der (widerspruchsfreien und nicht mehrdeutigen) affirmativen partikulären Existenzaussage vorausgesetzt, die besagt, dass mindestens ein P ist, wobei für »P« irgendein Prädikat (z. B. »Mensch« oder »399 v. Chr. gestorbenes Individuum«) einzusetzen ist. A sei eine solche Aussage, und der davon dargestellte Sachverhalt – er braucht beileibe keine Tatsache zu sein – sei B. Dann ist B eine Gattung im weitesten Sinn. Eine Sache S (z. B. Sokrates) ist ein Fall von B, wenn die Aussage, dass S existiert, A zur logischen Folge hat (im Beispiel: dass mindestens ein Mensch ist, dass mindestens ein 399 v. Chr. gestorbenes Individuum ist). 1752 Ein Sachverhalt, wie ich das Wort verstehe, ist eine Fraglichkeit vor dem Sein (der Wirklichkeit) als entscheidender Instanz. Fraglichkeit ist das, was von der Sache her zur Möglichkeit des In-Frage-stellens gehört, unabhängig davon, ob jemand da ist, der fragen kann. Aussagen (Satzaussprüche), die Unsinn sind oder einen Widerspruch zur logischen Folge haben, stellen keine Sachverhalte dar: im ersten Fall nicht, weil man nicht versteht, was ausgesagt werden soll, und im zweiten Fall nicht, weil in der Aussage alles Ausgesagte auch wieder zurückgenommen wird (was man manchmal aber erst nach langer Prüfung erkennen kann). Auf die großen Verdienste Freges um die formale Logik, unter denen an erster Stelle seine Aufdeckung der Struktur des universellen Urteils stehen dürfte, brauche ich hier nicht einzugehen. Überflüssig ist aber die scharfe Trennung von Begriff (oder Funktion) und Gegenstand, worauf er in diesem Zusammenhang großen Wert legt. Solche ontologischen Trennwände sind konventionell. Man erkennt das an der Möglichkeit einer Sprache ohne Namen, die ebenso ausdrucksstark (zur Darstellung von Sachverhalten, Programmen und Problemen) wie die unsrige wäre, aber keine Gegenstände zu erwähnen gestattete, da sie mit Verben im Infinitiv, Adverbien, einem fein gesponnenen System von Adverbialsuffixen und logischen Zeichen Die Aussage, dass Sokrates existiert, hat zur logischen Folge (im unter 35.1 und 43.4.2 angegebenen Sinn), dass mindestens ein 399 v. Chr. gestorbenes Individuum existiert, weil andernfalls der Widerspruch entstünde, dass er dann gestorben und nicht gestorben ist; denn es ist eine Tatsache, dass er dann gestorben ist. Die kontrafaktische Annahme, dass er in diesem Jahr nicht gestorben ist, bleibt aber legitim, wenn damit ein Individuum gemeint ist, das sich von Sokrates nur durch das Todesdatum und die damit in Anbetracht der sonstigen Voraussetzungen über Sokrates unvermeidlich verbundenen Änderungen unterscheidet.

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der Satzverknüpfung auskäme (s. u. 43.4.3). Unsere Sprache steht am anderen Ende möglicher sprachlicher Ausdrucksformen, indem sie fast alles zu benennen und gegenständlich zu machen gestattet; nur die Synkategorematika machen Ausnahmen nötig. Wir brauchen uns dabei nicht zurückzuhalten, denn die Welt – frei nach Wittgenstein verstanden als alles, was der Fall ist, sein soll oder sein möge – kann sprachlich so oder so gleich gut oder schlecht dargestellt werden. Freges ontologische Trennwand arbeitet unnötig dem ontologischen Reduktionismus – dem sogenannten Rasiermesser Ockhams – zu, indem sie dazu verführt, mögliche Gegenstände zu streichen; damit handelt man sich nur Hemmungen und begriffliche Komplikationen (wegen erforderlicher Umdeutung) ohne sachlichen Erkenntniswert ein.

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43.3.2 Russell Frege ist ein Singularist, der den Gedanken eine Zusammensetzung aus elementaren Bestandteilen (»Gedankenbausteinen«) zuschreibt, die er schon 1881 Atomen in Molekülen vergleicht, entsprechend der Zusammensetzung des Satzes aus Satzteilen, z. B. Wörtern. 1753 Das ist eine Illusion; Sachverhalte sind mit den sie darstellenden Aussagen unvergleichbar und können gleich gut durch Aussagen von ganz verschiedener Struktur dargestellt werden, z. B. durch »Regen fällt« und »Es regnet«. (Im Griechischen geht es sogar ohne »Es«.) Den logischen Atomismus Freges hat Bertrand Russell zu einer Weltanschauung ausgebaut, 1754 die außer Mach’schen Elementen (flüchtigen Sinnesdaten, einschließlich der halluzinierten) nur noch Tatsachen in dem eigentümlichen Sinn gelten lässt, dass jeder Tatsache ein Paar kontradiktorischer Sätze entspricht, von denen die Tatsache den einen wahr, den anderen falsch macht. Das ist dunkel; ich weiß nicht, was das sein soll und ob es so etwas gibt, es sei denn, das Wie Anm. 1745, S. 19, 243, 275. Bertrand Russell: Die Philosophie des logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von J. Sinnreich, München 1979 (Deutscher Taschenbuch Verlag), S. 266: »Ein Ziel, das sich durch alles von mir Gesagte wie ein roter Faden zieht, ist die Rechtfertigung der Analyse, d. h. die Rechtfertigung des logischen Atomismus bzw. der Ansicht, dass man theoretisch, wenn auch nicht praktisch, zu den letzten Elementen gelangen kann, aus denen die Welt besteht, und dass diese eine Art von Realität besitzen, die sonst nichts besitzt.«.

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Sein selbst als Autorität. 1755 Die grundlegenden Inhalte unserer unwillkürlichen Lebenserfahrung, die bedeutsamen Situationen und unter denen die vielsagenden Eindrücke, kommen in der Welt von Russell nicht vor, und kaum ein Platz ist darin für die Subjektivität und die Intentionalität, die nur durch Zulassung untatsächlicher (auf Nichtseiendes bezüglicher) Sachverhalte sowie von Programmen und Problemen als Gegenständen eigener Art umgangen werden könnte. Russell scheint unmusikalisch gewesen zu sein; sonst wäre er wohl nicht auf die Idee gekommen, einen heraklitizistischen Fluss akustischer Sinnesdaten an die Stelle von identisch (trotz Transposition) wiederkehrenden Melodien und komplexeren Musikstücken zu setzen. Zwei Lehrstücke des Logikers Russell haben großen Einfluss ausgeübt und sind in einer Geschichte der Philosophie diskussionsbedürftig: die Eliminierung der bestimmten eindeutigen Kennzeichnungen und die Typentheorie zwecks Auflösung der mengentheoretischen und semantischen Antinomien. Eindeutige bestimmte Kennzeichnungen werden in der Rede am Gebrauch des bestimmten Artikels (»der, die, das«) erkennbar. Russell eliminiert sie, indem er ganze Sätze des Typs »Der Besitzer der Eigenschaft x besitzt die Eigenschaft y« ersetzt durch Sätze des Typs »Es gibt ein z, das x besitzt, und alle Gegenstände, die x besitzen, sind mit z identisch, und z besitzt y«. Dieses Verfahren liefert in der Form logisch äquivalente Gegenstücke und befreit die Logik in vielen Fällen von der Not der intensionalen Kontexte, in denen der Austausch eines Namens durch einen anderen Namen derselben Sache für wahre Prämissen einen falschen Schlusssatz liefert. 1756 Dennoch ist der Vorschlag teils falsch, teils unzulänglich, wie ich nun zeigen will. Das Falsche besteht in der Einführung der Existenz in die Elimination. Russell begründet sie mit dem Erfordernis, eine Verletzung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten zu vermeiden, die sonst für den Satz »Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahlköpfig« entstünde, weil er ebenso wie sein Negat falsch ist. Dieses Paradox löst er durch die Annahme, dass dieses Negat gar nicht das echte kontradiktorische Gegenteil sei, da es ebenso wie das zitierte Affirmat die falsche Voraussetzung der Existenz eines gegenwärtigen KöHermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 63–74. Vgl. z. B.: »Elektra weiß nicht, dass dieser Verhüllte ihr Bruder ist. Dieser Verhüllte aber ist Orestes. Also weiß Elektra nicht, dass Orestes ihr Bruder ist.«.

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nigs von Frankreich, die erst bei der Ersetzung ersichtlich werde, enthalte. Diese Begründung ist nicht stichhaltig. Die implizite Voraussetzung, durch deren Verschweigen der Schein einer Verletzung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten entsteht, betrifft nicht die Existenz, sondern die Identifizierbarkeit. Der bestimmte Artikel vor »König« suggeriert diese, aber sie ist nicht vorhanden, weil jeder Anhaltspunkt für die Auszeichnung eines solchen Individuums fehlt. Sobald er etwa durch die Formulierung »Der gegenwärtige König von Frankreich, den ich mir gerade vorstelle« gegeben wird, verschwindet das Paradox, denn jetzt entscheidet sich die Wahrheit des Satzes daran, ob ich ihn mir als kahlköpfig vorstelle; deswegen gibt es ihn noch lange nicht. Bestimmte eindeutige Kennzeichnungen gibt es für Nichtseiendes so gut wie für Seiendes; ein Beispiel wurde vorhin angegeben: die noch ausstehende Prüfung der These eines Wissenschaftlers. Die Russell’sche Formulierung des Ersatzes für die eliminierte Kennzeichnung muss also so umgeformt werden, dass an die Stelle einer Existenzbehauptung (»Es gibt ein z, das x besitzt« usw.) eine partikuläre Behauptung (»Mindestens ein z besitzt x« usw.) tritt. Unzulänglich ist die Elimination, weil die bestimmten eindeutigen Kennzeichnungen nicht entbehrt werden können, um die Subsumtion als Fall einer Gattung, wodurch das Identische zum Einzelnen ergänzt wird, an das Identische anzuknüpfen. Identität, die undefinierbar ist, geht der Einzelheit voraus; sie gehört schon zu jedem routinierten Umgang mit etwas, der vor Verwechslung geschützt ist (z. B. des Gehens mit Armen und Beinen, des Sprechens mit der Sprache) und wird durch Bestimmtheit als Fall von etwas ergänzt zur Einzelheit, eine Anzahl um 1 zu vermehren, d. h. Element einer endlichen Menge zu sein. 1757 Die für die Bestimmtheit nötigen Bestimmungen, d. h. Gattungen im weitesten Sinn, müssen aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit expliziert werden (21.1; 29.1). Damit das Identische durch Bestimmtheit an sie geknüpft werden kann, muss es aufgegriffen werden, und das kann unsprachlich geschehen; die sprachliche Form dieses Aufgreifens besteht aber in den unbestimmten eindeutigen Kennzeichnungen, wie »dieses«, »hier«, »dort«, »jetzt«, »ich«. Die bestimmte eindeutige Kennzeichnung durch eine Eigenschaft vermittelt zwischen der unbestimmten eindeutigen Kennzeichnung und der Bestimmtheit, etwa Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 112–131: Identität und Einzelheit.

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in der Form »Dieser König von Frankreich hier und jetzt (den ich gerade fingiere, ist kahlköpfig)«. In dieser Rolle können die bestimmten eindeutigen Kennzeichnungen als Namen nicht entbehrt werden, wenn die Bestimmung frisch aus der Situation expliziert wird; sobald eine Konstellation einzelner Faktoren, ein gedankliches Netzwerk, etabliert ist und man sich nur noch kombinatorisch darin bewegen will, wie in einer Grammatik oder in einer mathematischen Theorie, genügt dagegen die Elimination nach Russell. Die von Russell eingeführte verzweigte Typentheorie beruht auf der Einteilung der Wertbereiche gebundener Variabler in Stufen, verbunden mit dem Verbot imprädikativer Definitionen, die einen Term auf niedrigerer Stufe mit Bezug auf Werte höherer Stufe einführen. Bald nach Russell hat man das Ziel der Typentheorie, außer den Antinomien der Mengenlehre auch die semantischen Antinomien1171 aufzulösen, fallengelassen und dafür eine Vereinfachung der Typentheorie eingehandelt, die sich nun auf das Verbot beschränkt, Werte einer höheren Stufe auf einer niedrigeren zu verwenden. Das System ist für seinen Zweck immer noch viel unhandlicher als die Umgehung der Antinomien in der axiomatischen Mengenlehre. Die noch viel größere Umständlichkeit des Russell’schen Systems der Typen lohnt sich aber gar nicht, weil sie an den semantischen Antinomien vorbeiredet, also einer ignoratio elenchi (Verfehlung des Beweisthemas) unterliegt. Ich zeige das an der Antinomie des Lügners. 1758 Russell zerlegt sie in einen Satz auf höherer Stufe der gebundenen Variablen und einen zweiten auf niedrigerer Stufe und kommt dabei zu folgender Umschreibung: »Es ist nicht von allen Aussagen wahr, dass p wahr ist, wenn ich p behaupte.« 1759 Da eine Behauptung im Anspruch auf Wahrheit für eine Aussage (oder auf Tatsächlichkeit des ausgesagten Sachverhaltes) besteht, läuft diese Umschreibung auf das Geständnis hinaus: »Nicht alle meine Behauptungen sind Behauptungen.« Das ist ein schlichter Widerspruch ohne Spur einer Antinomie. Irgend ein NiveauunterDie Antinomie entsteht entweder durch einen Ausspruch des Satzes »Ich lüge« oder – in der von mir angegebenen Fassung – durch Konkurrenz der beiden Sätze »Pseu ist wahr« und »Pseu ist nicht wahr« mit »Pseu« als Abkürzung des Ausdrucks »Pseu ist nicht wahr«. Man kann die Antinomie auch in die Form einer fiktiven, aber keineswegs unwahrscheinlichen Erzählung kleiden, die zwei ganz harmlose, sinnlich wahrnehmbare Inschriften gegen einander ausspielt, vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 258–260. 1759 Wie Anm. 1754, S. 25. 1758

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schied zweier Behauptungen ist in der Antinomie des Lügners nicht zu entdecken, schon gar nicht in der einzigen Behauptung »Ich lüge«, aber auch nicht in einer Formulierung mit zwei Behauptungen, die in jeder Hinsicht das Niveau teilen. Formale Ähnlichkeit mit der Typentheorie durch eine unendliche Stufenfolge besitzt die von mir entwickelte Logik der iterierten Unentschiedenheit, wobei diese mit jeder Stufe (von unentschieden, ob … über unentschieden, ob unentschieden, ob …, zu unentschieden, ob unentschieden, ob unentschieden, ob … usw. ad infinitum) schwächer wird und die Unentschiedenheit auf endlicher Stufe dann noch einmal durch unendlichfache Unentschiedenheit unendlichfach überboten wird. 1760 Sie ist zur Vermeidung von Widersprüchen bei Ambivalenzen 1761 einschließlich der Paradoxien Plotins (15.2) unentbehrlich und gleich der verzweigten Typentheorie Russells zur Schlichtung der mengentheoretischen und semantischen Antinomien 1762 mit der gewöhnlichen, zweiwertigen Logik bestimmt. Im Fall der Russell’schen Antinomie der Menge W aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, genügt sogar einfache Unentschiedenheit; man erhält damit statt eines Dilemmas (mit »!« als Symbol einer in der Sache selbst bestehenden Entschiedenheit) die Formel :!WeW^:!:WeW, in Worten: Nicht ist entschieden, dass W Element von sich ist, und ebensowenig, dass W nicht Element von W ist. Diese einfache Lösung wird dadurch möglich, dass weder für die eine noch für die andere Seite des Gegensatzes irgendetwas spricht. Zur Lösung der Antinomien von Cantor und Burali-Forti muss man dagegen auf unendlichfache (unendlich schwache) Unentschiedenheit ausweichen, weil beide Seiten bewiesen werden können und n-fache Unentschiedenheit (für eine natürliche Zahl n) nicht genügt, um der Beweiskraft Widerstand zu leisten. Unendlichfache Unentschiedenheit lässt im Gegensatz zu endlichfacher, die einfache Entschiedenheit ausschließt, alles offen und umgeht jede Option, weil vom Unendlichen nicht subtrahiert werden kann; dann kommt auch kein Widerspruch zustande. Aus anderem Grund bedarf die Antinomie des Lügners unHermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 89–96. Diese Darstellung verbessert Mängel früherer Darstellungen. 1761 Ebd. S. 84–89. 1762 Wie Anm. 1758, S. 154–156 und S. 256–262. 1760

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endlichfacher Unentschiedenheit des kritischen Satzes und des ihm kontradiktorischen Affirmats, weil aus endlichfacher Unentschiedenheit die Antinomie selbst wieder folgen würde. Auf den höheren Stufen muss die Geltung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten preisgegeben werden, aber das System bleibt zweiwertig und widerspruchsfrei.

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43.3.3 Carnap Carnap hat es unternommen, das analytische Programm von Russell1754 in die Tat umzusetzen, oder wenigstens einen Weg zu zeigen, auf dem nur mit den Mitteln der formalen, mathematischen Logik die begrifflich strenge Zurückführung aller Aussagen über empirische Gegenstände (physischer, psychischer, geistiger Art) auf Aussagen über eine einzige Klasse von Elementen und eine einzige Grundrelation zwischen diesen gelingen könnte. 1763 Die Zurückführung soll darin bestehen, dass die Möglichkeit geschaffen wird, jeder Aussage über irgendeine Klasse empirischer Gegenstände eine logisch äquivalente Aussage über eine Klasse von Elementen in der Grundrelation zur Seite zu stellen; in diesem Fall ist jene aus dieser konstituiert und auf diese zurückgeführt, mit der Carnap dann jene identifiziert, gemäß der »Extensionalitätsthese«: »Es gibt keine intensionalen, sondern nur extensionale Aussagen (d. h. solche, die in Extensionsaussagen umgeformt werden können).« (365) Das heißt: Auf den Inhalt, der ausgesagt wird, auf die Gattung oder Bestimmung, die zur Charakteristik von etwas dient, kommt es nicht an, sondern es genügt die wahrheitstreue Übersetzung der Aussagen aus einem Gegenstandsbereich in den anderen (hier in einen Bereich von Elementen), um beide Bereiche zu identifizieren und nur noch über diese Klasse zu sprechen: die betreffende Elementeklasse, auf die zurückgeführt wird. Die Übersetzungsvorschrift heißt »Konstitution« oder auch »Definition« (70) der so auf die Elementenklasse zurückgeführten Gegenstandsklasse. Damit verbindet Carnap den Anspruch, »dass jeder wissenschaftliche Begriff eine Klasse oder eine Relation ist, die sich durch die Grundrelation(en) allein ausdrücken lässt« (158) und »dass jede wissenschaftliche Aussage im Grunde Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee 1928. Ich zitiere aus diesem Buch unter 43.3.3 bloß mit Seitenzahlen.

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eine Aussage über die Grundrelation(en) ist« (159). Mit diesem Programm und Anspruch schlägt Carnap die Brücke zu einem (logisch geschärften) Positivismus. 1764 Obwohl Carnap selbst betont, dass bei der Zurückführung nur der logische Wert (Wahrheitswert), nicht der Erkenntniswert erhalten bleibe (159), hat er seinen Anspruch mit der Extensionalitätsthese zu hoch geschraubt. Man erkennt das beim Vergleich mit echten, sinngemäßen Zurückführungen, etwa der Konstitution des mathematischen Systems der Zahltypen: Eine ganze Zahl ist eine unendliche Menge geordneter Paare natürlicher Zahlen, eine rationale Zahl eine unendliche Menge geordneter Paare ganzer Zahlen, eine reelle Zahl ein Abschnitt der nach aufsteigender Größe geordneten Menge der rationalen Zahlen. Bei dieser Zurückführung geht von der höheren Schicht nichts verloren; der Satz, dass die Quadratwurzel von 2 irrational ist, hat denselben Sinn wie der Satz, dass dies für den Abschnitt jener Menge gilt, der die rationalen Zahlen enthält, deren Quadrat kleiner als 2 ist. Im Gegensatz dazu geht bei den Rückübersetzungen von Carnap fast alles Wissenswerte verloren. Erkenntnis betrifft die Tatsächlichkeit von Sachverhalten; unter diesen haben die Sachverhalte logischer Äquivalenz zwar einen unverächtlichen Wert, aber wenn man ihretwegen die zulässigen Aussagen über Gegenstände zu Aussagen über Gegenstände einer gewissen, vielleicht weniger interessanten Art »einschrumpfen« lässt, am Ende – das Carnap als höchstes Ziel ins Auge fasst – gar auf Aussagen über formale Strukturen und Beziehungen von Klassen ohne Rücksicht auf Inhalte und Bedeutungen, hat man mehr zum Abbau als zum Aufbau des Wissens beigetragen. Als Elemente der Konstitution wählt Carnap die eigenpsychischen »Elementarerlebnisse« als »Stellen des Erlebnisstromes«, vollständige Querschnitte durch diesen ohne Zerlegung in »psychische Elemente verschiedener Arten, aus denen die Erlebnisse aufgebaut werden könnten«. (S. 91–93) Diese Wahl zeigt seine BefanS. 256: »Die Forderung, dass nur solche Begriffsworte als legitim anerkannt werden sollen, die konstituiert sind, also in Ausdrücke der Grundgegenstände zurückübersetzt werden können, ist verwandt mit der Forderung, die vom Positivismus erhoben und z. B. von Petzold so formuliert wird: ›Wer nicht imstande ist, von den höchsten Begriffen sofort zu den letzten einzelnen Tatsachen hinabzusteigen, die unter sie fallen, der besitzt diese Begriffe gar nicht.‹« Carnap bezieht sich auf: J. Petzoldt, Positivistische Philosophie, in: Zeitschrift für positivistische Philosophie I, 1913, 1–16, hier S. 7. Petzoldt war Schüler von Avenarius.

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genheit im Psychologismus der psychologistisch-reduktionistischintrojektionistischen Vergegenständlichung (28); denn wenn nicht das gesamte Erleben eines Individuums in einer Seele (eigenpsychisch) abgeschlossen sein sollte, würde die »Stelle im Erlebnisstrom« mindestens alles umfassen, was ihm gerade bewusst ist, also auch Gegenstände beliebig hoher Konstitutionsstufe, die dann nicht erst noch konstituiert werden müssten. Immerhin ist anzuerkennen, dass Carnap sich die Aufgabe schwer macht, indem er nicht, wie noch Mach, die alte atomistische Psychologie zugrunde legt, sondern den ganzheitspsychologischen Tendenzen seiner Zeit mit der Wahl geschlossener Ganzheiten entgegenkommt, die als Elementarerlebnisse im Konstitutionssystem aber nur als »eigenschaftslose, punktuelle Relationsglieder« in Betracht gezogen werden (107). Nachdem er sich deren Analyse unmöglich gemacht hat, muss er viel Scharfsinn darauf verwenden, Eigenschaften und Bestandteile solcher Elementarerlebnisse durch eine »Quasianalyse« mit Ähnlichkeitskreisen zu bestimmen. Leicht ist zu verstehen, dass man an die Stelle spezifischer Eigenschaften spezifische Ähnlichkeiten setzen kann; weil aber Ähnlichkeit keine transitive Beziehung ist,1742 bleibt die Sauberkeit der Klassifikation prekär. Als Grundrelation wählt Carnap, um die asymmetrische lagezeitliche Anordnung942 in sein Konstitutionssystem einholen zu können, statt der Ähnlichkeit die Ähnlichkeitserinnerung, dass etwas an etwas zuvor erlebtes Ähnliches erinnert (110). Alle wahren Aussagen über empirische Gegenstände sollen sich also durch Übersetzbarkeit in Aussagen über Ähnlichkeitserinnerungen zwischen ganzheitlichen Elementarerlebnissen als wissenschaftlich ausweisen. So sind etwa Psychisches und Physisches nicht zwei Seiten der Welt, sondern »Ordnungsformen des éinen, einheitlichen Gebietes eigenschaftsloser, nur beziehungsverknüpfter Elemente.« (224) Diese Umdeutung scheitert spätestens an der Konstitution des Fremdpsychischen, die darin besteht, »dass auf Grund physischer Vorgänge an einem anderen Menschen diesem mit Hilfe der Ausdrucksbeziehung psychische Vorgänge zugeschrieben werden« (185 f.), und zwar als »eine eindeutige Funktion der physischen Beschaffenheit der Äußerung (›Funktion‹ im mathematischen, nicht im psychologischen Sinne).« (192) Das kann nicht gelingen. Ich habe aus der Unübertragbarkeit in ein beliebiges, nur grundsätzlich zur Mitteilung geeignetes anderes Medium, die den Ausdruck vor Nachricht und (kausalem) Symptom auszeichnet, auf die Unregulierbarkeit des Ausdrucks geschlossen und die diesem abzugewinnende In602

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formation als das Vielsagende eines vielsagenden Eindrucks, einer impressiven Situation mit schlagartig sich darbietender, ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit, charakterisiert. 1765 Es trifft also nicht zu, dass das Ausdrucksverständnis durch Entschlüsselung oder Deutung einer Ordnung unter Reizen nach Art der spezifischen oder unspezifischen Sinnesqualitäten gewonnen werde. 1766 Für impressive Situationen und andere – etwa zuständliche Situationen wie Persönlichkeiten (persönliche Situationen) und Sprachen, die auch nicht ausschnittweise in den Zeitstellen der Elementarerlebnisse Platz haben – hat Carnap keinen Sinn. Er ist rigoroser Singularist, Projektionist und Konstellationist; die Ganzheitlichkeit der Elementarerlebnisse ändert nichts daran, denn diese »Totalobjekte der Psychologie« sind »eigenschaftslose, punktuelle Relationsglieder« (107). Nirgends dämmert bei ihm die Einsicht, dass sie einzeln nur sein können als Fälle von Gattungen, die mit Sachverhalten, Programmen und Problemen aus Situationen expliziert werden müssen (21.1; 29.1). Gar zu bequem ist auch sein Griff nach der Relation, z. B. der Grundrelation des Konstitutionssystems. Ich habe gezeigt, dass nur der Fluss der Zeit Gelegenheit zur Aufspaltung der Verhältnisse in Relationen gibt (35.3.2, s. u. 43.4.4). Wenn Carnap den Fluss der Zeit in seine Überlegungen einbezöge, und damit das Nichtsein in ständigem Wechsel mit dem Sein,942 hätte er mit der Wirklichkeit ganz anders zu tun als in der Weise vornehmer Neutralität gegen (allerdings mehr oder weniger abwegige) metaphysische Positionen (72, 175–178), soweit es sich nicht bloß um den Zusammenhang der Erfahrung handelt (170–174). Er könnte sich nicht hinter das fehlerhafte Seinsverständnis Freges (43.3.1) zurückziehen und müsste zugeben, dass zur Konstitution der empirischen Welt das Nichtseiende ebenso wie das Seiende gehört. Blind ist Carnap erst recht für Subjektivität. »Die Ich-Bezogenheit ist keine ursprüngliche Eigenschaft der Grundelemente, des Gegebenen.« (88) Vermutlich meint er so etwas wie eine Ich-Substanz oder einen Ich-Agenten als Puppenspieler hinter den Elementarerlebnissen, und dann kann man ihm Recht geben, aber er verkennt die elementarere Ich-Bezogenheit der subHermann Schmitz, Hermeneutik leiblicher Expressivität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, 339–347, s. u. 43.4.2. 1766 Vgl. auch: Hermann Schmitz, Die Psychologie der Emotionen im kritischen Licht der Neuen Phänomenologie, in: Emotion Kognition Evolution, hg. v. M. Wimmer und L. Ciompi, ohne Ort 2005, S. 273–293, hier S. 278–286. 1765

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jektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, ohne die niemand einen Grund hätte, etwas für sich selbst zu halten (35.3.4; 36.1). Ganz selbstverständlich sind alle Tatsachen für Carnap objektiv im Sinne einer »Entsubjektivierung«, die von der Wissenschaft durch Reinigung »von allem, was konkret aufgewiesen wird« und Überführung »in reine Strukturbegriffe« bewerkstelligt wird (20). Die Intentionalität besteht nur in der Einordnung in ein umfassendes Ordnungssystem, gleich der Einordnung einer Pflanze in das botanische System; dass ein Gedanke, ein Entschluss auf etwas hinaus will, in einer Weise, wie ein Veilchen keineswegs auf das botanische System hinaus will, ist nur »ein gradueller Unterschied«, der mit dem Hinweis abgetan wird, es sei »für jeden Gegenstand wesentlich, dass er gewissen Ordnungszusammenhängen angehört« (228). Ich verweise auf das unter 43.1 zu Mach Gesagte, und s. u. 45.1.1. Wenn auch das Konstitutionssystem von Carnap den Aufbau der Welt nicht trifft, ist es doch ein denkwürdiges Manifest des logischen Positivismus, bewundernswert dadurch, dass nicht nur eine allgemeine Idee hingeworfen, sondern auf den Schultern von Frege und Russell ihre Tragfähigkeit und Beschränktheit durch ernsthafte Anstrengung bei der Ausführung ans Licht gebracht wird. Dabei gelingt gelegentlich das Aufbrechen gedanklicher Verkrustungen, nicht gerade beim »Eigenpsychischen«, aber etwa, wenn in Frage gestellt wird, dass die Gefühle »als in besonderer Weise unserem ›Innern‹ zugehörig angesehen werden« (178) und wenn der metaphysischen Definition der Wirklichkeit als »Unabhängigkeit vom erkennenden Bewusstsein« ausgewichen wird (245).

43.4 Analytische Philosophie 43.4.1 Charakteristik Mit »analytische Philosophie« bezeichne ich eine durch einen gewissen Denkstil charakterisierte Diskussionsgemeinschaft des Philosophierens, die bald nach dem Ende des 2. Weltkrieges fast gleichzeitig in England, zunächst in Oxford (Ryle), und in Amerika (Quine) hervorgetreten ist und sich seither mit einer üppigen Blüte von Publikationen zu allen geläufigen philosophischen Themen über den Erdball ausgebreitet hat, in einem Maße, dass ihr gegenwärtig mehr oder weniger die tonangebende Stimme in der Philosophie zukommt. Ich 604

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verwende den Ausdruck also so eng, dass dieser Strömung eine bestimmte Stufe in der Entwicklung des mit Avenarius und Mach einsetzenden Positivismus zugewiesen werden kann, wodurch sie als Erbe der früheren Stufen dargestellt werden kann. Diese Erbschaft lässt sich so aufgliedern: Vom Empiriokritizismus übernimmt die analytische Philosophie die Abweisung der Subjektivität, zwar nicht mehr dogmatisch wie noch Carnap, 1767 sondern methodisch durch systematische Umstellung aus der Perspektive der ersten grammatischen Person, von sich selber zu sprechen, in die Perspektive der dritten Person, in der ausschließlich objektive, neutrale Tatsachen zum Vorschein kommen können; so immunisiert sich die analytische Philosophie gegen das Auftauchen subjektiver Tatsachen (35.3.4; 36.1) in ihrem Horizont. Von Wittgenstein übernimmt die analytische Philosophie die beiden Techniken derselben Immunisierung, die ich unter 43.2.3 angegeben habe: das Verstecken der Subjektivität hinter die Mauer der harten Tatsachen der Naturwissenschaft in der Logisch-philosophischen Abhandlung und hinter die Konvention der Sprachspiele in der späteren Philosophie der Philosophischen Untersuchungen. Die zweite Technik dient in der analytischen Philosophie überdies zur Etablierung der Autorität der sogenannten normalen Sprache, wodurch die Behandlung traditioneller, namentlich metaphysischer, Themen der Philosophie entwertet werden soll, indem behauptet wird, dass diese auf einem Missbrauch der normalen Sprache – des Sprachspiels, das angeblich die Menschen gewöhnlich spielen – beruhten. Vom logischen Positivismus übernimmt die analytische Philosophie die Orientierung an der mathematischen Logik in den Spuren von Frege und Russell. Ein weiteres Leitmotiv der analytischen Philosophie ist nicht in gleicher Weise vom älteren Positivismus ererbt: der Naturalismus, der im Logischen Positivismus des Wiener Kreises zwar auch schon Anhänger (wie Reichenbach) hatte, zu denen aber Carnap und Neurath nicht gezählt werden dürfen. In der analytischen Philosophie steigt der Naturalismus dagegen zu kanonischer Geltung auf. Der Naturalismus, wie ich ihn verstehe, umfasst die drei Thesen: 1. dass die Naturwissenschaft auf der Grundlage der Physik auf gutem Wege Wie Anm. 1763, S. 226. Carnap ruft Lichtenberg (s. Anm. 871) und Schlick als Kronzeugen an, während Russell so halbherzig gewesen sei, dem »Es denkt« ein »in mir« hinzuzufügen (wie übrigens auch Schelling, wie Anm. 1376, X 11, Zur Geschichte der neueren Philosophie).

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ist, die Wahrheit über die Welt zu erkennen, 2. dass sie auf diesem Weg immer mehr zutreffende Erklärungen für Ausschnitte der unwillkürlichen Lebenserfahrung – d. h. dessen, was Menschen merklich zustößt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – findet und für einen großen Teil der möglichen Ausschnitte schon gefunden hat, 3. dass sie in vollendeter Gestalt, wenn solche erreichbar ist, in der Lage sein wird, die gesamte unwillkürliche Lebenserfahrung richtig zu erklären. Der Naturalismus scheint in der Entwicklung der analytischen Philosophie an Gewicht zu gewinnen. Für den frühen Quine stehen die physikalischen Objekte 1951 in der Sicht der Erkenntnistheorie auf einer Stufe mit den homerischen Göttern, nur dass sie besser als diese eine handhabbare Struktur in den Fluss der Erfahrung bringen; 1768 später verbreitet sich der Naturalismus wie ein Dogma durch die analytische Philosophie und führt zum üppigen Aufblühen einer anhaltenden Diskussion über das sogenannte mind-body-problem mit der materialistischen Tendenz, so viel wie möglich von den mental phenomena auf den Körper, speziell das Gehirn, abzuwälzen, gleichsam hinter Descartes (30.1) auf Hobbes (29.1) zurückzugehen. Die analytische Philosophie übernimmt die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung (28), baut sie aber wenigstens auf ihrem »linken Flügel« – wenn ich mir diese politische Metapher erlauben darf – so um, dass der Reduktionismus den Psychologismus verschluckt, indem das naturwissenschaftlich mit Hilfe von Messungen reduzierte und mit physikalischen Konstrukten aufgeladene Gehirn an die Stelle der Seele tritt. Man kann diese Entwicklung so deuten, dass die vom Empiriokritizismus und von Wittgenstein übernommenen Schutzmauern gegen Subjektivität sich allmählich abnützen und durch Anlehnung an die gewaltige Autorität der Naturwissenschaft abgedichtet werden sollen. Searle – übrigens ein entschlossener Naturalist – spricht im Hinblick auf die materialistischen Umdeutungen des subjektiven Erlebens in der analytischen Philosophie von »fast schon neurotischen Versuchen, die Tatsache zu überdecken, dass irgendein entscheidender Bestandteil von Geisteszuständen übergangen wird.« 1769 »Der Two Dogmas of Empiricism, zuerst in: Philosophical Review 60, 1951, 20–43; von mir zitiert nach: New Readings in Philosophical Analysis, ed. by H. Feigl, W. Sellars, K. Lehrer, New York 1972, 81–94, hier S. 93. 1769 John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes (The Rediscovery of Mind, 1992, deutsch v. H. P. Gavagai), München 1993, S. 70. 1768

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tiefste Grund für die Angst vor dem Bewusstsein ist, dass Bewusstsein das von sich aus furchteinflößende Merkmal der Subjektivität hat.« 1770 Wenn es sich so verhält, ist der naturalistische Materialismus in der analytischen Philosophie ein Symptom desselben Ausweichens vor der durch rezessive Entfremdung (36.2; 43.2.1) haltlos gewordenen und daher Angst1529 stiftenden Subjektivität wie Fichtes Dem-Ich-Abschwören1331 in der gottseligen Holzhammer-Mystik seiner späten Jahre nach dem Atheismusstreit, wie Friedrich Schlegels Konversion zum Katholizismus und der Bannfluch des späten Heidegger gegen Subjektivität. 1771 Ein weiteres durchgängiges Merkmal der analytischen Philosophie ist ihre Beschränkung auf numerische Einheit und numerische Mannigfaltigkeit ohne irgendeinen Ausblick auf die anderen, erstmals im Deutschen Idealismus wieder zur Geltung gebrachten Typen der Mannigfaltigkeit (39.1). Die analytische Philosophie gehört damit – wie auch in anderen Hinsichten – in die geistige Verwandtschaft Kants, der der Erste ist, dem diese Beschränkung so natürlich war, dass sie in sein Denken mit gelassener Selbstverständlichkeit einfloss (35.1). Bemerkenswerte Züge hat die analytische Philosophie auch methodisch. Vorbildlich ist sie durch die Sorgfalt begrifflicher Unterscheidungen, das eindringliche Prüfen und Wenden der Argumente, die großzügige und faire Diskussionskultur, das Bemühen um rationale Durchsichtigkeit; zur Kehrseite gehört eine gewisse Stoffarmut, ein Mangel an treffend aus dem Leben gegriffenen Beobachtungen, ein Zug zu trockener Abstraktion und Formalität. Durch ihre Vorzüge verdient sie sich aber im direkten Umkreis ihrer dominanten Wirksamkeit hohes Ansehen, wie folgende Äußerung zeigt: »(…) ›analytic‹ simply demarcates a style of scholarship, writing and thinking: clarity, precision and argumentative rigor are paramount. Thus, analytic philosophy is now largely coextensional with good philosophy and scholarship, regardless of topic or figure.« 1772 Diese hohe Einschätzung bedarf gewisser Schattierungen. Auffällig an der anaEbd. S. 73. Heidegger in: Zollikoner Seminare, hg. v. Medard Boss, Frankfurt a. M. 1987, S. 240: »Dasein ist nicht Subjekt. Es gibt keine Frage mehr nach Subjektivität. Transzendenz ist nicht ›Struktur der Subjektivität‹, sondern ihre Beseitigung!«. 1772 Philosophical Gourmet Report 2000–2001, zitiert von Ansgar Beckermann, Einleitung, in: Grundbegriffe der analytischen Philosophie, hg. v. P. Prechtl, Stuttgart/Weimar 2004, S. 1. 1770 1771

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lytischen Philosophie ist das Vermeiden von Definitionen, die dem Leser genauen Aufschluss darüber geben können, wovon die Rede ist. Definitionen haben in der Philosophie solchen Wert allerdings nur dann, wenn sie sich auf relativ triviale Erfahrungen berufen, d. h. solche, von denen man ohne Garantie vernünftig erwarten kann, dass sie jedem frisch oder in der Erinnerung zugänglich sind, und in durchsichtiger Weise daran anknüpfen; nur dann kann man hoffen, sich selbst zu verstehen und von Gutwilligen verstanden zu werden. Die Berufung auf eine angeblich normale Sprache genügt nicht. Abgesehen davon, dass die Alltagssprache in nicht geringem Umfang »gesunkenes Kulturgut« früherer philosophischer Prägungen ist, übt jede Sprache durch ihre Syntax und ihren Wortschatz bestimmte Suggestionen aus, die einer Auszeichnung als normal im Wege stehen. Es handelt sich z. B. um die Formen von Subjekt und Prädikat, Subjekt und Objekt (Nominativ und Akkusativ), die dazu verführen, Relationen für selbstverständlich zu halten und sich über ihre Ablösung aus komplexen, gleichermaßen von mehreren Seiten ablesbaren Verhältnissen keine Gedanken zu machen, ferner dazu, alles für identisch und einzeln zu halten, als Gegenstand möglicher Aussagen. 1773 (Die mathematische Logik verstärkt diese Tendenz durch ihre Atomsätze und –formeln mit Subjekt-Prädikat-Struktur.) Um ein Beispiel dafür zu geben, wie sich der Mangel an Definitionen in der analytischen Philosophie auswirkt, erinnere ich an die Verwendung des Wortes »mental« in der Rede von »mental phenomena«. Es handelt sich um ein in die Alltagssprache abgeschobenes Relikt der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung. »Mental« heißen empirische Ereignisse und Zustände bloß, weil sie nicht bei den physikalischen Konstrukten unterkommen, die sich Demokrit und Platon als Atome ausgedacht hatten, während die moderne Naturwissenschaft Komplizierteres und Raffinierteres an deren Stelle setzt. In dieses Prokrustesbett wird alles gesteckt, was diese negative Bedingung erfüllt, auch wenn es so schlecht hineinpasst wie der spürbare Leib mit unteilbarer Ausdehnung einschließlich des Blickes als unteilbar ausgedehnter, unumVgl. W. V. Quine, On what there is, in: Review of Metaphysics II, 1948, 21–38; S. 23 f.: »But what sense can be found in talking of entities which cannot meaningfully be said to be identical with themselves and distinct from another?« Mit dieser naiven rhetorischen Frage wischt Quine das chaotische Mannigfaltige (39.1) weg. In meiner Terminologie gesprochen, verwechselt er hier analytische Einheit mit numerischer (Vgl. Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005, S. 33).

1773

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kehrbar in die Weite führender leiblicher Richtung samt dem Blickwechsel als leiblicher Kommunikation; wie Gefühle als unteilbar ausgedehnte, leiblich ergreifende Atmosphären; wie Situationen mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen, teils zuständliche wie Sprachen, teils aktuelle wie zur sofortigen motorischen Bewältigung anstehende Gefahren; wie Halbdinge, z. B. der Wind (im Unterschied von bewegter Luft), die Stimme (im Unterschied von der Schallfolge), die reißende Schwere, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt. Rorty definierte mentale Ereignisse durch Unkorrigierbarkeit. Dann gehören Liebe, Hass und Mut nicht dazu, wie er auch zugibt. 1774 Physisch im Sinne von Gegenständen einer reduktionistischen Physik sind sie aber auch nicht ohne Zerrung im Prokrustesbett. Das Leitbild der abgeschlossenen Innenwelt der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung liefert hier ein zu enges Kriterium für das Vorderglied der psychisch-physischen Gegenüberstellung, während die vorigen Beispiele schlecht hineinpassen, wie sehr man dieses Vorderglied auch dehnt. So rächt sich die unbesehene Aufnahme gesunkenen Kulturgutes einer alten philosophischen Prägung aus der »normalen« Sprache.

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43.4.2 Quine Quine 1775 bestreitet, Nominalist zu sein, da er immer Klassen als sogenannte abstrakte Gegenstände zugelassen habe, 1776 allerdings nur, weil »sie so wirksam zur Organisation und Beschleunigung der WisRichard Rorty, Unkorrigierbarkeit als Merkmal des Mentalen (Incorrigibility as the Mark of the Mental, in: Journal of Philosophy 67, 1970, 406–424, gekürzte Fassung übersetzt von H. P. Falk), in: Analytische Philosophie des Geistes, hg. v. P. Bieri, Bodenheim 1993, 243–260, hier S. 249 und 254 f. 1775 Alle wichtigen Motive der Philosophie Quines werden in seinem philosophischen Hauptwerk Word and Object (Cambridge [Mass.] 1960) ausgeführt; ich benütze es in der deutschen Übersetzung der 10. Auflage 1976 durch J. Schulte und D. Birnbacher: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1987. Man kann noch hinzunehmen: Ontologische Relativität und andere Schriften, übersetzt von W. Spohn, Stuttgart 1975. Quines spätere Veröffentlichungen enthalten nur Verhärtungen. Da seine Hauptgedanken (abgesehen von logischen Finessen und Schreibtischkonstruktionen über kindlichen Spracherwerb) in wenigen prägnanten Thesen zusammengefasst und überliefert sind, ergibt sich nur selten der Bedarf wörtlicher Zitate mit Quellenangaben. 1776 Wort und Gegenstand S. 419, Anm. 1774

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senschaften beitragen«; 1777 dagegen will er von intensionalen Universalien (Gattungen, Eigenschaften) nichts wissen. Er meint, ihnen entkommen zu sein, wenn er keine Namen für sie einführt und sie nicht im Wertbereich gebundener Variablen einer logischen Fachsprache zulässt, aus der er mit der Eliminationsmethode von Russell (43.3.2) alle Namen und Kennzeichnungen verbannt hat. Auf diese Weise vermeidet er, von Univeralien zu sprechen, aber er kommt nicht umhin, in Universalien zu sprechen. In seiner Fachsprache verwendet er nämlich Zeichen für Variable, diese bindende Operatoren, satzbildende Funktoren, Abgrenzung durch Klammern und dergleichen mehr, und zwar jedes solche Zeichen ohne Beschränkung auf ein einziges Mal und einen einzigen Augenblick des Gebrauches, aber immer im selben Sinn, da er kein Freund der Begriffsverwirrung, der quaternio terminorum, der zügellosen Sprunghaftigkeit des Denkens ist. Ein mehrfach verwendetes Zeichen ist aber die Gattung der Fälle seiner Anwendung. Der Umfang dieser Gattung ist die Klasse aller solchen Fälle, z. B. der Variablen »x« oder des Zeichens »(« (»Klammer-auf«). Wie soll eine solche Klasse abgegrenzt werden, um z. B. der Verwechslung von »x« mit Klammer-auf vorzubeugen? Entweder so, wie der gewöhnliche Mensch es macht, indem er die einzelnen Vorkommnisse auf dem Papier als Fälle der Gattung x erkennt, oder so, wie der Nominalist es will, indem er irgendeine im abstrakten Sinn verwandtschaftliche Beziehung empfindet, die die einzelnen x-Zeichen enger mit einander verbindet als z. B. ein x-Zeichen mit einem Klammer-auf-Zeichen. Als solche abstrakte Verwandtschaft wird spätestens seit Boethius (21.2) mit Vorliebe die Ähnlichkeit benützt; man kann aber auch irgendeine Relation mit gewissen Eigenschaften bemühen; symmetrische und transitive Beziehungen machen die Abgrenzung bequem, und Carnap versuchte es, bescheidener noch, mit bloß reflexiven und symmetrischen Beziehungen (Der logische Aufbau der Welt, 43.3.3). Aber diese Ausweichung aus der Vertikalen der Subsumtion in die Horizontale der Verwandtschaft schiebt die Gattungen nur zurück und macht sie nicht entbehrlich. Es ist nämlich ebenso nötig, Klassen von Beziehungen abzugrenzen, wie Klassen von Zeichen; sonst könnte es einem passieren, plötzlich aus der Ähnlichkeit in die zeitliche Nachbarschaft zu verfallen, die z. B. zwischen dem Auswahlaxiom der Mengenlehre und einer alten Eiche dadurch entsteht, dass sich jemand bei deren 1777

Ebd. S. 408.

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Anblick mit dem Auswahlaxiom beschäftigt. Für die Abgrenzung von Klassen kommt im Fall der Beziehungen ebenso wie in dem der Zeichen entweder die Subsumtion unter eine Gattung oder die abstrakte Verwandtschaft in Frage; aber wenn man es bei dieser ohne jene belassen will, wiederholt sich der Vorgang ad infinitum, und man kommt nie zu einer Abgrenzung, die vor Begriffsverwirrung schützen könnte. Das Argument stammt von Husserl,213 und man kann es noch dadurch verschärfen, dass man es nicht nur auf die Abgrenzung von Teilklassen in einem größeren Rahmen, sondern auf diesen Rahmen selbst bezieht, also z. B. auf die Möglichkeit, Zeichen oder Beziehungen so zusammenzufassen, dass sie abgegrenzt sind von den Ausscheidungen aus dem tierischen Darm. Kaum braucht gesagt zu werden, dass die Argumentation, die ich bei den sprachlichen Zeichen angesetzt habe, entsprechend auf die bezeichneten Gegenstände übertragen werden kann. Quine gleicht mit seinem Feldzug gegen die Gattungen, die übrigens nicht immer, aber jedenfalls auch, Universalien sind, dem Ritter, der in Jeremias Gotthelfs Novelle Die schwarze Spinne gegen das titelgebende Ungetüm in voller Rüstung loszieht und sich wundert, dass alle Leute scheu vor ihm zurückweichen, bis er bemerkt, dass die schwarze Spinne ihm auf dem Helm sitzt. Indem Quine die Universalien aufzuspießen sucht, merkt er nicht, dass sie in seinem Spieß stecken. Während Quine es sich mit der Abgrenzung der Klassen zu leicht macht, übertreibt er bei weitem die Schwierigkeit, analytische Urteile (besser: Aussagen, oder Behauptungen) gegen synthetische abzugrenzen; es gibt nicht einmal eine solche Schwierigkeit (s. o. 35.1): Eine wahre Behauptung ist analytisch, wenn ihr Negat einen Widerspruch zur logischen Folge hat, wobei eine Behauptung B logische Folge einer Behauptung A ist, wenn A höchstens mit B zusammen wahr ist und es dabei auch unter fiktiven Umständen bleibt, die dadurch entstehen, dass an die Stelle von Tatsachen untatsächliche Sachverhalte treten. Dieses Kriterium der Analytizität will ich jetzt an Quines Lieblingsbeispiel »Kein Junggeselle ist verheiratet« demonstrieren. Das Negat (besser: kontradiktorische Gegenteil) lautet: »Mindestens ein Junggeselle ist verheiratet.« Dieser Satz ist unfähig, einen (auch nur untatsächlichen) Sachverhalt darzustellen, weil er gar nichts sagt, indem alles, was vorgebracht wird, in einem Atem wieder zurückgenommen wird. Es ist nämlich von einem Mann die Rede, der unverheiratet, weil Junggeselle, und verheiratet ist; niemand kann diese sich selbst aufhebende Bedingung erfüllen, auch 611

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kein Mann, so dass nicht einmal dieser nicht direkt vom Widerspruch betroffene Rest der Aussage übrig bleibt. Also kann bei keiner Ersetzung von Tatsachen durch untatsächliche Sachverhalte ein Sachverhalt, den jenes Negat darstellte, die ersetzende Rolle übernehmen; einen solchen Sachverhalt gibt es nicht. Also bleibt der Satz »Mindestens ein Junggeselle ist verheiratet« bei jeder erdenklichen Fiktion genauso falsch wie irgendein Widerspruch, d. h. ein Satz der Form A und nicht A für irgendwelche Sätze A. Er hat also im angegebenen Sinn einen Widerspruch zur logischen Folge. Der Satz (die Behauptung) »Kein Junggeselle ist verheiratet« ist also analytisch. Dagegen können wahre synthetische Sätze nicht analytisch sein. Ich wähle als Beispiel: »Köln liegt in Deutschland.« Das Negat dieses Satzes lässt sich durch Umbiegung untatsächlicher Sachverhalte in Tatsachen bequem in eine Lage bringen, in der kein Widerspruch entsteht; man braucht nur zu fingieren, dass Frankreich seine Grenze überall bis zum Rhein vorgeschoben hat. Falsche synthetische Sätze können erst recht nicht analytisch sein, weil ihr kontradiktorisches Gegenteil niemals höchstens zusammen mit einem Widerspruch wahr ist. Quine hat bei seinem Rundumschlag gegen die Sonderstellung analytischer Urteile die von mir benützte Definitionsidee nur ganz oberflächlich berührt. 1778 Seltsam ist darüber hinaus, dass so kluge und scharfsinnige Verteidiger dieser Sonderstellung wie Carnap sich von ihm auf das Glatteis linguistischer Begründungsversuche (mit Erörterungen über Synonymie) haben ziehen lassen. Ein Satz wie »Jeder Junggeselle ist unverheiratet« schöpft seine analytische, unanfechtbare Richtigkeit so wenig aus der verwendeten (hier der deutschen) Sprache wie der Satz »Jeder gütige und weise Mensch ist weise.« Die Analytizität beruht in beiden Fällen auf der über jeden Zweifel erhabenen Tatsächlichkeit der betreffenden Tatsache, egal, welche Sprache zu ihrer Feststellung benützt wird; aber allerdings muss man Deutsch können, um das einzusehen, wenn der Satz auf Deutsch formuliert wird. Das ist aber keine Besonderheit der Einsicht

»(…) we hear analytic statements defined as statements whose denials are self-contradictory. But this definition has small explanatory value: for the notion of self-contradictoriness, in the quite broad sense needed for this definition of analyticity, stands in exactly the same need of clarification as does the notion of analyticity itself.« (Two Dogmas of Empiricism, zuerst 1951, von mir benützt als Abdruck in: New Readings in Philosophical Analysis, ed. H. Feigl, W. Sellars, K. Lehrer, New York 1972, S. 81–94, hier S. 81).

1778

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in analytische Wahrheit, sondern gilt für jede sprachlich formulierte wahre Einsicht. Großes Aufsehen hat Quine durch die von ihm behauptete Undurchschaubarkeit der Referenz erregt, d. h. die These, dass es für jeden, der eine fremde Sprache erlernen will, nie genau erkennbar ist, was deren Wörter und Sätze bezeichnen. Um das nachzuweisen, versetzt er sich in die Lage eines Ethnologen, der einen fremden Volksstamm, mit dem ihn keine Überlieferungen verbinden, besucht und die Sprache dieser Leute kennenlernen will. Er stattet den Besucher lediglich mit dem Vermögen aus, durch Sinnesreize – z. B. Einstrahlung von Licht auf die Netzhaut – physiologisch übermittelte Signale so zu interpretieren, dass er die Segmente der Fremdsprache, die Bedeutung tragen, abgrenzen, Äußerungen der Bejahung und Verneinung seiner Fragen unterscheiden und für den Fall, dass ihm und den Befragten ein direkt beobachtbarer Gegenstand sinnfällig vorkommt (etwa vor Augen steht), feststellen kann, welche Äußerungen der Fremden sich darauf beziehen. Auf dieser Grundlage bloßer Reizbedeutungen, d. h. des Bezuges auf gegenwärtig als wirksam erlebte sinnliche Reizungen, kann der Besucher nach Quine einfache Sätze der Fremden auf solche Reize richtig beziehen und überdies erkennen, welche von deren Sätzen reizanalytisch, reizkontradiktorisch und reizsynonym (d. h. verträglich bzw. unverträglich mit allen Reizen bzw. zusammengehörig mit gleichen Reizen) sind, sowie den Gebrauch herausfinden, den die Fremden von den Wahrheitsfunktionen der zweiwertigen Aussagenlogik machen. Das genügt aber nicht, um mit Sicherheit zu bestimmen, worüber die Fremden reden, da verschiedene, unter einander unverträgliche Interpretationen in Frage kommen und die verfügbaren Informationen zur Entscheidung unter ihnen nicht ausreichen. Quine extrapoliert diese Extremsituation als passend für jedwedes Erlernen einer noch so nah verwandten Sprache, da die Rahmenbedingungen durch Abstufungen der Fremdheit nicht grundsätzlich verändert würden. Quines These ist hauptsächlich dadurch interessant, dass sie im Gebiet des Sprachverstehens den Physiologismus mit nur so viel Großzügigkeit zu Ende denkt, wie nötig ist, damit überhaupt noch etwas verstanden werden kann. Physiologismus ist die These, dass Informationen aus der Außenwelt dem Menschen nur durch physiologisch interpretierbare Sinnesreize zukommen, die nach gehörigen Metamorphosen in die seelische Innenwelt transportiert und dort in Auffassungen über Ereignisse und Zustände in der Außenwelt (z. B. 613

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verständliche Reden anderer Menschen) zurückübersetzt werden. Eine knappe Veranschaulichung dieses (mit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung [28] zusammenhängenden1704 ) Konstruktes bietet Gottfried Keller mit folgenden Anfangszeilen eines Gedichtes: Augen, meine lieben Fensterlein, Gebt mir schon so lange holden Schein, Lasset freundlich Bild um Bild herein.

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Ich habe bewiesen, dass der Physiologismus falsch ist, und kann den Beweis 1779 gut auf Quines Undurchschaubarkeitsthese anwenden. Ich unterscheide drei Typen von Information: Nachricht, Symptom und Ausdruck. Nachricht ist sprachliche Darstellung von Sachverhalten, Programmen und Problemen. Symptom ist Anzeige von etwas durch etwas aufgrund bekannter kausaler Zusammenhänge. Ausdruck ist unmittelbare körperliche oder stimmliche Information über menschliches Erleben (z. B. Gesichts- oder Stimmausdruck) oder Gefühlsausdruck nicht fühlender Gegenstände wie Musikinstrumente und Naturstimmungen. Ruhig Wasser, grause Höhle, Bergeshöh und erstes Licht, Seltsam, wie es unserer Seele Schauderhafte Laute spricht. 1780 Quine berücksichtigt nur Nachrichten und Symptome, eigentlich sogar nur diese. Er ignoriert den Ausdruck, der auch bei sprachlicher Verständigung oft eine große Rolle spielt. Am Ausdruck lässt sich das Versagen des Physiologismus zur Evidenz bringen: Es lässt sich zeigen, dass er nicht durch geregelte Deutung sinnlicher Reize auf das ausgedrückte Erleben oder Gefühl verstanden werden kann. Diese Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses ergibt sich aus der Unübertragbarkeit des Ausdrucks: Eine Nachricht kann beliebig aus einem Medium in ein anderes übertragen werden, sofern dieses für Zuletzt in: Hermeneutik leiblicher Expressivität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, 339–347. Den Beweisgedanken habe ich zuerst 1972 in einem Aufsatz formuliert, der in meinem Buch Leib und Gefühl (2. Aufl. Paderborn 1992) auf S. 175 ff. wieder abgedruckt ist, und später in meinem Buch Höhlengänge (Berlin 1997) unter der Überschrift »Ausdruck als Eindruck in leiblicher Kommunikation« S. 119–130 wiederholt. 1780 Goethe, Wilhelm Tischbeins Idyllen, 15. 1779

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die Darbietung von Informationen überhaupt geeignet ist; man kann sie z. B. vorlesen. Entsprechendes gilt für das Symptom; ein Thermometerstand (als Symptom von Fieber) lässt sich z. B. in eine Fieberkurve eintragen. Beim Ausdruck fehlt solche Übertragbarkeit. Man muss schon ein guter Schauspieler sein, um die komplizierte Ausdrucksweise von Freude und Trauer (z. B.) auch nur nachzuahmen; ganz aussichtslos wäre der Versuch, sie wie eine Nachricht aufzuschreiben. Aus dieser Unübertragbarkeit des Ausdrucks folgt die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses mit folgendem Lemma: »Wenn eine Information durch geregelte Deutung eines Sinnenreizes auf die gesendete Botschaft verstanden wird, kann sie in jedes andere zur sinnfälligen Darbietung von Informationen geeignete Medium übertragen werden.« Der Beweis ist einfach: Man schalte der Regel, die den Sinnenreiz im ersten Medium mit der mitgeteilten Botschaft verknüpft, eine Regel vor, die dem betreffenden Ereignis im ersten Medium willkürlich ein entsprechendes im zweiten Medium zuordnet, und gewinnt so eine zusammengesetzte Regel für die Erdeutung der Botschaft aus dem zweiten Medium. Da das beim Ausdruck nicht gelingt, ist er nicht durch eine Regel für die Interpretation eines Zeichens verständlich. Ausdruck ist zeichenlose Mitteilung vielsagender Eindrücke, d. h. impressiver Situationen, in denen um den Ausdrucksträger herum Mannigfaltiges, wozu meist Gefühle gehören, durch eine binnendiffuse (d. h. nicht aus lauter Einzelnem bestehende) Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/ oder Problemen, die sich mit einem Schlage präsentieren, zusammengehalten wird. Wie die Wahrnehmung solcher Situationen zustande kommt (anders als gemäß der These des Physiologismus), habe ich durch meine Theorie der leiblichen Kommunikation aufgeklärt: 1781 durch antagonistische oder solidarische Einleibung über Brücken, die Blicke, Bewegungssuggestionen oder synästhetische Charaktere sind. Dadurch werden, mit wichtiger Beteiligung des Ausdrucks, gemeinsame Situationen aufgebaut, und die Verständigung – auch die sprachliche unter Partnern mit einander fremden Sprachen – gelingt im Wesentlichen durch die Gemeinsamkeit solcher Situationen als Explikation einzelner Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Vgl. (u. a.) Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 34–43; Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 168–184, und die in Anm. 1779 angegebenen Schriften, auch s. u. 45.1.1.

1781

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Probleme) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit. Ganz fernliegende Interpretationen, die Quine als logisch mögliche anbietet –, dass z. B. statt über eine Sache über die Klasse aller von dieser Sache verschiedenen Gegenstände gesprochen würde, oder über »Gödelzahlen« –, werden durch das Arbeiten an der Gemeinsamkeit der Situation entwertet, obwohl nie ganz auszuschließen ist, dass man an einander vorbeiredet. Physiologisch charakterisierbare Sinnenreize und Sinnesorgane (z. B. Augen, Ohren) spielen dabei sicherlich eine Rolle, aber nicht die von Gottfried Keller vermutete, sondern es handelt sich um obligatorische Begleitvorgänge, die in dem Sinn notwendig und zureichend sind, wie die Klavierbegleitung für die Stimme der Sängerin beim Ablaufen einer Schallplatte mit einem Lied von Schubert oder Hugo Wolf. Ferner kann dem Ausdruck sehr wohl geregelte Deutung abgewonnen werden, wenn man ihn nicht als Ausdruck nimmt, sondern als Symptom, näherungsweise auch ohne solche Verfremdung in einer intuitiven Ausdruckswissenschaft wie der Graphologie. Quine macht zugunsten seiner Undurchschaubarkeitsthese den Fehler, die Bedeutung der Sätze von der Bezeichnungsleistung der Satzbestandteile, namentlich der Wörter, her aufbauen zu wollen. Tatsächlich ist es aber für diejenige Synonymie von Sätzen, die zu zuverlässiger Übersetzung erforderlich ist, belanglos, ob und gegebenenfalls welche Gegenstände von Satzteilen bezeichnet werden; stattdessen kommt es auf die Identität der von den Sätzen dargestellten Sachverhalte, Programme und Probleme an. Ich habe ein Kriterium für die Identität von Sachverhalten angegeben und im Zusammenhang damit die semantischen Grundbegriffe der Bedeutung und eines Sinnes eines Wortes (oder vielmehr einer etwas größeren Gruppe von Satzbestandteilen) so angegeben, dass keine Rücksicht auf das Bezeichnen genommen wird, das ich anschließend aber gleichfalls in drei Stufen (kategorematisch, Name, Eigenname) bestimme. 1782 Die deutschen Sätze »Es regnet stark«, »Starker Regen ergießt sich«, »Regentropfen fallen massenweise« sind synonym und als Informationen austauschbar, stimmen aber in der Bezeich-

Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 231–236. Wenn ich von der sprachlichen Bedeutung eines Wortes oder sonstigen Satzteiles spreche, hat das Wort »Bedeutung« natürlich anderen Sinn, als wenn ich von Bedeutungen spreche, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind.

1782

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nungsleistung von Satzteilen nirgends überein; im ersten Fall wird überhaupt kein Gegenstand bezeichnet. Ein anderer berühmter Slogan Quines lautet: »Sein ist: Wert einer gebundenen Variablen zu sein.« Damit ist gemeint: »Sage mir, welchen Wertbereich die Variablen haben, die du durch Quantifikation bindest, und ich sage dir, welche Gegenstände du als seiende ausgibst.« Diese Faustregel beruht auf der verkehrten Auffassung der partikulär quantifizierten Behauptung als Existenzbehauptung, worüber unter 43.3.1 genug gesagt wurde. Um so mit dem Sein umzugehen, dass man glaubt, es durch bloße partikuläre Quantifizierung von Variablen im Griff zu haben, muss man als Mathematiker in einer idealen Welt leben, wo Existenz nichts als Widerspruchsfreiheit ist. 1783 Im Kampf des Lebens gelten härtere Anforderungen, die das Sein auf einen Ausschnitt in der Welt beschränken. Zur Welt, in der wir leben, gehören ebenso nichtseiende wie seiende Gegenstände. Wir wären hilflos allen Zufällen ausgeliefert, wenn wir uns nicht fortwährend auch mit Nichtseiendem beschäftigten.

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43.4.3 Strawson In seinem Buch Individuals (London 1959) 1784 beschäftigt sich Peter Strawson mit Einzelwesen, die keine Gattungen im weitesten Sinn sind, d. h. keine Fälle haben. Den ersten Teil des Buches widmet er der Aufgabe, die Typen von Gegenständen auszuzeichnen, die für Identifizierung und Wiedererkennen solcher Individuen unentbehrlich sind. Er gibt zwei solche Typen an: materielle Körper, ohne die es nicht zum räumlich-zeitlichen Rahmen des Identifizierens und Wiedererkennens komme, und Personen. Materielle Körper: In seltsamem Gegensatz zu der Begründung, die Strawson für deren Auszeichnung gibt, steht der Umstand, dass die ältesten und grundlegenden Marken, nach denen sich die Menschen seit je für Identifizierung und Wiedererkennung im räumlichzeitlichen Rahmen richten, in ihrer Erfahrung keineswegs als mateVgl. Hilbert an Frege, 29. 12. 1899: »Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen, mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch die Axiome gesetzten Dinge.« (Gottlob Freges wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. v. G. Gabriel u. a., Hamburg 1976, S. 66, vgl. Hilberts Konzept, S. 68). 1784 Von mir benützt in deutscher Übersetzung von Helmut Scholz: Einzelwesen und logisches Subjekt, Stuttgart 1972; daraus die folgenden Angaben. 1783

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rielle Körper vorkommen, sondern als Lichtflecke: Sonne, Mond und Sterne. Der Raum kann die ihm von Strawson zugemutete Rolle als konstantes Bezugssystem für Identifizierung und Wiedererkennung nur als System relativer Orte spielen, die sich gegenseitig durch Lagen und Abstände bestimmen, als Ortsraum, für dessen Stabilisierung (gegen Wechsel der Perspektive) es aber nicht auf materielle Körper ankommt, sondern auf glatte Flächen. 1785 Der massive Körper mit seinem undurchsichtigen Inneren leistet dazu keinen Beitrag und wird nur im Hinblick auf schneidende Flächen dreidimensional. Es ist ein empirischer Zufall, dass Flächen meist Oberflächen von Körpern sind; ebenso könnten sie vorgespiegelte Lichtflecken wie Regenbogen und Sonne sein. Eine Welt aus stabilen glatten Lichtflecken würde ebenso zur Bildung eines Ortsraumes taugen wie eine Welt aus massiven Körpern mit Oberflächen. Nicht geeignet sind dagegen Flüsse, die Strawson (S. 57) zu den materiellen Körpern rechnet, überhaupt flüssige Körper; sie sind nicht durch Flächen schneidbar, und folglich kann der Schwimmer, der in sie eintaucht, sie nicht als dreidimensional erfahren. Auf S. 75–110 bemüht sich Strawson mit künstlichen Fiktionen und dürftigem Erfolg, in einer rein akustischen Welt ohne Körper ein Analogon des Ortsraumes zu rekonstruieren, um auch dort ein Identifizieren und Wiedererkennen zu ermöglichen. Er scheint zu verkennen, dass optische und akustische Wahrnehmung dafür in ganz verschiedener Weise gerüstet sind. Der optische Ortsraum hat dem Schall die Möglichkeit gleichzeitiger Anordnung gleicher Individuen voraus, ist ihm aber weit unterlegen in der Eignung zum sukzessiven Identifizieren und Wiedererkennen. Man stelle sich vor, ein Zuhörer hinter einer Wand vernehme aus dem Nebenraum, den er nicht kennt, einen anhaltenden, erregten Wortwechsel von vielleicht vier ihm unbekannten Personen. Durch die Schallfolgen der Äußerungen hindurch vernehme er charakteristische Stimmen, die nach kurzem Verstummen wiederkehren, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben; darunter möge etwa eine keifende, eine sonore, eine brüchige, eine bedächtige Stimme sein, ohne dass diese Adjektive deren charakteristische Eigenarten ausschöpfen könnten. Für diese Selbstverständlichkeit des Beharrens trotz unterbrochener Dauer gibt es im optischen Ortsraum kaum ein Analogon; es ist so gut wie konventionell, wie lange man Vgl. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 186–204: Der erlebte und der gedachte Raum.

1785

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einem materiellen Körper das Beharren als derselbe zugestehen will, statt ihn in Scheiben zeitlicher Querschnitte zu zerlegen. Personen: Strawson will zeigen, dass Personen nur im Verhältnis zu anderen Personen und also als sowohl mit materiellen Körpern als auch mit Bewusstseinszuständen begabt identifiziert und wiedererkannt werden könnten. Wie er das begründet, wird nicht ganz klar. Am Besten scheint sich dafür der Satz (S. 136) zu eignen: »Die Idee, sich selbst oder überhaupt einem Subjekt Bewusstseinszustände zuzuschreiben, hat keinen Sinn, wenn der Zuschreibende nicht schon weiß, wie zumindest einige Bewusstseinszustände auch anderen Subjekten zuzuschreiben sind.« Er scheint sich hiernach die sogenannten Bewusstseinszustände so vorzustellen, als müssten sie aufgelesen und durch Selbstzuschreibung angeeignet werden, wozu es keinen Anlass gäbe, wenn sich nicht Konkurrenten um die Aneignung bewürben; dazu gehören aber materielle Körper, damit die Konkurrenten von einander Notiz nehmen können. Wenn ich Strawson hier richtig verstanden habe, beruht sein Raisonnement auf dem Fehler, das Subjekt und sein Selbstbewusstsein auf Selbstzuschreibung (sich selbst für etwas zu halten) fußen zu lassen. Solche ursprüngliche Selbstzuschreibung würde sich in einem unendlichen Regress vor dem Ziel totlaufen, weil für das Relat der Identifizierung immer schon eine Selbstzuschreibung vorausgesetzt wäre, damit man merken kann, dass man selbst der ist, mit dem identifiziert wird. Folglich gehört zur Selbstzuschreibung, damit sie möglich wird, ein tieferes Selbstbewusstsein, das auf Selbstzuschreibung nicht angewiesen ist, nämlich das affektive Betroffensein: Ich brauche, um z. B. einen Schmerz zu leiden, nicht einen Schmerz zu finden und mir daraufhin die Rolle des Gequälten zuzuschreiben, sondern ich spüre schon, dass ich leide, ehe ich einen Schmerz als Gegenstand finde und auflese. Dafür bedarf es keiner anderen Person, mit der ich mich vergleichen müsste. Dieses elementare Selbstbewusstsein gehört zu meinen »Bewusstseinszuständen«, sofern ich bei mir bin, weil ich sonst nicht merken könnte, dass es sich um mich selber handelt. Im zweiten Teil seines Buches wendet sich Strawson dem Universalienproblem zu: Er unterscheidet Individuen von Gattungen durch das Merkmal, dass jene in die Rede durch eine Berufung auf außersprachliche Tatsachen eingeführt werden müssen, während für die Einführung von Gattungen der bloße Gebrauch der Sprache genüge. Das ist scharfsinnig und weitgehend treffend betrachtet, trifft aber nicht auf Arten und Halbarten (21.1) zu, sondern nur auf Gat619

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tungen im engeren Sinn, eigentlich sogar nur auf die gedanklich konstruierten begrifflichen Gattungen, während die vorbegrifflichen gar nicht eingeführt werden müssen, sondern in der Sprache bereitliegen. Sehr interessant ist die Fragestellung im 7. Kapitel des 2. Teils (»Sprachen ohne Einzeldinge«, S. 274–288). Strawson untersucht hier die Ausdrucksfähigkeit einer möglichen Sprache, die ohne Namen und Kennzeichnungen für Individuen (in seinem Sinn) auskommt, und gelangt zu einem ziemlich niederschmetternden Ergebnis, aber nur, weil er so zaghaft ist, auch einer solchen Sprache die Subjekt-Prädikat-Struktur (S. 283) zuzumuten. Eine Sprache ohne Namen, die sich auf Infinitive, Adverbien mit einem reich entwickelten Anhang von Adverbialsuffixen zur grammatischen Steuerung und satzbildende Operatoren (der Negation, Satzverknüpfung, Quantifizierung und Modalität) beschränkte, könnte ebenso elegant, bequem und ausdrucksfähig wie die unsrige sein, aber ihre Einzelwesen wären nicht Körper und Personen, Farben und Geräusche, sondern Sachverhalte, Programme und Probleme. In einer solchen Sprache würden nicht Beziehungen einer Sache zu anderen Sachen dargestellt werden, sondern komplexe Verhältnisse vor der Aufspaltung in Relationen. Das zum Sprechen dieser Sprache gehörige Denken wäre nicht diskursiv, sondern müsste von einem ganzheitlichen Geschehen her differenzieren und nuancieren. Weil wir das nicht können, bleibt eine solche Sprache uns versagt. Die grönländische Sprache scheint aber in diese Richtung zu tendieren. 1786 43.4.4 Philosophie des Geistes Von den früheren Gestalten des Positivismus trennt sich die analytische Philosophie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch den Übergang ins Lager der Metaphysik mit dem Aufstieg des Naturalismus zur herrschenden Meinung, die durch die empirischen Erfolge der Naturwissenschaft zwar suggestiv, aber keineswegs zwingend und ohne vernünftige Alternativen 1787 nahegelegt wird. Ein Grund Vgl. Nikolaus Fink, Die Haupttypen des Sprachbaus, Nachdruck der 3. Auflage von 1936, Stuttgart (Darmstadt) 1961, S. 31–46. 1787 Man braucht die Angebote der Geometrie und der Mengenlehre nur wenig zu strapazieren, um alles, was zum Naturalismus motiviert, gleichwertig durch die Figur eines 1786

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dafür wurde unter 43.4.1 vermutet. Das Gorgonenhaupt der rezessiv entfremdeten Subjektivität1770 muss fürchterlich sein, wenn es die Kraft gehabt haben sollte, den Positivismus, der seinen Namen durch Comte der Frontstellung gegen die Metaphysik verdankt1698 und von so entschlossenen Antimetaphysikern wie Avenarius, Mach und Carnap angeführt wurde, in die Arme der Metaphysik zu treiben. Die Akzeptanz des Naturalismus verbindet sich in der analytischen Philosophie mit der Einspannung der unwillkürlichen Lebenserfahrung in die Gegenüberstellung von mental phenomena (43.4.1) mit den Konstrukten der Naturwissenschaft, wobei als Schnittstelle das Gehirn fungiert, das schon von Avenarius ausgezeichnet worden war, aber mit vorsichtigem Ausweichen vor jeder Behauptung realer Abhängigkeit in die Prinzipialkoordination (43.1). Die analytische Philosophie nützt dagegen das Gehirn (allenfalls mit Hinzunahme weiterer, vornehmlich nervöser, Körperteile) zur Herabsetzung der mental phenomena, die entweder ganz in das Gehirn eingestampft oder als unselbstständige Begleiterscheinungen an materiellen Trägern (ungefähr wie Spiegelbilder) entwertet werden sollen; sie tritt gleichsam zum Brudermord des Reduktionismus am Psychologismus in der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung an. Zu diesem Zweck wurde und wird in anhaltendem Eifer eine Vielfalt von Erklärungs- und Wegerklärungsmustern vorgebracht, die von Searle kritisch porträtiert worden sind. 1788 Er unterscheidet logischen Behaviorismus, Theorie der Typen-Identität (Arten von mental phenomena sind Arten von Gehirnzuständen), Theorie der Token-Identität (die einzelnen beobachtbaren mental phenomena sind einzelne Gehirnzustände), Black-Box-Funktionalismus (das Mentale besteht in der kausalen Gleichwertigkeit von Gehirnzuständen), starke künstliche Intelligenz (die den Black-BoxFunktionalismus am Computer veranschaulicht), eliminativen Materialismus (der den Glauben an Mentales mit dem ganzen zugehörigen »Sprachspiel« für ein entbehrliches, unwissenschaftliches Vorspiel der bloßen Rede von Gehirnzuständen hält) und die Naturalisierung der Intentionalität (die in physische Kausalzusammenhänge umgedeutet werden soll). Das Diskussionsgeflecht um diese Hypothesen im Zeichen des eben etwas drastisch als Brudermord abgestempelten transzendenten demiurgischen Dämons zu erklären, der keineswegs Gott sein muss, sondern bei aller übermenschlichen Leistungsfähigkeit ein armer Teufel sein kann. 1788 Wie Anm. 1769, S. 43–75, vgl. besonders die Übersichtstafel S. 71.

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Bestrebens ist die Philosophie des Geistes, die mehr und mehr zum beherrschenden Thema der analytischen Philosophie geworden ist. Diese Philosophie des Geistes hat als oberste und grundlegende Voraussetzung das Dogma des Naturalismus im unter 44.4.1 angegebenen Sinn. Dieses Dogma ist falsch. Die Naturwissenschaft auf der Grundlage der Physik kann die unwillkürliche Lebenserfahrung weder vollständig noch auch in Teilen erklären, weil sie bei der zu erklärenden unwillkürlichen Lebenserfahrung eine Anleihe machen muss, die mit den Mitteln der Physik nicht konstruierbar ist. Dabei handelt es sich um den Fluss der Zeit in dem oben zu Spinoza angegebenen Sinn.942 Ich habe das Argument schon gegen Kants Auffassung der Zeit (s. o. 35.3.2) ausgespielt und will es kurz wiederholen: Die Zeit der Physik ist eine reine Lagezeit, d. h. bloß eine Anordnung von Ereignissen (oder sonstigen Gegenständen) durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. Die Zeit der unwillkürlichen Lebenserfahrung ist eine modale Lagezeit, in der die reine Lagezeit durch die Einteilung der Ereignisse (oder sonstigen Gegenstände) in die drei Klassen der vergangenen (die nicht mehr sind), der gegenwärtigen (die sind) und der zukünftigen (die noch nicht sind) überformt wird. Diese modale Lagezeit wird wiederum überformt durch den Fluss der Zeit, der darin besteht, dass die Masse (nicht Klasse oder Menge) des Vergangenen wächst, die Masse des Zukünftigen (auch für den Fall unendlicher Zukunft) schrumpft und die Masse des Gegenwärtigen wechselt, indem sie sich gleichsam in die Zukunft hineinfrisst, ohne Unterlass. Dank dieses Flusses der Zeit hat das Jahr, in dem ich dieses schreibe, vor allen anderen Jahren der z. B. christlichen Zeitrechnung den allerdings nicht bleibenden Vorzug, die Gegenwart zu beherbergen. Diesen Vorzug kann die Physik nicht konstruieren; sie erweist sich dadurch als unfähig, den Fluss der Zeit in ihre Theorien aufzunehmen. Andererseits bedarf sie dieses Flusses für ihre Theorien in zwei Stufen, von denen eine sozusagen die Vorstufe ist, die andere die Endstufe oder ultima ratio. Die Vorstufe besteht darin, dass gerichtete Prozesse nur durch den Fluss der Zeit möglich sind. In der reinen Lagezeit der Physik kommen nämlich nur ungerichtete (gleich gut nach zwei oder mehr Seiten ablesbare) Verhältnisse vor; auch die irreführend sogenannten irreversiblen Prozesse der Physik sind von dieser Art, nämlich monotone Funktionen wie die Potenz natürlicher Zahlen. Ohne den Fluss der Zeit gäbe es keine Möglichkeit, in komplexe Verhältnisse durch eine Richtung einzudringen. Dann wären aber nicht nur Prozesse unmög622

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lich, sondern auch Beziehungen, die gleichfalls nur durch Aufspaltung von Verhältnissen nach dieser oder jener Richtung denkbar sind. Also bedarf es schon zum bloßen Denken von Beziehungen des Flusses der Zeit. In der Vorstufe ist demnach die Physik vom Fluss der Zeit dafür abhängig, dass sie eine Theorie der Prozesse sein kann, in der Endstufe dafür, dass sie überhaupt eine Theorie sein kann, die Beziehungen betrifft; mindestens darauf müsste sie sich aber auch dann zurückziehen, wenn sie zugunsten eines statischen Weltbildes den Menschen alle Prozesse ausreden wollte, wie der eliminatorische Materialismus ihnen das Denken, Fühlen, Wollen zugunsten elektrischer und chemischer Gehirnprozesse ausreden will. Überdies könnte ohne Fluss der Zeit kein Physiker hoffen, je noch etwas zu lernen oder sich durch kritische Prüfung seiner Ansichten belehren zu lassen; auf dieser Hoffnung beruht aber die wissenschaftliche Gesinnung. Zur Anwendung dieses Ergebnisses auf die analytische Philosophie des Geistes ersetze ich den willkürlich genähten Flickenteppich der mental phenomena (s. u. 44.4.1) durch die unwillkürliche Lebenserfahrung, die alles ist, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Nach Maßgabe der Philosophie des Geistes sind die Bestandteile dieser Erfahrung entweder Gehirnzustände oder von solchen nur durch Auslese, Umgruppierung und Anordnung unterschieden, wie etwa ein Computerprogramm von der physischen Arbeit der Computermaschine. Man kann solche Identifizierungen nicht dadurch widerlegen, dass man das Zutrauen, eine Seite des Verhältnisses unabhängig von der anderen vorstellen zu können, plausibel zu machen versucht; das war der Fehler des Descartes,836 den in der analytischen Diskussion über den Geist Kripke wiederholt hat. 1789 Wohl aber genügt es für Nichtidentität von A und B, wenn A eine Eigenschaft besitzt, die B fehlt. Das reicht zur Widerlegung des eliminativen Materialismus. »Die Identität von Geist und Hirn sei, so nahm man an, eine empirische Identität – die Art Identität, die (wie man annahm) auch zwischen Blitz und elektrischer Entladung (Smart 1959) oder zwischen Wasser und H2O-Molekülen (Feigl 1958; Shaffer 1961) besteht: empirische und

Vgl. Saul A. Kripke: Aus Identität und Notwendigkeit, ins Deutsche übersetzt in: Phänomenales Bewusstsein – Rückkehr zur Identitätstheorie?, hg. v. M. Pauen und A. Stephan, Paderborn 2002, S. 83–89.

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kontingente Identität. Durch wissenschaftliche Entdeckungen hat sich einfach herausgestellt, dass ein Blitzstrahl nichts als ein Strom von Elektronen und dass Wasser in all seinen verschiedenen Formen nichts als eine Ansammlung von H2O-Molekülen ist.« 1790 Der Vergleich beruht auf einer falschen Voraussetzung. Ein Blitz ist keine elektrische Entladung, weil er eine sehr charakteristische Eigenschaft besitzt, die dieser fehlt: Ein Blitz ist gleich vorbei; kaum hat er gezuckt, ist er auch schon vergangen oder nicht mehr. Eine elektrische Entladung als Gegenstand der physikalischen Theorie, also in einer reinen Lagezeit, kann dagegen niemals vorbei sein, wenn sie auch einen genau datierbaren Platz in der z. B. christlichen oder islamischen Zeitrechnung und keinen anderen einnimmt. Entsprechendes gilt für Wasser und H2O, nur nicht so auffällig, weil dem Wasser nicht das Merkmal des Momentanen sinnfällig eingeprägt ist; aber auch Gewässer vergehen. Bisher habe ich gegen den Naturalismus nur insofern argumentiert, als er die Fundierung der Naturwissenschaft auf Physik voraussetzt. Damit hat er recht, weil die übrigen Naturwissenschaften ihre Thesen mit Hilfe von Messungen begründen, die mit Hilfe von Apparaten, die nach Theorien der Physik gebaut sind, erbracht werden, und also am Gängelband der Physik laufen. Die Unbegründetheit des Naturalismus lässt sich aber auch ohne Appell an die Physik gerade am Leitmotiv der analytischen Philosophie des Geistes zeigen, nämlich an der Schlüsselstellung, die das Gehirn als Schnittstelle zwischen unwillkürlicher Lebenserfahrung und naturwissenschaftlichen Konstrukten besitzt. Alle Inhalte der unwillkürlichen Lebenserfahrung werden in der analytischen Philosophie des Geistes als Resultate von Gehirnfunktionen hingestellt, sei es als kausale Erzeugnisse, sei es als superveniente Epiphänomene. Unter jenen Inhalten kommt aber auch das Gehirn vor, allerdings nur als sinnfälliges Objekt, von dem sich das von der Naturwissenschaft aus Messungen und deren theoretischer Verarbeitung konstruierte Gehirn in vielen Hinsichten unterscheidet; doch ist dieses Konstrukt in anderer Beziehung, z. B. hinsichtlich geometrischer Eigenschaften, auf Übereinstimmung mit dem sinnfälligen Gehirn angewiesen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung; denn aus der Beschaffenheit der Wirkung oder des supervenienten Epiphänomens kann man nicht auf die Beschaffenheit der

1790

Searle, wie Anm. 1769, S. 52.

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Ursache bzw. des Substrates schließen. Um diesen Legitimationsmangel kommt mit der analytischen Philosophie des Geistes die Naturwissenschaft nicht herum, weil sie auf die Auszeichnung des Gehirns als Schnittstelle zwischen Natur und unwillkürlicher Lebenserfahrung hinausläuft, schon in Konsequenz des unter 43.4.2 widerlegten Physiologismus. Das Argument der Legitimationslücke lässt sich auch unabhängig vom Gehirn gegen den Naturalismus vorbringen. Von einem Effekt darf man auf dessen Ursache nur schließen, wenn einschlägige kausale Zusammenhänge unabhängig von Beobachtungen am Effekt bekannt sind. Andernfalls wäre die Herkunft eine notwendige Folge der Beschaffenheit, ihre Feststellung ein analytisches Urteil, und es ist eine bleibende Errungenschaft Humes, festgestellt zu haben, dass kausale Zuschreibungen synthetisch sind. Nun sei W der Bereich aller von Menschen wahrnehmend und registrierend erhobenen Befunde. Die Naturwissenschaft kann unabhängig von Beobachtungen an W keine kausalen Zusammenhänge ermitteln, die für die Verursachung von W einschlägig wären; denn zwar fügt sie zu W zahlreiche Parameter und Berechnungen hinzu, aber alle diese Zusätze verdanken ihre Glaubwürdigkeit lediglich der prognostischen Bewährung in W, gewähren also kein von W unabhängiges Wissen. Also ist die Naturwissenschaft für die kausale Erklärung von W nicht zuständig. Das Entsprechende wie für Kausalität gilt für Supervenienz, davon abgesehen, dass diese auf Kausalität zurückführt, wenn man nach der Ursache dafür fragt, dass das Substrat einen solchen Zusatz erhält. Schließlich scheitert der Naturalismus daran, dass alle naturwissenschaftlichen Erklärungen nicht über die objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, hinaus an die subjektiven heranreichen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Ich habe unter 35.3.4, 36.1 und 43.2.1 darauf hingewiesen, dass im Deutschen das Wort »ich« außer der pronominalen Funktion, einen Namen oder eine Kennzeichnung einer anderweitig bekannten Person zu vertreten, die andere und fundamentalere besitzt, die Aussage einer subjektiven Tatsache oder eines subjektiven untatsächlichen Sachverhaltes anzuzeigen. Wenn seine Funktion bloß pronominal ist, kommt für die Darstellung des gemeinten Sachverhaltes nichts darauf an, das Pronomen zu verwenden, weil dieselbe Nachricht durch Einsetzung eines passenden Namens oder einer solchen Kennzeichnung ausgedrückt werden kann. 625

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In Fällen lebhaften affektiven Betroffenseins ist es anders. Gesetzt, dass ich in ruhiger Umgebung, in der kein anderer Mensch spricht, Feuer fange, liegt es nahe, dass ich den Hilferuf ausstoße: »Hilfe, ich verbrenne!« Das wäre kein echter Hilferuf mehr, wenn ich stattdessen riefe: »Hilfe, die Person, die gerade spricht, verbrennt, wobei es nicht darauf ankommt, dass ich es bin.« Ebensowenig wäre die Liebeserklärung geglückt, die die Stille trauter Zweisamkeit mit der Beteuerung unterbräche: »Die Person, die gerade spricht, liebt dich, wobei nichts darauf ankommt, dass ich sie bin.« Dann werden also für den aufrichtigen Sprecher subjektive Tatsachen ausgesagt. Solche subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind die vollen, die durch Abfallen der Subjektivität aus ihnen freisetzbaren objektiven oder neutralen Tatsachen nur ihre abgeblassten Schattenbilder; indem die Naturwissenschaft sich mit ihnen begnügt, kommt sie an die unwillkürliche Lebenserfahrung nicht heran, sondern verweilt in einer gleichsam bloß erzählten, nicht gelebten Welt. Mit dem Dogma des Naturalismus ist die darauf gebaute analytische Philosophie des Geistes entwertet. Ihr Fehler besteht darin, die Erklärungsleistung der Naturwissenschaft falsch einzuschätzen. Die fundamentale Leistung der Naturwissenschaft, der sie ihr Ansehen verdankt, ist nicht das Erklären, sondern die Bewährung in Prognosen, wodurch der Maschinentechnik der Weg zu immer weiterem Ausgreifen ihres geregelten Zauberns gewiesen wird und die Menschen bessere Gelegenheiten erhalten, ihre Pläne auf je nach Wahl Bevorstehendes abzustimmen. Der Erfolg in Prognosen verschafft der Naturwissenschaft ein Ansehen, dem man die Kompetenz auch für Erklärungen, die keine Prognosen enthalten, zutraut. Dieses Zutrauens erweist die Naturwissenschaft sich würdig, indem sie höchst scharfsinnig und sorgfältig durchdachte und begründete Erzählungen liefert, die die Herkunft beobachtbarer Vorkommnisse aufklären sollen. Diese Erzählungen sind fast immer plausibel, wenn auch nicht zwingend erwiesen oder alternativlos. Nur gelegentlich versteigt sich dabei auch die Naturwissenschaft, indem sie etwa das Gehirn als Quelle der unwillkürlichen Lebenserfahrung ausgibt oder den Fluss der Zeit wegredet (und damit den Ast, auf dem sie sitzt, absägt). Dazu kann die Verräumlichung der Zeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie verführen; deren Erfinder Einstein schrieb nach dem Tode eines Freundes den inzwischen öfters zitierten Satz: »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illu626

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sion.« 1791 Hinter der unwillkürlichen Lebenserfahrung bleibt die Erklärungsleistung der Naturwissenschaft unvermeidlich zurück. Erfreulich ist, dass eine der erfolgreichsten und angesehensten naturwissenschaftlichen Disziplinen, die Quantenphysik, angesichts paradoxer Befunde dieser Einsicht und der sich daraus ergebenden Bescheidung manchmal näher zu kommen scheint als der Stand der Überzeugung in anderen naturwissenschaftlichen Fächern.

Albert Einstein und Michele Besso, Briefwechsel 1903–1955, Paris 1972, von mir zitiert nach: Ilya Prigogine, Isabella Stengers: Dialog mit der Natur, übersetzt nach dem englischen Manuskript von F. Giese, 2. Aufl. München 1981, S. 286.

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44. Lebensphilosophie

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44.1 Bergson Die große geschichtliche Leistung der Lebensphilosophie besteht darin, dass sie entschieden Front gegen den zur herrschenden Meinung aufgestiegenen Singularismus gemacht und dafür andere Mannigfaltigkeitstypen als die numerische Mannigfaltigkeit Einzelner (numerischer Einheiten) zur Sprache gebracht hat. Als ausdrücklich leitendes Thema durchzieht diese Leistung das Werk von Henri Bergson. 1792 Der klare, schlichte Aufbau seines Werkes gestattet mir, dieses in drei Etappen zu verfolgen, die durch drei Bücher aus seiner frühen, mittleren und späten Zeit gebildet werden: Essai sur les données immediates de la conscience (1889), L’évolution créatrice (1907), Les deux sources de la morale et de la religion (1932). 1793 Essai sur les données immediates de la conscience (S. 3–156): Nach einem fehlgeschlagenen und für das Folgende belanglosen Versuch im 1. Kapitel, die Intensität1247 loszuwerden, entwickelt Bergson im Rest des Buches seine Entdeckung der reinen Dauer sich durchdringender Bewusstseinszustände als eines Typus nicht zahlfähiger Mannigfaltigkeit im Gegensatz zu der zählbaren Mannigfaltigkeit, die am Raum als der Form der Nebeneinanderstellung (Juxtaposition) abgelesen und von dort auf das Seelische übertragen wird. Der wichtige Ertrag dieser Entdeckung leidet nicht daran, dass er einer sehr naiven und unzulänglichen Vorstellung von Zahl und Raum abgewonnen wird, für die Bergson auch dadurch entschuldigt ist, dass er sie mit der überlieferten herrschenden Meinung und deren DiriIch zitiere Bergson mit bloßen Seitenzahlen der Gesamtausgabe: Henri Bergson, Œuvres. Édition du Centenaire, Paris (Presses Universitaires de France) 1959, 2. Auflage 1963. 1793 Das Buch Matière et Mémoire von 1896 mit seinen Spekulationen über die Funktion des Gehirns scheint mir nur antiquarisches Interesse zu verdienen, so dass ich es hier unberücksichtigt lasse. 1792

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Bergson

genten (Euklid, Kant, Cantor) teilt. Darauf fußt Bergson, indem er davon ausgeht, wie man gewöhnlich die Zahl definiere, nämlich als Ansammlung von Einsen, 1794 die unter einander identisch seien oder beim Zählen als identisch gesetzt würden; man müsse, um zu zählen, die individuellen Differenzen vernachlässigen (S. 51 f.). Man sieht, Frege hat im geistigen Horizont von Bergson noch nicht sein Werk für die Zahl getan (43.3.1). Bergson verwechselt die Zahl, die Eignung von Mengen zu umkehrbar eindeutiger Abbildung, mit dieser umkehrbar eindeutigen Abbildung selbst und meint daher, dass die Zahl bei der Erzeugung einer solchen Abbildung oder Zuordnung, dem Zählen, durch brüske Übergänge vom einen zum anderen Glied (durch Sakkaden) gebildet werde (56); in Wirklichkeit zählt man gar nicht Schafe oder Geldscheine usw. – das ist nur eine laxe Ausdrucksweise –, sondern Mengen von Zahlen oder Geldscheinen, indem man die Zahl dieser Mengen durch Paarung zwischen den Schafen, Geldscheinen usw. und den Elementen einer Zählmenge (gern einer Menge von Aussprüchen von Zahlwörtern) ermittelt. Nicht das Mindeste kommt dabei darauf an, irgendwelche Einsen als identisch zu setzen, im Gegenteil, dadurch würde das Zählen einer Menge mit mehr als einem Element verhindert werden. Die individuellen Besonderheiten der Schafe, Geldscheine usw. mit noch so großer Variationsbreite werden durch die Operation der umkehrbar eindeutigen Abbildung nicht in Frage gestellt oder umgedeutet. Bergsons Missverständnis der Arithmetik erinnert an Nietzsches verkehrten Vorwurf an die Logik, sie verfälsche die Wirklichkeit durch die Voraussetzung: »gesetzt, es gibt identische Fälle.« 1795 Die Voraussetzung, dass mehrere Fälle einer Gattung verschieden und dennoch identisch seien, macht die Logik gewiss nicht, aber sie hat auch gar kein Interesse an irgendwelcher Gleichmacherei, so wenig wie die Arithmetik; ich habe das unter 42.4 klargestellt. Mit dem Missverständnis der Zahl schlägt Bergson die Brücke von dieser zum ebenso von ihm verkannten Raum. Jede Operation des Zählens impliziert die simultane Darstellung der gezählten Objekte und versetzt sie dadurch in den Raum (53). Man muss sich die Zahl als Nebeneinanderstellung (Juxtaposition) im Raum vorstellen (58). Der Raum ist homogen, in ihm gibt es nur distinkte Mannigfaltigkeit (und diese nur in ihm); jeder sukzessive Zustand der Außen1794 1795

S. o. Anmerkungen 1738–1740. Wie Anm. 1563, XI 633 f. (40 [13] August–September 1885).

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Lebensphilosophie

welt existiert allein, und eine Mannigfaltigkeit sukzessiver Zustände wird daraus nur für ein Bewusstsein, das sie neben einander stellt. Dagegen durchdringen sich die Zustände des Bewusstseins; sie organisieren sich unmerklich zu einer Solidarität von Gegenwart und Vergangenheit. Die Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände hat in ursprünglicher Reinheit keine Ähnlichkeit mit der distinkten Mannigfaltigkeit, die eine Zahl bildet. Es gibt also zwei Arten von Mannigfaltigkeit, zwei mögliche Weisen des Verhältnisses des einen zum anderen, die qualitative ohne Zahl und die zählbare durch Veräußerung und Verräumlichung (80 f.). Diese simple Gegenüberstellung kann nur gelingen, weil Bergson einzig an den dreidimensionalen Ortsraum, der nur durch die Fläche möglich ist, mit durch Lagen und Abstände angeordneten Objekten in diesem denkt und von flächenlosen Räumen keine Ahnung hat (s. o. 35.3.21231 ). Auch ordnet sich Bergson mit der scharfen Scheidung zwischen Bewusstseinszuständen und Dingen im Raum dem cartesischen Dualismus und damit der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung unter. Diese Belastungen mit Traditionsgut tun aber seiner Originalität keinen Abbruch. Sie besteht in der Herausarbeitung nicht-numerischer Mannigfaltigkeit wechselseitiger Durchdringung: Die ganz reine Dauer ist die Form der Sukzession, die unsere Bewusstseinszustände annehmen, wenn unser Ich sich (frei) leben lässt, ohne eine Trennung des gegenwärtigen Zustandes und der früheren vorzunehmen. Dann zeigt sich statt einer Nebeneinanderstellung eine Verschmelzung wie zu einer Melodie, worin die heterogenen Teile ohne Früher-Später-Ordnung sich durchdringen (67 f.). Mit diesem Gedanken der wechselseitigen Durchdringung, der in der christlichen Theologie sogenannten Perichorese, greift Bergson ein Motiv auf, das Plotin 1796 mit Johannes (19.3) gemeinsam ist, und tastet sich an das instabile, ambivalente Mannigfaltige heran, das sich durch Konkurrenz Verschiedener, die ihre Identität nicht aufgeben, um Identität mit dem Selben vom konfusen chaotischen Mannigfaltigen mit bloßer Unentschiedenheit über Identität und Verschiedenheit unterscheidet (39.1). Im instabilen Mannigfaltigen bleiben also die Glieder sie selbst, und so auch im Bewusstsein nach Bergson: Die psychologischen Elemente, jedenfalls sofern sie tief sind, haben Originalität und Eigenleben; sie werden ohne Unterlass, und das Gefühl ist schon dadurch, dass es sich wie1796

Enneaden VI 2 [43] 20, 17 f., s. o. 15.2.1.

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Bergson

derholt, ein neues Gefühl; keine zwei Bewusstseinszustände können sich gleichen, da sie verschiedene Stadien einer Geschichte bilden (131). 1797 Die Intuition der instabilen Mannigfaltigkeit reiner Dauer, die Bergsons Genialität ausmacht, ist bei ihm dennoch nicht zur Reife begrifflicher Durchsichtigkeit gediehen, wie sich an der Nahtstelle von Dauer und Raum zeigt: »Es gibt einen wirklichen Raum ohne Dauer, wo die Phänomene gleichzeitig mit unseren Bewusstseinszuständen auftauchen und verschwinden. Es gibt eine wirkliche Dauer, deren heterogene Momente sich durchdringen, wobei aber jeder Moment einem Zustand der Außenwelt, der mit ihm zugleich ist, zugeordnet werden kann und sich durch diese Zuordnung von den anderen Momenten trennen kann.« (73) Damit die Zuordnung greifen kann, müssen die zuzuordnenden Bewusstseinszustände als einzelne aus der gegenseitigen Durchdringung herausgeholt werden, und Bergson gibt dafür keinen Schlüssel an; Einzelheit ist ja mehr als Identität.1757 Die Nahtstelle ist ihm aber wichtig für die Unterscheidung zwischen raumnaher Oberflächenperson und in reiner Dauer lebender Tiefenperson (83). Die Simultaneitäten, die die äußere Welt bilden, werden von uns sukzessiv aufgefasst und wirken auf uns zurück, indem sie unsere innere Dauer in ihre Äußerlichkeit hineinziehen (149). An unser tiefes Ich kommen wir heran, wenn wir unsere inneren Zustände wie Lebewesen in ständiger Formung (und Umformung) erfassen, wie sie sich unmessbar durchdringen, unvergleichlich mit der Nebeneinanderstellung im homogenen Raum. Aber die Momente solcher Selbsterfassung sind selten, und deswegen sind wir selten frei (151). Ein freier Akt ist ein solcher, in dem die Person ganz gegenwärtig ist. Sie ist sein Autor, weil er das ganze Ich ausdrückt (109). Das ist aber erst Spontaneität, noch nicht Freiheit; zu dieser fehlt die Verantwortung, für die es nicht reicht, sich ganz in etwas auszudrücken, weil darin noch nicht enthalten ist, sich mit eigener Initiative zu etwas bestimmt zu haben. Für die Freiheit ist auch nichts dadurch gewonnen, dass Bergson aufgrund der wechselseitigen Durchdringung der Bewusstseinszustände keine Mühe damit hat, Determinismus und Vorhersage, die nur im numerischen Später, noch nicht im Essai, begründet Bergson diese Unwiederholbarkeit mit der stetigen Anhäufung der Erinnerung, so S. 499 (L’évolution créatrice): »C’est pourquoi notre durée est irreversible. Nous ne saurions en revivre une parcelle, car il faudrait commencer par effacer le souvenir de tout ce qui a suivi.«.

1797

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Lebensphilosophie

Mannigfaltigen möglich sind, von diesen Zuständen abzuweisen; ich habe unter 35.3.4 zur 3. Antinomie der KrV darauf hingewiesen, dass der Indeterminismus nicht besser als der Determinismus mit Freiheit verträglich ist. L’évolution créatrice (EC, S. 489–807): Schon im Essai (89) bezeichnet Bergson die wechselseitige Durchdringung auch als Schwung (élan), der allen unseren Ideen gemeinsam sei. In EC erweitert sich die psychologische Sicht zur biologischen, und dieser Schwung erscheint nun als ursprünglicher Schwung des Lebens (élan originel de la vie 569, sonst auch élan de vie, élan vital), der aber denselben Sinn hat wie im Essai: Der Vergleich des Lebens mit einem Schwung ist auch nur ein Bild (713) für die wechselseitige Durchdringung und Stetigkeit, die ich im Grund meiner selbst finde, einer Vieleinigkeit (unité multiple et multiplicité une) (714) wie bei den Neuplatonikern (15.2; 16.3; 17.2; 18.3). Einheit und Vielheit sind nach Bergson nicht genau auf die Durchdringung passende Kategorien des Verstandes; diese ist mein inneres Leben, aber nach außen, im Verhältnis zur Materie, ist das Leben ein Schwung; in sich ist es eine immense Virtualität, ein Ineinandergreifen von abertausend Tendenzen, die aber nur durch Veräußerung und Verräumlichung so heißen, d. h. als zahltragend gelten können. Erst die Materie bewirkt diese Dissoziation, so wie ein poetisches Gefühl, das den Reichtum eines Gedichtes schon in sich trägt, erst durch die Materialität der Sprache zu einem Werk aus Worten und Versen wird (714). Das Leben ist an sich (en réalité) von psychologischer Natur, indem es eine konfuse Vielheit sich durchdringender Terme enthält (713); so ist das innere Leben, aber auch das Leben im Allgemeinen, das im Raum von der Materie zerteilt wird, indem es gegen sie als Schwung seine integrierende Kraft behauptet (714). Das ist plotinisch gedacht, und Bergson beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf Plotin (673, Anmerkung 1). Das Doppelgesicht von unzerteiltem Lebensschwung und teilender Juxtaposition im Raum macht er sich an der Handbewegung klar, die im leiblichen Vollzug einer Geste als einfach gespürt wird, während ihre Bahn, der das Auge folgt, beliebig geteilt werden kann (572 f., auch schon Essai 74 f.). Die Natur (als gestaltender Lebensschwung) hat nicht mehr Mühe, ein Auge zu machen, als ich habe, meine Hand zu bewegen; die Einfachheit ihres Aktes bedarf keiner mechanistischen oder finalistischen Erklärung (573). Ähnlich wie Schopenhauer, dessen metaphysischen Willens632

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Bergson

monismus er aber ablehnt, 1798 bahnt sich Bergson den Weg von der Selbstbesinnung zum dynamischen Weltprinzip über das Wollen: Damit unser Bewusstsein mit etwas von seinem Prinzip zusammenfällt, muss es sich von allem Gemachten lösen und an das sich Machende halten. Dazu muss das reflektierende Sehen eins mit dem Wollen werden. In der freien Handlung, wenn wir unser Wesen zusammenziehen, um es vorwärts zu werfen, haben wir ein mehr oder weniger deutliches Bewusstsein unserer Motive und ihrer Organisation; aber das reine Wollen, der Strom, der die Materie durchzieht, indem er ihr das Leben mitteilt, ist uns kaum fühlbar, höchstens streifen wir ihn im Durchgang (696 f.). »Wenn wir unser Wesen in unser Wollen legen und unser Wollen selbst in den Antrieb, der es weiterführt, dann begreifen, dann fühlen wir, dass die Wirklichkeit ein beständiges Wachsen ist, eine Schöpfung, die sich ohne Ende fortsetzt.« (698) Der Schwung des Lebens ist ein Verlangen nach Schöpfung, das auf die zum Gegenteil tendierende Materie trifft, die Notwendigkeit, in die er das größtmögliche Maß von Freiheit und Indeterminiertheit einzuführen sucht (708). Demgemäß ist das Leben wie eine steigende Flut, deren Verlauf auf verschiedenen Höhen durch die Materie in ein Sichdrehen auf der Stelle verwandelt wird. Nur an einem Punkt durchbricht es das Hindernis, das seinen Weg zwar erschwert, aber nicht stoppen kann. Dieser Punkt ist die Menschheit (723). Die Pflanze sammelt die Energie, die das Tier brüsk ausgibt. Das Werk der Pflanze ist wie das Heben der Hand (Sammlung potentieller Energie, 597), das Werk des Tieres wie das Fallen des von der Hand gehobenen Gewichts (Umwandlung potentieller Energie in kinetische) (704). Vom Affen unterscheidet sich der Mensch durch die Entgrenzung seiner Möglichkeiten. Das Tier ist in einer begrenzten Klaviatur der Routine befangen. Die Pforten dieses Gefängnisses öffnen sich immer nur für einen Augenblick. Im Menschen zerbricht das Bewusstsein die Kette und befreit sich (718 f.). Überall außer im Menschen wird das Leben wie eine sich ausbreitende Welle aufgehalten; nur der Mensch durchbricht den Damm (720 f.). »Alle Lebewesen halten sich fest, und alle weichen demselben gewaltigen Stoß. Das Tier nimmt seinen Stützpunkt an der Pflanze, der Mensch reitet auf der Tierheit, und die ganze Menschheit im Raum und in der Zeit ist eine ungeheure Armee, die an der Seite eines jeden von uns, vor und hinter uns, in einem mitreißenden 1798

S. 1291 (La pensée et le mouvant, 1934).

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Lebensphilosophie

Angriff galoppiert, fähig, alle Widerstände zu überrennen und Hindernisse zu überspringen, vielleicht sogar den Tod.« (724 f.) Les deux sources de la morale et de la religion (S. 981–1245): Die vitale Energie, die die Materie durchzieht, ist von derselben Art wie das Bewusstsein. Während ihres Kampfes gegen Hindernisse entfaltet sie sich in zwei Richtungen der Erkenntnis: den Instinkt und die Intelligenz. Der Instinkt ist die in Somnambulismus versunkene Intuition. 1799 Die von einem Intuitionsschimmer verklärte Intelligenz, die sich auf den élan vital zurückwendet und ihn durchleuchtet, ist die Mystik (1187). Die mystische Erfahrung verlängert die Philosophie des élan vital (1188). Sie besagt: Gott ist Liebe (nach 1. Johannes 4, 16). Er wird Person in einem Menschen, der ganz in Liebe aufgeht (1189). Diese Liebe genügt sich selbst als Atmosphäre eines Gefühls, statt als Liebe zu einer Person. Sie nimmt wie eine sublime Musik verschiedene Gestalten an (1191 f.). Im Gefolge der Mystik erfasst der Philosoph das Universum als den sicht- und tastbaren Aspekt der Liebe, der schöpferischen Emotion. Damit überschreitet er den Rahmen der Ergebnisse von L’évolution créatrice (1192 f.). Gott ist die schöpferische Energie (des élan vital), und die Lebewesen, die sie hervorbringt, sind dazu da, zu lieben und geliebt zu werden (1194). Der Pflichtmoral, d. h. dem Instinkt der Anpassung an soziale Normen, steht als andere Gesinnung die der offenen Seele gegenüber. Sie umarmt nicht nur die ganze Menschheit, sondern darüber hinaus auch Tiere, Pflanzen und die ganze Natur, ohne sich an diese Objekte zu binden. Ihre Form hängt nicht von ihrem Gehalt ab. Die Liebe als Caritas würde bei dem, der sie besitzt, auch noch existieren, wenn er das einzige Lebewesen auf Erden wäre (1006 f.). Nur durch einen Exzess des Individualismus hängt man das Gefühl an einem Objekt auf (1008). Man muss zwei Arten von Gefühl (sentiment) und Emotion unterscheiden. Die eine folgt einer Idee oder einem Bild; die andere schafft Ideen und Bilder; sie ist schwanger mit Repräsentationen, in denen sie sie nicht erschöpft (1011). Die davon geleitete Moral folgt nicht dem Druck der Pflicht, sondern dem Zug eines Gefühlszustandes (1016). Dazu gehört das Gefühl eines Zusammenfalls mit der erzeugenden Kraft des Lebens (1020). Auch in dieser Moral gibt es, wenn man so will, eine VerS. 1274: »Intuition ist das, was den Geist, die Dauer, den reinen Wandel erreicht.« S. 1275: »Intuitiv denken ist: in Dauer denken.« (»penser intuitivement est penser en durée.«) (La pensée et le mouvant).

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pflichtung, die die unmittelbare Kraft des Schwunges (élan) und Trachtens ist, das bis zum Menschsein vorgedrungen ist, aber nicht ein Reflex der Mechanismen, bei denen der Schwung sich auf dem jeweiligen Niveau angehalten hat (1021). Zwischen der Moral der Pflicht und dieser Moral des Schwunges gibt es den Unterschied von Ruhe und Bewegung. Jene beansprucht eine endgültige Form. Diese ist ein Stoß, ein Verlangen nach Bewegung, Beweglichkeit im Prinzip. Dadurch ist sie jener überlegen; nur dadurch könnte sie definiert werden (1024).

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44.2 Dilthey Im letzten Jahr seines Lebens (1911) begründet Wilhelm Dilthey 1800 die Absicht, »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen«, die »der herrschende Impuls in meinem philosophischen Denken« geworden und geblieben sei, mit dem gegen Kant gerichteten Satz: »Hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen.« (V 4, 5) Näher äußert er sich so darüber: »Das Leben, die Lebendigkeit selbst, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zusammenhänge, an welchen alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt. Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit.« (V 83) »Das Denken ist im Leben, kann also nicht hinter dieses selber sehen. (…) Das Denken kann darum nicht hinter das Leben zurück, weil es dessen Ausdruck ist.« (XIX 347) »Wir können nun nicht einen Zusammenhang machen außerhalb dessen, der uns gegeben ist. (…) Das Bewusstsein kann nicht hinter sich selber kommen. Der Zusammenhang, in welchem das Denken selber wirksam ist und von dem es ausgeht und abhängt, ist für uns die unaufhebbare Voraussetzung. Das Denken kann nicht hinter seine eigene Wirklichkeit, hinter die Ich zitiere nach Diltheys Gesammelten Schriften, und zwar (mit einer Ausnahme für Band IV) nur aus den Bänden V (7. Aufl. 1982), VII (1927) und XIX (1982), mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl. Meist handelt es sich um Stellen aus dem Nachlass, wo es auf die Überschrift nicht ankommt; an wichtigen Einzeltiteln, die ich heranziehe, erwähne ich: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894, V 139–240), Leben und Erkennen (XIX 333–388, ca. 1892/93, aus dem Nachlass).

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Lebensphilosophie

Wirklichkeit, in welcher es entsteht, zurückgehen.« (V 194) Das ist eine berechtigte Warnung an dogmatische Metaphysik. Ich möchte ihren Sinn so verdeutlichen: Jede Behauptung, die nicht analytisch (35.1; 43.4.2) ist, kann beweiskräftig nur in dem Maße sein, in dem sie sich auf unwillkürliche Lebenserfahrung – das, was Menschen merklich zustößt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – zu stützen vermag. Die Missachtung dieser Schranke ist dem Positivismus, seit er mit der Metaphysik des Naturalismus ein Bündnis für eine materialistische Philosophie des Geistes einging, schlecht bekommen (43.4.4). »Der Ausdruck Leben spricht das einem jeden Bekannteste, Intimste aus, zugleich aber das Dunkelste, ja ein ganz Unerforschliches. Was Leben sei, ist ein nicht aufzulösendes Rätsel.« (XIX 346) Was ist daran so rätselhaft? Diltheys Auskunft darüber entnehme ich seinen Ausführungen über das Verhältnis des Lebens zu Einheit und Vielheit im selben Aufsatz: »Die Lebenseinheit ist nicht ein Band, das zu den Teilen hinzuträte (…). Man darf auch nicht das Verhältnis umkehren. Sie ist nicht ein Ganzes, dass vor den Teilen wäre, wie Aristoteles solche in die organische Welt verlegte. Vielmehr besagt die Lebenseinheit eben den Nichtbestand sowohl der einfachen Einheit als der diskreten Vielheit. Die Melodie sagt uns mehr vom Leben als alle Definitionen desselben. In ihr ist Tatsache eine Einheit, die nicht vor den Teilen, sondern in, mit und durch sie besteht.« (XIX 353) Dilthey scheint hier das von Damaskios (17.2) eingeführte, von Scotus Eriugena (18.2) und später von Nikolaus von Kues (26.2) und Schelling (in der Identitätsphilosophie, 37) erneuerte Motiv des präimmanenten Einen zu erneuern, die paradoxe Deckung von (einfacher) Einheit und Vielheit, erläutert mit dem Bilde der Melodie: »Die tiefste Grundlage ist Leben und was von ihm ausgeht, Erreichung der Lebendigkeit, gleichsam der Melodie des Seelenlebens in Erlösung von jeder Starrheit und Regel.« (VII 282) Solche Erlösung findet er im »Ineinander des Verschiedenen«: »Dieses Ineinander des Verschiedenen ist uns in dem Erleben von Subjekt und Objekt, von Lebenseinheit und den ihr Milieu bildenden Dingen als Leben selbst gegeben. Ein Ich und Du, ein Eins und Anderes besagen eben überhaupt nichts anderes, als was in diesem Erleben von Affiziertwerden und Rückwirkung innerhalb einer bewussten Lebenseinheit für uns da ist.« (XIX 372 f.) Ineinander des Verschiedenen: Das ist die wechselseitige Durchdringung, die ambivalente Mannigfaltigkeitsform der reinen Dauer, die sich als einheitlicher Lebensschwung nach 636

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Dilthey

Bergson (44.1) gegen die Materie durchsetzt. An die Stelle eines solchen vitalen Antriebes setzt Dilthey den Zusammenhang durch Bedeutung: »Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat. Dieser Sinn des individuellen Daseins ist ganz singular, dem Erkennen unauflösbar, und er repräsentiert doch in seiner Art, wie eine Monade von Leibniz, das geschichtliche Universum.« (VII 199) Zur Monade fehlt dem Leben aber die tragende Substanz: »Wir wissen von keinem erlebbaren oder erfahrbaren Träger des Lebens. (…) Ich, Seele sind hinzugefügte Zeitlosigkeiten. Wir wissen aber von nichts als Geschehen und haben kein Recht, einen Träger desselben hinzuzufügen, da dies eine Übertragung des Substanzbegriffes auf die Welt des Erlebens wäre.« (VII 334) »In jedem Lebensbezug, in welchem unsere Totalität sich zu sich selbst oder anderen verhält, kehrt wieder, dass die Teile eine Bedeutsamkeit für das Ganze haben. Ich blicke in eine Landschaft und fasse sie auf. Hier muss zunächst die Annahme ausgeschaltet werden, dass dies nicht ein Lebensbezug, sondern ein Bezug bloßen Auffassens sei. Daher darf man das so verstandene Erlebnis des Momentes in Bezug auf die Landschaft nicht Bild nennen. Ich wähle den Ausdruck ›Impression‹. Im Grunde sind mir nur solche Impressionen gegeben. Kein von ihnen getrenntes Selbst und auch nicht etwas, von dem es Impression wäre. Dieses Letztere konstruiere ich nur hinzu.« (VII 229 f.) In meiner Ausdrucksweise: In leiblicher Kommunikation, dem sogenannten Lebensbezug, begegnet die Landschaft als impressive Situation, als in voller Präsenz sich darbietender vielsagender Eindruck mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit, einem Subjekt, das noch nicht einzeln (obzwar schon identisch) ist und erst mit Entfaltung der primitiven Gegenwart zusammen mit dem Objekt einzeln wird; damit erst ist Gelegenheit zur Explikation einzelner Bedeutungen und Sachen aus der Situation und zum Konstruieren von Netzen solcher Sachen und Bedeutungen, zur Übersetzung der Situation in eine Konstellation, vorhanden. Das ist eine Leistung des gegenständlichen Auffassens, das aus dem Lebensbezug einer mit Atmosphären des Gefühls gesättigten impressiven Situation schöpft: »Immer aber ist es nicht objektive Darstellung, was hier auftritt, sondern Lebensbezug. Ein Wald in der Abenddämmerung steht mächtig und beinahe furchtbar vor dem Beschauer; die Häuser im Tal mit ihren stillen Lichtern rufen den Eindruck trauter 637

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Lebensphilosophie

Heimlichkeit hervor, weil dies aus dem Bezug des Lebens zu ihnen hervorgeht.« (VII 75) Im »Erlebnis des Momentes« einer impressiven Situation ist das Leben in einer Anschauung gegenwärtig, die in nuce alles umfasst, was irgendwo und irgendwann als Leben Geschehen möglich macht: »Hebt man aber das heraus, was überall und immer in der Sphäre der Menschenwelt stattfindet und als solches das örtlich und zeitlich bestimmte Geschehen möglich macht, nicht durch eine Abstraktion von diesem letzteren, sondern in einer Anschauung, die von diesem Ganzen in seinen immer und überall gleichen Eigenschaften zu den räumlich und zeitlich differenzierten hinführt – dann entsteht der Begriff des Lebens, der die Grundlage für alle einzelnen Gestalten und Systeme, die in ihm auftreten, für unser Erleben, Verstehen, Ausdrücken und vergleichendes Betrachten derselben enthält.« (VII 229) Der Lebensblick, wenn ich so sagen darf, schöpft nach Dilthey gewissermaßen aus jedem Anlass das Leben als Urphänomen in dem Sinn, wie Goethe vom Urphänomen sagt, es sei »nicht einem Grundsatz gleichzuachten, aus dem sich mannigfaltige Folgen ergeben, sondern einer Grunderscheinung, innerhalb deren das Mannigfaltige anzuschauen ist.« 1801 Solche Anschauung des Urphänomens Leben bedarf aber der Bewährung an der Geschichte: »Was das Leben sei, soll die Geschichte lehren. Und diese ist auf das Leben angewiesen, dessen Verlauf in der Zeit sie doch ist, daher sie an diesem einen Gehalt hat. Aus diesem Zirkel gäbe es einen einfachen Ausweg, wenn es unbedingte Normen, Zwecke oder Werte gäbe, an denen die geschichtliche Betrachtung, Auffassung einen Maßstab hätte.« (VII 262) Eine solche Annahme wäre aber Verleugnung der prä-immanenten Einheit und instabilen Mannigfaltigkeit des Lebens, an deren Stelle die transzendente Einheit eines Absoluten als Maßstab gesetzt würde; deswegen ist dieser Weg für Dilthey nicht gangbar. Ohne die Entfaltung in die Breite der Geschichte ist das Wesentliche des Menschen nicht zu fassen: »Was der Mensch sei, sagt nur die Geschichte.« 1802 Warum das so ist, wird aus den Sätzen kenntlich: »Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion. Goethe an v. Buttel, 03. 05. 1827, Weimarer Ausgabe, 4. Abteilung, Band 42 S. 167. IV 529 (Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1898), ebenso V 180: »Was der Mensch ist, das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte.« VII 250: »Alle letzten Fragen nach dem Wert der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, dass der Mensch in ihr sich selbst erkennt. Nicht durch Intro-

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Dilthey

(…) Der einzelne Mensch realisiert immer nur eine Möglichkeit seiner Entwicklung, die von den Stationen seines Willens immer eine andere Richtung nehmen konnte. Der Mensch überhaupt ist uns nur unter Bedingung verwirklichter Möglichkeiten da.« (VII 279) Nur der Gang der Geschichte – der individuellen oder überindividuellen – gestattet die Abschätzung, welche Möglichkeiten ein Mensch hatte, welche er ergriffen und welche er versäumt oder verworfen hat, und nur in solchen Möglichkeiten ist der Mensch zu fassen, nicht als je festgelegter Bestand. Dilthey nimmt hier vorweg, was Heidegger so ausdrückt: »Auf dem Grunde der Seinsart, die durch das Existenzial des Entwurfs konstituiert wird, ist das Dasein ständig ›mehr‹ als es tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren. Es ist aber nie mehr als es faktisch ist, weil zu seiner Faktizität das Seinkönnen wesenhaft gehört.« 1803 Die große historische Bildung und Charakterisierungskunst Diltheys gestattet ihm, mit der Geschichte ein unübersehbar reiches Feld bedeutsamer Situationen, das zu seinem Verständnis des Lebens viel besser passt als Bergsons verwegener Ausflug in die Biologie, aufzutun und zu durchlaufen. Als die »Kategorie, welche dem Leben und der geschichtlichen Welt eigentümlich ist«, gibt Dilthey die »Kategorie der Bedeutung« an (VII 73). »Als bedeutsam wird ein Geschehnis aufgefasst, sofern es uns etwas von der Natur des Lebens offenbart.« (V 394) »Die Kategorie der Bedeutung bezeichnet das Verhältnis von Teilen des Lebens zum Ganzen, das im Wesen des Lebens gegründet ist. (…) Andererseits ist das Ganze doch nur für uns da, sofern es aus den Teilen verständlich wird. Immer schwebt das Verstehen zwischen beiden Betrachtungsweisen. Beständig wechselt unsere Auffassung von der Bedeutung des Lebens.« (VII 233) Die »Beziehung vom Teil zum Ganzen innerhalb des Lebens« ist »eine Beziehung, die niemals ganz vollzogen wird.« (ebd.) In der Bedeutung »liegt die Beziehung eines äußeren, einzelnen Ereignisses auf ein Inneres, und zwar liegt dies Innere im Zusammenhang der Ereignisse untereinander, der nicht von dem letzten Glied aus gebildet ist, sondern zentriert zu einem spektion erfassen wir die menschliche Natur. Dies war Nietzsches ungeheure Täuschung.«. 1803 Sein und Zeit, Halle 1927 und öfter, S. 145, ebd. S. 11: Das Dasein ist das Seiende Mensch, vgl. Heidegger-Gesamtausgabe Band 20 (Vorlesung Sommersemester 1925) S. 205: »Dasein ist das Seiende, das ich je selbst bin.«.

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Lebensphilosophie

Mittelpunkt, zu welchem alles Äußere als zu einem Innen sich verhält.« (VII 249) Auf dem »Verhältnis von Lebensäußerungen zu dem Inneren, das in ihnen zum Ausdruck gelangt«, beruhen die »Verfahrungsweisen« des Verstehens (VII 219). Hier geht es also nicht um ein seelisches Innenleben hinter dem sinnlichen Ausdruck, sondern um ein Inneres, das so etwas wie der Konvergenzpunkt der Bedeutungen von Lebensäußerungen ist und nicht hinter, sondern in dem Zusammenhang der Ereignisse liegt, wenn auch wohl nicht lokalisiert. Aus dieser Sicht auf Leben und Geschichte unter dem Gesichtspunkt einer ganzheitlichen, aber nie und nirgends von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen lösbaren Bedeutung rechtfertigt sich Diltheys Vorbehalt gegen ein analytisches Denken, das aus einem Zusammenhang einzelne Faktoren löst, um aus diesen das Ganze kombinatorisch zu rekonstruieren: »Es zeigt sich wieder, dass unsere Begriffe eines Zusammenhangs diesen konstruieren können, indem sie zuerst trennen und dann von außen verbinden. So liegt schon hier der Keim der Formung der Metaphysik, nach welcher diese zuerst diskrete Atome setzt und dann ein Band zwischen ihnen sucht oder ohne Band sie in Wechselwirkung treten lässt. In der Erfahrung des Lebens ist nichts von diesen Konstruktionen. Im Personenreiche sind Ich und Du aufeinander bezogen, im Ich und Du ist dieselbe Vernunft; das Objekt ist erst durch die Verallgemeinerung, welche viele Blickpunkte verbindet, gesichert, die Wahrheit ist in diesem Zusammenhang erst durch die Allgemeingültigkeit garantiert. Dagegen ist das Denken in seiner einfachen Elementarnatur gar nicht vom Leben zu trennen. Während jeder Versuch, das Leben zu begreifen, gleichsam Hebel und Schrauben in abstrakten Begriffen schaffen muss, um es zu erfassen, ist etwas ganz anderes das primäre Denken, welches untrennbar vom Leben und ganz einfach an ihm funktioniert.« (XIX 355) Metaphysik in diesem Sinn ist jede Entfremdung vom Leben durch ein diesem widerstrebendes Konstruktionsverfahren, gleich ob in der naturwissenschaftlich experimentierenden Psychologie oder in der von Dilthey zeitweilig hochgeschätzten und als Ansporn genützten, dann aber als Begriffsscholastik verworfenen phänomenologischen Konstruktion des Bewusstseins aus intentionalen Akten: »Wie weit kann nun diese Zergliederung gehen? Auf die der naturwissenschaftlichen atomistischen Psychologie folgte die Schule Brentanos, welche psychologische Scholastik ist. Denn sie schafft abstrakte Entitäten wie Verhaltungsweise, Gegenstand, Inhalt, aus denen sie 640

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Dilthey

das Leben zusammensetzen will. Das Äußerste hierin Husserl.« (VII 237) Aus dem Gegensatz von Lebensfremdheit und Lebensnähe gewinnt Dilthey das Kriterium zur Unterscheidung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften. In jeder Lebensäußerung ist »immer das ganze Leben wirksam. So sind uns homogene Systeme, welche Gesetze der Veränderung aufzufinden möglich machen, uns weder im Erleben noch im Verstehen gegeben. (…) Daher herrscht in den Naturwissenschaften das Gesetz der Veränderungen, in der geistigen Welt die Auffassung der Individualität, aufsteigend von der Einzelperson bis zum Individuum Menschheit, und das vergleichende Verfahren, welches diese individuelle Mannigfaltigkeit begrifflich zu ordnen unternimmt.« (VII 160) »Darin, dass der Zusammenhang im Seelenleben primär gegeben ist, besteht der Grundunterschied der psychologischen Erkenntnis vom Naturerkennen, und da liegt also auch die erste und fundamentale Eigentümlichkeit der Geisteswissenschaften.« (V 237) Dilthey bringt diesen Methodenunterschied mit dem von Seelen und Körpern zusammen: das Seelenleben als nicht aus Teilen gebildete übergreifende Einheit, »nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder Gefühlsatome«, unterscheide sich dadurch »total von der ganzen körperlichen Welt« (V 211). »Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, dass jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewusstsein von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten.« (V 143) »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. (…) Leben ist überall nur als Zusammenhang da.« (V 144) Dilthey setzte seine Hoffnung in eine neu zu entwickelnde beschreibende und zergliedernde Psychologie und verstand darunter »die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist.« (V 152) Welche Hoffnungen er damit verband, verrät sein Ausruf: »Was für eine Aufgabe, die Brücke zu schlagen zwischen der bisherigen Psychologie und der Anschauung der geschichtlichen Welt!« (V 237) In 641

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Lebensphilosophie

dieser Hochstimmung wurde er empfindlich getroffen durch die scharfe Polemik von Hermann Ebbinghaus, der ihm namens der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie ein »tu quoque« entgegenschleuderte: Dilthey begehe selbst alle die Sünden gegen die Forderung der Lebensnähe, die er den Naturwissenschaftlern vorhalte. 1804 Damit hat er insofern Recht, als die Abstraktion, die Analyse und Rekonstruktion, die induktive Verallgemeinerung unentbehrlich für jede empirische Wissenschaft sind, erst recht angesichts eines so unscharf umgrenzten Riesengebietes wie des psychologischen; dennoch verpasst er die Stelle, wo Diltheys sicherlich mit einem Übermaß an Schneid und Selbstvertrauen geführter Hieb sitzt: Der Psychologe in der Art von Ebbinghaus, der sich besondere Verdienste durch Experimente über das Behalten von Reihen sinnloser Silben erwarb, benützt die ganzheitlichen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, in denen Dilthey das Leben ansiedelt, nur als Steinbruch zur Ausbeutung für die Umdeutung in Konstellationen, Vernetzungen einzelner Faktoren, während Dilthey mit Recht auf die Künstlichkeit dieses Verfahrens verweist, das Exaktheit durch Lebensferne erkauft, und wenigstens eine Anerkennung des Schadens verlangt, der sich zwar nicht eine völlige Beseitigung, wohl aber die Suche nach Heilmitteln zur Linderung mit immer noch rationalen Mitteln anschließen könnte. In der Tat kann eine verstehende Psychologie auch ohne Experimente großen Nutzen bringen, ohne je ins Paradies bloßer Ablesung erlebter Zusammenhänge zurückzukehren. 1805 Darüber hinaus sitzen Dilthey und Ebbinghaus im selben schlingernden Boot, weil sie beide im Gefolge der psychologistischreduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) auf das Phantom des Mentalen (43.4.1) setzen, dem sich der naturwissenschaftliche Psychologe nur entziehen könnte, wenn es ihm gelänge, seine Wissenschaft konsequent als Lehre vom menschlichen Verhalten, analog der Ethologie der Tiere, zu betreiben; das aber kann ihm nicht gelingen, weil er, anders als der Tierforscher, nicht Die Polemik (Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abteilung: Zeitschrift für Psychologie, Band 9, 1896, 161–205) ist nachgedruckt in: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, hg. v. F. Rodi und H.-U. Lessing, Frankfurt a. M. 1984, S. 45–87. 1805 Als vorbildliche Leistungen, aus denen ich großen Vorteil gezogen habe, nenne ich dafür zwei Bücher des kürzlich verstorbenen Bonner Psychologieprofessors Hans Thomae: Der Mensch in der Entscheidung, München 1960; Das Individuum und seine Welt, Göttingen 1968 (nur diese 1. Auflage). 1804

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Klages

auf das Verständnis sprachlicher Äußerungen seiner Versuchsobjekte verzichten kann und der Sinn der Rede nicht so exakt messbar ist wie die Parameter naturwissenschaftlicher Experimente.

44.3 Klages Unter den drei hier behandelten Lebensphilosophen sticht Ludwig Klages, 1806 den Lebensdaten (1872–1956) nach der jüngste, als der Systematiker hervor, der sein Anliegen nicht wie Bergson in wenigen übersichtlichen Gedankenlinien und nicht wie Dilthey, es in zerstreuten Reflexionen umspielend, vorträgt, sondern nach Art eines ausgeklügelt verzweigten Stromnetzes mit sehr eigenwilliger Terminologie. Daher ist hier eine etwas ausführlichere Analyse angebracht. Ich werde zunächst die Grundzüge des Systems darstellen, dann daran Kritik üben und schließlich die davon nicht betroffenen Errungenschaften hervorheben.

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44.3.1 Die Grundzüge des Systems »Die Urtrias, von der sich alle echten Triaden herschreiben, ist das nach Leib und Seele polarisierte Leben; in sie ist mittelst des Menschen, genauer des Menschen auf der Schwelle der ›Weltgeschichte‹, eine außerraumzeitliche (akosmische) Macht namens Geist eingebrochen, mit der Tendenz, Leib und Seele auseinanderzuspalten und dergestalt die Lebenszelle zu töten.« 1807 »Es gibt keine ›Erscheinungen‹ oder ›Inhalte‹ oder ›Vorgänge‹ des Bewusstseins, sondern nur zeitlich unausgedehnte Akte des Geistes, die, selber erlebnislos, vom Erlebten das Bewusstsein geben.« (237 f.) Die zeitliche Unausgedehntheit will Klages so erweisen: »Nur ein solches ›Vermögen‹ ist in der Lage, am pausenlos fließenden Zeitstrom ›Stellen‹ zu setzen, das seinerseits nicht die Dimension der Zeit besitzt. Wir messen diesem Beweis mathematische Sicherheit bei.« 1808 »Machten wir nämIch zitiere das Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (GW) mit bloßen Seitenzahlen nach der 3. verbesserten Auflage, München/Bonn 1954 (zwei Bände mit durchgehender Paginierung), die übrigen Schriften jeweils mit vollständiger Quellenangabe. 1807 Sämtliche Werke Band III, Bonn 1974, S. 565 (Geist und Leben). 1808 Sämtliche Werke Band III, S. 266 (Vom Wesen des Bewusstseins). 1806

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Lebensphilosophie

lich versuchsweise die Annahme, die findende Tat bedürfe einer, wenn auch noch so geringfügigen, zeitlichen Frist, so verliefe sie selber in der Zeit oder sie flösse mit der Zeit, wäre also unmöglich imstande, die Zeit im unausgedehnten Punkte zu teilen.« 1809 »Geist und Leben – so ründet sich fester uns ein Gorgonenhaupt – sind zwei zueinander von grundaus feindliche Wirklichkeiten: die außerraumzeitliche Macht, deren zeitlos in den Kosmos zuckende Tat die Wirklichkeit in Seinsatome zersplittet; und der raumzeitliche Ozean des Geschehens, aus dessen unablässig erzitterndem Spiegel der tanzende Widerschein fernster Gestirne bricht.« (253) Bei diesem Widerschein handelt es sich um »Bilder und nichts als Bilder«, die »alles die Seele Ergreifende« sind (1254). Das Leben ist »die webende Macht der Urbilder«, der Geist »die Gegenmacht, welche die Urbilder phantomisiert« (1238). Die Findung des Identischen beruht darauf, »dass der geistige Akt das Zufindende von der Wirklichkeit losreißt« (31). Damit zerstört er den lebendigen Zusammenhang: Vom Urbild aus gesehen, »findet am Anschauungsbilde weder Einheit noch Mannigfaltigkeit statt, sondern unzerteiltes und unzerteilbares Zusammenhängen, verstanden als wandlungsfähiges Erscheinen des Geschehens (…).« (1002) »Die Einheit des Dinges ist durch geistige Satzung erzwungene Einheit (…).« (182) Als wichtigstes Ziel seines Forschens gibt Klages »die Rückgewinnung erlebter Zusammenhänge aus dem Maschennetz tausendfältig sie durchquerender Trennungslinien« an (214). Die analytische und die numerische Einheit (s. die Überleitung am Anfang des Bandes) sind Produkte der Zersetzung dieser Zusammenhänge: »Sofern das Fürsich jedem Einzeldasein, sei es Ding, sei es Ich, ja schließlich dem Denkgegenstande selbst zukommt, kann die Eins in der Form des sog. unbestimmten Artikels jedem Denkgegenstande zugeordnet werden und übernimmt dadurch die Funktion, ihn in Hinsicht auf das zu benennen, was er mit allen Denkgegenständen der durch das Hauptwort bezeichneten Gruppe gemein hat.« (1004) Das betrifft die analytische Einheit; die numerische des Einzelfalls erfasst Klages in der zugehörigen Anmerkung mit dem Beispiel der Redewendung »nur ein Herr war gekommen« (1454). Hier zeigt sich, dass Klages mit Bergson und Dilthey die grundlegende Tendenz der Lebensphilosophie teilt, der numerischen Einheit und numerischen Mannigfaltigkeit einzelner Etwasse, dem vom herrschenden Singularismus allein anerkannten 1809

Ebd. S. 265 f.

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Klages

Mannigfaltigkeitstyp, andere Mannigfaltigkeitstypen entgegenzusetzen; ebenso wie Dilthey bietet Klages dafür die Figur des (pränumerischen) Zusammenhängens auf. Eingehend widmet Klages sich der Frage, wie der Geist an das Leben herankommt. Er geht aus von dem »Grundgedanken, dass die Besinnung an Störungsstellen des Erlebens entspringe und den Störungsanlass gerinnen mache zu jener gesetzlich geregelten Tatsachenwelt, in die sich die Wachheit des denkbesinnlichen Lebensträgers unentrinnbar eingeklemmt findet.« (280) Die »Urstörungsstelle, sofern sie zur Bruchstelle wird, die den Eingriff des Geistes zulässt«, ist das »Erlebnis des Widerstandes« mit Körperlichkeit und Stärke (999). In ihm erschöpft sich die Empfindung: Sie ist »Widerstandserlebnis und nichts außerdem«, »Intensitätserlebnis und nichts außerdem« (927), »nicht zu trennen vom Erlebnis des Aufeinanderwirkens von Druck und Gegendruck« (928) und durch das »Hiererlebnis (…) Bedingung der Scheidung des Hier vom Dort« (931). Das Empfinden ist der körperliche Gegenpol des seelischen Schauens von Bildern. Das Schauen ist »Ferneempfänglichkeit der ›wirkenden und webenden‹ Lebenssubstanz« (829). Auf die artliche und schaubare Seite des Erlebens entfällt alles, was sich nicht in Druckunterschiede auflösen lässt (191); nur durch das mit dem »örtlichen Empfinden des Leibes« zusammenwirkende »ortlose Schauen der Seele« gelingt die »Findung irgendwelcher Arteigenschaften« (812). Demgemäß gehört zum Schauen das Ähnlichkeitserlebnis wie zum Empfinden das Intensitätserlebnis (943). »Vermöge des Schauens verkehren die Wesen mit dem körperlich Fernen wie mit dem körperlich Nahen, vermöge des Empfindens hingegen nur mit dem körperlich Nahen«, so dass das »Eigenwesen (…) vermöge des Empfindens (…) zum Körper unter außereinander befindlichen Körpern« wird (1104 f.). Indem die Natur den Menschen als »ein Wesen mit Fernschaugabe erzeugte, beschwor sie die nie noch erprobte Gefahr herauf, dass zufolge übermächtiger Spannung der Zusammenhang von Empfindung und Schauung, von Leib und Seele lockerer werde, und schuf damit einen Ermöglichungsgrund für den Eintritt des Geistes.« (841) Dieser antwortet »auf Nötigungen des Erlebens der Wirklichkeit im persönlichen Lebensträger«, indem er »in die Wirklichkeit (…) das wirklichkeitsfremde Sein« projiziert (119). Ihm dient dabei das Ich oder Selbst als »das Sein in der Form des zeitbeständigen Drehpunkts von Leben und Geist« (441). »Es ist weder Geist noch Leben, ebensowenig jedoch eine neue Wesenheit neben ihnen, sondern der aus645

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dehnungslose Beziehungspunkt ihres Zusammenwirkens« (516), »Anwesenheit des einen und selbigen Geistes in sämtlichen auffassungsfähigen Augenblicken des Lebensträgers« (63). Hiernach tut die Verknüpfung mit dem körperlichen Empfinden der Seele die Gefahr der Vergeistigung an, während die Seele an sich in klarer Antithese vom Geist geschieden ist: »Die Seele erlebt, und alles Erleben pulst, der Geist setzt dem Wellenschlag des Erlebens von Stelle zu Stelle ein Halt entgegen.« (748) Dieser Wellenschlag besteht in »Polarität von Erlebnis und Bild.« (104) »Im Zustande rein seelischer Schauung stehen im Gleichgewicht Entfremdetheit und Zusammenhängen von Seele und Bild.« (583) »Ohne Gleichnis geredet erweist sich der Wellenschlag der Lebensbewegung als beständiger Wechsel von Zwischenstrecken des Schauens und Abschlussstrecken des Zuschauens, deren Gegenpol nicht mehr ursprüngliche Bilder sind, sondern Widerscheine der schon erlebten.« (285) Durch diesen beständigen Wechsel ist auch das Schauen, das als »Strömung des Schlafens« unter dem »Wellenschlag des Wachens (oder des Empfindens)« unablässig weiterzieht (806), dem Eingriff des Geistes ausgesetzt: »So gewiss das Erleben spaltenlos weiterfließt, so gewiss muss sein Durchgang durch jeden zeitlosen Augenblick des spaltenden Erfassens von unterscheidender Besonderheit sein, wenn anders dem Geist die zergrenzende Tat gelingen soll. Nur soweit es im Erleben fort und fort ein endendes Neubeginnen und neubeginnendes Enden gibt, verstehen wir die stellensetzende Stellengebundenheit der Anfang und Ende mit zeitlich ausdehnungsloser Schneidelinie jedes Mal teilenden Tat.« (281) »Gäbe es in der Wirklichkeit des Geschehens nicht eine Polarität zwischen der Erscheinung und dem Erlebtwerden der Erscheinung, so fände der Geist kein Gegenüber vor, auf das seine Tat des Feststellens ausgehen könnte.« (99) Auch schon im seelischen Erleben, nicht erst im körperlichen oder leiblichen Empfinden, trifft demnach der Geist auf eine Angriffsstelle, wo er sich einnisten kann, um mit der Seele im Gefolge gegen den Körper zu wirken, so gut wie andererseits mit der Empfindung des Körpers gegen die Seele. In Europa hat sich der Geist »mit dem leiblichen Pol zwecks Austreibung der Seele und Entseelung des Leibes« verbündet, in China dagegen mit der Seele, »um den Leib verdorren zu machen und die Seele zu entleiben«; in diesem Unterschied der Koalitionen vermutet Klages »den untersten Grund des Gegensatzes jeder Art von Platonismus zum chinesischen Taoismus (…) und wahrscheinlich sogar den Gabelungspunkt im Wirklichkeitsgefühl (…), wo die 646

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Lebenshaltung und Denkweise Asiens von der des Abendlandes abzweigt.« (339)

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44.3.2 Kritik Der Geist im Sinne von Klages kommt zu spät, um Urheber des Risses in einer ungeteilt und unteilbar zusammenhängenden Wirklichkeit sein zu können; der spürbare Leib – nicht etwa der sichtbare und tastbare Körper – ist ihm schon im vorgeistigen Tier und Säugling zuvorgekommen mit dem ihn stiftenden Geschehen der primitiven Gegenwart (35.3.3), dem plötzlichen Einbruch des Neuen, der die gleitende Dauer des Dahinwährens zerreißt und in Gewesenheit verabschiedet, indem er, z. B. im Schreck, Gegenwart als spielraumlose Unausweichlichkeit exponiert, in der Identität, Subjektivität, Sein, absoluter Ort und absoluter Augenblick zusammenfallen. 1810 Die Thesen von Klages über den Ursprung der Identität sind daher hinfällig. Ich zähle sie auf: Das erfassende Vermögen entreißt seinen Gegenstand der Erscheinungswelt und verbindet damit die Gabe, ihn identisch wiederzufinden (19). Alle Identitäten werden im Verhältnis zur Identität des Körperdings, des objektiv Uridentischen, gefunden (958); dieses ist aus dem (vom Geist) fingierten zählbaren Dasein und der vom Geist unabhängigen wirklichen Körperlichkeit zusammengesetzt (967). Auch das subjektiv Uridentische, das persönliche Ich (968), kann nur durch Findung des zugehörigen Körperdings gefunden werden (969). »Ursprüngliche Einerleiheit meint Einerleiheit des Dinges, und ihr folgt auf dem Fuße die Einerleiheit der Person; alle sonstigen Identitäten stützen sich auf die der Dinge und Iche oder kürzer auf die Einerleiheit ideeller Punkte, die als solche mit der Wirklichkeit keinen Zusammenhang haben und ohne vermittelnde Glieder weder gefunden noch auch nur gedacht werden können.« (970) Das letzte Glied ist immer ein Körper, den allein seine tastbare Undurchdringlichkeit bewahrheiten kann (971). Dass die Identität so zu spät angesetzt ist, entnimmt man leicht dem Verhältnis des Säuglings zur Mutter, der Tiere zu einander. Für den Säugling und das Tier ist der Partner ganz gewiss ein anderer in antagonistiZum Verständnis, auch für das Folgende, empfehle ich als bequemen Zugang den Abschnitt Eckpunkte der Neuen Phänomenologie auf S. 9–97 meines Buches: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003.

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scher Einleibung; Andersheit (Verschiedenheit) setzt aber Identität voraus. Was auf dieser präpersonalen Stufe noch fehlt, ist nicht die mit der leiblichen Engung auf primitive Gegenwart hin schon gegebene Identität und Verschiedenheit, sondern die Einzelheit, eine Anzahl um 1 vermehren zu können; für diese bedarf es des expliziten Sachverhaltes der Bestimmtheit von etwas als (Fall von) etwas, und dazu kommt es erst durch die aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) explizierende und stabilisierende Leistung satzförmiger Rede beim Übergang zur Entfaltung der primitiven Gegenwart in die fünf in ihr verschmolzenen Momente. Klages verwechselt Identität und Einzelheit und ist daher blind für die zusätzliche Voraussetzung der Einzelheit, die Subsumtion, etwas als etwas zu sein. Er stellt sich den Eingriff des Geistes in die zeitlich fließende Wirklichkeit, wodurch aus deren unzerteiltem Zusammenhang einzelne Gegenstände freigesetzt werden, als ein körperliches Treffen nach Art eines Pfeilschusses vor: »Der sachliche Urgegenstand wird erzeugt, indem die Person durch den Urakt des Geistes in die Körperlichkeit der Erscheinung ein Abbild des Ichpunkts oder vielmehr einen Gleichfall seiner hineinschießt (…).« (996) Auf demselben Missverständnis beruht der vermeintlich mathematisch sichere Beweis für zeitliche Unausgedehntheit des im Zeitfluss Stellen fixierenden geistigen Auffassungsaktes. Ein bloßes »Zuschnappen« des Geistes würde nicht erreichen, dass er seine Beute als einen eindeutig im Zeitstrom datierten Augenblick einheimsen könnte. Vielmehr bedarf es der Bereicherung des bloß identischen absoluten Augenblicks der primitiven Gegenwart, des Plötzlichen, zum einzelnen Augenblick durch die Bestimmung als Augenblick oder als etwas dergleichen, damit einzelne Augenblicke, deren jeder deren Folge um 1 vermehrt, datierend aufgereiht werden können; dass diese obendrein gänzlich dauerlose Zeitpunkte sein sollen, ist eine mathematische Pedanterie, die durch nichts zwingend begründet werden kann. Klages ist nicht vertraut mit der eigentümlichen Räumlichkeit und Dynamik des spürbaren Leibes und der leiblichen Kommunikation; wo er vom lebendigen Leib spricht, meint er stets den sichtbaren und tastbaren Körper. Damit hängt zusammen, dass er für Subjektivität – das Der-sein-der-er-ist für einen jeden – blind ist; weder Fichtes Entdeckung, dass bei den objektiven oder neutralen Tatsachen nicht unterzubringen ist, dass es sich bei etwas um mich selbst han648

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delt (36.1, 37), noch die daran anschließende Problematik der rezessiv entfremdeten Subjektivität von Fichte (36.2) bis Wittgenstein (43.2.1) und darüber hinaus weckt bei ihm Resonanz. Stattdessen verdinglicht er sich selbst durch den bestimmten Artikel in der Wendung »das Ich«. Zwar unterscheidet er einmal (in seinem letzten Buch) zwischen dem Ichprinzip und dem persönlichen Ich, verweist für dieses aber auf eine frühere Arbeit, 1811 wo er zu dem Ergebnis kommt: »Was ist es denn, das uns als Ewigeines innewohnt, ob wir im Reichtum hoffender Jugend oder in der Armut verzichtenden Alters stehen, und wiederum als ein jedem Dasselbige, wer immer den Namen des Menschen führt?! Darauf gibt es nur eine Antwort: das Ich! Nur der Mensch erlebt es und muss es denken lernen und sagen: ich bin ich. Nur der Mensch erlebt es und weiß es: ich war es auch und ich werde es sein.« 1812 »Personen sind Lebensträger, deren Seele zum Nebengestirn des Ichs geworden.« 1813 In GW heißt das »persönliche Ich der sozusagen geometrische Ort für das Zusammenwirken von Geist und Leben und nichts außerdem« (561). Dass er es sein wird, weiß Ludwig Klages auch, wenn ein Brand ausbricht und er schleunigst wegläuft, um nicht als er, der er sein wird, zu verbrennen, aber ob er dann mit eben solchem Eifer den geometrischen Ort für das Zusammenwirken von Geist und Leben (und nichts außerdem) zu beschützen versuchen wird? Tatsächlich ist uns die Bekanntschaft mit dem, was uns als im Sinn von Klages geistigen Wesen den Gebrauch der ersten Person des Singulars beim Sprechen satzförmiger Rede erlaubt, aus den subjektiven Tatsachen des leiblich-affektiven Betroffenseins vertraut. Es ist immer dasselbe, invariant gegen jeden Wechsel der Auffassung als etwas und auch ohne solche Auffassung unverkennbar bekannt, als Grundlage dafür, dass wir fragen können, ob wir z. B. der geometrische Ort für das Zusammenwirken von Leben und Geist oder etwas anderes sind, ohne dass uns die Vorstellung eines solchen geometrischen Ortes den begründeten Schluss erlaubte, dass es sich dabei um uns selber handelt. Wenn man schon dem Grund für die Berechtigung des »Ich«-Sagens nachgehen will, muss man tiefer graben als nach einer Instanz, die bei der Angabe neutraler Tatsachen den Namen »das Ich« erhalten soll. Ludwig Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde, 2. Auflage Stuttgart 1959, S. 64 mit Anm. 24 auf S. 361. 1812 Ludwig Klages, Mensch und Erde, 7. Auflage Stuttgart 1956, S. 48 (Über den Begriff der Persönlichkeit). 1813 Ebd. S. 49. 1811

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Mit der fehlenden Unterscheidung zwischen Identität und Einzelheit hängen Mängel der Auffassung von Einheit bei Klages zusammen. Das Ding, dessen Einheit durch geistige Setzung erzwungen ist (182), birgt »den ursprünglichen Anstoß zur Bildung des Einheitsbegriffes« (1002); dagegen »findet am Anschauungsbilde weder Einheit noch Mannigfaltigkeit statt, sondern unzerteiltes und unzerteilbares Zusammenhängen, verstanden als wandlungsfähiges Erscheinen des Geschehens oder, kühner gesprochen, als ein Sichoffenbaren elementarer Seelen.« (ebd.) Daraus ergibt sich die »unwiederholbare Einzigkeit« des Lebendigen im Fluss des Geschehens, während man von jedem unlebenden Ding »Hunderte und Tausende von Kopien liefern« kann (456). Klages übersieht die von mir studierten Halbdinge, die sich von den stets durch eine Frist ununterbrochen dauernden (23) Dingen durch unterbrechbare Dauer und bloß zweigliedrige Kausalität (da Ursache und Einwirkung zusammenfallen) unterscheiden. Ein einfaches Beispiel ist die Stimme, die ich bezüglich ihrer unterbrechbaren Dauer schon gegen Strawson (43.4.3) vorgebracht habe. Die charakteristische Stimme eines Menschen oder einer Tierart kehrt im Wechsel bloß ähnlicher Schallfolgen nach Unterbrechungen unverkennbar als dieselbe wieder und ist doch kein Ding, sondern eher ein Bild im erscheinenden Geschehen nach Klages. Entsprechendes gilt für andere akustische Halbdinge wie Melodien, und bezüglich der Wiederkehr oder Wiederholung nach unterbrochener Dauer für genaue Arten im Gegensatz zu Halbarten und bloßen Gattungen im engeren Sinn (21.1). Der Mensch hat im Interesse seiner Selbstbehauptung und Machtausübung allerdings ein triftiges Interesse an der Umdeutung von Halbdingen in Dinge, z. B. von Wind in bewegte Luft, und solche Dinge sind in der Tat geistige Setzungen, aber das gilt weder für alle Dinge noch gar für alles Wiederholbare. Es ist falsch, mit Klages alle Wiederholung zu ähnlicher Abwandlung abzuschwächen. Während er auf diesem Gebiet die Einheit als geistige Setzung zu eng fasst, dehnt er sie nach anderer Richtung phantastisch aus, indem er die Vereinzelung der Denkgegenstände auf »die arithmetische Eins« erstreckt, »deren Sinn in der Fähigkeit sich erschöpft, in jedem Verbande abgesondert und für sich zu verbleiben« (419). Zählen setzt nach Klages »streng vereinzelte und restlos deckungsgleiche Erscheinungsteile« voraus (770), z. B. »eine der fünf arithmetischen Einser in der Zahl Fünf« (719 f.). Hier spukt noch das Gespenst der abgeschliffenen Einsen, das von Frege (43.3.1) glücklich aus dem Zahlbegriff verbannt worden ist, aber bei 650

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Klages

Lebensphilosophen wie Bergson (44.1) und Klages noch sein Unwesen treibt. Man muss den Mathematikern zugute halten, dass sie genauso wenig wie die Logiker, die Nietzsche verdächtig machen wollte (42.4), ein Interesse daran haben, zu setzen, es gebe identische, d. h. bis auf völlige Gleichheit abgeschliffene, Fälle. Logik und Arithmetik sind nicht daran interessiert, die bunte Fülle der Welt auch nur im mindesten anzutasten. Für die Zahl und das Operieren mit Zahlen kommt es nur auf die Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen an, deren Elemente so heterogen wie nur denkbar sein mögen. Wenn man aber auch diese Möglichkeit bestreitet, opfert man mit ihr die Einzelheit und mag sich immer am Fluten des Geschehens freuen, aber nur noch auf dem präpersonalen Niveau des Tieres und des Säuglings. Einer eingehenden Auseinandersetzung bedarf die Lehre vom Willen, die Klages auf 267 Seiten seines Hauptwerkes (ursprünglich dem 2. Band) breit entwickelt und in seinem Alterswerk zusammenfassend wiederholt, 1814 weil er die »merkwürdige Erfahrung machen« musste, dass trotz seines Glaubens, »für ein seit zwei Jahrtausenden umworbenes Problem die bis dahin nie gesehene Lösung gefunden zu haben«, »nach rund vier Jahrzehnten die Zeitgenossenschaft nichts davon gehört hat, die zur Nachprüfung verpflichteten ›Kollegen‹ nichts davon gehört zu haben scheinen.« 1815 Den Grundgedanken formuliert er hier so: »Der Wille ist keine bewegende Kraft oder etwas einer solchen Vergleichbares, sondern eine einzigartige Hemmvorkehrung, und die Wollung, was immer der Zweck des Wollenden, zielt auf Steuerung eines vitalen Vorganges und steuert ihn wirklich, soweit er ihr zur Verfügung steht.« 1816 Im Hauptwerk wird dieser Gedanke so entwickelt: Die Willensbestimmung verbindet einen vitalen Antrieb mit dem Kommando des Geistes (557 f.). Jeder Antrieb ist Bewegungsantrieb eines bewegungsfähigen Körpers (576, als könnte nicht auch ein gelähmter Mathematiker einen lebhaften Antrieb zu konzentriertem Nachdenken haben). Der Triebantrieb stammt aus der Zugkraft stillungverheißender Bilder; deren Differenzierung entspricht die des Entbehrens und dadurch des Triebes (578 f.). Der Wille kanalisiert die Vibrationen der Lebensimpulse Die Sprache als Quell der Seelenkunde S. 299–321 (17. Kapitel: Zur Theorie des Willens). 1815 Ebd. S. 299 f. 1816 Ebd. S. 310. 1814

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(642) als »universelle Hemmtriebfeder« (648). »Wille ist immer erneuerter Lebensmord und sein Symbol der Selbstmord.« (665) Als Wollende sind wir Gefühlsunterdrücker; Willensstärke ist die Größe des Aufwands zur Niederzwingung der Intensität von Triebantrieben (678). Anstößig ist mir an diesen Grundsätzen die Unbefangenheit, mit der Klages von Trieben redet, und nun gar von »Triebantrieben« mit sonderbarer Verdoppelung der ersten Silbe in der dritten. Es gibt keine Triebe, sofern mit diesem Wort elementare, nicht analysierbare Beweggründe menschlichen und tierischen Verhaltens in Richtung auf einen bestimmten Erfolg verstanden werden. Hunger und Durst, vermeintlich Triebe solcher Art, bestehen z. B. darin, dass der Programmgehalt (Nomos) der Bedeutsamkeit einer durch Bedrängnis und Disharmonie spezifisch gefärbten Situation den reizempfänglichen vitalen Antrieb zur Zuwendung veranlasst. Der vitale Antrieb ist von sich aus auf keinen Erfolg bezogen, sondern besteht in der mehr oder weniger ausbalancierten Konkurrenz der gegenläufigen Bewegungssuggestionen oder Tendenzen von Engung und Weitung als Spannung und Schwellung; man kann das z. B. am Einatmen beobachten. Triebe sind Zuwendungen des an sich triebfreien Antriebs zu Programmen, die entweder als Themen explizit aus (aktuellen oder zuständlichen) Situationen hervortreten oder in die binnendiffus-ganzheitliche Bedeutsamkeit der Situation eingeschmolzen sind. Das Wollen hat primär nichts mit ihnen zu tun. Seine erste, vorrangige Aufgabe ist vielmehr die Intelligenzleistung, zu wissen, was man will, d. h. angesichts begegnender impressiver Situationen sich in den zur zuständlichen persönlichen Situation gehörigen partiellen Situationen mit ihren oft einander reibenden und durchkreuzenden Programmgehalten so zurechtzufinden, dass ein ebenso zum Anlass wie zum Nomos der persönlichen Situation passendes Programm herausgeholt werden kann. Dazu gehört ein gleichsam diplomatisches Geschick im Umgang mit der eigenen Persönlichkeit, mehr als eine bloße Hemmung. Wenn das gelungen ist, kommt es darauf an, ob der vitale Antrieb zur Zuwendung an das ausgewählte Programm gewonnen werden kann, so dass das Programm mit zum Handeln ausreichender Antriebsstärke aufgeladen wird. Dazu muss der vitale Antrieb nicht gehemmt, sondern gewonnen werden, in dem Sinn des Wortes, wie man etwa von einem gewinnenden Lächeln spricht. Die kanalisierende Leistung des Wollens beruht auf der expliziten Vereinzelung des thematischen Programms sowie der Zwischenpro652

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gramme, die sich auf Mittel und (notfalls) Umwege der Realisierung (Vertatsächlichung) des programmierten Sachverhaltes beziehen. Oft genug gehört dazu die Beschneidung von Tendenzen, teils der Programmgehalte partieller Situationen in der persönlichen Situation, teils autonomer Tendenzen des Reizen zugewandten vitalen Antriebes. Solche Hemmungen und der Aufwand des Hemmens schwächen aber das Wollen und sind daher nicht das ureigenste Wesen des Wollens, sondern für dieses ein Missgeschick. 1817

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44.3.3 Die Errungenschaften Die Größe des Philosophen Ludwig Klages beruht nicht auf seiner Durchführung der im Buchtitel »Der Geist als Widersacher der Seele« formulierten Thematik, sondern auf dem diese begleitenden Beitrag zur Rettung von Phänomenen, die bei der psychologistischreduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) achtlos übergangen wurden und seither in deren Rahmen wie staatenlose Vertriebene zwischen den Fronten des Mentalen und des Physischen das Dasein nicht anerkannter Gegenstände führen. Diese Leistung hat einige Verwandtschaft mit der des Paracelsus (27.3), aber während dessen Denken ein Geflacker ist, sind die Feststellungen von Klages systematisch geführt und rational kontrollierbar, auch wo sie korrigiert oder ergänzt werden müssen. Klages nennt die Leistung, die ich ihm hier zuschreibe, »Ausbruch der Seele aus dem Gegenstandszwinger« (1187). Wir werden dadurch »zum seelischen Austausch mit den im Geschehen sich offenbarenden Mächten befähigt«, indem wir z. B. »im Geräusch des Rasselns auch den Charakter des Rasselns und mithin z. B. den Charakter des Eisens, im Geräusch des Prasselns den Charakter des Regnens, Hagelns oder des Steinschlags« gewahren und eine »kopernikanische Umkehrung« erfahren, »die der Sinnlichkeit mit dem wiederentdeckten Vermögen des Schauens vergessene Wunder ihres Könnens zurückgibt.« (204) Die Wirklichkeit besteht nicht aus Dingen, sondern aus Erscheinungen, die lebendige Mächte sind (1119). Was der Seele durch die Sinne und sogar noch im Schlaf erscheint, ist Vgl. dazu Hermann Schmitz, Der Wille, in: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie von Hermann Schmitz, Gabriele Marx, Andrea Moldzio, Rostock 2002, S. 76–98.

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ursprünglich nicht ein beeigenschaftetes Ding, sondern eine lebendige Macht (189 f.). Die »Wesensverschiedenheit zwischen Eindrucksinhalten und Dingeigenschaften« belegt Klages mit folgenden Beispielen für jene: »Nacht, Dämmerung, Morgengrauen, Ferne, Höhe, Tiefe, Schwüle, Trübung, Glanz, Durchsichtigkeit, Feuchte, Wind« (175). »Das Erlebte der Dämmerung ist eine Erscheinungsseite des Bildes der Welt, ebenso das Erlebte von Tag und Nacht, von Abend und Morgen, Schwüle und Feuchtigkeit (…).« (176) Dämmerung ist eigentlich das »Dämmerungswesen, das in der Optik bloß zur Erscheinung kommt« und sich auch in anderen Medien darstellen lässt, bald als Dunkler- bald als Fernerwerden, z. B. als dämmernder Umriss des Gebirgssaumes an einem strahlenden Hochsommertag, als Verdämmern der Küste auf hoher See; so erscheinen »im anschaulichen Sachverhalt des Verdämmerns verschiedene Charakterzüge der Welt« (183 f.). Das Beispiel eines in der Dämmerung flatternden Wimpels – man denke an die abendlichen Lagerfeuer der Jugendbewegung damals – benützt Klages, um dem Anschauungsbild aus Dämmerung, Wimpel und Flattern die für Dinge charakteristische Gliederung in Substrat und Eigenschaft abzusprechen (177); er entnimmt daraus, »dass anschauliche Bedeutungseinheiten durchaus nicht mit den Dingen, Eigenschaften und Vorgängen zusammenfallen müssen« (178), und löst sich also von dem ontologischen Schema, das Christian Wolff so formuliert hat: »Alles, was sein kann, es mag wirklich sein oder nicht, nennen wir ein Ding.« »Alles was wir außer dem Wesen eines Dinges in ihm antreffen, sind entweder seine Eigenschaften, oder seine Veränderungen, oder sein Verhalten gegen andere.« 1818 Wenn ich Klages richtig verstehe, schwebt ihm an der Abenddämmerung mit flatterndem Wimpel, alias dem Wimpel flatternd in Dämmerung, eine mit Atmosphären des Gefühls gesättigte impressive Situation vor, in deren binnendiffus-ganzheitlicher Bedeutsamkeit kein Platz für die Schichtung von Unterlage und Eigenschaft ist. Die Dynamik solcher Situationen ist für ihn so eindringlich, dass er von Dämonen spricht: »Die Dämmerung kommt, bricht herein, lichtet sich, weicht; der Tag bricht an und entschwindet; die Ferne öffnet Vernünfftige Gedanken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet von Christian Wolffen, 8. Auflage hin und wieder vermehrt, Halle im Magdeburgischen 1741, S. 9 (§ 16) und S. 169 (§ 307).

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sich, die Wolken treiben, wandern, eilen, jagen, fliehen, ballen sich; der Mond verbirgt sich und so fort. Es bedarf keines Scharfsinns, um zu erkennen, dass es die Mythenwelt der Dämonen ist, was die Sprache uns aufbewahrt hat, und es wird grade heute niemand behaupten wollen, physikalische Kräfte seien Dämonen und Dämonen würden empfunden und wahrgenommen!« (187) Es handelt sich um die unmittelbare, zweigliedrige Kausalität der Halbdinge, in der Ursache und Einwirkung nicht wie in der Kausalität der Dinge von einander und erst dann vom dritten Glied, dem Effekt, unterscheidbar sind; man mag an die (phänomenologisch, nicht physikalisch verstandene) Stimme, den entgegenschlagenden Wind, die den Stürzenden reißende Schwere, den elektrischen Schlag (ohne schlagenden Arm) und dergleichen denken und die atmosphärische Gefühlsmacht – auch Gefühle als Atmosphären sind Halbdinge – hinzunehmen. Damit ist man bei der erlebten Wirklichkeit nach Klages, wie sie der unbefangene Hörer der Schilderung des Wassergeräusches in Schillers Ballade Der Taucher vernehme: als »ein Ereignis, das in jenen Geräuschen bloß zur Erscheinung kommt« und »ein von dämonischen Mächten erfülltes Wasser« betreffe (181). Dämonische Wesen sind nach Klages nicht Personen (241); für »Dämonen« kann man auch sagen: »Seelen«, »Urbilder«, »mystische Fluiden« (1430). In meiner Ausdrucksweise handelt es sich um Gefühle als flächenlos räumliche Atmosphären und leiblich spürbar affektiv ergreifende Mächte. Nach Klages stehen sie »an Bewusstseinsfremdheit schwerlich hinter den Farben, Klängen, Düften, Traumgesichten zurück« (245), und »allein der Vernunftmensch, der die Trauer nicht mehr für einen Dämon hält«, ist »genötigt, sie für einen Vorgang der eigenen Seele zu halten« (248), sie der Introjektion zu unterwerfen. Das Dämonische daran ist die affektiv ergreifende, ja erschütternde Macht: »Was uns in begnadeter Minute aus der Natur oder aus den Werken der Quellgeister mit dämonischer Gewalt anrührt, ist nicht ausgedacht und zusammenphantasiert, sondern es ist – entbunden.« (1132) Klages wendet sich gegen die »modische Irrlehre vom nur subjektiven Charakter des Fühlens« (208) und unterscheidet »Wesensgefühle von bloß eigenpersönlichen Zustandsgefühlen« durch ihre Tiefe, die im Extremfall den Gefühlsvorgang bis zum Außersichsein, zur Ekstase steigere (209); dieser hat er sein schönes Buch Vom kosmogonischen Eros gewidmet. Eine Atmsophäre besonderer Art ist nach Klages die Aura, der Nimbus der etwas umgibt: »Die Alten kannten den genius loci, den 655

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Nimbus, die Aura, und auch wir noch sprechen von der ›Atmosphäre‹ eines Menschen, eines Hauses, einer Gegend. Nun, diese ›Atmosphäre‹, von sog. sensitiven Naturen erlauscht, von feinfühligen gespürt, robusteren Gemütern unbekannt, ist eine wirkende Wirklichkeit, gebend und bereichernd oder saugend und schwächend, umfangend und erwärmend oder aushöhlend und erkältend, beschleunigend und erregend oder hemmend und dämpfend, ausweitend oder einengend, beflügelnd oder lähmend, und ihr Wirken ist wesensverschieden vom Sichberühren der Körper.« (1103) Urbilder sind »Anschauungsbilder im ›Nimbus‹ oder in der ›Aura‹ oder auch Erscheinungen der Ferne.« (1207) »Dank seines Nimbus reicht jedes Urbild ebenso weit wie das All (…); dank diesem leuchtenden Schleier sind seine Konturen gelockert, grenzwidrig, ungreifbar und lassen unbeschadet der Wahrnehmbarkeit des Kernes das in ihm zur Erscheinung kommen, was die Romantik ahnungsvoll das ›Unendliche‹ nannte (…).« (844) Deutlich wird das in der Anweisung, sich der Pflanzenseele zu nähern, die sicherlich als Aura der Pflanze verstanden werden darf: »Man erfülle sich ganz mit dem träumerischen Duft des Goldlacks, dem heimlich-starken des Waldmeisters, dem süßerregenden von Jelängerjelieber; man warte geduldig, ob dem in die vegetativen Gründe des eigenen Wesens sich hineinerinnernden Blick ein Schimmer beschieden sei, worin sich gleich zarten Wolkensäumen fremdvertraute Gebilde gestalten, und man wird in günstiger Stunde das eigene Träumen vielleicht gefärbt und umdämmert finden von den nun erahnbaren Pflanzenseelen.« (1112) Ich habe Bewegungssuggestionen (sinnfällige Vorzeichnung von Bewegung an Unbewegtem oder Bewegtem, bei diesem über die ausgeführte Bewegung hinaus) und synästhetische Charaktere als Brückenqualitäten leiblicher Kommunikation benannt, die sowohl an Gestalten wahrgenommen als auch am eigenen Leib gespürt werden können und ebenso auf alles, was sich (wie ergreifende Gefühle) dem Leib spürbar einprägt, gleichsam abfärben; synästhetische Charaktere haben ihren Namen oft, nicht immer, von spezifischen Sinnesqualitäten, sind aber intermodale, unspezifische Sinnesqualitäten und kommen auch ganz ohne solche Qualitäten (etwa an sinnfällig einprägsamer Stille) sowie an Bewegungen (Gang) vor. 1819 Für beide 1819 Vgl. besonders System der Philosophie Band III Teil 5: Die Wahrnehmung (zuerst 1978, mehrfach wieder aufgelegt) S. 37–69; Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 156–184.

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Klages

Qualitätentypen hat Klages wichtige Pionierarbeit geleistet, indem er sie als dingferne Ur- oder Anschauungsbilder auffasst und vielseitig mit Hilfe geläufiger Redewendungen beleuchtet. 1820 Eine originelle und frappante Errungenschaft von Klages ist die Gegenüberstellung menschlichen und tierischen Erlebens mit Hilfe seiner Unterscheidung zwischen Schauen und Empfinden (35. Kapitel: Vom tierischen und menschlichen Erkennen). Fähigkeit zum Schauen ist Fernempfänglichkeit (829), wobei die Ferne im ursprünglichen Anschauungsbild eine Qualität und nur sekundär auf Abstände zu beziehen ist (839); vermöge des Empfindens verkehren die Wesen nur mit dem körperlich Nahen (1105). Dies ist freilich nicht immer der Fall der Tiere, wie das Beispiel der aus der Höhe Beute suchenden Raubvögel zeigt, aber auch ihnen bleibt die Bildqualität der Ferne versagt (371). Sie ging beim Übergang von der ferneempfänglichen, nach Klages unbewusst schlafend schauenden Pflanze zum Tier verloren und wird vom Menschen wiedergewonnen: »Aus der empfindenden oder der leiblich erwachten Tierheit löste sich der ursprüngliche Mensch durch Befreiung des Schauens von der Herrschaft des Empfindens. (…) Mit der Wachheit des Leibes und der Gabe der Fortbewegung, durch die es sich von der Pflanze trennte, ertauschte das Tier für die Allfähigkeit alles Schlummerlebens die unüberschreitbare Gegenwärtigkeitsschranke des bloß auf den Eindruck gewiesenen Triebes; ihr entriss sich der ursprüngliche Mensch und tauchte zurück in die Allfähigkeit des Erlebens durch das Erwachen der schauenden Seele.« (369) Tiere können keine Landschaften sehen, weil sie nicht das »Mittel menschlicher Gestalt- und Bildauffassung« haben (371); sie sind auf das für sie Nächste, selbst wenn es (wie die Beute des Vogels) räumlich entfernt ist, fixiert und nicht frei dafür, Gestalten als Gestalten zu sehen; daher können sie insbesondere nicht abbilden (S. 370, 373 f.). Ich könnte diese Gegenüberstellung, die etwas Einleuchtendes hat, mit den von mir entwickelten Kategorien leiblicher Dynamik durch die Vermutung ergänzen, dass sich beim Übergang vom Tier zum Menschen eine Lockerung des vitalen Antriebs ereignet hat, wodurch es möglich wurde, aus dem Verband von Engung und Weitung privative Weitung freizusetzen, Für synästhetische Charaktere vgl. in GW das 21. Kapitel (Eindrucksqualitäten im Dienst der Wesensdarstellung) S. 183–194, ferner 1122 f., 1128, für Bewegungssuggestionen S. 179 und das 62. Kapitel (Vom Bewegungserlebnis) S. 1022–1062. Weiteres Material bietet das Spätwerk Die Sprache als Quell der Seelenkunde im 10.–16. Kapitel.

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Lebensphilosophie

wie wir sie z. B. spüren, wenn uns, wie man sagt, das Herz aufgeht (etwa bei einer weiten Aussicht), wenn ein Druck von uns abfällt und wir erleichtert aufatmen. Solche privative Weitung könnte dazu verhelfen, die Ferne als Ferne zu erfassen. Eine weitere treffende Bemerkung von Klages betrifft das Verhältnis von Abstraktion und Findung des Allgemeinen (420–431, aus Kapitel 38). Viele Autoren – z. B. Kant nach seinem von Jaesche bearbeiteten Logik-Kompendium – wollen allgemeine Merkmale aus dem Verfahren des Abstrahierens ableiten, das darin besteht, durch Vergleich verschiedener Gegenstände ein gemeinsames Merkmal herauszuheben und von anderen abzusehen. Nach Klages ist das Abstraktionsvermögen eher ein Hindernis als eine Ursache genereller Bedeutungseinheiten (424). Die Abstraktion greift in erlebte Zusammenhänge ein und ersetzt sie durch Beziehungen (431). Begreifen setzt Grenzen und vereinzelt durch Weglassen von Charakteren (429). »Die Menschheit hat jahrzehntausendelang Bedeutungseinheiten wie Himmel, Erde, Nacht, Helligkeit, Dunkelheit, Baum, Tier, Stein usw. oder Laufen, Stehen, Liegen, Wachen, Schlafen usw. (bzw. Analogien solcher Bedeutungseinheiten) besessen, ehe sie den Begriff des euklidischen Dreiecks zu fassen vermochte (…).« (426) Die wichtigsten systematischen Errungenschaften von Klages dürften damit erwähnt sein. Neben ihnen behaupten historische Errungenschaften einen ehrenvollen Platz. Ein Meisterstück (abgesehen vielleicht von der Behandlung der frühen griechischen Philosophen) ist das lange Kapitel 57 (850–923) über die Vorgeschichte der Entdeckung der Bilder mit wichtigen Beobachtungen namentlich zur Barockzeit und zur Romantik. Die summarische These vom Geist als Widersacher der Seele ist zwar unhaltbar, 1821 doch ergibt die historische Verflüssigung des Vorurteils zur Markierung einer Epochenfolge eine nicht nur lehrreiche, sondern denkwürdige und vollen Ernst verdienende Perspektive. Aus der »Abfolge der Zustände des Bewusstseins (symbolisch, prometheisch, herakleisch)« geht nach Klages »die Art und Weise der Teilnahme des Geistes an der Erzeugung der Zerfallsstufen des Lebens« hervor (1245). Die symbolische Stufe erläutert er nicht; aus GW S. 385 entnehme ich aber, dass ein Denken auf der nicht-reduktionistischen Grundlage typisierbar vielKlages scheint unmusikalisch gewesen zu sein; auf die Musik fällt nirgends sein Augenmerk, im Gegensatz zu Dichtung und bildender Kunst. Wie könnte man vor den Meisterwerken Bachs behaupten, dass der Geist ein Widersacher der Seele sei?

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Klages

sagender Eindrücke wie bei Paracelsus (27.1), in der chinesischen Medizin und bei den frühen Griechen bis auf Demokrit (9.1) gemeint ist. Der prometheischen und herakleischen Stufe – mit scharfsinniger Ausdeutung der Mythen von Prometheus und Herakles – widmet sich Klages in GW S. 750–768. Er sieht in ihnen »die zwei tatsächlich zwar durcheinanderspielenden, grundsätzlich jedoch scharf unterscheidbaren Abschnitte des lebensabhängigen und des verhältnismäßig lebengelösten, jedenfalls aber geistabhängigen Denkens« (374). Die prometheische Stufe steht noch im Zeichen »der wissenden Pathik, in deren Widerschein die Notwendigkeit des Geschehens zur Unerbittlichkeit der Heimarmene wird.« (751) Klages scheint an die attische Tragödie und – nach Ausweis des Fremdwortes – die Stoa zu denken. Ungefähr zur Zeit der Christus-Geburt tritt an die Stelle solcher Pathik der Tatendrang des herakleischen Zeitalters: »Auch das Wesen des Tatendranges samt den furchtbaren Folgen seines Sieges über das Erkenntnisvermögen gibt uns der Mythos in der Gestalt des Herakles.« (751) »Der Geist, aus der Knechtschaft des Lebens befreit, tritt selbstherrlich in die Erscheinung als zerstörerische Tat, und die Tätigkeit des Denkens ist fortan das Werkzeug des Willens zur Macht.« (753) Das ist historisch nicht schlecht beobachtet. Ich habe unter 42.1 – mit Bezug auf meine breite Behandlung der dynamistischen Verfehlung des abendländischen Geistes in Adolf Hitler in der Geschichte – gezeigt, dass Nietzsche im Gefolge des Christentums steht, wenn er die von diesem durchgesetzte und von der Aufklärung in ihrem Bund mit dem Privatkapitalismus und der Technik übernommene Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht auch noch von der christlich-aufklärerischen Legierung mit dem privaten Glücksinteresse (spätestens seit Augustinus, 20.1 und 3) löst und einen nackten Willen zur Macht etabliert. Obwohl erst Nietzsche so weit geht, sind sowohl der Wille (Gottes, der laut »Vaterunser« geschehe, sowie der gute oder böse des Menschen) und die Macht an die Aufklärung und zugehörige Maschinentechnik vererbte Leitmotive des Christentums. Dagegen richtet sich der Protest von Klages: Es ist »das Überwiegen der wollenden Haltung über die erkennende Haltung, wodurch das schlimmste Ungemach über die Seele hereinbrach, bis am Ende der Geist sich emanzipieren und die für immer geknebelte umzubringen versuchen konnte.« (997) Die generelle Verdächtigung des Wollens durch Klages ist so abwegig wie seine generelle Verdächtigung des Geistes, aber ins Schwarze trifft er mit dem Vorwurf, »dass der vermeinte Besitzer des Willens 659

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Lebensphilosophie

in Wahrheit der Besessene des Wollens geworden« sei (765). Das ist sogar in tieferem und umfassenderem Sinn wahr, als ihn Klages hier mit Berufung auf Rekordwahn, Machtsucht, Erfolgsraserei und Glauben an das Idol der größten Zahl anvisiert. Ich habe unter 25.4 über Geulincx, Kant und Ernst Jünger die Spur der Saat verfolgt, die ein großer Vermittler und Verwandler des Christentums, Meister Eckhart, in die abendländische Geschichte gelegt hat: An die Stelle persönlicher Willenssubjekte tritt ein unpersönliches Gesetz, zuerst das Gesetz der Vernunft, danach das Gesetz der unpersönlichen Institutionen oder vielmehr »Apparate«, die das persönliche Wollen nolens volens zum Funktionär ihrer Gesetzgebung machen, wie der technische Fortschritt, der Geld- und Warenmarkt, die öffentliche Meinung in der Demokratie oder als »Selbstläufer« mit Totalitätsanspruch auftretende politische oder religiöse Organisationen. Dass sich das persönliche Wollen diesem Diktat ausliefert, ist freilich auch ein Ergebnis der von mir in Adolf Hitler in der Geschichte sogenannten ironistischen Verfehlung des abendländischen Geistes: der Schwächung der Konsequenz eigenen Wollens durch die entzügelte Wendigkeit aus der Distanz einer zur Coolness banalisierten romantischen Ironie (38) im Zeichen der rezessiven Entfremdung der Subjektivität (36.2). Das durch beliebige Wendigkeit geschwächte Wollen findet sich vor einem Überangebot technisch abgepackter Möglichkeiten des Verfügens und braucht scheinbar nur zuzugreifen, um hier oder da zur »Selbstverwirklichung« zu gelangen, unterwirft sich damit aber vielmehr dem Gesetz, das die Technik in die Verpackung hineingelegt hat. Erst recht bewährt sich damit das Verdikt von Klages, »dass der vermeinte Besitzer des Willens in Wahrheit der Besessene des Wollens geworden« sei. Klages begleitet die Herrschaft des herakleischen Geistes mit apokalyptischer Resignation: »Die Ferne schlummert in der pflanzlichen Schicht, sie erscheint im ursprünglichen Menschen, sie wird übertüncht, überklebt und zugestampft von der widernatürlichen Schicht des Begriffsvermögens. (…) Indem der Geist als Wille nach außen bricht, vollbringt er durch seinen Büttel, den herakleischen Menschen, an der Erde dasselbe Werk: er verstopft ihre Poren, raubt ihr die Atemluft, unterbindet ihren Austausch mit dem Kosmos. Rodung der Wälder, Ausrottung frei lebender Tiergeschlechter, Geländeentwässerung, Regelung und Vergiftung der Ströme, Ausbeutung und Vertilgung aller Schätze des Bodens sind einige der weithin sichtbaren Zeichen dessen.« (1139 f.) »Die Stunde der Gegenwirkung 660

Klages

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wurde versäumt, und wir alle, die wir aus leidenschaftlicher Liebe des Lebens so Grauenvolles beweinen müssen, sind ›letzte Mohikaner‹. Wer aber von solchen noch Wünsche zu hegen wagt, müsste nur eines wünschen: dass eine derart Verruchtes vollbringende Menschheit so schnell wie möglich absinke, veraffe, verende, damit um ihre verwitternden und verfallenden Arsenale des Mordes noch ein Mal begrabend, entmischend und sich selber erneuernd der Rausch der Wälder brande. –« (768) Die Anklage ist nicht einmal überzogen, aber auf die Anklagebank gehört nicht das metaphysische Gespenst eines außerraumzeitlichen Geistes, der in das Geschehen geschauter Bilder Pfeile schießt, sondern da ist Platz für reale Autoren: Philosophen, Christen, Aufklärer und ihre Mitläufer, Naturwissenschaftler und Techniker, die sich mit großartigen Leistungen und staunenswerten Erfolgen auf einen verfänglichen Weg führen ließen.

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45. Phnomenologie

45.1 Husserl 45.1.1 Intentionalität Husserl 1822 zeichnet die Intentionalität – die Eigenschaft des Bewusstseins, Bewusstsein von etwas zu sein 1823 – als das Generalthema der von ihm als Phänomenologie erneuerten Philosophie aus: »Der Ich zitiere Husserls Schriften nach der Gesamtausgabe Husserliana (Band I – XXXIV Den Haag und Dordrecht 1950–2002, Fortsetzung offen) mit römischer Bandund arabischer Seitenzahl und gebe hier für die Bände, aus denen ich zitiere, Titel und Jahreszahlen für (ungefähres) Entstehen oder ursprünglichen Vortrag bzw. Erscheinen der Texte an: I Cartesianische Meditationen (1929); III Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch (1913), von mir benützt in der Ausgabe von Walter Biemel (1950), nicht in der späteren von Karl Schuhmann (1976); IV Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 2. Buch (1912–1928); VI Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1935–1937); VII Kritische Ideengeschichte (1923/24); VIII Theorie der phänomenologischen Reduktion (1923/24); IX Phänomenologische Psychologie (1925); X Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917); XI Analysen zur passiven Synthesis (1918–1926); XIII Phänomenologie der Intersubjektivität (1905–1920); XIV Phänomenologie der Intersubjektivität (1920–1928); XV Phänomenologie der Intersubjektivität (1929–1935); XVI Ding und Raum (1907); XVII Formale und transzendentale Logik (1929); XVIII Logische Untersuchungen, 1. Band (1900); XIX 1 Logische Untersuchungen, 2. Band, 1. Teil, 1. Auflage (A) 1901, 2. umgearbeitete Auflage (B) 1913; XIX 2 Logische Untersuchungen, 2. Band, 2. Teil (1. Auflage 1901, 2. Auflage 1921); XXVIII Ethik und Wertlehre (1908/09); XXXI Aktive Synthesis (1920/21); XXXIII Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18). Außerdem benütze ich: Edmund Husserl, Briefwechsel, hg. v. Karl Schuhmann in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1993 (Briefe, folgt Bandzahl); Edmund Husserl und Ludwig Landgrebe, Erfahrung und Urteil, 2. Auflage Hamburg 1954 (EU). – Die Husserl-Darstellung in meinem Buch Husserl und Heidegger (HH), Bonn 1996, S. 88–172, ziehe ich mit Verweisen zur Entlastung der gegenwärtigen Ausführungen heran. 1823 I 72: »Bewusstseinserlebnisse nennt man auch intentionale, wobei aber das Wort

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Husserl

Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt Intentionalität. Er drückt eben die Grundeigenschaft des Bewusstseins aus, alle phänomenologischen Probleme, selbst die hyletischen, ordnen sich ihm ein.« 1824 Zur Erläuterung kann folgende Stelle im selben Buch dienen: »Der Gesichtspunkt der Funktion ist der zentrale der Phänomenologie, die von ihm ausstrahlenden Untersuchungen umspannen so ziemlich die ganze phänomenologische Sphäre (…). An die Stelle der an den einzelnen Erlebnissen haftenden Analyse und Vergleichung, Deskription und Klassifikation, tritt die Betrachtung der Einzelheiten unter dem ›teleologischen‹ Gesichtspunkt ihrer Funktion, ›synthetische Einheit‹ möglich zu machen.« (III 213) Mit dieser Leistung wird Intentionalität Husserl zum Generalschlüssel philosophischer Begründung: »Intentionalität ist der Titel für das allein wirkliche und echte Erklären, Verständlichmachen. Auf die intentionalen Ursprünge und Einheiten der Sinnbildung zurückführen – das ergibt eine Verständlichkeit, die (was freilich ein Idealfall ist) einmal erreicht, keine sinnvolle Frage offen lässt.« (VI 171) »Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, und die Bewusstseinsweisen sind sehr verschieden.« (III 239 f.) Ihr Grundzug ist das Gerichtetsein: »Das Gerichtetsein, die Tendenz–auf, das ist Grundcharakter des Bewusstseins-von in seinem ursprünglichen Wesensbestand.« (XXXIII 38) Das trifft allerdings nicht für jede Nuance zu, sondern nur für den jeweiligen Verband: »Ein Bewusstsein von etwas braucht nicht notwendig in sich die ausgezeichnete Form des Gerichtet-seins auf dieses Was, auf seine Gegenständlichkeit zu haben. Das zeigt sich an den Retentionen, die ursprünglich an jede Wahrnehmung sich anschließen.« (XI 90; Retention = frisches Behalten) »(…) gerichtet ist das Bewusstsein auf Gegenständliches nur dadurch, dass eine aus intentionalen Strahlen vereinigte Gesamtintention aktualisiert ist, während das übrige Gegenstandsbewusstsein ein Milieu verbleibt, das jederzeit unter motivierenden Umständen die Form der spezifisch gerichteten Intentionalität annehmen kann.« (XI 364) »(…) in jedem Aktvollzuge liegt ein Strahl des Gerichtetseins, den ich nicht anders

Intentionalität nichts anderes als diese allgemeine Grundeigenschaft des Bewusstseins, Bewusstsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatum in sich zu tragen, bedeutet.«. 1824 III 357. Bei den hyletischen Problemen handelt es sich um die »Empfindungsdaten«, z. B. »das Empfindungsdatum Weiß«. »Als ›darstellender‹ Inhalt für das erscheinende Weiß des Papieres ist es Träger einer Intentionalität, aber nicht selbst ein Bewusstsein von etwas.« (III 81).

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Phnomenologie

beschreiben kann als seinen Ausgangspunkt nehmend im ›Ich‹ (…).« (IV 97 f.) Die Beladung der naheliegenden Redewendung »Bewusstsein von etwas« mit der Vorstellung gerichteter Akte, die sich zu einer Gesamtintention verbinden, bringt eine Schwierigkeit mit sich, eine theoretische Lücke. Husserl hat eine ziemlich mechanische Vorstellung von solcher Zusammensetzung der Akte; er vergleicht sie der Zusammensetzung einer Maschine aus Maschinen, deren jede ihre besondere Leistung – im Fall des Aktes: »seinen einheitlichen Gegenstand und seine Weise, sich auf ihn zu beziehen« – in die Gesamtleistung einbringt. 1825 Das Funktionieren dieses Komplexes setzt ein Programm voraus, das jedem Teil das Ziel seiner Funktion zuweist, im Fall des gerichteten Aktes wie ein Kompass, der die Richtung auf den Gegenstand einstellt. Für diese Aufgabe hält Husserl die Materie des Aktes bereit, die dem Akt »die bestimmte Richtung auf ein Gegenständliches verleiht, also es z. B. macht, dass die Vorstellung gerade dies und nichts anderes vorstellt.« (XIX 1, 428) Es handelt sich aber um einen bloßen Leertitel für ein ungelöstes Problem; Husserl macht keine Angabe darüber, wie eine solche Materie beschaffen sei, wie sie gefunden, identifiziert, vielleicht beobachtet werden könnte. Die Rede von gerichteten Akten des Bewusstseins (oder besser: des Bewussthabens) ist z. B. für Aufmerksamkeit und Absichten plausibel, aber nur vertretbar, wenn zusätzlich zur Richtung und zum Ziel eine Grundlage für die Einstellung der Richtung auf das Ziel verfügbar ist. Dafür hat Husserl nichts zu bieten als das Wort »Materie«. Dadurch wird seine Theorie der gerichteten Intentionalität fragwürdig. Die Problematik steigt, weil Husserl das Bewusstsein als eine abgeschlossene Innenwelt versteht, aus der die meisten Akte auf außenweltliche Gegenstände abzielen. Woher sie die Sicht nehmen, um sich jenseits der Grenze ihres heimatlichen Bewusstseins zurechtzufinden, ist erst recht schleierhaft. Diese Lücke begründet Misstrauen und rechtfertigt den Versuch, den allgemeinen Tatbestand, für den sich Husserl auf die Redewendung »Bewusstsein von etwas« beruft, genauer unter die Lupe zu nehmen und anders zu charakterisieren. Das soll nun geschehen. XIX 1 S. 417 (in allen Auflagen übereinstimmend); ein Beispiel ebd. S. 415 f.: Der »Akt, der dem Namen das Messer auf dem Tische entspricht, ist offenbar zusammengesetzt. Der Gegenstand des Gesamtaktes ist ein Messer, der Gegenstand des Teilaktes ist ein Tisch.«

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Husserl

Ich unterscheide zwei Stufen: eine primitive Proto-Intentionalität und Intentionalität im Vollsinn. Proto-Intentionalität ist antagonistische Einleibung in Halbdinge 1826 wie den Schmerz. Man kann Schmerz nicht erleiden, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen, und das liegt nicht an seiner Peinlichkeit, denn die Angst ist nicht weniger peinlich, und doch kann man, ohne sich mit ihr auseinanderzusetzen, in ihr aufgehen, wenn sie panisch wird. Schmerz hat also als eindringender Widersacher, der den Gepeinigten stellt, mehr Gegenständlichkeit, die zum Halbding reicht, als die Angst. Entsprechendes gilt für die reißende Schwere, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt, und für den plötzlich treffenden Windstoß. Antagonistische Einleibung ist eine Spreizung der immanenten Dialogik des vitalen Antriebes, der aus in einander als Spannung und Schwellung verschränkten Impulsen, Tendenzen oder Bewegungssuggestionen von Engung und Weitung besteht. Wenn die Engung aushakt, erstarrt der Antrieb, wie im heftigen Schreck; wenn die Weitung ausläuft, erschlafft er, wie beim Dösen oder in Müdigkeit; daran zeigt sich, dass er nicht ohne die Verschränkung auskommt, die antagonistische Konkurrenz, die in antagonistischer Einleibung zu partnerschaftlicher Konfrontation gespreizt wird. Der vitale Antrieb – ich nenne ihn »vital« als (z. B. im Einatmen rein dargestellte) Grundschicht der Vitalität, die ihn durch die Oberschichten seiner Reizempfänglichkeit und seiner Zuwendbarkeit zu empfangenen Reizen ergänzt – ist die Achse der Dynamik des spürbaren Leibes, weil das Leibsein, das Tiere und Menschen von den bloß gleitend währenden Pflanzen unterscheidet, fundamental in einer Beweglichkeit in der Dimension von Enge und Weite (mit Schwingungen, Spaltungen, Stößen und labilen Gleichgewichten) besteht. Antagonistische Einleibung ist die Grundform aller Wahrnehmung und – zusammen mit solidarischer Einleibung ohne gegenseitige Zuwendung der beteiligten Bewussthaber – aller sozialen Kontakte. 1827 In jeder antagonistischen und solidarischen Einleibung bilden sich gemeinsame Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen phänomenologisch durch unterbrechbare Dauer und Zusammenfall der Ursache mit der Einwirkung (unmittelbare oder zweigliedrige Kausalität). 1827 Vgl. von mir: Begriffene Erfahrung, Rostock 2002, S. 54–64: Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken; Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 133–173: Intersubjektivität; ferner System der Philosophie Band III Teil 5 S. 95–102 und Band V S. 23–43. 1826

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Phnomenologie

Programmen und Problemen, die nicht sämtlich oder überhaupt nicht einzeln sind; das geschieht teils wegen der damit unvermeidlich aufgrund der Gewichtsverhältnisse von Engung und Weitung verbundenen (konstanten oder wechselnden) Rollenverteilung von Dominanz und Unterwerfung, teils wegen zusätzlicher affektiver Beteiligung von Furcht, Zorn, Lockung, Widrigkeit mit entsprechenden Programmen und Problemen. Der für den Übergang von solcher Proto-Intentionalität zur Intentionalität im Vollsinn entscheidende Schritt ist die Geburt der Einzelheit – der Fähigkeit, eine Anzahl um 1 zu vermehren, d. h. Element einer endlichen Menge zu sein – durch die stabilisierende Kraft satzförmiger Rede, die statt der Rufe und Schreie, die ganze Situationen heraufbeschwören, modifizieren und beantworten, aus den Situationen einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme heraushebt und unter einander vernetzt. Dadurch wird die Bestimmtheit als etwas, ein einzelner Sachverhalt, möglich, wodurch sich die Identität, dass etwas es selbst ist (schon in der Proto-Intentionalität vorhanden) zur Einzelheit bereichert, aber nur auf dem unausgeschöpften Hintergrund verbindender Situationen, dem die satzförmige Rede die einzelnen Sachverhalte, Programme und/oder Probleme entnimmt. Von da ab ist Intentionalität das Bewussthaben einzelner und vernetzter Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme), die etwas Einzelnes betreffen, das in satzförmiger Darstellung der betreffenden Bedeutungen zur Sprache kommen kann. Nicht also muss erst die Sache intendiert sein, damit anschließend sie betreffende Bedeutungen erfasst werden können, sondern umgekehrt: Eine Sache kann einzeln erst sein und als einzelne intendiert werden, wenn solche Bedeutungen expliziert sind, und damit ist sie auch schon intendiert. Einer Richtung abzielender Akte bedarf es dafür nicht, stattdessen aber der Explikation von einzelnen Sachen aufgrund der Explikation einzelner Bedeutungen auf dem Hintergrund geordneter Situationen, die den Zusammenhang stiften, der dann nicht mehr der Suche nach Zielen für die Richtung von Akten überlassen werden muss. Für die Ordnung in der Situation (aus Situationen; jeweils sind aktuelle in zuständliche eingeschachtelt) genügt schon die Verteilung von Identität und Verschiedenheit in der durch Einleibung gebildeten Situation, selbst wenn darin noch nichts einzeln expliziert ist. 1828 Auf dieser Grundlage erlangt das Bewussthaben in aufmerksamer Konzentration so1828

Was ist Neue Phänomenologie? S. 112–131: Identität und Einzelheit.

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Husserl

wie beim Verfolgen von Absichten und dergleichen seinen auffällig gerichteten Charakter, der unzulässig verallgemeinert wird, wenn man ihn auf andere Weisen des Bewussthabens, z. B. die Ergriffenheit von Gefühlen, überträgt, geleitet bloß von der grammatisch transitiven Formulierung, die in der Formel »Bewusstsein von etwas« kondensiert. Der Ausdruck »Intentionalität« sollte nicht wie von Husserl1823 verallgemeinert, sondern jenen speziellen Weisen des Bewussthabens vorbehalten werden. Der Grundfehler des Intentionalitätskonzeptes der älteren Phänomenologie seit Brentano und Husserl und schon ihres mittelalterlich-scholastischen Vorlaufs 1829 besteht darin, das Bewussthaben nach Art eines Brückenschlages von einem einzelnen Subjekt zu einem einzelnen Objekt zu verstehen, statt als Schöpfen einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit gemeinsamer Situationen, die auf der Grundlage leiblicher Kommunikation von vornherein Subjekte und (aufgrund leibnaher Brückenqualitäten 1830 auch nicht selbst leibliche) Objekte verbinden, einschließlich des Konservierens und Vernetzens solcher Bedeutungen. Diesem Missverständnis des Bewussthabens als Brückenschlag oder Ausstrecken der geistigen Hand zu einzelnen Zielen liegt das Vorurteil des Singularismus zugrunde, womit die Scholastik (24.1) die Neuzeit infiziert hat.

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45.1.2 Singularismus Das Konzept der Intentionalität wächst, wie sich gezeigt hat, auf dem Boden des Singularismus, der Überzeugung, dass alles ohne weiteres (ohne Zusatz einer weiteren Bestimmung zu seiner sonstigen Beschaffenheit) einzeln ist. Zum Singularismus gehört die Beschränkung der Mannigfaltigkeit auf numerische vieler Einzelner, also, falls nicht überschwänglich große Klassen (wie die Allklasse) gewählt werden, auf zahlfähige Mengen. Auch in dieser Hinsicht ist Husserl Singularist, wie z. B. seine mechanistische Vorstellung von der Zusammensetzung des Bewusstseins aus Akten wie aus Maschinen1825 zeigt, Dominik Perler, Theorien der Intentionalität im Mittelalter, 2. Auflage Frankfurt a. M. 2002. 1830 Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 168– 184: Brücken leiblicher Kommunikation im Raum. 1829

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Phnomenologie

verglichen mit der wechselseitigen Durchdringung nach Bergson (44.1). Husserl macht aber eine merkwürdige Ausnahme, zwar nicht für die wirkliche Welt, aber im Bereich des willkürlich Phantasierten. Er gründet die apriorische Wesensschau (s. u. 45.1.6) auf freie Variation ganz nach Belieben in der Phantasie; die dabei erzeugten Phantasiegebilde charakterisiert er durch instabile oder ambivalente, keineswegs numerische Mannigfaltigkeit (39.1): »Was aber als Einheit im Widerstreit erschaut wird, ist kein Individuum, sondern eine konkrete Zwittereinheit sich wechselseitig aufhebender, sich koexistenzial ausschließender Individuen: ein eigenes Bewusstsein mit einem eigenen konkreten Inhalt, dessen Korrelat konkrete Einheit im Widerstreit, in der Unverträglichkeit heißt. Diese merkwürdige Zwittereinheit liegt der Wesenserschauung zugrunde.« (EU 417) Die instabile Mannigfaltigkeit nach Plotin (15.2), Hegel (39.1) und Bergson (44.1), die ambivalente Konkurrenz Verschiedener um Identität mit dem Selben, für die Husserl selbst das überaus bezeichnende Modell der Husserl’schen Puppe1341 gefunden hat, kann sich bei ihm also wenigstens im Phantasieren gegen die numerische durchsetzen. In der Realität gelingt ihr das nicht. Das Universum baut sich in Husserls Sicht wie ein Netzwerk aus letzten, je einzelnen Kernen auf: »Es kommt hier zunächst das Allgemeinste in Betracht: dass das Universum vorgegeben ist als ein Universum von ›Dingen‹. In diesem weitesten Sinn ist ›Ding‹ ein Ausdruck für letztlich Seiendes, letzte Eigenschaften, Relationen, Verbindungen ›Habendes‹ (als worin sein Sein sich auslegt), während es selbst nicht mehr in dieser Weise ›Gehabtes‹, sondern eben das Letzt-›Habende‹ ist – kurz gesagt (aber ganz unmetaphysisch) letztes Substrat.« (VI 229 f.) »(…) denn letzte Substratgegenstände sind Individuen, (…) auf die sich schließlich alle Wahrheit zurückbezieht« (XVII 211), so dass auch »allgemeine Urteile (…) unmittelbar oder mittelbar schließlich auf individuelle Einzelheiten zurückbezogen sind.« (XVII 212) Direkte Erfahrung gibt nur singuläre Einzelheiten (III 45), und nichts steht dem im Wege, dass ein dunkel Bewusstes und dasselbe klar Bewusste im Bestimmungsgehalt absolut identisch sind (III 323); auch das dunkle Horizontbewusstsein, von dem Husserl vielfach spricht, wird nicht durch einen anderen Mannigfaltigkeitstyp als den numerischen Mannigfaltigkeitstyp charakterisiert, sondern durch zu jedem Erlebnis gehörige »Potentialitäten des Bewusstseins« (I 82), die auch viele einzelne sein können. Man muss genau aufpassen, um Husserl an dieser Stelle nicht 668

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Husserl

unrecht zu tun. Er wendet sich nämlich auch gegen die nach seiner Meinung zunächst als selbstverständlich anmutende Annahme, jedes intentionale Erlebnis sei »ein Bewusstsein von einem sich als etwas für sich Darbietenden, einem Abgehobenen, einzeln Dastehenden«, und führt als Gegenfall das phänomenale Kontinuum an, mit dem Beispiel weißer Quadrate, von denen »wir meinen, jedes sei an sich ein Kontinuum von Weißem, dessen Phasen nur nicht für sich abgehoben sind.« (XI 120) Wenn man aber sein Verständnis des Kontinuums näher betrachtet, stellt sich heraus, dass er nicht an chaotische Mannigfaltigkeit als Gegenfall zur numerischen (39.1) denkt, sondern an eine unendliche Punktmenge im Sinne der zeitgenössischen Mengenlehre. Husserl war als Privatdozent in Halle Kollege Georg Cantors, der ja nicht nur die allgemeine Mengenlehre begründet hat, sondern mit seiner Theorie der unendlichen linearen Punktmannigfaltigkeiten auch die mengentheoretische Topologie. Im Sinne dieser Konzeption charakterisiert Husserl bald nach der zuletzt zitierten Stelle das Linearkontinuum: »Durch zwei Punkte ist vorgezeichnet eine Punktmannigfaltigkeit, deren sämtliche Abstände ›in gleicher Richtung‹ liegen. Sämtliche Punkte dieser Punktmannigfaltigkeit bilden eine eindimensionale kontinuierliche Mannigfaltigkeit, die Gerade heißt. Die Zeit ist eine Gerade.« (XI 147) Dass Husserl in der Tat auch vor dem Kontinuum entschlossener, ja exzessiver Singularist geblieben ist, wird deutlich, wenn er vom räumlichen Beispiel des weißen Quadrates zum zeitlichen des anhaltenden Tones übergeht: »Alle inhaltliche Kontinuität, z. B. die inhaltliche eines Geigentones, ist Einheit einer kontinuierlichen Verschmelzung von Phase zu Phase; aber nur in dem kontinuierlichen Werden, in der Zeitordnung kann der Inhalt kontinuierlich sich verschmelzen.« (XI 141) Dieses akustische Beispiel ist Husserl in einem Hauptstrang seines jahrzehntelangen Nachdenkens und Grübelns zum Schicksal geworden, nämlich bei der Lehre vom sogenannten zeitkonstituierenden Fluss oder Urbewusstsein. Er unterscheidet die objektive Zeit der Gegenstände des Bewusstseins, die phänomenale oder immanente Zeit der Inhalte des Bewusstseins – im Fall des reinen Bewusstseins (s. u. 45.1.3.2) die transzendentale Zeit erster Stufe – und die diese konstituierende Urzeit: »Die phänomenale Zeit, die transzendentale erster Stufe, ist nur möglich durch eine innerste transzendentale Zeit zweiter Stufe und in einem letzten transzendentalen Ereignis, dem endlosen Prozess selbst, der für sich selbst Bewusstsein vom Prozess ist.« (XXXIII 29) Von ihm als dem »letzten 669

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und wahrhaft Absoluten« redet Husserl in einer geheimnisvollen Andeutung bei seiner Einführung der transzendentalen Subjektivität (III 198). 1831 Als Studienobjekt, an dem er das Urbewusstsein aufweisen will, benützt Husserl stereotyp das Hören eines gleichmäßig anhaltenden Tones, indem er jedem Moment des Erschallens eine neue Urimpression zuordnet, die in einer Serie von Retentionen, d. h. von Momentanereignissen des unwillkürlichen, allmählich sich abschwächenden frischen Behaltens, fortgesetzt wird: »Der ›Quellpunkt‹, mit dem die ›Erzeugung‹ des dauernden Objektes einsetzt, ist eine Urimpression. Dies Bewusstsein ist in beständiger Wandlung begriffen: stetig wandelt sich das leibhafte Ton-Jetzt (…) in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die Modifikation übergegangene ab. Wenn aber das Bewusstsein vom Ton-Jetzt, die Urimpression, in Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein Jetzt, ein aktuell Daseiendes. (…) Es ergibt sich demnach ein stetiges Kontinuum der Retention derart, dass jeder spätere Punkt Retention ist für jeden früheren. Und jede Retention ist schon Kontinuum. (…) Den Fluss entlang oder mit ihm gehend, haben wir eine stetige zum Einsatzpunkt gehörige Reihe von Retentionen. Überdies jedoch schattet sich jeder frühere Punkt dieser Reihe als ein Jetzt wiederum ab im Sinne der Retention. An jede dieser Retentionen schließt sich so eine Kontinuität von retentionalen Abwandlungen an, und diese Kontinuität ist selbst wieder ein Punkt der Aktualität, der sich retentional abschattet. Das führt auf keinen einfachen unendlichen Regress, weil jede Retention in sich selbst kontinuierliche Modifikation ist, die sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der Vergangenheit in sich trägt.« (X 29 f.) Nach dieser frühen Charakterisitik 1832 hat Husserl die Strukturanalyse des Urbewusstseins wesentlich verfeinert. Einen Einblick gibt der schon erwähnte Brief an G. v. Splett vom 28. 03. 1914: »Dem Continuum der abgeflossenen Dauer entspricht – in diesem aktuellen Jetzt – ein dem Tonjetzt anhängendes Continuum der Abschattungen der gewesenen Tonjetzt. So von neuem für jede neue originäre Tonphase, wobei das Abschattungskontinuum immer wieder ein neues und sich im Abfluss der sich neu erzeugenden Jetzt selbst stetig änDass dies gemeint ist, ergibt sich auch aus der Antwort Husserls vom 28. 03. 1914 auf die Anfrage von G. v. Splett vom 11. 03. 1914, Briefe III 535 und 538. 1832 Der eben angeführte Text fußt nach einer Anm. des Herausgebers von Band X auf einer zwischen 1908 und 1909 entstandenen Aufzeichnung Husserls, X 326 f. 1831

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derndes ist (Continuen von Continuen). Dabei aber entspricht jeder bestimmten Tonphase der Dauer in dieser Continuität 2ter Stufe (Doppelkontinuität) ein durchgehendes Linearkontinuum von Abschattungen, dessen Phasen alle denselben Tonpunkt (jene Tonphase) ›darstellen‹. Nur so ist das stetig sich erzeugende Dauerbewusstsein (…) möglich. D. i.: Was wir als die Hyle Ton bezeichnen, ist eine in einem Bewusstseinsprozess sich ›konstituierende‹ Einheit. (…) Es handelt sich hierbei aber um eine Konstitution, die für alle cogitationes in gleicher Weise von Statten geht: es ist ein Urgesetz des Bewusstseins, dass alles, was wir gewöhnlich ein Erlebnis (auch ein Bewusstsein) nennen, sich in Bewusstseinskontinuen in bestimmter Weise ursprünglich konstituiert: diese Continuen, der Urbewusstseinsfluss, sind keine ›cogitationes‹, sie konstituieren Zeit, haben aber selbst keine Zeit, keine Dauer.« (Briefe III 539) Ich will versuchen, diesen nicht ganz leicht durchschaubaren Text zu analysieren. Dabei unterscheide ich drei Typen von Kontinuum. Das Kontinuum erster Art ist eine stetige Folge von Urimpressionen. Jeder solchen Urimpression schließt sich je ein Kontinuum zweiter Art an, ein Linearkontinuum, dessen Punkte retentionale Abschattungen der betreffenden Urimpression sind. Außerdem gibt es ein Kontinuum dritter Art, bestehend aus retentionalen Abschattungen aller bereits abgelaufenen Urimpressionen (Tonjetzte). Dieses Kontinuum durchquert alle Kontinuen zweiter Art und wandelt sich durch fortgesetzte retentionale Abschattung zu einem Kontinuum von Kontinuen. Jeder Punkt jedes Kontinuums zweiter Art ist also Durchgangsstation einer Phase des Kontinuums dritter Art, das daher eigentlich ein Flächenkontinuum sein müsste. Mit dieser Interpretation verstehe ich auch eine ungefähr 4 Jahre spätere, sonst rätselhafte Kennzeichnung des Urbewusstseins, wo diesem abermals die Konstitution der Dauer durch immer neues Quellen und retentionales Absinken von Gegenwartspunkten bescheinigt wird: »Wir haben also ein Kontinuum von Kontinuis, eine kontinuierliche Folge von kontinuierlichen Koexistenzen. In dieser kontinuierlichen Folge hat jedes als Phase dienende Kontinuum einen einzigen Auftrittspunkt und je einen einzigen Modus von Vergangenheiten, derart, dass diese Vergangenheitskontinuen sich auch der ›Länge‹ nach stetig unterscheiden und ich in den entsprechenden Punkten gleiche Stufenform mit verschiedenem Inhalt habe.« (XXXIII 295) Ich verstehe: Jedes Linearkontinuum zweiter Art hat von der Urimpression, deren retentionale Fortsetzung es ist, einen einzigen Modus von Vergangenheiten, und diese 671

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Kontinuen haben verschiedene Länge, da sie nach einander anfangen; die Stufen entsprechen sich, die von derselben linearen Phasenfolge des Flächenkontinuums dritter Art überstrichen werden, und haben verschiedenen Inhalt, teils von sich aus, teils, weil diese Phasen sich stetig wandeln. Die Konstruktion kompliziert sich weiter dadurch, dass neben der Retention, der unwillkürlichen Frischerinnerung, auch die Protention, die unwillkürliche Frischerwartung, berücksichtigt werden muss. Die Retentionen treiben die Protentionen aus sich hervor: »Ist jede frische Vergangenheit ein Abschattungskontinuum der kontinuierlich verklungenen Gegenwarten, so ist jede soeben kommende Zukunft eine Abschattung zweiter Stufe, ein Schatten, den jenes erste Abschattungskontinuum vorwirft.« (XI 323) Husserl versucht eine graphische Darstellung der Struktur als »zweifach stetige Punktmannigfaltigkeit« in zwei Halbebenen, einer retentionalen und einer protentionalen, die sich (wie zwei Dachschrägen) in einer Kante – der Serie der Urimpressionen – treffen und aus den (retentionalen bzw. protentionalen) »allseitig unbegrenzten eindimensionalen Kontinua« zweiter Art bestehen (XXXIII 35). »Das alles macht keine Schwierigkeiten. Die Konstitution der Zeit wird geleistet durch das im Strom als Erfüllung beständig ausgezeichnete Kantenbewusstsein, aber dieses ist eben nur als Schnittgerade oder besser als Kantengerade der beiden Ströme denkbar.« (XXXIII 36) Ich zweifle dennoch am völligen Zureichen der Veranschaulichung. Nicht nur die Dynamik des Verhältnisses von Retention und Protention wird vernachlässigt, sondern auch das die Linearkontinuen zweiter Art durchströmende Kontinuum dritter Art. Das von Husserl so enorm wichtig genommene zeitkonstituierende Urbewusstsein ist ein fiktives Konstrukt mit dem triftigen Kern, dass sich frischen Eindrücken eine automatische, nicht steuerbare, allmählich abklingende Frischerinnerung anschließt; die wichtigere Protention hat Husserl zwar bemerkt und als Erster benannt, aber nicht durchschaut, da er sie wie eine umgekehrte Retention behandelt und den wichtigen Unterschied verkennt, dass in die Retention alles eingehen kann, während Protentionen Sachverhalte (des unwillkürlichen und unthematischen Gefasstseins auf etwas) sind, die in die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen eingehen, z. B. in den (typischen oder individuellen) Charakter und das Gesicht von Dingen und Halbdingen. Phänomenologisch unhaltbar ist schon die Meinung, dass die Dauer z. B. eines anhaltenden Tones als stetige 672

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Punktmenge von Urimpressionen (Tonjetzten) erfahren werde, und die unübersichtliche, von Husserl wohl auch nicht ganz durchdachte Verschachtelung von Kontinuen aus punkthaften Retentions- und Protentionsphasen ist erst recht unglaubwürdig. Husserls Amalgam von Phänomenologie und Punktmengenlehre atmet denselben Geist wie die statische Theorie der Bewegung, mit der Russell,471 der noch tiefer in die neue Mathematik eingedrungen war, zugleich Zenon recht geben und die Bewegung (als linear stetige Anordnung von Ort-Zeitpunkt-Paaren) retten wollte. Übrigens ist es kein Zufall, dass Husserl sich das Urbewusstsein am Musterbeispiel des anhaltenden Tones vergegenwärtigt. Der Schall saugt sich voll mit Zeit, indem z. B. ein Pfiff oder Schrei langgezogen wird in einer Weise, wie eine Farbe durch ihre Dauer nie in die Länge gezogen werden könnte. Optische Erscheinungen sind gegen Zeit neutral, akustische dagegen zeithaltig durch ein hörbares Wachsen und Schwellen, aber auch Ermatten; dazu gehört die Retention. Husserl berücksichtigt nur diese und ignoriert die Dynamik des Wachsens, die für die besondere Bedeutung der Retention im Schall verantwortlich ist. Dieses schallspezifische Wachsen ist ja nicht die ubiquitäre Protention. Für die Einsicht in die Stellung, die Husserl im Gefüge der philosophischen Tradition einnimmt, ist seine Konstruktion des Urbewusstseins wichtig, weil sie zeigt, wie exzessiv singularistisch er sogar da noch denkt, wo er am Singularismus einmal stutzig zu werden scheint, nämlich angesichts des Kontinuums.

45.1.3 Subjektivität 45.1.3.1 Bewusstsein Von der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) übernimmt Husserl den Psychologismus in dem Sinn, dass jedem Bewussthaber in einer ihm reservierten Innenwelt sein gesamtes Erleben eingeschlossen ist, mit der Folge des Immanenzdogmas, 1833 dass er auch nur von dem, was darin enthalten ist, Kenntnis nehmen kann. Im frischen Rückblick auf den transzendentalen Idealismus seines eben mit Buch 1 begonnenen Ideen-Werkes fragt er sich im Sommer 1912: »Kann ein Ding ›gegeben‹, selbst 1833

Zur Geschichte des Immanenzdogmas vgl. HH S. 90–92.

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originär gegeben sein? Kann die ›Idee‹ eines Dings gegeben sein? Es kann ja nur Immanentes gegeben sein und somit auch Wesen von Immanentem. Also wie ist Erfahrung möglich?« 1834 Die Antwort gibt er 1929 in Formale und transzendentale Logik: »Eine Welt, Seiendes überhaupt jeder erdenklichen Artung, kommt nicht ›qÐraqen‹ in mein Ego, in mein Bewusstseinsleben hinein. Alles Außen ist, was es ist, in diesem Innen und hat sein wahres Sein aus den Selbstgebungen und Bewährungen innerhalb dieses Innen –« (XVII 257). 1835 »Also nirgendwo sonst kann die Welt, und alle mögliche Welt, ›Existenz‹ haben als ›in‹ den erkennenden Subjekten, als ›in‹ dem für sie selbst evidenten Faktum ihres Bewusstseinslebens und in ihren wesensgesetzlichen ›Vermögen‹.« (VII 277, 1924) »Alles für mich Vorstellbare ist beschlossen in den Abwandlungen meiner eigenen Subjektivität und ihrer Gehalte (…).« (XIV 526) Der realistischen Form des Immanenzdogmas, die die antike Skepsis motivierte, entgeht Husserl; er geißelt die »gewöhnliche nachcartesianische Denkhaltung« ob ihrer Fragestellung: »Wie komme ich aus meiner Bewusstseinsinsel heraus?« (I 116) Sein Immanenzdogma ist das idealistische, das die Transzendenz in die Immanenz hineinschluckt: »Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter.« (I 117) »(…) jedes Ding (…) ist jedenfalls ein selbst in der Immanenz liegendes Ideales und kann darüber hinaus keine Bedeutung haben.« (XIV 361) In Logische Untersuchungen, vor der Wendung zum Idealismus, ist das Immanenzdogma vorbereitet durch die Korrektur der gewöhnlichen Redeweise, man habe die Kriege von 1866 und 1870 erlebt, mit der Maßgabe, vielmehr die darauf bezüglichen Akte des Wahrnehmens, Urteilens usw. seien das, was das Bewusstsein »in sich findet, was in ihm reell vorhanden ist« (XIX 1, 361 f.). Nur das könne Gegenstand adäquater Wahrnehmung sein, weil nur der reell im Wahrnehmen enthaltene Gegenstand leibhaftig »da« sei. (XIX 1, 365) Das Subjekt kommt an seine Gegenstände so genau, dass es seine Intention ihnen einwandfrei anpassen kann, nur heran, wenn sie in seiner Innenwelt enthalten sind. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, neu herausgegeben von Karl Schuhmann, Den Haag 1976, 2. Halbband: Ergänzende Texte, S. 527 (Selbstverständigung über meinen Gang in den Ideen). 1835 Das griechische Wort (»von draußen«) ist Anspielung auf Aristoteles, De generatione animalium, 736b 28. 1834

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Der noch realistisch denkende Husserl in Logische Untersuchungen deutet den intentionalen Akten eine Materie wie einen Kompass zu, damit sie ihr Ziel finden, vornehmlich, wenn dieses sich in der Außenwelt befindet (45.1.1). Nach der idealistischen Wendung wird die Materie umgedeutet in den Sinn des Noema (III 324), d. h. das Erlebte als solches genau in dem Sinn, wie es erlebt und intendiert wird (III 219). Damit wird die Aufgabe, dem Akt die Richtung auf sein Ziel einzupflanzen, umgangen, d. h. als gelöst vorausgesetzt; Husserl behält sie dennoch im Blick, indem er daran festhält, dass transzendente Dinge nur durch das Medium immanenter Dinge, »wobei alle transzendenten Beschaffenheiten sich durch immanente Daten darstellen«, gegeben seien (XVII 392), und keinen Grund sieht, dem Noema den Charakter eines reellen, wirklich darinsteckenden Momentes des intentionalen Erlebnisses zu bestreiten (XI 335). Das Noema ist ein vielschichtiges Gebilde. Hauptsächlich handelt es sich, in Wiedergabe mit meinen Begriffen, um den Inbegriff der Sachverhalte, die nach Meinung des Bewussthabers den intentionalen Gegenstand charakterisieren, auch der untatsächlichen, sowie der zugehörigen Programme und Probleme. Sie tragen allerhand Charaktere, die sehr wohl der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen verdankt sein können. Außerdem kann das Noema sinnlichen Gehalt haben; dann handelt es sich um das, was ich den relativ konstanten Charakter und das wechselnde Gesicht von Dingen und Halbdingen genannt habe, zwei impressive Situationen, von denen die erste zuständlich, die zweite aktuell ist. Es kann sein, dass ich Husserls Noema-Begriff mit dieser Deutung hier und da überzeichne. Der Psychologismus des Innenwelt- und Immanenzdogmas hat zwei Achillesfersen. Die eine, in Gestalt der Frage, wie das Subjekt aus seiner abgeschlossenen Innenwelt herauskommen soll, spielt für den idealistisch gewordenen Husserl keine Rolle. Die andere Schwierigkeit betrifft das Verhältnis des Subjekts zu seiner Innenwelt, heiße sie »Seele« oder »Bewusstsein« oder irgendwie anders. Entweder identifiziert man beides wie Hume (the mind as a kind of theatre mit lauter darin auftretenden Perzeptionen oder vielmehr als deren bloßer Komplex) und scheitert damit an der Frage Fichtes1300 (37), oder man setzt ein besonderes Subjekt in die Innenwelt hinein und erreicht nicht, was man will, weil in objektiven Tatsachen kein Grund dafür enthalten ist, dass es sich bei irgendetwas um mich selber – jeder denke an sich – handelt (35.3.4; 36.1); die Innenwelt ist nämlich 675

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ein Milieu objektiver Tatsachen, weil sie dazu dient, dem Subjekt für die Verkennung der Subjektivität der für es subjektiven Tatsachen einen Ersatz durch Ansiedlung in einem ihm reservierten Stück Land aus dem Reich der objektiven Tatsachen zu verschaffen. Husserl hat damit keine Schwierigkeit, weil ihm der Sinn und das Verständnis für Subjektivität abgeht; er schreibt: »Ich ist eine objektive Einheit, wie Stiefel und Strumpf, nur kein ›physisches Ding‹, sondern eben ein Ich, eine Person, eine objektive Einheit von ganz anderem perzeptivem Gehalt.« 1836 Damals stand er noch auf dem Standpunkt der 1. Auflage von Logische Untersuchungen, dem Standpunkt Humes; das Ich (erlebende Subjekt) galt ihm als Bündel, Komplexion, Verknüpfungseinheit, Gesamtheit der Erlebnisse, reelles Ganzes aus diesen reellen Teilen, in sich geschlossene Einheit der Erlebnisse, die so gut wie irgendein äußeres Ding wahrgenommen werde, als psychisches Ding, das durch die kausale Besonderheit der Erlebnisse gesetzlich gefordert sei. 1837 Ab 1907 kommen ihm Zweifel (HH 107 f.), die ihn nach einigem Zögern dazu bringen, sein Bekenntnis, dass er das »primitive Ich als notwendiges Beziehungszentrum schlechterdings nicht zu finden vermag«, mit den Worten zu widerrufen: »Inzwischen habe ich es zu finden gelernt« (XIX 1, 374), nämlich als »das in dem Vollzug cogito erfasste Ich« (XIX 1, 368). Es ist »reines Ich und nichts weiter« (III 195), es »ist kein Mensch, ist kein leiblichseelisches Objekt« (XIII 442), aber »für jeden Erlebnisstrom ein prinzipiell verschiedenes« (III 138, also auch für jeden Bewussthaber das seinige) als »das identische Subjekt der Funktion in allen Akten desselben Bewusstseinsstroms« (IV 105); »es ist absolut einfach, liegt absolut zutage« (IV 105). Von dieser Einfachheit rückt Husserl später ab; das Ich bereichert sich durch »Habitualitäten«, die aus seinen Aktivitäten erwachsen, z. B.: »Mit der ursprünglichen Entscheidung wird das Ich zu dem so entschiedenen. Es kann sich nun alsbald als das erschauen und sich später als dasselbe erschauen, als dasselbe noch immer so entschiedene.« (IX 211, vgl. I 100 f.) Es gibt auch tierische Ichsubjekte (III 79); Tiere leben sogar »ständig auch in Ichakten« (VI 230). Es ist sehr merkwürdig, dass Husserl zwar in einem fort über das Bewusstsein redet und dafür auch ein Ich als Aktvollzieher bemüht, aber nur an ganz wenigen Stellen das Selbstbewusstsein er1836 1837

Briefe III 148 (an Hocking, 07. 09. 1903). XIX 1 S. 356, 360, 363, 364, 368, 375, 390.

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wähnt, und dann so beiläufig, als sei nichts weiter daran, als dass das Subjekt auch noch an den Platz des Aktobjektes rücken kann. 1838 Die Subjektivität wird für die Intentionalität verbraucht: »Es bleibt also von dem in Innenstellung Gegebenen nur das Subjekt der Intentionalität, der Akte, als das im ursprünglichen und eigentlichen Sinne Subjektive übrig.« (IV 215) Dieser Satz verrät, dass Husserl wie Kant (35.3.3) nur ein extravertiertes Interesse am Subjekt hat und zu wenig darüber nachdenkt, wie er ein Subjekt für sich selbst wird. Dafür ist bezeichnend, dass er fortfährt: »Dieses Ich der Intentionalität ist im cogito auf seine Umwelt und speziell auf seine reale Umwelt bezogen, etwa auf Dinge und Menschen, die es erfährt.« Tiefer wäre er in sich gegangen, wenn er darüber nachgedacht hätte, wie er dazu kommt, sich für etwas (z. B. für einen Aktvollzieher) zu halten. Er hätte dann Anlass gehabt, einzusehen, dass in allen solchen Angaben, solange sie Feststellungen objektiver Sachverhalte sind, kein Grund für die Annahme enthalten ist, dass es sich gerade um ihn handelt. »Und das soll ich sein?« So dürfte er angesichts seiner fertig ausgearbeiteten Subjekttheorie immer noch staunend fragen. Der Rechtsgrund dafür besteht darin, dass jede Identifizierung von so etwas mit mir ein Relat erfordert, von dem als bereits bekannt vorausgesetzt wird, dass es sich um mich handelt, denn ich soll das Referens (z. B. das Husserl’sche Subjekt) ja für mich selbst halten. Diese für das Relat vorausgesetzte Information kann also nicht aus der Information über das Referens (das erste Beziehungsglied) stammen. Damit wird aber zweifelhaft, mit welchem Recht die offenbar aus verschiedenen Quellen stammenden Informationen als Informationen über dieselbe Sache ausgegeben werden. Man sieht sofort, dass diese Schwierigkeit immer auftaucht, wenn die ursprüngliche Kenntnis von sich selbst auf eine Identifizierung gegründet wird, und dann einen regressus ad infinitum produziert, weil noch so viele Identifizierungen nicht die in diesem Fall unentbehrliche Voraussetzung für sie liefern können. Also muss auf ein ursprüngliches Selbstbewusstsein zurückgegriffen werden, das keiner Identifizierung mehr bedarf, weil Identität und Subjektivität für mich (d. h. mein Der-sein-derich-bin) so zusammenfallen, dass ich spüre, dass ich selbst es bin, ohne etwas mit mir (oder mich damit) identifizieren zu müssen. Dafür genügt allein die primitive Gegenwart, die spielraumlose Unausweichlichkeit, vom plötzlichen Einbruch des Neuen leiblich-affektiv 1838

Stellen angeführt in HH 119, Anm. 317.

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in die Enge getrieben zu sein. Es geht aber nicht darum, auf das Plötzliche zu warten, um dann erst sich selbst zu finden; für das Schöpfen aus der Quelle der primitiven Gegenwart genügt es vielmehr, dass dieses Extrem in der Engungskomponente des vitalen Antriebs, der Achse leiblicher Dynamik, als Möglichkeit, gleichsam als Aussicht, vorgezeichnet ist. Von der dadurch verfügbaren Selbstkenntnis aus kann die Person die Brücke zu objektiven Tatsachen schlagen, um identifizierend davon Kenntnis zu nehmen, dass sie dies ist; in umgekehrter Richtung käme sie nie zu sich selbst. Die subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins, die höchstens ich aussagen kann, während andere eventuell so gut wie ich (mit Hilfe von Kennzeichnungen) darüber zu sprechen vermögen, sichern schon durch ihre bloße Tatsächlichkeit, auch abgesehen von ihrem Inhalt, dass es sich um mich selbst handelt, und in diesem Sinn sind auch Tiere »Ichsubjekte«, wie Husserl will. Das genügt aber nicht zur personalen Selbstzuschreibung, zum identifizierenden Selbstbewusstsein. Diese ist nur durch die Stütze möglich, die ihr eine besondere Art von affektivem Betroffensein gewährt, das engende im Gefälle zur primitiven Gegenwart hin, wo Identität und Subjektivität zusammenfallen. Das ist nicht Husserls Sorge. Sein Glaube an das Ich wird aus einem anderen Grund bedroht, nämlich durch die Gefahr, dass die Subjektivität des Ichs durch das Zeit konstituierende Urbewusstsein (45.1.2), die »absolute Subjektivität« (X 75), gleichsam unterlaufen wird. Diesem »letzten und wahrhaft Absoluten«1831 könnte das Ich seine Urheberschaft für Akte abtreten müssen, da es sich um einen »Bewusstseinsfluss, der sich selbst erscheint« (XXXIII 44) handelt; das Urbewusstsein hat demnach ein eigenes Selbstbewusstsein als Fluss, und es konstituiert die Akte und Aktkorrelate in der immanenten Zeit (XXXIII 122), am Ende vielleicht sogar das Ich? Vielleicht brauchen wir dieses gar nicht mehr als Aktvollzieher? Wie sich Husserl mit dieser ihn lange beirrenden Problematik beschäftigt, habe ich in HH S. 156–164 nachzuzeichnen versucht; ich begnüge mich hier mit dem Verweis. 45.1.3.2 Transzendentale Subjektivität Nach Logische Untersuchungen (1901) stellt Husserl seine bis dahin schlicht deskriptiv gemeinte Phänomenologie um auf eine transzendentale, deren Instrument die Epoché ist; ¥pocffi (Einhalten) war die 678

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Grundeinstellung des antiken Skeptikers, sich angesichts von Alternativen jeder Stellungnahme zu enthalten. Nach Husserl besteht diese »phänomenologisch geänderte und beständig so festgehaltene Einstellung darin, dass sich eine Ichspaltung vollzieht, indem sich über dem naiv interessierten Ich das phänomenologische als uninteressierter Zuschauer etabliert.« (I 73) Was er sich davon verspricht, stellt er so dar: »Die Antwort lautet: setze ich alle Stellungnahmen zu Sein und Nichtsein der Welt aus, enthalte ich mich jeder auf die Welt bezüglichen Seinsgeltung, so ist mir innerhalb dieser Epoché doch nicht jede Seinsgeltung verwehrt. Ich, das die Epoché vollziehende Ich, bin im gegenständlichen Bereich derselben nicht eingeschlossen, vielmehr – wenn ich das wirklich radikal und universal vollziehe – prinzipiell ausgeschlossen. (…) Wieweit ich den Zweifel auch treiben mag, und versuche ich selbst mir zu denken, dass alles zweifelhaft oder gar in Wahrheit nicht sei, es ist absolut evident, dass ich doch wäre, als Zweifelnder, alles Negierender. (…) Aber in derselben Evidenz ist auch sehr Mannigfaltiges beschlossen. Sum cogitans, diese Evidenzaussage lautet konkreter: ego cogito – cogitata qua cogitata. (…) Hier hätten wir also eine absolut apodiktische, in dem Titel ego mitbeschlossene Seinssphäre, und nicht etwa bloß den einen axiomatischen Satz ›ego cogito‹ oder ›sum cogitans‹. Aber noch etwas sehr Merkwürdiges ist beizufügen. Durch die Epoché bin ich zu derjenigen Seinssphäre vorgedrungen, die prinzipiell allem erdenklichen für mich Seienden und seinen Seinssphären vorangeht, als ihre absolut apodiktische Voraussetzung.« (VI 78–80) Husserl fußt auf Descartes, dessen Selbstvergewisserung durch vermeintlich radikalen Zweifel er durch »Umdeutung und Verbesserung der Descartes’schen Konzeption des ›ego‹« so überbieten will: »(…) ich bin es, ich der Epoché-Übende, ich, der die Welt (…) als Phänomen befrage; also ich, der ich über allem natürlichen Dasein, das für mich Sinn hat, stehe (…): Ich, der ich, in voller Konkretion genommen, all das umfasse.« (VI 188) »Durch die Epoché stehe ich, Ich, das ego, über der Welt, zu der alle Menschen und all ihr Weltleben gehört (…).« (VI 395) »Durch transzendentale Reduktion meiner als dieses Ego innewerdend, habe ich einen Stand über allem menschlichen Sein, über meinem eigenen Menschsein und menschlichen Leben.« (XXVII 174) Eine so erhabene Stellung hat Descartes bei seinem Zweifelgang in der Tat nicht beansprucht. In ihrem Besitz weiß Husserl sich berechtigt, zu behaupten: »Zuerst und allem Erdenklichen voran bin Ich.« (XVII 243) »Ob bequem oder unbequem, 679

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ob es mir (aus welchen Vorurteilen immer) als ungeheuerlich klingen mag oder nicht, es ist die Urtatsache, der ich standhalten muss, von der ich als Philosoph keinen Augenblick wegsehen darf.« (XVII 244) Jeder Mensch trägt sein transzendentales Ich in sich, nicht als Teil oder Schicht seiner Seele, sondern als »durch phänomenologische Selbstbesinnung aufweisbare Selbstobjektivation des betreffenden transzendentalen Ich«, und könnte, wenn er die Epoché vollziehen wollte, »sein letztes, in all seinem menschlichen Tun fungierendes Ich erkennen.« (VI 190) »Unter allen Umständen muss aber, aus tiefsten philosophischen Gründen, auf die nicht weiter eingegangen werden kann, und nicht nur aus methodischen, der absoluten Einzigkeit des Ego und seiner zentralen Stellung für alle Konstitution genuggetan werden.« (ebd.) Dieses transzendentale Ich ist ein Bruder des Einzigen nach Max Stirner (38), der sich gleichfalls über sein Menschsein erhebt (allerdings, ohne es zu leugnen). 1839 Dieser Einzige besteht ebenso wie Husserl als transzendentales Ich auf seiner Einzigkeit, die er doch allen Menschen gönnt, 1840 und ebenso wie dieses, das sich durch Selbstobjektivation zum Menschen macht, ist er »Schöpfer und Geschöpf in Einem.« (EE 167) Stirner ist der Vollender der romantischen Ironie, indem er aus einem Gedankenspiel den blutigen Ernst einer praktischen Philosophie macht, die die rezessive Entfremdung der Subjektivität (36.2) auf die Spitze treibt. Daraus ergibt sich seine Nähe zu Husserl. Dessen mit der Epoché vollstreckte Transzendentalphilosophie ist eine Verbindung der cartesischen Zweifelmethode mit der rezessiven Entfremdung der Subjektivität von allen objektiven Tatsachen. Diese verbindet ihn mit Friedrich Schlegel und Novalis. Schlegel bezeichnet die »Totalisierung der reflexen Abstraktion« als den einzigen Anfang und maßgebenden Grund der (wegen der rezessiven Entfremdung der Subjektivität) für ihn als Leitstern maßgebenden Wissenschaftslehre Wie Anm. 1444: »Ich bin Mensch und bin zugleich mehr als Mensch, d. h. Ich bin das Ich dieser meiner bloßen Eigenschaft.« (EE 195) »Erfüllt jenes Prädikat ›Mensch‹ die Aufgabe des Prädikats, das Subjekt ganz auszudrücken, und lässt es nicht im Gegenteil am Subjekte gerade die Subjektivität weg und sagt nicht, wer, sondern nur was das Subjekt sei?« (Kleine Schriften, hg. v. Mackay, S. 349) »Darum ist es notwendig, dass ich nichts mehr als Mensch in Anspruch nehme, sondern alles als Ich, mithin nichts Menschliches, sondern das Meinige, d. h. nichts, was Mir als Mensch zukommt, sondern – was Ich will und weil Ich’s will.« (EE 310) 1840 EE 181: »(…) werdet Egoisten, werde jeder von Euch ein allmächtiges Ich. Oder deutlicher: Erkennet Euch nur wieder, erkennet nur, was Ihr wirklich seid (…).«. 1839

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Fichtes;1420 das könnte ein Name sein für das Leben in der Epoché, das Husserl so beschreibt: »(…) das reine Ich, ich, der ich absolut, letztlich bin, entfessle ein reflektierendes Leben, in dem ich mich, das etwa noch natürlich eingestellte Ich, und sein natürliches, sein nicht reflektiertes Leben zum Thema mache.« (VIII 427) Epoché ist für Husserl Machtergreifung über sich: »(…) ich kann Selbstbesinnung üben, und fortschreitend, mich des ganzen Stils des möglichen Ichbin und Ich-lebe bemächtigend.« (VIII 441) Dazu vergleiche ich Novalis: »Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendenten Selbst zu bemächtigen – das Ich seines Ich’s zugleich zu sein.«1438 Genau das ist die Aufgabe der Epoché nach Husserl, die das transzendentale Ich als transzendentes Selbst freilegt. Auf dieser übergeordneten Stellung siedelt er sein neues Leben an: »Durch die Vollzugsenthaltung (…) wird eine völlige Umstellung des gesamten Lebens gewonnen, eine durchaus neue Weise des Lebens. Es ist eine Einstellung über der Geltungsvorgegebenheit der Welt, über der Unendlichkeit des Ineinander der verborgenen Fundierungen ihrer Geltungen immer wieder auf Geltungen, über dem ganzen Strom des Mannigfaltigen und synthetisch Vereinheitlichten, worin die Welt Sinngehalt und Seinsgeltung hat und neu gewinnt.« (VI 153) Dennoch wäre Friedrich Schlegel mit Husserls Leben in der Epoché nicht einverstanden. Die von ihm an Fichte gerühmte »Freiheit der Reflexion« und »potenzierte Reflexion« – das Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren1339 und der transzendentale Zirkel1323 – verleihen der rezessiven Entfremdung der Subjektivität eine Wendigkeit und Schwingungsfähigkeit, die im Konzept der romantischen Ironie ausgeprägt ist, dem transzendentalen Ich nach Husserl aber abgeht. Er bekennt: »Mein Sein ist ›definit‹ ; jede mich selbst betreffende, aus meiner eigenen Erfahrung mich auslegende Aussage ist entweder wahr oder falsch; sie ist ›im voraus‹ entschieden.« (XV 151) »Ich, der ich bin (…), kann nur das eine (jetzt) und muss dies eine. Ich habe vor mir das bestimmte ›ich will‹ = ›ich werde‹ als eine individuelle Notwendigkeit.« (XIV 24) Dieses transzendentale Ich ist ewig, unsterblich, unanfänglich und denkt immer, kann aber schlafen (XI 378 f.; XIV 157). So gleicht es weniger dem zwischen den unvereinbaren Gegensätzen von Endlichkeit und Unendlichkeit schwebenden Ich Fichtes,1340 dessen Schweben Novalis mit dem Ich identifiziert,1432 als dem Gott Spinozas, aus dessen Substanzdefinition Husserl die Formel für sein Ich gewinnt: »Das Ich ist für sich (…) von ihm kann man sagen, dass es in se est et per se 681

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concipitur, und die conceptus aller res im Sinn der Natur sind rein aus ihm selbst zu schöpfen.« (XIV 257) Er ignoriert die Labilität, der die rezessive Entfremdung der Subjektivität die Ungebundenheit im Milieu der objektiven Tatsachen verdankt, die von den Romantikern und Stirner zur Überlegenheit schrankenlosen Standpunktwechsels ausgenützt wird (38); Nietzsche, der mit dem Konzept des freien Geistes im Gefolge der Frühromantik und der rezessiven Entfremdung steht (42.2), hätte Husserl diese Kehrseite der Überlegenheit mit der schönen und tiefsinnigen Bemerkung nahe bringen können: »Wer die Präposition ›über‹ ganz begriffen hat, der hat den Umfang des menschlichen Stolzes und Elends begriffen. Wer über den Dingen ist, ist nicht in den Dingen – also nicht einmal in sich. Das letztere kann sein Stolz sein.«1605 Die rezessiv entfremdete Subjektivität schwebt gewissermaßen im Leeren, weil sie keinen Boden der Tatsachen unter sich hat, da sie im Milieu der objektiven nicht unterkommt und die subjektiven als Tatsachen nicht zur Kenntnis genommen werden; daher ist sie dem Schauder abgründiger Entfremdungen ausgesetzt, sowohl bei Fichte,1327 der sich von der Unerträglichkeit transzendental potenzierter Entfremdung1329 zur Preisgabe des Ich1331 bewegen ließ, als auch bei Bonaventura und Jean Paul.1408 Nichts von solcher Unsicherheit und Ambivalenz haftet an der Attitude des Husserl der Epoché. Er fixiert die schwebende Überlegenheit, die die Frühromantiker der rezessiven Entfremdung der Subjektivität bei Fichte abgewonnen haben, nicht nur zu einem archimedischen Punkt, sondern baut sie sozusagen zu einer betonfesten archimedischen Plattform aus. Husserl will den Ertrag der rezessiven Entfremdung der Subjektivität kassieren, ohne die Kosten zu zahlen. Der Epoché als Reduktion, wodurch sich das Ich aus dem Mitmachen der natürlichen Einstellung zurückzieht und dadurch als transzendentales Ich entdeckt, entspricht die Konstitution aller Gegenstandstypen wie die produktive Ironie der rezessiven (38). Die transzendentale Phänomenologie verdient ihr Beiwort, weil sie sich »in umfassendster Allgemeinheit« bemüht, »zu erforschen, wie sich objektive Einheiten jeder Region und Kategorie ›bewusstseinsmäßig konstituieren‹.« (III 214) Die transzendentale Subjektivität trägt »das reale Weltall, bzw. alle möglichen realen Welten und alle Welten jedes erweiterten Sinnes« durch »wirkliche und mögliche ›intentionale Konstitution‹« in sich (III 73). Worin diese Konstitution besteht, was sie leistet, ist nicht eindeutig zu erkennen. Der anfangende Transzendentalphilosoph Husserl gibt sie 1907 ganz bescheiden als 682

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Husserl

bloße Bekundung der Gegenstände im Bewusstsein aus (XVI 8) und sagt sogar: »Dahinter darf weiter nichts gesucht werden.« 1841 Ganz glaubwürdig ist diese Bescheidenheit schon damals nicht, denn in derselben Vorlesung von 1907 verwendet Husserl den Konstitutionsbegriff auch in viel anspruchsvollerem ontologischen Sinn: »Das Ding konstituiert sich im Bewusstsein, es ist eine in Zusammenhängen des Bewusstseins von bestimmter Art sich wesensgesetzlich herausstellende (…) Intentionalität, die ihm und seinem wirklichen Sein Sinn gibt. (…) Bewusstsein selbst aber ist absolutes Sein und eben deshalb nicht dingliches Sein. (…) Die Welt wird gleichsam getragen vom Bewusstsein, aber das Bewusstsein braucht keinen Träger.« (XVI 40) Im hohen Alter überließ Husserl seinem Schüler Fink die Abfassung eines Aufsatzes zur Rechtfertigung gegen Kritiker und schrieb dazu ein Vorwort, in dem es heißt: »Auf Wunsch der Redaktion der ›Kant-Studien‹ habe ich diese Abhandlung genau durchgegangen, und ich freue mich, nun sagen zu können, dass in derselben kein Satz ist, den ich mir nicht vollkommen zueigne, den ich nicht ausdrücklich als meine eigene Überzeugung anerkennen könnte.« 1842 Fink schreibt: »Das wahre Thema der Phänomenologie ist (…) das Werden der Welt in der Konstitution der transzendentalen Subjektivität.« 1843 »Wenn wir auch dieses transzendentale Leben nicht mehr als rezeptiv auffassen, so bleibt sein eigentlicher Charakter noch unbestimmt. Erst die konstitutive Interpretation desselben weist es als Kreation aus.« 1844 Hiernach dürfte Konstitution als Welterschaffung zu verstehen sein. Alles, was Husserl über den ontologischen Vorrang des Ichs, seines Lebens und Bewusstseins, und die daraus sich ergebende konstitutive Mächtigkeit behauptet, ist bar jeder rationalen Rechtfertigung durch ihn. Das beginnt bei der vermeintlichen Selbstgewissheit am Ziel des radikalen Zweifels nach Descartes. Nicht nur, dass Husserl von dem Einwand Lichtenbergs keine Notiz nimmt; viel schwerer wiegt, was ich unter 30.2 kurz (mit Verweis auf eine ausführlichere Darstellung) gezeigt habe: Widerspruchsfrei ist denkbar, dass ich zwar denke, aber nicht bin und überhaupt nichts ist. Das »cogito ergo XXVIII 274 f. (Ethik und Wertlehre 1908/09). Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik, in: Kant-Studien 38, 1933, S. 319–383, hier S. 320. 1843 Ebd. S. 370. 1844 Ebd. S. 371. 1841 1842

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sum« bezieht seine Überzeugungskraft aus dem Übersehen einer zwar fernliegenden, aber rational nicht ausschließbaren Möglichkeit. Die Gewissheit des Seins ist nicht im Ausgang von rationalen Operationen erreichbar, sondern höchstens vom affektiven Betroffensein, und nicht durch Erschließen, sondern nur durch Erfahren. Auf der cartesischen Grundlage baut Husserl mit einem nicht zu rechtfertigenden Gedankensprung weiter: Aus der (vermeintlich) unumstößlichen Gewissheit schließt er auf unumstößliches, absolutes Sein des Bewusstseins, aus der Umstößlichkeit der Seinsvermutung für die »ganze räumlich-zeitliche Welt« außerhalb des Bewusstseins auf deren vom Bewusstsein abhängiges, »bloßes intentionales Sein.« 1845 Eine solche Vertauschung der gnoseologischen Perspektive mit der ontologischen ist unzulässig. Husserl zieht die Bilanz: »Wir haben eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das, recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzen als intentionales Korrelat der ideell zu verwirklichenden und einstimmig fortzuführenden Akte habitueller Geltung in sich birgt, sie in sich ›konstituiert‹.« (III 119) Es wäre aber ungerecht, Husserls transzendentales Unternehmen nur mit rationaler Kritik zu bewerten, denn es handelt sich um ein Erweckungserlebnis, ausgelöst durch eine radikale Lebensentscheidung, und das in Folge gründlich gewandelte Leben des erweckten Menschen. Bezeichnend dafür ist eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1920, aus der ich anführe: »Ich, der ich phänomenologische Reduktion üben will, inhibiere jetzt alle meine bisherigen Stellungnahmen, für jetzt und für alle künftigen Fälle, in denen ich ›Phänomenologe‹ sein will.« (VIII 419) »Von meinen Wertungen lasse ich mich nicht forttreiben, etwa zu neuen Handlungen. Vor allem jedes theoretische Interesse, das mich bisher bestimmt hat und fortbestimmt (nur natürlich das etwa schon phänomenologische Interesse mit seinen Wertungen ausgenommen) inhibiere ich. Ich war ein Freund der Natur – ich will sie jetzt nicht mehr weiter kennenlernen (…).« (VIII 420) »Das sagt: Ich bleibe nicht urteilend an meinem Sachverhalt interessiert und lasse mich nur momentan vom reflektiven Interesse ablenken. Vielmehr ich fasse den Entschluss, den zu einer theoretischen Wendung, der für mein ganzes künftiges Leben Geltung hat, mein ganzes künftiges Leben scharf in zwei sich durchsetzende Schichten spaltet und korrelativ mein personales Ich spaltet:« 1845

III 115–117 (§ 49), mit Rückgriff auf S. 109.

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(S. 424) »ausschließlich reine Reflexion zu üben, mir das ganze konkrete Ichleben, Ichbewusstsein und das Wie seiner Leistung anzusehen und zum wissenschaftlichen Thema zu machen. Breche ich ab, so bin ich wieder natürlicher Mensch und setze mein natürliches Leben fort. Setze ich wieder mit phänomenologischer Arbeit fort, so bin ich wieder phänomenologisches Ich, das der Spaltung.« (VIII 425) »Ich werde dessen inne, dass erst die phänomenologische Einstellung dies leistet und dass sich damit eine Spaltung vollzieht im absoluten Ich (…): das reine Ich, ich, der ich absolut, letztlich bin, entfessle ein reflektierendes Leben (…). Ich sehe ein, dass ich ›immer wieder‹ reflektieren kann, dass diese unendliche Iteration offen steht, und ich somit a priori immerfort sagen kann: Ich, der ich bin, lebe ein verborgenes, aber jederzeit thematisch zu eröffnendes Leben, ein absolutes Leben, ein Leben als Strom des Bewusstseins-von …« (VIII 427) Im gleichen Sinn, an anderer Stelle: »Die transzendentale Epoché ist also diejenige totale Umstellung des Ich als ständig in seinen Aktivitäten lebenden, in welcher das Ich des geradehin auf dem Weltboden Lebens einen neuen Lebenswillen fasst (…).« (VI 472) »Mit diesem radikalen Willensentschluss regiere ich, sofern er als dauernd geltender gemeint ist, mein weiteres Leben.« (VIII 144) »(…) gegenüber dem mich im gewöhnlichen Sinn von Ich als menschliche Person kennenlernen wollen, das den Horizont Welt als seiend geltende Welt als Boden hat, steht das transzendentale mich Kennenlernen, mich, das letztlich und wahrhaft konkrete ego.« (VI 472) Dann erweist sich die Weltlichkeit als »transzendentale Verblendung« (XV 389). »Als Phänomenologe kann ich zwar jederzeit in die natürliche Einstellung (…) zurückgehen; ich kann wieder wie sonst als Familienvater, als Bürger, als Beamter, als ›guter Europäer‹ usw. in Aktion sein, eben als Mensch in meiner Menschheit, in meiner Welt – und doch nicht ganz wie sonst. Denn die alte Naivität kann ich nie mehr erlangen, ich kann sie nur verstehen.« (VI 214) Gegen Husserls Konzept der transzendentalen Subjektivität ist viel einzuwenden. Die Neutralisierung durch Epoché in der Haltung des unbeteiligten Zuschauers auch zum eigenen Menschsein, einschließlich des affektiven Betroffenseins, erreicht das Gegenteil einer Freilegung von Subjektivität, nämlich die Ausscheidung aller subjektiven Tatsachen zugunsten der bloß noch neutralen und objektiven. In deren Milieu etabliert sich ein reines oder transzendentales Ich, das dem Hineinfragen in den Bereich der Subjektivität mit der Frage »Wer bin ich?« mit einer tautologischen Antwort gleichsam den 685

Phnomenologie

Mund stopft: »Wer bin ich?« »Das Ich«. Die Unzulänglichkeit dieser Antwort erkennt man daran, dass sie die sinnvolle Frage übrig lässt, ob ich das wirklich bin (45.1.3.1). Mit gleichem Recht kann man fragen, warum das reine Bewusstsein, d. h. der Apparat, dessen sich das reine Ich für seine Konstitution der Welt bedient, von der Epoché ausgenommen wird. Der Ankündigung nach gilt diese »in Ansehung einer irgend gesetzten Gegenständlichkeit, welcher Region und Kategorie auch immer« (III 66). Dann aber wird »Die Region des reinen Bewusstseins« (Überschrift III 110) ausgenommen und die Epoché auf »diese ganze natürliche Welt« (III 67) eingeschränkt, ohne dass je angegeben würde, was genau zu ihr gehört und wo die Grenzen liegen, welches Kriterium gestattet, gerade das reine Bewusstsein auszunehmen. Ein einfaches Kriterium wäre die Unterscheidung objektiver und subjektiver Tatsachen, aber die Region des reinen Bewusstseins liegt genauso im Milieu der objektiven Tatsachen wie irgendetwas in der Welt, die nach Wittgenstein alles ist, was der Fall ist, der Fall als objektive Tatsache. Alle rationalen Bedenken wie diese treffen aber nicht den Kern der Intuition Husserls. Dessen transzendentale Wendung ist vielmehr ein Mysterium der Entweltlichung, gleich einer antiken Mysterienreligion, und Husserl dessen Mystagoge und Myste zugleich.

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45.1.3.3 Intersubjektivität Die Epoché setzt nicht mich, aber die anderen Ichsubjekte und deren Bewusstseinsweisen »außer Spiel«, d. h. entzieht ihnen die Seinsgeltung für mich (XV 113). Damit zeichnet sich eine erschreckende Möglichkeit ab: »Vielleicht kann es nur ein Ich geben und ist eine Vielheit undenkbar.« (XIII 376) Dafür spricht: »Ist alles, was für mich Seinsgeltung je haben kann, in meinem Ego konstituiert, so scheint ja in der Tat alles Seiende ein bloßes Moment zu sein meines eigenen transzendentalen Seins.« (XVII 248) An der absoluten Einzigkeit des ego muss aber unter allen Umständen und aus tiefsten philosophischen Gründen festgehalten werden (VI 190). Nichts kommt »in mein Ego, in mein Bewusstseinsleben hinein. Alles Außen ist, was es ist, in diesem Innen und hat sein wahres Sein aus den Selbstgebungen und Bewährungen innerhalb dieses Innen« (XVII 257). Husserl fragt sich, »wie, wenn die Welt, die für mich ist, ihren Seinssinn nur aus meinem Bewusstsein schöpfen kann, es möglich sei, den Solipsismus zu vermeiden.« (XV 562) Dass er das einzige absolute Ich sein 686

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Husserl

könnte, ist für ihn »schlechthin Unsinn« (XV 371). Aber wie dieser Konsequenz entgehen, wenn die »Setzung von meinesgleichen (…) eine motivierte Setzung von einem für mich prinzipiell selbst Unerfahrbaren« (XIV 362) ist und sein muss, sofern der wirklich meinesgleichen und also nicht nur in meinem Innen sein soll? Wenn die Richtigkeit des Existenzialurteils die Möglichkeit der Anpassung der Meinung an die Sache selbst, »als originale Selbstgebung dem Urteilenden entgegentretend«, besagt (III 123), ist sie für ein prinzipiell Unerfahrbares nicht zu erlangen. Husserl muss sich mit einer Notlösung behelfen, die ihm die Frage beantwortet: »Was kann mir außer direkter, prinzipiell unmöglicher Erfahrung vom Andern eine indirekte Erfahrung geben?« (XIV 188) Er schlägt zwei Wege ein, um die Antwort zu finden. Der eine ist der von mir sogenannte Sozialapriorismus der Objektivierbarkeit, d. h. der Erweis der Existenz anderer Subjekte als Bedingungen der Möglichkeit einer objektiven Welt. Alle bisherigen Theorien seien »ohne wirkliches Ergebnis geblieben, wie auch nie erkannt worden ist, wie sich die Fremdheit des Anderen auf die ganze Welt als ihre Objektivität überträgt, ihr diesen Sinn erst gebend.« (I 173) Mit dem Glauben an seine Priorität ist Husserl allerdings im Irrtum. Schelling hat den Sozialapriorismus der Objektivierbarkeit plakativ verkündet, Tetens ihn vorher unauffälliger formuliert. 1846 Ehe der Beweis Gewicht erhält, müsste erst festgestellt werden, ob die Welt objektiv ist, und in welchem Sinn; wenn »für alle dieselbe« gemeint sein sollte, wäre er eine nichtige Tautologie und kein Argument gegen den Solipsismus. Es wäre auch zu fragen, ob wirkliche Andere erforderlich sind oder nur mögliche, für die Raum gelassen wird, wenn es sie denn geben sollte. Eine vernünftige Präzisierung könnte meinen, dass die Welt durch objektive Tatsachen bestimmt ist, die jeder aussagen kann, der genug weiß und gut genug sprechen kann. In dieser Definition wird allerdings auf einen unbestimmt großen Personenkreis Bezug genommen, aber ich zweifle, dass dies zu der definierten Sache gehört; zum Abfallen der Subjektivität für jemand, das von der subjektiven Tatsache die nur noch objektive übrig lässt, genügt nämlich schon eine Enttäuschung, die sie ihm fremd werden lässt, und ob Schelling, wie Anm. 1376, Band III S. 555 f. (System des transzendentalen Idealismus); Johann Nikolaus Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur Band I, Leipzig 1777, S. 537 und 560, von mir zitiert in: Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 260, Anm. 370.

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dazu ein Anderer gehört, ist doch fraglich. In einem anderen Sinn ist die Welt objektiv, insofern sie dem Subjekt Orientierung in einem festen, gegen Wechsel seiner Zuwendung invarianten Bezugssystem, namentlich in Raum und Zeit, gestattet. Ich habe gezeigt, dass dafür nicht der Andere, sondern die Fläche maßgeblich ist.1785 Die Begegnung mit der Fläche erzieht den Menschen zur Objektivität auf drei Weisen: Indem sie den Blick (oder Griff) in der Breite quert, hemmt sie den Sog der antagonistischen Einleibung (45.1.1) über Richtungen, die teils in die Tiefe und Weite führen, teils daraus entgegenkommen; indem sie einen Boden zum Eintragen von Richtungstermen des Blickes (oder der Handbewegung) liefert, gestattet sie das gegen Wechsel der Zuwendung invariante Knüpfen umkehrbarer Verbindungen solcher Terme, wodurch letztlich Koordinatensysteme möglich werden; indem sie aus der Enge in die Weite führende leibliche Richtungen, etwa den Blick, reflektiert und (nicht als Blick, aber der Richtung nach) umkehrt, erlaubt sie dem leiblichen Subjekt, vom Begegnenden auf sich zurückzugehen und sich in das Netz umkehrbarer Verbindungsbahnen einzuordnen. 1847 Tiere gehen zwar mit massigen Körpern um, wenn auch ohne die erst durch die Fläche mögliche Dreidimensionalität, aber die Begegnung mit der Fläche als Fläche scheint ihnen versagt; ein Anzeichen dafür ist: »Nur der Mensch kann zeichnen.« 1848 Die Fläche ist ein empirischer Zugang zur Objektivität, während der Andere für diese Rolle eher »an den Haaren herbeigezogen« zu werden scheint. Mehr als den apriorischen Zugang zum Anderen pflegt Husserl als empirischen die Einfühlung. Sie beruht auf einem Umphantasieren meiner selbst aufgrund einer Ähnlichkeitsassoziation (XIV 526 f.) mit durch die Ähnlichkeit und Analogie geweckten »Innenkinästhesen« meiner Augen, Hände usw., als wenn ich mich wirklich so benähme wie das Ding dort, in das ich mich einfühle (XV 545), als ob ich meinen Leib dort hätte (XIV 9). »Wir wissen alle, dass der Begriff des Du durch ›Einfühlung‹ sich konstituiert, also durch Auffassung eines Dinges (…) als ›eines‹ Leibes, eines empfindenden Leibes, der Vorbedingungen für psychische Phänomene enthält, mit Vgl. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand S. 313–315; Situationen und Konstellationen, S. 110–113; System der Philosophie Band III Teil 1: Der leibliche Raum, S. 405–412: Die kindliche Raumvorstellung. 1848 Erich Rothacker, Philosophische Anthropologie, 2. Auflage Bonn 1966, S. 55, nach Klages. 1847

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dem psychische Phänomene und psychische Dispositionen verknüpft sind.« (XIII 242) Einfühlung ist eine apperzeptive Präsumtion, die prinzipiell nicht durch originäre Erfahrung zu bewähren ist (XV 254); apperzipiert (wahrgenommen) wird ein Körper, hinzugemeint eine unwahrnehmbare Innerlichkeit, Geistigkeit (XIII 224). »Also dieses gesamte Ichmilieu mit seinem Ich ist gesetzt und es ist rechtmäßig gesetzt.« (XIV 449) »(…) ich verstehe den Anderen, wenn ich mich an seine Stelle versetze und nun quasi denke, fühle etc., wie ich es von dort aus, unter diesen Umständen seiner Lage tun würde, und das analogisch nehme oder indem ich mich in ungefährer Abwandlung meiner selbst (…) als von dort aus empfindendes, handelndes (…) Subjekt dieses Leibkörpers hineindenke (…). Ich bin wirklich, der ich bin, und außerdem ist rechtmäßig gefordert ein zweites Ich, eine Modifikation meines eigenen, durch jenes (…) ›Ding dort‹ als Ausdruck eines zweiten Ich.« (XIV 243) Husserl scheint sich den Umgang mit seinen Mitmenschen wie einen Theaterbesuch vorzustellen, wobei er sich, gefesselt vom Spiel, in der Phantasie in die Körper der Schauspieler versetzt, um sie als etwas nicht so direkt Gegebenes aufzufassen, nämlich als die Figuren des von ihnen gespielten Dramas. Das ist im Theater gewiss rechtmäßig; wenn man aber deswegen die Figuren für reale Personen hielte, wäre man nicht weit entfernt vom Wahnsinn der Ophelia aus Bonaventuras Nachtwachen (38). Mit Husserls Einfühlung kommt man zu Erhitzungen der Phantasie und nicht zum Anderen. Nirgends wird empfindlicher als beim Thema Intersubjektivität, wie sehr Husserl im Bann des Psychologismus und der Introjektion der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung steht. Seine Anthropologie ist wie abgeschaut dem cartesischen Dualismus (30.1) einschließlich der von Descartes trotz der Substanzverschiedenheit zugestandenen engen Verbindung von Körper und Seele864, die Husserl als deren »Walten« in jenem bestimmt. Die Seelen »sind und bleiben insofern getrennt, als originale Zeitkonstitution und originale Reproduktion und Assoziation eine jede für sich abschließt.« (XIV 371) Sie haben an sich »keine räumliche Extension und Örtlichkeit (…). Sie sind in uneigentlicher Weise hier und dort und mitausgedehnt mit ihren Körpern. Ebenso indirekt haben sie auch ihr Gewesensein und künftiges Sein in der Raumzeit der Körper. (…) Was Leiblichkeit eigenwesentlich ausmacht, erfahre ich nur an meinem Leib, nämlich an meinem ständig – und einzig in diesem Körper – unmittelbar Walten.« (VI 220) »Al689

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les solche Walten verläuft in Modis der ›Bewegung‹ (…). Mein Körper, im besonderen etwa der Körperteil ›Hand‹, bewegt sich im Raume; das waltende Tun der ›Kinästhese‹ (…) liegt nicht selbst im Raume als eine räumliche Bewegung, sondern ist darin nur indirekt mitlokalisiert. Nur von meinem original erfahrenen Walten her, als der einzig originalen Erfahrung der Leiblichkeit als solcher, kann ich einen anderen Körper als Leib, worin ein anderes Ich waltend sich verkörpert, verstehen (…). Nur so sind für mich andere Ichsubjekte ihren Körpern fest zugehörig und sind da und dort in der Raumzeit lokalisiert, also uneigentlich dieser Form der Körper inexistent, während sie selbst und so die Seelen überhaupt, rein eigenwesentlich betrachtet, in ihr gar keine Existenz haben.« (VI 221) Der Leib im Sinne von Husserl ist weiter nichts als ein von schattenhafter, indirekter Anwesenheit einer in sich abgeschlossenen, an sich raumlosen (ja raumzeitlosen) waltenden Seele beseelter physischer Körper, und nur als Schatten ebenso indirekter waltender Anwesenheit in einem anderen physischen Körper wird das andere Ich bemerkbar. Der spürbare Leib, der Sitz aller leiblichen Regungen (Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wolllust, Schreck, Ekel, Frische, Müdigkeit, Beklommenheit, Erleichterung, Wonne) und aller Ergriffenheit von Gefühlen, kommt mit seiner eigentümlichen Räumlichkeit und Dynamik gar nicht in Betracht; er ist bei der Introjektion unter den Tisch gefallen und liegt dort seit Jahrtausenden unbemerkt, obwohl allen Menschen geläufig. Das gilt ebenso von der diese Dynamik entfaltenden Einleibung (45.1.1), die anders als die Einfühlung das Du präsentiert, nämlich nicht so, dass sich jemand in dieses hineinversetzt, sondern so, dass die Beteiligten gleichsam am Strang eines gemeinsamen vitalen Antriebs ziehen und antagonistisch oder solidarisch verflochten sind. Nicht jeder antagonistischen Einleibung entspringt aber die Überzeugung, mit meinesgleichen, d. h. einem anderen Bewussthaber, zu tun zu haben, sondern nur der wechselseitigen mit fluktuierendem Wechsel der Dominanzrolle im gemeinsamen Antrieb, etwa beim Blickwechsel. Dann aber ist sie auf keine Ähnlichkeit angewiesen; deswegen funktioniert sie – anders als Husserl (XIV 126) will – genauso unwillkürlich zwischen Mensch und Tier wie unter Menschen. Über die Unzulänglichkeit seiner empirischen Aufschlüsse über den Anderen und die noch offene Erledigung des Solipsismusproblems setzt sich Husserl durch eine ausschweifende Monaden-Metaphysik hinweg, wonach die reinen Ichs als Monaden sich gegenseitig konstituieren (XV 369–371) und mit einander eine Gemeinschaft 690

Husserl

»im Modus einfühlender Vergegenwärtigung« bilden, 1849 die als das »transzendentale Universum« die Welt konstituiert (XV 551) und so weit reicht, wie das »Universum (…) meiner Möglichkeiten eines beliebigen Andersseins« (I 117 f.). Für die Problematik dieser Metaphysik und ihre darauf reagierende weitere Ausführung durch Husserl verweise ich auf HH 141–152.

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45.1.4 Evidenz und Wahrheit Theorien der Evidenz, der mit Überzeugungskraft verbundenen Einsicht, gibt es als kontemplative und als normative Theorien. Nach einer kontemplativen Theorie ist Evidenz die Selbstgegebenheit des Gemeinten, in dem Sinn, dass bei einer Behauptung der Gegenstand, über den etwas behauptet wird, genau in der Weise, wie er beim Behaupten gemeint wird, sich offenkundig darbietet. Nach einer normativen Theorie ist Evidenz exigente Nötigung durch eine Autorität, die einer Norm, etwas zuzugeben, für den Betroffenen verbindliche Geltung verleiht; »exigent« (im Gegensatz zu »automatisch«) nenne ich die Nötigung, wenn ihr der Betroffene die Bereitschaft zum Gehorsam höchstens befangen und halbherzig entziehen kann. Vertreter einer kontemplativen Evidenztheorie, der die Meisten anhängen, sind besonders die Stoiker, Descartes und Husserl; für die normative Theorie können Anselm von Canterbury, Heinrich Rickert und der Verfasser dieses Buches in Anspruch genommen werden. Mit Hilfe der kontemplativ verstandenen Evidenz definiert Husserl die Wahrheit. Die gelungenste seiner einschlägigen Formulierungen lautet: »Das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem selbst Gegenwärtigen, das sie meint, zwischen dem aktuellen Sinn der Aussage und dem selbst gegebenen Sachverhalt ist die Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit.« (XVIII 193 f.) 1850 Diese These ist ein theoretisches Echo des rühmliHusserl an Mahnke, 04./05. 05. 1933, Briefe III 496. Nicht so gelungen ist die Formulierung in XIX 2, 651 f., Wahrheit sei »die volle Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als solchem. Diese Übereinstimmung wird in der Evidenz erlebt, sofern die Evidenz der aktuelle Vollzug der adäquaten Identifizierung ist.« Weder ist eine wahre Behauptung nur möglich, wenn man das Gemeinte vor sich hat, noch bedarf die Absicherung gegen die Möglichkeit, dass die Übereinstimmung zwar vorliegt, aber ihr Fehlen geglaubt wird, der Reflexion auf die eigene Meinung, die zur aktuellen Identifizierung gehören würde. Schlecht ist die For-

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chen Impulses, der der Phänomenologie in Husserls Kreis und Zeit zuerst Schwung gab, der »Grundforderung eines Rückganges auf die ›Sachen selbst‹« (III 43), »von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseite tun« zu wollen (III 42). Aus diesem löblichen Impuls darf aber nicht geradezu der Begriff von Evidenz oder gar Wahrheit entnommen werden. Dagegen gibt es entscheidende Bedenken. Erstens ist eine Erklärung von Evidenz durch Selbstgegebenheit des Gemeinten als zirkelfrei nur aufschlussreich, wenn mit »Selbstgegebenheit« etwas anderes als mit »Evidenz« gemeint ist. Nun kann man sich für Sachen von vielerlei Art unter Selbstgegebenheit etwas vorstellen, ohne gleich an Evidenz zu denken. Für theoretische Evidenz kommt es aber nur auf die Tatsächlichkeit von Sachverhalten an, für praktische auf Gültigkeit von Programmen. Eine andere Art der Selbstgegebenheit von Tatsachen als die Evidenz kann ich nicht erkennen. Bei Programmen besteht dagegen zwischen ihrer Selbstgegebenheit und ihrer evidenten Geltung überhaupt kein Zusammenhang; eine moralische Maxime z. B. kann selbst gegeben sein, sie ist deswegen noch nicht evident gültig. Ferner versagt die kontemplative Evidenztheorie vor negativen wahren Sätzen und entsprechenden Tatsachen, besonders solchen der Art, dass es etwas von einer gewissen Beschaffenheit überhaupt nicht gibt. Das Evidente ist in solchen Fällen gerade das Fehlen dessen, was selbstgegeben sein könnte. Husserl will sich dieser Konsequenz entziehen, indem er die Negation durch Widerstreit definiert: »Jedes nicht drückt einen Widerstreit aus.« (XIX 2, 642) Das ist aber auch nicht zirkelfrei und überdies viel zu eng; denn Widerstreit besteht darin, dass die Streitenden nicht verträglich sind, und vielerlei ist nicht oder nicht so, ohne dass ein Widerstreit erkennbar wäre. Ebenso versagt die Evidenzdefinition vor dem Existenzurteil. Selbstgegeben kann von einer Sache nur sein, was dazu gehört, dass sie sie selbst ist; Existenz ist aber zwar ein Kategorumenon, aber kein Attribut der existierenden Sache, d. h. nichts, was dazu gehört, dass sie sie selbst ist;888 nur deswegen kann z. B. der vergangene Caesar, der nicht mehr ist, identisch

mulierung in III 336, Evidenz sei dem »Kerne« nach »Einheit einer Vernunftsetzung mit dem sie wesensmäßig Motivierenden«. Was ist »Vernunftsetzung«? Was ist »wesensmäßig«? Der Begriff des Motivierenden ist allzu dehnbar.

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sein mit dem gegenwärtigen Caesar, der 44 v. Chr. ermordet wurde. Schließlich würde Selbstgegebenheit Klarheit und Deutlichkeit einschließen, wie Descartes verlangt; Evidenz ist aber in vielen Fällen verträglich mit Undeutlichkeit. 1851 Im 1. Buch von Ideen pp. erweitert Husserl seinen Evidenzbegriff durch die These, dass »jeder Region und Kategorie prätendierter Gegenstände (…) ein Grundtypus originärer Evidenz« entspreche (III 340); insbesondere gebe es »prinzipiell nur inadäquat erscheinende (also auch nur inadäquat wahrnehmbare) Gegenstände« – »und alle transzendenten Gegenstände, alle ›Realitäten‹, die der Titel Natur und Welt umspannt, gehören hierher« –, aber auch dann sei die vollkommene Gegebenheit ein ideales Ziel, vorgezeichnet »als ein in seinem Wesenstypus absolut bestimmtes System endloser Prozesse kontinuierlichen Erscheinens« (III 350 f.). Hier hat sich der Begriff der Evidenz verschoben; es handelt sich nicht mehr um die Einsicht selbst, sondern um die Art und Weise, wie ein Gegenstand seinem Typus nach Einsicht oder Einblicke gewährt, in welchem Umfang er dem Ideal möglicher Selbstgegebenheit entgegenkommt. Diese Fragestellung ist gewiss nicht uninteressant, aber für die Scheidung von Evidenzmöglichkeiten nach Gegenstandstypen nicht geeignet. So wird man Husserl gerne zugeben, dass Überzeugungen über physische Körper im Allgemeinen täuschungsanfällig sind und immer viele Lücken lassen; es gibt unter ihnen aber auch evidente, z. B. dass sie in dem uns Menschen zugänglichen Raum höchstens dreidimensional (mit nicht mehr als drei in einem Punkt sich rechtwinklig schneidenden Geraden) sind. Die erweiterte Fragestellung Husserls hat sich aber als fruchtbar erwiesen, weil sie dazu führt, Gegenstandstypen im Hinblick darauf zu studieren, in welchem Umfang sie Anlass zum Gewinn von Gewissheit geben; das gilt nicht nur für die theoretische, sondern auch für die praktische Philosophie bezüglich der von Husserl sogenannten »axiologischen und praktischen Wahrheit, bzw. Evidenz« (III 343). Dadurch hat er der materialen Wertethik den Weg zu einer Öffnung von Engen der Tradition gebahnt, wenn auch nicht einen Schutz vor Übertreibungen gewährt.

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Vgl. von mir: System der Philosophie Band IV S. 561–563.

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45.1.5 Sinnlichkeit und Verstand Für Husserls Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Verstand, sowohl auf der Subjekt- wie auf der Gegenstandsseite, stütze ich mich auf das Buch von Husserl und Landgrebe Erfahrung und Urteil;1822 es ist zwar von Landgrebe redigiert, trägt aber überall (außer etwa in der Einleitung, die ich nicht berücksichtige) den Stempel der Inspiration durch Husserl und unterscheidet sich von dessen eigenhändigen Arbeiten wohltätig durch strafferen Aufbau und bündigere Formulierung. Der Grundgedanke des Buches ist in den Spuren Kants die Unterscheidung zwischen ursprünglicher, aber von aktiven Leistungen der Explikation von Merkmalen und der Beziehungserfassung überformter, Passivität und Rezeptivität der Sinnlichkeit auf der einen Seite, Spontaneität des Verstandes in aktiver Erzeugung seiner Gegenstände auf der anderen. »Die Gegenstände der Rezeptivität sind vorgegeben in ursprünglicher Passivität mit ihren Strukturen der Assoziation, Affektion usw. Ihr Erfassen ist eine niedere Stufe der Aktivität, bloßes Rezipieren des ursprünglich passiv vorkonstituierten Sinnes. Hingegen können die Verstandesgegenständlichkeiten nie ursprünglich erfasst werden in einem bloßen Rezipieren (…). Die Weise ihrer ursprünglichen Vorgegebenheit ist ihre Erzeugung im prädikativen Tun des Ich als einer spontanen Leistung.« (300) Das zeigt sich, wenn man das Fortschreiten des Prädizierens, der Zuweisung von Eigenschaften beim Urteilen, mit dem Fortschreiten wahrnehmender Beobachtung vergleicht: »(…) in jedem Urteilsschritt geschieht nicht nur eine Bestimmung und Weiterbestimmung des vorgegebenen und bereits rezeptiv erfassten ursprünglichen Substrates (…), sondern zugleich ist vorkonstituiert eine neue Art von Gegenständlichkeit, der Sachverhalt ›S ist p‹. Er kann nun seinerseits all die Formungen annehmen, die alle selbstständigen Gegenständlichkeiten annehmen können; er kann substantiviert und Subjekt oder Objekt in neuen Gegenständlichkeiten werden.« (284) Ein anderer Typ spontan erzeugter Verstandesgegenstände ist die Menge: »Eine Menge ist demnach eine ursprünglich durch eine kollektive Aktivität, die disjunkte Gegenstände aneinanderknüpft, vorkonstituierte Gegenständlichkeit, deren aktive Erfassung in einem schlichten Nachgreifen oder Ergreifen des soeben Konstituierten besteht.« (295) Dagegen setzt die aktive Leistung im Wahrnehmen voraus, »dass uns schon etwas vorgegeben ist, dem wir uns in der Wahrnehmung zuwenden können« (74). Das ist nicht nur beim Wahrnehmen 694

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so, sondern es handelt sich um Strukturen, »die in allen anderen Bereichen des Bewusstseins in gleicher Weise zu finden sind. Es gibt also nicht nur eine ursprüngliche Passivität sinnlicher Gegebenheiten, von ›Sinnesdaten‹, sondern auch des Fühlens (…).« (73) Als Beispiel für beobachtende Übung des explizierenden Wahrnehmens an einem passiv vorgegebenen Gegenstand dient das Wandern des Blickes über eine Kupferschale. (130) Husserl kann sich die Aufspaltung des Erlebens in Anteile von Sinnlichkeit und Verstand nur als Singularist leisten, dem selbstverständlich ist, dass alles ohne weiteres einzeln ist. Ohne dieses Vorurteil hätte er bemerken können, dass er nur durch seine Verstandesgegenständlichkeiten, nämlich Sachverhalte, zu einzelnen Gegenständen seiner Wahrnehmung und Beobachtung kommt, z. B. zu seiner Kupferschale (21.1; 29.1). Wenn er die Hervorhebung weiterer Einzelheiten in der Wahrnehmung dem ruhigen Betrachten, etwa vom Lehn- oder Schreibtischstuhl aus, überlässt, zeugt dies vom eingeengten Lebensraum der Gelehrtenstube. Besser hätte er sich in den Lebenszusammenhang eingeordnet, wenn er das Maß für die Wahrnehmung etwa aus der Teilnahme am Straßenverkehr gewonnen hätte. Die ruhige Betrachtung ist ein Randfall antagonistischer Einleibung im Kanal des vitalen Antriebs (45.1.1), worin sich Situationen bilden und umbilden, in denen der Mensch sich durch Explikation und Vernetzung einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme und durch Subsumtion einzelner, als Fall von etwas erkannter und erst dadurch in Einzelheit sich abzeichnender Sachen unter solche Bedeutungen zurechtfinden muss, um sich zu behaupten und die Lage in den Griff zu nehmen. Im Randfall ruhigen Betrachtens ist diese Dynamik durch Stabilisierung der eigenen Position und des Umfeldes abgeschwächt, bleibt aber Grundlage des Kontaktes mit dem Objekt, indem dieses z. B. den Blick »fesselt«. Das Erfassen einzelner Sachverhalte wartet auch keineswegs darauf, dass ein Schritt für Schritt in sorgfältigem Prädizieren fortschreitender Denker sich ein Urteil bildet, dem er dann den Sachverhalt entnimmt, sondern das Wahrnehmen ist von vornherein ein Auffassen, was los ist (griechisch noe…n, noein), ein Gewahrwerden der Situationen, die in der Einleibung sich bilden und umbilden, wobei es für den Menschen darauf ankommt, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme, die ihm auffallen, zweckmäßig so herauszugreifen und zusammenzufassen, dass er die Situation in den Griff nehmen kann. Das ist 695

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beim Mathematiker, der die Lösung seines Problems sucht, nicht anders als beim Chauffeur oder Passanten. Das Erzeugen des Sachverhaltes beim schrittweise vorgehenden Prädizieren ist nicht ursprünglich, sondern prüfende oder demonstrierende Nacharbeit. Ganz merkwürdig ist die Auffassung der Menge. Sie passt höchstens für einen winzigen Ausschnitt des Universums der Mengen, nämlich für endliche diskrete Mengen mit mehr als einem Element, deren Elemente sich nicht überschneiden oder enthalten. Aber sogar in diesen Fällen schützt die kollektive Aktivität als zusammenfassende Querverbindung nicht vor Verrutschen bei der Zusammenfassung, etwa Verkleben und Verklumpen. Wer z. B. die fünf Erdteile zusammennehmen wollte, müsste sich in Acht nehmen, dass Europa nicht von Asien geschluckt wird. Nur von der Subsumtion wird die Einzelheit der Elemente geschützt, weil jedes einzeln Fall der betreffenden Gattung ist; alle so subsumierbaren Gegenstände bilden dann die Menge, ohne Rücksicht darauf, ob sie irgendwie zusammengefasst werden. Selbstverständlich gehört dazu keine Serie spontaner Verstandestätigkeiten des Subsumierens. Bei unendlichen, aber auch bei großen endlichen Mengen käme man damit nie zu Rande. Die Subsumtion ist vielmehr die Tatsache, dass irgendwelche Gegenstände, egal, ob sie bekannt sind oder nicht, Fälle der betreffenden Gattung sind. Ob diese Tatsache spontan oder rezeptiv bewusst wird, braucht nicht entschieden zu werden. Sehr interessant ist Husserls Unterscheidung zwischen Sachlagen und Sachverhalten der Beziehung, z. B., dass die Erde größer als der Mond ist. »Was einem solchen Sachverhalt in der Rezeptivität entspricht, sind Verhältnisse, oder, wie wir sagen wollen, Sachlagen (…). Jede Sachlage birgt mehrere, eine einfachste Sachlage, die in einem Paar fundiert ist, zwei Sachverhalte in sich, z. B. die Größensachlage a–b, die beiden Sachverhalte a > b und b < a. Sachlagen sind danach fundierte Gegenstände; sie weisen letztlich auf Gegenstände zurück, die keine Sachlagen sind.« (285) Hier schiebt Husserl zwei Gegenüberstellungen in einander, das Verhältnis zwischen Verhältnissen und Beziehungen und das Verhältnis zwischen der Bedeutsamkeit von Situationen und den daraus durch Explikation zu gewinnenden einzelnen Sachverhalten. Ich habe unter 35.3.2 und 43.4.4 darauf hingewiesen, dass es nur durch den Fluss der Zeit, der einen gerichteten Übergang möglich macht, gelingen kann, Verhältnisse in Beziehungen aufzuspalten; dieser Übergang hat also mit Husserls Verstandesspontaneität mindestens das gemein, dass er et696

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was Zeit braucht. Solche Verhältnisse, wie Husserl sie im Sinn hat, sind Konstellationen, Netze einzelner Faktoren, und daher, wie er sich ausdrückt, in diesen fundiert. Die Rezeptivität in Husserls Sinn, d. h. die den expliziten Verstandesoperationen vorausgehende Sinnlichkeit oder unwillkürliche Lebenserfahrung, ist dagegen von Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit erfüllt, aus der Konstellationen erst abgerufen werden müssen, indem mit direkter oder indirekter Hilfe satzförmiger Rede einzelne Sachverhalte als Gattungen und Fallsein von Gattungen expliziert werden, damit sich Identität zur Einzelheit von etwas als Fall von etwas bereichern kann und dadurch die Netze Einzelner, die Verhältnisse, möglich werden. Die Bedeutsamkeit der Situationen setzt keineswegs, wie Husserl für Verhältnisse richtig fordert, fundierende einzelne Gegenstände voraus. Seine Verwechslung von Konstellationen mit Situationen ist also wiederum Ausfluss seines Singularismus. Husserl fasst die nach seiner Meinung spontan erzeugten Verstandesgegenstände, insbesondere die den Urteilen entnommenen Sachverhalte (z. B., dass 2 x 2 = 4 ist), mit »Kulturgegenständlichkeiten« (z. B. Dichtungen, Musikwerken, Staatsverfassungen) zu einer Region von irrealen Sinngegenständlichkeiten zusammen, denen er Allzeitlichkeit zuschreibt, in dem Sinn, dass sie zu beliebigen Zeiten neu auftreten können, ohne in den Zwischenzeiten gedauert zu haben (309–314, 317–325). Dieses Privileg verweigert er individuellen, realen Gegenständen in der Zeit: »Die Zeit ist ein reelles Moment der Welt, individuelle Gegenstände, die in verschiedenen Zeiten, in getrennten Lagen liegen, können dieselben nur sein, sofern sie kontinuierlich durch diese Zeitstellen hindurch dauern, also sofern sie auch in den Zwischenzeiten liegen, sonst können sie nur gleiche, aber individuell verschiedene Gegenstände sein.« (308) 1852 Das ist falsch. Der Unterschied unterbrechbarer und ununterbrechbarer Dauer trennt nicht individuelle Gegenstände von irrealen Sinngegenständen, sondern Halbdinge von Volldingen. Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer können höchst sinnlich, individuell und real sein, z. B. Stimmen, wie ich unter 43.4.3 an einem Beispiel gegen Strawson klar gemacht habe.

Dieselbe Formulierung steht auch XXXIII 321 f. Landgrebe mag sie dort abgeschrieben haben.

1852

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45.1.6 Die Wesensschau Mit dem Triumph des Singularismus hatte sich bis zu Husserls Zeit bei Philosophen längst die herrschende Meinung durchgesetzt, dass man Universalien, allgemeine Gattungen im weitesten Sinn, überhaupt nicht benötige und mit abstrahierendem und repräsentativem Gebrauch solcher Einzeldinge, die keine Fälle von sich haben, auskommen könne. Dass diese Meinung ungenügend durchdacht und unhaltbar ist, hat sich unter 24.3 und 43.4.2 herausgestellt. Husserl hat das bahnbrechende Verdienst, mit schneidiger und oft treffender Kritik an Aufstellungen namentlich englischer Autoren von Locke bis Mill zuerst energisch auf Lücken und Inkonsequenzen dieser herrschenden Meinung hingewiesen zu haben. 1853 Darüber geht er hinaus, indem er den Universalien eine unsinnliche, aber der sinnlichen analoge Wesensschau zuwendet: Die »Wesenserschauung ist ein originär gebender Akt und als solcher ein Analogon des sinnlichen Wahrnehmens und nicht des Einbildens.« (III 52) Er vergleicht sie der platonischen Ideenschau (XI 73). Eine ausgereifte Theorie, wie diese Schau sich vollzieht, findet er aber erst spät. Zunächst begnügt er sich mit gewöhnlicher sinnlicher Anschauung, die nur anders aufgefasst wird: »Das adäquate Allgemeinheitsbewusstsein (die adäquate kategoriale Anschauung des Allgemeinen) ist ein Akt aus der Klasse der objektivierenden Akte, in welchem aufgrund eines erlebten, empfundenen und in gewisser Weise abgehobenen (…) Inhalts sich eine ›allgemeine Intention‹ gründet, die auf das diesem einzelnen Moment entsprechende Allgemeine ›gerichtet‹ ist und es (in erweitertem Sinn) erschaut. Ich sehe Rot, ich empfinde es und meine nicht dies da, sondern das Rot in specie.« 1854 Die Wesensschau ist hiernach Auffassungssache: Ein objektivierender Akt (d. h. keiner aus der Gemüts- und Willenssphäre) richtet sich z. B. auf einen einzelnen Rotfleck hier und jetzt, fasst ihn aber nicht als solchen auf, sondern als das Rot schlechthin. Das soll eine adäquate, also mit Evidenz verbundene kategoriale Anschauung sein; damit verstößt Husserl gegen seine Auffassung der Evidenz als »Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem selbst Gegenwärtigen, das sie meint«1850 , denn selbst gegenwärtig ist dieser besondere Rotfleck, geXIX 1, 113–226: Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien. Mit »Spezies« meint Husserl alle Universalien, auch Genera. 1854 Briefe I 170 (an Carl Stumpf, 11. 05. 1902). 1853

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meint aber das Rot überhaupt. Die Unverträglichkeit hat Husserl bald eingesehen und die Unterschätzung der Wesensschau, als ob »alles bloß Unterschiede der Auffassung« seien, in einer Aufzeichnung 1907/08 zurückgewiesen (X 319). Damit ist er aber noch nicht am Ziel. Bei der Proklamation der Wesensschau im 1. Kapitel des 1. Buches der Ideen (1913) bleibt offen, wie sie zustande kommt. Dass es dazu einer Variation in der Phantasie bedürfe, scheint ihm erst nachträglich klar geworden zu sein: In sein Handexemplar des Buches fügt er im gedruckten Text, »dass wir uns das Wesen eines materiellen Dinges (etwa aufgrund einer freien Fiktion von einem solchen Dinge) zur originären Gegebenheit bringen«, hinter »Fiktion« die Worte »und Variation« ein, wahrscheinlich erst um 1922. 1855 Die neue und endgültige Theorie, wonach die Wesensschau aus einer Variation in freier Phantasie hervorgeht, wird von Husserl in der Vorlesung von 1925 ausführlich dargelegt (XI 72–87) und in kürzeren Andeutungen mehrfach wiederholt (I 104 f., XVII 254 f., XXXI 79). Ich halte mich an die straffe und scharfe Herausarbeitung des Gedankengangs in Erfahrung und Urteil: »Überblicken wir zusammenfassend die drei Hauptschritte, die zum Prozess der Ideation gehören: 1. erzeugendes Durchlaufen der Mannigfaltigkeit der Variationen; 2. einheitliche Verknüpfung in fortwährender Deckung; 3. herausschauende aktive Identifizierung des Kongruierenden gegenüber den Differenzen.« (S. 419) »Die so verstandene Wesensschau beruht auf einer Variation. Mit anderen Worten: wir lassen uns vom Faktum als Vorbild für seine Umgestaltung in reiner Phantasie leiten. Es sollen dabei immer neue ähnliche Bilder als Nachbilder, als Phantasiebilder gewonnen werden, die sämtlich konkrete Ähnlichkeiten des Urbildes sind. Wir erzeugen so frei willkürlich Varianten, deren jede ebenso wie der ganze Prozess der Variation im subjektiven Erfahrungsmodus des ›beliebig‹ auftritt. Es zeigt sich dann, dass durch diese Mannigfaltigkeit von Nachgestaltungen eine Einheit hindurchgeht, dass bei solchen freien Variationen eines Urbildes, z. B. eines Dinges, in Notwendigkeit eine Invariante erhalten bleibt als die notwendige allgemeine Form, ohne die ein derartiges wie dieses Ding, ein Exempel seiner Art, überhaupt undenkbar wäre. Sie hebt sich in der Übung willkürIII 20, vgl. die textkritische Anm. zu Zeile 20 III 463. Der Zusatz steht im Handexemplar II, das Husserl laut II 461 wahrscheinlich erst ab 1922 mit dem größten Teil seiner handschriftlichen Zusätze versehen hat.

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licher Variation, und während uns das Differierende der Varianten gleichgültig ist, als ein absolut identischer Gehalt, ein invariables Was heraus, nach dem hin sich alle Varianten decken: ein allgemeines Wesen. Auf dieses können wir den Blick richten als auf das notwendig Invariable, das aller im Modus des ›beliebig‹ geübten und wie immer fortzuführenden Variation, soll sie Variation von demselben Urbild sein, ihre Grenzen vorschreibt. Es stellt sich heraus als das, ohne was ein Gegenstand dieser Art nicht gedacht werden kann, d. h. ohne was er nicht anschaulich als ein solcher phantasiert werden kann. Dieses allgemeine Wesen ist das Eidos, die §dffa im platonischen Sinne, aber rein gefasst und frei von allen metaphysischen Interpretationen, also genau so genommen, wie es in der auf solchem Wege entspringenden Ideenschau uns unmittelbar zur Gegebenheit kommt.« (S. 411) Husserl täuscht sich über die beliebige Freiheit der Variation. Dieser muss ein eingestandenes oder uneingestandenes Leitbild, meist befestigt an einem Wort für die gesuchte Gattung, zugrunde liegen, damit die Variation nicht aus dem Rahmen läuft, z. B. über Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, die Brückenqualitäten leiblicher Kommunikation.1819 Der vorgegebene Rahmen macht die Operation zirkelhaft, indem nur noch gefunden werden kann, was in ihn passt. Statt der Befreiung der Phantasie ist vielmehr eine Verhärtung zu fürchten, die der Anpassung an neue Erfahrungen im Wege steht. Das gilt noch bei der Ausdehnung der Variation auf sogenannte oberste Regionen sachhaltiger Verallgemeinerung. Husserl führt dazu zwei Beispiele an: die Region Ding und die »Region ›Mensch‹ als leiblich-seelisches Wesen« (S. 435). Die Variation über Dinge, ausgehend von Federstiel und Stein, blockiert seinen Blick für Halbdinge, wie eben (45.1.5) an der Allzeitlichkeit gezeigt wurde. Gefährlicher ist die Variation in der Region Mensch als leiblich-seelisches Wesen. Durch den vom Titel vorgegebenen Rahmen wird die Blickverengung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Verfehlung, die den Menschen auf Körper und Seele verteilt und den spürbaren Leib und die leibliche Kommunikation darüber vergisst (9.1), weiter befestigt, mit fatalen Folgen wie denen, die an Husserls Theorie der Intersubjektivität nachgewiesen wurden (45.1.3.3). Die Methode krankt daran, dass kein Verfahren zur Sicherung der Beliebigkeit der Variation bereitgestellt wird. In dieser Beziehung herrscht bei Husserl ein gar zu großer Optimismus. Er schlägt z. B. vor, in der Gattung Gebrauchs700

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gegenstand frei zu variieren, um das Wesen eines Gebrauchsgegenstandes zu ermitteln (S. 435). Wer das vermöchte, müsste ein übermenschlich großer Erfinder sein. Die Rede von Wesensschau passt eigentlich nur auf Arten und allenfalls Halbarten, wo aufgrund echter, sinnfällig sich aufdrängender Gleichheit bzw. Ähnlichkeit dem Erfahrenden etwas als das prägnante Wesen von etwas gleichsam entgegenspringt, als einfache Sinnesqualität (Ton a beim Stimmen der Instrumente) oder als vielsagender Eindruck, der verallgemeinerbar oder an ein Individuum (charakteristische Stimme eines Menschen) gebunden sein kann; sie passt nicht auf Gattungen im engeren Sinn, die nur an irgendeiner Übereinstimmung abgelesen werden (21.1). Für diesen Unterschied, der einige ziemlich spezielle Universalien für die Wesensschau bevorzugt und von Aristoteles mit seiner unplatonischen scharfen Unterscheidung von Genos und Eidos angesprochen wird (12.5), hat Husserl kein Verständnis. Im Gegenteil lässt er feste Unterscheidung, identifizierende Durchhaltung und strenge begriffliche Fassung erst auf »höherer Stufe der Spezialität« zu, etwa für das »gattungsmäßige Wesen von Wahrnehmung überhaupt«, »ebenso von Erinnerung überhaupt, Einfühlung überhaupt, Wollen überhaupt«, während von »einer eindeutigen Bestimmung der eidetischen Singularitäten in unserer deskriptiven Sphäre keine Rede« sein könne (III 172). Wie man das Wesen von Wahrnehmung überhaupt als reinen Typus in freier Phantasie erschauen will, ist mir schleierhaft, und selbst Husserl hat Bedenken: »Allgemeinste Wesensunterschiede, wie die zwischen Farbe und Ton, zwischen Wahrnehmung und Wille, zu erfassen, genügt es wohl, ein Exempel in niederer Klarheitsstufe gegeben zu haben. Es ist, als ob an ihnen schon das Allgemeinste, die Gattung (Farbe überhaupt, Ton überhaupt) voll gegeben wäre, aber noch nicht die Differenz. Das ist eine anstößige Rede, aber ich wüsste sie nicht zu vermeiden.« (III 160) Eine ganz andere und sehr wichtige Aufgabe ist die, allgemeine Einsichten über solche Gattungen zu gewinnen, und solche gibt es, sogar mit Evidenz; ein Beispiel ist der Satz: »Keine Farbe kann ganz ohne räumliche Ausdehnung oder nur eindimensional, exakt linear, ausgedehnt sein.« Das leuchtet sofort ein; eine Variation mit Phantasieren beliebiger Farben in der Hoffnung, es möge sich ein invarianter Typus als reines Wesen der Farbe herausstellen, trägt zu der Einsicht nichts bei. Das Verfahren der Wesensschau nach Husserl erreicht also nicht 701

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sein Ziel. Darüber hinaus ist es überflüssig, weil es auf der falschen Voraussetzung über Sinnlichkeit und Verstand beruht, die unter 45.1.5 aufgedeckt wurde. Husserl stellt das Verhältnis so dar, dass die sinnliche Wahrnehmung entweder bloßen Stoff der Assoziation und Affektion aufnehme oder ihn explizierend bearbeite, während erst der Verstand in spontaner Aktivität zu eigentlichen Bedeutungen als irrealen Sinngegenständen vordringe. Dieser Auffassung liegt der Irrtum des Singularismus zugrunde, zu glauben, dass man in bloßer sinnlicher Wahrnehmung an Einzelnes überhaupt herankäme, ohne solche Bedeutungen schon in Anspruch zu nehmen. Wenn dieser Irrtum beseitigt wird, ist der Weg frei zu der Einsicht, dass die Wahrnehmung von vornherein nicht, wie der Projektionismus (29.1; 42.1 und 4) will, mit irgendwelchen bedeutungslosen Sinnesdaten auskommt, sondern primär ein Wahrnehmen von Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit ist, bei menschlichen Personen obendrein ein Wahrnehmen einzelner Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme), die als Explikate aus der Bedeutsamkeit hervortreten. Unter diesen Sachverhalten sind auch solche von allgemeiner Tragweite, darunter solche, die mit Evidenz als Tatsachen imponieren, und dafür genügt es sogar, dass die Explikation verschwommen ist. Die völlige Unzulänglichkeit des Zahlverständnisses, ehe dieses von einem präzisen und natürlichen Zahlbegriff eingeholt wurde (Überleitung, 43.3.1), hat die Evidenz beim Umgang mit Zahlen im Zählen und Rechnen so wenig wie in der mathematischen Zahlentheorie behindert, und Entsprechendes gilt für den Ort (29.1), über den sich die Menschen mit »wo«, »da«, »dort« mühelos verständigen, ohne sich darum zu sorgen, dass die Philosophen ebenso wie die Naturwissenschaftler eine haltbare Begriffsbestimmung bis zur Gegenwart versäumt hatten. Zum kundigen und einsichtsvollen Umgang mit Gattungen bedarf es keiner kategorialen Anschauung über der sinnlichen. Obwohl die Wesensschau also theoretisch ein Fehlschlag ist, hat sie großen Nutzen gleichsam pädagogischer Art gehabt, als Erziehung der Philosophen zur Offenheit bei der Vertiefung in das Charakteristische und Typische vieler Erscheinungen, in deren Sachgehalt, der bei der Frage nach dem Wesen der betreffenden Erscheinung besser als vorher unter nivellierenden Formalisierungen und Schematisierungen freigelegt werden kann. Die von Husserl herausgegebenen Jahrbücher für Philosophie und phänomenologische Forschung enthalten manche Früchte dieser Befreiung durch die Frage 702

Materiale Wertethik

nach dem Wesen, und zur Blüte gelangte diese Untersuchungsweise in der materialen Wertethik, der ich mich nun zuwende.

45.2 Materiale Wertethik

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45.2.1 Max Scheler Scheler 1856 hat zur Wesensschau einen anderen Zugang als Husserl. Dieser lässt sich durch einen Gattungstitel von beliebiger Abstraktionshöhe einen Rahmen vorgeben, in dem er Phantasiebeispiele beliebig variiert, bis sich ihm als Invariante der Variation ein prägnanter Typus herausschält, der für ihn das Wesen der betreffenden Gattung ist; auf diese Weise kann er gleichermaßen das Wesen des Dinges, des Gebrauchsgegenstandes, des Menschen, der Wahrnehmung, der Erwartung usw. herausfinden (45.1.6). Scheler orientiert sich dagegen an solchen Universalien, bei denen sich das Übereinstimmende im Abweichenden sofort aufdrängt, entweder durch Reindarstellung wie beim Kammerton a, auf den Musiker ihre Instrumente stimmen, oder dank bloßer Ähnlichkeit, die das Übereinstimmende nur noch durchscheinen lässt, wie das Rot durch verschiedene Rotnuancen; im ersten Fall spreche ich von Arten, im zweiten von Halbarten (21.1). An solche Universalien kann man sich nicht methodisch herantasten; man muss sie gleichsam mit einem Blick fangen, und diese Unvermittelbarkeit der Wesensschau drückt Scheler so aus: »Ja, es ist geradezu als eines der Kriterien für die Wesensnatur eines vorgegebenen Gehaltes anzusehen, dass sich im Versuche, ihn zu ›beobachten‹, zeigt, dass wir ihn immer schon erschaut haben müssen, um der Beobachtung die gewünschte und vorausgesetzte Richtung zu geben; für ›Wesenszusammenhänge‹ aber, dass wir, versuchend, sie durch anders gedachte mögliche (in der Phantasie vorstellbare) Beobachtungsresultate gegenüber realen Relationen aufzuheben, dies aus der Natur der Sache heraus nicht vermögen; (…). Für die Begriffe aber, die a priori sind, weil sie sich in der Wesensschau erfüllen, ist es ein Kriterium, dass wir im Versuche, Von Scheler ziehe ich lediglich heran: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. durchgesehene Auflage Bern 1954 (Gesammelte Werke Band 2); die Paginierung späterer Auflagen stimmt nicht genau mit dieser überein. Ich zitiere mit bloßen Seitenzahlen.

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sie zu definieren, unweigerlich in einen circulus in definiendo geraten; für Sätze, dass wir im Versuche, sie zu begründen, unweigerlich dem circulus in demonstrando verfallen.« (70) Aufschlussreich für philosophische Einsicht wird die Wesensschau von Arten und Halbarten erst dadurch, dass solche nicht nur bei Sinnesqualitäten – Scheler nennt »das Wesen rot« (69) – vorkommen, sondern auch bei vielsagenden Eindrücken, den von mir sogenannten impressiven Situationen, die Vieles durch eine binnendiffuse (nicht oder nicht nur aus Einzelnem bestehende) Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen ganzheitlich so zusammenfassen, dass diese Bedeutsamkeit schlagartig präsent ist, wie bei einer nur durch sofortige motorische Reaktion zu bewältigenden Gefahr. An einem solchen vielsagenden Eindruck bewährt sich Schelers Wesensschau, indem er das »anschauliche Wesen des ›Lebens‹« (69) zum Thema macht. Er findet dazu einen originellen Zugang bei den von ihm entdeckten Lebensgefühlen. In meiner Sicht handelt es sich dabei um die ganzheitlichen, d. h. nicht auf lokalisierbare Leibesinseln – der spürbare Leib ist gewöhnlich ein Gewoge verschwommener Inseln – verteilten leiblichen Regungen; von den teilheitlichen leiblichen Regungen, wie Kopfschmerz, Jucken, Kotdrang, genitale Erregung, den »sinnlichen Gefühlen« nach Scheler, unterscheidet er die Lebensgefühle so: »Während die sinnlichen Gefühle ausgedehnt und lokalisiert sind, nimmt das Lebensgefühl zwar noch an dem Gesamtausdehnungscharakter des Leibes teil, ohne indes eine spezielle Ausdehnung ›in‹ ihm und einen Ort zu besitzen. Behaglichkeit und Unbehaglichkeit, z. B. Gesundheits- und Krankheitsgefühl, Mattigkeit und Frische können nicht in analoger Weise nach ihrer Lokalisierung und ihrem Organ bestimmt werden, wie wenn ich frage: wo tut es dir weh? wo empfindest du Lust?« (350) Diese Gefühle sind aber »ausgesprochene Leibgefühle. Nicht ›ich‹ kann behaglich und unbehaglich ›sein‹, so wie ›ich traurig bin‹, selig oder verzweifelt, sondern ›ich‹ kann ›mich‹ nur so ›fühlen‹, wobei das ›mich‹ zweifellos jenes Leibich darstellt, jenes einheitliche Bewusstsein unseres Leibes, in dessen Ganzem gesonderte Organempfindungen und Organgefühle erst sekundär, wie aus ihrem fundierenden Hintergrund, heraustreten.« (351) »Während die sinnlichen Gefühle sich weiterhin als mehr oder weniger tote Zustände darstellen, hat das Lebensgefühl immer schon funktionalen und intentionalen Charakter.« Wir fühlen nämlich »im Lebensgefühl unserer Leben selbst, d. h. es ist uns in diesem Fühlen etwas gegeben, sein ›Aufstieg‹, sein ›Niedergang‹, sei704

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ne Krankheit und Gesundheit, seine ›Gefahr‹ und seine ›Zukunft‹. (…) Während die sinnlichen Gefühle in keinem Sinne über die Punktualität ihrer Existenz hinausreichen, ist uns im Lebensgefühl auch ein eigentümlicher Wertgehalt unserer Umwelt, z. B. die Frische des Waldes, die drängende Kraft in wachsenden Bäumen, gegeben. Was aber von ganz besonderer Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass schon das Lebensgefühl, nicht erst die geistigen Gefühle, der Funktion des Nachfühlens und Mitfühlens teilhaftig ist.« (352) »Wie ich die Mattigkeit eines Vogels wahrhaft mitfühlen kann, niemals aber seine völlig unbekannten sinnlichen Gefühlszustände, so kann ich auch ein eigenes Lebensgefühl später nachfühlen, oder besser nachfühlen, wie damals der Zustand meines einheitlichen lebendigen Organismus beschaffen war.« (353) Das ist gute Phänomenologie. Scheler stellt sie in den Dienst der materialen Wertethik, indem er das Lebensgefühl als Organ der Erfassung vitaler Werte hinstellt, nämlich der »Werte ›edel‹ und ›gemein‹ (oder ›schlecht‹)«, deren Träger wesenhaft nur »Lebewesen« sein könnten, Edelsteine und edler Wein dagegen nur metaphorisch, wie schön schmeckendes Essen schön ist (106). Damit wird der Bereich des Edlen gegen den Sprachgebrauch zu eng abgesteckt. Schon beim edlen Wein habe ich Zweifel, aber gewiss darf eine edel geformte antike Vase (griechisch oder chinesisch usw.) ihr Beiwort im unübertragenen Sinn tragen, so gut wie Wuchs und rassige Bewegung eines edlen Pferdes oder sonstigen (auch menschlichen) Lebewesens, und das Entsprechende gilt für die vornehme Art des Umgangs in einem von feiner Kultur geprägten Milieu, die gemessene Grazie z. B. in der Gebärde, mit der der siegreiche Feldherr Spinola auf dem Gemälde Die Übergabe von Breda des Velasquez die Kapitulation des holländischen Kommandanten entgegennimmt, ihm jede Demütigung ersparend. Dennoch ist Schelers Zentrierung des Edlen um das Vitale nicht ohne Wert. Man muss nur bedenken, dass es sich beim Lebensgefühl um die ganzheitlichen leiblichen Regungen und damit um die leibliche Dynamik handelt, die durch Bewegungssuggestionen auf die antike Vase, durch synästhetische Charaktere auf den edlen Wein übergeht,1819 während Großmut und gute Absichten zum edlen Stil in einem kultivierten Milieu nicht genügen, sondern etwas Leibliches im Ausdruck dazu gehört, eine feine Art der Haltung, Mimik und Gebärde, wodurch sich die Kultiviertheit vital als edel gegen alles Geschmacklose und damit Gemeine abhebt. Dass Schelers Wesensschau nicht immer so gute Erfolge hat, 705

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beruht darauf, dass er ihre Tragweite auf beliebige Universalien erstreckt und sich zu Thesen ermächtigt glaubt, die keiner Rechtfertigung als seines vermeintlich untrüglichen Wesensblickes bedürfen und daher auch der Kontrolle entzogen sind. Für seine Ethik ist fatal, dass er dabei eine gewisse Konzeption der Werte voraussetzt und mit diesen gleichsam durch die Tür ins Haus der Ethik stürmt. Man muss die Voraussetzung mitmachen oder findet fast in allem, was er sagt, auch wenn es mehr oder weniger treffend und scharfsinnig gedacht und formuliert ist, einen falschen Ton. Ich will diesen durch eine grundsätzliche Betrachtung über Herkunft und Sinn der Einführung von Werten in die Philosophie und epiphilosophische (z. B. juristische, politische) Diskurse deutlich machen. Die Werte im Sinne der materialen Wertethik sind Quittungen dafür, dass man bei der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung (28) die Gefühle als leiblich ergreifende Atmosphären ignoriert und durch Privatgefühle in den Seelen, gar durch Lust und Unlust, ersetzt hat. So wurde aus der goldenen Aphrodite des Mimnermos die Lust, die nach Ansicht der Lysistrate in der Komödie des Aristophanes dem erzwungenen Geschlechtsverkehr so sehr abgeht, dass er unterlassen wird (2), später aus dem heiligen Geist als in der urchristlichen Situation der Naherwartung aufgehängter Atmosphäre von Liebe, Freude und Freimut Gott als die dritte Person seiner. 1857 Die unmittelbar gespürte Autorität ergreifender Mächte war aus den Orientierungsmarken des Denkens entfernt und musste durch Projektionen ersetzt werden. Die ersten Projektionen dieser Art sind die platonischen Ideen, soweit sie Ideale sind, besonders das Gute, Schöne und Gerechte: zum Ansichsein erhobene Ansichten (im objektiven Sinn, Aspekte) in dem Sinn, dass das Schöne so schön wie nichts anderes, aber nichts als schön ist. Aristoteles führte diese exzessive Reindarstellung am gleichfalls platonischen Beispiel des Gleichen ad absurdum: Was bloß an sich gleich ist, ist keinem insbesondere gleich, also nicht einmal gleich. 1858 Die Idealideen sind die ersten Werte und entstehen nahezu gleichzeitig mit der Abdrängung der Gefühle in die Seelen; die Introjektion der Gefühle setzt schon beim frühen Platon ein, 1859 vollendet Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 4: Das Göttliche und der Raum, S. 13–43: Der heilige Geist. 1858 Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria, ed. Hayduck, Commentaria in Aristotelem Graeca Band I, Berlin 1891, S. 83 Z. 26–28. 1859 Gorgias 513c, Sokrates zu Kallikles: »Die Liebe zum Demos, die in deiner Seele 1857

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sich bei ihm aber erst im Spätwerk, durch Umdeutung der Gefühle in Lust und Unlust. 1860 Die materiale Wertethik erneuert und verbreitert das platonische Idealkonzept unter dem Titel der Werte. Diese Werte sind der räumlich-zeitlichen Erfahrungswelt enthoben, nicht Werteigenschaften empirischer Sachen, sondern gleichsam Leitsterne, die auf diese abstrahlen. 1861 Damit unterliegen sie demselben Paradox der Reindarstellung wie die platonischen Ideen, verschärft dadurch, dass die Wertethiker ganz offen, wie Platon versteckt, den Werten eine Parallele in Unwerten zur Seite stellen: Wie kann etwas schlecht und nichts als schlecht sein, weil es doch, mag es auch durch und durch schlecht sein, wenigstens aufgrund einer miserablen Beschaffenheit, die nicht selbst die Schlechtigkeit ist, schlecht sein müsste? Die Wertethiker legen aber keinem ihrer Werte und Unwerte eine Eigenschaft bei, die über das hinausginge, was in der Reindarstellung der Beschaffenheit als solcher Wert bzw. Unwert enthalten ist. Ein weiteres Bedenken gegen die Werte fällt noch stärker ins Gewicht, weil es die Peinlichkeit streift: Die Zuschreibung von Werten und Unwerten geht auf Erfahrungen zurück, die den Menschen emotional stark heimsuchen, wobei das affektive Betroffensein nicht als zufällige Begleiterscheinung imponiert, sondern als etwas, das sich gehört und gewissermaßen geschuldet wird, so dass sein Ausbleiben ein peinlicher Mangel wäre. Dem Bösen gebührt Empörung, dem Heiligen anbetende Verehrung, dem Schönen beglückte Bewunderung. Gefühle als Atmosphären und leiblich spürbar ergreifende Mächte haben die zu solcher Schuldigkeit gehörige Kraft, verbindlich geltende Normen aufzuerlegen, durch ihre Autorität. 1862 Die Werte darin ist, widersteht mir.« »Demos« ist Name des Volkes und des Lustknaben des Kallikles. 1860 Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum, S. 489–491: Platons Auffassung vom Gefühl. 1861 Scheler S. 200: »Wie sich uns schon im ersten Kapitel zeigte, sind ja Werte durchaus nicht von empirischen, konkreten Dingen, Menschen, Handlungen abstrahierte Begriffe, resp. abstrakte, ›unselbstständige‹ Momente solcher Dinge, sondern sie sind selbstständige Phänomene, die mit weitgehender Unabhängigkeit von der Besonderheit des Inhaltes, sowie von dem Realsein oder Idealsein – resp. dem Nichtsein (in diesem doppelten Sinne) ihrer Träger erfasst werden. Darum kann man auch einem nichttatsächlichen Inhalte einen tatsächlichen Wert zuschreiben.«. 1862 Über die Autorität der Gefühle habe ich seit 1973 (System der Philosophie Band III Teil 3) viel geschrieben, wovon man sich beim Blick in die Sachregister meiner Bücher überzeugen kann; jetzt erwähne ich nur: Leib und Gefühl, hg. v. H. Gausebeck und

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als ideale Hypostasen sind dagegen zu dünn, zu abstrakt, um die dynamische Autorität der Gefühle zu ersetzen. Der höchste Wert ist nach Scheler das Heilige (129 und öfter). Mir ist schwer erträglich, das Heilige auf dem Thron des obersten Wertes vorzustellen. Zum Heiligen gehört der numinose Schauder, das numinose Entzücken nach Rudolf Otto als Atmosphäre des ergreifenden Gefühls. Ein bloßer Wert bleibt dahinter peinlich zurück. Die idealen Werte sind ein dürftiger Ersatz durch den der Welt, oder wenigstens der Weltanschauung, durch Introjektion der Gefühle angetanen Schaden. Das Wort »Wert« ist aber so eingebürgert und nützlich, dass es sich lohnt, mit anderer Sinngebung daran festzuhalten. Ein Wert zu sein, könnte dann heißen: gleichsam im Licht der besonderen Autorität einer eigenartigen Atmosphäre des Gefühls zu stehen (im Nimbus, in der Aura nach Klages, 44.3.3), wobei diese Autorität eine Stellungnahme des affektiven Betroffenseins zur geltenden Norm erhebt, sei es eine günstige oder ungünstige Wertung der so »beleuchteten« Sache, oder ein Verhalten anderer Art, z. B. das Tun der Pflicht gemäß der Autorität der Gefühle des Gewissens. Die mit Autorität ergreifenden Atmosphären des Gefühls werden stabilisiert durch Einbettung in zuständliche Situationen, die kleine und große Personenverbände einigen können, angefangen von Liebesverbänden (Liebespaar, Familie, Gemeinde) bis zu umfassenden, Zeitalter überdauernden Kulturen. Auch können sich einleuchtende Sätze wie synthetische Urteile a priori auf Werte überhaupt so gut wie auf Farben überhaupt beziehen, teilen dann aber die Fragwürdigkeit synthetischer Urteile a priori (35.1). Die Unzulänglichkeit der idealen Werte zur Begründung des Ethos und der Moral tritt deutlich an Schelers Behandlung des Verhältnisses von Wert und Sollen (228–246) hervor. Er unterscheidet ideales und normatives Sollen. Das normative Sollen, d. h. das Gelten einer Norm im Sinne eines Programms für möglichen Gehorsam (meine Begriffsbestimmung für »Norm«), geht nach Scheler stets auf einen ausdrücklichen Befehl (Imperativ) zurück, und es gehöre »zu jeder Art von Imperativ, dass er stets auf die Setzung eines Wertes geht, auf den das Streben nicht in ursprünglicher Intention bereits bezogen ist.« (226) Der Wert zeichnet zunächst ein ideales Sollen ohne Normcharakter vor. Das »Verhältnis des idealen Sollens zu G. Risch, 2. Auflage Paderborn 1992, S. 125–134: Die Autorität der Trauer; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 295–299 (gegen eine Kritik).

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den Werten« ist »grundsätzlich durch die zwei Axiome geregelt: Alles positiv Wertvolle soll sein, und alles negativ Wertvolle soll nicht sein.« (221) »Damit ein ideales Sollen zur Forderung werde, die an einen Willen ergeht, ist ein Befehlsakt, wie immer dieser auch an das Wollen herankomme, sei es durch die Autorität, sei es durch Tradition, immer die Voraussetzung. Dies gilt auch für den Begriff der Pflicht.« (225) »Alles Sollen (nicht etwa nur das Nichtseinsollen) ist daher darauf gerichtet, Unwerte auszuschließen; nicht aber, positive Werte zu setzen.« (223) »Daraus ersehen wir, dass jede imperativische Ethik, z. B. jede Ethik, die vom Pflichtgedanken als dem ursprünglichen sittlichen Phänomen ausgeht und von hier aus erst die Ideen von Gut und Schlecht, von Tugend und Laster usw. gewinnen will, von Hause aus einen bloß negativen, kritischen und repressiven Charakter hat. Ein konstitutives Misstrauen nicht nur in die menschliche Natur, sondern in das Wesen sittlicher Akte überhaupt, ist hier geradezu die Voraussetzung aller ihrer Aufstellungen.« (227) Am Anfang dieses Fundierungssystems steht ein statischer Kosmos idealer sittlicher Werte, von sich aus ohne normative Dynamik, ohne ein auch nur ideales Sollen, das erst durch die Richtung darauf, Unwerte auszuschließen, hinzukommt. Stattdass in der Natur der Werte ein Motiv zur Dynamik des Ausschließens von Unwerten aufgedeckt würde, genügen zwei schlichte Festsetzungen als Axiome; mehr gibt die Statik des Wertreichs nicht her. Diese Axiome führen ein ideales Sollen ein, eine Forderung an niemand, die weder Fisch noch Fleisch zu sein scheint. Die wirklich erlebbare Quelle verbindlicher normativer Geltung in praktischen Zusammenhängen, die Autorität von Gefühlen – z. B. Empörung, Scham, Schuldgefühl im Gewissen oder das Numinose als Atmosphäre des Heiligen – kommt nicht in Schelers Blick, weil er Gefühle nur als seelische Zustände oder persönliche Akte, nicht als Atmosphären kennt. Daher sein Irrtum, alles normative Sollen einschließlich der Pflicht auf Befehle zurückzuführen, als ob alle Normen imperativisch wären. Die Quelle sittlicher Verbindlichkeit von Normen für jemand ist aber allein die Autorität der ihn ergreifenden und im Griff haltenden Gefühle, selbst wenn er dabei einem Befehlshaber folgt, der seine Autorität zum Setzen verbindlicher Geltung doch nur der Investition oder Legitimation durch das Gefühl verdankt, in dessen Bann der Befehlsempfänger steht. Andernfalls kann diese Autorität mehr oder weniger leicht durch eine reservatio mentalis oder offene Distanzierung entkräftet werden; dass solche Entkräftung trotz aller Mobilisierung 709

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der Reserven an Kritikfähigkeit vor der Autorität gewisser Gefühle nicht möglich ist, ist die Quelle des unbedingten Ernstes der Moral und der Ehrfurcht vor dem Heiligen. Die von solcher Autorität gestiftete Verbindlichkeit ist spontan und kommt ohne Reaktion auf einen Gegenwillen aus, wenn auch faktisch oft ein solcher überwunden werden muss. Die Mutter, die ohne Gegenregung in treuer Liebe ihr Kind versorgt, kann diese Fürsorge zugleich als Pflicht empfinden und im wohlverstandenen Sinn (s. o. 35.4.1) sogar aus Pflicht handeln, nämlich in dem Sinn, dass bei ihr auch für den Fall, dass die Liebe einmal ermatten sollte, die Fürsorge durch das Gefühl der Verpflichtung immer noch gut aufgehoben wäre. Schelers Degradierung der Pflichtethik zu einer Ethik aus konstitutivem Misstrauen beruht also auf der Versetzung der ethischen Maßstäbe an einen falschen Platz; die Dynamik normativer Geltung muss, weil die Werte sie nicht hergeben, über die gebrechliche Brücke des idealen Sollens an die Dynamik des Kampfes gegen einen Widerwillen weitergereicht werden. Mit der Polemik gegen ein rigoristisches Moralsystem wie das von Kant,613 das die Triebfeder der Moral in eine die Selbstsucht und den Eigendünkel demütigend niederschlagende Macht des Sittengesetzes verlegt, 1863 ist Scheler im Recht, und auch sein Hinweis ist überzeugend, dass eine Kränkung vorliegt, wenn man einem Menschen aus seinem guten moralischen Wollen auch noch eine Vorschrift macht, 1864 aber nicht, weil der Betreffende durch seine Orientierung an Werten jeder Verpflichtung überhoben wäre, sondern weil die echte Dynamik des Gefühls, das ihm eine Norm zu verbindlicher, aber nicht-imperativischer Geltung erhebt, durch die Äußerlichkeit eines Fremdbefehls beiseite geschoben wird. Nicht weniger äußerlich ist aber das ideale Wertreich. Nach dieser grundsätzlichen Kritik beschränke ich mich darauf, eine Reihe guter Beobachtungen und Begriffe, in denen der scharfe und feine »Wesensblick« Schelers sich ertragreich auslebt, das Buch abschreitend herauszuheben. 1. Seite 150–152 Bewegungssuggestionen: Für die Motorik des Tunwollens entdeckt Scheler etwas von dem, was ich »Bewegungssuggestion« nenne und als Brückenqualität leiblicher Kommunikation bestimmt habe. Er spricht von der »Bewegungsintention«. Sie »zeichnet die Bewegung vor«, die den Ge1863 1864

Kritik der praktischen Vernunft, S. 129–132, Ak (s. o., Anm. 1161) V 73 f. S. 228, mit Hinweis auf Ibsens Drama Die Frau vom Meer.

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genstand mit dem Inhalt des Tunwollens verknüpft, und »stiftet die Einheit und Zielgemäßheit der auf sie folgenden Bewegungsimpulse« durch »ein Bild einer bestimmten Art der Richtungsvariation einer möglichen, metrisch und nach der Größe und Entfernung des beweglichen Körpers noch unbestimmten Bewegung.« Sie ist keine Bewegungsempfindung. S. 158–167 Milieu: Nur das auf mich als wirksam Erlebte gehört dazu, unabhängig davon, ob es perzipiert worden ist oder nicht. »Denn, wie wir mehr perzipieren (in der Wahrnehmung) als das, was wir – auch einheitlich – empfinden, so ist immer ein weiteres und reicheres Milieu erlebt und als auf uns wirksam gegeben als das, was wir perzipieren und wahrnehmen.« (S. 169) Die Beispiele, die Scheler anführt, machen deutlich, dass er mit »Perzipieren« meint »Einzelnes vorstellig haben«. Das Milieu »bildet als ein anschauliches Ganzes nicht nur den Hintergrund für alle Inhalte der Wahrnehmung, sondern auch das Reservoir gleichsam, aus dem diese entnommen sind.« Scheler kommt damit in die Nähe des Verständnisses für Situationen, in denen durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit vielerlei zusammengehalten wird, das teils einzeln (fähig, eine Anzahl um 1 zu vermehren), teils wenigstens identisch dieses und verschieden von anderem, teils sogar in dieser Beziehung unentschieden ist. Er kennt auch die Verschachtelung solcher Situationen in einander; als partielle Situationen (Milieus) innerhalb des Milieus erwähnt er (allerdings ohne sie direkt als solche auszugeben): »die auf der Achtung der Menschen beruhende ›Ehre‹ unserer Person als eine Einheit der Wirksamkeit, desgleichen die Liebe der Eltern als eine solche, ohne dass uns diese Akte und die Personen, die sie vollziehen, dabei gegeben sind«, während sich »auch die Einheit dieser erlebten Wirksamkeit erst als eine besondere abhebt, wenn sie plötzlich aufhört – d. h. Liebe und Achtung uns entzogen wird«; 1865 ferner den Bereich, in dem der »Praktiker« des Handwerks, der Kunst, der Erziehung und der Politik wirkt: »Der ›Praktiker‹ in diesem Sinn ist gleichsam umringt von dinghaften Einheiten, die sich unabhängig von ihrer Perzeption ihm als ein Reich abgestufter und qualitativ gesonderter Wirksamkeiten darstellen, schon gesondert und gegliedert als die Ansatz-

Das ist ein treffliches Beispiel für die Zersetzung von Situationen durch Explizitwerden der Protentionen (s. o. 45.1.2) in der Enttäuschung.

1865

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punkte eines möglichen Handelns (…).« Sehr gut gesehen! Für alle routinierten Kompetenzen benötigen wir, wie ich öfters ausgeführt habe, einen Bereich des diffusen chaotischen Mannigfaltigen, in dem schon Identität und Verschiedenheit vorliegen, so dass wir uns darin zurechtfinden, aber noch nicht Einzelheit – z. B. die Sprache, der wir in sprechendem und schreibendem Gehorsam Regeln für unsere Darstellung von Sachverhalten, Programmen und Problemen entnehmen, oder der eigene Körper als Mannigfaltigkeit von Chancen geführter Bewegung. Besonders interessant ist Schelers drittes Beispiel: die Gesetze als Partialmilieu im Leben des Verbrechers, der »Gesetze verletzt und sich als verletzend im Handeln erlebt, mit deren Bestand er doch sonst praktisch rechnet, bei sich und anderen – ohne dass er indes auch nur die mindeste Kenntnis dieser Gesetze haben müsste (…). Der bloße ›Brecher‹ und ›Feind‹ eines Gesetzessystems ist kein ›Verbrecher‹ ; denn er steht ohne jede Art von praktischer Anerkennung ihm gegenüber.« Wenn Scheler einen Schritt weiter ginge, diese Unterscheidung auch auf Wertgesetze der Ethik und Moral zu übertragen, wäre er seinen statischen Kosmos ewiger Werte los und hätte die perspektivische Relativität der Geltung solcher Normen (wohl zu unterscheiden von der Relativität auf Adressaten) akzeptiert. S. 270: Funktionalqualität des Fühlens: Unter diesem Titel weist Scheler auf das hin, was ich als die Gesinnung bezeichne, d. h. die Aktivität, die von der Passivität jedes affektiven Betroffenseins unzertrennlich ist, als Weise des Sich-einlassens darauf, des Mitmachens, der unbeliebigen Selbstverstrickung, ohne die die Affektivität nicht zur Subjektivität »anspringen«, sondern ein neutrales Geschehen bleiben würde, und auf die Variationsbreite dieser Aktivität. Ich habe mich in meiner Lehre von der Freiheit im Sinne sittlicher Verantwortung gerne darauf bezogen. S. 343 f. Schichtung des emotionalen Lebens: Mit schönen Beispielen weist Scheler auf die Schichtentiefe menschlichen Glücks und Unglücks hin, die dazu führt, dass es ohne Konflikt möglich ist, zugleich glücklich und unglücklich (in ungewöhnlich weitem Sinn dieser Wörter) zu sein, nur in verschiedenen Schichten. Das hätte Schopenhauer zur Kenntnis nehmen sollen, ehe er seinen völlig nivellierten, an Lust und Unlust orientierten Trivialpessimismus entwickelte, s. o. 41.

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S. 408–413: Der Leib: Zur Entdeckung des spürbaren Leibes leistet Scheler den wichtigen Beitrag, dessen Zerlegung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung in einen physischen Körper und eine seelische Propriozeption oder Koinästhesie anzuprangern. Zu weit geht er aber, wenn er den Leib als das identische Fundament von Leibkörper und Leibseele ausgibt, d. h. als Brücke glatten Übergangs vom Spürbaren zum Sichtbaren und Tastbaren etablieren will. Von den 9 Verdikten gegen irrige Auffassungen über den Leib billige ich nur das dritte nicht: »Es ist irrig, der Körperleib würde genauso wie andere Körper ursprünglich vorgefunden.« Dass es den kleinen Kindern geradeso ergeht, muss Scheler auf S. 413 selbst zugeben; er wehrt sich dagegen mit dem gar nicht hergehörigen Einwand, dass dann die Scheidung der Sphären Leib und Außenwelt längst vorausgesetzt sei. 6. S. 511 f. Person und Eigenwertintention: Überzeugend ist die Feststellung, »dass es zum Wesen jedes möglichen Wertwachstums der Person gehöre, dass sie ihren eigenen sittlichen Wert niemals willentlich intendiere.« Dadurch werden Winke des Erziehers, Vorbilder, gute und böse Beispiele auf dem Weg sittlicher Reifung nicht entwertet; sie zeichnen impressive Situationen vor und können dadurch Entwicklungen steuern, die auch den sittlichen Wert des Menschen fördern können, aber nur, solange er nicht gerade diesen intendiert. Wer ein edler, vollkommener, guter, bedeutender, ja auch nur fein gebildeter Mensch werden will, steht sich selbst im Wege. Das gilt auch für das Glück, das man sich vereitelt, wenn man es als Lohn guten Wollens erwartet: »So wenig gutem Wollen je ein Glücksgefühl als Ziel vorschweben darf – soll es ›gut‹ sein –, so absolut gewiss trägt es das Glück – auf dem Rücken.« (361 f.) Die knappe zweite Hälfte des Buches enthält eine Theorie der Person und personalistischen Ethik, die ich als Luftschloss betrachte, bar jeder phänomenologischen oder anders gearteten rationalen Rechtfertigung. Ich greife jetzt nur die These heraus, dass es Gesamtpersonen gebe, die so gut wie die einzelnen personalen Menschen Personen mit eigenem, wenn auch von deren Bewusstsein nicht gesondertem Bewusstsein seien. Als solche werden im Vollsinn Nationen, Kulturpersonen in Kulturkreisen, Nationen und Kulturzeitaltern sowie an oberster Stelle die Kirche ausgegeben, während der Staat gleichsam im Vorhof der Personalität verbleibt und die Lebens713

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gemeinschaft (einschließlich Familie und Volk) nicht einmal so weit kommt. 1866 Es gibt solidarische Einleibung schon im Tierreich und unzählige gemeinsame Situationen, aktuelle und zuständliche, die Menschen zusammenhalten und von ihnen getragen werden, aber Gesamtpersonen kann es nicht geben, sofern eine Person ein Bewussthaber mit Fähigkeit zu der Selbstzuschreibung ist, etwas für sich selbst zu halten; denn dazu gehört die Vorzeichnung der primitiven Gegenwart im vitalen Antrieb des Leibes, und die primitive Gegenwart exponiert in der Enge spielraumloser Unausweichlichkeit, wo keine Gesamtheit von Personen Platz hat (s. o. 45.1.3.1). Scheler wird seinen Gesamtpersonen die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung sicher nicht verweigern wollen; er verkennt aber mit seiner transzendierenden Personidee, die sich bis auf Gott als höchste Person erstreckt, die Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewusstseins, das ohne leibliche Dynamik nicht möglich ist, und nimmt sich daraus die Lizenz zur Einführung von Gesamtpersonen.

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45.2.2 Nicolai Hartmann Die Ethik von Nicolai Hartmann 1867 bringt die von Scheler angeregte materiale Wertethik zur Reife. Das Buch hat drei Teile. Der erste (»Die Struktur des ethischen Phänomens«) und der dritte (»Das Problem der Willensfreiheit«) tragen wenig zu dieser Reife bei. Die Quintessenz des ersten Teils ist die Vollendung der von Scheler nur vorsichtig und fast verschämt1861 angedeuteten Inthronisation der Werte im platonischen Ideenhimmel. »Werte sind der Seinsweise nach platonische Ideen.« (121) »Die Werte selbst verschieben sich nicht in der Revolution des Ethos. Ihr Wesen ist überzeitlich, übergeschichtlich.« (49) »Werterkenntnis ist echte Seinserkenntnis. Sie steht in dieser Hinsicht durchaus in einer Linie mit jeder Art theoretischer Erkenntnis.« (149) Diese Hypostasierung scheitert, wie gerade (45.2.1) ausgeführt wurde, gleich der platonischen an der ReinScheler übernimmt die von Tönnies 1878 eingeführte, aber erst mit der 2. Auflage von dessen Buch 1912 gängig gewordene Antithese von Gemeinschaft und Gesellschaft, macht aber den Fehler, sie absolut (im Sinne von Verbandstypen) zu verstehen, während es sich nur um Beziehungen von Angehörigen zu ihrer Gruppe handeln kann, vgl. von mir: Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 18. 1867 Ich zitiere das Buch (zuerst 1926) nach der 3. Auflage, Berlin 1949, mit bloßen Seitenzahlen. 1866

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darstellung mit Selbstanwendung. Die vier sittlichen Grundwerte sind nach Hartmann: das Gute, das Edle, die Fülle und die Reinheit. Das Gute kann man sich nur als gut denken, das Edle nur als edel, zugleich aber als bar jedes Stoffes an besonderen guten oder edlen Handlungen, Gesinnungen, Menschen usw., da derart empirischer Vorrat ins Ideenreich keinen Zugang findet. Das Entsprechende gilt für Reinheit und Fülle. Der Reinheit mag solche Reinigung von Stoff bekommen, kaum aber der Fülle. Sie müsste, bar jeder Füllung mit empirischem Stoff, kahl und leer dastehen. Am Wert der Fülle zerbricht das ideale Wertreich ähnlich wie nach Aristoteles das platonische Ideenreich an der Idee des Gleichen.1858 Ein Einwand von ganz anderer, empirisch-historischer Art ist der von der Spätgeburt des Bösen, das zwar nicht als Wert, aber als dem Guten entgegenstehender Unwert gleicher idealer Zeitlosigkeit teilhaft sein müsste. 1868 Wir verstehen das Böse nicht als bloße Minderung des Guten, sondern als polares Gegenteil ohne quantitative Überführbarkeit in dieses, zweitens als absolute Eigenschaft: Etwas ist in sich böse, nicht erst durch die Beziehung auf etwas anderes (auch wenn das Böse seinem Inhalt nach eine Intention und insofern eine Beziehung sein kann). Das Böse in diesem doppelten Sinn kommt geschichtlich, außer in Religionen aus dem Iran (Mani, vielleicht Zarathustra), im menschlichen Wertbewusstsein erst seit dem späten 18. Jahrhundert (z. B. bei Kant) vor. Das kakn (kakon) und malum der Alten sowie der christlichen Theologen (Kirchenväter, Scholastiker) und des Vaterunsers erfüllt nicht die erste Bedingung, das christliche Sündenbewusstsein nicht die zweite, da der Sünder nicht in sich böse ist, sondern vor Gott, gemessen an dessen Forderung. Diese späte oder sporadische Entdeckung des Bösen kann man mit Hartmann durch Wandern des Wertblicks am idealen Sternenhimmel erklären, aber das ist Willkür. Die Willensfreiheit besteht nach Hartmann in der »Selbstbestimmung des Willens« angesichts der »Alternative, welche der Indeterminismus der Werte ihm offen lässt« (784), einer Determinante, die wir nicht kennen und auch nicht kennenlernen können (768), so dass die Frage nach ihrem Wesen unlösbar ist (791). Diese geheimnisvolle Determinante, der freie Wille, hat den Werten gegenüber die Kompetenz freier Wahl und Entscheidung, während er der Naturgesetzlichkeit bzw. dem Kausalgesetz, das diese Welt durchgehend determiniert (781), dadurch überlegen ist, dass er von 1868

Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 310 f.

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seinem Standpunkt in einer qualitativ höheren Schicht des Seins aus weitere Determination zu der kausalen hinzufügt. Als Zeugen für die Existenz von Willensfreiheit bietet Hartmann namentlich das Verantwortungs- und Schuldbewusstsein auf. Nun wäre dieses Zeugnis auf Merkmale zu befragen, die ihm gemäß für die Freiheit erforderlich sind, und anschließend wäre zu prüfen, ob diese Merkmale realisiert sind. Stattdessen setzt Hartmann, im Bann der ihm mit der analytischen Philosophie (43.4.1) und Husserl gemeinsamen Abneigung gegen genaue Definitionen, als bekannt voraus, was unter Freiheit zu verstehen ist, mit der Folge, dass er ebenso wie Kant und viele andere in der Alternative von Determinismus und Indeterminismus stecken bleibt. Ich habe unter 35.3.4 zur Antithese der 3. Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft darauf hingewiesen, dass Determinismus ebenso wie Indeterminismus die zu sittlicher Verantwortung gehörige Freiheit vereiteln. Gefordert wird nämlich unabhängige Initiative; der Determinismus vereitelt die Unabhängigkeit durch Fremdbestimmung, der Indeterminismus aber die Initiative, weil niemand das bewirken kann, was von nichts bewirkt ist. 1869 Die geheimnisvolle Determinante in der Person, die Hartmann als freien Willen bezeichnet, ist schutzlos diesem Dilemma ausgesetzt. Daher nützt es nichts, dass er sie durch eine höherstufige Determinationsweise der Unterwerfung unter die kausale Naturgesetzlichkeit entziehen will. Er scheint sich das Reich dieser Gesetzlichkeit als eine weiche Masse vorzustellen, der durch zusätzliche Determinanten ohne weiteres Bahnänderungen abgewonnen werden können, sei es durch göttliche Wunder, Telepathie und Telekinese, Determinationskraft des freien Willens oder auch nur (was er selbst geltend macht) des Lebens. Wie passt das aber zu der angeblich durchgehenden Determination der Welt durch die kausale Naturgesetzlichkeit? Zumal nach Hartmann (669) nur in einer durchgehend kausal determinierten Welt ein »Finalnexus«, eine planmäßige Verknüpfung von Mitteln zu Zwecken, möglich ist. Wie soll sich der Planende auf eine durchgehende kausale Determination verlassen können, wenn er mit Eingriffen übergeordneter Determinanten wie des freien Willens, des Lebens oder des wundertätigen Gottes zu tun hat? Hartmanns Behandlung der Willensfreiheit ist ein Schlag ins Wasser.

1869 Für meine eigene Lösung des Freiheitsproblems vergleiche mein Buch Freiheit, Freiburg/München 2007.

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Seinen bleibenden philosophischen Wert verdankt das Buch dem glücklicherweise längsten mittleren Teil Das Reich der ethischen Werte (S. 250–620). Hier endlich trägt die Aufforderung zur Wesensschau (45.1.6) reiche Früchte in Gestalt vielseitiger, sensibler und scharfsinniger Versenkung des Wertfühlens in typische vielsagende Eindrücke (impressive Situationen). Dass sie im Zeichen eines platonistischen Wertverständnisses unternommen wird, schadet wenig. Werte sind Reflexe der Autorität von Atmosphären, die Gefühle und in Situationen eingebunden sind, auf diese Situationen und/oder die Sachen, die aus deren Bedeutsamkeit hervortreten, in so weitem Sinn des Wortes »Sachen«, dass z. B. Dinge, Personen, Handlungen und Unterlassungen, Sachverhalte und Programme gemeint sind. Solche Werte können auch ohne die Ewigkeit platonischer Ideen stabil sein, wenn die sie einbindenden Situationen zuständlich sind, so dass sich ihr Verlauf höchstens in längeren zeitlichen Abständen verfolgen lässt. Auf Werte in diesem empirischeren Sinn lässt sich glatt übertragen, was Hartmann seinen platonischen Werten nachsagt. Zwei grundsätzliche, die ganze Ausdehnung des Wertreiches betreffende Ergebnisse der Wertschau Hartmanns verdienen an erster Stelle, festgehalten zu werden. Sie widerlegen die Illusion einer einfachen linearen Rangordnung der Werte, der noch Scheler verfallen war. Das zeigt Hartmann erstens am Konflikt zwischen Werthöhe und Wertstärke, zweitens am Bedarf der Wertsynthese konträrer Werte. 1. »Aber die Verschiedenheit der Stärke ist nicht die der Höhe. Eher ließe sich behaupten, die beiden Arten der Abstufung seien einander entgegengesetzt: die höheren Werte seien gerade die schwächeren, die niederen aber die stärkeren. (…) davon kann man sich leicht überzeugen. Die Versündigung am niederen Wert ist im allgemeinen schwerer als die am höheren; die Erfüllung des höheren Wertes aber ist moralisch wertvoller als die des niederen. Der Mord gilt als schwerstes Verbrechen, aber die Respektierung fremden Lebens ist deswegen nicht der höchste moralische Habitus – nicht zu vergleichen mit Freundschaft, Liebe, Vertrauenswürdigkeit. Das Eigentum ist ein unvergleichlich niedrigerer Wert als persönliches Wohlwollen, aber die Verletzung des Eigentums (Diebstahl) ist nichtsdestoweniger um vieles verwerflicher als bloßes Übelwollen. Versündigung gegen niedere Werte ist schimpflich, ehrenrührig, empörend, aber ihre Erfüllung erreicht nur eben das Niveau des Anständigen, ohne sich darüber zu erheben. Die Verletzung höherer Werte dagegen hat wohl den Charakter moralischer Verfehlung, aber nichts 717

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direkt Entwürdigendes, während die Realisation dieser Werte etwas Erhebendes, Befreiendes, ja Begeisterndes haben kann.« (277, breiter ausgeführt 600–609). 2. Hier geht Hartmann aus von der aristotelischen Charakteristik der ethischen Tugenden als (intuitiven Treffens bedürftige, nicht schematisch berechenbare) Mitten zwischen zwei Lastern von Übermaß und Mangel; so steht etwa Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Mäßigung zwischen Zügellosigkeit und Stumpfheit, Freigiebigkeit zwischen Verschwendung und Geiz, berechtigter Stolz auf eigenes großes Format (die Krone aller Tugenden nach Aristoteles) zwischen Aufschneiderei und kleinmütiger Selbstverkleinerung. Hartmann weist darauf hin, dass hinter dem Verhältnis der Tugend zu zwei Lastern das spannungsvolle Verhältnis der Tugend zu zwei den Lastern entsprechenden, einander konträren Werten steht, die für sich noch keine Tugend sind, es aber durch ihre abgewogene Synthese werden. So ist die Freigiebigkeit Mitte nicht nur zwischen Verschwendung und Geiz, sondern auch zwischen Unverkrampftheit des Besitzens und Sparsamkeit, Mäßigung Mitte zwischen den Werten der Sinnenfreude und der Wachsamkeit auf sich, Tapferkeit zwischen den Werten des Wagemutes und der Vorsicht. Gemäß diesem Doppelgegensatz eines Wert- und eines Lasterpaares kann man für jede ethische Tugend ein Wertequadrat mit zwei Werten an den oberen, zwei Lastern an den unteren Ecken und der Tugend irgendwo zwischen den beiden oberen Ecken zeichnen, wobei die seitlichen Ränder den qualitativen Gegensatz zwischen dem Wert und dem entsprechenden Laster darstellen, die Diagonalen aber den konträren Gegensatz, z. B. zwischen Sinnenfreude und Stumpfheit, Wachsamkeit auf sich und Zügellosigkeit. (568–571) Hartmann erweitert diese Konstruktion zu einem Postulat der Wertsynthese im Gebiet der höheren sittlichen Werte, die nach seiner Meinung vielfach in ebenso spannungsvollem Gegensatz zu einander stehen wie die in einer aristotelischen Tugend integrierten Werte; als Beispiele nennt er Reinheit und Fülle, Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Die einseitige Kultur eines noch so hohen Einzelwertes führt nach seiner Überzeugung zu einer »Tyrannei der Werte«; daher sei ein Ausgleich durch Wertsynthese erforderlich, mit dem letzten Ziel des Zugangs zu einem höchsten, alle sittlichen Werte integrierenden Wert, aber ohne Aussicht für das Wertgefühl, dieses Ziel auch erreichen zu können. (572–580) Ein besonderes Verdienst des 2. Teils von Ethik ist die gewissenhafte Herausarbeitung der Gegensätze unter den Werten, so der all718

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gemeinsten Wertgegensätze (294–334) oder der teleologischen Vertikaltendenz des Guten (zur Werterhöhung) im Gegensatz zum Breitenstreben der Fülle (405 f.), erst recht zwischen Reinheit und Fülle, vor deren Synthese das Wertgefühl nach Hartmann die Waffen streckt (583), während sie mir nicht allzu schwierig scheint: als unbeschränkte Aufgeschlossenheit (Fülle) der Bereitschaft, vor nichts zurückzuschrecken, was sich nach Maßgabe des Gefühls vor dem kritisch prüfenden Gewissen als das jeweils Gebotene erweist und in diesem Durchgang von Ungehörigem gereinigt ist; damit wären auch Tapferkeit, Gerechtigkeit und Liebe eingebunden. Diese Bemerkung möge andeuten, dass Hartmanns Beobachtungen an Werten nicht nur durch Ergebnisse Beachtung verdienen, sondern auch als Anregungen zur Auseinandersetzung. Das Edle rückt er mir etwas zu einseitig in die Nähe Schillers, wie Goethe diesen zeichnet, 1870 aber Schiller hat nicht genug von der leiblichen Komponente, der Haltung, des Edlen, s. o. 45.2.1. Die Gerechtigkeit unterschätzt Hartmann, indem er sie zu schematisch als den niedersten sittlichen Wert sieht, und korrigiert diese Unterschätzung, indem er schreibt: »Der Vornehme schafft um sich herum eine feste Sphäre der Distanz, die nicht nur den Zudringlichen abwehrt, sondern auch die fremde Person vor zu weitgehender Preisgabe bewahrt. Er stellt die gleiche Forderung für sich wie für den Anderen – eine Art Gerechtigkeit der intimsten Gefühlsbeziehungen.« (479) Interessant und mutig ist Hartmanns Versuch einer Klassifizierung der Liebesarten unter Wertgesichtspunkten; ich habe mich ausführlich damit auseinandergesetzt. 1871 Er unterscheidet Nächstenliebe (in einem freilich nicht ganz urchristlichen Sinn 1872 ), Fernstenliebe (die Nietzsche der Nächstenliebe entgegensetzte), schenkende Tugend (gleichfalls nach Nietzsche) und persönliche Liebe. Die ersten drei Klassen, die Hartmann sehr hoch stellt – die zweite und dritte über die erste –, haben eine Spur des Anrüchigen, die dazu verleiten könnte, das Wort »Tugend« in Anführungszeichen zu setzen. Der Nächstenliebe fehlt das Organ dafür, was man dem Nächsten antut, wenn man ihm nahe tritt, die zuvor erwähnte Gerechtigkeit des Vornehmen, mit der sie eine Wertsynthese eingehen müsste. Die Fernstenliebe setzt das Gegenwärtige Epilog zu Schillers Glocke, 4. Stanze. Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 213–218. 1872 Die Liebe nach Paulus, 1. Korinther 13, ist gegen S. 452 nicht Nächstenliebe, sondern das enthusiastische Hochgefühl der Solidarität des Gemeindelebens. 1870 1871

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für Gedankenexperimente mit sogenannten Visionen aufs Spiel, bis hin zu den Auswüchsen des Stalin- und Mao-Kommunismus; ihr stichhaltiger Kern ist die diachrone Verantwortung über Generationen hinweg, die der nur am gegenwärtig Bedürftigen orientierten Nächstenliebe abgeht. Schenkende Tugend mag ihren Wert haben als unadressierte allgemeine Liebeskraft wie die mystische Liebe nach Bergson (44.1) oder die nirgends eingeengte von Goethes Natalie, 1873 aber sie steht im Verdacht, den Beschenkten zu mediatisieren, indem sie ihn als Empfänger braucht oder mit pädagogischem Eros zu sich heranzieht. Wichtig und treffend sind dagegen Hartmanns Ausführungen über persönliche Liebe; da ist kein falscher Ton. Mit solcher Themenwahl und feinsinnigen Überlegungen dazu erschließt Hartmann der Philosophie nicht nur ein neues Feld, sondern auch einen neuen Stil, der näher an mein Ideal begreifender Sensibilität mit scharfen, aber geschmeidigen Begriffen heranführt als das formale, schematische oder spitzfindige, vornehmlich an der Schärfung abstrakter Argumente interessierte Umwenden der Gedanken, das heute z. B. der analytischen Philosophie als »good philosophy and scholarship, regardless of topic or figure«1772 nachgerühmt wird. Deswegen sollte Ethik weiterhin beachtet werden. 1874 Wilhelm Meisters Lehrjahre, 8. Buch, 4. Kapitel, am Ende: »Ja, mein Freund! sagte sie lächelnd, mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit, es ist vielleicht nicht außer der Zeit, wenn ich Ihnen sage, dass alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen erschienen sei. Sie haben nicht geliebt? rief Wilhelm aus. Nie oder immer! versetzte Natalie.« 1874 Nicolai Hartmann hat außer Ethik ein weiteres bedeutendes Buch verfasst: Das Problem des geistigen Seins, 1932, 2. Auflage 1949. (Im Vorwort nennt er Mitglieder eines Gesprächskreises, die ihn so angeregt hätten, dass sie als Mitverfasser gelten könnten.) Die Darlegungen Hegels über objektiven und absoluten Geist in Grundlinien der Philosophie des Rechts und Encyclopädie werden durch das Buch glatt überholt. Es könnte mich reizen, seinen Inhalt mit meinen Begriffen der Person und persönlichen Situation, der gemeinsamen zuständlichen Situationen und ihrer Explikation zu reinterpretieren. Hartmanns Beiträge zur Erkenntnistheorie und Ontologie stehen dahinter zurück. Eine gute Beschreibung und Würdigung gibt Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Band I, 4. Auflage Stuttgart 1969, S. 245–287. Hartmann treibt den Singularismus ins Extrem, als ob die Dinge von sich aus als einzelne nur so herumlägen, und baut darauf seinen Respekt vor ihrem Ansichsein. Er ist dem Psychologismus und der Introjektion der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung verfallen, mit kuriosen Folgen namentlich in seiner Erkenntnistheorie (treffend kritisiert schon von Heidegger, Sein und Zeit, § 13). Subjektivität im strikten Sinn (36.1) ist ihm fremd, sogar als rezessiv entfremdete (36.2), die Nietzsche und Wittgenstein bewegte, von Husserl teilweise genützt wurde.

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45.3 Heidegger

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45.3.1 Die rezessive Entfremdung der Subjektivität Subjektivität, wie ich sie verstehe, ist das Der-sein-der-er-ist für einen jeden, d. h. der Bereich möglicher Antworten auf die Frage: Wer bin ich? Jeder Nachdenkliche ist ihr offen, und Philosophen haben sie unablässig erörtert, aber fast nur in der Verschiebung, die Kant in die Form gebracht hat: »Was ist der Mensch?« Dann wird nach objektiven (neutralen) Tatsachen gefahndet, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann; die gewöhnliche Antwort findet den Menschen mit einer privaten Innenwelt im Milieu der objektiven Tatsachen ab. Fichte war der erste, der bemerkte, dass dort kein Grund zu finden ist, der den Schluss erlauben könnte, dass es sich bei etwas um mich und für jeden anderen um ihn selbst handelt, und spottete deshalb über Aenesidemus-Schulze, der die objektive Gewissheit z. B. eines Gottesbeweises – auch Gott wäre so ein anderer – für vorzüglicher hielt als die (vermeintlich »bloß«) subjektive.1295 Gewissheit ist hier als ersichtlicher Rechtsgrund für eine Annahme zu verstehen; statt von Gewissheit hätte Fichte also besser von Tatsächlichkeit gesprochen, da in der Tat die für jemand subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins, die höchstens er aussagen kann, den gesuchten Rechtsgrund für die Annahme liefern, dass es sich bei etwas um ihn selber handelt (36.3; 45.1.3.1). Leider konnte sich aber auch Fichte nicht von dem Vorurteil frei machen, dass alle Tatsachen objektiv oder neutral sind, und gab daher den Anstoß zu der seither virulenten rezessiven Entfremdung der Subjektivität, ihrer Ausstoßung aus der Welt (43.2.1) in ein Niemandsland des potentiell souveränen, aber labilen oder haltlosen Schwebens über oder zwischen den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen. Aber trotz dieser sofortigen Verstellung seiner mehr geahnten als klar durchdachten Entdeckung hat Fichte die menschliche Selbstbesinnung einen großen Schritt vorwärts gebracht. Er hat deutlich gemacht, dass Subjektivität zureichend nicht als eine nur positionale charakterisiert werden kann, d. h. durch eine ausgezeichnete Position in einem Geflecht von Beziehungen, sondern erst ihrer Eigenart nach, unabhängig von den objektiven TatsaDas Schichtensystem scheitert an der Verkennung des Leibes und der Ambivalenz der Person, s. 45.1.1, 45.1.3.1 und Der Spielraum der Gegenwart S. 84–136.

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chen der Stellung eines Subjekts in oder über der Welt. Meiner Auffassung nach handelt es sich dabei um eine eigene Tatsächlichkeit, die subjektive der Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Den Unterschied zwischen Tatsächlichkeit und Sein hat zuerst, aber nur flüchtig, Aristoteles gemacht; 1875 später hat man sich darüber hinweggesetzt und der Tatsächlichkeit das Sein unterschoben. Daraufhin kann man Fichtes Leistung auch so beschreiben, dass er zuerst das Bedürfnis kenntlich gemacht hat, die Subjektivität eines Subjektes oder Bewussthabers durch eine eigentümliche Seinsweise zu bestimmen. Dieser Aufgabe hat sich Heidegger 1876 in seiner produktivsten Phase mit Nachdruck und Abwehr bloß positional (von Zeitgenossen wie Rickert und Husserl) verstandener Subjektivität angenommen (s. u. 45.3.6.3) und damit die von Fichte aufgedeckte strikte Subjektivität Analytica Posteriora 89b 23–35, anhand der Unterscheidung zweier ob-Fragen mit e§ (ei) und pteron (poteron); im Deutschen fehlt Entspechendes. 1876 Ich zitiere Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit mit bloßen Seitenzahlen nach der 4. Auflage Halle a. d. Saale 1941 (noch mit dem später weggelassenen Zusatz »Erste Hälfte« im Titel; die Paginierung stimmt in allen Auflagen überein.) Im Übrigen zitiere ich nach der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff., mit Band- und nach Komma folgender Seitenzahl; wenn mehrere Seitenzahlen folgen, sind sie durch Punkte getrennt. Die herangezogenen Bände sind: 1: Frühe Schriften 3: Kant und das Problem der Metaphysik (1929) 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 9: Wegmarken (1919–1961) 15: Seminare 17: Einführung in die phänomenologische Forschung (1923/24) 20: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925) 21: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (1925/26) 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927) 25: Phänomenologische Interpretationen zu Kants Kritik der reinen Vernunft (1927/28) 26: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928) 27: Einleitung in die Philosophie (1928/29) 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1930) 32: Hegels Phänomenologie des Geistes (1930/31) 33: Aristoteles Metaphysik Q 1–3 (1931) 34: Vom Wesen der Wahrheit (1931/32) 39: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (1934/35) 45: Grundfragen der Philosophie (1937/38) 49: Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Schelling) (1941) 50: Nietzsches Metaphysik (1941/42) Einleitung in die Philosophie (1944/45) 54: Parmenides (1942/43) 55: Heraklit (1943 und 1944) 56/57: Zur Bestimmung der Philosophie (1919) 58: Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20) 59: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (1920) 60: Einleitung in die Phänomenologie der Religion (1920/21) 61: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (1921/22) 63: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (1923) 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) 77: Feldweg-Gespräche 79: Bremer und Freiburger Vorträge. Die Bände 17–63 enthalten Vorlesungstexte; die Jahreszahlen geben dazu das Vortragssemester an. Weitere Veröffentlichungen von Martin Heidegger zitiere ich mit bibliographischer Angabe in der Anm. Auf mein Buch Husserl und Heidegger (Bonn 1996, darin S. 173–547 über Heidegger, S. 548–568 über Husserl und Heidegger im Vergleich) beziehe ich mich mit dem Kurzzeichen »HH«.

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(Heidegger: »Jemeinigkeit«) gegen die bloß positionale aggressiv verteidigt. Als strikt bezeichne ich Subjektivität, wenn sie nicht bloß durch eine Sonderstellung in einem System objektiver Tatsachen, sondern durch eine besondere Tatsächlichkeit oder Seinsweise gekennzeichnet wird. Aber auch Heidegger ist über die rezessive Entfremdung der von ihm anvisierten strikten Subjektivität, im Grunde also über Fichte, nicht hinausgekommen, wohl aber über alle, die wie Descartes, Kant und Husserl bei positionaler Subjektivität stehen geblieben waren. Diese Hängelage hat seinen Denkweg nachhaltig bestimmt, auch noch, als er sie los werden wollte, indem er die Subjektivität zur bloß positionalen verkürzte und in dieser verstümmelten Gestalt gänzlich verwarf, eben damit aber selbst aus der strikten Subjektivität in die positionale zurückfiel (s. u. 45.3.3). Diese Bestimmung seines Denkweges werde ich im Folgenden nachzeichnen. Eine einzige, aber schnell verpasste Chance hat es für Heidegger gegeben, die strikte Subjektivität auch ohne rezessive Entfremdung in den Blick zu bekommen. Nach dem Ende des Weltkrieges hielt er 1919 und im Winter 1919/20 drei Vorlesungen ab, in denen, noch in untechnischer Ausdrucksweise, strikte Subjektivität rein aufscheint (HH 187–196). Ich greife einige charakteristische Formulierungen heraus: Das Bedeutsame ist primär, ohne gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen; mein Ich geht voll aus sich heraus, schwingt mit im Hinleben zu (56/57, 73). Das Ich ist in der schlichten Hinschau nicht zu sehen, aber das Erlebnis ist irgendwie mein Erlebnis (56/57, 69). Energisch wendet sich der junge Heidegger gegen die »starre Ichsubstruktion« und das reine Ich nach Husserl und Reinach (58, 189.243.247). Stattdessen: »Keine Introjektion!« (58, 96). Das Erfahrene spricht an im Charakter des Vertrautseins mit mir in einem Sinn von »mir«, der nur »Hinweis auf eine unabgehobene Abgehobenheit« sein soll (58, 96) »Unser faktisches Leben ist unsere Welt – wir begegnen immer irgendwie, sind dabei ›gefesselt‹, abgestoßen, entzückt, angewidert und die Kenntnisnahmen sind irgendwie bedeutungsbetont« (58, 96). Um dies zu würdigen, ist zu bedenken, dass die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins nichts von privater Innerlichkeit implizieren, sondern alles betreffen, woran jemand irgendwie (z. B. mit bejahender oder verneinender Stellungnahme) »hängt«, und subjektiv nur sind durch ihr Tatsache-sein für einen Bewussthaber, der durchaus kein einzelnes Subjekt zu sein braucht, gleich dem reinen Ich einer »starren Ichsubstruktion«, wohl aber identisch sein muss, nicht unbedingt identisch mit etwas, son723

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Phnomenologie

dern nur so, dass er er selbst ist; dafür aber sorgt schon die Empfänglichkeit für die primitive Gegenwart, den Schreck, das plötzliche Zerreißen der Dauer. Diese strikte Subjektivität des affektiven Betroffenseins in ursprünglicher Gestalt als Selbstbewusstsein vor aller Selbstzuschreibung (und Voraussetzung für diese, s. o. 45.1.3.1) leitet den Blick des jungen Heidegger 1919 und im folgenden Winter als affektive Weltbindung diesseits aller Neutralisierung der subjektiven Tatsachen hin zu bloßer Sachlichkeit, und wie wichtig ihm diese Alternative ist, zeigt die dramatische Geste seiner Botschaft: »Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben und Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: entweder ins Nichts, d. h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine andere Welt, oder genauer: überhaupt erst in die Welt.« (56/57, 63) Diese fruchtbaren Keime einer lebens- und wirklichkeitsnahen Phänomenologie der Subjektivität ersticken in einer Verdüsterung der Lebensphilosophie, die bei Heidegger plötzlich einsetzt und in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1920 (Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks) schon ausgeprägt ist. Nun heißt es: Die Bekümmerung des Selbst ist eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung (59, 173), denn ein ursprünglicher Charakter der faktischen Lebenserfahrung ist das Verblassen der Bedeutsamkeit mit Übergang der Erfahrung in Nichtursprünglichkeit, des Vollzugs in Unechtheit (59, 182). Die Bedeutsamkeit verblasst in die umweltliche Schicht des sekundär Mitgeführten (59, 84). Bei Hingabe an Kulturaufgaben wird die Selbstwelt beruhigt an die Seite gestellt. Aber die Aufgabe des Vollzugs bleibt, und die Bekümmerung ist immer auf dem Wege, abzufallen und sich dafür auch noch zu rechtfertigen (59, 173). Der Mensch kann da sein, ohne zu existieren. Sofern er existiert, wird alles, was mit da ist, zugespitzt in Richtung auf die Selbstwelt (59, 82). Dazu ist die Philosophie da, die nicht nachfragen will, sondern nachsorgt, und zwar durch Destruktion (»die Sorge steigern und konzentrieren auf Existenz hin«) und Diiudication (»Grunderfahrung auslösen, Entscheidungssorge, ›Verzweiflung‹.«) (59, 131) Verzweiflung angesichts der »zersetzenden und depravierenden Verblassung«, die »die faktische Lebenserfahrung in ihrer Ursprünglichkeit gefährdet« (59, 183). Das Eigentliche, worauf es ankommt, ist das Absetzen als die und mit der Destruktion (59, 184). Heidegger geht den Weg zur rezessiven Entfremdung der Sub724

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jektivität im Sichabsetzen von der in Zerstreuung und Verblassung abgleitenden faktischen Lebenserfahrung – er spricht von »Abfall« (59, 84) – in das Eigentliche und Ursprüngliche durch Zuspitzung der Existenz auf die Selbstwelt. Von der rezessiven Entfremdung der Subjektivität durch Auszug aus dem Milieu der objektiven Tatsachen habe ich die Entfremdung im Sinne von Marx, die gerade umgekehrt in Auslieferung des Subjektiven an objektive Mächte mit Bedürfnis und Chance der Wiederaneignung besteht, als die transportative unterschieden, 1877 doch möchte ich jetzt lieber von projektiver Entfremdung sprechen, sowohl, weil damit der Zusammenhang mit dem Projektionismus z. B. Nietzsches (s. o. 42.1) angedeutet wird, als auch, weil die Antithese zu »rezessiv« besser markiert wird. Man kann also sagen, dass der junge Heidegger ab Sommer 1920 die rezessive Entfremdung der Subjektivität aus der Gegenbewegung gegen ihre projektive Entfremdung durch die faktische Lebenserfahrung gewinnt. Dafür schafft er sich in der Vorlesung des Wintersemesters 1921/22 ein Begriffsnetz mit eigenwilliger Terminologie. Ruinanz ist die Bewegtheit des faktischen Lebens, die es in ihm selbst aus sich hinaus gegen sich selbst vollzieht (61, 131), indem es sich mit dem »Sturzcharakter der Larvanz« in der Besorgnis gleichsam selbst zudeckt (61, 136); Larvanz ist die Maskierung, in der sich das Leben begegnet, indem es sich gegen sich selbst abriegelt, sich aber nicht los wird (61, 107), und dieselbe projektive Entfremdung heißt auch Reluzenz, Rückschein: »Das Leben, das sich in seine Welt sorgend ausgibt, bietet sich ihm selbst welthaft in der Gestalt und im Seinssinn seiner Welt an.« (61, 119) Die »Geneigtheit drängt das Leben an seine Welt, hält es daran fest.« (61, 100) Der »Abstand, der Neigung mitermöglicht, wird von ihr gerade mitgerissen.« (61, 103) Die Tendenz auf Aneignung dessen, was das Leben sich im Abstand vorhält – auf Rücknahme der projektiven Entfremdung – geht verloren (61, 106); daraus entsteht die Darbung: »dass im faktischen Leben ihm selbst ständig etwas fehlt, und zwar so, dass zugleich mitfehlt die Bestimmung, was es eigentlich ist, das fehlt.« (61, 155) Wie tief die Kluft zwischen dieser Lebensphilosophie entfremdeter Subjektivität von 1921 und der unentfremdeten von 1919/20 ist, wird deutlich an der Beurteilung der Selbstgenügsamkeit des Lebens: Im Winter 1919/20 gilt sie als die Motivationsrichtung des Lebens, dass es nicht aus sich Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 76–79.

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Phnomenologie

herauszugehen braucht, um seine genuinen Tendenzen zur Entfaltung zu bringen (58, 42), und Existenz als die volle konkrete Einheit des Erfahrens von Bedeutsamkeiten, geöffnete Situation (58, 82); im Winter 1921/22 wird die »Selbstgenügsamkeit des Lebens« zum »Wie des Sorgens im sich zerstreuenden, von seiner Welt mitgezogenen Leben.« (61, 102) Der Zwiespalt der Subjektivität zwischen projektiver und rezessiver Entfremdung ist auch das Leitmotiv der von Heidegger 1919– 1921 ausgearbeiteten Kritik an dem Buch von Jaspers Psychologie der Weltanschauungen; sie richtet sich, wie ich gezeigt habe (HH 176, 183–186), eher gegen Husserl als gegen Jaspers. Existenz – das von Jaspers übernommene Leitwort – wird verstanden als »der Seinssinn, der in ›ich bin‹ liegt« (9, 10); er ist nicht aus dem »irgendwie objektivierenden ›ist‹ gewinnbar (…), sondern aus der Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst« (9, 30). 1878 Diese ist in der faktischen Lebenserfahrung zwar enthalten (9, 32), doch hat diese die »Tendenz zum Abfall in die ›objektiven‹ Bedeutsamkeiten der erfahrenen Umwelt«, so dass die Grunderfahrung durch Destruktion, speziell Destruktion der »Belastung des Lebens durch die Tradition«, aus ihr erst freigelegt werden muss (9, 34). Hiermit ist klar, dass Existenz als strikte, aber der Bergung aus projektiver Entfremdung durch destruktives Eingreifen in die faktische Lebenserfahrung bedürftige Subjektivität verstanden wird; dafür, dass diese strikte Subjektivität zugleich eine rezessiv entfremdete ist, findet Heidegger hier eine besonders treffende Formulierung, indem er »die spezifische Regionsund Sachgebietsfremdheit des ›ich‹« hervorhebt, der gemäß »jede versuchte regionale Bestimmung – eine solche also, die einem Vorgriff entspringt auf so etwas wie Bewusstseinsstrom, Erlebniszusammenhang – den Sinn des ›bin‹ ›verlöscht‹ und das ›ich‹ zu einem einstellungsmäßig feststellbaren und einzuordnenden Objekt macht.« (9, 29 f.) Das zielt natürlich auf Husserl. »Regions- und Sachgebietsfremdheit« ist ein vorzüglich passender Name für die Ausweisung der strikten Subjektivität aus der Welt der objektiven als vermeintlich aller Tatsachen, so dass für sie kein Tatsachengehalt übrigbleibt. Heidegger hat diese Auffassung der strikten Subjektivität zwischen projektiver und rezessiver Entfremdung im Herbst 1922 in Heidegger übersetzt 1921 »cura« mit »Bekümmerung« (Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 201); es handelt sich also um das, was er später (und auch damals) »Sorge« nennt.

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einer für zwei Professoren (Natorp und Misch) werbend verfassten, erst 1989 gedruckten Einleitung zu einem geplanten Buch über Aristoteles niedergelegt. 1879 »Grundcharakter der Sorgensbewegtheit« ist die »Grundtendenz des Lebens zum Abfallen von sich selbst und damit zum Verfallen an die Welt und hiermit zum Zerfall seiner selbst. (…) Dieser Hang ist das innerste Verhängnis, an dem das Leben faktisch trägt.« (242 [9]) Das »Sein des Lebens an ihm selbst«, die »Existenz«, ist nur »über die Gegenbewegung gegen das verfallende Sorgen« durch ein »Gegen« oder »Nicht« erreichbar. »Hinsichtlich ihres seinskonstitutiven Sinnes hat die Negation den ursprünglichen Primat vor der Position.« (245 [13 f.]) Diese Negation ist der Tod. »Im zugreifenden Haben des gewissen Todes wird das Leben an ihm selbst sichtbar.« (244 [12]) Erst als Leben aus dem Tod und auf ihn hin befreit sich das Leben aus dem Verfallen an die Welt. Dieses radikalen Heilmittels bedarf Heidegger, weil dieses Verfallen als bloßes Verhängnis ausgegeben wird, wie ein dumpfer Fluch, der über dem Leben waltet und es in den Abgrund drückt. Jede verständliche Motivierung eines Zusammenhangs zwischen dem Leben, wie es eigentlich (als Existenz) ist, und seinem Abfall von sich selbst unterbleibt. Daher kann auch die Befreiung nur von einer unvermittelten Gegenmacht des Lebens, vom Tode, kommen.

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45.3.2 Die existenziale Analytik Auf dem Niveau der Aristoteles-Einleitung von 1922 stellt sich für Heidegger die dort völlig ungelöste Aufgabe, einen verständlichen Zusammenhang herzustellen zwischen der Grunderfahrung der Existenz im Sinne der Jaspers-Rezension und dem Abfall des Lebens von sich selbst an die Welt. Wie kann es zu diesem Bruch kommen, zu dieser übermächtigen Gegentendenz gegen die Grunderfahrung? Diese Frage beantwortet Heidegger, indem er seine Lebensphilosophie in Ontologie übersetzt; dazu verhilft ihm seine gründliche Ausbildung in scholastischer Philosophie. Für die strikte, rezessiv entMartin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hg. v. H.-U. Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch 6, 1989, S. 237–269. In der Quellenangabe nenne ich zuerst die Seitenzahlen dieser Ausgabe und danach in eckigen Klammern die der Paginierung in Heideggers Manuskript. Vgl. HH 206–212.

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Phnomenologie

fremdete Subjektivität hatte Kierkegaard den Ausdruck »Existenz« geprägt, Jaspers ihn weitergegeben; Heidegger brauchte nur auf die scholastischen Spekulationen über Essenz und Existenz zurückzugehen, um den Anschluss an die Ontologie zu erreichen. Er fand das Nötige in der Lehre von der distinctio realis, der realen Verschiedenheit der essentia (was etwas ist) von der existentia (dass es ist) in allen endlichen (von Gott geschaffenen) existierenden Substanzen. Diese Lehre wird von Thomas von Aquino (der nur noch nicht das Wort »existentia« verwendet) und den Thomisten des späten Mittelalters (Johannes Capreolus, Silvester von Ferrara, Thomas de Vio Cajetanus 1880 ) vertreten, von anderen prominenten Scholastikern (Heinrich von Gent, Duns Scotus und die Scotisten, Suarez) aber bekämpft. Heidegger hält es mit den Thomisten, führt die Realdistinktion aber einen entscheidenden Schritt weiter zur existenzialen Analytik. Für die Thomisten sind Essenz und Existenz zwar real verschieden, gehören aber bruchlos zusammen. Heidegger zerdehnt in dem von ihm sogenannten Dasein, d. h. dem Seienden, das ich je selbst bin (114, 313), diesen Zusammenhang, indem er die Essenz als bloße Möglichkeit von der Existenz abspreizt: »Dasein ist je seine Möglichkeit und es ›hat‹ sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.« (42, ebenso 143, 144, 145 und 181) Hinter ihnen bleibt das Dasein als pures »dass es ist« zurück, dessen Woher und Wohin verhüllt sind (134). »Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst umso unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ›Dass es ist‹« bezeichnet Heidegger als die »Geworfenheit dieses Seienden in sein Da« (135), in der Weise, dass ihm »das Dass seines Da (…) in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt« (136). Diese Rätselhaftigkeit ergibt sich aus der Entkleidung der Existenz durch Abspreizung des Was in bloße Möglichkeit; das Dasein weiß, zurückgeworfen auf seine von keiner Essenz mehr aufgefüllte Existenz, nicht mehr, was mit ihm los ist, woher und wohin. Wenn ihm auch die Welt, in der es ist, keine Anhaltspunkte durch eine Bedeutsamkeit für es mehr gibt, wird das vom Was entkleidete Dasein in der Angst »das nackte ›Dass‹ im Nichts der Welt« (276 f.). Statt sich an mitgegebenem wirklichem Sosein sättigen zu können, ist dieses ihm auferlegt als die Last (»Lastcharakter des Daseins« 134, 135), die es (erst noch) zu sein hat; so wird das pure »dass es ist« zum »Dass es ist und zu sein hat« (134) und die Geworfenheit zur »Fak1880

Heidegger erwähnt in Sein und Zeit, S. 93 rühmend seine Opuscula.

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tizität der Überantwortung« (135). Das Dasein ist der Atlas seiner Möglichkeiten, als die, was es ist, von ihm abgespreizt und ihm aufgeladen ist. Die vollkommen neue Konzeption eines Seienden, das ein auf sein Was gespanntes Dass ist, wird von Heidegger mit vielen schockierenden Formulierungen ausgeleuchtet. Das Dasein ist »das Unterwegs seiner selbst zu ihm« (63, 17), »je schon sein Noch-nicht« (243) und in diesem Sinne sich vorweg (»Sich-vorweg-sein des Daseins« 192), »es ›ist‹ überhaupt noch nicht ›wirklich‹« (243) und »muss als es selbst, was es noch nicht ist, werden, d. h. sein« (ebd.), d. h. eben das sein, was es noch nicht ist, sondern erst wird. Aber sogar dieses Werden ist ihm in Ambivalenz entzogen: »(…) es ist, was es wird bzw. nicht wird« (145). Das heißt: Was es in der Weise ist, dies noch nicht zu sein, sondern erst zu werden, ist nicht ein bestimmtes Sein, das es wirklich wird, sondern nur die offene, ambivalente Möglichkeit, dies zu werden oder nicht zu werden; die eindeutige Aussicht auf Wirklichkeit bleibt der Möglichkeit, die das Dasein ist, ebenso entzogen wie dem Tantalus die Frucht. »Auf dem Grunde dieser Seinsart (…) ist das Dasein ständig ›mehr‹ als es tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als Vorhandenes in seinem Seinsbestand registrieren. (…) Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie weniger, d. h. das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial.« (145) Die Unmöglichkeit, das Dasein in seinem Seinsbestand zu registrieren, hat schwerwiegende Folgen. Das Dasein kann nie zu einem Zeitpunkt zwischen Geburt und Tod, wo jene nicht mehr und dieser noch nicht ist, angetroffen werden, sondern beide hängen zusammen als das »Zwischen«, das das Dasein selbst ist (374); dies ist seine »Erstreckung«, das »Geschehen des Daseins« (375). Aus demselben Grund ist das Dasein unzurechnungsfähig, d. h. ohne »Bezug auf ein Sollen und Gesetz, wogegen sich verfehlend jemand Schuld auf sich lädt. Denn auch hier wird die Schuld notwendig noch als Mangel bestimmt, als Fehlen von etwas, was sein soll und kann.« (283) Um an etwas das Fehlen von etwas festzustellen, muss man es erst einmal »in seinem Seinsbestand registrieren«, um dann durch Vergleich mit einer Pflichtenliste zu ermitteln, was in dem Registrierten nicht vorhanden ist; das aber ist beim Dasein unmöglich. Dennoch ist das Dasein keineswegs unschuldig, aber seine Schuld ist nichts, was ihm tadelnd vorgeworfen werden dürfte, sondern ein Schulden der Art, wie ein ewiger Schuldner seinem Gläubiger immer noch etwas schul729

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Phnomenologie

dig bleibt. Dieses Schuldigsein ist die Kehrseite des Sich-vorwegseins und eigentlich damit identisch: Wer sich vorweg ist, bleibt hinter sich zurück. Heidegger bestimmt das Schuldigsein des Daseins als »das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit« (285). Das Dasein ist Grund einer Nichtigkeit, indem es ist, was es wird bzw. nicht wird, und dieser Grund ist nichtig, weil es das noch nicht und selbst »je schon sein Noch-nicht« ist. Für die Lösung des in der Aristoteles-Einleitung von 1922 unerledigt gebliebenen Problems bringt die Konzeption des Daseins als nacktes Dass mit in Möglichkeit abgespreiztem Was den doppelten Vorteil, einerseits die strikte Subjektivität als rezessiv entfremdete an einem Modell zu präzisieren und andererseits aus diesem Modell den Abfall an die Welt als unvermeidlich verständlich zu machen. Den ersten Erfolg fasst Heidegger in die Formulierung, dass »die Wesensbestimmung dieses Seienden nicht durch Angabe eines sachhaltigen Was vollzogen werden kann, sein Wesen vielmehr darin liegt, dass es je sein Sein als seiniges zu sein hat« (12); daher drücke auch »der Titel ›Dasein‹, mit dem wir dieses Seiende bezeichnen, nicht sein Was aus, wie Tisch, Haus, Baum, sondern das Sein.« (42) Diesem Sein fehlt die Sättigung mit einem sachhaltigen Was, weil dieses als Möglichkeit immer noch aussteht; damit ist die »spezifische Regionsund Sachgebietsfremdheit des ›ich‹«, das Kennzeichen der rezessiv entfremdeten Subjektivität nach der Jasper-Rezension (45.3.1), effektiv spezifiziert. Dass diese Subjektivität die strikte ist, gibt Heidegger zu verstehen, indem er dem Dasein auferlegt, dass es sein Sein »je als seiniges« zu sein hat, im Sinne der Jemeinigkeit (42). Der andere Erfolg besteht in der einsichtigen Ableitung der Unabwendbarkeit des Verfallens. Deren Quelle ist »die Unbestimmtheit, die ein Seiendes, das existiert, durchherrscht« (308, vgl. 298). Diese Unbestimmtheit ergibt sich aus dem Entzug des Was in bloße ambivalente Möglichkeiten, die sogar mit deren thematischer Erfassung unverträglich ist: »Solches Erfassen benimmt dem Entworfenen gerade seinen Möglichkeitscharakter, zieht es herab zu einem gegebenen, gemeinten Bestand« (145), obwohl das Dasein gerade nicht in seinem Seinsbestand registrierbar ist (ebd.). Das Dasein kommt aus sich heraus an seine Möglichkeiten im Einzelnen also gar nicht heran, obwohl diese ihm doch überantwortet und als Last aufgeladen sind. Um seine Möglichkeiten zu finden, bedarf es der Stütze durch bestimmteres Seiendes, das sie ihm zeigt. Daher ist es »an Seiendes überantwortet, dessen es bedarf, um sein zu können, wie es ist, näm730

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Heidegger

lich umwillen seiner selbst.« (364) Zur Seinsverfassung des Daseins gehört es daher, dass es sich »zunächst von dem Seienden und dessen Sein her versteht, das es selbst nicht ist, das ihm aber ›innerhalb‹ seiner Welt begegnet.« (58) Diese Welt ist »ein Ganzes von Bedeutsamkeit, in deren Verweisungsbezügen das Besorgen als In-der-Weltsein sich im vorhinein festgemacht hat.« (151) Dieses Festmachen ist doppelsinnig. Einerseits gibt es dem Dasein die Anknüpfungspunkte für die Verweisungen, die ihm seine Möglichkeiten thematisch erschließen; so verstanden ist die Welt »das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis« (87), nämlich der Bewandtnis des Verweises auf die eigenen Möglichkeiten des Daseins, die es lastend nötigen, umwillen seiner zu existieren, weil es sie zu sein hat. So sich festmachen, dass es in seinem »Sein bei der Welt« auf sich selbst »Durchsichtigkeit« gewinnt (146), kann das Dasein aber nur, indem es selbst fest wird vermöge der »Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen« (21). Die Seienden, an die es sich hält, um durch ihre Verweisungen zu sich selbst zu finden, geben ihm feste Themen und Rollen vor und versteifen dadurch den Möglichkeitscharakter zu thematisch erfasstem Bestand (145). »Im ontischen Sichmeinen versieht es sich bezüglich der Seinsart des Seienden, das es selbst ist.« (321) Heidegger spricht deshalb von uneigentlicher Existenz. Als prototypische Figuren eines solchen uneigentlichen Existierens, wobei im »sorgenden Aussein auf etwas« die Sorge »in der Weise der Flucht vor dem Dasein mitbesorgt das Verschütten des Daseins selbst«, benennt Heidegger in der Vorlesung des Wintersemesters 1923/24 Descartes und Husserl (17, 284), diesen – man muss die Anspielungen verstehen – wegen seiner »Sorge um absolute Verbindlichkeit« (17, 83) des »Zugangs zum Bewusstsein« (17, 284) und in der Ethik (17, 85). Das liegt auf der Linie der Sentenz von 1921/22: »Die sichere Objektivität ist unsichere Flucht vor der Faktizität.« (61, 90) Uneigentlich existiert hiernach nicht nur der in seinem Bemühen um Objektivität aufgehende Forscher, sondern jeder, dessen Leben »in einer objektiven Aufgabe aufgeht« (ebd.) und sogar dann »nicht voll existent wird«, wenn er es »zu Höchstleistungen bringt, die einen Aufschwung und Fortschritt der Kultur mit sich führen« (59, 79). Ein anderes Beispiel (aus der Vorlesung des Wintersemesters 1925/26) ist der Handwerker, in dem »auch bei aller Selbstvergessenheit, noch eine Tendenz der Sorge lebendig ist, in der es um das Dasein selbst geht, nur dass man 731

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dabei entdeckt, dass dann dieses Dasein, um das es selbst geht, fast verstanden ist wie ein Ding, das nun einmal vorhanden ist, und mit dem man sich, auf dem Umwege über die handwerksmäßig betriebene Sache, abfindet.« (21, 231) Das sind Fälle echter uneigentlicher Existenz, wobei es nur auf die »Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung« (16), die schon bekannte Reluzenz, ankommt, wie auch im Verfallen an die Tradition einer eingeschliffenen Lebensart (21). Heidegger kennt für eigentliches und für uneigentliches Existieren je die beiden Möglichkeiten, echt oder unecht zu sein (146). Die Darstellung der uneigentlichen Existenz in Sein und Zeit ist dadurch verzerrt, dass Heidegger die echten Formen unterschlägt und sich einseitig an die unechten Abwandlungen (Gerede, Neugier, Zweideutigkeit 167–175) hält, die gar nicht im Vollsinn uneigentlich sind. Er charakterisiert das Gerede als »Modus eines bodenlosen Schwebens« (177), die Neugier durch Unverweilen, Zerstreuung und Aufenthaltslosigkeit (172 f.), die Zweideutigkeit durch Niederhalten des Daseinsverständnisses »in dem entwurzelten Überall-und-nirgends« (177). Das alles passt nicht zum Sichfestmachen in den Verweisungsbezügen des Besorgens (151) als dem Ursprung uneigentlicher Existenz, wohl aber zur Angst, die das Tor zur echten Eigentlichkeit ist: »Wir ›schweben‹ in Angst.« (9, 112, Was ist Metaphysik?) Dem entwurzelten Überall-und-nirgends, der Aufenthaltslosigkeit entspricht an der Angst das Un-zuhause (189). Die unechte uneigentliche Existenz ist also infiziert von der eigentlichen, natürlich der unechten eigentlichen Existenz. Bei den unechten Formen verschwimmt also die Alternative. Diese von Heidegger nicht bemerkte Merkwürdigkeit lässt sich vielleicht damit erklären, dass die Angst durch die Stimmung in die Uneigentlichkeit durchscheint, denn die Stimmung erschließt den Lastcharakter des Daseins und bringt es vor das Dass seines Da, das ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt, sogar als fahle Ungestimmtheit (134.136). Die Gelegenheit zum Ausbruch aus der uneigentlichen Existenz gibt die Angst (184–191), die dadurch entsteht, dass die Bewandtnisganzheit in sich zusammensinkt und die Welt den Charakter völliger Unbedeutsamkeit annimmt (186); sie verweist dann zwar nicht mehr auf bestimmte einzelne Möglichkeiten des Daseins, aber eben deshalb kann dieses nun seiner in seiner genuinen Unbestimmtheit (308) ansichtig werden, und das macht Angst: »Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt.« (186) Die Angst ist also eine »Bedrohung (…), die das Dasein von ihm selbst her trifft« (189), die von mir 732

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sogenannte Ichangst, d. h. die Angst, ich zu sein, ohne Rücksicht auf die Gefahren, die dem Menschen, der ich bin, drohen mögen; 1881 in der Vorlesung des Sommers 1925 bezeichnet Heidegger ihr Wovor und Warum als »das Faktum, dass ich bin.« (20, 402) Indem die Angst das Herabziehen der Möglichkeiten zu gegebenem, gemeintem Bestand durch thematisches Erfassen (145) in eins mit der verweisenden Bewandtnis des Seienden abschneidet, erschließt sie das Dasein als Möglichsein und bringt es vor sein Freisein für die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit (188). Ein irreführendes Einsprengsel in Sein und Zeit ist das Kapitel über den Tod (235–267). Heidegger bemüht ihn, um sich zu vergewissern, ob er »das Ganze des thematischen Seienden in die Vorhabe gebracht hat« (232). Die bejahende Antwort entnimmt er folgender Überlegung: »So wie das Dasein vielmehr ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist, so ist es auch schon sein Ende. Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden.« (245) Dann wäre der Tod das Sterben. Der Gedanke ist alt; Theophrast soll gesagt haben: »Wenn wir zu leben beginnen, dann sterben wir.« 1882 Aber anders als in Gestalt der Sorge, die mit Sich-vorweg-sein, Geworfenheit und Verfallen »die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins bildet« (236), kann das Dasein nicht ganz sein. Wenn nämlich das Sich-vorweg-sein es im Ganzen einzuholen vermöchte, wäre kein Platz mehr für die Darbung (45.3.1), in der Sprache von Sein und Zeit: für das Schuldigsein als unaufhebbare Unzulänglichkeit des Daseins, hinter sich zurückzubleiben. Heidegger überspielt diese Unverträglichkeit durch äquivoken Gebrauch des Wortes »Möglichkeit«: »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. (…) Der Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-da-sein-könnens. (…) Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit.« (250) Bei der ersten Erwähnung des Wortes handelt es sich um die existenziale Möglichkeit, die das Dasein ist und zu sein hat, bei der zweiten um die Möglichkeit als objektive Modalität in Gestalt eines vorweggenommenen Rückblicks von einem Zeitpunkt, wo das vorwegnehmende Dasein nicht mehr ist, in der öffentlichen Weltzeit (414), die dem Verfallen entstammt (412). Nur so ist auch Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 205–222: Angst zwischen Leib und Ichangst. 1882 Diogenes Laertios V 41. 1881

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der Ausdruck »Daseinsunmöglichkeit« zu verstehen. Der »volle existenzial-ontologische Begriff des Todes« wird von Heidegger so angegeben: »Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.« (258 f.) Eine gewisse Möglichkeit kann es für das Dasein nicht geben, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird (145); überdies müsste sie im thematischen Erfassen sein, das doch dem Entworfenen »gerade seinen Möglichkeitscharakter« benimmt (ebd.). Für weitere Kritiken an den in der Definition angegebenen Merkmalen verweise ich auf HH S. 309–311. Das Kapitel ist ein Rückfall Heideggers auf den Standpunkt der Aristoteles-Einleitung von 1922, in der Heidegger den Tod als Gegengewicht gegen das Verfallen benötigte, weil er dieses noch nicht in die dreigliedrige Sorgestruktur einbauen konnte, die in Sein und Zeit genügt, um die Ganzheit des Daseins in den Griff zu nehmen, für den Tod aber keinen Platz mehr lässt. Hier stört das Kapitel, ist aber auch überflüssig, wie Heidegger selbst zugibt, indem er die Rollen des Seins zum Tode und des Gewissens als des Rufes zur Schuld so verteilt: »Die existenziale Struktur dieses Seins erweist sich als die ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins. (…) Die Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens aber gibt das Gewissen.« (234) Für das eigentliche Seinkönnen kommt es also nicht auf den Tod, sondern auf das Schuldigsein an, und ein Ganzseinkönnen des Daseins kommt in der existenzialen Analytik, die die Ganzheit seiner Struktur analysiert, gar nicht mehr in Betracht. Dieser Darlegung des Gedankenganges der existenzialen Analytik, in der ich einige von Heidegger in kryptischer Rhetorik neben einander hingelegte Fäden passend zusammengebunden habe, lasse ich eine kritische Würdigung folgen. Die existenziale Analytik ist die erste konstistente begriffliche Konstruktion der bis dahin schleierhaft gebliebenen rezessiven Entfremdung der Subjektivität; damit dürfte sich ihr großer Erfolg durch breites Interesse gelehrter und ungelehrter Menschen weitgehend erklären lassen. Einen logischen Widerspruch kann ich in dem bisher Angeführten nicht finden. Nicht ein solcher ist der existenzialen Analytik anzulasten, sondern ihre Wirklichkeitsfremdheit, vorausgesetzt, dass es sich bei dem sogenannten Dasein um den Menschen und das Menschsein handeln soll. Für den normalen Menschen ist die behauptete Unmöglichkeit, ihn zwischen Geburt und Tod an einem Zeitpunkt vorzufinden, wo jene nicht mehr und dieser noch nicht ist, ebenso unglaubwürdig wie die Unzurechnungsfähigkeit, die Unerreichbarkeit für Schuldvorwürfe, 734

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und doch sind beide Verweigerungen aus dem Ansatz folgerichtig abgeleitet. Allerdings hält sich Heidegger mit der Identifizierung von Mensch und Dasein auffällig zurück. Er versteckt sie in das in Klammern gesetzte Wort »Mensch« bei der Einführung des terminus technicus »Dasein« (12). Dennoch ist aus dem Text ersichtlich, dass er jeden Menschen als ein Dasein behandeln will, Randfälle wahrscheinlich ausgenommen (64.163.240: »jedes Dasein«; 125: »das eigene Dasein«; 7: das Seiende, das wir je selbst sind, 114 und 313: das ich je selbst bin; 240: das eine und das andere Dasein). Dass er sich zur Identität von Mensch und Dasein nicht klarer bekennt, dürfte damit zusammenhängen, dass er keine andere Anthropologie als die traditionelle der Zusammensetzung des Menschen aus Körper, Seele und Geist anzubieten hat, die existenziale Analytik damit aber nicht in Einklang zu bringen vermag. Dieses Dilemma zeichnet sich in verlegenen, halbherzigen Zugeständnissen an die traditionelle Auffassung ab. In der Vorlesung des Sommers 1925 heißt es vom Dasein: »Leib, Seele, Geist mögen das, woraus dieses Seiende besteht, in gewisser Weise markieren, aber mit diesem Kompositum und seiner Komposition bleibt die Weise des Seins dieses Seienden von Anfang an unbestimmt;« (20, 207). Genau so drückt sich Heidegger etwa 10 Jahre später in Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) aus: »Dass der Mensch aus ›Leib-Seele-Geist‹ besteht, sagt nicht viel. Denn die Frage nach dem Sein dieses einigen Bestandes ist damit umgangen« (65, 50). Eine große Errungenschaft der existenzialen Analytik ist die Überwindung des Immanenzdogmas durch das In-der-Welt-sein, die allerdings nicht durch eine Aufdeckung der Künstlichkeit des Innenwelt-Außenwelt-Gegensatzes, eine »Restitution des natürlichen Weltbegriffes« gemäß der Absicht von Avenarius (43.1), dem der junge Heidegger sich mit der Forderung »Keine Introjektion!« (58, 96, s. o. 45.3.1) anschließt, erreicht wird, sondern ausschließlich durch die Schwäche und Anlehnungsbedürftigkeit des mit keinem Was gesättigten Daseins, das in seiner Geworfenheit mit verhülltem Woher und Wohin nicht stabil genug ist, um sich der Welt gegenüber in einer konsolidierten Innenwelt abzuschließen. Diese Einseitigkeit, das In-der-Welt-sein bloß mit der Seinsart des Daseins und nicht auch des zu Besorgenden, worauf jenes wie auf die Welt »angewiesen« ist (348.87.138.139.161.297.383), zu begründen, hätte Heidegger in seinen ersten Anfängen vermeiden können, als sich ihm die strikte Subjektivität noch nicht rezessiv entfremdet hatte (45.3.1). 735

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Die Welt, in der das Dasein ist, ist eine die zuständliche persönliche Situation in sich aufnehmende gemeinsame. Heidegger mystifiziert die Welt, indem er sie als apriorischen Horizont des Begegnenlassens über das begegnende Seiende hinaushebt; es handelt sich aber um etwas so Harmloses wie »die ›öffentliche‹ Wir-Welt oder die ›eigene‹ und nächste (häusliche) Umwelt« (65). Ein großer Gewinn seines Weltbegriffes besteht darin, dass er das innerweltliche Seiende primär durch Verweisungen mit Programmcharakter in den Zusammenhang einer die jeweilige Welt ganzheitlich umfassenden Bedeutsamkeit einbindet und erst nachträglich in isolierte Einzelheit des bloß noch Vorhandenen entlässt. Er bereitet auf diese Weise eine Ontologie der Situationen vor, in der die Bedeutsamkeit der Sachverhalte, Programme und Probleme der Einzelheit als notwendige Bedingung vorgeordnet ist, und hemmt den herrschenden Singularismus. Man kann aber nicht sagen, dass er diesen überwunden hätte; vielmehr scheint er über den Mannigfaltigkeitstypus gar nicht nachgedacht zu haben, wie sich etwa daran zeigt, dass er das Dasein wahllos bald als seine Möglichkeit (42.143), bald als seine Möglichkeiten (145.181) ausgibt. Der Plural lässt an numerische Mannigfaltigkeit denken, während im Singular eine nicht-numerische (39.1) mitgemeint sein könnte. Die chaotische Mannigfaltigkeit binnendiffuser Bedeutsamkeit scheint nicht in Heideggers Horizont getreten zu sein, obwohl sie zur Einschmiegung der persönlichen Situation in gemeinsame Situationen und damit zum vollen In-der-Welt-sein erforderlich wäre. Eine Handhabe, solche Einschmiegung zu denken, gibt immerhin Heideggers Beschreibung des Man (125–130), denn dabei handelt es sich – mit meinen Begriffen gesagt – darum, dass den prospektiven Anteilen persönlicher Situationen die Führkraft mehr oder weniger durch die programmatischen Anteile gemeinsamer Situationen abgenommen wird. Störend ist dabei und in anderen Zusammenhängen, dass Heidegger immer nur vom Dasein und seiner Welt spricht, als sei es je nur eine, während eine Person mit ihrer persönlichen Situation in viele, sich überschneidende oder in einander verschachtelte, aber gegen einander abgehobene Situationen eingehen kann, auch ohne dass diese sich zu einer einzigen als der Welt des Betreffenden zusammenschließen. Ungeklärt bleibt in der existenzialen Analytik das Problem, wie das Dasein auf das Seiende treffen kann, an das die Verweisungen auf seine Möglichkeiten anknüpfen. Er stellt sich diese Frage: »(…) was ermöglicht es ontologisch, dass Seiendes innerweltlich begegnen und 736

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als begegnendes objektiviert werden kann?« (366) Zur Antwort verweist er auf die »Bedeutsamkeitsbezüge, welche die Struktur der Welt bestimmen«: »Das Dasein kommt vielmehr, ekstatisch sich und seine Welt in der Einheit des Da verstehend, aus diesen Horizonten zurück auf das in ihnen begegnende Seiende.« (ebd.) Die Auskunft passt nicht, denn das Zurückkommen setzt für sein Ziel dessen Gefundenhaben voraus. Die Lücke, dass er auf die Frage keine zureichende Antwort geben kann, wird seiner Lehre vom Mitsein mit anderen zum Verhängnis. Weil das Dasein umwillen seiner existiert und auf seine eigenen Möglichkeiten hin lebt, liegt der Verdacht nahe, dass es die anderen ebenso wie das übrige Seiende nur als Medien zur Vermittlung dieser Möglichkeiten benützt und nicht als Ebenbürtige anerkennt. Heidegger will diesen Verdacht so zerstreuen: »Nach der jetzt durchgeführten Analyse gehört aber zum Sein des Daseins, darum es ihm in seinem Sein selbst geht, das Mitsein mit Anderen. Als Mitsein ist daher das Dasein umwillen Anderer.« (123) Das ist falsch gefolgert. Richtig dürfte Heidegger nur schließen: Es ist umwillen seines Mitseins mit anderen; es benützt diese, um seinen Bedarf an Mitsein zu befriedigen. Dass er es in der Tat so meint und die anderen Personen ebenso wie die Dinge vom Focus des jeweiligen Daseins fernhalten will, zeigt die Alternative: »Dasein kann sich als verstehendes aus der ›Welt‹ und den Anderen her verstehen oder aus seinem eigensten Seinkönnen. Die letztgenannte Möglichkeit besagt: das Dasein erschließt sich ihm selbst im eigensten und als eigenstes Seinkönnen.« (221) Heidegger versetzt die anderen in das Netz der Verweisungen auf das eigene Seinkönnen, aber, um ihnen nicht zu nahe zu treten, gleichsam an dessen Rand, durch ein »Miteinandersein in unserem Bezogensein auf die uns begegnenden Dinge«, das »kein Verhältnis von einem Subjekt zu einem andern ist«. 1883 Den Weg zu einer persönlichen Begegnung zeigt er nicht. Dafür müsste er leibliche Kommunikation vom Typ der wechselseitigen Einleibung in Anspruch nehmen. 1884 Leibliche Kommunikation ist die Grundlage der Intentionalität, einen Gegenstand bewusst zu haben (45.1.1). Heidegger hat kein Verständnis für Leiblichkeit und leibliche Kommunikation. Daher kann er kein Verhältnis des Mitseins in Ebenbürtigkeit aufzeigen. Zollikoner Seminare, hg. v. Medard Boss, Frankfurt a. M. 1987, S. 145. Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 146–157: Wie sich Menschen treffen können.

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45.3.3 Die Preisgabe der existenzialen Analytik Der Abbau der existenzialen Analytik beginnt mitten in Sein und Zeit mit der Formel für die Sorge als das Sein des Daseins, wo die Geworfenheit als »Schon-sein-in-einer-Welt« untergebracht ist (192). Sie wurde eingeführt als Abgerissenheit des Daseins, dem das pure Dass seines Da in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt, während das Woher und das Wohin verhüllt sind und das Dasein als Last sich selbst überantwortet ist (»Faktizität der Überantwortung«, 134–136). Das Verfallen ist dann die »Flucht des Daseins vor ihm selbst« (184) aus dieser Abgerissenheit zu den seiner Orientierung Halt gebenden Verweisungsbezügen, deren Verblassen in der Angst ihm seine Geworfenheit als »das nackte ›Dass‹ im Nichts der Welt« (276 f.) wieder aufdringlich macht. Als Schon-sein-in-einer-Welt ist die Geworfenheit keine Abgerissenheit mehr, sondern die Weise, wie das Dasein immer schon, nicht erst nachträglich, in einer Welt und also von vornherein irgendwie »untergebracht« ist. Das Verfallen ist in der Geworfenheit untergekommen. Die Grenze zwischen diesen beiden Existenzialien verschwimmt: Das Dasein existiert »als geworfenes verfallend« (412). Es wird »in der Geworfenheit mitgerissen, d. h. als in die Welt Geworfenes verliert es sich an die ›Welt‹ in der faktischen Angewiesenheit auf das zu Besorgende.« (348) Bisher war das Verfallen eine Reaktion auf die Geworfenheit, gleichsam die panische Flucht vor ihr; als Schon-sein-in-einer-Welt ist die Geworfenheit selbst schon am Ziel der Flucht: In ihr »enthüllt sich, dass Dasein je schon als meines und dieses in einer bestimmten Welt und bei einem bestimmten Umkreis von bestimmten innerweltlichen Seienden ist.« (221) Wo bleibt da das verhüllte Woher und Wohin? Das Dasein ist als geworfenes nicht mehr abgerissen, sondern in einer wohlbestimmten Umgebung untergekommen. Die triadische Struktur aus Existenzialität (Sich vorweg sein, zu sein haben), Faktizität (Geworfenheit) und Verfallen (191) ist durch die Verschmelzung von Geworfenheit und Verfallen, die das Dasein in seiner Umgebung heimisch macht, zu einer dyadischen geworden. Die Umdeutung der Geworfenheit in ein Schon-sein wird auf diese Weise für die uneigentliche Existenz, auf andere Weise aber für die durch die Angst hindurchgegangene eigentliche fruchtbar. Als Schon-sein gibt die Geworfenheit dem Dasein gewissermaßen einen Boden unter die Füße, auf den das Dasein aus dem Absprung im Entwurf des Sich-vorweg-seins wieder zurückkommen kann, so 738

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dass es »das Seiende, das es schon ist, übernehmen kann. Im Vorlaufen holt sich das Dasein wieder in das eigenste Seinkönnen vor. Das eigentliche Gewesen-sein nennen wir die Wiederholung. Das uneigentliche Sichentwerfen auf die aus dem Besorgten (…) geschöpften Möglichkeiten ist aber nur so möglich, dass sich das Dasein in seinem eigensten geworfenen Seinkönnen vergessen hat.« (339) Die Geworfenheit wird zur Gewesenheit des eigensten, wiederholbar geworfenen Seinkönnens im Gegensatz zum Vergessen bei der an das Besorgte ausgegebenen uneigentlichen Existenz; dass in der Geworfenheit das Woher verhüllt ist (134), spielt keine Rolle mehr. »Die Wiederholung ist die ausdrückliche Überlieferung, das heißt der Rückgang in die Möglichkeiten des dagewesenen Daseins« (385), und »erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt.« (383) »Mit diesem Sichüberliefern des Erbes aber ist dann die ›Geburt‹ im Zurückkommen aus der unüberholbaren Möglichkeit des Todes in die Existenz eingeholt« (391). Dieses Zurückkommen wird durch eine von Heidegger unvermittelt eingeführte Richtungsumkehr ermöglicht, die das Sich-vorweg-sein als Vorlaufen zum Tod durch eine Zukunft ergänzt, die eine Rückwendung des Daseins zu sich ist: »›Zukunft‹ meint hier nicht ein Jetzt, das noch nicht ›wirklich‹ geworden erst einmal wirklich sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt.« (325) Aus der Verbindung dieser Zukunft mit der wiederholbaren Gewesenheit entspringt die Gegenwart wie das Kind einer Ehe: »Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, dass die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entlässt. Dieses dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit.« (326) Sie ist die »ursprüngliche Zeit«, aus der die »der Verständigkeit des Daseins zugängliche Zeit« in Gestalt einer »puren, anfangs- und endlosen Jetzt-folge« entspringt (329). Die Aufstellung der ursprünglichen Zeitlichkeit als Quelle der sukzessiven Zeit im gewöhnlichen Verständnis, der sogenannten Jetztfolge, ist die Quintessenz des »Dasein und Zeitlichkeit« überschriebenen zweiten Abschnitts von Sein und Zeit, dem das Buch seinen Titel verdankt; er wird dem ersten Abschnitt mit der fadenscheinigen Begründung nachgeschickt, dass die triadische Struktur aus Sich-vorweg-sein, Geworfenheit und Verfallen wegen der bloßen Dreiheit eine tiefere Begründung verlange (196), obwohl sie aus 739

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einem einfachen Prinzip (Zerdehnung von Dass und Was des Seienden, das je sein Sein als seiniges zu sein hat, 12) schlüssig folgt. Heidegger gewinnt dadurch gewissermaßen Stoff für die Beschäftigung des Daseins auf einem edleren Niveau als dem des bloßen Verfallens in Uneigentlichkeit, sowohl durch Erschließung einer eigentlichen, wiederholbaren Tradition im Gegensatz zu der anfangs erwähnten verfallenden 1885 als auch durch den Augenblick als die »in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.« (338) In der Tat ist das Nachschieben der Zeit hinter der Sorge als dem Sein des Daseins aber eine Etappe auf dem Weg der Preisgabe der existenzialen Analytik. Möglich wird es durch die Umdeutung der Geworfenheit in ein Schon-sein, das sich zur Gewesenheit entfaltet, die einer Zukunft entspringt, die ihrerseits aus einer unmotivierten Umkehr der Richtung des Sich-vorweg-seins hervorgeht. Damit wird eine Abrundung erreicht, die der Geworfenheit im ursprünglichen Sinn des puren Dass des Da mit verhülltem Woher und Wohin unvereinbar entgegensteht. Wenn der Tod und die Geburt in die Existenz eingeholt sind, bleibt die angestückte Ermahnung an diese, dass sie »die Geworfenheit des eigenen Da illusionsfreier hinnehme« (391), eine phrasenhafte Reminiszenz. Vielmehr dient die ursprüngliche Zeitlichkeit zum Überspielen des Bruches im Dasein: Das Dass findet sein ihm zuvor entzogenes Was im Wiederholen seines Erbes wieder. Die ursprüngliche Zeitlichkeit hat die dem Dasein der existenzialen Analytik fehlende Harmonie eines Dreiklangs, die sich auf die späte Wiederaufnahme der Zeitbehandlung in Heideggers Vortrag von 1962 vererbt. 1886 Der ursprünglichen Zeitlichkeit fehlt die Zerrissenheit der Dauer durch den Einbruch des Neuen mit Exposition der primitiven Gegenwart und Abschied von dem, was vorbei ist; ihr entgeht damit die Grausamkeit des Abschieds 1887 und daher auch »Das Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition.« (21). 1886 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, 3. Auflage Tübingen 1988, S. 1–25: Zeit und Sein, S. 17: »Die eigentliche Zeit ist die ihr dreifältig lichtendes Reichen einigende Nähe von Anwesen aus Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft.«. 1887 Vgl. Goethe, Trilogie der Leidenschaft, An Werther: »Scheiden ist der Tod!« Maximen und Reflexionen, hg. von Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 998: »In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muss sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.«. 1885

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die personale Brücke der Erinnerung, die diese Kluft zu überspannen vermag. Fast kann man sagen, dass die ursprüngliche Zeitlichkeit die Zeit verniedlicht. Das Verdienst der Zeitspekulation Heideggers besteht in der Ablösung des Zeitbegriffs vom Leitbild der Sukzession, in dem lagezeitliche und modalzeitliche Züge ohne logische Notwendigkeit verschmelzen, und in dem Ausblick auf eine reine Modalzeit ohne lagezeitliche Einfärbung (etwa als Zukunft, s. o.), wenn er auch noch keine passende Anwendung dieser Idee findet. Während Heidegger in Sein und Zeit bis zum Schluss mindestens die Fassade der dreigliedrigen Sorgestruktur aufrechterhält, zieht er ein Jahr nach Erscheinen seines Buches – in der Vorlesung des Sommersemesters 1928 1888 und sie umspielenden kleinen Schriften 1889 – aus der Preisgabe der existenzialen Analytik die Konsequenz, die triadische Struktur des Seins des Daseins durch eine dyadische zu ersetzen, in der sich »die reine Selbstheit, als die metaphysische Neutralität des Daseins genommen« (26, 243) und die »wesenhafte« oder »transzendentale Zerstreuung« als Ermöglichung der »je faktischen existenziellen Zersplitterung und Zerspaltung« des Daseins (26, 174) gegenüberstehen. »Die Neutralität ist nicht die Nichtigkeit einer Abstraktion, sondern gerade die Mächtigkeit des Ursprunges, der in sich die innere Möglichkeit eines jeden konkreten Menschentums trägt.« (26, 172) Die transzendentale Zerstreuung gründet in der Geworfenheit, ist »wesenhaft geworfene Zerstreuung« und umfasst Räumlichkeit, Leiblichkeit, Geschlechtlichkeit und Mitsein. »Das Dasein kann sich z. B. tragen lassen von dem, was wir in ganz weitem Sinn Natur nennen. Nur was seinem Wesen nach geworfen und befangen in etwas ist, kann sich davon tragen und umfangen lassen.« (26, 173–175) Durch seine mächtige Neutralität und reine Selbstheit gibt auf der anderen Seite das existierende Dasein »sich selbst so etwas wie Sein« (26, 195) und ist »die sich selbst besitzende Freiheit« (25, 394) als »ein Überschwingen in Möglichkeiten« (26, 279), das Heidegger »Transzendenz« nennt. Die Welt »ist das Ganze der wesenhaften inneren Möglichkeiten des Daseins als des transzendierenden.« (26, 248) »Nur wenn in der Allheit von Seiendem das Seiende ›seiender‹ wird in der Weise der Zeitigung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Gesamtausgabe Band 26. 1889 9, 103–122: Was ist Metaphysik? (1929); 9, 123–175: Vom Wesen des Grundes (1929). 1888

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Phnomenologie

von Dasein, ist Stunde und Tag des Welteingangs von Seiendem. Und nur wenn diese Urgeschichte der Transzendenz geschieht, d. h. wenn Seiendes vom Charakter des In-der-Welt-seins in das Seiende einbricht, besteht die Möglichkeit, dass Seiendes sich offenbart.« (9, 159) 1890 Dieser Aufstand ist aber nur zusammen mit der Geworfenheit und Befangenheit möglich: »Das Dasein ist geworfenes, faktisches, durch seine Leiblichkeit ganz inmitten der Natur, und gerade darin, dass dieses Seiende, inmitten dessen es ist und wozu es selbst gehört, von ihm überschritten wird, liegt die Transzendenz.« (26, 212) »Aber gerade dieser in der Eingenommenheit vom Seienden beschlossene Entzug gewisser Möglichkeiten seines In-der-Weltsein-könnens bringt erst die ›wirklich‹ ergreifbaren Möglichkeiten des Weltentwurfs dem Dasein als seine Welt entgegen.« (9, 167) Dieses Dasein ist kein Tantalus mehr mit ungesättigtem Sein, »je schon sein Noch-nicht« (344) in »Unbestimmtheit« (308), zu sein, was es wird bzw. nicht wird (145); seine feste Verankerung im Seienden gibt der Möglichkeit, die es ist (42), durch Entzug und Einschränkung die festere Form wirklich ergreifbarer Möglichkeit und befreit es dadurch aus der Verlegenheit eines Geschehens, in dem eigentlich nichts geschieht, mangels eines Zeitpunktes, in dem es wirklich wäre, seine Geburt aber nicht mehr und sein Tod noch nicht (374 f.). Demgemäß bedarf es auch nicht mehr des Seienden, um sein zu können, wie es ist, nämlich umwillen seiner selbst (364), sondern es hält sich als Freiheit das Umwillen entgegen (9, 164), nämlich die Welt als »die jeweilige Ganzheit des Umwillen eines Daseins« (9, 158), als »das Ganze der wesenhaften inneren Möglichkeiten des Daseins« (26, 248), und schenkt dem Seienden den Welteingang.1890 »Aufgrund dieses Überschwunges ist das Dasein jeweils dem Seienden über (…).« (26, 279) Diese Neubestimmung des Daseins führt zu einer Anthropologie, die der These Plessners von der zentrischexzentrischen Positionalität des Menschen gleicht; diese Übereinstimmung geht bis in Heideggers Terminologie, wenn er behauptet, »dass der Mensch das Wesen ist, das transzendent, d. h. offen ist zum Seienden im Ganzen und zu sich selbst, dass der Mensch durch diesen exzentrischen Charakter zugleich auch hineingestellt wird in das Ganze des Seienden überhaupt – und dass nur so die Frage und die Idee einer philosophischen Anthropologie Sinn hat.« 1891 1890 1891

Ein weitgehend gleichlautender Text steht in 26, 249. 3, 291 (Davoser Disputation mit Cassirer, 1929). Das Buch von Plessner Die Stufen

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Heideggers erste tastende Formulierung der rezessiven Entfremdung der strikten Subjektivität war die Rede von der »Regionsund Sachgebietsfremdheit des ›ich‹« in der Jaspers-Rezension (45.3.1). Die existenziale Analytik rechtfertigte diese These, dass »die Wesensbestimmung dieses Seienden nicht durch Angabe eines sachhaltigen Was vollzogen werden kann« (12), durch Abspreizung dieses Was in Möglichkeit. In der neuen dyadischen Struktur des Daseins aus mächtiger, transzendierender Neutralität und geworfener Zerstreuung wird die These verleugnet. Das menschliche Dasein wird als geworfenes, dessen Geworfenheit das nicht mehr erwähnte Verfallen gewissermaßen geschluckt hat, zu einer Art der Natur, die eine der vielen Regionen 1892 ist (26, 191 f.). Für den Verlust dieser Darstellung rezessiver Entfremdung der Subjektivität schafft Heidegger einen Ersatz in Was ist Metaphysik?: »Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts. Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses Hinaussein über das Seiende im Ganzen nennen wir die Transzendenz.« (9, 115) Trotz des Unsinns der Substantivierung von »nichts« zu »das Nichts« ist Hineingehaltenheit in das Nichts eine vorzügliche Metapher für die rezessive Entfremdung der Subjektivität, die in ein Niemandsland verbannt wurde, als man sah, dass sie im Milieu der objektiven als vermeintlich aller Tatsachen nicht unterzubringen war. Statt eines festen Bodens blieb ihr das Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren nach Fichte,1339 woraus Friedrich Schlegel die romantische Ironie und Novalis das Ichsein machte (38). Dieses Schweben der Einbildungskraft wird bei Heidegger zum Schweben in Angst: »Die Angst offenbart das Nichts. Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.« (9, 112) Neu gegenüber Sein und Zeit ist die Rede vom Seienden im Ganzen und der Allheit des Seienden: »Das Nichts ist die vollständige Verneinung der Allheit des Seienden.« (9, 109) Daran zeigt sich, dass die rezessive Entfremdung nun kumulativ, nicht distributiv gemeint ist. Fichte und Schlegel verstehen die rezessive Entfremdung der Subjektivität als distrides Organischen und der Mensch, das in jener These gipfelt, erschien 1928; ich lasse offen, ob Heidegger hier direkt von Plessner beeinflusst ist. 1892 Das Wort ist aus Husserls Ontologie übernommen: »Region (…) ist nichts anderes als die gesamte zu einem Konkretum gehörige oberste Gattungseinheit.« (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, § 16).

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Phnomenologie

butive. Das absolute Abstraktionsvermögen, das nach Fichte alles, was nicht Ich ist, wegschaffen soll, besorgt dies »nicht auf einmal«, sondern »wenigstens so, dass ich von dem, was ich jetzt übrig lasse, hinterher abstrahiere, und dann dasjenige übrig lasse, von dem ich jetzt abstrahiere«.1320 Daraus (und aus dem transzendentalen Zirkel, 36.2) entnimmt Friedrich Schlegel die potenzierte, unendliche Reflexion als Quintessenz der Errungenschaften Fichtes1413 und die Wendigkeit der romantischen Ironie, sich von allem abwenden und eben deshalb allem zuwenden zu können (38). In der Transzendenzphase nach Sein und Zeit will Heidegger dagegen durch die Transzendenz als »Wesen des Subjekts« und »Grundstruktur der Subjektivität« (9, 137 f.) die Subjektivität rezessiv in kumulativer Weise, mit einem Schlag, entfremden, so dass sie sich über das Seiende im Ganzen hinaus in das Nichts hineinhält. Dadurch wird er zum Erben Max Stirners, der in den großartigen Schlusssätzen seines Buches den Eigner in sein schöpferisches Nichts zurückkehren lässt (38). Stirner versteht diese Rückkehr aber nicht als Transzendieren, sondern wie der Heidegger der Jaspers-Rezension und der existenzialen Analytik als Was-losigkeit,1445 eine Bestimmungslosigkeit,1446 die nur dadurch ausgeglichen wird, dass ich (wer auch immer ich sei) nicht mit der Frage, was ich bin, sondern nur mit der Frage, wer ich bin, getroffen werden kann,1445 wie auch Heidegger behauptet. 1893 Heidegger hat die Transzendenz bald wieder aufgegeben, und danach sogar die Existenz. Er bekennt 1941, er habe »das Wort ›Existenz‹ aus dem Wörterbuch des Denkens im Umkreis der Frage von ›Sein und Zeit‹ gestrichen. Gebraucht wird stattdessen der scheinbar gegenteilige Name ›Inständigkeit‹. Darin liegt das Zweifache: Innestehen in der ekstatischen Offenheit der ›Zeit‹ ; dieses Innestehen aber ist zugleich ›inständig‹ im Sinne von ›ohne Unterlass verbleibend im Wesensbezug zum Sein des Seienden‹ ; diese ›Inständigkeit im Sein‹ wird ›Sorge‹ genannt.« (49, 54) Solches Innestehen ist »die Überwindung aller Subjektivität« (49, 51), ein Stehen im Gegensatz zum Schweben in Angst beim Hineingehaltensein in das Nichts. Eher lässt es an Sub-stanz und damit an Descartes denken. Mit diesem teilt Heidegger seit der Preisgabe der Transzendenz den Verzicht darauf, den »Seinssinn des ›sum‹« im »cogito ergo sum« genauer zu bestimmen, woraus er in Sein und Zeit (24) Descartes (oder vielmehr Hus-

1893

20, 326; Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 110.

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serl 1894 ) einen Vorwurf gemacht hatte. Es ist sehr merkwürdig, dass derselbe Heidegger, dem die Inständigkeit im Wesensbezug zum Sein am Herzen liegt, nach dem Auslaufen der existenzialen Analytik das Wort »sein« mit allen seinen Flexionen, wo er vom Menschen spricht, ganz undifferenziert und mit so glatter Selbstverständlichkeit wie Descartes und Husserl gebraucht, ohne Differenzierung von Seinsweisen je nach dem, von welchem Seienden die Rede ist. Die Subjektivität, die er als Titel nur noch polemisch einsetzt (s. u. 45.3.6.3), ist ihm der Sache nach nur noch als positionale geläufig, etwa als Berufsrolle für den Menschen, der zum Zeugen (Notar), Hirten oder Wärter des Seins (Seinswart) ernannt wird, 1895 oder als »Sinn der Erde« (39, 61) mit dem Beruf der »Sorge«, »dass jegliches Sein von ihm so oder so übernommen, getragen und geführt werden muss.« (39, 141) Die Wesensbestimmung des Menschen ist nicht mehr die der existenzialen Analytik, dass er »je sein Sein als seiniges zu sein hat« (12), sondern besteht darin, »dass er sich auf den Weg machen muss, sich zu suchen, d. h. nach dem Ort zu fragen, an dem der Mensch seinem Wesen nach den Aufenthalt hat.« (55, 325) Deutlicher kann nicht gesagt werden, dass die Subjektivität nur noch als positionale in Betracht kommen soll.

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45.3.4 Langeweile und Zuspitzung Zum Aufweis der Geworfenheit, der Nacktheit des puren »dass es ist und zu sein hat«, das dem Dasein als »Last des Seins« in »unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt« (45.3.2), beruft sich Heidegger in der existenzialen Analytik auf die Stimmung, und ganz besonders auf sie als die »oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit, die nicht mit Verstimmung verwechselt werden darf« (134). Es handelt sich um die Langeweile, wie eine Bemerkung in der Vorlesung des Wintersemesters 1934/35 zeigt. 1896 Angst und In seinem Handexemplar von Sein und Zeit (17. Auflage, Tübingen 1993, S. 442) notierte Heidegger zur Descartes-Kritik auf S. 98, in Wirklichkeit sei Husserl gemeint. Diese Kritik deckt sich mit dem Vorwurf S. 24. 1895 49, 61; 9, 331 (Brief über den Humanismus, 1946); Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, 8. Auflage, Pfullingen 1991, S. 41: »(…) für den Menschen, weil sein Wesen ist, der Wartende zu sein, der das Wesen des Seins wartet, indem er es denkend hütet.«. 1896 39, 142: »Zwar ist das menschliche Dasein immer gestimmt, sei es auch nur in der 1894

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Phnomenologie

Langeweile verschmelzen in der Offenlegung des von seinem Was entblößten Dass des Daseins, wenn »das nackte ›Dass‹ im Nichts der Welt«, das Bezeugte der fahlen Langeweile, als »das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause« die Züge der Angst annimmt (276 f.). Diese Nachbarschaft setzt sich fort, als die existenziale Analytik schon in die neue Anthropologie des Plessner-Typs1891 übergegangen ist: In Was ist Metaphysik? werden 1929 »tiefe Langeweile« und Angst durch das Merkmal verbunden, dass sie alle Menschen, Dinge und sogar den, der sie fühlt, in Gleichgültigkeit entrücken (9, 110 f.). Ihre Gemeinschaft geht auf die »Unbestimmtheit, die ein Seiendes, das existiert, durchherrscht« (308), zurück. Bei der Angst ist diese Unbestimmtheit das, wovor einem unheimlich ist (9, 111), bei der Langeweile »die Weile des Daseins in ihrer nie schlechthin bestimmbaren Unbestimmtheit« als »die ganze Weite der Zeitlichkeit des Daseins« (29/ 30, 229). Es handelt sich um die »Erstreckung des Daseins« (375), das »keineswegs (…) in einem Zeitpunkt wirklich und außerdem noch von dem Nichtwirklichen seiner Geburt und seines Todes ›umgeben‹« ist (374). Solches Dasein ist eo ipso langweilig, weil ihm mangels sukzessiver Zerlegbarkeit seiner als des »Zwischen« (374) sozusagen nichts passieren kann, außer durch Verfallen in Uneigentlichkeit. Diese Folge der Abspreizung des Was vom Dass bleibt in Heideggers Denken zunächst mächtig, auch nachdem die triadische Sorgestruktur des Daseins durch eine dyadische Struktur abgelöst ist (45.3.3). Die »tiefe Langeweile«, nach Was ist Metaphysik? »in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend« (9, 110), ist nach der Vorlesung des dieser Antrittsvorlesung folgenden Wintersemesters 1929/30 die Grundstimmung, in der das philosophische Begreifen gründet (29/30, 10.116). Sie gleicht der Angst nach Sein und Zeit als »Ausgeliefertheit des Daseins an das im Ganzen sich versagende Seiende« (29/30, 210), als »Ansagen der brachliegenden Möglichkeiten« (29/30, 212) und als versagte, aber freigebbare Freiheit des Daseins für dessen Sichbefreien (29/30, 223, Weise einer Missstimmung oder Verstimmung, oder sei es in jener eigentümlichen Weise der Stimmung, die wir als das Fade und Leere und Trockene der Ungestimmtheit kennen, im Alltag bekannt als jenes, das wir aussprechen in der Rede: ich bin zu nichts aufgelegt – der Urform der Langeweile, die ihrerseits bis zu einer Grundstimmung sich entfalten kann.«.

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vgl. Sein und Zeit 188). Sie leistet aber mehr, denn sie zwingt das Dasein in den Augenblick hinein (29/30, 230), während die Angst nach Sein und Zeit »nur in die Stimmung eines möglichen Entschlusses« bringt und den Augenblick »auf dem Sprung« hält (344). Der Augenblick ist das »Sichentschließen des Daseins (…) dazu, inmitten des Seienden je das Bestimmte zu sein, was zu sein ihm aufgegeben ist« (29/30, 224). »Gebannt in die Weite des Zeithorizontes und doch damit hineingezwungen in die Spitze des Augenblicks« ist die »Langeweile als Stimmung« das »Schwingen zwischen solcher Weite und solcher Spitze« (29/30, 227). Heidegger will die auf keinen Zeitpunkt festlegbare Zwischenlage der Erstreckung des Daseins nach der existenzialen Analytik nicht mehr hinnehmen und versetzt daher die Langeweile in eine Pendelschwingung, die in der einen Richtung die Unbestimmtheit wahrt, in der anderen sie zur Entscheidung im Augenblick zuspitzt. In Sein und Zeit identifiziert Heidegger, wenn auch etwas verschämt, jeden Menschen mit einem Dasein (45.3.2, vgl. 212); in der Vorlesung von 1929/30 erhöht er den Entscheidungsdruck, indem er das Dasein als herausfordernden Partner dem Menschen hic et nunc entgegentreten lässt: »Ist es am Ende dem Dasein im heutigen Menschen langweilig?« (29/30, 242) Der Augenblick ist der »Ruck«, der dazu gehört, »dem Dasein wieder Wirklichkeit, d. h. seine Existenz zu geben«, aber »in den Ruck zur Wirklichkeit führt nur das einzelne Handeln selbst« (29/30, 257), »das Dasein sich auf die Schultern zu werfen« (29/30, 246). Das Dasein der existenzialen Analytik ist »ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit« (144), die in der »Faktizität der Überantwortung« (135) als »Last« (134) auf ihm liegt und es bedrängt, so dass es aus latenter Angst die Flucht in das Man ergreift (184–186); es braucht keinen Ruck, um sich die Last auf die Schulter zu werfen. Der Mensch, in dem es dem Dasein langweilig geworden ist, leidet dagegen nicht mehr an der Angst, sondern an einer Trägheit, die nach Bedrängnis schreit: »Das Ausbleiben der Bedrängnis ist das im Grunde Bedrängende und zutiefst Leerlassende, d. h. die im Grunde langweilende Leere.« (29/30, 244) »Wir müssen erst wieder rufen nach dem, der unserem Dasein einen Schrecken einzujagen vermag.« (29/30, 255) Heidegger will das »Geschehen des Daseins« nicht mehr der »Erstreckung« (375) im Sich-vorweg-sein als Zurückbleiben hinter sich (Schuldigsein) überlassen, sondern drängt auf ein Geschehen, bei dem etwas herauskommt. Im Winter darauf (1931/32) formuliert 747

Phnomenologie

er: »Geschichte ist aber immer einmaliger Auftrag, Schicksal in einer bestimmenden Lage des Handelns, nicht die freischwebende Diskussion an sich.« (34/91) »Wir treiben hier keine belanglose Analyse von Erlebnissen, sondern alles ist Angriff und Entscheidung.« (34, 210)

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45.3.5 Das Geschehen der Wahrheit Heidegger versteht (mit später Selbstkorrektur, s. u. 45.3.6.3) Wahrheit gemäß der Etymologie des griechischen Wortes »Aletheia« als Unverborgenheit und diese als geschichtlich wandelbar: »Die Wahrheit bestimmt sich als solche Unverborgenheit in ihrem Wesen des Entbergens aus dem von ihr zugelassenen Seienden selbst und prägt nach dem also bestimmten Sein die jeweilige Gestalt ihres Wesens. Die Wahrheit ist deshalb in ihrem eigenen Sein geschichtlich. Die Wahrheit fordert jedes Mal ein Menschentum, durch das sie gefügt, begründet, mitgeteilt und verwahrt wird.« (50, 3) Sie »ist nicht ein ruhender Besitz (…), sondern geschieht nur in der Geschichte der ständigen Befreiung« (34, 91), wobei das Unverborgene sich selbst gemäß dem Sein des Seienden wandelt (50, 3). Solche Wahrheit passt nicht in das Prokrustesbett einzelner Sätze. Zwar gibt Heidegger im Winter 1931/32 den Satz »Der Mensch ist derjenige Seiende, der im Erblicken des Seins existiert« als solche geschichtliche Wahrheit aus, die sich nicht wissenschaftlich beweisen, sondern nur »entzünden und erwirken« lasse, indem das »Fragen in der Fraglichkeit des Seienden im Ganzen seinen Standort nimmt aus einer Grundentscheidung« (34, 77 f.), aber er erwartet einen Wandel des Wesens der Wahrheit, der von ihrer Verteilung auf solche einzelnen Wahrheiten wegführt: »Denn wenn uns schon lediglich an einzelnen Wahrheiten liegt, dann doch deshalb, weil wir dabei einer ganz bestimmten und seit langem sehr geläufigen Grundauffassung der Wahrheit huldigen. Und diese gerade, also der Grund und Boden, auf dem unser Wahrheitsstreben sich umtut, gerät ins Wanken. Das Wesen der Wahrheit wird sich wandeln, und unser Fragen muss diesen Wandel in Gang bringen und ihm die durchgreifende Wirkungskraft verschaffen. (…) Dieser Wandel des Wesens der Wahrheit ist aber nicht eine bloße Abänderung einer Begriffsbestimmung (…), sondern dieser Wandel des Wesens der Wahrheit ist die Umwälzung des ganzen menschlichen Seins, an dessen Beginn wir stehen.« (34, 323 f.) »›Die 748

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Geschichte‹, wesentlich begriffen, und d. h. aus dem Wesensgrund des Seins selbst gedacht, ist der Wandel des Wesens der Wahrheit« (54, 80). Diese Erwartung eines solchen Wandels der Wahrheit, der diese von einzelnen Sätzen wegführt, trifft auf Heideggers Ungeduld, die Geschichte als einmaligen Auftrag auf der Spitze des Augenblicks versteht, als Befreiung von der Langeweile durch die Not einer großen Bedrängnis (45.3.4). Diesen Augenblick sieht er gekommen mit der nationalsozialistischen Machtergreifung; er schreibt darüber an eine Freundin: »Das gegenwärtige Geschehen hat für mich – gerade weil vieles dunkel und unbewältigt bleibt – eine ungewöhnliche sammelnde Kraft. Es steigert den Willen und die Sicherheit im Dienste eines großen Auftrages zu wirken und am Bau einer volklich gegründeten Welt mitzuwirken.« 1897 Das ist der »einmalige Auftrag« der Geschichte, auf den der ungeduldige Heidegger wartete (34, 91, s. o.). Dessen »sammelnde Kraft« verkörpert sich für Heidegger in der Person Hitlers. So erklärt sich sein Aufruf zur Reichstagswahl im November 1933: »Deutsche Studenten. Die nationalsozialistische Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins. An Euch ist es, in diesem Geschehen die immer Drängenden und Bereiten, die immer Zähen und Wachsenden zu bleiben. Euer Wissenwollen sucht das Wesentliche, Einfache und Große zu erfahren. (…) Nicht Lehrsätze und ›Ideen‹ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung. Heil Hitler! Martin Heidegger, Rektor.« 1898 Die Wahrheit und das ihr folgende Wissenwollen haften demnach nicht mehr an einzelnen Sätzen, sondern am »Einfachen und Großen«, das als Unverborgenheit neuer Art von einem entsprechend einsatzbereiten Menschentum verwahrt werden soll. »Das Volk gewinnt die Wahrheit seines Daseinswillens zurück, denn Wahrheit ist die Offenbarkeit dessen, was ein Volk in seinem Handeln und Wissen sicher, hell und stark macht. Aus solcher Wahrheit entspringt das echte Wissenwollen (…).« 1899 Diese WahrMartin Heidegger, Elisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918–1969, hg. v. I. W. Storck, Marbach a. N. 1990, S. 60 (30. 03. 1933). 1898 Guido Schneeberger, Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken, Bern 1962, S. 135 f. 1899 Ebd. S. 149 (Ansprache Heideggers bei einer Wahlkundgebung zur Reichstagswahl am 11. November 1933). 1897

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heit verdichtet sich in der Person des Führers. Er ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Das will sagen: Die gemeinsame Situation des deutschen Volkes einschließlich ihrer prospektiven (in die Zukunft gerichteten) Anteile ist an sich segmentiert, so dass ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten (psychologisch gesprochen: Überzeugungen), Programmen (ihr »Gesetz«) und Problemen in keinem Augenblick ganz zum Vorschein kommt; sie verdichtet sich aber zu einer impressiven Situation, einem vielsagenden Eindruck, in der Person des Führers und ist so gewissermaßen mit einem Schlage da für das Volk als das »Dass seines Da«, das ihm aber nicht wie dem Dasein »in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt« (136), sondern es sicher, hell und stark macht, weil sich dem Volk in der Zusammenziehung seiner segmentierten Situation zu einer impressiven ganzheitlich zeigt, was es ist und will. Wie wenig auch die Persönlichkeit Hitlers für die Rolle passt, die Heidegger ihr zudenkt, so wichtig ist die philosophische Errungenschaft, die ihm an diesem Beispiel gelingt. Ich spreche von Plakatierung einer segmentierten (zuständlichen oder aktuellen) Situation durch eine impressive. Das ist die zweite Grundform menschlicher Orientierung neben der Explikation einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme in satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen; für Tiere, die nicht über satzförmige Rede verfügen, ist sie die einzige. Alle Information durch Ausdruck (im Gegensatz zu Nachricht und Symptom, z. B. Gesichtsausdruck) ist Plakatierung; das Übersehen dieser Informationsquelle führt Quine zu seiner falschen These von der grundsätzlichen Unbestimmtheit jeder Übersetzung (43.4.2). Dichtung ist Plakatierung gemäß meiner oft vertretenen These, dass ihr Wesen in einer geschickten Sparsamkeit der Rede besteht, die durch einen hinlänglich dünn gewebten Schleier aus satzförmig dargestellten Sachverhalten, Programmen und Problemen das Ganze einer im dichterischen Wort schonend plakatierten Situation mit unzerstückelter binnendiffuser Bedeutsamkeit durchscheinen lässt. Im täglichen Leben hat die Plakatierung auffallende Kraft z. B. als vielsagender Eindruck, den man bei der Begegnung mit einem Menschen oft schlagartig von dessen Persönlichkeit, einer segmentierten Situation, gewinnt, z. B. als erotischer Leiteindruck, 1900 der sich bewähren, aber auch täuschen kann und 1900

Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 90–97.

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dann den Beeindruckten in unglückliche Liebe stürzt, wie namentlich Goethe (Clavigo, Werther, Gretchentragödie, Wahlverwandtschaften) exemplarisch demonstriert. In diesem Sinne unglücklich war auch Heideggers Enthusiasmus für den Nationalsozialismus und dessen Führer, wie er schon nach einem Jahr, auf sein Rektoramt verzichtend, erkennen musste. Nach dieser Enttäuschung verlegt Heidegger seine Entdeckung der Plakatierung als Wahrheit neuen Stils von der Politik in die Dichtung. »Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird.« 1901 Zur Kultfigur dieser poetischen Plakatierung, zum Dichter schlechthin als Künder der Wahrheit, wird für Heidegger Hölderlin, dessen Auszeichnung unter den Dichtern denn auch erst nach der Enttäuschung durch den Nationalsozialismus einsetzt. Sein Name fehlt noch in der Vorlesung des Wintersemesters 1931/32 bei der Aufzählung großer Dichter (Homer, Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe), denen »das Wesentliche der Entdeckung des Wirklichen« zu verdanken sei (34, 64). Die segmentierte Situation, die im dichterischen Plakat zur Wahrheit kommt, wird von Heidegger als »Grundstimmung« bezeichnet; bei Hölderlin handelt es sich um »heilig trauernde, aber bereite Bedrängnis« (39, 137). »Die jeweils herrschende Grundstimmung und die in ihr geschehende Eröffnung des Seienden im Ganzen ist der Ursprung der Bestimmung dessen, was wir die Wahrheit eines Volkes nennen. (…) Die Wahrheit eines Volkes ist jene Offenbarkeit des Seins, aus der heraus das Volk weiß, was es geschichtlich will, indem es sich will, es selbst sein will. Die Grundstimmung, und das heißt, die Wahrheit des Daseins eines Volkes, wird ursprünglich gestiftet durch den Dichter.« (39, 143 f.) Der Dichter übernimmt also die Aufgabe, die vorher dem politischen Führer zugedacht war. Dichtung ist ein »Weiterwinken« der Winke, die nach Hölderlin die Sprache der Götter sind, sie »ist: das Dasein des Volkes in den Bereich dieser Winke stellen« (39, 32), wodurch »der Wink der Götter gleichsam in die Grundmauern der Sprache eines Volkes durch den Dichter hineingebaut wird« (39, 33). Einen Beitrag dazu versucht Heidegger in seiner Auslegung von Hölderlins Gedicht Heimkunft, indem er die Sprache um das Substantiv »die Heitere« (zu verstehen wie »die Fremde«) bereichert: »Das Höchste ›über dem Lichte‹ ist die strahMartin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 7–68: Der Ursprung des Kunstwerkes, hier S. 59.

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lende Lichtung selbst. Wir nennen sie nach einem älteren Wort unserer Muttersprache (…) ›die Heitere‹. Sie ist in einem zumal die Klarheit (claritas), in deren Helle alles Klare ruht, und die Hoheit (serenitas), in deren Strenge alles Hohe steht, und die Froheit (hilaritas), in deren Spiel alles Freigelöste schwingt. Die Heitere behält und hat alles im Unverstörten und Heilen. Die Heitere heilt ursprünglich. Sie ist das Heilige.« (4, 18) Die Heitere ist das Apollinische, das durch Nietzsche zum Schlagwort geworden ist, während es Heidegger durch die Kunst sparsamer Formulierung gelingt, diese sonst nur in Segmenten aufscheinende Situation, einschließlich der Heilkraft des Heilgottes Apollon, zum vielsagenden Eindruck zusammenzuziehen. Das ist ein mögliches Beispiel für jenes dichterische Einmauern der Winke der Götter in die Sprache des Volkes, wofür Heidegger die schöne Formulierung findet, »dass die Sprache in einem großen Augenblick ein einziges Mal Einziges sagt, das unerschöpflich bleibt, weil es stets anfänglich ist und unerreichbar für jede Art von Nivellierung.« 1902 In ähnlicher Weise bemüht sich Heidegger wiederholt, vielsagende Eindrücke ohne mehr als dichterisch sparsame Explikation als Plakate im angegebenen Sinn sprachlich herzustellen, etwa in der Darbietung des Gevierts aus der Erde, dem Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen (79, 17) als »die Welt«, »das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen« (79, 19). Über die Dichtung hinaus spannt Heidegger den Bogen der Wahrheit als Plakatierung statt als Explikation in seinem (1935 entstandenen) Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes.1901 Er unterscheidet vier Weisen solcher Wahrheit: die staatsgründende Tat, »die Nähe dessen, was schlechthin nicht ein Seiendes ist, sondern das Seiendste des Seienden«, das wesentliche Opfer und das Denken des Seins in seiner Fragwürdigkeit. Für den ersten Typ kann man an die nationalsozialistische Revolution denken, für den dritten etwa an Albert Leo Schlageter, der als Guerilla-Kämpfer gegen die französische Ruhrbesatzung 1923 hingerichtet und von Heidegger 1933 in einer schwungvollen Rede als Märtyrer gefeiert wurde, für den vierten an Heideggers eigenes Seinsdenken; im zweiten Fall kommt am ehesten die Nähe Gottes in Betracht. 1903 Der in dem Aufsatz thematische ProMartin Heidegger, Was heißt Denken?, 4. Auflage Tübingen 1984, S. 168. Vgl. 79, 55 (handschriftlicher Zusatz zum Manuskript des Vortrags Die Gefahr): »Gesetzt aber, Gott sei, zwar nicht das Seyn selbst, aber das Seiendste, wer dürfte jetzt

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totyp solcher Wahrheit aber ist das Kunstwerk. Heidegger fasst ein Gemälde von van Gogh, das Schuhe zeigt, als Darstellung von Bauernschuhen auf und sieht in diesen gemalten Schuhen die plakatierte Wahrheit der bäuerlichen Welt, einer segmentierten Situation; andere Beispiele sind der dorische Tempel und die Tragödie (namentlich die Orestie) als Aufstellungen der Welt der Griechen. 1904 »Werksein heißt eine Welt aufstellen.« 1905 Die Welt ist »die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes«, »die Lichtung der Bahnen der wesentlichen Weisungen, in die sich alles Entscheiden fügt«. 1906 Das ist es, was ein Volk in seinem Wissen und Handeln hell, sicher und stark macht,1899 das »Einfache und Große«, das die vom Nationalsozialismus aufgerufenen Studenten zu erfahren suchen.1898 Heidegger hat seine am politischen Geschehen gewonnene und an der Dichtung Hölderlins belegte Konzeption der Wahrheit unverändert auf das Kunstwerk übertragen. Indem aber dieses eine Welt aufstellt, stellt es sich zurück in die Erde. 1907 »Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt: Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende.« 1908 »Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt.«1907 »Offen gelichtet als sie selbst erscheint die Erde nur, wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d. h. ständig sich verschlossen hält.« 1909 Wenn man diese Angaben auf die Konzeption der Wahrheit als Plakatierung bezieht und abstrakt formuliert, lässt sich die Erde im Werk als impressiver Situation als die Binnendiffusion der Bedeutsamkeit verstehen, die im Plakat nicht expliziert, nicht in Einzelnes auseinandergenommen, also in ihrer Präsenz gewissermaßen verschlossen gehalten wird, über das Werk hinaus aber als die segmentierte Situation selbst, die schon wagen, zu sagen, dass dieser so vorgestellte Gott die Gefahr sei für das Seyn?« Brief über den Humanismus, 9, 354 f., zu Heraklit fr. 119 (Diels/Kranz): »Der Spruch sagt: der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes.«. 1904 Wie Anm. 1901, S. 22–24, 30–32. 1905 Ebd. S. 33. 1906 Ebd. S. 37.43. 1907 Ebd. S. 35. 1908 Ebd. S. 31. 1909 Ebd. S. 36.

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in ihrer prägnanten Verdichtung zum vielsagenden Eindruck nicht aufgeht, sondern als Hintergrund einen verborgenen Überschuss behält. Mit dieser allegorisch präzisierenden Bestimmung wird man dem, was Heidegger mit »Erde« sagen will, aber nicht voll gerecht. Er will mit diesem Wort selbst plakatierend und nicht explizierend sprechen, wie mit der Prägung »die Heitere«. Zur binnendiffusen Bedeutsamkeit des Gemeinten gehört daher ein nicht explizit werdender Überschuss, der z. B. in den Baugrund, worauf der Tempel steht, hinüberspielt und andere weitere Assoziationen einschließt, die sich mit dem Wort »Erde« verbinden. Wegen der Geschichtlichkeit der Wahrheit will Heidegger das Kunstwerk auf die geschichtliche Welt und die geschichtlichen Umstände, woraus es hervorgegangen ist, festlegen; so sollte z. B. die sixtinische Madonna in der Kirche in Piacenza bleiben, für die sie ursprünglich bestimmt war, und nicht ins Museum wandern. 1910 Das ist problematisch. Heidegger scheint aristotelisch zu denken und das Aufstellen einer Welt als Formung eines vorliegenden Stoffes zu verstehen, dem die Form fest verhaftet bleibt. Er übersieht, dass das Kunstwerk die Welten, die es aufstellt, auch von sich aus heraufbeschwören kann. Auffällig wird das an der Musik von Bach. Es wäre lächerlich, sie als Aufstellung der Welt des Kleinfürstenhofes von Anhalt-Köthen oder der muffig-pietistischen und kleinlich streitsüchtigen Umwelt der Thomaskirche jener Tage zu verstehen. Die Welten, die Bachs Musik aufzustellen vermag, sind noch gar nicht alle zur Welt gekommen. Überhaupt fällt auf, dass Heidegger die Musik auslässt. Seine Begriffe passen auf diese Kunst nicht so glatt wie auf Poesie, Architektur und Bildende Künste. Wo soll man z. B. die Erde der Musik suchen?

45.3.6 Das Sein 45.3.6.1 Heideggers Seinsverständnis Heidegger führt die lebenslange Bestimmung seines Denkweges durch das Thema des Seins auf die Anregung zur Aristoteles-Lektüre zurück, die dem Siebzehnjährigen 1907 durch die Lektüre des Buches Martin Heidegger, Denkerfahrungen, Frankfurt a. M. 1983, S. 69–71: Über die Sixtina (1955).

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Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles von Franz Brentano zuteilgeworden sei. 1911 Brentano beschränkt sich auf eine konventionelle Auslegung des den Bedeutungen des Wortes »Seiendes« gewidmeten 7. Kapitels im 5. Buch der Metaphysik und ist diesem bei glatter Oberfläche verwickelten und fremdartigen Text 1912 nicht gewachsen. Heideggers autobiographischer Hinweis ist hinsichtlich der Anregung zwar glaubwürdig, führt von der Hauptlinie seines Seinsdenkens aber ab. Wesentlich für diese ist die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Dass (etwas ist: Existenz, Dasein, Wirklichkeit) und des Was (etwas ist: Eigenschaftsbesitz, Fall-einer-Gattung[im weitesten Sinn des Wortes]-sein, Bestimmtheit); der scharfe Begriff von Existenz oder Wirklichkeit aber fehlt bei Aristoteles, wenigstens im genannten Kapitel, 1913 und wird an anderer Stelle,1875 die Heidegger nicht berücksichtigt, von ihm nur durch Fragewörter markiert. Die Existenz wird erst in der Scholastik herausgearbeitet und dem Was entgegengestellt, deutlich noch nicht bei Thomas von Aquino, der Existenz und Fülle unter dem Titel »Akt« vermengt (22.1), danach aber als eine Form des Seins (esse existentiae) neben dem Was als der anderen (esse essentiae) sowohl bei Gegnern der Realdistinktion (Heinrich von Gent) als auch bei deren Vorkämpfern (spätmittelalterlichen Thomisten). Diese Gegenüberstellung fasziniert Heidegger sowohl in der »Transzendenzphase« 1928–1930 1914 als auch noch nach 1945 1915 als »das Problem der Grundartikulation des Seins«, »eines der tiefsten Probleme«, warum »das Sein in Was-sein und Dass-sein gespalten ist« und »diese Unterscheidung im Sein als esse essentiae und esse existentiae vor das Denken gelangt ist«, wo es »das Geschick der abendländischen und der gesamten europäisch bestimmten Geschichte« nach Heidegger »durchherrscht«, »ein Problem, das endlich gestellt werden muss 1911 1, 56 (Vorrede zu Frühe Schriften, 1972); Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, 10. Auflage 1993, S. 92 f.; Brief an Richardson (1962) als Vorrede zu William J. Richardson, Heidegger, The Hague 1963, S. XI. 1912 Dazu Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Bonn 1985, Band I Teil 2 S. 534–537 (zum ganzen Kapitel), 65–67, 115–118, 162–165 (zu einzelnen Passagen). 1913 Man darf »Dynamis und Energeia« nicht, wie Heidegger im Brief an Richardson, mit »Möglichkeit und Wirklichkeit« übersetzen, denn diese Bedeutung klingt bei Aristoteles zwar an, aber vermengt mit einer anderen (12.4). 1914 26, 192 f.; 3, 224; 29/30, 519. 1915 9, 328.329 (Brief über den Humanismus); Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, 5. Auflage 1989, Band II S. 349.

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und das offenbar nur gestellt werden kann, wenn gefragt wird, was das Sein als solches sei?«1914 1915 Heideggers Seinsdenken ist also viel weniger an Aristoteles als an der Spätscholastik orientiert. Die Gegenüberstellung von esse essentiae und esse existentiae ist das Leitmotiv der existenzialen Analytik, indem er die Existenz des Daseins durch Abspreizung des esse essentiae oder Was (in Möglichkeit) vom puren Dass (dem esse existentiae des Daseins) bestimmt, während beim übrigen Seienden das Dass sein Was ohne weiteres bei sich habe. Begrifflich verfehlt er allerdings die Gegenüberstellung, indem er die existentia im scholastischen Sinn mit Vorhandenheit gleichsetzt und der Existenz des Daseins gegenüberstellt (42), während Vorhandenheit in diesem Sinn 1916 vielmehr die bruchlose Gefügtheit von essentia und existentia meint, Existenz des Daseins aber deren Spreizung. Immer aber fasst er essentia und existentia als Spezialisierungen des esse, eines irgendwie übergeordneten und sie zusammenfassenden Seins, auf. Damit verfängt er sich in das Erbe der scholastischen Sprachhörigkeit. Das Wort »Sein« wird in der Geschichte der Philosophie in vier heterogenen Hauptbedeutungen gebraucht: zur Bezeichnung der Existenz (dass etwas ist), der analytischen Einheit (Eigenschaftsbesitz, Fall-von-etwas-sein), der Identität (»Helena ist die Schönste«) und der Tatsächlichkeit (»Das ist der Fall«). Die Verwechslung der analytischen Einheit (s. die Überleitung am Anfang des Bandes) mit der Identität ist ein Erbübel der Scholastik (21.3), dem erst der logische Positivismus (43.3.2) ein Ende bereitet hat, während sie noch bei Hegel die groteske Blüte des Ausgangs seiner Urteilstheorie von dem der schlichten Subsumtion unterstellten Satz »Das Einzelne ist das Allgemeine« trieb. Heideggers Missgeschick im Gefolge der Scholastik ist die Zusammenfassung der Existenz als esse existentiae mit der analytischen Einheit als dem esse essentiae unter dem Dach des Seins, obwohl beide ontologischen Grundzüge nur durch den sprachlichen Zufall der Verwendung eines Hilfszeitverbums wie »sein« in gewissen indogermanischen Sprachen wie dem Lateinischen auf einen Nenner gebracht werden; der Sache nach würde man die analytische Einheit besser durch »hat« (»Helena hat Schönheit«) vom Sein im strengen Sinn, im Gegensatz zum Nichtsein (»Helena ist, sie existiert« im Gegensatz zu: »Sie ist nicht, ist nur eine SagenfiDas Wort wird von Heidegger doppelsinnig gebraucht: Vorhandenheit im Gegensatz zu Existenz und Vorhandenheit im Gegensatz zu Zuhandenheit.

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gur«), unterscheiden. Heidegger wird durch seine Scholastik- und Sprachhörigkeit auf die Suche nach dem Sein als einer Fata Morgana, die sich nicht fassen lässt, geschickt. Dieser Abweg ist besonders deswegen schade, weil der Entschluss Heideggers, »die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen« (1), an sich großes Lob verdient. Sie ist geeignet, dem Missstand abzuhelfen, dass die Philosophen sich zwar vielfach darüber streiten, was ist und was nicht ist, aber viel zu wenig darüber nachdenken, was sie meinen, wenn sie von etwas sagen, dass es sei; die intensionale Fragestellung ist gegenüber der extensionalen sträflich vernachlässigt und mit willkürlich beigebrachten, oft ganz flachen und unzulänglichen Formulierungen, wie um ihr den Mund zu stopfen, abgefunden worden. 1917 Leider verhindert Heidegger die Ergiebigkeit und Präzision der Frage nach dem Sinn von Sein durch seine Weigerung, »Sein in der Bedeutung von Wirklichkeit« zu ihrem Thema zu machen: »Es wäre also schon eine grundsätzliche Verfehlung des Seinsproblems, wollte man es nur oder vorwiegend als Wirklichkeitsproblem stellen.« (31, 67) Dass Sein im strengen Sinn dennoch Wirklichkeit – in hinlänglich weitem, nicht auf das Handgreifliche beschränktem Sinn – ist, ergibt sich schon daraus, dass niemand in auch nur halbwegs normalem Sprachgebrauch etwas als wirklich und nichtseiend ausgeben wird, wohl aber unter Umständen etwas als eigenschaftlich (unter etwas fallend) und nichtseiend, als identisch und nichtseiend (43.3.1). Unter dem Einfluss von Lotze ist Heidegger dieser Auszeichnung der Wirklichkeit als das Sein im strengen Sinn einmal nahe gekommen; er sagt darüber 1925/26: »Ich selbst habe in einer früheren Untersuchung über die Ontologie des Mittelalters mich an die Lotzesche Unterscheidung angeschlossen, für Sein also den Ausdruck Wirklichkeit gebraucht, halte das heute nicht mehr für richtig.« (21, 64) 1918 Lotzes Vorgabe fasst er, nach entEine Blütenlese solcher Antworten findet man in meinem Buch: System der Philosophie Band IV, zuerst Bonn 1980, als Studienausgabe 2005, S. 167 f. Meine intensionale Behandlung des Seins steht in Der Spielraum der Gegenwart (Bonn 1999) auf S. 20–32 und 35–37. 1918 Ich kann das nur als Anspielung auf folgende Stelle in Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus verstehen: »Das ›ens logicum‹, d. i. der Sinn, ebenso wie die in ihm antreffbaren Bestandstücke, die Bedeutungen, haben sich dem realen Sein gegenüber als eigene Welt erwiesen, und das nach zwei Seiten: bezüglich der ›Existenz‹, besser: Wirklichkeitsweise (Dassheit) und hinsichtlich ihres inhaltlichen Wesens (Washeit).« (1, 290). 1917

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sprechendem Zitat aus dessen Metaphysik, so zusammen: »Wirklichkeit besagt einmal das Sein der Dinge, zweitens Geschehen der Ereignisse, drittens Bestehen von Verhältnissen und viertens Geltung von Sätzen. Sein, Geschehen, Bestehen und Gelten sind die vier Formen des Wirklichseins, der Wirklichkeit überhaupt; und diese vier Formen von Wirklichkeit oder Bejahtheit sind nach Lotze aufeinander nicht zurückführbar und auseinander auch nicht abzuleiten.« (21, 69) Es handelt sich also um einen sehr abstrakten Begriff von Wirklichkeit als Dass-Sein, der schon überdehnt ist, 1919 aber immerhin das gefährliche Wort »Sein« vermeidet und also davor schützen kann, diese Wirklichkeit mit dem Was unter den trügerischen Hut eines Seins zu bringen. Lotzes Einteilung wirkt noch in Sein und Zeit, wo zu den Formen »des geklärten Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden« auch die dessen, »was, nicht zuhanden und nicht vorhanden, nur ›besteht‹«, geschlagen wird (333), mit dem Bestehen der Beziehung zwischen dem idealen Urteilsgehalt und dem realen psychischen Urteilsvorgang als Beispiel (216). Für das Sommersemester 1918 und das Wintersemester 1918/19 kündigte der Privatdozent Heidegger zweimal eine nicht gehaltene Vorlesung über Lotze und die Entwicklung der modernen Logik an; 1920 im Mittelpunkt wird das hier Erörterte gestanden haben. Dass Heidegger davon abgegangen ist, ist seinem Seinsdenken nicht bekommen.

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45.3.6.2 Die Entkräftung des Seins Heidegger hat seine existenziale Analytik zweimal vorgetragen: zuerst in seiner unter den irreführenden Titel »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs« gestellten Vorlesung aus dem Sommersemester 1925 (Gesamtausgabe Band 20) und danach in dem Buch Sein und Zeit, das 1926 verfasst 1921 und 1927 veröffentlicht wurde. Beide Ausarbeitungen trennt ein radikaler Bruch der ontologischen Konzeption. In Sein und Zeit wird das Dasein ständig und bedenkenlos als ein Seiendes mit besonderer Seinsart ausgegeben, in der Vorlesung aber nur mit – sozusagen – schlechtem Gewissen und dem Das Gelten von Sätzen gehört entweder nicht hierhin oder ist als Tatsächlichkeit der in den Sätzen behaupteten Sachverhalte zu verstehen, die aber nur missbräuchlich als deren Existenz ausgegeben wird, vgl. Der Spielraum der Gegenwart S. 63–74. 1920 Kisiel, wie Anm. 1878, S. 469. 1921 Ebd. S. 489. 1919

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Zugeständnis, dass es eigentlich nicht stimmt. »(…) wir dürfen, wenn wir sagen und eigentlich zu Unrecht sagen ›das Seiende, das die Seinsart des Daseins hat‹, nicht meinen, dieses Seiende sei so etwas wie ein vorhandenes Weltding (…). Weil der Ausdruck ›das Seiende vom Charakter des Daseins‹ immer so etwas nahelegt wie Substanzialität eines Dinges, ist er im Grunde verfehlt.« (20, 325) »Dieses Man, das als das ›realste Subjekt‹ gewissermaßen, das es für das Dasein gibt, gefasst werden muss, macht (…) deutlich, dass das eigentlich Seiende des Daseins, das Wer, kein Ding und nichts Weltliches ist, sondern selbst nur eine Weise zu sein ist. (…) Phänomenal verbietet dieser Tatbestand des Man, nach einem Seienden zu fragen, das das Dasein wäre.« (20, 341) In der Vorlesung des folgenden Wintersemesters (1925/26) sagt Heidegger: »Nach dem früher Gesagten ist Sorge, sofern sie kein Seiendes bedeutet, nicht bezogen auf ein Jetzt, in welches ein Vorhandenes fällt und fallen kann, und wodurch es eine gewisse zeitliche Bestimmtheit erhält. Die Charaktere Schon und Vor sind dann überhaupt nicht Bestimmtheiten eines Seienden, sondern eines Seins.« (21, 242 f.) Der wirklichkeitsfremde Zug des Daseins (als Mensch), dass es in keinem bestimmten Zeitpunkt zwischen Geburt und Tod »landen« kann (374), ist hier noch deutlicher, sogar ohne Bezug auf Geburt und Tod, herausgearbeitet. Nach Sein und Zeit handelt es sich um ein Befinden, »wie es auf dem Grund des Seins des Daseins als Sorge einzig möglich ist.« (374) Das Dasein gilt als Seiendes. Im Winter 1925/26 handelt es sich um ein Merkmal der Sorge selbst, sofern sie kein Seiendes ist, also nicht um das Merkmal eines Seienden. Diese Sorge ist das Dasein selbst, sogar der Mensch, dessen Identität mit dem Dasein Heidegger in Sein und Zeit nur »hinter vorgehaltener Hand« eingesteht (45.3.2). Der Mensch teilt nämlich mit der Sorge, »sofern sie kein Seiendes ist«, die Unfähigkeit, irgendwann mit dem Vorhandenen zusammen vorzukommen. In einer Anmerkung kurz vor dem eben zitierten Text schreibt Heidegger: »Ein Mensch dagegen ist streng genommen nie innerhalb der Welt vorhanden; er gewinnt diese scheinbar primäre Art des Seins erst, wenn er tot ist –« (21, 240). Das Dasein gilt Heidegger also 1925 und noch im folgenden Winter nicht als Seiendes, sondern als eine Weise zu sein. Dieses Sein ist die Existenz (existentia) im ganz gewöhnlichen, nicht »existenzphilosophisch« eingeengten Sinn. Die These des Descartes, dass wir die Substanz nicht allein dadurch, dass sie eine existierende Sache ist (ex hoc solo, quod sit res existens) bemerken können, legt er sich 759

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1925 so zurecht, dass wir nach Descartes »keinen primären und ursprünglichen Zugang zum Sein des Seienden als solchen« haben (20, 236); er identifiziert damals also Sein mit Existenz im cartesischen, also gewöhnlichen Sinn. Dieses Sein verhält sich zum Vorhandenen aber anders als zum Dasein. Bei Farbe und Ton kann das allgemeine Wesen bestimmt werden, ohne auf die Existenz und das Wesen der Existenz als der Vereinzelung zu achten. (20, 151) Heidegger fasst Existenz hier als Individuationsprinzip auf, gemäß einem in der Scholastik viel diskutierten und von Duns Scotus bis Leibniz318 verworfenen Vorschlag. 1922 Husserl missbraucht mit seiner Methode der Wesensschau, wobei »in der Betrachtung und Ausformung des reinen Bewusstseins lediglich der Wasgehalt herausgehoben« wird, diese Ablösbarkeit der essentia von der Existenz (20, 151), denn wenn es »Seiendes gäbe, dessen Was es gerade ist, zu sein und nichts als zu sein, dann wäre diese ideative Betrachtung einem solchen Seienden gegenüber das fundamentalste Missverständnis«, das tatsächlich »in der Phänomenologie herrscht« (20, 152), 1923 denn das Dasein, um das es der Sache nach, aber mit unangemessenem Zugang, auch Husserl geht, ist von dieser Art: »Es ist nicht irgendein bestimmtes Was, das dazu seine Seinsart hätte, sondern was das Dasein ist, ist gerade sein Sein.« (20, 325) Eine ganz ähnliche Formulierung steht in Sein und Zeit: »Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene ›Eigenschaften‹ eines so und so ›aussehenden‹ vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das.« (42) Diese Übereinstimmung kann zur Unterschätzung des Abstandes beider ontologischer Konzeptionen verführen. Diesem Irrtum kann man vorbeugen, indem man auf den unterschiedlichen Sinn der von Heidegger in beide Texte eingeführten Wendung »Zu-sein« achtet. In Sein und Zeit heißt es: »Das Wesen dieses Seienden liegt in seinem Zu-Sein.« (42) Dieses Zu-Sein ist ein Zu-sein-haben (12.134), die »Geworfenheit« als »Faktizität der Überantwortung« (135) in einem teleologischen Sinn: »Das Dasein existiert umwillen eines Seinkönnens seiner selbst. Existierend ist es geworfen und als geworfenes an Als Individuationsprinzip der essentia kommt die existentia am Beispiel des aristotelischen Jetzt (aus der Zeitabhandlung in der Physik) in der Vorlesung des Sommers 1927 (24, 350) vor. 1923 Ebenso später (1928), mit Namensnennung Husserls und Wiedergabe von »modus existendi« mit »Wirklichkeit«, 26, 229. 1922

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Heidegger

Seiendes überantwortet, dessen es bedarf, um sein zu können, wie es ist, nämlich umwillen seiner selbst.« (364) Umwillen seiner selbst muss das Dasein existieren, weil es »je schon sein Noch-nicht« (243), seine mögliche Selbstverwirklichung, und anders »überhaupt noch nicht ›wirklich‹« ist (243). In der Vorlesung von 1925 wird das Zusein dagegen so gefasst: »Dasein ist das Seiende, das ich je selbst bin, an dessen Sein ich als Seiendes ›beteiligt‹ bin; ein Seiendes, das ist, in meiner Weise es zu sein.« (20, 205) »Dieses Seinsverhältnis zu dem Seienden, das ich selbst bin, charakterisiert dieses ›Zu-sein‹ als das je meine.« (20, 206) Diese Beteiligung an sich hat nicht den Charakter einer Aufgabe, die dem nackten »Dass es ist und zu sein hat« (134) durch Entzug seines Seins in das Noch-nicht der Möglichkeit aufgeladen ist, sondern ist die Einlassung auf das, was ich selbst je in meiner Weise bin, nicht erst zu sein habe. Dieses Zu-sein ist im Sinne der brieflichen Äußerungen von 1918/19 zu verstehen: »Und in Momenten, wo wir uns selbst u. die Richtung in die wir lebend hineingehören unmittelbar erfühlen, da dürfen wir das Klargehabte nicht nur als solches konstatieren, einfach zu Protokoll nehmen – als stünde es uns wie ein Gegenstand bloß gegen-über – sondern das verstehende Sichselbsthaben ist nur ein echtes, wenn es wahrhaft gelebtes d. h. zugleich ein Sein ist.« 1924 »Das geistige Leben muss wieder bei uns ein wahrhaft wirkliches werden – es muss eine aus dem Persönlichen geborene Wucht bekommen, die ›umwirft‹ und zu echtem Aufstehen zwingt.« 1925 Hier geht es nicht darum, umwillen seiner selbst zu sein, weil, was man ist, noch aussteht, sondern einfach darum, zu sein, was man selber ist, wenn man sich nicht durch die Abstandnahme des bloßen Zusehens darüber hinwegsetzt; dazu gehört eine Wucht, die den im Abstand solchen bloßen Zusehens Befangenen umwirft. In solcher Beteiligung daran, es selbst zu sein, kann das Dasein von 1925 existieren, weil es selbst dieses Sein ist; das ist der Sinn seiner Faktizität: »Faktizität des Daseins besagt: es ist in der Weise seines Seins dieses Sein, dass es ist, genauer: es ist sein ›Da‹ und sein ›In‹ selbst.« (20, 405) Nach Sein und Zeit kann sich das Dasein an seinem Sein nur indirekt, in der »Durchsichtigkeit« (146) durch das begegnende Seiende hindurch, beteiligen, weil ihm dieses in das Noch-nicht der Möglichkeit entzogen ist. Deswegen starrt ihm sein Da in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegen (136), 1924 1925

Wie Anm. 1897, S. 14 (Brief vom 01. 05. 1919). Ebd. S. 7 (Brief vom 15. 06. 1918).

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während es nach dem Text von 1925 dieses Da selbst ist. Die Faktizität wird in Sein und Zeit zur geworfenen Überantwortung an das Seiende, dessen das Dasein bedarf, um sein zu können, wie es ist, nämlich umwillen seiner selbst, d. h. um Zugang zu seinen Möglichkeiten, die es ist, zu erhalten. Beide Konzeptionen der existenzialen Analytik, die von 1925 und die von 1926/27, dienen auf verschiedenen Wegen dem gleichen Ziel, die strikte Subjektivität oder Jemeinigkeit als rezessiv entfremdete gemäß der »Regions- und Sachgebietsfremdheit des ›ich‹« nach der Jaspers-Rezension (45.3.1) zu etablieren: 1925 mit Ersatz des essentiellen Was der Regionen und Sachgebiete durch das Wie des Seins, 1926 das das Dasein ist; 1926/27 durch Entzug des Was in Möglichkeit. Nach der Konzeption von 1925 ist das Dasein Sein, das das Vorhandene nur hat; nach Sein und Zeit teilt sich das Sein in Existenz und Vorhandenheit, die sich durch verschiedene Verhältnisse des Dass und Was unterscheiden, durch entsprechend verschiedene »modi existendi und essendi«, wie Heidegger 1928 (26, 192) sagt, als sich ihm schon das Sein mit dieser Gliederung wie ein Fluss im Delta auf die »Mannigfaltigkeit der Regionen« verteilt hat. Modus existendi des Daseins ist das nackte oder pure Dass, modus essendi die Möglichkeit; modus existendi des Vorhandenen ist ein diesem gleichgültiges oder vielmehr über Gleichgültigkeit und Ungleichgültigkeit erhabenes, weil bruchlos mit dem Was zusammengehöriges Sein, modus essendi dagegen das schlichte Haben vorhandener Eigenschaften (42). Dasein und Vorhandenheit (als Gegenglied zu Existenz im Heidegger’schen Sinn von »Dasein«1916 ) sind nun zwei Arten des Seins, zwischen denen sich kein Unterschied im Rang mehr erkennen lässt, nur noch ein Typenunterschied, während Heidegger 1925 dem Dasein den ontologischen Vorrang verschaffen konnte, am Sein nicht bloß teilzunehmen, sondern in ihm aufzugehen. Damit entfällt 1927 die sachliche Rechtfertigung für Heideggers Anspruch, die existenziale Analytik als »Fundamentalontologie« und Grundlage aller regionalen Ontologien, damit aber als Bahn des Fragens nach dem Die Unterscheidung von Was (der Essenz) und Wie (der Existenz, des Daseins, der Wirklichkeit im gewöhnlichen Sinn) mit diesen Fragewörtern macht Heidegger erst 1930/31 (32, 147; 33, 223). 1928 wirft er Husserl vor, dass von diesem nicht »die Wirklichkeit, d. h. der modus existendi und sein Wesenszusammenhang mit dem essentialen Gehalt im engeren Sinn« berücksichtigt worden sei (26, 229). Wirklichkeit mit solchem modus oder mit modi existendi, aber ohne weiteren essentialen Gehalt, ist das Dasein nach der Konzeption von 1925.

1926

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Heidegger

Sinn von Sein, zu etablieren (13). Er rechtfertigt sich dafür damit, dass »Seinsverständnis eine Seinsbestimmtheit des Daseins« sei und auch »Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird« umfasse (12 f.). Daraus folgt aber doch keineswegs, dass man auch mit einer Untersuchung, deren Gegenstand das Sein des Daseins ist, beginnen müsste. Chemiker haben ihrem ChemikerSein nach ein ausgezeichnetes Verständnis für Stoffe, aber es wäre Unsinn, daraus die Forderung abzuleiten, Stoffe und Stofflichkeit primär an Chemikern als Objekten zu untersuchen. Wenn auch das Dasein Seinsverständnis hat, ist noch lange nicht einzusehen, warum dieses Verständnis ontologisch besser und ursprünglicher am Dasein statt an Seiendem anderer Art erprobt werden soll. Auf dem Standpunkt von 1925 hätte Heidegger einen triftigeren Grund für die Wahl der existenzialen Analytik als Fundamentalontologie gehabt: Wenn das Dasein an sich selbst, das Vorhandene aber nur durch Methexis (Teilnahme des Was) Sein ist, tut die Lehre vom Sein allerdings gut daran, beim Dasein anzusetzen. Glaubhafter als in Sein und Zeit ist daher in der Vorlesung der Anspruch der Analytik der Existenz, dass sich »das Verständnis des an sich Seienden gerade nur in einer radikalen Interpretation des Daseins« eröffne (20, 300). Fatale Folgen hat die Verschiebung des Ansatzes der existenzialen Analytik für das ontologische Gewicht des Daseins im Verhältnis zur Natur. Heidegger will dieser den historischen Vorrang nicht streitig machen: »Man wird vielleicht sagen, dass gerade dieses Vorhandene – die Umwelt-Natur – das Realste, die eigentliche Realität der Welt sei, ohne welches Realste, Natur nämlich, Erde, Boden, alles Erdige, Irden und Irdisches nicht sein kann, vielleicht nicht einmal das Dasein selbst.« (20, 270) Diesem historischen Vorrang der Natur gegenüber will er aber einen ontologischen des Daseins behaupten, in der Vorlesung mit der handstreichartigen Begründung, dass Realität Weltlichkeit (20, 271) und damit ein »Seinscharakter des Daseins und dadurch erst und zugleich des Seienden« (20, 228) sei. Besser hätte er sich darauf berufen können, dass die Natur mit ihrer Realität das Sein, das das Dasein (auf seine Weise) sei, nur habe. In Sein und Zeit lautet die Begründung: »Wie immer dieses Sein der ›Natur‹ interpretiert werden mag, alle Seinsmodi des innerweltlichen Seienden sind ontologisch in der Weltlichkeit der Welt und damit im Phänomen des In-der-Welt-seins fundiert.« (211) »Dass Realität ontologisch im Sein des Daseins gründet, kann nicht bedeuten, dass Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein 763

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existiert.« (212) Trotz des Zugeständnisses in der zweiten Hälfte des Satzes ist die These der ersten Hälfte auf dem Standpunkt der existenzialen Analytik von Sein und Zeit nicht mehr zu halten, denn warum soll die bruchlose Gefügtheit von Dass und Was (Vorhandenheit) ihren Grund in deren Zerrissenheit durch Abspreizung des Was vom Dass (Sorge als Sein des Daseins) haben müssen? Heidegger unternimmt in Sein und Zeit einen schwachen Versuch, das Sein in der Obhut des Daseins zu halten, indem er es vom Seienden löst: »Sein – nicht Seiendes – ›gibt es‹ nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist.« (230) Kaum ist das Buch erschienen 1927 , räumt er im Sommersemester 1927 diese Position: Das innerhalb der Welt begegnende »Seiende, z. B. die Natur, hängt in seinem Sein, dass und ob es Seiendes ist oder nicht, keineswegs davon ab, ob es wahr, d. h. enthüllt ist und als enthülltes für ein Dasein begegnet oder nicht.« (24, 313) In dieser Vorlesung hält er dennoch daran fest, dass es Sein nur gibt, wenn Dasein existiert (24, 26.194), aber das »präjudiziert nichts darüber, ob und wie Seiendes als Seiendes ist.« (24, 317) »Natur kann auch sein, ohne dass eine Welt ist, ohne dass Dasein existiert.« (24, 249) Ein Jahr später unterscheidet Heidegger vom Sein, das es nur durch das Dasein und sein Seinsverständnis geben könne, das »faktische Vorhandensein der Natur« als »Voraussetzung der faktischen Existenz des Daseins« (26, 199). Wie das Sein selbst einem vorausgesetzten Vorhandensein durch Vermittlung des Daseins erst noch folgen soll, bleibt schleierhaft. Wie weit sich Heidegger 1928 von der ersten Gestalt seiner existenzialen Analytik entfernt hat, zeigen die Sätze: »Nun ist in der Tat richtig: es gehört nicht zum Wesen von Dasein überhaupt, dass es faktisch existiert, sondern es ist gerade sein Wesen, dass dieses Seiende faktisch auch nicht existent sein kann. Der Kosmos kann sein, ohne dass Menschen eine Erde bewohnen, und vermutlich war der Kosmos längst bevor je Menschen existierten.« (26, 216) Nach der Vorlesung von 1925 war es »das fundamentalste Missverständnis«, das Wesen des Daseins »unter Absehen von seiner Existenz zu bestimmen« (20, 15, s. o., »Existenz« im herkömmlichen Sinn); jetzt wird ihm ein Wesen zugeschrieben, zu dem es gehört, dass es auch nicht sein kann. Heidegger ist zum naiven Realisten geworden, der das Vorhandensein der Natur – übrigens auch den ewigen Bestand dessen, was der Satz »2  2 = 4« oder ein anderes analytisches Urteil meint (24, 1927

Im April 1927 (Kisiel, wie Anm. 1878, S. 486 f., nach Fritz Heidegger).

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314 f.) – zum vom Dasein unabhängigen Ansichsein erhebt und umgekehrt das Dasein davon abhängig macht. Damit hat er sich abermals der Scholastik angepasst, aber auch der Ontologie von Nicolai Hartmann.1874 Von Hartmann aus könnte man den Ertrag von Sein und Zeit im Licht der bis 1928 eingenommenen Stellung Heideggers so zusammenfassen, dass unter lauter Ansichseiendem auch ein Seiendes vorkommt, das von seinem ungesättigten Sein genötigt wird, sich in eine Welt einzuspinnen und in sie Seiendes mit gesättigtem Sein aufzunehmen, mit dem dabei »im Grunde nichts vor sich geht« (26, 252). Die Welt des In-der-Welt-seins wäre dann nur etwas für das Dasein, sozusagen ein erweitertes Bewusstsein, auf dem Hintergrund eines dagegen gleichgültigen Ansichseins. Der Ertrag dieser Konzeption für die Überwindung des Immanenzdogmas wäre vertan. Das wäre ein großer Verlust, aber Heidegger hat sich dieser Umdeutung ausgeliefert, weil er die Sonderstellung des Daseins nur aus der Perspektive des Subjekts entwickelt, als Angewiesenheit des ungesättigten Seins auf begegnendes, ihm die Durchsicht auf sein in Möglichkeit abgespreiztes Was gewährendes Seiendes, wodurch es an der Abschließung in Immanenz gehindert wird. Um die Überwindung des Immanenzdogmas gegen naiven Realismus zu sichern, hätte Heidegger die Sonderstellung des Daseins auch in der Objektperspektive begründen müssen, etwa so, dass Einzelheit Bestimmtheit (analytische Einheit) voraussetzt, diese aber nur durch Explikation von Sachverhalten aus Situationen gelingen kann, die nur dank satzförmiger Rede möglich ist, die dem Dasein vorbehalten bleibt. Zu dieser oder einer anderen Abrundung seiner existenzialen Analytik auf der Objektseite hat Heidegger vermutlich deshalb nicht gelangen können, weil er zwar kein erklärter Singularist ist, aber, wie ich unter 45.3.2 am Wechsel zwischen dem Singular und dem Plural von »Möglichkeit« abgelesen habe, nie über den Plural, den Mannigfaltigkeitstyp, nachgedacht zu haben scheint, so dass ihm numerische Einheit und Mannigfaltigkeit nur von Einzelnem, damit aber der Singularismus, als selbstverständlich vorkam. In der Vorlesung des Sommers 1928 verleiht er dem Dasein die dyadische Struktur von metaphysischer Neutralität und transzendentaler Zerstreuung (45.3.3) und beleuchtet die »Mannigfaltigkeit« dieser Zerstreuung durch den Hinweis: »Das Dasein verhält sich als existierendes nie je nur zu einem Objekt, und wenn, dann nur in der Weise des Absehens von zuvor und zugleich immer miterscheinenden anderen Seienden.« (26, 173) Er scheint nur an vielerlei einzelne Seiende zu denken, nicht daran, dass 765

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das Dasein auch die Aufgabe haben könnte, aus dem chaotischen Mannigfaltigen (39.1) von Situationen Einzelnes erst zu explizieren. Die Entkräftung des Seins beginnt in Sein und Zeit und den Vorlesungen der beiden folgenden Sommer mit der Überflüssigkeit, die es dadurch erhält, dass ihm das Vorhandensein der Natur vorausgesetzt wird und das Seiende ohne es auskommen soll. Diese Entkräftung setzt sich im Spätwerk nach der umgekehrten Richtung fort: Die Ehe des Seins mit dem Seienden, wenn ich so sagen darf, wird nicht mehr geschlossen nach einer langen Zeit, in der das Seiende ohne Sein auskam, sondern sie wird geschieden, indem das Sein das Seiende verlässt und dieses dennoch übrigbleibt. Solche Seinsverlassenheit ist ein Lieblingsthema des späteren Heidegger; das vom Sein verlassene Seiende existiert weiter, aber in einem gründlich verwahrlosten Zustand der Gleichförmigkeit, »in der es nur noch auf die berechenbare Sicherheit seiner Ordnung ankommt«, einer »Unterschiedslosigkeit der totalen Vernutzung« durch »Nichtzulassen einer Rangstufung gemäß der Leere aller Zielsetzungen.« 1928 Heidegger sieht sein Zeitalter im Zeichen solcher Seinsverlassenheit mit zorniger Verachtung: »Gibt es aber einen härteren Beweis für die Seinsverlassenheit als diesen: dass die im Riesigen und seiner Einrichtung sich austobende Menschenmasse nicht einmal mehr gewürdigt wird, auf einer kürzesten Bahn die Vernichtung zu finden? Wer ahnt den Anklang eines Gottes in solcher Versagung?« (65, 113) Heidegger begünstigt die Abkehr vom Seienden zum Sein, sowohl als das Opfer, das der »Abschied vom Seienden auf dem Gang zur Wahrung der Gunst des Seins« sei 1929 als auch als das Entsetzen, das im belagerungstechnischen Sinn an die Stelle der Angst tritt, indem das Sein uns Menschen, die vom Seienden belagert werden, von »dieser Belagerung ent-setzen« muss (65, 481 f.). Dies geschieht so nachdrücklich, dass das Sein dem Seienden den Platz wegnimmt: »Das, was ist, ist keineswegs das Seiende.« 1930 »Das, was eigentlich ist, ist keineswegs dieses oder jenes Seiende. Was eigentlich ist, d. h. eigens im Ist wohnt und west, ist einzig das Sein.« 1931 »Doch das Sein – was ist das

Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze Teil I, zuerst Pfullingen 1954, 3. Auflage 1967, S. 89 (Überwindung der Metaphysik. Aufzeichnungen 1936–1946). 1929 9, 310 (Nachwort zu Was ist Metaphysik?, 1943). 1930 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, 8. Auflage, Pfullingen 1991, S. 44. 1931 Ebd. S. 43. 1928

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Sein? Es ›ist‹ Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muss das künftige Denken lernen.« 1932

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45.3.6.3 Die Seinsgeschichte Nach Heidegger hat das Sein selbst eine Geschichte, 1933 deren »Epochen die verschiedenen Weisen« sind, »in denen sich dem abendländischen Menschen die Anwesenheit zuschickt.« 1934 Es ist merkwürdig, dass sich das Sein dafür gerade das Abendland aussucht, den Bereich, der vom Bildungshorizont Heideggers abgesteckt wird. Die Seinsgeschichte hat drei Hauptepochen: 1. die griechische Epoche bis Platon und Aristoteles. Das Sein beginnt als Physis. Sie ist »das aufgehende Walten, das In-sich-dastehen« in »Ständigkeit« 1935 mit Anwesenheit als »Hergestelltheit« (33, 180) 1936 und Wahrheit als »Unverborgenheit des Seienden« gemäß der Etymologie ihres griechischen Titels »Aletheia«, der auf diese Weise »das ursprünglichere Wesen des Wahren nennt.« (45, 98) Diese Wahrheit wandelt sich – zuerst bei Platon, ablesbar am Höhlengleichnis der Politeia, bei ihm aber noch in zweideutiger Verbindung mit der älteren Auffassung – »zur Richtigkeit des Vernehmens und Aussagens« (9, 231) »zufolge der Unterjochung unter die Idee« (9, 234). 1937 2. die römische Epoche, deren Bedeutung hauptsächlich in der lateinischen Übersetzung griechischer philosophischer Leitworte besteht. Dabei wird, bedingt durch die imperiale Gesinnung der Römer, das Herstellen als Hervorkommen und -holen in Anwesenheit zum Herstellen als Machen. 3. die Neuzeit seit Descartes. Das Herstellen kommt in die Bot9, 331 (Brief über den Humanismus). 9, 335: »Es gibt (…) die Geschichte des Seins, in die das Denken als Andenken dieser Geschichte, von ihr selbst ereignet, gehört.« (ebd.) Näheres dazu steht in HH S. 503– 525. 1934 15, 367 (Seminar in Le Thor, 1969). 1935 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 5. Auflage, Tübingen 1987 (zuerst Vorlesung Sommersemester 1935), S. 139. 1936 Zur Hergestelltheit vgl. folgende Thesen Heideggers über die Erde im Kunstwerk (45.3.5): »Das Aufstellen einer Welt und das Herstellen der Erde sind zwei Wesenszüge im Werksein des Werkes.« »Das Herstellen ist hier im strengen Sinn des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt.« (wie Anm. 1901, S. 36 und 35). 1937 Zitiert aus 9, 203–238: Platons Lehre von der Wahrheit (zuerst gedruckt 1942). 1932 1933

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mäßigkeit eines planend-sichernden Vorstellens, das alles Seiende um die positionale Subjektivität herum vergegenständlicht, um es dem technischen Zugriff des Willens verfügbar zu machen. Ich lasse eine kritische Auswertung dieser drei Epochencharakteristiken folgen. Zur griechischen Epoche: Heidegger sieht die griechischen Denker in zu enger Einstellung auf Platon und Aristoteles, mit einer Rückblende von diesen zu dem »verlorenen Paradies« der Altmeister Anaximander, Heraklit und Parmenides. Er ignoriert den Bruch mit dem archaischen Denken bei Demokrit (9.1) durch Übergang zum psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Paradigma. Demokrit ist viel »moderner« als Platon, der das neue Paradigma allerdings spätestens im Timaios vollständig übernommen hat, und erst recht als Aristoteles. Er nimmt durch exakte Standardisierung der Abstraktionsbasis die reduktionistische Ausgrenzung des Bereiches vorweg, auf den sich noch die modernste Physik bei der Erprobung von Theorien an Messdaten beschränkt. Dass er Wahrheit als Richtigkeit versteht, zeigt schon der Titel »Kanon« (»Richtschnur«) seines erkenntnistheoretischen Hauptwerkes. »Seiend ist für den Griechen« nach Heidegger nicht »das je besondere Dieses, sondern umgekehrt das, was je das einzelne Besondere ist, und was im voraus gesichtet ist, die Idee.« (45, 69) Davon kann ich bei Demokrit, der seine Atome »Ideen« nannte, nichts finden. Was die archaischen Denker vor Demokrit angeht, passt der Ausdruck »Herstellung« nicht schlecht auf ihre Auffassung von der Gegebenheit des Einzelnen, aber mit dem Leitwort »Ständigkeit« wird Heidegger dem archaischen Dynamismus in dieser Konzeption von Herstellung nicht gerecht, weder bei Anaximander, dessen Apeiron (das Endlose) sozusagen brodelt und Blasen treibt, aus denen nach der Anordnung der Zeit in ewig wiederkehrender Folge die Himmel und die Ordnungen in ihnen werden, 1938 noch bei den Pythagoreern, nach denen aus dem Unendlichen ein Wind in die Welt das Leere, das die Naturen scheidet und der Zahl zugänglich macht, und die Zeit hineinweht 1939 und schon gar nicht bei Heraklit, nach dessen Lehre der Blitzschlag alles steuert (fr. 64, s. o. 4.2). Auch Parmenides ist Dynamiker; sein All des Vgl. Hermann Schmitz, Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn 1988, S. 1–41. 1939 Aristoteles Physik 213b 22–27 und De Pythagoreis fr. 11 Ross (Fragmenta selecta, Oxford 1955, S. 137) = fr. 201 Rose (3. Auflage). 1938

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untrügend Seienden ist voll drängender und gedrängter, gefesselter Kraft (5.2). Was aber die Aletheia betrifft, so ist die Übersetzung mit »Unverborgenheit« zweifellos etymologisch korrekt und auch schon vor Heidegger bekannt, doch handelt es sich ursprünglich nicht um eine Unverborgenheit des Seienden, sondern der Rede, um Unverhohlenheit des Sprechens, die metaphorisch auf Seiendes ausgedehnt wird, gemäß dem von Charles Kahn hervorgehobenen »veritativen« Sinn des entsprechenden griechischen Wortes »n« 1940 also auch auf Sachverhalte, die Tatsachen sind, so dass sie nicht täuschen, auf die man sich verlassen kann. Demgemäß ist bei Parmenides Aletheia so viel wie Untrügendheit, 1941 und ebenso Wahrheit (veritas) mit dem Beispiel einer Mauer noch bei Augustinus, 1942 der gewiss nicht in der griechischen, sondern in der römischen Tradition des Wahrheitsverständnisses steht. Heidegger hat seinen zäh festgehaltenen Fehler, aus der Etymologie ohne weiteres auf einen Ursinn des Wortes zu schließen, aufgrund von Hinweisen schließlich eingesehen (55, 363) und sich damit geholfen, dass Aletheia als Unverborgenheit »mit ›Wahrheit‹ nichts zu tun« habe. 1943 Zur Sache habe ich anzumerken, dass die Auffassung der Wahrheit als Unverborgenheit ohne Rücksicht auf satzförmige Rede unzulänglich ist, weil sie die Voraussetzung macht, dass alles Seiende, das in solche Unverborgenheit kommt, einzeln sei. Mit den Vertretern des Singularismus, dem er gleichsam naiv unausdrücklich anhängt, übersieht Heidegger, dass Einzelheit (eine Anzahl um 1 zu vermehren) zur Stabilisierung, damit sie nicht bloß flüchtig aufflackert wie bei dem vorsprachlich auf etwas zeigenden Kind, der satzförmigen Rede bedarf. Für die Wahrheit eines möglichen Erkennens oder Wissens, wenigstens in theoretischer Einstellung, ist noch nichts dadurch gewonnen, dass etwas unverborgen ist; der Betrachter übersieht es, wenn er es nicht als Fall von etwas versteht, und dieses Verstehen bricht ohne das Vermögen satzförmiger Rede haltlos zusammen. Anders verhält es sich im Charles Kahn, The Verb »Be« in Ancient Greek, Dordrecht 1978, Why Existence does not emerge as a distinct concept in Greek Philosophy?, in: Archiv der Geschichte der Philosophie 58, 1976, 323–334. Meine Beispiele (Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988, S. 82, Anm. 100) sind Sophokles Elektra 584 und Herodot 1, 97. 1941 Schmitz, ebd. S. 24–27. 1942 Soliloquia II 5, 5 f. 1943 15, 262.396 (Heraklit-Seminar Winter 1966/67; Seminar in Zähringen 1973). 1940

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praktischen Umgang leiblicher Kommunikation, in flüssiger Motorik; da ist, schon für Tier und Kind, geschickte Eindrucksverarbeitung möglich, ohne sich auf Einzelnes einzulassen, und es genügt die Vertrautheit mit Identität und Verschiedenheit. Zur römischen Epoche: Ein schon von Hegel und dann besonders kraftvoll von Dilthey in die Welt gesetztes Vorurteil ist die Meinung, dass die Weltanschauung und Lebensform der Römer auf dem Macht- und Herrschaftswillen beruhe. Wichtiger als das imperium ist den Römern aber die religio, die Scheu vor dem unheimlichen Eingreifen abgründiger Mächte, und das Bestreben, sie zu befrieden und ihren Stachel durch Einholung ins Einheimische loszuwerden. Die römische Welteroberung wird demgemäß an der Wurzel durch das defensive Motiv der Hegung angetrieben, den ganzen Erdkreis zur erweiterten Stadt Rom zu machen und sich damit vom Druck des abgründigen Draußen zu befreien. 1944 Dagegen ist das Eroberungs- und Herrschaftswollen der Griechen im Kern offensiv, angetrieben vom Eros (vgl. Thukydides VI 24, 3) als unspezifischer Drangmacht, 1945 die den Römern unbekannt war. 1946 Dieser Unterschied schlägt sich in den maßgebenden Worten nieder: Die Griechen verstehen das Herrschen als ˝rcein (archein), als vom Ursprung (⁄rcffi, arche) her ausgreifende Machtausübung, die Römer dagegen als regere, 1947 ein Geraderichten, das auf Vermeidung gefährlicher Ablenkungen vom Weg bedacht ist. Ein anderes lateinisches Verbum, dem Heidegger eine verhängnisvolle Rolle in der Seinsgeschichte zuteilt, ist »agere«. Die Übersetzung von »Energeia« mit »actualitas« soll das »in seiner Hergestelltheit Anwesende« zum »factum des facere, zum actum des agere« umgedeutet haben. 1948 »Wenn das Sein sich zur actualitas (Wirklichkeit) gewandelt hat, ist das Seiende das Wirkliche, ist es bestimmt durch das Wirken im Sinne des verursachenden Machens.« 1949 Aber abgesehen davon, dass man das aristotelische Wort »Energeia« sehr wohl vom Wirken her etwa mit »Wirk-

Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, als Studienausgabe 2005, S. 308–341. 1945 Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, als Studienausgabe 2005, S. 440–451. 1946 Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 18–21. 1947 Vergil, Aeneis VI 851: tu regere imperio populos, Romane, memento. 1948 Martin Heidegger, Nietzsche, Band II, Pfullingen 1961, 5. Auflage 1989, S. 412. 1949 Ebd. S. 414. 1944

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heit« übersetzen könnte, 1950 ist das römische agere mit seinen substantivischen Ableitungen (actus, actio) kein Machen, sondern die einem Geschehen Richtung gebende Initiative oder Führung, erst als Treiben des Viehs, dann in Gestalt der actiones des Zivilprozesses, in dem sich der römische Volksgeist eines der wichtigsten Gebiete seiner Produktivität auftat, das juristische, wo es nicht um Herrschen und Machen, sondern um Abwägen geht. Zur neuzeitlichen Epoche: Heidegger, der mit den Glanzleistungen seiner frühen Zeit, der existenzialen Analytik (45.3.2) und noch der folgenden Anthropologie mit dyadischer Struktur (45.3.3), im Dienst begrifflicher Ausarbeitung der strikten Subjektivität mit rezessiver Entfremdung steht (45.3.1), bekennt sich damals zu dieser Subjektivität als der »wirklichen« gegen deren Abwertung zur bloß positionalen bei Husserl und Rickert (229), aber auch an anderer Stelle. 1951 Später will er nichts mehr davon wissen; der Gegensatz wird deutlich, wenn man eine Äußerung von 1928/29 1952 neben zwei fast unüberbietbar scharfe Absagen an Subjektivität aus späterer Zeit 1953 stellt. Subjektivität ist für ihn nur noch »die aufständische Souveränität des neuzeitlichen Menschen«, das »Wesen der Ichheit, metaphysisch gedacht (…), dass das Ich alles übrige Seiende sich zum Gegenüber und Gegenstand und Gegenwurf (Objekt) macht« (54, 203), indem etwa das Vernehmen als empfängliches Gewahren im Sinne des griechischen noe…n (noein) zur Vernehmung im Gerichtssinn, zum Verhör wird (50, 67), wie Kant es als wissenschaftliche Einstellung zur Natur vorschlägt. 1954 Heidegger wendet sich in erster Linie gegen das, was ich die dynamistische Verfehlung des abendlänDie Energeia, die »wird und nicht wie irgendein Besitz besteht« (Nikomachische Ethik 1169b 29 f.), ist für Aristoteles immer ein Wirken oder (als erste Entelechie) eine spezifizierte Wirk- und Funktionsbereitschaft, deswegen freilich nicht schon ein Machen, sondern in erster Linie ein Wirken in sich, wie das Sehen, das Leben. 1951 9, 137 f. 138 (Vom Wesen des Grundes); 3, 205 (Kant und das Problem der Metaphysik). 1952 »Der Subjektivismus wird nicht dadurch überwunden, dass man sich über ihn moralisch empört, sondern dadurch, dass man das Problem des Subjekts, d. h. die Frage nach der Subjektivität des Subjekts wirklich und radikal stellt.« (27, 11). 1953 »Wo es die Zertrümmerung des Subjekts gilt, wie soll da noch das Sein ›subjektiv‹ gemacht werden können?« (65, 456) »Dasein ist nicht Subjekt. Es gibt keine Frage mehr nach Subjektivität. Transzendenz ist nicht ›Struktur der Subjektivität‹, sondern ihre Beseitigung!« (Zollikoner Seminare, hg. v. M. Boss, Frankfurt a. M. 1987, S. 238, Seminar vom 8. März 1965). 1954 Kritik der reinen Vernunft B XIII. 1950

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dischen Geistes genannt habe, 1955 d. h. die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht, sei es des allmächtigen Gottes, sei es einzelner Menschen oder Menschengruppen, sei es der sozialen und technischen Apparate, in deren Netz abstrakter Gesetzlichkeit (25.4) der Mensch sich verfängt. Heideggers Kassandrarufe sind selten übertrieben, manchmal mit großer Sprachkraft vorgetragen, 1956 wenn ich auch nicht seiner Diagnose zustimmen kann: »Sein ist heute Ersetzbarsein.« 1957 Gerade die moderne Maschinentechnik hat nämlich den Typ des virtuosen Autofahrers hervorgebracht, der mit seiner übermenschlichen Motorkraft sozusagen sekündlich der eigenen Vernichtung und der Vernichtung anderer Menschen ins Auge blickt und diese Gefahr spielend meistert, in solchen Augenblicken offenbar »völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen« (250) und keineswegs ersetzbar; und das erledigen die Leute ganz nonchalant Tag für Tag und stundenlang. Heideggers Warnungen gehen nicht zu weit, aber nicht tief genug. Er verkennt die Verwurzelung der dynamistischen Verfehlung im psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Paradigma (28) und im Christentum; Descartes, den er zum Protagonisten des neuzeitlichen Subjektivismus ernennt, hat mit seinem Zeitgenossen nur eine Zwischenbedeutung als einer der Vermittler (nach Bacon) des Entschlusses, die Macht, an die das affektive Betroffensein längst gebunden ist, in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei baut er auf eine weitere unerlässliche Voraussetzung auf, die im Mittelalter erfüllt wurde, als Wilhelm von Ockham den latenten scholastischen Singularismus (24.1) zum radikalen Durchbruch brachte (24.2). Das Projekt der neuzeitlichen Vergegenständlichung hängt ja davon ab, die Welt als ein Netzwerk einzelner Faktoren aufzufassen, das rekonstruiert und technisch umgeknüpft werden soll, und dazu bedarf es des singularistischen Glaubens, dass alles ohne weiteres einzeln ist, ohne Rücksicht auf Situationen und Bedeutungen. Heidegger hätte von Descartes zu Wilhelm und dem schon vor diesem angesammelten scholastischen Potential des Singularismus zurückgehen müssen, um dem Geist der Technik auf die Spur zu kommen. Der größte Mangel seiner Neuzeit-Analyse aber ist die Verkennung des Bruches zwischen Kant und Fichte. Er meint: »Fichte fasst nur die 1955 1956 1957

Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 37–55 und passim. Ich denke besonders an den Vortrag Das Gestell von 1949 (79, 24–45). 15, 369 (Seminar in Le Thor, 1969).

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Kantische Situation schärfer.« (60, 91) Vor Fichte gibt es eigentlich gar keine neuzeitliche Subjektivität, denn was Descartes und Kant als solche zu bieten haben, ist nur die positionale und daher keine echte (35.3.4), während erst Fichte die strikte Subjektivität entdeckt (36.1) und zugleich als rezessiv entfremdete (36.2) verstellt hat. In dieser Gestalt nahm der junge Heidegger sie auf (45.3.1) und triumphierte mit ihrer den Zeitgenossen unerwarteten Rehabilitierung auf scholastischer Grundlage (45.3.2); im Älterwerden hat er sie vergessen oder verdrängt. Fichtes Grundstellung gilt ihm nun als der äußerste Gegensatz zu Sein und Zeit, »wenn überhaupt Vergleichsmöglichkeiten bestehen« (49, 160). Damit wird er blind für die enorme Verschärfung der Gefahr, 1958 die von der rezessiven Entfremdung der Subjektivität über die romantische Ironie (38) als ironistische Verfehlung des abendländischen Geistes 1959 ausgeht, indem die Verführung zu schrankenloser Wendigkeit das konsequente, zielstrebige Wollen erschlaffen lässt, so dass die Menschen der Macht unpersönlicher Apparate, die sie zur Scheinsouveränität beliebigen Verfügens einladen und dann in ihre Netze verstricken, kraftlos ausgeliefert sind. Vor allem wird aber Heideggers Ahnungslosigkeit über den Bruch zwischen Kant und Fichte seiner Darstellung Nietzsches zum Verhängnis. Er sieht nur den Nietzsche, der als Vollender des Aufstandes der neuzeitlichen Subjektivität im nackten Willen zur Macht die Reinkultur der dynamistischen Verfehlung besorgt (42.1), und verkennt den anderen Nietzsche, der im Gefolge der Frühromantik (42.2) als freier Geist und Zarathustra (»Selbstkenner! Selbsthenker!«) an einem Übermaß rezessiver Entfremdung der Subjektivität und romantischer Ironie nach beiden Seiten der Zuwendung und Abwendung zugrunde geht. 1960 45.3.7 Der eschatologische Neuplatonismus Das geheime Leitmotiv der abendländischen Philosophie seit dem Mittelalter ist das Ringen zwischen dem neuplatonischen Prinzip der Vieleinigkeit und dem scholastischen Singularismus. Der letzte 79, 46–67: Die Gefahr (Vortrag in Bremen 1949). Wie Anm. 1955, S. 64–70, vgl. auch Großheim, s. o. Anm. 1707. 1960 Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 157–175. 202–225, die eben aus Zwischen Raubvögeln (Dionysos-Dithyrambe IV) zitierten Worte auf S. 204. 1958 1959

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unverkennbar entschiedene Anhänger des neuplatonischen Prinzips im Mittelalter war Johannes Scotus Eriugena; seit Abaelard alles, was Eines ist, als Eines der Zahl nach und diskret in eigentümlicher Wesenheit ausgab,156 dachten die Scholastiker, gezogen von dem auf ein unklares Einheitsverständnis gebauten Axiom der Vertauschbarkeit des Seienden und des Einen, mit Ausnahme des Duns Scotus (23.2) singularistisch, mit Beschränkung der Mannigfaltigkeit auf vieles Einzelnes, das eine Anzahl je um 1 vermehrt. Diese Überzeugung blieb aber mehr oder weniger latent, bis Wilhelm von Ockham aus ihr die äußersten Konsequenzen zog und damit den Siegeszug des Singularismus in der Neuzeit einleitete. Unterbrochen wurde dieser nur noch in den mehr oder weniger irrationalistischen Denkströmen des 16. Jahrhunderts, etwa bei Paracelsus, bis der Deutsche Idealismus im Zuge der Verarbeitung seiner Entdeckung der strikten Subjektivität den instabilen oder ambivalenten Typ der Mannigfaltigkeit wieder zur Sprache brachte: Fichte als Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren (Endlichkeit und Unendlichkeit des Ich), Novalis, indem er Ichsein als solches Schweben auffasste, und in einer Extremposition Hegel, der über alles neuplatonische Gedankengut hinaus jegliche Mannigfaltigkeit als instabil und ambivalent zu erweisen suchte. Danach erweiterte die Lebensphilosophie (Bergson, Dilthey, Klages) den Sinn für Mannigfaltigkeitstypen über den Horizont des Singularismus hinaus. Heidegger, dessen Seinsdenken sich um das (von ihm originell variierte) Verhältnis von esse essentiae und esse existentiae dreht, steht damit in der scholastischen Tradition. Er ist zwar nicht bekennender, wohl aber (vielleicht unbewusst) praktizierender Singularist. Das bleibt er bis zum Lebensende, nicht aber scholastisch inspirierter Seinsdenker. Im Spätwerk gibt er das Sein an das Ereignis preis. Seit 1936 ist »Ereignis« das Leitwort seines Denkens. 1961 Das Sein wird in das Ereignis verwandelt und als Geschick in das Ereignis zurückgenommen, 1962 so dass es als Sein verschwindet1963 und mit ihm die ontologische Differenz von Sein und Seiendem; 1964 für das Denken, das in das Ereignis einkehrt, ist die Seinsgeschichte zu Ende. 1965 »Wenn Welt erst sich eigens ereig9, 316 (handschriftliche Randbemerkung 1949 zum Brief über den Humanismus). Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 3. Auflage 1988, S. 56 (Protokoll zu einem Seminar 1962 über den Vortrag Zeit und Sein). 1963 Ebd. S. 46. 1964 15, 366 (Seminar in Le Thor 1969). 1965 Wie Anm. 1962, S. 44. 1961 1962

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net, entschwindet Sein, mit ihm aber auch das Nichts in das Welten« 1966 und erweist sich die ontologische Differenz als »das Verhältnis von Welt und Ding«. 1967 Die Preisgabe des Seins an das Ereignis ist für Heidegger zugleich ein Wechsel vom scholastischen zum neuplatonischen Leitbild der Mannigfaltigkeit, nicht dass er ausdrücklich auf die Problematik der Einzelheit reflektiert und seinen latenten Singularismus abgelegt hätte, sondern durch den Inhalt, den er dem Ereignis gibt. Es ist einerseits Ereignis im gewöhnlichen Sinn als »Erzittern«, »Er-schwingung in der Kehre« (65, 342), andererseits Eigen-tum (zu verstehen wie »Fürstentum«) im doppelten Sinn von Zueignung und Übereignung (65, 320), Zueignung »zu sich selbst« (ebd.) mit Selbstheit als »Zugehörigkeit in die Innigkeit des Streits« (65, 322), »der aus der Innigkeit der Ereignung des Ereignisses west« (65, 482) als »die Milde des Furchtbaren in der Innigkeit aller Wesen« (65, 475). »Innigkeit« ist ein Schlüsselwort dieses Ereignisdenkens. 1968 Am 2. Oktober 1962 schickt Heidegger an Boss einen Aufsatz über drei Leitworte Hölderlins. »Das erste Leitwort lautet: ›Alles ist innig‹ Dies will sagen: Eines ist in das Andere vereignet, aber so, dass es dabei selber in seinem Eigenen bleibt: Götter und Menschen, Erde und Himmel. Die Innigkeit meint kein Verschmelzen und Verlöschen der Unterscheidungen. Innigkeit nennt das Zusammengehören des Fremden, das Walten der Befremdung, den Anspruch der Scheu.« 1969 Über die Weise dieses Zusammengehörens geben die Feldweggespräche Auskunft, drei Dialoge, die Heidegger in der Endzeit des Krieges 1945 verfasst hat; sie gehören zum Reifsten, das er geschrieben hat, und fast könnte man sie als eine Perle der Literatur bezeichnen. Hauptthema des ersten Dialogs ist die Gegend oder Gegnet. Sie ist die freie verweilende Weite; sie versammelt alles zu einander beim Beruhen in sich selbst; sie öffnet sich, so dass in ihr das Offene gehalten und angehalten ist, Jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen. (77, 114) Die Dinge ruhen in der Rückkehr zur Weile der Weite ihres Sichgehörens (77, 115). Die Be-wegung kommt aus der Ruhe und bleibt in die

1966 1967 1968

79, 49 (Die Gefahr, Vortrag 1949). Wie Anm. 1962, S. 41. 65, 4.65.74 (»Wesensinnigkeit«). 240.244.257.264.265.345.349.357.410.475.482.

508. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, hg. v. M. Boss, Frankfurt a. M. 1987, S. 353.

1969

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Phnomenologie

Ruhe eingelassen (77, 118). Die Gegnet lässt Jegliches zu Jeglichem gehören und beruhen in der Rückkehr zu sich selbst (77, 125). Es ist nicht schwer, in diesen Umschreibungen von Ereignis, Innigkeit und Gegnet (Gegend) die neuplatonische Vieleinigkeit nach Plotin (15.2.1) und Proklos (16.3) wiederzufinden, die Innigkeit bis zur wechselseitigen Durchdringung und Umfassung mit Behauptung der Eigenständigkeit ohne Verschmelzung, nach meiner Deutung: die instabile oder ambivalente Mannigfaltigkeit, wo mehrere verschiedene Etwasse um Identität mit demselben Etwas konkurrieren (39.1). Bei Plotin gelingt dies durch die Veranderung des Geistes als der Schwankungsbreite von Identität und Verschiedenheit, symbolisch dargestellt als Feld der Wahrheit nach Platons Phaidros, auch als Land (Chora), das aber nicht ein neutraler Boden ist, sondern diese Schwankungsbreite als zeitloses Geschehen der Vervielfältigung des Einen und Vereinigung des Vielen (15.2.1). Feld und Land entsprechen der Gegend Heideggers. Bewegung und Ruhe fallen in der Weise instabiler Mannigfaltigkeit in der geistigen Welt Plotins zusammen, wie Be-wegung und Ruhe nach Heidegger. Proklos arbeitet die Einheit von Ruhe und Bewegung als Beharren im Hervorgang heraus: Für sich gehen die Dinge hervor, für die Götter beharren sie in ihnen. Alles geht hervor, beharrt und kehrt um in und zu den Göttern. (16.2) Es herrscht wechselseitige Durchdringung ohne Verschwimmen in einander. Je intensiver die Einkehr in sich ist, desto stärker das Standfassen in den übergeordneten Gründen; das gilt für jeden Geist und sogar für die Götter. (16.3) Der Innigkeit des Streits nach Heidegger entspricht bei Proklos die dynamische Polarität (16.4), in der Grenze und Unendliches, haltende Beharrung und hervorgehende Produktivität, Männliches und Weibliches durch alle Schichten des Universums hindurch antagonistisch zusammengehören, wofür Proklos Heraklit mit seiner Sentenz über den Krieg zum Zeugen anruft. Die Gemeinschaft mit Wahrung der Besonderheit im Zusammengehören ist die übereinstimmende Maxime von Plotin und Proklos, eingeprägt in die Sentenzen: »Tugend ist das sowohl Gemeinsame als auch Eigentümliche, und das Ganze ist schön, während das bloß Gemeinsame indifferent ist.« (Plotin 1970 ) »Alles in allen, aber eigentümlich in einem Jeden« (Proklos 1971 ). Plotin und Proklos siedeln die Vieleinigkeit in der übersinn1970 1971

Enneaden VI 7 [38] 10, 16 f. Elementatio theologica Satz 103; In Timaeum, ed. Diehl II 26, 25 f.; 44, 17 f.

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Heidegger

lichen, uns nicht (Proklos) oder nur in der Ekstase (Plotin) direkt zugänglichen Welt des Geistes mit Ausstrahlung nach unten bis zu uns an; Heidegger denkt sie eschatologisch als das Ereignis, das geschieht, wenn das gegenwärtige Unheil sich wendet und die Götter wiederkehren: »Nie kann sich der Mensch an die Stelle Gottes setzen, weil das Wesen des Menschen den Wesensbereich Gottes nie erreicht. Wohl dagegen kann, gemessen an dieser Unmöglichkeit, etwas weit Unheimlicheres geschehen, dessen Wesen zu bedenken wir noch kaum begonnen haben.« 1972 »Denn der Mensch ist in die Ichheit des ego cogito aufgestanden. Mit diesem Aufstand wird alles Seiende zum Gegenstand. Das Seiende wird als das Objektive in die Immanenz der Subjektivität hinein getrunken. Der Horizont leuchtet nicht mehr von sich aus. Er ist nur noch der in den Wertsetzungen des Willens zur Macht gesetzte Gesichtspunkt.« 1973 »Die Götter, die ›sonst da gewesen‹, ›kehren‹ nur ›in richtiger Zeit‹ : dann nämlich, wenn es sich mit dem Menschen an rechten Ort in der rechten Art gewendet hat.« 1974 Es wäre aber falsch, den eschatologischen Neuplatonismus Heideggers gleich dem christlichen Wartestand (19.2) als Erwartungshaltung aufzufassen. Vom Erwarten unterscheidet er das reine Warten als das Heilende im dritten Feldweggespräch, das als Dialog zweier kriegsgefangener deutscher Soldaten in russischen Lagern komponiert ist (77, 205–240). Im Gegensatz zum Erwarten wartet das reine Warten weder auf etwas noch auf nichts; in ihm lassen wir nur das Kommen kommen (217). Es hütet das Kommen, ist uns vielleicht schon anvertraut und noch vorbehalten (218). Den Wartenden ist das Nahe und das Ferne dasselbe, obwohl sich gerade ihnen der Unterschied des Nahen und des Fernen am reinsten offenhält (226, instabile Mannigfaltigkeit). »Was anders könnte das Heilende sein als Jenes, was unser Wesen warten lässt!« (226) »Im Warten sind wir reine Gegenwart.« (227) »Warten ist im Wesen anders als alles Erwarten, das im Grunde nicht warten kann.« (227) Wartend lassen wir die Dinge in das ein, wohin wir Wartende uns einlassen, wohin wir und sie gehören: in die Rückkehr zu sich selbst, worin sie beruhen (229, die Gegnet). »Wir gehören aber dem Kommenden als die Gegenwart, die antwortend es einlässt. Als diese Gegenwart lassen wir uns dem Kommen, weil unser Wesen ihm schon gelassen ist. 1972 1973 1974

Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 235. Ebd. S. 241. Ebd. S. 249.

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Phnomenologie

Und also uns lassend werden wir uns selbst erst zu eigen.« (231) Heidegger unterschreibt das dritte Feldweggespräch mit den Worten: »Schloss Hausen im Donautal, am 8. Mai 1945. Am Tage, da die Welt ihren Sieg feierte und noch nicht erkannte, dass sie seit Jahrhunderten schon die Besiegte ihres eigenen Aufstandes ist.« Hört!

45.4 Sartre 45.4.1 Subjektivität

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Sartre 1975 denkt als Franzose in den Spuren des cartesischen cogito, das er zum präreflexiven vertieft: »Es gibt ein präreflexives cogito, das die Bedingung des cartesischen cogito ist.« (20) Um diese Konzeption zu verstehen, muss man auf einen Doppelsinn des französischen Wortes »conscience« aufmerksam werden, das gemäß der Grundbedeutung seines lateinischen Vorbildes »conscientia« nicht nur das bedeutet, was in dessen durch Christian Wolff eingeführte deutsche Übersetzung mit »Bewusstsein« eingegangen ist, sondern obendrein ein Mitwissen mit dem eigenen Erleben und Erlebten als eigenem bezeichnet, so etwas wie eine latente Selbstbeobachtung. 1976 Manche Sätze Sartres sind nur verständlich, wenn man diesen Doppelsinn berücksichtigt: »L’être de la conscience est conscience de l’être.« (88) Das muss man übersetzen mit: »Das Sein des Bewusstseins ist Mitwissen des Seins.« Gemeint ist, dass nicht zum Sein eines Ich zitiere Sartres Hauptwerk L’être et le néant (Paris 1943) nach der 51. Ausgabe mit bloßen Seitenzahlen und beschränke die folgende Darstellung auf dieses Buch. Von der Qualität her könnte auch sein 1940 erschienenes Buch L’Imaginaire (deutsche Übersetzung: Das Imaginäre, Hamburg 1971) Berücksichtigung beanspruchen. Besonders gelungen ist der erste Teil mit Charakteristik und Durchmusterung des Imaginären (bloß Vorgestellten); das Folgende ist immer noch reich an klugen Beobachtungen und nützlichen Anregungen, leidet aber daran, dass bloß die Phantome (Anschauungsbilder) der Phantasie behandelt werden und zu kurz kommt, was ich als die führende Rolle der Sachverhalte in der Phantasie bezeichnet habe (System der Philosophie Band III Teil 4 S. 444–451). Phantasie lebt von Geschichten; sie schöpft aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit Netze von Sachverhalten, Programmen und Problemen, in denen Phantome nur als zusätzliche Illustrationen hängen. L’Imaginaire ist ein gutes Buch, aber zu speziell für einen Platz in der großen Linie der Geschichte der Philosophie. Zum Spätwerk Sartres s. u. Anm. 1989. 1976 Vgl. Ruth Lindemann, Der Begriff conscience im französischen Denken, Jena und Leipzig 1938 (Heidelberger Dissertation). 1975

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Sartre

Bewusstseinsinhaltes ein begleitendes Wissen hinzukommt, sondern dieses Sein selbst ein sich begleitendes Wissen ist, in sich gewissermaßen doppelt von vornherein. »Die Freude kann sich nicht einmal begrifflich von der conscience (dem Bewusstsein als Mitwissen) der Freude unterscheiden.« (21) Die mehrfachen Versicherungen Sartres, dass das Bewusstsein vollkommen leer und ohne Gehalt sei (20, 72), haben Sinn nur für das Mitwissen, das zu seinem Gewussten keinen Inhalt hinzubringt. Die ununterscheidbare Verschmolzenheit beider Seiten drückt Sartre aus, indem er das »von« in »Bewusstsein von sich« in Klammern setzt (»conscience (de) soi«, 20). Der Gedanke, dass jedes Bewussthaben nebenbei sich selbst betrifft, kommt schon bei Aristoteles 1977 und Brentano 1978 vor, wird von diesen aber nicht weiter verfolgt. Sartre macht daraus die Grundlage eines menschlichen Selbstverständnisses im Zeichen einer Zwiespältigkeit, die dem Bewusstsein (besser: Bewussthaben) die naive Geradlinigkeit und Unzweideutigkeit nimmt: »Wie kann man sein, was man ist, wenn man ist als Mitwissen (conscience) zu sein?« (98) Die durch keine Spaltung in zwei Seiten eines Verhältnisses zu beseitigende Ambivalenz von Mitwissen und Mitgewusstem verstrickt jegliches Bewussthaben in die mauvaise foi (85–111), die Selbstverstellung oder Unechtheit. Die Selbstverstellung geht so weit, dass auch die Lauterkeit (sincerité) Selbstverstellung ist, und ist nur möglich, weil das Menschsein 1979 ganz unmittelbar, im internen Gefüge des präreflexiven cogito, ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist (108). Das stellt sich im Fall des Glaubens so dar: »Glauben ist wissen, dass man glaubt, und wissen, dass man glaubt, ist so viel wie nicht mehr glauben. (…) So ist das nicht-thetische Bewusstsein (zu) glauben Zerstörer des Glaubens. Aber zugleich bedingt das Gesetz des präreflexiven cogito, dass das Sein des Glaubens Bewusstsein zu glauben sein muss. (…) Glauben, das ist: nicht glauben. Man sieht den Grund dafür: Das Sein des Bewusstseins ist, durch sich zu existieren, also sich sein zu lassen und dadurch sich zu übersteigen.« (110) Dann liegt allerdings der Einwand der Selbstanwendung nahe: Wenn es sich so verhält, kann auch Sartre nicht ungebrochen glauMetaphysik 1074b 36, Nikomachische Ethik 1170a 29–b7. Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874, 2. Buch 2. Kapitel § 8 (Ausgabe Leipzig 1924, Band I S. 176–180). 1979 Sartre sagt »realité humaine« als verlegene Anpassung an Heidegger, der in Sein und Zeit »das Dasein« sagt, wo er den (einzelnen) Menschen meint, um nicht direkt von diesem sprechen zu müssen (45.3.2). Ich übersetze mit »Menschsein«. 1977 1978

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Phnomenologie

ben, was er sagt, und damit hat er das Recht verwirkt, in L’être et le néant Behauptungen aufzustellen. Ein anderes Beispiel Sartres betrifft die Gefühle: »Meine Anstrengung der Selbstverstellung enthält aber das ontologische Verständnis dafür, dass ich im gewöhnlichen Gang meines Seins das, was ich bin, nicht wahrhaft bin und es keinen besonders großen Unterschied gibt zwischen dem Sein des ›Traurigseins‹, zum Beispiel, – dessen, was ich bin in der Weise, nicht zu sein, was ich bin – und dem Nichtsein des Mangels an Mut, über den ich mich hinwegtäuschen will.« (107) Solcher Generalverdacht gegen die Echtheit des Ergriffenseins im gewöhnlichen Leben, mit der Trauer bloß als Beispiel, dürfte kaum zutreffen. Man denke nur an den Zorn. Der Jähzornige ist ganz in seinem Element, für Gegenvorstellungen nicht ansprechbar; wo soll er den kühlen Kopf hernehmen, der aus der Flut des ergreifenden Gefühls mit präreflexivem cogito herausragt? Die Folgerungen, die Sartre aus dem präreflexiven cogito zieht, sind also nicht auf alle Weisen menschlichen Befindens und Verhaltens anwendbar, aber solange der Mensch die Fassung bewahrt in dem Sinn, wie ich von personaler Emanzipation aus der primitiven Gegenwart spreche, wird man ihm nicht den Spielraum 1980 absprechen dürfen, den Sartre als Wesensgesetz des Fürsichseins – besser hieße es: des Beisichseins, im Sinne des präreflexiven cogito – ausgibt: »Das Wesensgesetz des Fürsich, als ontologisches Fundament des Bewusstseins, besteht darin, es selbst in der Form der Anwesenheit bei sich (présence à soi) zu sein. Das Sich stellt also einen idealen Abstand in der Immanenz des Subjekts durch Bezug auf sich selbst dar, eine Weise, nicht sein eigener Zusammenfall (Koinzidenz mit sich) zu sein, der Identität zu entgehen, ganz indem man sie als Einheit setzt, kurz: in beständig instabilem Gleichgewicht zwischen der Identität als absolutem Zusammenhalt ohne Spur von Verschiedenheit und der Einheit als Synthese einer Mannigfaltigkeit zu sein. Das ist es, was wir die Anwesenheit bei sich nennen.« (119) Dieser labilen Ambivalenz des Fürsich- oder Beisichseins steht die kompakte Verschlossenheit des Ansichseins dessen, was »in der totalen Nacht der Identität« (184) bloß ist, was es ist, entgegen (33). Sartre ist der Meinung, dass er ohne logischen Widerspruch diesem Abstand im Beisichsein nicht gerecht werden kann: »Das Fürsich Vgl. von mir: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 157–173: Fassung als Spielraum der Person.

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Sartre

(…) kann und muss auf einmal 1. nicht sein, was es ist, 2. sein, was es nicht ist, 3. in der Einheit eines unablässigen Rückverweises sein, was es nicht ist, und nicht sein, was es ist.« (183) Nun macht ein Widerspruch jede Aussage unfähig, Behauptung zu sein, weil durch den Widerspruch alles Ausgesagte wieder zurückgenommen wird und nichts übrigbleibt, das behauptet werden könnte (43.4.2). Man hat also Anlass zu fragen, ob Sartre die Struktur des »unablässigen Rückverweises« nicht auch logisch einwandfrei auszudrücken vermag, und kann eine passende Formulierung auf Seite 359 finden: »Im Bewusstsein (von) sich waren die beiden Terme der Dualität ›Hin- und Widerschein‹ so unfähig, sich getrennt darzustellen, dass die Zweiheit ständig im Erlöschen begriffen war und jeder Term, indem er sich als der andere setzte, der andere wurde.« 1981 Damit ist die Struktur der Husserl’schen Puppe auf das Beisichsein übertragen: Zwei Etwasse konkurrieren um Identität mit demselben Etwas. Das ist die instabile Mannigfaltigkeit, die Hegel mit seiner Dialektik des durch Widersprüche gleitenden Satzsinnes zu erfassen sucht (39.1), aber ohne das für Hegel typische konstallationistische Ausgehen von einzelnen scharf umschriebenen und dann in einander aufgehobenen Seiten des Verhältnisses,1457 vielmehr mit einer Unmittelbarkeit des Verschwindens in einander, die es gar nicht erst zu einer dialektischen Vermittlung kommen lässt. Sartre spricht von einer »QuasiMannigfaltigkeit im Herzen des Fürsichseins« (183). Die Negativität des Verschwindens, das die Mannigfaltigkeit als Hin- und Widerschein nur vorbeihuschen lässt, ehe sie sich als numerische Mannigfaltigkeit Einzelner festsetzen kann, versteht Sartre als das Nichts: »Der innerbewusstheitliche Spalt ist ein Nichts außer dem, was er verneint, und kann nur sein, wenn man ihn nicht sieht. Dieses Negative, das auf einen Schlag nichts an Sein und nichtende Macht ist, ist das Nichts. (…) So muss das Fürsich sein eigenes Nichts sein. Das Sein des Bewusstseins als Bewusstsein besteht darin, im Abstand von sich als Anwesenheit bei sich (à distance de soi comme présence à soi) zu existieren, und diese Null-Distanz, die das Sein in seinem Sein trägt, ist das Nichts.« (120) Die beiden Seiten des Verhältnisses im präreflexiven cogito konkurrieren zwar um Identität (Zusammenfall) mit dem Bewusstsein, erreichen sie aber nicht, treten jedoch ebensowenig als verschiedene Einzelne aus einander und behalten Sartre spricht hier im Rückblick vom Standpunkt der Reflexion über das präreflexive cogito, daher das Imperfekt.

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Phnomenologie

also einen schwebenden Abstand, eine Lücke, die sich nicht fassen und keinen Raum zur Vermittlung lässt; das ist der Sitz des Nichts nach Sartre. Die Selbstverstellung (mauvaise foi) ist bestimmt, diese Lücke, die ich in meinem Selbstverhältnis geradezu bin, zu füllen und trägt daher dieses Nichts, das sie zudeckt, in sich (82). Die reine Subjektivität des augenblicklichen cogito ist der Ursprung, wodurch das Nichts in die Welt kommt (83). Keinen Zweifel lässt Sartre über diesen Ursprung: »Das Bewusstsein ist früher als das Nichts und ›zieht sich ab‹ vom Sein.« (22) Es handelt sich also um ein sekundäres Nichts, ein Nichts des Ausbleibens von Zusammenfall einerseits, Verschiedenheit Einzelner andererseits, trotz Konkurrenz um Identität. Man darf nicht an ein reines Nichts denken, das gar nichts wäre. Der Ausdruck »das Nichts« ist genau besehen eine sinnlose Substantivierung. Sartre gebraucht ihn aber sehr großzügig; so ist z. B. eine Sachlage, die noch nicht ist, ein Nichts (524). Durch das Nichts der Lücke im präreflexiven cogito wird das Menschsein zur Abreißung von sich selbst (arrachement à ellemême, 61). Ich entgehe in meinem Sein meinem Sein (106). Nichts kann mich gegen mich sichern, da ich durch das Nichts von der Welt und meiner Essenz geschieden bin (77). Sartre gibt dieser Abgerissenheit einen temporalen Sinn, als Scheidung der Gegenwart von der Vergangenheit als dem überschrittenen Ansich kompakter Identität, das ich bin, indem ich es nicht mehr bin (162, 161). Das Bewusstsein konstituiert sich in Bezug auf seine Vergangenheit als getrennt von ihr durch ein Nichts, und das ist die Freiheit als das Menschsein, das, sein eigenes Nichts absondernd, seine Vergangenheit mattsetzt (65). Das Bewusstsein dieser Freiheit ist die Angst (71), die darauf zurückgeht, dass das Bewusstsein, sich verzeitlichend, von sich einen Abstand nimmt, den keine Determination durch die eigene Vergangenheit erreichen kann (529 f.), so dass es keinen Beistand und Stützpunkt mehr hat in dem, was es war (558). Die eigene Vergangenheit wird zur Brücke vom Ansichsein zum Fürsichsein durch das absolute Ereignis der Nichtung des Ansich (Einsatz des Nichts in oder gegen dieses), wodurch sich die Vergangenheit als ursprünglicher Bezug des Fürsich zum Ansich bildet (184). In diesem Sinn ist Fürsichsein Geborensein (185), nämlich aus dem Ansich. Mit dieser scharfen Unterscheidung der – sozusagen – ontologischen Konsistenz von Vergangenheit und Gegenwart, überwölbt von der metaphysischen Konstruktion einer Geburt des Fürsich aus dem Ansich, macht Sartre es sich zu leicht. Die Vergangenheit ist für ihn 782

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Sartre

»ein Fürsich, das aufgehört hat, transzendente Anwesenheit beim Ansich zu sein. An sich selbst ist sie ins Milieu der Welt gefallen.« (192) Sie ist wie die Versteinerung der instabilen Mannigfaltigkeit zu unwiderruflichem Ansichsein. Aber durch sein Vergangensein kann nichts versteinern oder sich anders verändern. Dann könnte man sich nämlich nicht daran erinnern. Die Erinnerung meint nämlich das Vergangene, wie es war, und da war es nicht versteinert; wäre es inzwischen versteinert, könnte sie also gar nicht das erreichen, was sie meint. Ebenso fragwürdig ist Sartres Auffassung der Gegenwart. Er nützt im Abschnitt Le Présent (S. 164–168) die Zweideutigkeit des Wortes »présence«, sowohl zeitliche Gegenwart als auch räumliche Anwesenheit bei etwas zu bezeichnen, um in die Gegenwart die auf S. 120 eingeführte nichtende Anwesenheit des Fürsich bei sich (mit Abstand von sich) hineinzulegen. Was bei dieser relationalen Auffassung zu kurz kommt, ist die Absolutheit der Gegenwart, deren Grundlage in der Lebenserfahrung die primitive Gegenwart ist, das plötzliche Betroffensein vom Geschehen des Neuen, das Dauer zerreißt und Gegenwart exponiert, während die zerrissene Dauer vorbei ist, d. h. in Vergangenheit absinkt. Indem Sartre diese primitive Gegenwart vergisst, siedelt er die Zeit zu hoch nur auf dem Niveau des personalen Selbstbewusstseins an. Das gilt auch für die Zukunft, die er dem von ihm unterstellten Projekt des Fürsich widmet, zu dem Ansich, aus dem es geboren ist, zurückzukehren, aber nicht zwecks Einschmelzung, sondern mit dem Ziel einer Synthese: »Die Zukunft ist das als gegebenes Ansich überschrittene Vergangene, überschritten auf ein Ansich zu, das seine eigene Grundlage wäre, insofern als ich es zu sein hätte.« (253) Das Thema Zeit eignet sich auch zur Gegenüberstellung Sartres mit Heidegger. In Heideggers existenzialer Analytik gibt sich das Dasein als das, was es noch nicht ist; es ist seine Möglichkeit(en). Für Sartre ist das Fürsich das, was es nicht mehr ist; es ist seiner einsamen Freiheit überlassen, weil es seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat: »Die Vergangenheit ist das Ansich, das ich bin, als hinter mir gelassen.« (161) Heidegger interessiert sich für Existenz und Essenz wegen der Abspreizung des Was vom Dass, wodurch das menschliche Dasein die Züge eines Tantalus annimmt, der sich von begegnendem Seiendem mit nicht so abgespreiztem Was, dem er dadurch verfällt, sein Was als die Möglichkeiten zeigen lassen muss, zu denen er, ohne sie einzuholen, unterwegs ist, sich selbst vorweg und eben deshalb sich selbst etwas schuldig (hinter sich zurück) bleibend. 783

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Phnomenologie

Von diesen tantalischen Zügen kommt bei Sartre nichts vor; die Terminologie von Existenz und Essenz ist ihm eigentlich fremd und wird dem präreflexiven cogito nur sehr äußerlich aufgepfropft, indem in der Zwiespältigkeit der conscience das Mitwissen unvermittelt die Rolle der Existenz übernimmt, das mitgewusste Erlebnis (z. B. die Freude) die Rolle der Essenz, mit Berufung auf eine berühmte Formulierung aus Sein und Zeit (21 f.). Sartre hatte dieses Buch, als er L’être et le néant schrieb, kürzlich gelesen und fühlte sich zum Missionar der existenzialen Analytik in Frankreich berufen; auch wurde er dort in dieser Rolle begierig aufgenommen, und so stieg der Spruch, dass die Existenz der Essenz vorausgeht oder (27) diese impliziert, zum Markenzeichen der Existenzphilosophie Sartres auf. In Wirklichkeit ist er davon wenig beeindruckt und gegenüber Heidegger ganz originell. Gemeinsam ist beiden Denkern die Überzeugung von der Ungesättigtheit und Labilität des Menschseins, aber in der existenzialen Analytik besteht sie im Gezogensein des puren Dass zum noch ausstehenden Was der Möglichkeiten, die das Dasein zu sein hat, also in einer geraden Richtung ohne Dialektik, bei Sartre dagegen im Fluktuieren von Hin- und Widerschein (reflet-reflétant), die im präreflexiven cogito in einander verschwinden. Zwar hat sich Sartre auch Heideggers Rede vom Zu-sein-haben angeeignet, aber sie schöpft ihren Sinn bei ihm nicht aus der Phänomenologie der conscience, sondern aus der ihr aufgepfropften Metaphysik von der Geburt des Fürsich aus dem Ansich mit anschließender Sehnsucht nach Rückkehr durch eine unerreichbare Synthese im Fürsich-Ansich. Demgemäß ist das Verfallen bei Heidegger anders motiviert als die ungefähr entsprechende Selbstverstellung (mauvaise foi) bei Sartre: Das Verfallen erwächst dem Dasein aus seiner Angewiesenheit auf verweisendes Seiendes, an dem es sich festmacht; die mauvaise foi gehört zum ureigenen Wesen der conscience, die sich durch Mitwissen die naive Geradlinigkeit und Eindeutigkeit verwehrt. Sie hängt eng mit der instabilen oder Quasi-Mannigfaltigkeit der conscience zusammen, die den logisch unvorsichtigen Sartre zu widerspruchsvollen Formulierungen verführt. Zu diesem Thema der instabilen Mannigfaltigkeit gibt es in der existenzialen Analytik nichts Entsprechendes. Der Sache nach bringt Sartres Theorie für das Verständnis der Subjektivität (d. h. des Bereichs, in den mit der Frage »Wer bin ich?« hineingefragt wird) einen großen Fortschritt über die existenziale Analytik Heideggers hinaus, weil in dieser zwar die strikte, nicht 784

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Sartre

bloß positionale Subjektivität eine Begriffsform erhält, aber nur als rezessiv entfremdete, während Sartre im präreflexiven cogito die Entfremdung durch das Hinaussein des Mitwissens über das Erlebnis so dicht und unmittelbar in die conscience einbindet, dass die Entfremdung nicht mehr rezessiv ist, d. h. nicht mehr in ein nur negativ als »Regions- und Sachgebietsfremdheit des ›ich‹« (45.3.1) charakterisiertes Niemandsland führt. Indem Sartre den Satz der Identität als bloß regionales, synthetisches Prinzip des Ansich abstempelt (33), gibt er zu verstehen, dass das Fürsich einer anderen Region angehört. Trotzdem bleibt die Darstellung der Subjektivität auch bei Sartre unzulänglich, aus demselben Grund wie bei Husserl: Beide Denker behaupten Sachverhalte als neutrale, objektive Tatsachen, Husserl die Intentionalität des reinen Ichs, Sartre die Zwiespältigkeit des präreflexiven cogito. Solche Sachverhalte bedürfen, um als das, was z. B. ich bin, erfasst und bei Bewährung anerkannt zu werden, einer Selbstzuschreibung, dass ich etwas Entsprechendes für das halte, was (z. B.) ich bin. Die Legitimität dieser Zumutung ist aus dem unter 45.1.3.1 angegebenen Grund fragwürdig: Die Selbstzuschreibung bedarf für ihr Relat einer zusätzlichen Information über mich, die nicht aus dem Referens, das zugeschrieben werden soll, stammen kann; ob beide Informationsquellen zusammenpassen, bleibt offen. Nur die Subjektivität der für mich subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins überhebt mich dieser Fragwürdigkeit, weil schon durch die bloße Tatsächlichkeit, unabhängig vom Inhalt der Tatsachen, sichergestellt wird, dass es sich um mich handelt. Sartre greift mit seiner Konzeption des Beisichseins der conscience auf die neuplatonische Denkform der instabilen Mannigfaltigkeit zurück; die von S. 359 angeführte Formulierung könnte beinahe auch auf das Verhältnis zwischen den Henaden oder Geistern nach Proklos (16.3) angewendet werden. Der Wertakzent ist aber gegensätzlich. Für die Neuplatoniker handelt es sich um den Mannigfaltigkeitstyp der Stärke durch Spannkraft innigen Zusammenhaltens in Wechseldurchdringung, wogegen die numerische Mannigfaltigkeit ein Defekt ist, Ergebnis erschlaffender Zerstreuung (15.3); für Hegel ist sie sogar bloßer Schein, der sich aufhebt in der alles umfassenden instabilen Mannigfaltigkeit des Ganzen, das das Wahre ist (39.1). Sartre dagegen konzipiert die instabile Mannigfaltigkeit des Beisichseins als Defekt, als Lücke, die das Nichts ist, als Mangel, mit dem, wobei das Beisichsein ist, nie zur Deckung kommen zu können. Dem Mangel entspricht eine Begierde, die die Lücke nie zu füllen vermag. 785

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Der Mensch nach Sartre ist auf eine unmögliche Synthese aus und verzettelt sich auf der Suche nach der ihm versagten Koinzidenz mit sich in einem Durchlaufen provisorischer Sättigungen, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, der sich in der enttäuschten Frage entlädt: »Ist es weiter nichts als das?« (146) Insofern ist seine Wiederaufnahme der instabilen Mannigfaltigkeit eine Vertiefung des Pessimismus Schopenhauers. Auf der anderen Seite ist ihm Fichte vorangegangen, der mit dem Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren die instabile Mannigfaltigkeit in den Deutschen Idealismus eingeführt hat (36.3), gleichfalls mit dem Akzent auf einer unauflösbaren Dissonanz, die auch ihn zu einer unlösbaren Aufgabe des Menschseins führte, bald aber der Subjektivität ganz abschwören ließ. Dem unendlichen Streben zu einem unerreichbaren Ziel, das Fichte in Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre postulierte, Hegel aber wie vor ihm schon im Geist des heraklitischen Äquivalenzprinzips komplementärer Identität (4.2) Novalis1434 auflösen wollte, schließt sich Sartre an mit dem Bekenntnis: »Die notwendige Bedingung dafür, dass ich über eine Welt hinaus, die ich zum Sein kommen lasse, sei, was ich nicht bin, und nicht sei, was ich bin, ist, dass es im Kern der unendlichen Jagd, die ich bin, unablässig ein unerreichbar Gegebenes gibt.« (391) Es handelt sich nicht, wie bei Heidegger, um mein Was, das ich als meine Möglichkeit bin, sondern um die »unrealisierbare Ganzheit ›Ansich-Fürsich‹, die der grundlegende Wert ist, den das Fürsich in das bloße Auftauchen seines Seins setzt.« (528) Es ist das Ziel, das Seiende als Ursache seiner selbst zu werden, das die Religionen »Gott« nennen, aber »die Idee Gottes ist widersprüchlich, und wir opfern uns umsonst; der Mensch ist eine vergebliche Leidenschaft.« (708) 45.4.2 Ansichsein In der europäischen Philosophiegeschichte stehen sich zwei Haupttypen des Denkens von Mannigfaltigkeit gegenüber: der neuplatonische, der diese in ihrer nicht durch Erschlaffung und Zerstreuung geschwächten Ur- und Vollform als Vieleinigkeit durch instabile oder ambivalente Mannigfaltigkeit versteht, und der scholastische, der nur numerische Einheit und Mannigfaltigkeit zulässt, ausgehend von einem Einheitsverständnis, das Abaelard in Anlehnung an Boethius so formuliert: Alles, was eines ist, ist diskret in eigentümlicher 786

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Sartre

Wesenheit.156 Daraus gewinnt Wilhelm von Ockham den expliziten Singularismus, dass alles ohne weiteres einzeln ist, indem er diesem Einheitsverständnis unmittelbar die Unterschiedenheit des jeweils Einen vom anderen entnimmt.196 Sartre, der das Fürsich beim neuplatonischen Typ unterbringt, nähert sich dem abaelardisch-scholastischen Einheitsgedanken beim Ansich (être en soi), aber mit der Verschärfung der Diskretheit zu solcher Isolierung, dass das Ansich jede Beziehung auf anderes, sogar schon die Verschiedenheit (und erst recht die Unterschiedenheit), und damit auch die Mannigfaltigkeit von sich weist: »Mit Evidenz ergibt sich, dass das Sein in seinem Sein isoliert ist und dass es überhaupt keine Beziehung mit etwas, das es nicht ist, unterhält.« (33) »Das Ansich ist nicht verschieden, es ist nicht Mannigfaltigkeit (…).« (182) Durch diese Verschärfung treibt er den scholastischen Einheitsgedanken in eine dem Singularismus entgegengesetzte Richtung: Nichts ist mehr ohne weiteres einzeln, das Fürsich nicht wegen instabiler Mannigfaltigkeit und das Ansich nicht, weil es sich jeder Chance der Mannigfaltigkeit versagt und daher nicht, wie zur Einzelheit erforderlich, Element einer endlichen Menge sein kann – nicht einmal deren einziges Element, denn ein solches brächte mindestens die Zweiheit (Mannigfaltigkeit) von Element und Menge mit sich. Sartre denkt vielleicht nicht so spitzfindig, aber sehr wohl zieht er die Folgerung, dass das Ansich von sich aus nicht in der Lage ist, die Gestalt der Einzelheit anzunehmen: Erst die Anwesenheit des Fürsich beim Ansich realisiert das Einzelne (ceci) als solches, holt es aus der Welt heraus (229). Nur aus dem Überstieg des Fürsich auf seine Ziele hin gewinnt das Gegebene, dass es, statt nur roh Existierendes, dieses oder jenes und hier ist (590). »In dem Maß, in dem das Ansich mit dem Fürsich zusammen anwesend ist, erscheint eine Welt an Stelle der Isolierungen des Ansich.« (185) Das Menschsein ist das Nichts, das die Totalität determiniert, so dass die Welt sich entschleiert (230). »Durch das Menschsein kommt die Mannigfaltigkeit in die Welt. Die Quasi-Mannigfaltigkeit im Herzen des Fürsichseins macht, dass die Zahl sich in der Welt enthüllt.« (182 f.) Die Unruhe der instabilen Mannigfaltigkeit weckt gleichsam das Ansich aus der totalen Nacht (184) seiner kompakten Identität. Sie wirkt als die Negation, die zum Diesda nur durch ein Wesen kommen kann, das mit einem Schlage beim Ganzen des Seins und beim Diesda anwesend ist (232). Sartre überträgt also dem Fürsich die Rolle des Windes, der nach den Pythagoreern aus dem Unendlichen in die Welt das Leere hinein787

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Phnomenologie

weht, das die Naturen scheidet und der Zahl zugänglich macht.1939 Auf diese Weise beugt er dem Glauben an ein dem Subjekt fertig abgepackt vorliegendes Ansichseiendes im Sinne von Nicolai Hartmann1874 vor, im Gegensatz zu Heidegger, der sich nach der ersten Fassung der existenzialen Analytik (1925) durch Entkräftung des Seins einem naiven Realismus auslieferte, der ihn nicht mehr gegen den Verdacht schützte, dass die Welt des In-der-Welt-seins womöglich ein bloßer »Spleen« des Daseins sein könnte, den es sich aus Bedürftigkeit und Angewiesenheit zurechtmacht (45.3.6.2). Indem Sartre das Immanenzdogma nicht nur von der Angewiesenheit des Subjekts her aufbricht, sondern auch durch dessen unentbehrlichen Beitrag zur Entstehung der Einzelheit, verhält er sich erkenntnistheoretisch klüger als Heidegger. Die Einspannung der Ontologie in den Gegensatz von Ansich und Fürsich ist ein brutales dualistisches Dekret, das beim Ansich keine Phänomene für sich hat, während die Konzeption des Fürsich zum Verständnis der mauvaise foi verhilft und im Dienst der wichtigen Aufgabe steht, die strikte Subjektivität aus ihrer rezessiven Entfremdung zurückzugewinnen. Das wichtigste Verdienst der Gegenüberstellung besteht jedoch in der Durchbrechung des herrschenden Singularismus, der aufgrund der Überzeugung, dass alles ohne weiteres einzeln ist, nur numerische Mannigfaltigkeit zulässt. Dagegen macht Sartre nicht nur die instabile Mannigfaltigkeit des Fürsich geltend, sondern er unterläuft auch die falsche Selbstverständlichkeit der Einzelheit und macht sich Gedanken darüber, wie es von der bloßen Identität des Ansich durch Hinzutritt des Fürsich zur zahlfähigen Einzelheit des Diesda (ceci) kommt. Dabei bleibt offen, ob und gegebenenfalls in welchem Maße auch das Fürsich ein ceci ist; die Frage könnte nicht beantwortet werden, ohne genauer zu bestimmen, wann etwas als ceci zu gelten hat. Sartres dualistische Konzeption ist zwar mythologisch, weil sie auf dem freihändig improvisierten Ansatz eines ohne Verschiedenheit identischen Ansich beruht, kommt aber der Wahrheit nahe, dass Identität primitiver als Einzelheit ist und erst durch eine Zugabe (nach meiner Meinung: vermittelst satzförmiger Rede) auf deren Niveau gehoben werden kann. Sartre leistet damit Pionierarbeit für hinlängliche Differenzierung des Verständnisses von Einheit und Mannigfaltigkeit. Darin ist er Heidegger überlegen.

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45.4.3 Der Andere Ein gewaltiger Fortschritt Sartres bei der Ergründung der Du-Evidenz, es mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben, besteht darin, dass er die bis dahin herrschenden Projektionstheorien – DuEvidenz durch Deutung eines unabhängig davon gegebenen Objektes (etwa Menschenkörpers) auf ein Du durch Analogieschluss, Einfühlung und dergleichen (45.1.3.3) – zuerst durch eine Betroffenheitstheorie ersetzt hat: Der Andere wird zuerst gespürt (senti, 279); man begegnet ihm und konstituiert (projiziert) ihn nicht (307). Ich habe in diesem Sinn gesagt: Es handelt sich darum, den Anderen am eigenen Leibe zu spüren. Dies geschieht nach Sartre in erster Linie dadurch, dass man von dessen Blick getroffen wird; der Blick aus gesehenen fremden Augen ist aber nur prototypischer Spezialfall eines Betroffenseins vom Anderen, das auch in anderen Gestalten vorkommt, wofür Sartre zwei Beispiele ausmalt: den Fall des Schlüssellochguckers, der ein Knarren hinter sich hört und sich sogar dann noch ertappt fühlt, wenn er sich davon überzeugt hat, dass kein realer Beobachter da ist (336 f.), und den Fall des Vortragenden, der, in sein Thema vertieft, auch ohne aufzusehen Blicke der Zuhörer auf sich gerichtet fühlt; er spürt sie als eine konkrete pränumerische Realität, die sich sofort in eine Mehrzahl zersetzt, wenn man sie objektiviert, und mit einem Ausdruck Heideggers »das Man« genannt werden könnte (341 f.). Dieses nicht-numerische Mannigfaltige ist nicht das instabile, sondern das chaotische (39.1). Die Blickerfahrung ist also nicht an Gesichter gebunden. »Jeder Blick lässt uns konkret erfahren – und in der unbezweifelbaren Gewissheit des cogito –, dass wir für alle lebenden Menschen existieren, d. h. dass es Bewusstseine gibt, für die ich existiere.« (341) Der in solcher Breite verstandene Blick des Anderen ist für mich eine allgegenwärtige, unerreichbare, mir auferlegte Transzendenz; der blickende Andere ist das reine Subjekt, für das ich Objekt bin (329), das mich erblickt, ohne erblickt zu werden (327 f.). Er ist mir nie mehr gegenwärtig, als wenn ich nicht auf ihn achte (328). Der Blick des Anderen entfremdet mir meine Möglichkeiten (321) und macht aus mir ein wehrloses Objekt für eine Freiheit, die nicht die meine ist (326). Das Bewusstsein, mir so entfremdetes Objekt zu sein, ist die Scham (349). Ich wehre mich gegen sie, indem ich dieses Objekt dem Anderen als dessen bloße Vorstellung introjiziere (350) und ihn für meine Zwecke instrumentalisiere (352 f.). Aber seinen Blick, der mich objektiviert, kann ich nicht er789

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Phnomenologie

reichen, indem ich ihn objektiviere: Wenn ich auf den Blick blicke, löscht er sich aus, und ich sehe nichts mehr als zwei Augen (448). Der Andere existiert für mich in zwei Formen: Entweder erfahre ich ihn mit Evidenz, und dann kann ich ihn nicht erkennen, oder ich erkenne ihn und wirke auf ihn, aber dann erreiche ich bloß seine wahrscheinliche Existenz inmitten der Welt; keine Synthese beider Formen ist möglich (363 f.), aber sie schlagen in einander um (358). Eine mich und den Anderen als gemeinsamer Geist umfassende Totalität ist unmöglich, sogar für Gott (363). Sartres Beschreibung des Getroffenwerdens vom Blick ist überzeichnet, zu optimistisch auch im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der ihm entnommenen Gewissheit fremder Bewussthaber. Sie schöpft das Recht zur Überzeichnung aus ihrer Pionierleistung, nachdrücklich einzuschärfen, dass die spontane Überzeugung von anderen Bewussthabern aus der Betroffenheit und nicht aus der Projektion stammt. Als besondere Schroffheit fällt auf, dass Sartre den Blick des Anderen, der so einseitig, wie er ihn beschreibt, nur in Ausnahmefällen vorkommt, nicht in den normalen Blickwechsel einbindet und die wechselseitige Einleibung zugunsten der einseitigen völlig vernachlässigt. Aber sogar die einseitige Einleibung, wobei der Empfänger ganz im Bann des Anderen steht, wird unterschätzt, wenn ihr der Zugang zum Anderen als Subjekt verweigert wird. Die Geste des Anderen hat nach Sartre kein gemeinsames Maß mit seiner für mich uneinholbaren Subjektivität (353); der aus ihr entnommene Zorn sei nur eine Disposition in der Welt um eine Anwesenheit, die vielmehr Abwesenheit (des Anderen als Subjekt) ist (355). Sartre begeht hier denselben Fehler wie Quine (43.4.2), den Ausdruck für ein Zeichen, das objektivierend zur Kenntnis genommen und ausgewertet wird, statt für zeichenlose Mitteilung eines vielsagenden Eindrucks (einer impressiven Situation) in leiblicher Kommunikation zu halten. Das Beispiel des Zorns ist in diesem Zusammenhang sehr instruktiv: Der flammende Blick, der mich aus den blitzenden Augen des Zornigen trifft, wird von mir samt begleitender Gesten und Laute ausgehalten, wenn ich nicht kneife; ich blicke entsprechend, wenn auch nicht immer ebenso, vielleicht gar spöttisch, zurück, und im Konzert der Blicke bildet sich ein gemeinsamer, wenn auch nicht einträchtiger vitaler Antrieb aus Engung und Weitung. Dazu gehört keineswegs, dass ich im Gesicht des Zornigen lese und mir überlege, wie ich ihn als Werkzeug gebrauchen oder als Hindernis umgehen kann. Die Kommunikation in den kritischen Sekunden 790

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Sartre

ist instinktiver und unmittelbarer. Das liegt daran, dass Blicke Halbdinge sind wie Stimmen, aber viel weniger gegenständlich ausdifferenziert, eher vergleichbar der reißenden Schwere, die einen überfällt, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, von dieser aber verschieden dadurch, dass sie einen angebbaren Sender haben, im vorliegenden Fall den Zornigen. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen u. a. durch eine Kausalität, die so unmittelbar ist, dass die Ursache mit der Einwirkung zusammenfällt. Sie – wie hier der Blick – gewinnen dadurch eine Zudringlichkeit, die die objektivierende Distanzierung und die Vereinzelung unterläuft. Sartre macht den Fehler, das Objekt, das ich sehe, wenn ein fremder Blick mich trifft, von vornherein nur als einzelnes Objekt zu verstehen, z. B. als zwei Augen, in denen der andere Blick, den ich in meinen fassen möchte, mir entglitte (448). Ich sehe den fremden Blick und stelle mich auf ihn ein, ohne ihn schon deswegen als eine einzelne Sache zu sehen, die wie ein Auge eine Anzahl um 1 vermehren könnte. Die Rollen sind nach Verschiedenheit, also auch nach Identität, in der wechselseitigen Einleibung des spontanen Blickwechsels verteilt, auch ohne darauf zu warten, dass sie an einzelne Sachen verteilt werden. Zwar wird der z. B. zornig blickende Andere normalerweise als einzelner Mensch ins Auge gefasst werden, aber selbst das ist nicht immer der Fall, z. B. nicht, wenn ein Säugling, der der Einzelheit noch nicht mächtig, mit Du-Evidenz aber vertraut ist, ins Gesicht der Mutter oder eines Fremden blickt. Leibliche Kommunikation ist mit Einzelheit verträglich, aber davon unabhängig; deswegen ist sie als Quelle aller Sensibilität für viel mehr empfänglich als für das, was einzeln aufgezählt werden kann, z. B. für Atmosphären des Gefühls und binnendiffus bedeutsame Situationen, mit denen der Blick, der mich trifft, beladen sein kann. Die Schieflage, in die Sartre den Erblickten versetzt, indem dieser sich selbst vom fremden Blick treffen lassen muss, am blickenden Anderen aber nur ein diesem vorgeschobenes Objekt erreichen kann, geht also auf die Ungerechtigkeit der Verteilung zurück, die pränumerische Realität dem Anderen als Subjekt vorzubehalten, dem Objekt aber, das der Erblickte erreichen kann, nur numerische Realität oder numerische Mannigfaltigkeit numerischer, einzelner Einheiten (ceci) zuzugestehen: »Was in jedem Fall über den Typ der Objektivation des Anderen und seine Qualitäten entscheidet, ist zugleich meine und seine Situation in der Welt, nämlich die Komplexe von Gebrauchsgegenständen, die jeder von uns organisiert hat, und die verschiedenen Diesda (ceci), die dem 791

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Einen und dem Anderen auf dem Hintergrund der Welt erscheinen.« (357) Seine Vorstellung vom Objekt ist also geprägt vom Leitbild des Sammelns einzelner Informationen. Damit wird er dem lebendigen Umgang der Menschen nicht gerecht. Trotzdem hat Sartre mit seiner ungleichen Verteilung der Rollen an den Blickenden und den Erblickten nicht ganz Unrecht; ein haltbarer Sinn liegt in seiner Feststellung: »Der Andere betrachtet mich und besitzt als solcher das Geheimnis meines Seins, er weiß, was ich bin; so ist der tiefe Sinn meines Seins außer mir, gefangen in einer Abwesenheit; der Andere hat Vorhand 1982 vor mir.« (430) Die Rechtfertigung und Präzisierung muss aber etwas komplizierter ausfallen als bei Sartre. Der Mitmensch ist in der Lage, von meiner Persönlichkeit einen vielsagenden Eindruck zu gewinnen, d. h. eine impressive Situation, die meine zuständliche persönliche Situation plakatiert (45.3.5), und kann im Besitz dieses Plakates, nachdem er sich, wie man (wenig passend) sagt, »ein Bild von mir gemacht« hat, mit intuitiv gestützter Zuversicht mir auf den Kopf zu oder über mich sagen: Das ist ein zuverlässiger Mensch, oder ein Leichtfuß, ein schlaffer oder zupackender, träger oder geweckter, nervöser oder gelassener, gemeiner oder feinsinniger usw. Mensch. Wenn ich solche pauschalen Urteile über mich in den Mund nehme, habe ich mir zu viel zugemutet. Sartre spricht von unrealisierbaren (irrealisables) Charakterisierungen (610–613). Der Unterschied hat seinen Grund darin, dass ich niemals ein dem des Mitmenschen vergleichbares Plakat, sondern nur Explikate (45.3.5) meiner persönlichen Situation zur Verfügung habe. Der Mitmensch kann meinem Verhalten ansehen, wie ich bin; ich kann es nur aus einzelnen Erfahrungen an meinem Verhalten mit unvollständiger Induktion prekär erschließen, so dass schon das nächste Mal den Schluss widerlegen kann. Es geht nicht darum, dass der Mitmensch sich weniger als ich über mich irren könnte; das Urteil über einen Menschen ist immer revidierbar. Er hat aber vor mir den Vorzug eines Zugangs vom Ganzen her, durch seinen vielsagenden Eindruck, den er oft schon bei der ersten Begegnung gewinnt und anschließend explizieren, verfeinern, prüfen und anpassen kann, um sich mit Recht darauf stützen zu können. Er sieht mich absteigend, aus der Vogelperspektive, und kann sich daher – eventuell mit Vorbehalten – pauschale Urteile erlauben; ich habe zu meiner persönlichen Situation nur aufsteigend, Bausteine zusam1982

Kartenspiel-Metapher.

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mensetzend, Zugang, ohne das Ganze im Überblick zu erreichen. Daher bin ich, wie Sartre sagt, unter dem Blick meines Mitmenschen ausgespannt zwischen meinem Fürmichsein und etwas, das ich auch bin, aber außerhalb meiner Reichweite (327). Zum Ausgleich dient mir – beispielshalber mir – die Fassung,1980 die ich dem Anderen entgegenhalte, um statt der Fragmente, die ich von meiner persönlichen Situation greifen kann, ein Ganzes gegen das Ganze stellen zu können, das der Andere in seinem vielsagenden Eindruck, der ihm meine Persönlichkeit plakatiert, als Zugang zu mir besitzt. Diese Fassung braucht keineswegs erkünstelt zu sein, sondern beruht auf einem elementaren Bedürfnis, das noch elementarer ist als der Bedarf nach einem Schutzschild gegen den Blick des Anderen: auf dem Erfordernis einer Stabilisierung im Spielraum zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart. 1983 Sartre kann sich nicht auf die Fassung berufen, da er sie als mauvaise foi verdächtig machen und in die grundsätzliche Zwiespältigkeit des Fürsich versenken müsste. Er diskutiert andere Versuche, sich der Übermacht des fremden Blickes zu erwehren, die von der Indifferenz bis zum Hass reichen und zwischen diesen Extremen erotisch-sexuelle Attitüden einschließen (431–484). Auf die Indifferenz beziehe ich schon solche Sätze wie: Ich entziehe mich dem Anderen, indem ich mein entfremdetes Ich, das ich als das meine anerkenne, in seinen Händen lasse (345). Dieses Draußensein ist in dem Maße, wie ich mir entgehe, von mir angenommen und anerkannt als das meine (346). So habe ich mein Fürsichsein zurückerobert und die Möglichkeiten des Anderen in tote Möglichkeiten verwandelt, indem ich sie mit dem Charakter versehen habe, nicht durch mich gelebt, sondern einfach gegeben zu sein (349). Was der Andere durch seinen Blick mir antun kann und was ich ihm als Erblickter preisgeben muss, verwandle ich also durch Abzug der Subjektivität für mich in bloß noch objektive, neutrale Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er nur genug weiß und gut genug sprechen kann. Diese Technik der Neutralisierung könnte als einzige Erfolg versprechen, aber Sartre lässt sie daran scheitern, dass sie der faktischen Übermacht des treffenden Blickes nicht entgehen kann und nicht gewachsen ist (450 f.). Alle anderen Gegenoffensiven sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn gelten soll, dass jeder Blick uns erfahren lässt, dass wir Vgl. Hermann Schmitz, Kindliches Rollenspiel als personale Selbstbehauptung, in: Aufgang Band 3, Stuttgart 2006, S. 167–177.

1983

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Phnomenologie

für alle lebenden Menschen existieren (341, s. o.); denn sie richten sich immer nur auf einzelne Mitmenschen und lassen die unübersehbare Schar der übrigen aus, die doch auch blicken können. Dem Hass bleibt nichts übrig als der aussichtslose Anschlag, alle Menschen (und Tiere?) zu töten, damit sie ihn nicht mehr anblicken können. Die erotisch-sexuellen Abwehrversuche zerfallen in die beiden Gruppen der Versuche, den Blick des Anderen zu bannen (Begierde, Masochismus, Sadismus) oder zu fangen (Liebe). Der Masochist versucht es mit widerstandsloser Ergebenheit in die Objektrolle und übersieht, dass er von sich aus nicht so Objekt sein kann, wie er es für den Anderen ist, weil er dessen Perspektive nicht übernehmen kann. Die Begierde und der Sadismus wollen dem fremden Blick seine Kraft nehmen, die Begierde durch einlullende Zärtlichkeiten, die dem Anderen das Blicken abgewöhnen, der Sadismus durch eine Gewaltanwendung, die den Anderen auf sich beschränkt. 1984 Die Liebe ist nach Sartre das Projekt, sich lieben zu lassen (443), nämlich die Freiheit des Anderen so zu binden, dass er in mir, dem Liebenden, sein Einundalles findet (434–439). Auf diese Weise will der Liebende die Macht des Blickes des (der) Geliebten, der auf ihm ruht, in den Dienst seiner Selbstbestätigung stellen und sich zusätzlich zu seiner Objektivität für den Anderen dessen blickende Subjektivität, dessen Fürsich, gewissermaßen einverleiben, um eine Synthese von Ansichsein (als fixiertes Objekt) und Fürsichsein zu erreichen, die ihn gottgleich machen würde (432 f.). Solche Liebe ist also der Versuch, den Geliebten zu verführen, indem der Liebende sich zum diesen faszinierenden Objekt macht (439). Sie unterscheidet sich nicht vom Stolz (fierté, vanité), den Sartre ebenso charakterisiert: als Anschlag auf die Freiheit des Anderen, ihm durch Vorzüge wie Schönheit und Kraft zu imponieren und seine dadurch passiv gewordene Freiheit in Liebe oder Bewunderung auf sich zu ziehen (351). Der so Liebende übersieht aber, dass er mit der Gegenliebe des Geliebten auch dessen entsprechenden Anschlag akzeptiert hat, von seiner Freiheit Besitz zu ergreifen, wodurch er, statt zum Besitzer, zum Besessenen einer fremden Freiheit werden würde. »Liebe im Sinne von Sartre gleicht Ich habe eine ganz andere Charakteristik des Sadismus vorgelegt (System der Philosophie Band II Teil 1, S. 340–359). Ich behandle ihn als eine Art von Schaulust, die der Sadist aus dem Genuss einer einseitigen Einleibung gewinnt, mit der er sich von seinem Opfer abhängig macht, aus dessen Engung im vitalen Antrieb der Einleibung für sich Weitung schöpfend. Solcher Sadismus ist schon mit im Spiel, wenn sich rund um einen Unfall Gaffer versammeln.

1984

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Sartre

dem Kampf zweier in einem Glas eingesperrten Kraken, die sich aus dem Bestreben, Gott zu werden, gegenseitig zu fressen und zu verdauen suchen, indem sie auf einander einen quasi-hypnotischen Effekt ausüben.« 1985 Unter dem Titel der konkreten Beziehungen zum Anderen (431–503) behandelt Sartre zunächst die besprochenen strategischen Spiele mit dem Ziel, die Macht des Blickes des Anderen abzuwenden, und ihr Scheitern. Jeder verfolgt nur seine Absichten gegen den Anderen; die Liebenden bleiben jeder für sich in einer totalen Subjektivität (444). Die wechselseitige antagonistische Einleibung ist die Geburtsstätte gemeinsamer Situationen (45.1.1), aber dafür hat Sartre keinen Sinn. Ihm fehlt daher auch das Verständnis für koinonistische Liebe (im Gegensatz zu dialektischer), 1986 d. h. für die Liebe als gemeinsame Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, erfüllt von der Atmosphäre eines spezifischen Gefühls, geteilt und verwaltet von den Liebenden durch ihr Lieben, das sie (wegen verschiedener Adressen der subjektiven Tatsachen dieses Liebens) nicht mit einander teilen können. 1987 Für alle partnerschaftlichen Verhältnisse gilt nach Sartre: Unsere Beziehung zum Anderen ist ein endloses Pendeln zwischen ihm als Subjekt und ihm als Objekt; immer sind wir in der einen oder anderen Einstellung, und nie sind wir dabei zufrieden, weil wir immer das unmögliche Ideal der gleichzeitigen Erfassung von Freiheit und Objektivität verfolgen (479). Nur anhangsweise – in dem Bemühen, Heideggers Sicht der Mitmenschlichkeit als Mitsein ohne Rücksicht auf persönliche Begegnung in der existenzialen Analytik (45.3.2) herunterzuspielen – berücksichtigt Sartre unter den konkreten Beziehungen zum Anderen solche gemeinsamen Situationen, in denen Menschen sich ohne Zuwendung zu einzelnen Partnern zusammenfinden, sei es durch solidarische Einleibung (Ovationen im Theater usw.) oder im Mitspielen bei der Inszenierung gesellschaftlicher Institutionen (z. B. Gehen durch die als Eingang deklarierte Laden- oder Bahnhofstür) (484–503). Immer geht es ihm dabei um die Macht des Blickes.

Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 201. Ebd. passim, s. Inhaltsverzeichnis und Register. 1987 Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg i. Br. 2005, S. 99– 111: Die Liebe und das Lieben. 1985 1986

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45.4.4 Existenzialismus Im Schlussteil von L’être et le néant, nach Abhandlung des Seins für den Anderen, entwickelt Sartre den Existenzialismus, als dessen Gallionsfigur er im Jahrzehnt nach dem Kriegsende 1945 (übertreibend gesagt) in aller Munde war, namentlich wegen seiner den Existenzialismus veranschaulichenden Theaterstücke (508–708). Das Wort selbst kommt hier zwar nicht vor, wohl aber im Titel des dem Buch bald folgenden populären Vortrags L’existentialisme est un humanisme (Paris 1946). Es handelt sich um die Doktrin, dass jedes Fürsich (jeder personale Mensch) sein Leben durch einen frei gewählten wechselbaren Entwurf (projet initial, originel, fondamental) bestimmt, zwar gebunden an die Rahmenbedingungen der Situation, aus der er jeweils hervorgeht, aber so, dass der Entwurf darüber hinausgeht und die fortzuführende Situation frei übernimmt, so dass der Mensch für alles, was er anrichtet und was ihm widerfährt, vollständig verantwortlich ist, ohne eine Entschuldigung aus Umständen oder Voraussetzungen seines Lebens zu haben. Diese Doktrin des Existenzialismus ist unter mehreren Gesichtspunkten anfechtbar: 1. Wieso handelt es sich um eine Wahl? Eine Wahl ist ein Verhalten, das sich in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens absichtlich darauf beschränkt, von diesen eine oder einige, aber nicht alle, zu verwirklichen. (Diese Definition ist bei mir Standard). Sowohl die ausgeschlagenen als auch die ausgewählten Möglichkeiten müssen dafür dem Wählenden als von ihm gewusste Themen vorliegen; das kann aber bei der Wahl des Urprojekts nach Sartre nicht der Fall sein, denn es soll der Ausgrabungsarbeit einer existentiellen Psychoanalyse (643–663) bedürfen, um sie an den Tag zu bringen. 2. Wieso soll die Urwahl frei sein? Außer der Unabhängigkeit würde dazu die eigene Initiative gehören. Für diese reicht das Fürsichsein als Mitwissen mit sich (conscience) nicht aus, vielmehr ist eigene Gestaltung des Projekts erforderlich; sonst könnte dieses dem Fürsich grundlos eingefallen und in die Fundamentalrolle sozusagen hineingerutscht sein. Wie eine solche eigene Gestaltung beschaffen sein könnte, bleibt schleierhaft. 3. Die Verantwortlichkeit bedarf eines Maßstabes, einer Norm, vor der man sich verantwortet. Sonst könnte nicht sinnvoll gesagt werden, dass der Betreffende seiner Verantwortung gerecht geworden sei oder vor ihr versagt habe, weil nicht feststellbar wäre, worauf es dafür ankommt. Eine solche Norm kann aber nach dem Freiheitspostulat 796

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Sartre

des Existenzialismus höchstens vom Inhaber des Projektes und in dessen Rahmen aufgestellt werden. Die unterwerfende Norm wäre also Ausfluss desselben Projektes, das ihr unterworfen sein soll. Dieser normative Zirkel verdirbt das Unterwerfungsverhältnis. 4. Mit der These, dass die Person jeweils an ein einziges fundamentales Projekt gebunden sei, das sie zwar wechseln könne, aber nur ausnahmsweise wechselt, vergeht sich Sartre gegen sein grundlegendes Axiom der Distanz von sich als Anwesenheit bei sich (45.4.1), denn demnach müsste die Person immer schon über dieses Projekt hinaus sein, mauvaise foi als Abstand davon haben, statt »treu und brav« zu ihm zu stehen, und sei es auch der Minderwertigkeitskomplex, den Sartre als Beispiel eines Urprojekts behandelt, das zwar mauvaise foi in sich schließt, als ganzes aber dem Betroffenen keinen Abstand von sich lässt (536 f., 554 f.). 5. Sartre wird den Tatsachen der Lebensführung nicht gerecht. Im Zuge der Entfaltung der primitiven Gegenwart im Erwachsenwerden seit dem letzten Drittel des ersten Lebensjahres bildet sich beim normal entwickelten Menschen als Residuum der Neutralisierung (Objektivierung, Verfremdung) von Sachverhalten, Programmen und Problemen eine persönliche Situation aus nicht so neutralisierten Bedeutungen (mit unscharfen Übergängen), die sich lebenslang durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation und Implikation, in Auseinandersetzung mit begegnenden vielsagenden Eindrücken (impressiven Situationen) bereichert, mit einer relativ autonomen persönlichen leiblichen Disposition als der die vitale Einsatzkraft liefernden Unterstimme. In dieser persönlichen Situation gleiten, wie in einer zähflüssigen Masse, unzählige sich mehr oder weniger reibende partielle Situationen, und sie ist ihrerseits unübersichtlich in gemeinsame überpersönliche Situationen eingeschlossen. Alle diese eingeschlossenen und einschließenden Situationen, oder wenigstens die gewichtigsten unter ihnen, besitzen eigene Programme (einen Nomos), und es ist unrealistisch, vorauszusetzen, dass diese Nomoi jedenfalls zu einem einzigen Gesamtprogramm der Person, dem projet originel, glatt zusammenpassen. Vielmehr benötigt die Person oft eine gleichsam diplomatische Intelligenz, um aus den Stimmen partieller Situationen in ihrer persönlichen Situation herauszuhören, was sie selber will; nicht selten gehört dazu geschickte Kompromissbildung. Und wenn das auch gelungen ist, bedarf die Absicht, um zum Wollen zu werden, noch der Zuführung hinlänglichen vitalen Antriebs aus der persönlichen leiblichen Disposition. Viel hängt dann noch von der 797

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Führkraft der die persönliche Situation einschließenden gemeinsamen Situationen ab. Von diesem komplizierten Zusammenspiel der Faktoren, die für die Durchsetzung eines Projektes in der Steuerung des eigenen Lebens von maßgeblicher Bedeutung sind, scheint Sartre nichts zu wissen; wenigstens hat er sie für den Existenzialismus nicht berücksichtigt.

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45.4.5 Hermeneutik synästhetischer Charaktere Beim Fahnden nach einem Weg der existentiellen Psychoanalyse, das ursprüngliche Projekt einer Person aufzudecken, bringt Sartre ein phänomenologisches Kleinod zustande: »Von der Qualität als Offenbarerin des Seins« (690–708). In meiner Terminologie handelt es sich um synästhetische Charaktere1819 sinnlicher Qualitäten, denen Sartre »eine Fülle von dunklen Bedeutungen und überschreitenden Verweisen« (703) ablauscht, ich würde sagen: eine in die synästhetischen Charaktere investierte impressive Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit. Sartre konzipiert eine entsprechende Hermeneutik synästhetischer Charaktere und führt sie breit am Beispiel des Klebrigen (697–704, mit besonderer Berücksichtigung des zuckrig Klebrigen, wie des Honigs) aus, indem er das Klebrige als Symbol einer weiblich sanften und süßen Einsaugung des Fürsich durch das Ansich (704, vgl. 701) deutet. Ich möchte mich nicht so weit in die Metaphysik vorwagen und betrachte die synästhetischen Charaktere bescheidener als Brücken zwischen an Qualitäten begegnenden Situationen und dem spürbaren Leib. Dann erweist sich das Klebrige in den Spuren von Sartre als Symbol einer Verschiebung der leiblichen Disposition ins protopathisch Wollüstige, wie sie Henri Michaux im Meskalinrausch widerfuhr, mit demselben Abscheu, den Sartre vor dem Klebrigen zu empfinden scheint. 1988 Sehr klug ist Sartres BemerHenri Michaux, Turbulenz im Unendlichen (L’infini turbulent, aus dem Französischen), Frankfurt 1961, S. 63, 67, 75, zitiert nach: Hermann Schmitz, System der Philosophie Band II Teil 2, Bonn 1966, als Studienausgabe 2005, S. 82 f.: »Die ganze Welt scheint einen außerordentlichen Genuss zu erleben. Die Augen ertrinken, die Glieder ertrinken, die Lebewesen ertrinken. Große Ströme von Körpern rauschen vorüber, (…), verloren wie ich selbst in diesem Schisma der Wonne.« »Die Versuchung des heiligen Antonius, ich weiß es, ist die Versuchung zur Aufreibung des Willens und der Haltung. In einer Verweiblichung der Welt zerfließt der zufriedene Sünder. Wonne des Zerfließens.« »Zwei Monate später, als ich ans Meer gefahren war, hatte ich an einem späten

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kung, dass das Kind der Bedeutsamkeit synästhetischer Charaktere Schlüssel für sein Verständnis der Welt und des Menschen entnimmt (704), und gleiche Anerkennung verdient sein Hinweis auf die Fruchtbarkeit dieser Bedeutsamkeit für Analogien (691 f.), woraus ja die leitenden Begriffssysteme ganzer Kulturen schöpfen (27.3), sowie seine energische Abwehr des Projektionismus, der die Bedeutsamkeit synästhetischer Charaktere als menschliche Zutat zu an sich bedeutungslosen Merkmalen entlarven möchte (690, 695 f.). 1989

Herbstabend dem schneidenden Seewind standzuhalten und dem bewegten, Energie weckenden Meer, und musste auf andere Kraftreserven zurückgreifen, als jene trübe Atmosphäre mir bieten konnte, die ich noch immer mit mir weiterschleppte. Ich hielt stand, wie es sein musste, und wie es meiner Natur entsprach, und da trat jene schroff abweisende Seite meines Wesens wieder hervor, die mir acht Wochen lang gefehlt hatte. Seitdem habe ich den Eindruck gehabt, dass diese Haltung sich noch steigerte, dass Härte und Widerstand gegen jedes Zerfließen meine Parolen sind, meine guten Kameraden und mein Ziel.«. 1989 Im Zusammenhang mit dem Koreakrieg nahm Sartre bald nach 1950 eine Wendung, die er so beschreibt: »Die letzten Bande wurden zerrissen, meine Perspektive wandelte sich: ein Antikommunist ist ein Hund, davon gehe ich nicht ab, davon werde ich nie mehr abgehen. (…) Nach zehn Jahren des Grübelns hatte ich die Stelle des Durchbruchs erreicht und nur eines kleinen Anstoßes bedurft. In der Sprache der Kirche war das eine Konversion. (…) Im Namen der Prinzipien, die sie mir eingeimpft hatte, im Namen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit schwor ich der Bourgeoisie einen Hass, der nur mit meinem Leben enden wird.« (Freundschaft und Ereignis. Begegnung mit Merleau-Ponty, übertragen von Hans Heinz Holz, Frankfurt a. M. 1962, S. 46, aus dem 1961 veröffentlichten Nachruf von Sartre auf Merleau-Ponty) Die philosophische Frucht dieser Konversion ist das Buch Critique de la raison dialectique, Paris 1960. Es hat zwei Teile: eine zuerst 1957 veröffentlichte Einleitung Questions de méthode (S. 15– 111) und einen soziologischen Hauptteil (S. 115–755), der 1967 in von mir benützter deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Einleitung dient der Impfung des kommunistischen Marxismus mit dem, was vom Existenzialismus übrig geblieben ist: dem Gedanken, dass man den einzelnen Menschen aus dem Projekt verstehen muss, das er auf der Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse jeweils verfolgt, und nicht nach Art der dogmatischen Marxisten als passive Spielfigur in die Exekution mechanisch determinierender Geschichtsgesetze einsetzen darf. Das Interesse an strikter Subjektivität ist erloschen zugunsten einer schwachen anthropologischen Grundlage der geschichtlichen Einzelfallbetrachtung. Der Hauptteil bringt eine Apologie des Gruppenaufstandes (namentlich im Klassenkampf) als Aktualisierung solidarischer Freiheit in der Gruppe zwischen der trägen Verbindung von Individuen in Serien auf der einen Seite, den Formen der Erstarrung nach geglückter Revolution auf der anderen. Die Darstellung erinnert an eine dialektische Gymnastik mit beständigen Drehungen, die sich daraus ergeben, dass jeder Prozess gegenläufig sowohl von den Teilen zum Ganzen als auch vom Ganzen zu den Teilen abgelesen wird. Es ist merkwürdig, dass sich an drei Denkern, die sich für die Aufdeckung der strikten Subjektivität für jemand subjektiver Tatsachen Verdienste er-

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Phnomenologie

45.5 Merleau-Ponty

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45.5.1 Phénoménologie de la Perception Sartre packt die Stiere philosophischer Probleme bei den Hörnern. Sein ihm in Freundschaft und Streit verbundener Weggenosse Maurice Merleau-Ponty 1990 bemüht sich in erster Linie darum, zwischen den dogmatisch verhärteten Positionen des Intellktualismus und des Empirismus die angemessene phänomenologische Perspektive einzustellen. Intellektualismus ist die Gegenüberstellung der Welt als eines Objektes aus lauter wohlbestimmten Objekten gegen ein von allen Lasten des In-der-Welt-seins befreites Subjekt; auch Husserls Transzendentalphilosophie (45.1.3.2) scheint dazu gerechnet zu werden (241). Empirismus – ich sage lieber »Naturalismus«, weil Empirismus in meinen Augen eine Tugend und keine Einseitigkeit ist – ist die Nivellierung alles Subjektiven zur Neutralität der Objekte einer naturwissenschaftlichen Psychologie. Gegen beide Vereinseitigungen sucht Merleau-Ponty seinen Weg wie Dilthey, der sich im Interesse des Lebens gegen den Intellektualismus Kants und den Naturalismus der erklärenden Psychologie, die mit Ebbinghaus gegen ihn zurückschlug, wandte (44.2). Den abgelehnten Positionen wirft Merleau-Ponty vor, sie fassten das Gegebene nur als rein, durchsichtig, unpersönlich auf, nicht so, wie es dem Bewusstsein (ungeschönt) vorkommt, nämlich als unvollkommen, als Wahrheit für einen Moment meines Lebens und Wissens (36). Daher sucht er »ein Begreifen und eine Reflexion, die radikaler sind als das objektive Denken« (419). »Der erste philosophische Akt wäre also: auf die gelebte Welt diesseits der objektiven Welt zurückzukommen, weil wir in ihr das Recht und die Grenzen der objektiven Welt erfassen können.« (69) Wer so spricht, scheint sich als Autodidakt des Unmittelbaren zu gebärden; tatsächlich aber schöpft Merleau-Ponty seine Anregungen und deren Bestätigung weitgehend aus der Lektüre von Schriften meist deut-

worben haben, nämlich an Fichte, Heidegger und Sartre, der Vorgang wiederholt, dass sie nach lebhaftem Engagement die Schiffe hinter sich verbrennen. 1990 Ich zitiere unter 45.5.1 Merleau-Pontys Hauptwerk Phénoménologie de la Perception mit bloßen Seitenzahlen nach der Ausgabe Paris 1945. Mit diesem Buch und dem im nächsten Abschnitt zu besprechenden Spätwerk beschäftige ich mich auch in meinem Aufsatz Merleau-Ponty und die Neue Phänomenologie in: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 382–404.

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Merleau-Ponty

scher Neurologen und Psychologen, die in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit der Gestaltpsychologie stehen und/oder sich um 1930 mit Hirnverletzungen, operierten Blindgeborenen, Schizophrenie und anderen Anomalien beschäftigt haben. Auch beruft er sich auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Als die gegen Intellektualismus und Naturalismus entscheidende Instanz gibt Merleau-Ponty den Körper (le corps) aus: »Wir haben den Formalismus des Bewusstseins zurückgewiesen und aus dem Körper das Subjekt der Wahrnehmung gemacht.« (260) »Ich bin nicht vor meinem Körper, ich bin in meinem Körper, oder vielmehr: Ich bin mein Körper.« (175) Andererseits soll gelten: Unser Körper ist ein natürliches Ich, und wir wissen niemals, ob die Kräfte, die uns tragen, die seinen oder die unseren sind (139). Als gemeinsamen Nenner zwischen Seele und Körper, Fürsich und Ansich (im Sinne von Sartre) benennt Merleau-Ponty die Existenz (100, 103, 105, 142 A. 1), aber nur verbal, ohne darauf einzugehen, was mit dem Wort gemeint ist. Der Körper ist die geronnene oder verallgemeinerte Existenz und die Existenz eine beständige Inkarnation (194). Dieser Körper ist ein handfestes physisches Ding mit Nägeln, Ohren und Lungen (493) und einer Hand aus Muskeln und Knochen (109); der chemische Körper, der Körper der Naturwissenschaft, entsteht aus ihm durch Verarmung des wahrgenommenen Körpers menschlicher Erfahrung (403 f.). Ich sage wohlweislich »Körper«, nicht »Leib«, denn der spürbare Leib der leiblichen Regungen (wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Frische, Müdigkeit usw.), mit dessen Räumlichkeit und Dynamik ich mich eingehend beschäftigt habe, kommt bei Merleau-Ponty so gut wie gar nicht vor. Ein Symptom dieses Übersehens ist seine Behandlung der Frage, ob Bewegung ohne etwas, das sich bewegt (ein mobile), beobachtet werden könne, wie der Gestaltpsychologe Max Wertheimer behauptet und der Philosoph Paul Linke gegen ihn bestritten hatte (311–319). MerleauPonty gibt Linke recht mit der Einschränkung, das mobile brauche nicht beständig identifizierbar zu sein. Hätte er sich aber nur beim Einatmen beobachtet, sorgfältig absehend von allem zum Spürbaren nur Hinzugedachten wie anatomischen Körperteilen (Brust, Lunge usw.) oder dem Luftstrom des Atems, der eingesogen wird, so hätte er eine leibliche Bewegung entdecken können, die nur noch Engung und Weitung, Spannung und Schwellung ist ohne etwas, das sich bewegt; das Entsprechende gilt mutatis mutandis für das Ausatmen und das Auf und Ab des Atemvorgangs insgesamt. Dabei handelt es 801

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Phnomenologie

sich um Bewegung in einem leiblichen, flächenlosen Raum, der so gut Raum ist wie der optische, flächenhaltige Ortsraum oder die von Merleau-Ponty als veritable Räume (333) anerkannten Räume des Traumes, des Mythos, des Wahnsinns. Merleau-Ponty versteht den sinnfälligen Raum gestaltpsychologisch als ein an Symmetriebedarf möglichst zweckmäßig angepasstes Stellensystem (303) labiler Niveaus der Orientierung, das der Landschaft in magischer Weise ihre räumlichen Bestimmungen zuteilt (294). Wäre er hinter den Ortsraum auf den leiblichen, durch Grundzüge leiblicher Dynamik strukturierten Raum zurückgegangen, 1991 hätte er sich die Magie ersparen können. Wie sehr er im traditionellen Leitbild des Ortsraumes befangen ist, zeigt der erste Satz seiner Ausführungen über die Bewegung: Sie ist, wenn man sie auch nicht dadurch definieren kann, Verlagerung und Wechsel der Stelle (309). Das trifft weder auf die Bewegung des gespürten Atems zu, noch auf die Bewegung des entgegenschlagenden Windes, so man sich nur rein an die Erfahrung hält, wie es dem Phänomenologen ziemt, und nicht das Halbding Wind in das Vollding bewegte Luft umdeutet. Um die Phänomenologie der Wahrnehmung von der einseitigen Objektivierung durch Intellektualismus und Naturalismus zu befreien, muss Merleau-Ponty »Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken« 1992 verstehen, und in dieser Absicht malt er eine Harmonie von Subjekt und Objekt beinahe poetisch aus (366–377); er spricht (mit Anführung des deutschen Wortes »Umwelt«) von der großen Poesie unserer Welt, die aus den von Qualitäten und Empfindungen dargestellten Elementen gemacht sei, und kennzeichnet jede Wahrnehmung als eine Kommunikation und (mit theologischer Anspielung) Kommunion, als so etwas wie eine Paarung unseres Körpers mit den Dingen (370). In diesem allzu friedlichen Bild wirkt sich die Vernachlässigung der leiblichen Dynamik ungünstig aus. Merleau-Ponty versperrt sich dadurch den Zugang zu antagonistischer Einleibung auf der Grundlage des von Verstrickung der Engung und Weitung in einander gebildeten vitalen Antriebs (45.1.1) und zur leiblichen Kommunikation als Anseinandersetzung mit zudringlichen Halbdingen wie Blicken (45.4.3), Stim-

Wie Anm. 1987, S. 186–204. Hermann Schmitz, Gabriele Marx, Andrea Moldzio: Begriffene Erfahrung, Rostock 2002, S. 54–64.

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Merleau-Ponty

men, Geräuschen, Schlägen, packenden Gefühlen usw. Das Interesse der Menschen an Überleben und Durchsetzung begünstigt zwar die Neutralisierung solcher Halbdinge (wie des Windes) durch Einordnung in konstant dauernde und nur sporadisch kausale Potenz aktualisierende Volldinge (wie die Luft), aber mit diesen geht die Auseinandersetzung antagonistischer Einleibung weiter. Statt aus solcher Dynamik (und Motorik) konzipiert Merleau-Ponty die Wahrnehmung mit der Tradition auf der ruhigen und schlichten Grundlage des Empfindens von Sinnesqualitäten (Le Sentir, 240– 280). Dabei entgeht ihm nicht die Bedeutung der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere1819 als Brücken zwischen dem Leib (den er als Körper versteht) und dem begegnenden vielsagenden Eindruck. Die motorische Physiognomie der Farbe modifiziert meine Anpassung an die Welt (243, nach Mitteilungen von Goldstein und Gelb über Hirnverletzte); das Rot und das Blau sind Weisen, zu vibrieren und den Raum zu erfüllen, und das Rot ist durch seine von unserem Blick gesuchte und angenommene Textur eine Erweiterung unseres motorischen Seins (245). Hier scheinen Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere allzu sehr in einander geschoben zu werden; als eine vibrierende Raumerfüllung kann ich das Blau nicht nachvollziehen. Lieber würde ich das Gemeinte so ausdrücken: Sinnliche Qualitäten sind mit synästhetischen Charakteren besetzt, die durch ihre ins leibliche Spüren übernehmbare Bedeutung mit Bewegungssuggestionen eng verwandt sind und mit diesen zusammen in unser leibliches, speziell motorisches, Befinden übergehen. Eine gelungene Beschreibung dieses Zusammenhangs steht S. 366 f.: »Das Objekt, das sich dem Blick oder der Betastung öffnet, weckt eine gewisse motorische Intention, die nicht die Bewegungen des eigenen Körpers betrifft, sondern die Sache selbst, an der sie wie aufgehängt sind. Und wenn meine Hand das Harte und Weiche weiß, wenn mein Blick das Mondlicht weiß, ist das wie eine bestimmte Weise, mich mit dem Phänomen zu verbinden und mit ihm zu kommunizieren.« Weil aber die Dynamik dieser Kommunikation als primäre Verstrickung antagonistischer Einleibung zu kurz kommt, muss Merleau-Ponty für die Lebendigkeit des Wahrnehmens, das Zutunhaben mit dem Gegenstand, eine andere Darstellung suchen, und er findet sie, indem er die Rolle des Subjekts mit Funktion überlädt: Das Sinnliche ist wie ein verschwommenes Problem, eine schlecht gestellte Frage an meinen Körper. Ich muss die richtige Antwort darauf finden, damit es sich bestimmen, damit z. B. das Blau zum Blau werden kann 803

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Phnomenologie

(248). Die Fundierung seiner Überlegungen in Berichten über gestörte Wahrnehmung verführt Merleau-Ponty dazu, die Aktualgenese, die verzögerte Gestaltbildung, für den Normalfall zu nehmen: Ich öffne die Augen über meinem Tisch, und mein Bewusstsein ist erfüllt von Farben und verschwommenen Reflexen, von denen es sich kaum unterscheidet, vor einem noch erst virtuellen Objekt; sobald ich den Blick fixiere, zentriert sich mein Körper auf das Objekt und verteilt dessen Oberflächen so, dass es aktuell wird (276). Damit wird wieder eine synthetische Aktivität eingeführt, wie sie der Intellektualismus z. B. bei Kant und Husserl dem wahrnehmenden Subjekt zuschreibt, aber sie wird durch zeitliche Verteilung der Erfahrung nähergebracht: »Es gibt kein verbundenes Objekt ohne Verbindung und ohne Subjekt, keine Einheit ohne Vereinigung, aber jede Synthese ist zugleich zerstreut und wiederhergestellt durch die Zeit.« (278) Die Wahrnehmungssynthese ist für uns zeitlich, die Subjektivität auf dem Niveau der Wahrnehmung ist nichts als die Zeitlichkeit, die dem Subjekt seine Undurchsichtigkeit und Geschichtlichkeit nicht nimmt (276). Das Bewusstsein ist eine Aktivität der Projektion, die rings um sich Spuren seiner eigenen Akte absetzt und sich auf diese Spuren stützt, um zu neuen Akten der Spontaneität überzugehen (159). Es ist das Sein zur Sache durch den Körper als Mittelglied (161). Es projiziert sich in die physische Welt und hat einen Körper, ebenso wie es sich in die kulturelle Welt mit seinem Gehabe projiziert (160). Das klingt ziemlich idealistisch, trotz der Versicherung: »Wir haben den Formalismus des Bewusstseins zurückgewiesen und aus dem Körper das Subjekt der Wahrnehmung gemacht.« (260) In den Augen kritischer Phänomenologie geht Merleau-Ponty jedenfalls zu weit mit der Konstruktion einer synthetischen Aktivität »hinter der Szene«, wodurch das Subjekt, vor sich selbst versteckt, Doppelbilder des Sehens mit je einem Auge zum einzigen Bild des binokularen Sehens zusammensetze: »Gestützt auf die prälogische Einheit des Körperschemas besitzt die Wahrnehmungssynthese nicht mehr das Geheimnis des Objekts als das des eigenen Körpers; deswegen bietet sich das wahrgenommene Objekt immer als transzendent an und scheint sich die Synthese auf dem Objekt selbst zu vollziehen, in der Welt und nicht in dem metaphysischen Punkt, der das denkende Subjekt ist. Dadurch unterscheidet sich die Wahrnehmungssynthese von der intellektuellen Synthese.« (269) Der dritte Teil von Phénoménologie de la Perception (S. 423– 520) ist ein Anhang, der nicht mehr Themen der Wahrnehmung be804

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Merleau-Ponty

handelt, sondern in drei Kapiteln das Cogito, die Zeit und die Freiheit. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die Reaktion auf Sartres L’être et le néant der Anlass dieser Ergänzung war. Das Ergebnis ist wenig überzeugend: In weitschweifigen Ausführungen versucht MerleauPonty die Evidenz des cartesischen cogito auszuhebeln und redet damit am Thema vorbei; denn er umkreist die Dunkelheit und Undurchsichtigkeit der Sache und bedenkt nicht, dass damit die Evidenz von Tatsachen, die diese Sache betreffen, durchaus verträglich ist.1851 Zudem wird er den emotionalen Evidenzen nicht gerecht, indem er sie bei Liebe und Hass aufsucht, die keine bloßen Gefühle sind, sondern in zuständlichen Situationen gleichsam aufgehängte Gefühle, 1993 wodurch sie an ein prekäres Versprechen auf Dauer gebunden sind. Schlagender ist die Evidenz des affektiven Betroffenseins bei solchen Gefühlen, die bloß an aktuelle Situationen gebunden sind, wie Freude, Trauer, Angst, Zorn, Wut. Wer vor Wut schäumt, kann sich sicher sein, dass ihm nicht gerade ganz kaltblütig und gleichgültig zumute ist. Die beiden Kapitel über die Zeit und die Freiheit habe ich in meinem Aufsatz1990 eingehend besprochen (S. 396–399). Das erste geht nur auf die modale Komponente der modalen Lagezeit942 (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) ein und leidet an Überladung der Gegenwart mit Übergänglichkeit als einzigem Leitmotiv, wodurch die Gebrochenheit und Vielschichtigkeit der Zeit aus umgekehrtem Grund wie bei Kant (35.3.2) nicht zur Geltung kommt. Bei der Freiheit macht Merleau-Ponty den üblichen Fehler, »mit der Tür ins Haus zu fallen«, d. h. nicht erst zu fragen, wozu Freiheit benötigt wird und welche Merkmale sie zu diesem Zweck besitzen muss, um anschließend zu prüfen, ob und wie diese Merkmale realisiert werden können, sondern von irgendeinem naheliegenden Freiheitsverständnis auszugehen und dann bei der Wahlfreiheit und ihrer Verteidigung gegen den Determinismus – als ob der Indeterminismus solcher Freiheit nützen könnte – »anzubeißen«. Sein Resultat ist trivial und nicht geeignet, dem Grübeln über die Möglichkeit von Freiheit im Sinne der Verantwortung für unabhängige Initiative weiterzuhelfen.

1993

Die Liebe (wie Anm. 1985) S. 80–84.

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Phnomenologie

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45.5.2 Le Visible et l’Invisible 1994 Die leitende Tendenz Merleau-Pontys, mit dem Denken hinter die Objektivierung zu kommen, ist in Phénoménologie de la Perception mit Stoff gut unterfüttert, dank seiner engen Anlehnung an neurologische und psychologische (besonders gestaltpsychologische) Literatur aus der Zeit um 1930. In seinem unfertigen letzten Buch, bei dessen Ausarbeitung er vom Tod überrascht wurde, ist diese Tendenz noch stärker ausgeprägt: Unter allen Objektivierungen durch menschliches Vorstellen sucht Merleau-Ponty das wilde, rohe Sein. »Mein Ziel ist, die Welt wiederherzustellen als Sinn des Seins, absolut unterschieden vom ›Vorgestellten‹, nämlich als das vertikale Sein, das keine der ›Vorstellungen‹ ausschöpft und das alle ›erreichen‹, das wilde Sein.« (306. Mit »vertikal« meint Merleau-Ponty die Tiefe, im Gegensatz zur horizontalen Oberfläche.) »Das Wesentliche ist, das vertikale oder wilde Sein als das vorgeistige Milieu zu beschreiben, ohne das nichts denkbar ist, nicht einmal der Geist, und wodurch wir in einander übergehen, und wir selbst in uns (übergehen), um unsere Zeit zu haben. Nur die Philosophie gibt das (her) –« (257) Diese Philosophie ist aber stofflos geworden. Nur noch ganz allgemeine Denkgebärden werden zur Diskussion gestellt, ohne Anwendung auf spezielle Themen und Prüfungen an ins Einzelne verfolgbaren Erfahrungen. Auch der Stil hat sich geändert: An die Stelle der überwiegend nüchternen Prosa in Phénoménologie de la Perception tritt eine Flut von Metaphern, die das Gemeinte oft mehr überdecken als herausarbeiten. Das Buch beginnt mit einer ungeschickteren Wiederholung der Einwände gegen den Intellektualismus aus Phénoménologie de la Perception unter dem Titel der Reflexionsphilosophie. Im zweiten Kapitel folgt zunächst eine breite Auseinandersetzung mit Sartres L’être et le néant, dessen Konzeption aber gründlich missverstanden wird. Merleau-Ponty fasst Sartres néant nämlich als eleatisches Nichts auf, das vom Sein rein abgesondert wird (mit zugedrücktem Auge, wenn Konzessionen nötig sind), während es sich in der Tat um Ich zitiere mit bloßen Seitenzahlen nach der Ausgabe: Le Visible et l’Invisible, suivi de notes de travail par Maurice Merleau-Ponty, ed. par C. Lefort, Paris 1964. Ich benütze die sorgfältige Übersetzung durch R. Giuliani und B. Waldenfels: Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, München 1986, ohne mich streng an deren Formulierungen zu halten.

1994

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Merleau-Ponty

ein dialektisches Nichts handelt, das Nichts als die Lücke des Abstandes von sich als Anwesenheit bei sich in instabiler Mannigfaltigkeit des Fürsichseins (45.4.1) mit zersetzender Projektion in das Ansichsein (45.4.2). Dem vermeintlichen Eleatismus Sartres setzt MerleauPonty seine eigene Dialektik entgegen (122–130). Er spielt sie als sich zurücknehmendes Denken, als Dialektik ohne Synthese (129), gegen Hegel und Sartre (127) aus. Zur Orientierung wird es hilfreich sein, hier drei Weisen des dialektischen, d. h. die Figur des logischen Widerspruchs nicht von der Schwelle des Denkens weisenden, Umgangs mit Themen und Problemen zu unterscheiden. Bei Heraklit, auf den sich Merleau-Ponty S. 125 beruft, Plotin und Sartre handelt es sich um ein selbst undialektisches, d. h. in der eigenen Gedankenführung dem Widerspruch nicht verfallendes Denken, auch wenn die Autoren in Widersprüchen formulieren; sie tun das aus logischer Unbeholfenheit oder Unvorsichtigkeit oder aus Trotz gegen die Logik, nicht aus unvermeidlicher Konsequenz. Ich habe gezeigt, wie der Widerspruch beim Umgang mit instabiler Mannigfaltigkeit durch unendlichfache Unentschiedenheit neutralisiert werden kann (15.2.2). Ein anderer Typ ist Hegels progressive Dialektik, die sich auf den Widerspruch einlässt, ihm als treibender Kraft des Sinngleitens folgt und in ständigem Vorwärtsgang eine Darstellung zustande bringt, für deren Ganzes buchstäbliche Wahrheit beansprucht wird. Damit vermeidet Hegel zwar (entgegen seinem Selbstverständnis) durch Sinngleiten den logischen Widerspruch, handelt sich dafür aber einen performativen ein. (39.1) Im Gegensatz dazu ist die Dialektik im Sinne von Merleau-Ponty ein sich zurücknehmendes Denken. Sie darf sich nicht einmal als Dialektik bekennen (126), sich nicht zum Wahlspruch erheben (128), weil das eine Behauptung mit festem Sinn wäre. Sie darf keine Beziehung geradezu feststellen, keiner vorgegebenen Route folgen; sie ist in der eigenen Bewegung befangen und überfliegt diese nicht (123). Jeder Term ist die Bewegung zum entgegengesetzten, Herausgehen aus sich und Rückkehr zu sich; beides ist dasselbe, das Werden zu sich (124), gleich der Reflexion nach Hegel (39.3.1). Nur die Dialektik ist gut, die sich selbst kritisiert und als gesonderte Aussage hinter sich lässt: die Hyperdialektik, die Dialektik ad hoc, deren Sinn nie als allgemeines Weltgesetz, das wie ein Schicksal hereinbricht, bestimmt werden kann; die dialektische Übersteigerung einer Position darf nicht bei einer neuen enden (129). Der so eingestellte Philosoph will nichts gleichsam mit der Pinzette greifen, sondern dem Sein Spielraum und Resonanz für dessen Eigenbe807

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Phnomenologie

wegung gewähren, nicht um eine Antwort auf seine Fragen, eine Erkenntnis, zu erhalten, sondern zur Bekräftigung seines Staunens (137 f.). Die philosophischen Begriffe öffnen sich dem Sein, indem sie dem Leben im Ganzen verbunden bleiben und unsere gewohnten Einsichten bis zur Auflösung erzittern lassen. Philosophie ist Wiedergewinnung des rohen und wilden Seins. Sie bedient sich der Sprache, um durch Aufhebung der unmittelbaren Bedeutungen zu erreichen, was sie trotzdem sagen will (139). Das Unmittelbare entfernt sich aber, sowie die Philosophie sich ihm nähern und in ihm aufgehen möchte; nur in der Distanz, als Horizont, bleibt es es selbst (164). Das war schon das Problem des Damaskios (17.3). Sofern eine solche sich zurücknehmende Dialektik überhaupt noch ein Thema haben kann, einen roten Faden, ist dieser in Le Visible et l’Invisible das Fleisch. »Der wesentliche Begriff für eine solche Philosophie ist der des Fleisches, das nicht der objektive Körper ist, ebensowenig der von der Seele als der ihrige gedachte Körper (Descartes), (sondern) das Sinnliche ist im Doppelsinn dessen, was man empfindet, und dessen, was empfindet. (…) Ich kann nichts Sinnliches setzen, ohne es als entlassen aus meinem Fleisch, entnommen meinem Fleisch, zu setzen, und mein Fleisch ist selbst eines von den Sinnlichen, dem sich alle anderen einschreiben, sinnlicher Angelpunkt, an dem alle anderen teilnehmen, Schlüssel-Sinnliches, dimensional Sinnliches.« (313) »Wo soll man die Grenze des Körpers und der Welt hinsetzen, da doch die Welt Fleisch ist? (…) Die gesehene Welt ist nicht ›in‹ meinem Körper, und mein Körper ist in letzter Instanz nicht ›in‹ der sichtbaren Welt (…). Mein Körper als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mitenthalten. Aber mein sehender Körper unterhält diesen sichtbaren Körper und alles Sichtbare mit ihm. Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.« (182) Dieses Verflochtensein nennt Merleau-Ponty »Chiasma«, mit einer Metapher, die von der Überkreuzung der Sehnerven hergenommen ist. Das Fleisch ist ein Element des Seins in dem Sinn, wie Erde, Feuer, Wasser und Luft nach postempedokleischem Verständnis Elemente sind, ein allgemeines Ding auf halbem Weg zwischen dem räumlich-zeitlichen Individuum und der Idee, ein fleischgewordenes Prinzip, das einen Seinsstil überall da einbringt, wo es dafür eine Parzelle findet; als die Tatsächlichkeit macht es die Tatsachen zu solchen, gibt ihnen ihr Wo und Wann und einen Sinn, wodurch sie sich um etwas anordnen (184). M-P. fragt sich, ob nicht jeder Bezug von mir zum Sein ein Bezug zum 808

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Merleau-Ponty

Fleisch der Welt ist, verstanden als System der Perspektiven, Schnittpunkt meiner Ansichten und Akte mit denen der Anderen. Das sucht er sich so näher zu bringen: Unser Leben hat eine (gleichsam meteorologische) Atmosphäre; es ist beständig in jene Nebel eingehüllt, die man »sinnliche Welt« oder »Geschichte« nennt, das Man des körperlichen und das Man des menschlichen Lebens, Gegenwart und Vergangenheit als Durcheinander von Körpern und Geistern, regellose Mischung (Promiskuität) von Gesichtern, Reden, Handlungen, die als Differenzen und Abspreizungen einer und derselben Sache zusammenhängen (116 f.). Dieses Man, das Fleisch, dürfte mit dem übereinstimmen, was an anderer Stelle von Merleau-Ponty als die Gesellschaftlichkeit einer Gesellschaft ausgegeben wird: das Ineinander 1995 von Ansichten und Willensrichtungen mit anonymer Zielstrebigkeit, ein Ganzes, das niemand sieht, das weder Gruppenseele noch Objekt noch Subjekt ist, aber ihr Bindegewebe, das west,1995 weil es ein Ergebnis haben wird; so ist es die einzige Genugtuung für eine »Philosophie mit mehreren Eingängen« (228), worunter man wohl die immer wieder aus dem Ansatz sich zurücknehmende Dialektik verstehen darf. Es handelt sich um den Versuch, ein Ganzes als Konzert gegenläufig in einander eingreifender Tendenzen aufzufassen, worin sie sich trotz regelloser Mischung zu einer geheimen Teleologie verbinden; auf eine ähnliche Absicht deutet eine Bemerkung über das Einsetzen der Wahrnehmung in der Embryonalentwicklung: »In der Universalstruktur der ›Welt‹ – wechselseitiges Übergreifen des Ganzen auf das Ganze, Sein regelloser Vermischung – besteht das Reservoir, von wo dieses neue absolute Leben herkommt.« (287) Fast hat es den Anschein, dass Merleau-Ponty der extremen Isolierung der Individuen durch Sartre das ebenso extreme Gegenteil entgegensetzen will, ihre Verstrickung zur Ganzheit eines nebelhaften Elementes, das unsichtbar und doch sinnliches Fleisch ist. Ich denke an allerlei Auslegungen, mit denen man diesem Fleisch nähertreten könnte, z. B. als der gemeinsame vitale Antrieb antagonistischer und/oder solidarischer Einleibung, als gemeinsame (aktuelle oder zuständliche) Situation, als Atmosphäre eines Gefühls, das den flächenlosen gespürten Umraum leiblicher Anwesenheit dicht erfüllt (wie feierlicher Ernst); auch das chi der Chinesen käme in Frage. Nichts davon passt ganz. Vielmehr ist es beinahe indezent, einer so 1995

Im Original deutsch.

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Phnomenologie

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pauschalen Konzeption ohne Anweisung des Autors einen bestimmten Sinn geben zu wollen. Als Gegengewicht zu Sartres schroffer Einseitigkeit hat sie ihr Recht, aber sie bringt die entgegengesetzte Gefahr mit sich, dass wie in Heideggers ursprünglicher Zeitlichkeit (45.3.3) über dem Ineinandergreifen die scharfen Einschnitte1887 vernachlässigt werden, für die Hegel im Sinngleiten der progressiven Dialektik wenigstens in Gestalt des Abfalls der einschließenden Einzelheit in ausschließende (39.3.1) noch einen Platz gelassen hatte.

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Zusammenfassung und Ausblick

Der Rückblick auf die vorliegende Geschichte der Philosophie weckt die Suche nach Marksteinen oder Wendepunkten. Dafür nenne ich vier Denker: Demokrit, Plotin, Wilhelm von Ockham und Johann Gottlieb Fichte. Demokrits Konzeption bedeutet einen radikalen und nachhaltigen Paradigmenwechsel in der Geschichte der europäischen Intellektualkultur. Bei den alten Philosophen vor (Leukipp und) Demokrit, und mit Resten noch bei ihm, wird die Struktur der Welt einschließlich des Menschen verstanden als polares Zusammenwirken leibnah gespürter Kräfte, die vielsagende Eindrücke sind, d. h. impressive Situationen, in denen eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen Mannigfaltiges ganzheitlich zusammenhält: das gespannte Kalte und schlaffe Warme für Anaximenes, expansive und kontraktive Tendenz in gegenspänniger Fügung wie bei Bogen und Leier für Heraklit, Liebe und Groll für Empedokles, das gute ruhige begrenzende Männliche und das schlechte unruhige endlose Weibliche für die Pythagoreer. Seit Demokrit wird die Welt gespalten in Innenwelt und Außenwelt; jeder Bewussthaber erhält seine private Innenwelt (Seele), in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wird, und zwischen den Innenwelten bleibt eine bis auf wenige standardisierte Merkmalsorten, die noch heute die Abstraktionsbasis der Physik bilden, abgeschliffene und durch Konstrukte wieder aufgefüllte Außenwelt, während der Abfall der Abschleifung in den Innenwelten versteckt wird. Diese Vergegenständlichungsweise behauptet sich in verschiedenartiger Durchführung zunächst bis zum spätantiken Neuplatonismus Plotins. Plotin durchbricht die Scheidung von Innenwelt und Außenwelt mit Hilfe seiner Entdeckung des Mannigfaltigkeitstypus der Vieleinigkeit, in der mehrere verschiedene Gegenstände – oder besser Etwasse, weil das Wort »Gegenstand« schon mit speziellen, irreführenden Konnotationen behaftet sein könnte – um Identität mit demselben Gegenstand (Etwas) konkurrieren. Solche Vieleinigkeit ist 811

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Zusammenfassung und Ausblick

nach neuplatonischer Lehre nur in der zeitlosen Welt des Geistes vollkommen verwirklicht, wirkt aber über die Seelen trotz Zerstreuung und Erschlaffung in der empirischen Welt so stark nach, dass z. B. Wahrnehmung nicht durch Übertragung physischer Signale an Sinnesorgane erklärt wird, sondern durch Sympathie. Der Neuplatonismus weckt den Sinn für Unterschiede von Typen der Mannigfaltigkeit. Bis dahin wurde nur numerische Mannigfaltigkeit in Erwägung gezogen, Mannigfaltigkeit zahlfähiger Mengen, die aus Einzelwesen (numerischen Einheiten) besteht, von denen jedes eine Anzahl um 1 vermehrt. Fortan konnten auch chaotische Mannigfaltigkeit mit Ausfall von Einzelheit (oder gar der Identität und Verschiedenheit) im Mannigfaltigen sowie instabile oder ambivalente Mannigfaltigkeit, in der verschiedene Einzelwesen um Identität mit demselben Einzelwesen konkurrieren, in Betracht gezogen werden. Das scholastische Denken, mit Ausnahme des Duns Scotus, hat diese Chance verpasst. Von Aristoteles erbte es ein verworrenes Einheitsverständnis, das unter dem Deckmantel der synthetischen oder der einfachen Einheit die numerische (die Einzelheit) meinte, und ermutigte sich durch das Axiom der Umfangsgleichheit des Seienden und des Einen zur Degradation des Vielen als Minderseiendes und zur Beschränkung aller Vielheit auf numerische. Mit dieser Beschränkung band es sich an den zunächst latenten Leitgedanken des Singularismus, dass alles ohne weiteres (d. h. ohne Zusatz zu seiner sonstigen Beschaffenheit) einzeln ist, d. h. fähig, eine Anzahl um 1 zu vermehren. Dieser Leitgedanke kam in radikaler Durchführung zum Durchbruch und zu Ansehen durch Wilhelm von Ockham mit der Folge, dass nach einer Verzögerung durch Erneuerung vordemokritischer Denkweisen im 16. Jahrhundert das demokritische, psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Paradigma zusammen mit dem Singularismus zur herrschenden Denkform der Neuzeit seit 1600 wurde. Diese Denkform war das Beet, in dem die seither aufstrebende Naturwissenschaft und Technik aufblühten, sich ergossen und ihre Triumphe des Konstellationismus feiern konnten. Konstellationismus ist die Überzeugung, dass die Welt als Netzwerk einzelner Faktoren rekonstruiert werden kann, weil gemäß der Voraussetzung des Singularismus alles von vornherein einzeln ist. Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen sinken zu verworrenen oder verschwommenen Vorstufen der Auflösung in Netzwerke herab. Der Konstellationismus zieht deswegen den Projektionismus 812

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nach sich, der alle Bedeutsamkeit durch Sachverhalte, Programme und Probleme zur nachträglichen Projektion in an sich bedeutungslose Konstellationen einzelner Faktoren (z. B. Sinnesdaten) aus subjektiven (individuellen oder artlichen) Bedürfnissen herabsetzt. Im Kreis dieser Motive bewegt sich die Philosophie bis zu Kant, der idealistische Dogmen hinzubringt, die auf seiner obsessiven Sorge vor metaphysischer Verdauung persönlicher Selbstständigkeit durch Gott und assoziationspsychologischer Herabsetzung auf das Niveau des Tieres, also sozusagen vor Spinoza und Hume, beruhen. Nach Kant wirken dieselben Motive weiter, aber mit Fichte kommt etwas wesentlich Neues hinzu: Man hatte sich noch nie klar gemacht, dass in allen objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er nur genug weiß und gut genug sprechen kann, kein Grund für die Annahme enthalten ist, dass es sich um mich – jeder denke an sich – handelt. Man war so harmlos, sich selbst mit seiner demokritisch gedachten Seele im Milieu der objektiven Tatsachen unterzubringen. Fichte war der Erste, der fragte, woher ich weiß, dass mein Schreiben oder Schmerzerleiden gerade das meinige ist, da doch auch andere schreiben und Schmerzen leiden. Da er aber nicht davon loskam, alle Tatsachen für objektiv oder neutral zu halten, versetzte er das Ich in ein Niemandsland jenseits aller Tatsachen oder in ein Schweben, das er sich auch als Schraube ohne Ende ausmalte, zwischen den unvereinbaren Positionen der Abhängigkeit und Unabhängigkeit von beschränkenden objektiven Tatsachen. Mit diesem Schweben versetzte er die strikte, d. h. durch bloß objektive oder neutrale Tatsachen nicht mehr bestimmbare, Subjektivität, wer ich bin, in rezessive Entfremdung von den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen. Aus dieser rezessiven Entfremdung bezogen die Frühromantiker die romantische Ironie der beliebigen Wendigkeit, sich von allem abwenden und eben deshalb allem zuwenden zu können; Max Stirner machte daraus den blutigen Ernst völliger praktischer und moralischer Ungebundenheit eines Subjekts, das sich nicht mehr subsumieren lässt, schon gar nicht als Mensch. Diese ironistische Verfehlung durch rezessive Entfremdung der strikten Subjektivität entwickelte sich seither zu einer neuartigen Dominante im Selbstverständnis des modernen Menschen. Nietzsche kämpfte mit ihr und erlag ihr bis zum Wahnsinn. Für die Philosophie ergab sich daraus die Spaltung in die beiden Parteien der Existenzphilosophen und der Positivisten. Die Existenzphilosophen seit Kierkegaard vertraten die strikte Subjektivität auch noch in der paradoxen Schwebelage rezessiver Entfremdung und ge813

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langten zu in sich konsequent durchdachten, wenn auch sachlich fragwürdigen Ausformungen dieses Standpunktes in der existenzialen Analytik Heideggers und der Lehre vom präreflexiven cogito bei Sartre. Die Positivisten zogen aus der Einsicht, dass die Subjektivität bei den objektiven Tatsachen nicht unterzubringen ist, die umgekehrte Folgerung, sie einfach wegzuwischen und nur noch objektive Tatsachen (nicht einmal die objektive Tatsache, dass es subjektive Tatsachen gibt, die höchstens Einer im eigenen Namen aussagen kann) gelten zu lassen. Beide Parteien vereinigen sich in Wittgenstein, der die Unvereinbarkeit beider Positionen durch die Bestreitung der eigenen Sätze und ein Versteckspiel, das die strikte Subjektivität riesengroß, aber unbesprechbar hinter den Tatsachen der Naturwissenschaft oder den Konventionen sogenannter Sprachspiele sehen lässt, offen an den Tag bringt. Fichtes Fixierung der rezessiv entfremdeten strikten Subjektivität als Schwebelage der produktiven Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren hat die wichtige Nebenfolge, den seit circa 1600 unbeschränkt herrschenden Singularismus durch instabile (weniger durch chaotische) Mannigfaltigkeit aufzuweichen. Die schwebende Einbildungskraft, die von Novalis zum Ich und Ichsein erhoben wird, ist von dieser Art. Hegel radikalisiert diese Tendenz zu dem Extrem, nur noch instabile Mannigfaltigkeit gelten zu lassen, und alle numerische Mannigfaltigkeit in sie aufzulösen. Sein Werkzeug ist der logische Widerspruch, der jeden Sinn einzelner Behauptungen ins Gleiten bringt und nur noch Ambivalenzen übrig lässt, die sich ohne Verlust der Übersichtlichkeit zu immer reicherer Konkretion bis hin zu einem Ganzen allumfassender Ambivalenz, einer Art Universalwitz, zusammenfinden sollen. Zu den Motiven dieses kühnen Unternehmens gehört Hegels Sorge vor den Folgen der ironistischen Verfehlung in der von ihm vorausgeahnten, fälschlich auf Friedrich Schlegel projizierten Position Max Stirners. Durch ambivalente Vermittlung instabiler Mannigfaltigkeit will Hegel die durch rezessive Entfremdung heimatlos gewordene strikte Subjektivität wieder in irdische Ordnungen einfangen. Nach Hegel erhält die instabile Mannigfaltigkeit neue Bedeutung in der Lebensphilosophie, besonders bei Bergson, und dann bei Sartre. So etwa sieht der Stand der europäischen Philosophie als Ergebnis ihrer Geschichte bis zu Merleau-Ponty einschließlich aus. Wie ist er zu bewerten? Die Philosophie trägt besondere Verantwortung als Führerin im Kultursystem des Behauptens in der europäischen Kul814

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tur als einer Diskussionskultur. Philosophie ist nach meiner ständigen Definition Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Wenn Sachverhalte (darunter namentlich Tatsachen), Programme und Probleme zusammenfassend als Bedeutungen (nicht im Sinn von Wortbedeutungen) bezeichnet werden, sind objektive Bedeutungen solche, die jeder sagen (d. h. formulieren, nicht bloß kennzeichnen und benennen) kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, und subjektive Bedeutungen solche, die höchstens Einer im eigenen Namen sagen kann. Die normalen Wissenschaften forschen nach objektiven Tatsachen zur Auflösung objektiver Probleme; die Philosophie forscht nach objektiven Tatsachen zur Auflösung subjektiver Probleme, von denen Kant drei in die Form der Fragen »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« brachte; die Liste kann verlängert werden. 1996 Wenn das menschliche Selbstverständnis nicht ganz fest in dogmatischen Überzeugungen verankert ist, kann auf die Suche nach objektiven Tatsachen im Dienst subjektiver Probleme nicht verzichtet werden. Solche feste Verankerung ist nur in Kulturen möglich, die durch dogmatische Autoritäten oder selbstverständliche Konventionen durchgängig bestimmt werden, in Priester- oder Konventionskulturen. Die europäische Kultur ist, mit Unterbrechung durch das christliche Jahrtausend 312–1303 (25.3), nicht von dieser Art, seit der Sieg bei Salamis die Griechen vom drohenden Diktat einer orientalischen Priesterkultur freigesetzt hat. Deswegen bedarf sie als Diskussionskultur der Philosophie, die nicht durch christlichen Glauben oder Lehren der Naturwissenschaft ersetzt werden kann. Durch Philosophie kann sich der Mensch Rechenschaft von seinem Sichfinden in seiner Umgebung geben, und originelle Funde einzelner Philosophen bei dieser Rechenschaft können exemplarische Bedeutung erlangen. Weil es dabei immer auf den einzelnen Philosophen und dessen perspektivische Beirrung (Problematik) in der Selbstbesinnung ankommt, ist Philosophie mehr als normale Wissenschaft an einzelne Personen gebunden, und deswegen war es angemessen, ihre Geschichte im vorliegenden Werk an deren Namen zu knüpfen. Die philosophische Aufgabe, sich auf sein Sichfinden in der Umgebung zu besinnen, stellte der delphische Gott allen Besuchern des Apollontempels mit den Inschriften: »Erkenne dich selbst!« und »Sei besonnen!« Ist die etablierte europäische Philosophie in ihrer Ge1996

Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 15.

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schichte von Anaximander bis Merleau-Ponty dieser Weisung gerecht geworden? Um diese Frage zu prüfen, stelle ich ihre Entwicklung in etwas größeren Zusammenhang, wobei ich mich im Wesentlichen an mein Buch Adolf Hitler in der Geschichte (Bonn 1999) halte. Ich verfolge der Reihe nach die Auswirkungen der Wenden bei Demokrit, bei Fichte und bei Wilhelm von Ockham. Die Wende bei Demokrit, die psychologistisch-reduktionistischintrojektionistische Vergegenständlichung, isoliert das Individuum in seiner Innenwelt und vertraut ihm dafür die Macht an, Herr im eigenen Haus über die unwillkürlichen Regungen zu werden; zugleich bereitet sie die seit 1600, zwei Jahrtausende später, folgende naturwissenschaftlich-technische Weltbemächtigung vor, indem in der nach Abzug aller Seelen verbleibenden empirischen Außenwelt nur solche Qualitätensorten (unspezifische Sinnesqualitäten) belassen werden, die für Statistik und Experiment optimal sind. Die Philosophie tritt damit in den Dienst eines Bemächtigungsstrebens. Dieses beschränkt sich in der Antike auf die Gebildeten, denen die Philosophie personale Selbstbemächtigung im Verhältnis zu den eigenen unwillkürlichen Regungen zumutet. Diese Zumutung wird mit Antritt der Herrschaft des Christentums über die Kultur ungeheuer forciert und auf alle Menschen – selbst die ungebildetsten – ausgedehnt. Das Werkzeug dieser Forcierung ist die Einschärfung einer Alarmstimmung durch die Aussicht auf eine Entscheidung über ewiges Heil oder (wahrscheinlicher) ewiges Unheil in einem Leben nach dem Tode, entsprechend dem im irdischen Leben erreichten Sündenstand. Da jeder unabhängig von allen anderen einer solchen Entscheidung unterworfen und insofern mit seiner Selbstsorge allein gelassen ist – Rette sich, wer kann! (20.3) –, nimmt die Isolierung der Individuen gewaltig zu, begleitet von einer Uniformierung und Nivellierung im Verband von lauter eschatologischen Schicksalsgenossen in der Kirche (20.2). Auf diese Weise wird zwar nicht im geregelten, sogar straff organisierten Zusammenleben, auch nicht in frommen Konventikeln, wohl aber im menschlichen Selbstverständnis die Bedeutung der gemeinsamen Situationen, in die der Einzelne mit seiner persönlichen Situation eingewachsen (implantiert) ist, geschwächt bis entwertet, und es kommt zu dem, was ich die autistische Verfehlung des abendländischen Geistes genannt habe: Isolierung und Nivellierung der Individuen durch Abbau implantierender Situationen. Die Kehrseite dieser autistischen Verfehlung ist die dynamistische, die Bindung des affektiven Betroffenseins an das 816

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Thema der Macht. Dieses war schon im Altertum ein wichtiger Bestimmungsgrund des affektiven Betroffenseins, doch kam dieses auch in vielen anderen Zusammenhängen vor: etwa als Betroffensein von Liebe, Familie, Hunger, Durst, Alter, Krankheit und Tod. Vom Christentum wird jegliches affektive Betroffensein ins Zeichen der Allmacht Gottes gestellt, der es bis in die letzten Schlupfwinkel überwacht und die Fäden aller Zugänge zu ihm in der Hand hält. Als die Menschen nach Ablauf des christlichen Jahrtausends ihr Glück in die eigenen Hände zu nehmen beginnen, bleibt es bei dieser Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht. Diese wird nun zur Macht der Menschen – einzeln und in Gruppen, z. B. imperialen Verbänden – und je länger, je mehr zur Macht der nach unpersönlichen Gesetzen funktionierenden sozialen und technischen Organisationen, der »Apparate«, in die die Menschen sich verstricken, indem sie sich ihrer bedienen. Daran ändert sich auch nichts, als im Gleichlauf mit dem Aufstreben der modernen Naturwissenschaft und Technik die Aufklärung das Christentum aus der führenden Stellung in der Kultur verdrängt. Sie erbt von ihrem Widersacher die dynamistische Verfehlung zusammen mit der autistischen; das zeigt sich am Bündnis der modernen Aufklärung mit dem Privatkapitalismus, z. B. in den Figuren von Voltaire und Adam Smith. Der Privatkapitalismus gestattet dem Individuum, die ungeheuren Machtmittel der modernen Technik in den Dienst der Verfolgung seines privaten Glückes zu stellen, sofern es sich an einige rein formale Regeln gesellschaftlicher Rücksichtnahme hält. Wie nah diese Lizenz dem christlichen Vorbild steht, zeigt sich an Augustinus, der der irdischen Welt mit der ausschließlich technischen Einstellung des Beherrschers und Benützers gegenübersteht und dabei letztlich nur an seinem privaten Glück interessiert ist, das er sich vom Genuss an Gott im ewigen Leben nach dem Tode erhofft (20.1). Die Welt steht im Zeichen der dynamistischen und autistischen Verfehlung den Menschen als ein Feld zur Ausübung ihrer Macht im Interesse privaten Glücks zur Verfügung, wobei inzwischen dem Einzelnen überlassen bleibt, nach Belieben zu befinden, worin sein Glück bestehen soll. Diese scheinbare Souveränität und Verfügungsmacht verwandelt sich in Unterwerfung, wenn die Menschen sich durch die Wahl von Angeboten in den sozial und technisch organisierten Anhang der angebotenen Programme verstricken. Der Einzelne wird zum Anhängsel funktionierender Apparate. Dieser Umkehr der Abhängigkeit konnten sich die Menschen entziehen, solange der Verführungs817

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kraft ihr konsequentes eigenes Wollen ein Gegengewicht hielt, oft auf dem Hintergrund eines sich mit der Aufklärung allmählich verweltlichenden Christentums. Dieses konsequente Wollen wird ihnen in der Folge der ironistischen Verfehlung abgewöhnt, und damit beginnt die von Fichte angestoßene Entdeckung und Verkennung der strikten Subjektivität durch rezessive Entfremdung geschichtlich breit zu wirken. Die Menschen lernen, dass sie sich von jedem Standpunkt, jeder Einbettung, jedem Engagement abwenden, dass sie »cool« sein können, und dass sie sich eben deshalb auch jeder Stellungnahme zuwenden können. Wer sich in diese beliebige Wendigkeit einlebt, hat kein konsequentes eigenes Wollen mehr nötig. Auf der Gegenseite, der des Materials für beliebige Auswahl, entspricht der ironistischen Verfehlung die Herrschaft des Konstellationismus, der den seit Wilhelm von Ockham zur herrschenden Überzeugung durchgebrochenen Singularismus ausnützt, um alle Situationen mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit in Netzwerke einzelner Faktoren aufzulösen. Dieser Triumph der Digitalisierung führt einerseits zu einer ungeheuren Vermehrung der Angebote und ihrer Kombinierbarkeit, andererseits zu einer enormen Verarmung der Lebensführung und Gestaltungskraft. Die Möglichkeiten, sich auf etwas einzulassen, etwas mitzumachen, zu tun, zu leiden, zu genießen, sind viel zahlreicher als zuvor, aber sie sind schon abgepackt, vorfabriziert; man kann nicht mehr aus dem Vollen schöpfen, nicht mehr der Ganzheit von Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit selbstexplizierte Bedeutungen abgewinnen, sondern findet mit fertigen Bedeutungen abgestempelte Gegebenheiten vor. Die Welt hat die Fülle, die sie noch für die Wanderbewegung der Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts (und vorher für die Wanderer mit dem Skizzenbuch in der Goethezeit u. a.) besaß, zugunsten der Menge verloren. Da jede originelle Leistung, die Ideen, Werke und Lebensformen eines neuen Typs schafft, explizierend aus dem Vollen von Situationen schöpft, endet die Verstopfung von Situationen durch Konstellationen mit einem Erlahmen der Gestaltungskraft im betriebsamen Umgruppieren des Vorhandenen, das Goethe in seinem Brief an Zelter vom 6. Juni 1825 vorausahnend genau getroffen hat: »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach sie strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und 818

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dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.« 1997 Die Verbindung von ironistischer Beliebigkeit und Digitalisierung zu einem Lebenkönnen in grenzenloser Kombinierbarkeit wird getragen von den gleichsam selbstläufigen, unabsehbaren Fortschritten der Maschinentechnik, denen die Naturwissenschaft mit glänzenden Prognosen der Erfolge selektiver Eingriffe in die empirische Außenwelt den Weg weist. An diesen Früchten einer jahrtausendelangen Entwicklung des abendländischen Geistes – nach dem Ende des Altertums auf dem Boden des weströmischen Reiches, im heute sogenannten »Westen« – ist die Philosophie als maßgebend treibende und Motive gebende Kraft beteiligt; ihre Anregungen kamen aber nur deshalb zu so breiter Geltung, weil sie zweimal aus anderer Quelle mit unvorhersehbar gewaltiger Dynamik aufgeladen wurden: zuerst durch das Christentum und dann durch die Naturwissenschaft unter Führung der Physik und die von ihr ermöglichte und angebahnte moderne Maschinentechnik. Die Philosophie hat diese Dynamik immer angefeuert und sich im Wesentlichen der Selbstbemächtigung und (nach circa 1600) der Weltbemächtigung des Menschen verschrieben, abgesehen vom spätantiken Neuplatonismus, der die empirische Welt in transzendenter Spekulation, Versenkung und Ekstase überflog, sich damit aber nur in der ostkirchlichen (orthodoxen) Mystik fortsetzte. In unvorhersehbarer Weise gelangte nach 1600 die moderne Naturwissenschaft zu einer beliebig reproduzierbaren Kunst geregelten Zauberns, d. h. der Produktion vorhersehbarer Effekte weit über das hinaus, was mit der natürlichen Ausstattung der Menschen und ihrer Ergänzung durch Maschinen, deren Konstruktion bloß die Beobachtung natürlicher Abläufe erfordert, möglich ist. Sie erreichte das auf einer schmalen (demokritischen) Datenbasis durch Verarbeitung der erhobenen Daten mit hinzugesetzten Konstrukten in mathematischen Kalkülen zu theoretisch vorhergesagten Effekten, deren Eintritt durch Experimente mit selektiver Variation von Daten der erwähnten Basis geprüft und im Erfolgsfall auf Vorgänge aller Art in der empirischen Außenwelt verallgemeinert wird. Dass dieses Verfahren so enormen Erfolg hatte und die Technik in den Spuren der verlässlichen Prognosen zur Kunst geregelten Zauberns reifen ließ, war nicht vorauszusehen; es hat die darauf nicht vorbereiteten Menschen überwältigt und geblendet. Die Philosophie wäre berufen gewesen, im Geist der 1997

Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, 4. Abteilung, Band 39, Weimar 1907, S. 216.

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Inschriften am Apollontempel in Delphi der Verführungskraft der neuen Möglichkeiten eine sie kontrollierende Selbstbesinnung an die Seite zu stellen. Stattdessen hat sie vor der Naturwissenschaft versagt. An ihre Stelle hat sich mit beträchtlichem Erfolg in der öffentlichen Meinung die Physik als eine neue Metaphysik gesetzt, die mit solchen Theorien wie z. B. der Allgemeinen Relativitätstheorie die unwillkürliche Lebenserfahrung überholen will und das wahre Wesen der Erscheinung hinter aller Erscheinung, gleichsam das Kantische Ding an sich, ausfindig gemacht zu haben beansprucht. Die Hinfälligkeit dieses Anspruchs habe ich unter 43.4.4 nachgewiesen. Die Physik ist durch ihre prognostischen Erfolge nicht besser zur Metaphysik legitimiert als die Theologie durch die Erfahrungen des Numinosen und Göttlichen zur theologischen Metaphysik. Man muss aber der Gerechtigkeit halber berücksichtigen, dass eine besonders angesehene und grundlegende physikalische Disziplin, die Quantenphysik, bei der in ihrer fachlichen Interpretation führenden Kopenhagener Deutung solche metaphysischen Ansprüche nicht erhebt und sich daher mit einer hinlänglich vorsichtigen Philosophie ohne weiteres verträgt. Das hat sich aber noch nicht genügend herumgesprochen, um den metaphysischen Ansprüchen sowohl in der übrigen Physik als auch in den mit physikalischen Methoden arbeitenden Anschlusswissenschaften (z. B. der Gehirnforschung) Eintrag zu tun. Die unwillkürliche Lebenserfahrung, verstanden als Inbegriff alles dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben, ist die einzige verlässliche Erkenntnisquelle für alle Wissenschaften, die nicht bloß mit formaler Logik operieren. Um die Schuld der Philosophie abzutragen, muss also mit genauen, rechenschaftsfähigen Begriffen auf die unwillkürliche Lebenserfahrung zurückgegangen werden, damit die Menschen Hilfe zur Einsicht in die grundlegenden Strukturen und Formationen erhalten, in denen sie wirklich leben, abzüglich der Verkünstelungen und Vorurteile, die aus der traditionellen Philosophie und den metaphysischen Usurpationen der Theologie und der Naturwissenschaft stammen und den Blick auf die unwillkürliche Lebenserfahrung verdecken. Dieser Aufgabe, die auch in der in Kapitel 45 besprochenen Phänomenologie noch nicht, außer in kleinen Bruchstücken (Heidegger, Sartre) oder ganz verschwommen (Merleau-Ponty), in Angriff genommen wurde, habe ich mich auf breiter Front gewidmet und zu diesem Zweck in vielen Schriften die von mir sogenannte Neue Phä820

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nomenologie entwickelt. Die schwierigste Aufgabe war die Überwindung und Abräumung des psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Dogmas, nicht durch bloße Negation, sondern durch begrifflich geschärfte Nachweisung und Einordnung alles dessen, was im Zuge dieser Vergegenständlichung gleichsam unter den Tisch gefallen oder verstümmelt worden ist. Leichter war der kritische Umgang mit dem Singularismus/Konstellationismus und der rezessiven Entfremdung der Subjektivität, da diese Positionen auf bequem nachweisbaren Irrtümern beruhen: der Singularismus und mit ihm der Konstellationismus auf Verkennung des Umstandes, dass Einzelnes nur möglich ist unter Voraussetzung der binnendiffusen Bedeutsamkeit (von Situationen), so dass es prinzipiell nicht angeht, Situationen vollständig in Konstellationen aufzulösen (29.1); die rezessive Entfremdung der Subjektivität auf dem Irrtum, alle Tatsachen für neutral oder objektiv zu halten, wogegen der Nachweis der Existenz von für jemand subjektiven Tatsachen genügt. Solche Einsichten der Philosophie sind aber bloß theoretisch; sie können, wenn sie durchdringen, eine Besinnung veranlassen, die vielleicht praktische Folgen hat, aber sie reichen nicht aus, um die tief in das menschliche Selbstverständnis eingewachsenen vier Verfehlungen des abendländischen Geistes – die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische, die dynamistische, die autistische und die heute besonders virulente ironistische Verfehlung – zusammen mit dem Singularismus, Konstellationismus und Projektionismus von den Wurzeln her daraus zu entfernen. Dazu bedarf es einer menschheitspädagogischen Praxis, die darauf gerichtet ist, die Menschheit aus der verfahrenen Lage zu befreien, die Goethe1997 beschreibt. Im letzten Kapitel Perspektiven nach Hitler meines Buches Adolf Hitler in der Geschichte (S. 377–404) habe ich dazu einige Vorschläge gemacht. Von der größten Wichtigkeit wird es meines Erachtens sein, die implantierenden Situationen, in die die zuständlichen persönlichen Situationen (Persönlichkeiten) von Personen eingepflanzt sein können und mindestens in Resten immer eingepflanzt sind, zu regenerieren. Implantierende Situationen geben der Persönlichkeit Halt und Anschub, wodurch die Personen vor bloß launenhafter Selbstverwirklichung bewahrt werden; außerdem bieten sie eine fast unentbehrliche Hilfe zur Reifung an, weil sie die persönliche Situation zwar halten, aber nicht unüberwindlich fest einbinden, so dass sie der Person Gelegenheit zur Auseinandersetzung (bis allenfalls zum Bruch mit Narben) geben, einer Auseinandersetzung, in 821

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der die Person zu sich kommen und ihre Eigenart, ihre ganz persönliche Fassung und Stellung, finden kann. Wenn auf diese Weise die autistische Verfehlung im Leben des Individuums überwunden ist, kann dieses sich am ehesten von der Verführung durch ironistische Verfehlung zu haltloser Beliebigkeit befreien, die Konsequenz eigenen Wollens zurückgewinnen, der Verstrickung in die fertig abgepackten Angebote der sozialen und technischen Apparate entgehen und durch seine Verankerung in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit Situationen vor der Aufzehrung in Konstellationen und damit das Leben vor der Verarmung bewahren, die es dem Menschen verwehrt, aus dem Vollen zu schöpfen. In solchen Situationen, gefüllt mit Atmosphären des Gefühls, kann die Person auch genügend reiche Bedeutsamkeit finden, um der einseitigen Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht, der dynamistischen Verfehlung, zu entgehen. Dann kann vielleicht auch das Bündnis der Aufklärung mit dem Privatkapitalismus gelöst werden. Wie aber könnte es unter den heute gegebenen Bedingungen möglich sein, eine Regeneration implantierender Situationen einzuleiten? Ich habe geantwortet: durch die Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht. Rechte hat man gegen Andere, Pflichten für Andere; wenn jedem Menschen von Kindesbeinen an mitgegeben wird, dass er mit jedem Recht, das ihm gewährt ist, auch eine Pflicht übernimmt, wird dem Selbstverständnis eine Ausgewogenheit von Selbstsorge und Fürsorge eingegeben werden können, die durch Auspendeln der Gewichte Gelegenheit zu einer selbstverständlichen Rangordnung und damit zum Nomos (Programmgehalt) einer gemeinsamen implantierenden Situation bieten könnte. Die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – reichen dafür nicht aus. Gesellschaftliche Gleichheit ist überhaupt nicht vollständig durchführbar, weil sie überwacht werden muss und dazu eine Elite von Gleichheitswächtern nötig ist, die eo ipso privilegiert sind; Freiheit und Gleichheit kollidieren; Brüderlichkeit reicht nicht aus, den Streit zu schlichten, weil Brüder als solche gleich sind und ihr Verhältnis daher keine Rangordnung vorgibt, durch die im Konfliktfall entschieden werden könnte, welchem Anspruch der Vorzug gebührt. Wenn die Ordnung auf Regelungen beruht, denen die Person ihre Zustimmung leicht entziehen kann, z. B. auf Gesetzen des Staates oder auf den ungeschriebenen Regeln einer nur locker einbindenden Gesellschaft, sind im Konflikt von Freiheit und Gleichheit nur prekäre und provisorische Kompromisse möglich; sowie aber der 822

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Zusammenfassung und Ausblick

Nomos einer implantierenden Situation das Gehörige selbstverständlich macht, sind Freiheit und Gleichheit ausgewogen, bis der Protest eines Angehörigen, der in der binnendiffusen Bedeutsamkeit latente Widersprüche aufdeckt, den Nomos der Situation modifiziert oder sprengt, dann aber durch die Erziehung zur Einheit von Recht und Pflicht Gelegenheit hat, eine veränderte oder neue implantierende Situation wachsen zu lassen. Die auf dem Boden des weströmischen Reiches durch Philosophie, Christentum und Aufklärung gewachsene Ordnung des Gemeinschaftslebens kann unter dem Druck der dynamistischen, autistischen und ironistischen Verfehlung, des Singularismus und Konstellationismus mit den Idealen der Französischen Revolution allein nicht auskommen; sie dürfen nicht geschmälert werden, bedürfen aber der Ergänzung durch das neuplatonisch-johanneische (18.1) Ideal der Vieleinigkeit, die in implantierenden Situationen gelebt werden kann, gemäß der Maxime des Proklos: »Alles in allen, aber eigentümlich in einem Jeden.« (16.6) Dieses Ideal ist in der Ostkirche lebendig geblieben und von dem russischen Laientheologen Chomjakow durch das Konzept der Sobornost säkularisierbar gemacht worden. 1998 Ohne solche Ergänzung droht der westlichen Kultur trotz aller Fortschritte der Naturwissenschaft und Technik die Stagnation, die Mittelmäßigkeit im Sinn von Goethe.1997 Die Teilung des römischen Reiches in Westrom und Ostrom, die Ausbildung nur auf dem Boden des weströmischen Reiches, ist ihr nicht bekommen. In der Hoffnung, dass dieser Schaden geheilt werden kann, habe ich mit Anspielung auf die deutsche Wiedervereinigung (1990) geschrieben: »Die Wiedervereinigung Deutschlands hat Sinn als Beginn der Wiedervereinigung des Römischen Reiches.« 1999

1998 1999

Adolf Hitler in der Geschichte, S. 400–402. Adolf Hitler in der Geschichte, S. 404.

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Glossar

Apperzeption: bei Kant das Selbstbewusstsein, sofern es nach seiner Meinung dazu erforderlich ist, die Anschauungen durch Begriffe zu Gegenständen zu vereinigen atomistische Psychologie: eine Lehre vom Seelenleben, die ohne Ganzheit mit bloßen Haufen einzelner Bestandteile (zusammenhanglos oder mit dichterem oder dünnerem Zusammenhang) auskommt Aussage, extensionale: Aussage unter der Voraussetzung, dass alle Prädikate identifiziert werden, wenn sie auf dieselben Gegenstände zutreffen Aussage, intensionale: Aussage unter der Voraussetzung, dass je zwei Prädikate unterschieden werden, wenn das eine einen Gegenstand in anderer Weise als das andere bestimmt Diiudication: nach Heidegger Entscheidung für die Grunderfahrung der eigenen Existenz dogmatischer Idealismus: die Lehre, dass das Ich Gegenstände produziert, ohne einer Affektion durch sie zu bedürfen Epoché: Enthaltung von Behauptungen nach Art der antiken Skeptiker, die alles dahingestellt sein ließen exzessiver psychologischer Idealismus: Ergänzung des Immanenzdogmas durch die Lehre, dass in die Innenwelt nichts eintreten kann Heros Eponymos: der Gründer des Stammes, der diesem den Namen gibt Immanenzdogma: die Lehre, dass für jeden Bewussthaber seine Innenwelt so abgeschlossen ist, dass er nicht aus ihr heraustreten kann Innenweltdogma: die Lehre, dass für jeden Bewussthaber die Welt in seine Innenwelt und seine Außenwelt so aufgeteilt ist, dass ihm ein Gegenstand seiner Außenwelt höchstens dann bewusst sein 824

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Glossar

kann, wenn dieser Gegenstand in der Innenwelt des Betreffenden mindestens einen Vertreter hat Ironie, produktive: durch rezessive Ironie erlangte Wendigkeit, sich nach Belieben allem zuwenden zu können Ironie, rezessive: Die rezessive Entfremdung wird ausgenützt zu der Wendigkeit, sich von allem zurückziehen zu können, an nichts Einzelnes gebunden zu sein isomorphe Abbildung: eine Zuordnung zwischen zwei Mengen M1 und M2, wobei deren Identität zugelassen ist, in der Weise, dass die Abbildung erstens umkehrbar eindeutig ist, so dass jedes Element jeder der beiden Mengen einen und nur einen Partner in der anderen hat. Zweitens muss (für den einfachsten Fall zweistelliger Beziehungen) in M1 eine Beziehung R1 und in M2 eine Beziehung R2, jeweils die ganze Menge überdeckend, so bestehen, dass zwischen irgendwelchen Elementen x1 und y1 von M1 die Beziehung R1 von x1 zu y1 dann und nur dann besteht, wenn zwischen Partnern x2 von x1 und y2 von y1 in M2 die Beziehung R2 von x2 zu y2 besteht. R1 und R2 dürfen identisch sein. Für den komplizierteren Fall mehr als zweistelliger Beziehungen (z. B. zwischen) kann das Gesagte leicht mit n-tupeln (n > 2) verallgemeinert werden Kategorumenon: was von etwas in wahrer Rede ausgesagt werden kann Kinästhese: Wahrnehmung eigener Bewegung ohne Sehen und Tasten Konfusion: Verschwommenheit Konzeptualismus: die Lehre, dass es statt allgemeiner Gegenstände Einzeldinge in den Seelen gibt, die allgemein (d. h. alle Gegenstände von bestimmter Gattung und Art) repräsentieren Lagezeit: eine Anordnung von Ereignissen (in sehr weitem Sinn des Wortes, der auch Dinge und Zustände umfassen kann) durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen linguistische Inventartheorie: die Lehre, dass Sätze und Satzfolgen Aufzählungen von Gegenständen nach Art von Inventaren sind Mannigfaltigkeit, chaotische: Mannigfaltigkeit von Vielen, die gar nicht oder nicht sämtlich einzeln sind. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Mannigfaltigkeit, diffuse: chaotische, aber nicht konfuse Mannigfaltigkeit 825

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Glossar

Mannigfaltigkeit, instabile: Mannigfaltigkeit, in der Verschiedenes um Identität mit dem Selben konkurriert Mannigfaltigkeit, konfuse: chaotische Mannigfaltigkeit von Vielen, die gar nicht oder nicht sämtlich identisch mit etwas und verschieden von etwas sind Mannigfaltigkeit, multivalente: instabile Mannigfaltigkeit mit mehr als zwei Konkurrenten Mannigfaltigkeit, numerische: Mannigfaltigkeit von Vielen, von denen jedes einzeln ist. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt Nominalismus: die Lehre, dass es statt allgemeiner Gegenstände (Gattungen, Arten) einzeldingliche sprachliche Zeichen (z. B. Schallereignisse hier und jetzt, Beschriftungen dieser Papierseite) gibt, die allgemein (d. h. alle Gegenstände einer bestimmten Gattung oder Art) repräsentieren. Projektionismus: die Lehre, dass jede Bedeutung als etwas eine Projektion ist, die vom Subjekt in eine dagegen gleichgültige Gegenstandswelt hineingeworfen wird prästabilisierte Harmonie: die Lehre von Leibniz, dass die Anordnung der Vorstellungen in jeder Monade mit der Anordnung der Vorstellungen in jeder anderen Monade durch eine von Gott von vornherein festgesetzte isomorphe Abbildung verbunden ist Psychologismus: die Lehre, die jedem Bewussthaber eine abgeschlossene Innenwelt (z. B. Seele) beilegt, in der sein gesamtes Erleben Platz hat. (Schmale Zugänge von außen durch die Schlitze der Sinnesorgane können zugelassen werden.) Quantor: das Zeichen, das eine freie Variable (z. B. »x«) universell (»für alle x«) oder partikulär (»für mindestens ein x«) quantifiziert Realismus: die Lehre, dass es allgemeine Gegenstände (Gattungen und Arten) gibt Reduktionismus: das Verfahren, die bedeutsamen Inhalte der Wahrnehmung so zu zerlegen oder wegzudeuten, dass in der empirischen Außenwelt nichts als vorhanden anerkannt wird, außer Merkmalen aus gewissen Klassen, die bequem identifizierbar, messbar und selektiv variierbar sind, und deren hinzugedachten Trägern Retention: unwillkürliches, automatisches Behalten in frischer Erinnerung 826

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Glossar

rezessive Entfremdung: die Einsicht, dass die Tatsachen der Art, dass es sich bei etwas um mich selber handelt, keine objektiven Tatsachen (d. h. solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann) sind, verbunden mit der Befangenheit in dem Glauben, dass alle Tatsachen objektiv sind. Daraus ergibt sich eine Entfremdung des Bewussthabers, der jeweils ich bin, von der Welt aller Tatsachen Singularismus: die Lehre, dass alles ohne weiteres (d. h. ohne Zusatz zu seiner sonstigen Beschaffenheit) einzeln ist, d. h. eine Anzahl um 1 vermehrt Singularismus, ordinatorischer: Singularismus, verbunden mit dem Glauben an eine strenge Weltordnung, in der im Wesentlichen alles Einzelne seinen fest bestimmten Platz hat Singularismus, permutatorischer: Singularismus, verbunden mit dem Glauben, dass die Plätze der Einzelnen im Wesentlichen vertauschbar sind Solidarbegriff des Geistes: nach Hegel die Identität verschiedener Individuen als derselbe Geist, »ich, das wir, und wir, das ich ist« Somnambulismus: Wandeln im Schlaf Synkategorematika: Wörter, die nichts benennen, sondern ihren Sinn nur durch ihre Funktion im Satzzusammenhang erhalten transzendentaler Zirkel: die Lehre, dass die Produktion der Gegenstände durch das Ich und die Affektion des Ich durch die Gegenstände einander bedingen transzendenter realistischer Dogmatismus: die Lehre, dass das Ich von den Gegenständen affiziert wird, ohne sie zu produzieren uni-multipolare Struktur: Struktur eines Verhältnisses, das durch eine Beziehung festgelegt wird, in der eine Sache sich auf viele Sachen bezieht, von denen jede sich auf jene eine Sache bezieht

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Personenregister

Abaelard, Peter 62–69, 71, 72, 74, 78, 79, 85, 110, 137, 190, 192, 285, 323, 774, 786 Adickes, Erich 329, 350 Aegidius von Rom 84 Agrippa von Nettesheim 195 Aischylos 26, 28 Alanus von Lille 194 Anaxagoras 157 Anaximander 768, 816 Anaximenes 225, 811 Anselm von Canterbury 91, 119, 137, 270, 275, 691 Aristophanes 400, 706 Aristoteles 17, 20, 21, 61, 62, 69, 74, 75, 89, 90, 92, 94, 98–103, 105–109, 122, 126, 129, 131, 133, 134, 137, 141, 144–146, 156, 157, 185, 191, 195, 225, 236, 237, 255, 297, 300, 302, 305, 324, 380, 385, 389, 393, 535, 538, 557, 559, 580, 589, 636, 674, 701, 706, 715, 718, 722, 727, 754–756, 767, 768, 771, 779, 812 Augustinus 35–45, 47, 48, 50–52, 60, 170, 171, 236, 242, 405, 543, 659, 769, 817 Avenarius, Richard 154, 221, 568–573, 576, 601, 605, 621, 735 Averroes 117 Avicenna 71, 75, 107, 169 Bach, Johann Sebastian 658, 754 Bacon, Francis 191, 214–219, 228, 299, 316, 772 Bartholomäus Anglicus 194 Baumgarten, Alexander Gottlieb 347, 353 Bebel, August 47

Beckermann, Ansgar 229, 607 Beloselsky, Alexander Fürst von 338 Bergson, Henri 535, 628–633, 637, 639, 643, 644, 651, 668, 720, 774, 814 Berkeley, George 83, 302, 329, 436, 444 Bernoulli, Johann 283, 349, 352, 353 Blum, Paul Richard 193 Bocheñski, Joseph Maria 53, 55, 61, 149 Boethius, Anicius Manlius Severinus 60–62, 64, 66, 78, 110, 134, 149, 190, 610, 786 Bolzano, Bernhard 292 Bonaventura (Friedrich August Klingemann) 460, 461, 463, 531, 551, 682, 689 Bonifaz VIII. 168, 169, 541 Boss, Medard 775 Bosses, Bartholomäus des 293, 294 Brands, Hartmut 237 Brandt, Reinhard 299, 372 Brentano, Clemens 526 Brentano, Franz 574, 640, 667, 755, 779 Bruno, Giordano 195, 203 Buddha 552 Bühler, Karl 535 Burali-Forti, Cesare 599 Burley, Walter 62, 75, 78, 81, 84, 305 Butler, Joseph 399 Cantor, Georg 19, 589, 599, 629, 669 Carnap, Rudolf 191, 600–605, 610, 612, 614, 621 Cassirer, Ernst 801 Chalcidius 60 Chomjakow, Aleksej Stepanowitsch 823 Clarke, Samuel 253, 334 Columbus, Christopher 214

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Personenregister Comte, Auguste 568, 621 Cyprian 45

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Damaskios 115, 158, 188, 254, 305, 456, 474, 636, 808 Dante Alighieri 751 Darwin, Charles 282, 543 Demokrit 16, 17, 26, 147, 193, 211, 212, 216, 217, 229, 231, 232, 243, 289, 318, 556, 573, 588, 608, 659, 768, 811, 816 Denifle, Heinrich Seuse 155 Descartes, René 129, 151, 154, 191, 228–241, 243–248, 250, 252, 253, 262, 270, 275, 298–300, 302, 315, 316, 427, 557, 567, 570, 606, 623, 679, 683, 689, 691, 693, 723, 731, 744, 745, 759, 760, 767, 772, 773, 808 Dilthey, Wilhelm 635–645, 770, 774, 800 Dostojewski, Fjodor 484 Dyson, Freeman 585 Ebbinghaus, Hermann 642, 800 Eckhard, Arnold 272, 273, 393 Eckhart (Meister Eckhart) 155–162, 164–166, 168–178, 180, 249, 255, 285, 400, 428, 541, 660 Einstein, Albert 626, 627 Empedokles 25, 26, 193, 211, 811 Epiktet 51 Euklid 19, 496, 629 Euler, Leonhard 334, 360 Feder, Johann Georg Heinrich 329 Feigl, Herbert 623 Fénelon, François 543 Feuerbach, Ludwig 467 Fichte, Johann Gottlieb 15, 16, 97, 103, 151, 388, 422–431, 433, 435–440, 442, 443, 445–452, 454, 455, 460– 468, 475, 476, 483, 486, 487, 500, 511, 517, 520–523, 526, 527, 531, 533, 534, 547, 551, 552, 567, 568, 572, 577, 607, 648, 649, 675, 681, 682, 721–723, 743, 744, 772–774, 786, 800, 811, 813, 814, 816, 818 Ficino, Marsilio 194 Figala, Karin 206

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Fink, Eugen 683 Fink, Nikolaus 620 Flasch, Kurt 36 Frankfurter, der 428 Frege, Gottlob 19, 58, 111, 223, 246, 285, 588–595, 603–605, 617, 629, 650 Fromondus, Libertus 292 Gál, Gedeon 82 Galilei, Galileo 223, 317 Garve, Christian 329, 348 Gassendi, Pierre 191, 261 Gelb, Adhemar 803 Geldart, William M. 259 Geulincx, Arnold 174–178, 567, 660 Geyer, Bernhard 62 Gilbertus Porretanus 134 Giovanni della Porta 194 Goethe, Johann Wolfgang von 45, 79, 363, 419, 420, 454, 495, 526, 556, 563, 564, 614, 638, 719, 720, 751, 821, 823 Gogh, Vincent van 753 Goldstein, Kurt 803 Gotthelf, Jeremias 611 Großheim, Michael 574, 773 Guyon du Chesnoy, Jeanne Marie 543 Haller, Johannes 169 Hartmann, Nicolai 58, 714–720, 765, 788 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 43, 93, 160, 161, 237, 242, 367, 442, 457, 459, 471, 474–484, 486, 487, 490– 494, 497, 499–518, 520, 525, 527– 529, 537, 548, 668, 720, 756, 770, 774, 781, 785, 807, 810, 814 Heidegger, Martin 444, 542, 607, 639, 720, 722–730, 732–737, 740, 741, 743–759, 763–779, 783, 784, 788, 789, 795, 800, 810, 814, 820 Heinrich von Gent 119, 124, 728, 755 Helmholtz, Hermann von 317 Henrich, Dieter 375 Herakles 659 Heraklit 33, 465, 466, 776, 807, 811 Herder, Johann Gottfried 334, 348, 350 Hermas 26, 27 Herodot 769

Personenregister Herz, Marcus 337, 342, 345, 349, 351– 353, 355, 369 Hesiod 25 Hilbert, David 592, 617 Hitler, Adolf 749, 750 Hobbes, Thomas 191, 192, 218–229, 298, 299, 316, 546, 606 Hölderlin, Friedrich 751, 753, 775 Holzhey, Helmut 350 Homer 25, 485, 751 Hugues de Fouilloi 194, 195 Hume, David 112, 139, 308–315, 324, 336–339, 343, 345, 348–352, 369, 378, 379, 399, 409, 450, 451, 561, 625, 675, 676, 813 Husserl, Edmund 83, 151, 302, 341, 439, 440, 480, 574, 611, 641, 662–664, 667–670, 672–703, 716, 720, 722, 723, 726, 731, 743–745, 760, 762, 771, 785, 800, 804

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Ibsen, Henrik 710 Iwan der Schreckliche 226 Jacobi, Friedrich Heinrich 516 Jacobus 34–36 Jaeschke, Walter 502 Jaspers, Karl 420, 526, 726, 728 Jean Paul 460, 461, 463, 552, 567, 682 Jesus 33, 45, 46, 160, 213, 485, 510, 511 Johannes 33, 34, 170, 630 Johannes Capreolus 728 Johannes Duns Scotus 65, 73, 74, 76– 79, 82, 84, 105, 110–126, 128–132, 135–138, 143, 146, 148, 152, 186, 190, 221, 250, 271, 293, 302, 304, 305, 439, 476, 559, 589, 728, 760, 812 Johannes Scotus Eriugena 34, 59, 60, 65, 78, 79, 115, 186, 190, 254, 255, 269, 285, 474, 527, 636, 774 Johannes von Sterngassen 172, 176 Jünger, Ernst 176, 177, 660 Jung, Carl Gustav 562 Kafka, Franz 181, 419 Kahn, Charles 769 Kant, Immanuel 132, 147, 151, 177, 178, 217, 221, 237, 243, 316–361, 363–368, 370–386, 388–422, 427,

428, 430, 435, 439, 446, 451, 455, 459, 462, 469, 475, 476, 481, 516, 538, 547, 559–561, 570, 573, 577, 581, 589, 607, 622, 629, 635, 658, 660, 677, 694, 710, 715, 716, 721, 723, 771–773, 804, 805, 813, 815 Keller, Gottfried 614, 616 Kierkegaard, Sören 483, 520–529, 568, 728, 813 Kisiel, Theodore 726, 758 Klages, Ludwig 643–651, 653–655, 657–660, 688, 708, 774 Kleist, Heinrich von 271 Klemme, Heiner F. 354, 355, 375 Klibanski, Raymond 193, 194 Klingemann, Friedrich August 460, 531 Konstantin 168 Kripke, Saul A. 623 Kutschera, Franz von 322 Lambert, Johann Heinrich 348–351, 353 La Mettrie, Julien Offray de 38 Landgrebe, Ludwig 694, 697 Lange, Friedrich Adolf 570 Leibniz, Gottfried Wilhelm 80, 95, 104, 105, 129, 132, 151, 199, 251, 258–269, 271–282, 285–290, 292–296, 298, 302, 304, 305, 311, 316, 330, 334, 367, 393, 395, 427, 445, 538, 581, 637, 760 Leukipp 231, 811 Lichtenberg, Georg Christoph 154, 237, 239, 605, 683 Lindemann, Ruth 778 Linke, Paul 801 Locke, John 132, 153, 297–303, 305– 309, 312, 313, 322, 324, 325, 370, 698 Lotze, Rudolf Hermann 757, 758 Lücker, Maria Alberta 173 Luhmann, Niklas 509 Luther, Martin 26, 167 Mach, Ernst 112, 154, 191, 429, 568, 573, 574, 595, 602, 604, 605, 621 Malcolm, Norman 585 Malebranche,Nicolas de 266, 278 Mandeville, Bernard 515 Mani 715 Marc Aurel 212

831

Personenregister Marx, Gabriele 570 Marx, Karl 725 Maximus Confessor 34 McTaggart, John 257 Meletios 194 Mendelssohn, Moses 350, 406, 407 Merleau-Ponty, Maurice 800–809, 814, 816, 820 Michaux, Henri 798 Mill, John Stuart 698 Mimnermos 400, 706 Misch, Georg 727 Moldzio, Andrea 570 Montaigne, Michel de 243 Montinari, Mazzino 557 More, Henry 334

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Napoleon Bonaparte 463, 484, 550 Natorp, Paul 727 Neumann, Johann von 590 Neurath, Otto 605 Newton, Isaac 223, 334, 360 Nikolaus von Kues 180, 182–184, 186– 188, 191–193, 249, 251, 255, 285, 456, 636 Nietzsche, Friedrich 147, 221, 542–544, 546–556, 558–568, 629, 651, 659, 682, 719, 720, 725, 752, 773, 813 Nohl, Hermann 510 Novalis 463, 464, 466, 467, 475, 523, 525, 527, 548, 550, 576, 680, 681, 743, 774, 786, 814 Oberschelp, Arnold 590 Ohly, Friedrich 194 Otto, Rudolf 708 Panofsky, Erwin 193, 194 Paracelsus 191, 192, 194–202, 204–207, 211, 212, 214, 232, 527, 653, 659, 774 Parmenides 94, 193, 768, 769 Paulus 23–35, 39, 40, 46, 157, 167, 170, 253, 334, 587, 719 Percy, Ernst 33 Perler, Dominik 667 Petzoldt, Joseph 601 Pfister-Ammende, Maria 33 Philipp der Schöne 168, 541 Pico von Mirandola, Giovanni 194

832

Pindar 25 Platon 17, 26, 29, 31, 34–37, 54, 58, 63, 129, 132, 133, 135, 212, 219, 221, 227, 229, 247, 301, 304, 307, 325, 410, 485, 546, 552, 557, 570, 580, 582, 599, 608, 706, 707, 767, 768, 776 Plessner, Helmuth 742, 746 Plotin 34, 48, 115, 125, 131, 147, 158, 180, 186, 192, 193, 201, 230, 235, 254, 385, 386, 449, 474, 476, 477, 482, 506, 527, 630, 632, 668, 776, 777, 807, 811 Pöggeler, Otto 501 Poincaré, Henri 562 Porphyrios 60, 61, 64 Proesner, Claus 206 Proklos 34, 60, 115, 125, 185, 186, 190, 191, 193, 195, 196, 277, 474, 776, 777, 785, 823 Prometheus 659 Protagoras 307 Pseudo-Dionysius 115, 457 Pünjer, Bernhard 592 Quine, Willard Van Orman 191, 319, 604, 606, 608, 609, 611–613, 616, 617, 750, 790 Ratramnus von Corbie 60 Regius, Henricus 229 Rehmke, Johannes 229 Reichenbach, Hans 605 Reinach, Adolf 723 Reinhold, Karl Leonhard 426, 429 Reuchlin, Johannes 194 Rickert, Heinrich 691, 722, 771 Robespierre, Maximilien de 167, 484, 485 Rorty, Richard 609 Roscelin, Johannes 68 Rothacker, Erich 688 Ruh, Kurt 172 Russell, Bertrand 140, 183, 595, 596, 598, 600, 604, 605, 610, 673 Ryle, Gilbert 604 Salomé, Lou 550, 564–566 Sartre, Jean-Paul 97, 98, 151, 778–800, 805–807, 809, 810, 814, 820 Saxl, Fritz 193, 194

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Personenregister Scheler, Max 58, 297, 326, 537, 703– 705, 707–714 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 341, 442, 450–457, 459, 460, 468, 498, 505, 540, 605, 636, 687 Schiller, Friedrich 454, 483, 557, 563, 655, 719 Schlageter, Leo 752 Schlegel, Friedrich 461–464, 484, 516, 518, 519, 524–526, 548, 550–552, 607, 680, 681, 743, 744, 814 Schlick, Moritz 605 Schlüter, Dietrich 137 Schmitt, Arbogast 132 Schmitz, Hermann 17, 23, 27, 54, 58, 89, 90, 99, 104, 114, 135, 147, 151, 169, 181, 195, 216, 223, 230, 234, 245, 248, 257, 265, 270, 288, 304, 315, 341, 418, 455, 459, 489, 509, 510, 561, 562, 566, 570, 579, 580, 585, 596, 603, 618, 653, 667, 688, 706, 707, 719, 725, 750, 755, 769, 770, 793, 795, 798, 815 Schneeberger, Guido 749 Schneider, Kurt 241 Schnelle, Udo 34 Scholz, Heinrich 237 Schopenhauer, Arthur 220, 221, 531– 539, 546, 548, 549, 570, 632, 712, 786 Schubert, Franz 616 Schütz, Christian Gottfried 368 Schuhmann, Karl 218 Schulze, Gottlob Ernst 424, 721 Schuppe, Wilhelm 571, 572 Schweitzer, Albert 33 Searle, John 606, 621 Sextus Empiricus 147 Shaffer , Jerome 623 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 515 Shakespeare, William 751 Siebenthal, Wolf von 239 Siger von Brabant 70, 85 Silvester von Ferrara 728 Simmel, Georg 443 Simplikios 141 Smart, Jack 623 Smith, Adam 44, 817 Soldin 521 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 519

Sophokles 33, 485, 769 Spinoza, Baruch de 161, 249–257, 273, 277, 285, 302, 322, 333, 334, 361, 413, 543, 567, 568, 622, 681, 682, 813 Stahl, Georg Ernst 317 Stalin, Josef 720 Stegmüller, Wolfgang 720 Stirner, Max 467–469, 519, 575, 576, 680, 744, 813, 814 Strawson, Peter Frederick 617–620, 650, 697 Suarez, Franz 62, 104, 105, 135, 266, 277, 728 Tauler, Johannes 172, 173, 176, 178 Tetens, Johann Nikolaus 687 Theophrast 733 Thomae, Hans 538, 642 Thomas, Klaus 401 Thomas de Vio Cajetanus 728 Thomas von Aquino 70–74, 78, 81, 82, 84, 85, 87–110, 116, 118–123, 125, 126, 131, 134, 136, 137, 142–144, 148, 155–157, 159–161, 172, 176, 185– 187, 190, 191, 229, 242, 244, 249–251, 258, 304, 457, 728, 755 Thomas von Kempen 173 Thukydides 770 Tieck, Ludwig 567 Tönnies, Ferdinand 714 Torricelli, Evangelista 317 Trakl, Franz 563 Trendelenburg, Adolf 482 Tugendhat, Ernst 54 Tyrell, James 299 Ulrich, Johann August Heinrich 375 Velasquez, Diego 705 Vergil 751, 770 Vettius Valens 194 Vindician 194 Vitalis de Furno 242 Voetius, Gisbertus 244 Volder, Burcher de 296 Voltaire 552, 817 Wagner, Cosima 566 Wagner, Richard 548, 564

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Personenregister

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Walter von Chatton 82 Wasianski, Ehregott Andreas Christian 338 Weber, Max 542 Weininger, Otto 574 Wellek, Albert 55 Wenck, Johannes 188 Werth Regendanz, Alexander 259 Wertheimer, Max 801 Wilhelm von Champeaux 63, 79 Wilhelm von Ockham 21, 79–83, 112, 132, 133, 135–154, 168, 169, 171, 182, 183, 186, 190–192, 214, 215, 220, 222, 224, 225, 231, 242, 250, 258, 259, 285, 298, 302, 305, 309–311, 323, 324, 475, 536, 541, 546, 560, 573, 583, 595, 772, 774, 787, 811, 812, 816, 818

834

Winnicott, Donald Woods 517 Wittgenstein, Ludwig 15, 522, 575– 588, 595, 605, 606, 649, 686, 720, 814 Wöhler, Hans-Ulrich 53, 60 Wolf, Hugo 616 Wolff, Christian 654, 778 Wolff, Michael 372 Wyclif, John 83–86, 112, 303 Xenophanes 297 Zarathustra 715 Zenon 673 Zermelo, Ernst 19 Zutt, Jürg 516

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Sachregister

Abbildung 580, 582 Abbildung, isomorphe 263 Abbildung, umkehrbar eindeutige 588, 590, 629, 651 Abfall 727, 730 Abhängigkeit 439, 440, 813 Abschied 740 Absolutheit 137, 141, 152, 157, 190 Absolutismus 560 Abstand, unendlicher 103 Abstraktion 522, 559, 658 Abstraktionsbasis 193, 211, 212, 216, 217, 316, 768, 811 Abstraktionstheorie 56, 303 Abstraktionsvermögen, absolutes 432, 434, 436, 440, 442, 443, 462–464, 484, 485, 500, 511, 520, 744 Achtung 401, 402, 403, 407–409, 418 Agere 770, 771 Ähnlichkeit 54–57, 61, 62, 66, 72, 82, 99, 138, 145, 150, 155, 156, 225, 602, 610, 688, 690, 701, 703 Ähnlichkeitstheorie 53, 55, 61, 66, 149, 150, 258 Akademie 195 Akt 88–90, 100–102, 106–108, 120, 125, 126, 130, 131, 185, 664, 666, 675, 678, 709, 755 Aktivität 712 Aktivität, synthetische 804 Akt, reiner 87, 107, 185, 186, 191 Aktualgenese 804 Akzidens 86, 105, 108, 127, 137, 144, 145, 153, 154, 169, 222, 250, 255, 285, 294, 310 Alchemie 206 Aletheia 767, 769

Allgemeine, das 489, 494, 497, 500, 515, 516, 518, 521, 658 Allgemeinheit 397, 508 Allgemeinheit, subjektive 416–418 Allzeitlichkeit 697, 700 Ambivalenz 465, 505, 525, 548, 549, 564, 599, 682, 721, 729, 779, 780 Analogie 93, 94, 124, 142, 799 Analogieschluss 789 Analytik, existenziale 728, 738, 740, 743, 745–747, 756, 758, 762, 763, 765, 771, 784, 788, 814 Anatomie 197, 198 Andere, der 789–796 Andere seiner selbst, das 480, 491 Aneignung 514–517, 619, 725 Aneignung, Paradox der 513 Anerkennung 512, 513 Anfall, epileptischer 204 Anfang, ewiger 158 Angst 525, 526, 529, 532, 533, 548, 567, 607, 665, 728, 732, 738, 743, 745– 747, 766, 782 Anima 562–566 Anschauung 325, 346, 366, 370, 374, 375, 377, 379, 380, 589, 638, 698 Anschauung, intellektuelle 425, 429, 436, 454, 487 Anschauung, kategoriale 698, 702 Anschauung, reine 359 Ansich 782–784, 787, 788, 798, 801 Ansichsein 765, 780, 782, 783 Anthropologie 742, 771 Anstiftung 199 Antinomie 322, 348–351, 384, 388, 439, 596, 598, 599 Antinomie, Cantor’sche 591 Antinomie des Lügners 322, 598, 599

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Sachregister Antinomie, semantische 322 Antrieb, vitaler 27, 30, 234, 306, 360, 366, 381, 418, 455, 459, 540, 637, 651, 652, 653, 657, 665, 678, 690, 695, 714, 790, 794, 797, 802, 809 Antwort 580 Anwesenheit 767 Anwesenheit bei sich 780, 781, 797, 807 Anzahl 19, 20, 57, 78, 302, 419, 472, 666, 812 Aoriston 106, 107 Apollinische, das 752 Apparat 817 Apperzeption 339, 341, 345, 346, 374, 378, 379, 413, 428 Appetit 290 Äquivalenzrelation 223, 559, 590 Archaeus 196 Ariadne 565 Arithmetik 651 Art 53–56, 59, 61, 62, 64, 65, 68, 70, 72, 73, 81, 84, 88, 91, 98–102, 104, 105, 109, 122, 123, 127, 128, 143, 149, 619, 650, 701, 703, 704 Artistenmetaphysik 548, 567 Aseitas 80 Assoziation 310, 337, 339, 341, 345, 378, 379 Astrologie 193, 200 Atmosphäre 17, 23, 25, 27, 28, 34, 314, 417, 454, 573, 609, 634, 654–656, 706–709, 717, 791, 795, 809, 822 Atmosphäre, numinose 323 Atom 211, 212, 216, 262, 264, 311, 608 Atomismus, logischer 595 Attribut 252–254, 302, 395, 593, 692 Aufforderung 443, 444 Aufklärung 44, 542, 659, 817, 818, 822, 823 Augenblick 747, 749 Augenblick, absoluter 647 Aura 655, 656, 708 Ausatmen 801 Ausdehnung 252, 253, 257 Ausdehnung, circumskriptive 235 Ausdehnung, definitive 235 Ausdehnung, unteilbare 608 Ausdruck 263, 602, 614–616, 750, 790

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Aussage 319, 580, 594, 595, 598, 611, 781 Außenwelt 17, 18, 211–214, 216, 219, 221, 232, 233, 243, 244, 299, 300, 301, 309, 420, 435, 444, 567, 570, 613, 631, 675, 713, 735, 811, 816 Autonomie 409–412, 469 Autorität 417, 418, 469, 470, 596, 691, 706–710, 717 Band 310, 311, 314 Band, substantielles 294–296 Bedeutsamkeit 147, 221, 246, 509, 546, 584, 728, 731, 736, 753, 799, 813 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 16, 21, 57, 225, 245, 247, 305–307, 327, 419, 476, 521, 546, 547, 562, 583, 585, 597, 603, 609, 615, 616, 637, 642, 648, 652, 654, 665, 667, 672, 675, 695, 697, 702, 704, 711, 736, 750, 754, 778, 795, 798, 811, 812, 818, 821–823 Bedeutung 57, 58, 76, 85, 86, 112, 131, 147, 150, 168, 190, 194, 203, 220–222, 250, 259, 271, 302, 304, 306, 313, 326, 387, 522, 547, 574, 583, 584, 593, 601, 615, 616, 637, 639, 640, 648, 666, 695, 702, 772, 815 Bedeutung, objektive 815 Bedeutung, subjektive 522, 815 Befehl 709 Begierde 794 Begriff 325, 370, 371, 419, 478, 481, 489, 494–497, 502, 505, 506, 508, 594 Behauptung 313, 319, 386, 598, 611, 781 Benützen 38 Beschaffenheit 90, 95, 107, 157 Beschränktheit, ursprüngliche 443 Besessenheit 30 Besitz 375, 376 Besitzdenken 375 Besondere, das 489, 494, 497, 500 Bestimmtheit 20, 57, 58, 67, 69, 71, 72, 77, 81, 82, 85, 86, 91, 92, 109, 112, 118, 119, 122–124, 128, 130, 133, 141, 142, 185, 186, 244, 301, 303, 304, 306, 325, 371, 457, 478, 483, 484, 490, 499, 518, 597, 648, 666 Bestimmung 57, 67, 69, 70, 72, 76, 77,

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Sachregister 81, 82, 85, 86, 93, 111, 112, 116, 124, 126, 129, 130, 131, 133, 138, 142, 143, 190, 220, 221, 230, 243, 247, 271, 285, 302–305, 370, 371, 386, 393, 394, 467, 468, 527, 548, 560, 575, 576, 580, 597, 667, 765 Bestimmung, durchgängige 393, 394 Betroffenheit 790 Betroffenheitstheorie 789 Betroffensein, affektives 212, 213, 240, 241, 306, 377, 378, 386, 387, 423, 425, 429, 430, 452–454, 470, 521, 532, 534, 541, 542, 545, 547, 548, 578, 579, 604, 619, 626, 649, 659, 678, 684, 685, 707, 708, 712, 721–724, 772, 785, 805, 816, 817, 822 Bewandtnis 731, 733 Bewegung 140, 183, 219, 222, 223, 289, 290, 376, 506, 673, 712, 801, 802 Bewegungssuggestion 381, 615, 652, 656, 665, 700, 705, 710, 803 Bewussthaber 16, 18, 211, 212, 231, 300, 385, 387, 521, 522, 561, 570, 574, 665, 673, 675, 714, 722, 723, 789, 790, 811 Bewusstsein 379, 498, 675, 683, 684, 778, 781, 782, 804 Bewusstsein, fundiertes 386 Bewusstsein, reines 686 Bezeichnen 616 Beziehung 362, 385, 623, 696 Beziehungsbewusstsein 473 Bild 581, 644, 645, 650, 651, 661 Binnendiffusion 508, 509, 753 Blick 234, 360, 362, 608, 615, 688, 695, 789–791, 793–795, 802 Blickwechsel 790, 791 Blitz 624 Böse, das 715 Brückenqualität 667 Brüderlichkeit 822 Charakter 672, 675 Charakter, intelligibler 412 Characteristica universalis 273–274 Charakter, synästhetischer 615, 656, 700, 705, 798, 799, 803 Chi 809 Chiasma 808

Chiromantie 203 Cogito, cartesisches 778, 805 Cogito ergo sum 239, 245, 451, 683– 684 Cogito, präreflexives 778–782, 784, 785, 814 Coincidentia oppositorum 188, 192, 193, 249 Continentia unitiva 113, 115, 116, 118, 476 Christentum 212, 213, 282, 529, 541, 542, 659, 660, 772, 816–818, 823 Dämonen 654, 655 Dandy 525 Darbung 725, 733 Darwinismus 265, 267–269, 274, 276, 282, 284 Dasein 389, 728–731, 733–738, 740– 743, 746, 747, 756, 758, 759, 760, 762–766, 784, 788 Dass, das 729, 732, 738, 740, 746, 750, 755, 756, 762, 764, 783, 784 Dass, nacktes 728, 730, 738, 746 Dauer 306, 314, 363, 365, 378, 381, 631, 636, 650, 672, 724, 740, 783, 805 Deduktion, transzendentale 339, 342, 344, 370, 377, 394, 444 Definition 307, 608, 716 Demut 175, 176, 178 Denken 154, 252–254, 257, 303, 346, 363, 375, 388, 444, 488, 533, 536, 574, 580, 620, 623, 635, 659 Depersonalisation 435, 461 Derealisation 435, 461 Destruktion 724, 726 Determinismus 392, 716, 805 Deutlichkeit 245, 693 Devotio moderna 173 Dialektik 508, 509, 513, 520, 781, 807, 809, 810 Dialektik, dreipolige 477, 479, 481, 482, 488, 489, 497, 501, 502, 505 Dialektik, zweipolige 477, 479, 480, 481, 489, 495–498, 501, 502, 505 Dichtung 750 Differenz 76, 101, 102, 107, 109, 143, 144, 255 Differenz, individuelle 77, 79, 126, 135

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Sachregister

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Differenz, letzte 126–130 Differenz, vollendete 107, 108, 133 Diktator 224, 226, 227 Ding 650, 653, 654, 668, 672, 675, 683, 700, 775 Ding an sich 137, 147, 151, 168, 250, 310, 328–330, 337, 342–347, 351, 354, 366–368, 375, 390, 410–414, 428, 492, 532, 548, 559, 560, 820 Dionysos 554, 555, 565 Diskontinuum, Cantor’sches 286 Diskret 64, 65, 71, 293, 295 Diskretheit 65, 68, 72, 74, 787 Diskussionskultur 815 Disposition, leibliche 797 Distinctio formalis 76, 84, 86, 111–113, 124, 135, 143 Distinctio realis 728 Drang 532, 534, 535 Dreieck, allgemeines 302, 303 Dreipoligkeit 494, 495, 499, 502 Dualismus 175, 229, 230, 236, 252, 254, 413, 480, 481, 500, 534, 630, 689 Du-Evidenz 789, 791 Durchdringung, wechselseitige 630, 632, 636, 668, 776 Durchsichtigkeit 731, 761 Dynamismus, archaischer 212, 768 Edle, das 705, 715, 719 Egoismus 469 Ehrfurcht 556 Eigenmacht 332, 339, 409 Eigenschaft 20, 112, 197, 202, 204, 208, 310, 386, 610, 654, 668 Eigentümliche, das 78, 108 Eigentümlichkeit 120, 128, 130, 157 Einatmen 652, 801 Einbildungskraft 325–327, 339, 345, 346, 352, 376, 396, 417, 419–421, 439, 440, 442–444, 461, 462, 464, 466, 483, 475, 476, 500, 520, 523, 527, 548, 681, 743, 786, 814 Eindrucksverarbeitung 770 Eindruck, vielsagender 16, 17, 55, 147, 193, 194–196, 202–206, 209, 211, 232, 573, 585, 586, 596, 603, 615, 637, 658–659, 701, 704, 717, 750, 752, 754, 790, 792, 793, 797, 802, 803, 811

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Eine, das 78, 79, 116, 134, 136, 157, 159, 160, 162, 163, 180, 192, 254, 258, 305, 449, 455, 477, 774, 812 Eine, das prä-immanente 254 Eines, numerisches 472 Einfachheit 120, 130, 186, 187, 191, 254, 311, 355, 367, 384, 386, 473 Einfühlung 688–690, 789 Einheit 19, 20, 45, 46, 48, 59, 75, 77, 86, 110, 117, 129, 141, 144, 159, 164, 187, 188, 254, 259, 285, 286, 305, 323, 456, 533, 632, 636, 650, 736, 765, 812 Einheit, analytische 20, 59, 61, 62, 608, 756, 765 Einheit, einfache 20, 61, 62, 129, 134, 136, 146, 302, 311, 644, 812 Einheit, numerische 20, 61, 62, 75, 77, 78, 110, 112, 113, 129, 135, 146, 230, 261, 285, 302, 304, 305, 311, 482, 486, 488, 491, 505, 561, 527, 607, 608, 628, 644, 765, 786 Einheit, prä-immanente 456, 457, 636, 638 Einheit, synthetische 20, 61, 62, 134, 136, 146, 302, 812 Einzelheit 20, 60, 65, 68, 72, 74–78, 80, 86, 105, 110–112, 124, 129, 135, 137, 143, 144, 147, 182, 183, 287, 289, 302–304, 306, 324, 355, 393, 425, 472, 494, 495, 508, 561, 583, 597, 631, 648, 650, 651, 666, 668, 695–697, 712, 769, 775, 787, 788, 791 Einleibung 666, 794 Einleibung, antagonistische 586, 615, 647–648, 665, 688, 690, 695, 795, 802, 803, 809 Einleibung, einseitige 33, 790, 794 Einleibung, solidarische 586, 615, 665, 714, 795, 809 Einleibung, wechselseitige 690, 737, 790, 791, 795 Einsamkeit 521 Einschachtelung 262, 263, 291 Einsen 285, 589, 629, 650 Einwirkung, mittelbare 196 Einzelheit 477, 561 Einzelheit, ausschließende 478, 488, 494–496, 502, 503, 810

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Sachregister Einzelheit, einschließende 478, 488, 494–496, 500, 502, 503, 810 Einzeln 56, 57, 74, 76, 81, 134–136, 182, 221, 247, 323, 394, 472, 473, 560, 583, 585, 591, 603, 608, 637, 666, 669, 695, 711, 769, 787, 812 Einzelne, das 65, 75, 78, 79, 106, 121, 131, 139, 141, 145, 148, 152, 187, 245, 304, 305, 324, 327, 489, 497, 500, 516, 787 Einzige, der 575, 576, 680 Ekstase 655 Élan vital 535, 632, 634 Elementarismus 20, 109, 129, 130, 133, 135, 190, 221, 247, 285, 302, 304, 580, 582, 583 Element 573, 574, 595, 602 Elemente, nichtseiende 574 Elemente, seiende 574 Emanzipation, personale 780, 797 Empfinden 645, 646, 657, 803 Empfindung 375, 376, 574 Empiriokritizismus 153, 536, 568, 574, 605, 606 Empirismus 800 Endlichkeit 439, 440, 526, 530, 681 Endlose, das 196 Energeia 770 Enge 360, 366, 418, 454, 458, 678, 714 Enge des Leibes 306 Engung 27, 30, 234, 418, 455, 459, 648, 652, 657, 665, 666, 790, 794, 801, 802 Ens ratum 118 Entfremdung, projektive 725, 726 Entfremdung, rezessive 432, 436, 438, 454, 460–463, 467, 483, 486, 519, 522, 523, 515, 526, 527, 531, 532, 547, 552, 566, 567, 575, 576, 582, 588, 607, 660, 680–682, 721, 723, 725, 726, 734, 743, 771, 773, 788, 813, 814, 821 Enthaltensein, unitives 114, 115 Enttäuschung 687 Entwurf 796 Entwurf, geworfener 444 Epoché 678–682, 685, 686 Erbsünde 42, 47 Erde 753, 754 Ereignis 774–777 Erfahrung 367, 384, 400, 401

Ergriffenheit 667 Erhabene, das 420 Erhabenheit 421 Erhebung 178 Erinnerung 741, 783 Erkenntnis, intuitive 152 Ernst, feierlicher 809 Ernst, unbedingter 710 Eros 770 Erotik 400 Erregung, reine 537 Erscheinung 328, 330, 336, 341, 343, 344, 351, 354, 365, 367, 375, 382, 384, 394, 396, 410, 412–414, 428, 560, 653 Erstreckung 729, 746, 747 Esse essentiae 755, 756, 774 Esse existentiae 755, 756, 774 Essenz 59, 70, 89, 97, 101, 114, 118– 120, 122, 124, 137, 156, 265, 267, 272, 273, 275, 277, 284, 302, 476, 728, 783, 784 Ethik 326, 706 Eudämonismus 40, 406, 407, 409 Eudämonist 405, 407 Evidenz 245, 246, 469, 470, 691–693, 698, 701, 702, 790, 805 Exemplarismus 67–70, 73, 85 Existenz 58, 77, 88, 89, 126, 157, 158, 265, 267, 270, 272, 273, 276, 277, 284, 313, 314, 395, 418, 459, 592, 593, 596, 617, 692, 724–728, 740, 744, 755, 756, 758–760, 762, 764, 783, 784, 801 Existenz, eigentliche 732, 738 Existenzialismus 796–799 Existenzphilosophen 813 Existenzsatz 592, 593, 617 Existenz, uneigentliche 731, 732, 738, 739 Existurieren 283, 284 Experiment 217, 219, 233, 234, 316, 317, 816 Explikat 792 Explikation 750, 752, 765, 797 Extensionalismus 138, 150, 191 Extensionalitätsthese 600, 601 Ewigkeit 257 Faktizität 761, 762 Faktum der Vernunft 400, 401

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Sachregister Fall 20, 56, 58, 61, 63, 64, 67, 68, 70, 71, 75, 111, 220, 221, 230, 303, 304, 306, 472, 473, 521, 560, 583, 597, 603, 610, 617, 648, 695–697, 769 Farbe 54, 55, 321, 620, 708 Fassung 516, 780, 793, 822 Ferne 656, 657, 660 Fernempfänglichkeit 645, 657 Fernstenliebe 719 Feuer 165, 166, 177, 207, 209 Fiktion 62, 69 Fiktionstheorie 148, 149 Fläche 18, 359, 618, 630, 688 Fleisch 23–25, 27, 29, 31, 170, 808, 809 Fluss der Zeit 257, 362, 363, 381, 382, 473, 474, 527, 574, 603, 622, 623, 626, 696 Fluss, zeitkonstituierender 669 Folge, logische 257 Folge, reale 257 Form 88, 89, 91, 98, 99, 101, 104, 105, 106, 108, 109, 119, 125, 131, 134, 135, 144, 185, 212, 294 Formalismus 326, 397, 398, 400, 408 Frage 580 Fraglichkeit 594 Frau 563 Freiheit 168, 174, 332, 333, 339, 344, 392, 409–412, 414, 415, 430, 431, 437, 440, 443, 446, 458, 461, 483– 485, 506, 525, 526, 631, 632, 712, 716, 741, 742, 746, 778, 794, 795, 805, 822, 823 Freiheit der Leere 485 Fremdsprache 585 Frühromantik 520, 556, 773 Frühromantiker 442, 486, 682, 813 Fülle 88–91, 93, 94, 97, 100, 120, 125, 170, 171, 185, 186, 270, 271, 393, 394, 580, 715, 719, 755, 818 Fundamentalontologie 762, 763 Funktion 370, 372, 373, 594 Funktionärsethik 167, 176 Funktionenraum 264 Funktionslust 535 Furcht 51, 52, 167, 171, 226, 514 Fürsich 782–784, 787, 788, 794, 796, 798, 801

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Fürsichsein 780, 782, 807 Fürsorge 822 Ganze, das 59, 117, 140, 141, 145, 292, 385, 477 Gattung 20, 53, 55–59, 61, 62, 64, 65, 67–72, 73, 75, 76, 81, 84, 88, 91, 101, 109, 111, 112, 133, 143, 156, 157, 221, 243, 255, 302, 303, 325, 472, 473, 559, 587, 593, 597, 603, 610, 611, 617, 619, 650, 696–698, 700–703 Gattung, begriffliche 620 Gattung, vorbegriffliche 620 Geburt 729, 739, 740, 742, 759, 782, 784 Geburt, gefrorene 158, 160 Gedanke 593, 595 Gefühl 17, 27, 28, 314, 322, 401, 402, 416–418, 421, 454, 469, 470, 573, 579, 604, 609, 615, 630, 634, 637, 654–656, 667, 706–710, 717, 780, 791, 795, 803, 805, 809, 822 Gefühl, zentriertes 537 Gegend 775, 776 Gegensatztafel, pythagoreische 195 Gegenstand 594 Gegenwart 363–365, 378, 381, 389, 474, 739, 782, 783, 805 Gegenwart, entfaltete 793 Gegenwart, primitive 306, 364, 378, 418, 429, 452, 489, 561, 583, 637, 647, 648, 677, 678, 714, 724, 740, 780, 783, 793, 797 Gegenwart, vergangene 474 Gegnet 775–777 Gehäuse 526 Gehirn 606, 621, 624–626 Gehorsam 403, 406 Geist 29, 48, 79, 115, 116, 157, 170, 186, 192, 193, 235, 236, 266, 267, 282, 283, 291, 300, 309, 311, 340, 341, 345, 455, 476, 477, 480, 481, 500, 504–506, 508, 516, 523, 643–649, 651, 658– 661, 735, 777, 812 Geisteswissenschaft 641 Geist, freier 550, 552–555, 562, 682, 773 Geist, heiliger 23, 24, 47, 706 Gelassenheit 175, 176

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Sachregister Geltung 692, 709, 710, 712 Geltung, verbindliche 396, 397, 709 Gemeinschaft 522, 714 Gemüt 328, 343, 369 Genießen 38 Geometrie 321, 365, 390, 620 Geometrie, griechische 18 Gerechte, der 161–167, 176 Gerechtigkeit 161–163, 165–169, 171, 172, 175, 176, 279, 280, 558, 719 Gerede 732 Gesamtperson 713, 714 Geschichte 638–640, 778 Geschichtlichkeit 754 Geschlechtsteil 35–37 Geschmacksurteil 415–418 Gesellschaft 714 Gesetz 175–179, 336, 342, 398, 403, 407, 409, 660 Gesetz, individuelles 443 Gesicht 672, 675 Gesinnung 712 Geviert 752 Gewesenheit 739, 740 Gewissen 708, 709, 734 Geworfenheit 728, 733, 735, 738–742, 745, 760 Glaube 30 Glaube, christlicher 815 Gleiche, das 706, 715 Gleichförmigkeit 261 Gleichheit 54–57, 701, 822, 823 Gliederbewegung 473 Glück 39, 40, 43, 44, 46, 171, 538, 542, 543, 712, 713 Glück, privates 817 Glückseligkeit 399, 400, 404, 408 Gnadenlehre, christliche 159 Gott 18, 23, 28, 29, 31, 32, 34, 38–45, 47, 49, 51, 87–97, 99–101, 104, 107, 114, 115, 118–121, 123–125, 136, 138, 139, 142–144, 147, 150, 151, 153–167, 169–176, 178, 180, 182– 188, 191, 201, 213, 219, 229, 242–244, 249–254, 256, 260, 267–271, 273, 275, 276, 278–284, 286–288, 294, 300, 304, 311, 332–335, 339, 344, 354, 356, 368, 370, 384, 393, 395, 396, 404–406, 408, 409, 414, 415, 424,

428, 437, 444, 446, 447, 455, 457– 459, 465–467, 486, 511, 516, 520, 523, 527, 529, 541, 544, 557, 576, 621, 634, 659, 681, 706, 714–716, 721, 728, 752, 772, 786, 795, 813, 817 Götter 186, 751, 752, 776, 777 Gottesbeweis, ontologischer 242, 269, 272, 274–276, 278, 384, 393, 395 Gottespostulat 356, 403, 407–409 Gottseligkeit 437, 447 Gottvertrauen 232, 300 Graphologie 616 Grenze 196 Griechen 546, 659, 753, 768, 770 Groll 25, 27 Größe, extensive 380 Größe, intensive 380 Gute, das 157, 167, 415, 416, 518, 706, 715, 719 Haecceitas 130 Halbart 56, 619, 650, 701, 703, 704 Halbdinge 314, 315, 573, 609, 650, 655, 665, 672, 675, 697, 700, 791, 802, 803 Harmonie, prästabilierte 199, 269, 294, 330 Hass 49, 794, 805 Heil 816 Heilige, das 708–710 Heitere, die 751, 752, 754 Hemmung 441, 443 Henaden 79, 116, 186 Herr 513, 514 Herstellen 753, 767 Himmel 196–201, 204, 205 Himmelshimmel 47, 48 Höhenschwindel 483, 525, 526, 529, 532, 548 Höllenangst 51 Husserl’sche Puppe 118, 125, 386, 439, 465, 480, 506, 528, 668, 781 Ich 97, 262, 296, 336, 346, 354, 374– 376, 386, 423, 424, 426, 427, 428– 444, 447, 449, 451, 452, 454–456, 460, 461, 463–468, 479, 483, 486, 494, 495, 500, 504, 515, 516, 527, 528, 531–534, 536, 537, 552, 571, 572, 573,

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Sachregister 575, 576, 630, 631, 645, 647, 649, 664, 676, 678, 681–683, 690, 723, 744, 771, 813, 814 Ich, das 262 Ich, individuelles 444 Ichangst 16, 526, 733 Ichideal Kants 331, 333, 344 Ich, reines 432, 436, 444, 676, 681, 685, 686, 723, 785 Ichspaltung 679, 684, 685 Ich, transzendentales 680, 682, 685 Ideal 706 Idealismus 442, 446, 447 Idealismus, Deutscher 520, 607, 774, 786 Idealismus, magischer 466 Idealismus, psychologischer 328–330, 384, 391, 444, 446, 538, 539, 570 Idealismus, transzendentaler 328–330, 333, 335, 336, 339, 342–345, 347, 351, 358, 366, 368, 370, 384, 390, 396, 409, 412, 413, 439, 560, 673 Ideal, transzendentales 384, 395, 681 Idee 63, 99, 106, 108, 109, 131, 133, 134, 144, 186, 212, 230–232, 242, 243, 247, 268, 282, 299, 300, 301, 303, 305–307, 312, 313, 324, 325, 371, 384, 420, 488, 495, 496, 504, 706, 714, 715, 767, 768, 808 Idee, absolute 497, 506 Idee, angeborene 306 Idee, ästhetische 418–420 Identifizierung 429, 452, 453, 677 Identität 55, 68, 69, 77, 78, 86, 114, 115, 118, 124, 142, 181, 187, 203, 288, 306, 364, 378, 395, 418, 425, 429, 452, 472, 473, 476, 490, 512, 513, 561, 583, 597, 616, 630, 631, 647, 648, 650, 666, 678, 697, 712, 756, 770, 776, 780, 781, 787, 788, 791, 811, 812 Identität, absolute 452 Identität im Anderssein 482, 491, 501, 502, 518 Identität, komplementäre 786 Identität, relative 452 Identitätsphilosophie 456, 457 Identitätstheorie 53, 55 Idol 231 Idoltheorie 148

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Immanentismus, kritizistischer 336, 343–346, 351, 354, 355, 358, 368– 370, 374, 384, 390, 394, 413, 428 Immanenzdogma 151, 231, 300, 308, 313, 328, 435, 436, 673–675, 735, 765, 788 Immanenz, reziproke 33, 34, 46, 59 Imperativ, kategorischer 397, 401, 404, 410, 431 Imperium 770 Implikation 797 Impression 312–315, 637 Indefinite, das 106, 109 In-der-Welt-sein 731, 736, 742, 763, 765, 788, 800 Indeterminismus 392, 716, 805 Indifferenz 793 Individualdifferenz 302 Individualität 123–125, 261 Individuum 75, 100, 101, 104, 106, 123, 126, 128, 131, 132, 174, 443, 445, 533, 602, 619, 620, 808, 816, 817 Individuationsprinzip 74, 80, 103–105, 124, 136, 258, 259, 395, 760 Induktion 216 Inhärenz 255, 386, 424 Initiative 716 Initiative, unabhängige 392 Innenwelt 17–19, 211, 212, 231, 232, 243, 244, 300, 328, 329, 570, 609, 613, 664, 673–675, 721, 735, 811, 816 Innenweltdogma 231, 300, 675 Innerlichkeit 522, 523, 689, 723 Innigkeit 775, 776 Inständigkeit 744, 745 Integration 77, 486, 488, 491, 495 Intellektionstheorie 148, 149 Intellektualismus 800–802, 804, 806 Intension 57, 58 Intentionalität 342, 574, 596, 604, 662– 667, 677, 683, 737, 785 Interpretation 561, 562 Introjektion 17, 18, 29, 33, 35, 212, 229, 230, 232, 300, 301, 322, 523, 568–570, 586, 588, 655, 689, 690, 706, 708, 720, 723, 735 Inventar, strukturiertes 580, 582 Inventartheorie 580, 582, 583 Ironie 462–464, 567

Sachregister Ironie, produktive 462, 464, 484, 486, 551, 552, 554, 682 Ironie, rezessive 462, 464, 484–486, 524, 525, 551, 553, 554, 682 Ironie, romantische 16, 461, 483, 487, 500, 511, 516, 518–520, 523–526, 532, 548, 550, 552, 660, 680, 681, 743, 744, 773, 813 Isolierung 45, 60, 521, 542, 787, 809, 816

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Jahrtausend, christliches 815 Jemeinigkeit 723, 730, 762 Kampf 512, 513, 528, 795 Kampf ums Dasein 265, 266, 276, 281, 282, 284 Kardinalzahl 292 Kategorie 67 Kategorumenon 395, 692 Kausalgesetz 382 Kausalität 139, 310, 314, 315, 337, 345, 348, 349, 352, 381, 650, 655, 791 Kausalskepsis 311, 315, 337, 352 Kennzeichnung 596–598, 620, 678 Kinästhese 690 Kind 769, 770, 799 Klänge 54 Klarheit 693 Klebrige, das 798 Knecht 513–515 Kombination 259, 260, 265, 273, 325 Kommunikation, leibliche 17, 33, 212, 255, 381, 454, 573, 586, 609, 615, 637, 648, 656, 667, 700, 710, 737, 770, 790, 791, 802 Konfiguration 580, 581 Konkordanz 193, 196–201, 203, 212, 232 Könnist, das 184, 185, 188, 191, 249 Konstellation 21, 307, 327, 476, 585, 588, 598, 637, 642, 697, 813, 818, 821, 822 Konstellationismus 154, 476, 603, 812, 818, 821, 823 Konstitution 600, 601, 682, 683, 686 Kontakt 212, 695 Kontext, intensionaler 596 Kontinuum 113, 114, 133, 146, 261,

262, 289–295, 311, 472, 669, 670, 671, 673 Konvention 588, 605, 814 Konventionskultur 815 Konzeption, wissenschaftliche 420 Konzeptualismus 53, 62, 73 Koordinatensystem 688 Körper 17, 18, 29, 31, 36–38, 102, 219, 229, 233–236, 253, 269, 293, 295, 301, 330, 333, 335, 368, 539, 573, 606, 617–620, 646–648, 656, 689, 690, 693, 700, 712, 713, 735, 801–804 Körperwelt 308, 309 Kraft 59 Kraft, verbindende 403, 404, 406, 407 Krieg 224, 226, 227 Kultursystem des Behauptens 814 Kunstwerk 753, 754 Lagezeit 361, 363 Lagezeit, modale 257, 363, 365, 381, 382, 389, 473, 622, 805 Lagezeit, reine 257, 361–365, 381, 382, 389, 622, 624 Langeweile 537, 745–747, 749 Larvanz 725 Lastcharakter des Daseins 728, 732 Leben 645, 649, 658, 659, 661, 704, 716 Lebensbezug 637 Lebenserfahrung, unwillkürliche 16, 17, 219, 234, 318, 400, 596, 606, 621– 624, 626, 627, 636, 697, 820 Lebensgefühl 704, 705 Lebensphilosophie 644, 727, 814 Leere 164, 270 Leib 17, 18, 23–30, 212, 234, 235, 315, 360, 381, 418, 444, 454, 523, 539, 540, 573, 608, 643, 647, 648, 656, 665, 690, 700, 704, 713, 714, 721, 798, 801, 803 Leibesinseln 235, 704 Leiteindruck, erotischer 750 Licht 448, 449, 454 Lichtung 752 Liebe 25, 28, 34, 40, 44, 45, 48, 49, 51, 157, 159, 165, 166, 167, 169, 170, 171, 458, 462, 469, 470, 510, 511, 634, 710, 719, 720, 794, 805 Liebe, dialektische 795 Liebe, koinonistische 795

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Sachregister

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Liebe, persönliche 719, 720 List 511 Logik 559, 582, 599, 600, 605, 608, 629, 651, 820 Luft 650, 803 Lust 322, 399, 400, 534, 535, 706, 707, 712 Machen 144, 191, 214, 767, 770, 771 Macht 213, 224, 226, 256, 541–547, 659, 772, 773, 777, 794, 795, 816, 817, 822 Mächte, ergreifende 655, 706, 707 Magie, natürliche 194, 214 Man, das 736, 747, 759, 809 Mangel 89, 91, 92, 94–97, 100, 101, 106, 107, 125, 142, 185, 270–272, 393, 394, 785 Mann 511, 562 Mannigfaltigkeit 787 Mannigfaltiges, ambivalentes 473, 482, 630 Mannigfaltiges, chaotisches 472, 473, 476, 766, 789 Mannigfaltiges, diffus chaotisches 712 Mannigfaltiges, diffuses 472 Mannigfaltiges, instabiles 473, 476, 480, 482, 494, 630 Mannigfaltiges, konfuses 472, 630 Mannigfaltiges, multivalentes 473 Mannigfaltiges, numerisches 285, 472– 476, 631–632 Mannigfaltigkeit 113, 286, 305, 324, 471, 473, 474, 508, 607 Mannigfaltigkeit, ambivalente 22, 59, 115, 230, 386, 439, 636, 668, 774, 776, 812 Mannigfaltigkeit, chaotische 287, 288, 324, 361, 389, 528, 608, 669, 736, 812, 814 Mannigfaltigkeit, instabile 22, 59, 115, 118, 230, 386, 439, 465, 474–476, 479, 488, 490–492, 498, 505, 506, 509, 526, 528, 529, 561, 574, 631, 638, 668, 774, 776, 777, 781, 783–788, 807, 812, 814 Mannigfaltigkeit, konfus chaotische 114

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Mannigfaltigkeit, multivalente 124, 477, 486, 505 Mannigfaltigkeit, nicht-numerische 34, 630 Mannigfaltigkeit, nicht zahlfähige 628 Mannigfaltigkeit, numerische 20, 57, 78, 79, 80, 113, 288, 419, 472, 482, 490, 505, 506, 527, 574, 607, 628, 644, 667–669, 736, 765, 781, 785, 786, 788, 791, 812, 814 Mao-Kommunismus 720 Marktwirtschaft 44 Maschine 37 Masochismus 74 Materialismus 221, 572, 607, 621, 623 Materie 74, 77, 89–91, 100, 101, 103, 104–109, 119, 125, 126, 131, 133, 144, 185, 213, 289, 290, 294, 295, 336, 455, 573, 632, 633, 634, 664, 675 Medizin, chinesische 659 Megalopsychie 557 Melodie 596, 636 Menge 57, 145, 221, 224, 292, 302, 472, 588–592, 629, 651, 666, 667, 694, 696, 787, 818 Menge, abgründige 263 Mengenlehre 140, 183, 263, 274, 322, 620, 669 Mensch 17, 94, 103, 170–172, 176, 196, 198, 199, 201, 207, 212, 338, 339, 341, 344, 366, 378, 422, 440, 443, 467, 468, 529, 532, 545, 553, 576, 633, 638, 639, 650, 657, 659, 665, 690, 700, 721, 735, 745, 747, 759, 777, 780, 786, 796, 813 Menschenliebe, allgemeine 49, 169, 170 Menschenwürde 401 Menschheit 633 Mental 608, 621, 623, 642, 653 Metaphysik 538, 620, 621, 636, 640, 690, 691, 820 Methexis 763 Methode, analytisch-synthetische 247 Methode, experimentelle 216, 217, 234, 316 Mikrokosmos 193, 198, 199, 201 Milieu 711 Mitmensch 39, 40, 792–794

Sachregister

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Mitsein 737, 795 Mittel 401, 402, 405 Mitwissen 778, 779, 784–796 Modalzeit, reine 363–365, 389, 741 Möglichkeit 265, 267–269, 274, 276, 281–284, 525, 526, 529, 639, 728– 733, 736, 737, 739, 741, 742, 746, 747, 756, 761, 762, 765, 783, 784 Monade 199, 200, 262, 284–286, 288, 290–296, 637, 690 Monismus 480, 481 Monotheismus 459 Moral 544, 708, 710, 712 Moral des Schwunges 635 Moralität 518, 552, 553 Multiversum 251, 252 Musik 754 Mystik 447, 634 Mythos 802 Muttersprache 59, 585 Nächstenliebe 49, 558, 719 Nachricht 602, 614 Name 620 Natur 216, 217, 228, 317, 336, 342–345, 352, 357, 369, 444, 455, 459, 505, 506, 539, 684, 743, 763, 764, 766 Natura communis 71, 72, 84, 135 Naturalismus 605, 606, 620–622, 624– 626, 636, 800–802 Naturalismus, materialistischer 539 Naturen 77, 79, 105, 111, 112, 114, 119, 128, 131, 138, 302 Natur, gemeinsame 74, 75 Naturgesetz 212, 382 Naturphilosophie 454, 455 Naturwissenschaft 21, 147, 215–217, 223, 233, 248, 318, 321, 363, 455, 567, 575, 588, 605, 606, 608, 620–622, 624–627, 641, 801, 812, 814, 815, 817, 819, 820, 823 Negation 692 Neigung 332, 398, 401, 411, 414, 415, 557, 558 Netzwerk 325 Neue, das 363, 365, 381, 389, 647, 677, 740, 783 Neugier 732 Neuplatoniker 475, 632, 785

Neuplatonismus 21, 60, 65, 115, 188, 190, 191, 211, 212, 214, 569, 777, 811, 812, 819 Neutralisierung 15, 685, 724, 793, 797, 803 Neutralität 741, 743, 765 Nicht-andere, das 180–184, 186, 192, 251 Nicht-Ich 97, 426, 427, 431–433, 438, 439, 442–444, 451 Nichts 93, 96–98, 107, 125, 159, 173, 250, 441, 459, 467, 489, 498, 524, 532, 545, 728, 738, 743, 744, 746, 775, 781, 782, 785, 787, 806, 807 Nichtseiende, das 106, 603, 617 Nichtsein 90, 94–97, 107, 271, 389, 535, 603, 756 Nihilismus 16, 468, 545, 546 Nimbus 655, 656, 708 Nivellierung 542, 816 Noein 695, 771 Noema 675 Nominalismus 53, 62, 64–66, 68, 84, 148 Nomos 225, 546, 652, 797, 822, 823 Norm 57, 418, 469, 519, 583, 707, 708, 710, 712, 796 Nötigung, exigente 691 Nous 29, 115 Numinose, das 421, 709 Objekt 429, 441, 452, 512, 513, 559, 568, 570, 571, 667 Objektivität 522, 731, 795 Objektivierung 806 Occasionalismus 567 Ontologie 727, 728, 736, 788 Organisation, soziale 817 Organisation, technische 817 Ort 222, 223, 233, 246, 359, 360, 506, 702 Ort, absoluter 360, 647 Ort, relativer 360, 618 Ortskonstanz 222, 223, 233 Ostsraum 222, 360, 361, 365, 389, 618, 630, 802 Parallelenaxiom 321 Paradox der Regelbefolgung 583

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Sachregister Perfektionen 79, 84, 111–115, 120, 121, 127, 131, 135, 138, 250, 302, 476 Perfectiones simpliciter 119 Perichorese 59, 630 Person 212, 225, 561, 566, 567, 617, 619, 620, 631, 647, 649, 655, 676, 713, 714, 721, 822 Personenlehre 464, 551 Perzeption 286–288, 308, 311, 314, 450, 675 Perzeption, konfuse 287 Pessimismus 537, 546, 786 Pflanze 633, 657, 665 Pflanzenseele 656 Pflicht 396–398, 401, 403–406, 408, 416, 445, 446, 449, 545, 557, 634, 708–710, 822, 823 Phänomenologie 315, 662, 663, 673, 678, 692, 705, 724, 820 Phantasie 668, 699, 700, 778 Phantomschmerz 235 Phase 477, 478 Philosophie 218, 219, 228, 420, 814– 816, 819–821, 823 Philosophie, analytische 605–607, 620– 622, 716, 720 Philosophie des Geistes 622–626, 636 Physiognomie 202, 203 Physik 605, 609, 622, 624, 768, 811, 819, 820 Physikalismus 154 Physikotheologie 356, 357, 403, 547 Physiologismus 18, 230, 559, 570, 613– 615, 625 Physis 767 Plakat 752, 753, 792 Plakatierung 750–753 Platonismus 60 Plötzliche, das 648, 678 Pneuma 24–31, 34 Pol 477–480, 489 Positivismus 191, 561, 568, 601, 604, 605, 620, 621, 636, 756 Positivisten 813, 814 Potentielle, das 106 Potenz 89, 90, 100–102, 106–109, 120, 125, 130, 144, 185 Prädestination 445, 446 Prädestinationslehre 49

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Prädikation 84 Priesterkultur 815 Prinzipialkoordination 569, 571–573, 621 Principium individuationis 73, 74 Privation 89, 92, 659 Privatkapitalismus 817, 822 Privatsprache 586, 587, 588 Problem 16, 57, 59, 67, 76, 112, 131, 245, 259, 271, 304, 306, 319, 387, 419, 472, 476, 508, 520, 522, 547, 560, 572, 578, 583–585, 594, 596, 603, 609, 614–616, 620, 648, 666, 675, 695, 702, 704, 712, 736, 750, 778, 795, 797, 811–813, 815 Problemheit 578 Problem, objektives 520, 815 Problem, subjektives 520, 815 Produkt, cartesisches 224 Prognose 626 Programm 16, 57, 59, 67, 76, 112, 131, 245, 259, 271, 304, 306, 319, 320, 387, 401, 402, 419, 453, 469, 472, 476, 508, 522, 546, 547, 560, 572, 577, 583–585, 594, 596, 603, 609, 614–616, 620, 648, 652, 664, 666, 675, 692, 695, 702, 704, 708, 712, 736, 750, 778, 795, 797, 811–813, 815, 817 Programmheit 577 Programm, neutrales 469 Programm, objektives 388, 469 Programm, subjektives 387 Projektion 546, 547, 549, 563, 581, 706, 790, 804, 813 Projektionismus 21, 151, 220, 221, 444, 546, 603, 702, 725, 799, 812, 821 Projektionist 81 Projektionstheorie 789 Propriozeption 713 Protention 672 Proto-Intentionalität 665, 666 Prozess 362–364, 381, 382, 622 Psychoanalyse, existentielle 796, 798 Psychologismus 17, 18, 33, 147, 211, 229, 232, 523, 569, 588, 602, 606, 621, 673, 675, 689, 720 Psychotechnik 51 Punkt 286, 291–294, 311, 390 Punktmengenlehre 673

Sachregister Pythagoreer 193, 768, 787, 811

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Qualität, sinnliche 798, 803 Quantenphysik 627, 820 Quantität 104–106, 145, 153 Quasi-Erwachen 239 Quasi-Traum 239 Quecksilber 196, 205–209 Ratio 176–178 Rationalismus 18, 570 Rätselhaftigkeit 728, 732, 738, 750, 761 Raum 17, 222, 223, 235, 286, 289, 291, 293, 322, 328–330, 333–336, 343, 345, 351, 352, 358, 359, 365–369, 375, 384, 388, 389, 391, 410, 412, 413, 560, 618, 628, 629, 631, 632, 688, 802 Räume, flächenlose 18, 234, 235, 359, 573, 630, 802 Raum, leiblicher 802 Raum, nichteuklidischer 361 Raumtheologie, barocke 253, 334, 344 Realdistinktion 728, 755 Realismus 413, 442, 446 Realismus, dogmatischer 441, 446 Realismus, exzessiver 53, 62–69, 82, 84 Realismus, gemäßigter 53, 62 Realismus, materialer 328–330, 336, 384, 412 Realismus, metaphysischer 396 Realismus, naiver 300, 301, 308, 764, 765, 788 Realität 265, 267, 270–273 Realitäten 77, 79, 84, 111, 112, 131, 302 Recht 326, 512, 822, 823 Rede 584, 585, 587 Rede, satzförmige 57, 327, 648, 649, 666, 697, 750, 765, 769, 788 Reduktionismus 17, 18, 21, 198, 212, 216, 219–222, 229, 232, 233, 299, 322, 455, 546, 569, 595, 606, 621 Reduktion, transzendentale 679 Referens 137, 527, 677 Reflexion 432, 436, 440, 444, 447, 461, 489–496, 498–500, 502–504, 508, 514, 515, 528, 744, 807 Reflexion, objektivierende 430, 431, 434, 436 Reflexionsbegriff des Geistes 501

Regel 325, 379, 472, 583, 584 Region 743 Regions- und Sachgebietsfremdheit 726, 730, 743, 762, 785 Regressargument 58, 301 Regression, personale 797 Regung, ganzheitliche leibliche 705 Regung, leibliche 704 Regung, unwillkürliche 816 Reich, Römisches 823 Reinheit 88–91, 120, 133, 158, 715, 719 Relat 677 Relation 83, 137, 139, 150, 151, 153, 168, 190, 225, 250, 258, 259, 308– 310, 363, 364, 368, 381, 390, 473, 527, 560, 561, 581, 603, 608, 610, 620, 668 Relationen 81 Relativitätstheorie 223 Relativitätstheorie, Allgemeine 626, 820 Religio 770 Religion 487, 544 Reluzenz 725, 731, 732 Repräsentation 263, 267, 286, 288, 581 Retention 663, 670, 672, 673 Revolution, Französische 822, 823 Rezeptivität 694, 696, 697 Richtigkeit 767, 768 Richtung 473, 622, 664 Richtung, unumkehrbare 360 Richtungsraum 361 Rigorismus 177, 397, 398, 400 Römer 767, 770 Ruf 666 Ruhe 222, 223 Ruinanz 725 Sachlage 696 Sachverhalt 16, 57, 58, 59, 66, 67, 71, 76, 84–86, 111, 112, 131, 245, 259, 271, 303, 304, 306, 313, 319, 320, 379, 387, 401, 402, 419, 426, 430, 440, 472, 476, 482, 508, 522, 547, 560, 561, 574, 577, 579, 581, 583–585, 593, 594, 595, 596, 598, 601, 603, 609, 612, 614– 616, 620, 625, 648, 653, 665, 666, 672, 675, 677, 692, 694–697, 702, 704, 712, 736, 750, 758, 765, 769, 778, 785, 795, 797, 811–813, 815

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Sachregister Sachverhaltlichkeit 577, 579 Sadismus 794 Salz 196, 205–207, 209, 210 Satz 60, 319, 472, 584, 748 Satz, partikulärer 592, 593, 617 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 600 Säugling 647, 651 Scala naturae 100 Schall 618, 673 Scham 574, 789 Schauen 645, 646, 653, 657 Schema 325, 367 Schluss 237, 246, 500 Schmerz 537, 578, 619, 665 Scholastik 21 Schöne, das 415, 416, 418, 706 Schönheit 416 Schon-sein 738, 740 Schraube, ohne Ende 813 Schreck 306 Schrei 666 Schuld 729 Schuldigsein 730, 733, 734, 747 Schweben 439, 440, 442, 464–466, 476, 483, 523, 526, 527, 532, 548, 554, 681, 721, 743, 744, 774, 786, 813 Schwefel 196, 205–207, 209 Schwellung 455, 459, 652, 665, 801 Schwere 454, 609 Schwere, reißende 655, 665, 791 Schwindel 525, 526, 529, 553 Seele 17, 24–26, 29, 31–33, 35–37, 45, 48, 81, 82, 102, 105, 116, 137, 148, 158, 159, 164, 172, 211, 212, 219, 229, 235, 240–242, 253, 262, 267, 269, 283, 299, 328, 333, 344, 355, 384, 388, 413, 414, 424, 523, 532, 539, 572, 586, 602, 606, 643–646, 649, 655, 659, 675, 680, 689, 690, 700, 706, 735, 801, 811–813, 816 Seelenvermögen 327, 380, 414 Sehraum 321 Seiende, das 20, 62, 79, 116, 126, 127, 130, 134, 136, 157, 159, 160, 258, 305, 603, 766, 769, 774, 777, 812 Seiende im Ganzen, das 743, 744, 751 Sein 88–99, 107, 118–120, 125, 142, 144, 155–161, 163, 165, 166, 170– 172, 176, 185, 242, 244, 249, 250, 320,

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364, 395, 396, 418, 438, 459, 464, 478, 488–494, 497, 502, 505, 514, 535, 557, 592–594, 596, 603, 617, 645, 647, 684, 722, 730, 740, 741, 744, 745, 748, 754–767, 775, 778, 782, 806, 808 Sein, das wilde 806, 808 Seinsgeschichte 770 Seinsverlassenheit 766 Seinsweise 722, 723, 745 Selbständigkeit 331, 339, 344, 409, 414, 437 Selbstanwendung 58, 63, 67, 243, 301, 325, 715, 779 Selbstbekümmerung 542, 544, 546, 724 Selbstbemächtigung 15, 35, 211, 212, 466, 467, 819 Selbstbestimmung 443, 469, 518 Selbstbewusstsein 377, 378, 387, 418, 428–429, 451–454, 480, 487, 500, 512–515, 619, 676–678, 714, 724 Selbstermächtigung 469, 569, 816 Selbstgegebenheit 691–693 Selbstgenügsamkeit 725, 726 Selbstsorge 822 Selbstverstellung 779, 780, 782, 784 Selbstwelt 724, 725 Selbstzuschreibung 212, 378, 425, 428, 429, 452, 453, 468, 561, 619, 678, 714, 724, 785 Selige 47 Seligkeit 171 Semantik des Schönen 326 Sensibilität, begreifende 720 Sich-vorweg-sein 730, 733, 738, 739, 740, 747 Signal 212 Signatur 194, 202, 203 Singularismus 21, 65, 71, 73, 74, 76, 79, 80, 82, 110, 129, 133–137, 146, 147, 148, 154, 182, 183, 190, 214, 220–222, 225, 250, 259, 274, 285, 287, 298, 302–305, 309, 311, 313–315, 323, 324, 380, 381, 383, 394, 419, 475, 482, 527, 547, 559, 561, 580, 582, 583, 603, 628, 644, 667, 673, 697, 698, 702, 720, 736, 765, 769, 772–775, 787, 788, 812, 814, 818, 821, 823 Singularismus, ordinatorischer 190, 191, 215, 224, 251, 258, 265, 282

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Sachregister Singularismus, permutatorischer 191, 214, 215, 224, 251, 258, 265, 282, 284 Sinn 111, 593, 675 Sinn, äußerer 336 Sinngegenständlichkeiten 697 Sinngleiten 474, 807, 810 Sinn, innerer 325, 336, 246, 376 Sinnlichkeit 327, 337, 338, 340, 352, 694, 697, 702 Sinn von Sein 757, 763 Sittengesetz 177, 400, 401, 408, 410, 411, 444, 710 Situation 16, 17, 21, 67, 76, 221, 245, 246, 305–307, 327, 419, 454, 476, 508, 547, 562, 573, 583–585, 588, 597, 603, 609, 637, 639, 642, 652, 666, 672, 675, 695–697, 702, 711, 717, 736, 765, 766, 772, 778, 791, 796, 812, 818, 821–823 Situation, aktuelle 666, 675 Situation, gemeinsame 225, 226, 521, 615, 665, 667, 714, 736, 750, 795, 798, 809, 816 Situation, implantierende 225, 510, 542, 546, 816, 821, 822, 823 Situation, impressive 16, 55, 193, 203, 211, 232, 585, 603, 615, 637, 638, 652, 654, 675, 704, 713, 717, 750, 753, 790, 792, 797, 798, 811 Situation, persönliche 225, 226, 510, 538, 542, 546, 562, 585, 603, 652, 653, 736, 792, 793, 797, 798, 816, 821 Situation, segnmentierte 750, 751, 753 Situation, zuständliche 476, 603, 666, 675, 708, 717, 805 Skala 102, 103, 105 Skalierung 98, 99, 101, 120–122, 142, 185, 304 Skepsis 674 Skeptizismus 417 Sobornost 823 Sohn 162–164, 170 Solidarbegriff des Geistes 501, 503, 504 Solipsismus 260, 575, 686 Solipsismus, agnostischer 330 Sollen 544, 557, 708, 709 Sollen, ideales 708–710 Sollen, normatives 708, 709 Sorge 726, 731, 733, 738, 740, 759, 764

Sosein 90 Sozialapriorismus der Objektivierbarkeit 687 Sozialismus 46–47 Sozialkontakt 330 Spannung 455, 459, 652, 665, 801 Sparsamkeit 175 Spätscholastik 756 Spinozismus 155 Spinozist 92, 161 Spontaneität 338–341, 344, 346, 347, 355, 369, 370, 375, 391, 392, 409, 430, 544, 631, 694, 804 Sprache 472, 584, 587, 603, 609, 619, 620, 655, 712, 751, 752 Sprache ohne Namen 594, 620 Sprachhörigkeit 64 Sprachspiel 585, 588, 605, 814 Staat 227 Stabilisierung 529, 618, 769, 793 Standpunkt 508, 509, 511, 512, 513, 517, 548 Statistik 219, 233, 816 Status 66 Statuslehre 67, 85 Staunen 808 Sterbetag 50 Stimme 609, 618, 650, 655, 697, 701, 791, 802–803 Stimmung 732, 745 Stimmung, reine 537 Stoa 455 Stoff 21, 107, 133, 134, 144, 145, 212 Stoiker 51 Stoizismus 523, 524 Stolz 794 Streben 440–444, 535, 537, 733 Streit 25, 775, 776 Subjekt 153, 154, 231, 232, 243, 369, 379, 380, 386, 424, 429, 441, 452, 467, 512, 513, 521, 522, 532, 533, 535, 539, 548, 559, 561, 568, 570–574, 576, 619, 637, 667, 674, 675, 677, 688, 722, 744, 765, 803, 804, 813 Subjektivität 16, 154, 164, 299, 364, 378, 379, 387, 418, 423, 424, 426, 427, 429, 430–432, 436, 438, 447, 453– 455, 467, 469, 486–488, 518, 519, 521–527, 531, 532, 535, 536, 547,

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Sachregister 566–568, 575, 577, 582, 588, 596, 603, 605–607, 626, 647, 648, 660, 676– 678, 680–682, 685, 712, 721, 722, 724–726, 728, 734, 743–745, 771, 773, 777, 790, 813, 814, 821 Subjektivität, positionale 241, 427, 721–723, 745, 768, 771, 773, 785 Subjektivität, rezessiv entfremdete 468, 483, 484, 529, 551, 553, 554, 556, 568, 576, 621, 649, 682, 720, 726, 730, 762, 773, 785, 814 Subjektivität, strikte 15, 241, 428, 436, 450, 460, 487, 547, 548, 566, 720, 722–724, 726, 730, 735, 762, 771, 773, 774, 784, 788, 799, 813, 814, 818 Subjektivität, transzendentale 670 Subjektlosigkeit 153 Substanz 86, 125, 127, 137, 144, 211, 229, 235, 250, 251, 255, 262, 264, 285, 286, 302, 303, 309, 310, 325, 333, 344, 354, 367–369, 374, 381, 382, 384, 385, 390, 391, 488, 573, 581, 728 Substanz, einfache 262, 264, 284, 289– 291, 295, 427 Substrat 668 Subsumtion 69, 468, 610, 611, 696 Sukzession 741 Supervenienz 625 Symbol 420 Sympathie 812 Symptom 602, 614 Synonymie 612, 616 Synthese 780 Synthese, unerreichbare 784 Synthese, unmögliche 786 Synthesis 325, 327, 336, 337, 341, 345, 346, 363, 370, 371, 376, 377, 379, 383, 476, 523, 526, 589 Tantalus 729, 742, 783 Taoismus 646 Tapferkeit 719 Tathandlung 430, 451 Tatsache 15, 153, 313, 320, 382, 387, 426, 429, 440, 453, 467, 469, 521, 561, 562, 567, 568, 575, 577, 579, 581, 594, 595, 612, 702, 769, 815 Tatsache, neutrale 239, 379, 387, 423, 426, 430, 436, 453, 460, 522, 527, 575,

850

605, 626, 648, 649, 685, 721, 785, 793, 813, 821 Tatsache, objektive 15, 239, 240, 379, 387, 423, 426, 430, 451, 453, 460, 461, 467, 468, 520–522, 527, 532, 548, 554, 566–568, 575–588, 604, 605, 625, 626, 648, 675, 676, 678, 680, 682, 685–687, 721, 723, 725, 726, 785, 793, 813, 814, 821 Tatsache, subjektive 240, 241, 386, 387, 423, 424, 426, 427, 430, 451, 453, 454, 460, 467–469, 487, 520, 521, 536, 547, 548, 561, 566, 567, 575, 576, 578–580, 603–605, 625, 626, 649, 676, 678, 685–687, 721, 723, 724, 743, 785, 795, 799, 814, 821 Tatsächlichkeit 313, 319, 387, 426, 427, 468, 522, 577, 578, 593, 598, 601, 612, 678, 692, 721–723, 756, 758, 785, 808 Technik 144, 145, 214, 660, 772, 812, 817, 819, 823 Teilnahme 124, 301, 763 Teleologie 495–496, 820 Theologie, transzendentale 356, 357, 406 Thymós 33 Tier 39, 240, 267, 287, 327, 337–341, 345, 354, 378, 409, 569, 633, 647, 651, 657, 665, 676, 678, 688, 690, 750, 770, 813 Tod 484–486, 512–514, 545, 577, 634, 727, 729, 733, 734, 739, 740, 742, 759 Tonos 455–458 Transsubstantiationslehre 293, 294 Transzendenz 674, 741–744, 789 Transzendentalien 126 Trauer 780 Traum 220, 238, 240, 293, 294, 802 Traum des Sokrates 582 Trieb 651, 652 Triebfeder 403–407, 416 Tugend 557, 558, 718, 719 Tugend, schenkende 719, 720 Tun 256 Typentheorie 596, 598 Tyrannei 718 Überantwortung 729 Übermensch 545, 553, 555

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Sachregister Überzeugung 313 Ultrovertierte 579 Unabhängigkeit 331, 332, 439, 440, 484, 510, 524, 716, 813 Unbestimmtheit 92, 93, 101, 123, 124, 142, 157, 185, 186, 242, 260, 393, 443, 483, 730, 732, 742, 746, 747 Undeutlichkeit 246, 693 Undurchdringlichkeit 300 Undurchschaubarkeit der Referenz 613, 616 Unendlichkeit 117, 118, 120, 124, 244, 263, 389, 439, 440, 443, 488, 498–500, 505, 514, 681 Unentschiedenheit, iterierte 599 Unentschiedenheit, unendlichfache 322, 386, 474, 599–600, 807 Unglück 538, 712 Unheil 816 Uniformierung 45, 46, 48, 60, 170, 816 Uniformität 47 Universalien 54, 56, 59–61, 63, 64, 66, 67, 70, 74, 78, 79, 81, 82, 84, 147–150, 250, 258, 301, 560, 583, 610, 611, 698, 701, 703, 706 Universalienproblem 53, 55, 61, 65, 101, 619 Universalwitz 482, 814 Universum 264, 281, 284, 286, 287, 288, 293, 463, 566, 668 Universum, transzendentales 691 Unlust 322, 399, 534, 706, 707, 712 Unmittelbarkeit 491–493, 505 Unsinn 594 Unsterblichkeit 267 Untergattung 56, 64 Unterlage 106, 654 Unterschied 497 Unterschied, der keiner ist 504 Unterschied von sich selbst 480, 482, 491, 493, 496, 504 Untrügendheit 769 Unverborgenheit 748, 749, 767, 769 Unwert 707, 709 Urbewusstsein 669–673, 678 Urbild 644, 655, 656 Urimpression 670, 671 Urphänomen 638

Urteil 370, 371, 378, 475, 496, 508 Urteil, analytisches 319, 320, 322, 611, 625 Urteile a priori, synthetische 319–322, 345, 364–366, 394, 708 Urteilskraft 327 Urteilstafel 371, 380 Urteil, synthetisches 319, 320, 611 Variation 699, 700, 703 Vater 162–164 Verantwortung 392, 544, 631, 712, 716 Verantwortung, diachrone 720 Verbindlichkeit 404, 405, 710 Verbindung 592 Verfallen 727, 730–734, 738–740, 743, 746, 784 Verfehlung, autistische 542, 816, 817, 821–823 Verfehlung, dynamistische 542, 771– 773, 816, 817, 821–823 Verfehlung, ironistische 660, 773, 813, 814, 818, 821–823 Vergangenheit 381, 474, 782, 783 Vergegenständlichung, psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische 16–18, 21, 22, 24, 34, 211, 212, 215, 216, 219, 222, 227, 229, 231–232, 243, 298, 299, 318, 322, 400, 454, 455, 523, 539, 559, 569, 602, 606, 608, 609, 614, 621, 630, 642, 653, 673, 689, 700, 706, 713, 720, 768, 772, 812, 816, 821 Vergleich 55 Verhängnis 77 Verhältnis 473, 527–529, 581, 603, 608, 620, 622, 623, 696, 697 Vermittlung 491, 492, 505 Vernunft 35, 38, 170, 175, 176–178, 196, 212, 232, 240, 241, 317, 327, 332, 352, 384, 388, 390, 403, 404, 406, 411, 413, 414, 447, 456, 469, 660 Verschiedenheit 78, 114, 115, 128, 138, 142, 181, 187, 309, 385, 386, 472, 473, 512, 513, 630, 648, 712, 770, 780, 787, 788, 791, 812 Verstand 152, 156, 251, 268, 276, 282, 325–327, 336–340, 342, 343, 345, 346, 352, 369, 370, 371, 376, 379, 380, 394, 396, 409, 417, 420, 694, 702

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Sachregister

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Verstandesbegriff, reiner 325, 326, 339, 342, 345, 352, 369–371, 379, 380 Verwandtschaft 610, 611 Verweisung 731, 736 Verzweiflung 523, 524, 529, 537 Vieleinigkeit 46, 59, 60, 65, 79, 116, 125, 186, 187, 190, 191, 193, 201, 203, 255, 285, 632, 773, 776, 786, 811, 823 Vielfachheit 386 Vielheit 20, 21, 46, 117, 159, 160, 167, 187, 188, 225, 227, 254, 285, 286, 289–291, 305, 380, 381, 386, 456, 533, 632, 636 Vielheit, numerische 230, 261 Volk 749, 750, 751, 752, 753 Volksgeist 476 Volldinge 697, 802, 803 Vollkommenheit 119, 120, 123, 124, 130, 142–144, 160, 186, 242, 243, 265, 270–273, 276, 278–281, 283 Von, ein 448 Vorfindung 571–573, 576 Vorhandene, das 736 Vorhandenheit 756, 762, 764 Vornehmheit 557, 558 Vorstellen 768 Vorstellung 286, 290 Vorstellung, deutliche 245 Vorstellung, klare 245 Wahl 796 Wahnsinn 802 Wahrheit 475, 482, 491, 497, 508, 562, 598, 692, 748, 749, 751–754, 764, 767–769, 807 Wahrnehmung 802, 803, 812 Warten 777 Was, das 729, 730, 735, 740, 743, 746, 755, 756, 760, 762, 764, 765, 783, 784 Wechseldurchdringung 46, 785 Wechselwirkung 381, 383 Weib 511 Weite 360, 366, 454, 458 Weiteraum 360, 362 Weitung 27, 30, 234, 418, 455, 459, 652, 657, 665, 666, 790, 794, 801, 802 Weitung, privative 657, 658 Welt 384, 388, 389, 444, 575–577, 581, 582, 606, 617, 674, 685, 686, 708, 721,

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725, 727, 728, 730, 731, 735, 736, 738, 742, 753, 754, 764, 765, 774, 775, 787, 788, 809 Weltanschauung 708 Weltbemächtigung 15, 21, 35, 211–216, 218–219, 228, 229, 232, 233, 244, 298, 542, 816, 819 Welt, mögliche 251, 320 Weltordnung 174, 183, 190, 191, 250– 252 Weltzeit 733 Wende, kopernikanische 317, 336, 342, 345–347, 351, 358, 370 Wendigkeit 462, 483, 487, 500, 511, 519, 523, 526, 548, 567, 576, 660, 681, 744, 773, 813, 818 Wert 706–710, 712, 714, 717, 718 Wertequadrat 718 Wertethik, materiale 693, 703, 705– 707, 714 Werthöhe 717 Wertstärke 717 Wertsynthese 717–719 Wesen 478, 480, 481, 488, 490–493, 495–498, 502, 503, 505, 506, 514, 528 Wesen, zweipoliges 494 Wesensschau 203, 209, 668, 698, 699, 701, 703, 704, 717, 760 Wetter 17, 28, 34 Widerspruch 192, 193, 474–476, 493, 497, 594, 612, 780, 781, 807, 814, 823 Widerspruch, performativer 475 Widerspruchsfreiheit 617 Widerstand 645 Widerstreit 692 Wie, das 762 Wiederholung 739 Wiederkehr des Gleichen 562, 566 Wiederkehr des Selben 566 Wiedervereinigung 823 Wille 165, 172, 173, 268, 511, 513, 517, 518, 532–537, 539, 544, 546–548, 651, 652, 659, 660, 715, 768, 773, 777 Wille, guter 398 Wille, nachfolgender 278, 280 Willensfreiheit 714–716 Wille, vorhergehender 278, 280 Wind 609, 650, 655, 665, 787, 802, 803 Wirken 770

Sachregister Wirklichkeit 268, 320, 491, 497, 505, 526, 592, 594, 603, 604, 629, 644, 645, 655, 656, 755, 757, 758 Wissenschaft 214, 215 Witz 482 Wollen 154, 453, 454, 533, 534, 525, 536, 557, 633, 652, 653, 659, 660, 713, 773 Wort 584 Wunsch 57 Wünsche 583 Würde 341 Yang und Yin 193 Yliaster 196

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Zahl 19, 20, 98–100, 115, 122, 145, 183, 223, 246, 285, 362, 472, 588–592, 628, 629, 651, 702, 787, 788 Zählbarkeit 590 Zählmenge 590, 591 Zarathustra 553–555, 557, 564, 565 Zeit 289, 293, 314, 322, 328, 329, 333– 336, 343, 345, 351, 352, 358, 361, 363–369, 375, 381, 382, 384, 388, 389, 393, 410, 412, 413, 444, 539, 560,

589, 622, 644, 673, 678, 688, 739– 741, 805 Zeitalter, ironistisches 548 Zeitlichkeit 739–741, 810 Zeitmessung 223, 233 Zerstreuung 741, 743, 765 Zirkel, normativer 797 Zirkel, transzendentaler 434–436, 440– 443, 446, 447, 461, 462, 464, 520, 531, 551, 681, 744 Zorn 458, 512, 780, 790 Zudringlichkeit 791 Zufriedenheit 537 Zukunft 739, 740, 783 Zunge 35, 36 Zusammenhängen, pränumerisches 645 Zu-Sein 760, 761 Zwangsimpuls 401 Zweck 401, 402, 405, 544, 545 Zweideutigkeit 732 Zweipoligkeit 495, 502 Zwiespalt 440 Zwiespältigkeit 279 Zwischen, das 729, 746

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