Kleine Schriften: Hrsg. von Alexander Proelß [1 ed.] 9783428552047, 9783428152049

Die »Kleinen Schriften« des Tübinger Staatsrechtslehrers kreisen um die Aufgaben und Grenzen von Recht und Staat. Dazu w

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Kleine Schriften: Hrsg. von Alexander Proelß [1 ed.]
 9783428552047, 9783428152049

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 87

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Kleine Schriften Herausgegeben von Alexander Proelß

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Kleine Schriften

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 87

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Kleine Schriften Herausgegeben von Alexander Proelß

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15204-9 (Print) ISBN 978-3-428-55204-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85204-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der Band vereinigt Arbeiten von Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Graf Vitzthum, LL.M. (Columbia), aus vier Jahrzehnten. Anla¨sslich des 75. Geburtstages des Gelehrten am 22. November 2016 werden diese verstreuten Abhandlungen unter dem Titel „Kleine Schriften“ vorgelegt, auch als Ausdruck der Dankbarkeit, die der Herausgeber seinem akademischen Lehrer bezeugen mo¨chte. Nach seiner Habilitation in Freiburg hat Graf Vitzthum in Mu¨nchen und Tu¨bingen sowie, als Gastprofessor, in den USA (UCLA) und in Frankreich (Aix-en-Provence) gelehrt. Er hat zahlreiche Schu¨lerinnen und Schu¨ler ausgebildet – vier von ihnen haben o¨ffentlich-rechtliche Lehrstu¨hle inne. Wie die Monographien und Lehr- und Handbuchbeitra¨ge von Graf Vitzthum weisen ihn seine hier mit seiner Zustimmung ausgewa¨hlten kleineren Werke als einen vielseitig engagierten und versierten, u¨ber Fa¨cher- und Staatsgrenzen hinaus inspirierenden Wissenschaftler aus. Neben Arbeiten aus dem verfassungsrechtlichen und rechtsgeschichtlichen Themenkreis, zumal zur Garantie der Wu¨rde des Menschen, finden sich Abhandlungen zum Vo¨lker- und Europarecht, etwa zum internationalen Seerecht und seiner Entwicklung. Einen besonderen Akzent legte Graf Vitzthum stets auf den Forschungsgegenstand „law and literature“, mithin auf den Versuch, in Werken der Dichtung enthaltene Aussagen zu Recht und Staat zu dechiffrieren und fu¨r die Staatslehre fruchtbar zu machen. Um den Band vielgestaltig und zugleich handlich zu halten, wurden einige Beitra¨ge geringfu¨gig geku¨rzt. Den Verlagen, bei denen die jeweiligen Originalbeitra¨ge erschienen sind, ist fu¨r die Erteilung der Abdruckrechte zu danken. Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Florian R. Simon, LL.M. (Cornell), fu¨r die Bereitschaft, auch den vorliegenden Band von Graf Vitzthum in seinem Verlag zu publizieren. Trier, im November 2016

Alexander Proelß

Inhaltsverzeichnis

Verfassungsrecht und Rechtsgeschichte Die Menschenwu¨rde als Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Eher Rechtsstaat als Demokratie: Zielvorstellungen im Widerstand . . . . 37 Qu’est-ce que la justice ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Form, Sprache und Stil der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Ernst Kantorowicz als Rechtshistoriker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Vo¨lkerrecht und Europarecht Materiale Gerechtigkeitsaspekte der Seerechtsentwicklung . . . . . . . . . . . 107 Geho¨rt Anatolien zu Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Die herausgeforderte Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . 143 « L’homme ne doit pas faire de l’homme un esclave ! » . . . . . . . . . . . . . . 159 Russisches Vo¨lkerrechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Staatsdichtung und Staatslehre Der Dichter und der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 „Die Gesetze des Geistigen“: George, Broch, Grass . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Gerechtigkeit fu¨r Bosnien: Juli Zehs Bilder vom Balkan . . . . . . . . . . . . . 239 Le cinquie`me commandement et le droit au tyrannicide . . . . . . . . . . . . . 257 „Schon eure zahl ist frevel“: Stefan George und die Demokratie . . . . . . . 269

Verfassungsrecht und Rechtsgeschichte

Die Menschenwu¨rde als Verfassungsbegriff* I. Menschenwu¨rdebegriff und Herrschaftslegitimation Keine Bestimmung des Grundgesetzes ist so sehr Gu¨nter Du¨rigs Bestimmung wie die in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltene Garantie der Wu¨rde des Menschen. Nach Vorarbeiten zur „Menschenauffassung des Grundgesetzes“1 und zur „Problematik von Art. 2 Abs. 1 GG“2 brachte Du¨rig bereits 1956 als damals 36-Ja¨hriger den „Grundrechtssatz von der Menschenwu¨rde“3 auf den Punkt. In dem zusammen mit Maunz herausgegebenen Grundgesetzkommentar kurz darauf weiter ausgebaut und abgesichert4, trat Du¨rigs Dogmatik des Art. 1 GG einen Siegeszug in Wissenschaft und Rechtsprechung an, der bis heute anha¨lt5. 29 Jahre nach dieser „Beta¨tigung eines originalen Wahrheitsgefu¨hles“6 liegt es nahe, bei einer Skizze der Menschenwu¨rde an Du¨rigs Deutung anzusetzen. Dabei geht es weder um eine Wirkungsgeschichte – sie zu schreiben, haben sich andere7 bereits als berufen erwiesen –, noch um die nicht weniger reizvolle Aufgabe, die wichtigsten Aspekte der unu¨bersichtlichen gegenwa¨rtigen Wu¨rdediskussi*

Aus: JZ 1985, S. 201 – 209. – Festvortrag auf der Feierstunde der Juristischen Fakulta¨t der Universita¨t Tu¨bingen anla¨sslich des 65. Geburtstages von Prof. Dr. Gu¨nter Du¨rig am 25. Januar 1985, Tu¨bingen, Mohr Siebeck. 1 Du¨rig, JR 1952, S. 259. 2 Du¨rig, NJW 1954, S. 1394. 3 Du¨rig, Ao¨R 81 (1956), S. 117. 4 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz, Kommentar, Stand 1984, Art. 1 GG. 5 Vgl. die Rechtsprechung des BVerfG, E 7, 198 (205); 21, 362 (371 f.); 37, 57 (65); Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 25. Aufl. 1983, S. 181; Hesse, Grundzu¨ge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 1982, S. 120 f.; Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 1980, Art. 1 Rdnr. 15. 6 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (ed. Beutler 1949 ff.), Bd. 8, S. 325. 7 Ha¨berle, Staatsrechtslehre im Verfassungsleben – am Beispiel Gu¨nter Du¨rigs, in: Du¨rig, Gesammelte Schriften 1952 – 1983, hrsg. von Schmitt Glaeser/Ha¨berle i. V. m. Maurer, 1984, S. 9.

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on8 im Brennspiegel der Du¨rig’schen Konzeption einzufangen und zu bu¨ndeln. Mich interessiert vielmehr allein die Frage, inwieweit jene in der ersten Nachkriegszeit entwickelte Dogmatik gegenu¨ber heutigen Gefa¨hrdungen noch zu „greifen“ vermag. Die hier potentiell menschenwu¨rderelevanteste Entwicklung zeichnet sich in der Humangenetik ab9. Im Kampf gegen Erbkrankheiten und im Ringen um wissenschaftliche Erkenntnis gelingt genetischen Grundlagenforschern zunehmend die Isolierung einzelner Erbinformationen der Zelle, die Entschlu¨sselung der Schrift des Erbgutes. In Kombination mit dem Verfahren der extrakorporalen Befruchtung10 und der Gentechnik11 mag dies eines Tages die gezielte Auswahl von Erbmaterial erlauben. Zum Antasten der Identita¨t einzelner Menschen, ja der Grundlagen der Gattung Mensch wa¨re es dann nur noch ein Schritt. Die Gefa¨hrdung der Menschenwu¨rde schlu¨ge um in eine neue Qualita¨t – in die schicksalshafte Fa¨higkeit

¨ bersicht bei Starck, in: von Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, U 3. Aufl. 1985, Art. 1. 9 Vgl. die Beitra¨ge von Fla¨mig, Benda, Hu¨bner, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3/1985; Gentechnologie – Chancen und Risiken, Ethische und rechtliche Probleme der Anwendung zellbiologischer und gentechnischer Methoden am Menschen (Dokumentation eines Fachgespra¨chs), hrsg. vom BMFT, 1984; Herbig, Der Bioboom, 1982; Wagner (Hrsg.), Menschenzu¨chtung, 1969; Mersson, Fortpflanzungstechnologien und Strafrecht, 1984, S. 2 ff., 12 ff. 10 Anderer Ausdruck: In-vitro-Fertilisation. Retortenerzeugung (dazu Gentechnologie, a.a.O. [o. FN 9], S. 2 ff.) ist die Verschmelzung ma¨nnlicher und weiblicher Keimzellen in einem Glas, also außerhalb des Ko¨rpers der Mutter. Trotz erheblicher Fortschritte befindet sich das a¨ußerst kosten- und gera¨teintensive Verfahren noch teils im Erprobungsstadium. SG Gelsenkirchen (NJW 1984, 1839) greift insofern mit seiner Entscheidung (extrakorporale Befruchtung als notwendige Heilbehandlung) zu weit; der zur „verfassungskonformen Auslegung der Leistungsvorschriften der RVO“ herangezogene Art. 6 Abs. 1 GG (ebd., 1840) a¨ndert daran nichts – er ha¨tte seinerseits vor dem Hintergrund des Art. 1 Abs. 1 GG gesehen werden mu¨ssen. Auch LG Nu¨rnberg (NJW 1984, 1828) wertet die Invitro-Fertilisation vorauseilend bereits als „notwendige Heilbehandlung“. A.A. LG Mu¨nchen (NJW 1984, 2631). 11 Jaeniscb, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 135 ff. Popula¨rwissenschaftliche Darstellung bei Zell/Enne, Die deutschen Genforscher, Scho¨pfer neuen Lebens; Kraft, Die Sprache der Gene, beide in: Bild der Wissenschaft 4/1984, S. 78 ff., 92 ff.; Herbig, Bioboom (o. FN 9), S. 101 ff., 155 ff. Fachliteratur: Arber u. a. (Eds.), Genetic manipulation: impact on man and society, 1984, S. 239 ff.; Friedmann, Gene therapy: fact and fiction, 1983; BT-Drs. 10/2199. 8

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des homo faber, u¨ber die Evolution der menschlichen Spezies zu verfu¨gen12. Unverfu¨gbarkeit und Freiheit, Autonomie und Personqualita¨t hatte das Verfassungsrecht bislang als anthropologische Konstante und konstituierenden Faktor menschlicher Wu¨rde vorausgesetzt13. Angesichts des neuen Gefa¨hrdungspotentials stellt sich die Frage, ob der u¨berkommene Begriff der Menschenwu¨rde seiner Schutzfunktion noch genu¨gen kann14. Es ist dies eine Frage, die letztlich an die Wurzel unseres Staatsversta¨ndnisses geht, an die Legitimation von Herrschaft u¨ber Menschen. Hobbes hatte von der „mutual relation between protection and obedience“ gesprochen. Zu den staatlichen Schutzpflichten, deren Erfu¨llung Bedingung der Folgebereitschaft der Bu¨rger ist, geho¨rt nicht nur die Abwehr physischer Angriffe15. Geboten ist vielmehr vor allem die Abwehr von Eingriffen in den Keim, den Kern des Humanen. Weil Achtung und Schutz der Menschenwu¨rde fu¨r die Legitimation staatlicher Gewalt entscheidend sind16, ist fu¨r die Legitimationsfrage die Kla¨rung des Verfassungsbegriffs von der Wu¨rde des Menschen von so elementarer Bedeutung.

12 ¨ Ahnlich wohl Starck, JZ 1981, 457 (459): „Was im Hinblick auf die Datenerhebung nicht ermittelt und gespeichert werden darf, das darf auch durch biologische oder geistige Menschenzu¨chtung nicht angestrebt werden. Mit der Menschenwu¨rde ist es aber auch nicht vereinbar, die Menschen geistig so einzuspinnen, daß deren Mehrzahl nur noch in einer bestimmten Richtung handeln und denken kann.“ Vgl. auch Eser, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 139 f. 13 Grundsatzentscheidungen BVerfGE 7, 198 (205) – Lu¨th = JZ 1958, 119 (B. Wolff, S. 202); 35, 79 (114) = JZ 1973, 456 (Oppermann, S. 433); 49, 286 (298). 14 Vgl. Benda, Erprobung der Menschenwu¨rde am Beispiel der Humangenetik, a.a.O. (o. FN 9), S. 18 ff., 35. 15 Der Staat ist verpflichtet, das menschliche Leben wirksam zu schu¨tzen, auch gegen Angriffe Dritter, BVerfGE 45, 187 (254); das gilt auch fu¨r das werdende Leben, BVerfGE 39,1 (42 f., 49 f.). 16 Als Schlu¨sselbegriff fu¨r das Verha¨ltnis des Menschen zum Staat (Herzog, in: Evangelisches Staatslexikon, 1966, S. XXI [XXX]) geho¨rt die Verfassungsgarantie der Menschenwu¨rde zur Staatsgrundlegung; Starck, JZ 1981, S. 457.

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II. Du¨rig: Negativdefinition und Objektformel Gu¨nter Du¨rigs Definition der Menschenwu¨rde arbeitet zwar mit den Begriffen „Geist“, „Bewusstsein“, „Selbstbestimmung“17. Die beru¨hmte, vom BVerfG kanonisierte Objektformel – „Die Menschenwu¨rde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Gro¨ße herabgewu¨rdigt wird“18 – formuliert Du¨rig indes erst beim Nachfassen vom Verletzungsvorgang her, d. h. mittels der „negativen“ Interpretationsmethode. Jedem, auch dem Geisteskranken, dem Kleinstkind, Triebta¨ter oder Todgeweihten, kommt unabha¨ngig von seiner individuellen Fa¨higkeit zu Selbstbestimmung und Freiheit kraft seines Menschenseins Subjektqualita¨t zu. Niemand darf als „non human being“, als „Untermensch“, als „Material“ ausgegrenzt, also zum „Liquidieren oder Abwracken freigegeben“ werden. Auch die Wissenschaft ist Du¨rigs vorsichtiger Definitionsweise gefolgt. In seiner Kommentierung des Art. 1 GG verzichtet Starck gar darauf, „die Menschenwu¨rde in eine Formel zu fassen“19. Zu Recht: Die Auslegung vom Verletzungstatbestand her vermeidet die Gefahr einer statischen, die wechselnden Bedrohungen verfehlenden Definition. Ausgrenzende, dem kritischen Rationalismus entsprechende Begriffsbestimmungen sind im Verfassungsrecht legitim. Sie erschweren die Petrifizierung oder Ideologisierung des Rechts. Die Menschenwu¨rde ist fu¨r Gu¨nter Du¨rig – hier beginnen nun die Kontroversen – die oberste Bezugsgro¨ße der Verfassung i. S. einer „Wertord¨ berlegung, nung“20. Dieser Ansatz ergibt sich fu¨r Du¨rig aus der doppelten U dass es (erkennbare und konsensfa¨hige) „objektive Werte“ gibt, und dass die normative Kraft der Verfassung nur in derartigen Werten begru¨ndet sein kann21. Dementsprechend wird der wu¨rderechtliche Gesamtanspruch 17 Ao¨R 81 (1956), S. 125; ders., in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Rdnr. 18; a¨hnlich Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 15; s. a. BVerfGE 49, 286 (298). Vgl. Benda, Die Menschenwu¨rde, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 127. 18 Du¨rig, Ao¨R 81 (1956), S. 127; ders., in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 28, 34. 19 Starck, in: von Mangoldt/Klein, Grundgesetz (o. FN 8), Art. 1 Rdnr. 13. Nach Doehring (Staatsrecht, 3. Aufl. 1984, S. 281) ist die Wu¨rde des Menschen „in abstraktem Sinne undefinierbar“. 20 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 3 ff. 21 Du¨rig, Ao¨R 81 (1956), S. 117; ders., in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 1.

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durch Abs. 2 des Art. 1 GG in einzelne Menschenrechte positiv aufgelo¨st22, fu¨r die lu¨ckenlose Anwendung23. Verfassungssystematische Funktion des Grundsatzes von der Menschenwu¨rde kann von daher nicht die Begru¨ndung eines eigenen Anspruchs gegen den Staat oder auch nur eines Auffangtatbestandes sein24. Vielmehr sichert fu¨r Du¨rig Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG die verfassungsrechtliche Wertordnung25. Diese Position la¨sst sich etwa an Hand des Petitionsgrundrechtes erla¨utern und pru¨fen, na¨mlich an dem von Du¨rig betonten Zusammenhang zwischen Art. 17 und Art. 1 Abs. 1 GG26. Lo¨st man die Fundamentalnorm in einzelne, spezialgrundrechtlich ausgepra¨gte, unantastbare Kernbereichsgarantien auf 27, liegt es nahe, in jedem einzelnen Grundrecht dann auch „exakt die materiellrechtliche Grenze“28 fu¨r Eingriffe zu ziehen und dieses spezielle Grundrecht so mit einem wu¨rderechtlichen Minimum anzureichern29. Im Petitionsbereich kommt dieser Ansatz bei Du¨rig dergestalt zum Tragen, dass das u¨ber Art. 1 Abs. 1 GG inhaltlich „aufgeladene“ Petitionsrecht auch das Recht des Petenten auf Pru¨fung und Bescheidung seines Begehrens umfasst30. Dieses gewiss zutreffende Ergebnis la¨sst sich indes schon dem verfassungsgeschichtlich stark gepra¨gten Institut „Petitionsrecht“, heute also Art. 17 GG unmittelbar31 entnehmen32. 22 Du¨rig, Ao¨R 81 (1956), S. 120; ders., in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 6. 23 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 13. 24 Ebd., Rdnr. 2 ff. 25 Ebd., Rdnr. 8 f., 13. 26 Du¨rig, Ao¨R 81 (1956), S. 121 (140); Mattern, Petitionsrecht, in: Neumann/ Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, S. 629. Zuru¨ckhaltender dann Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 17 Rdnr. 7 f. 27 Art. 1 Abs. 1 GG wirkt unter diesem Gesichtspunkt (nur noch) als Bekra¨ftigung von Art. 19 Abs. 2 GG, la¨sst also entweder die Menschenwu¨rde- oder die Wesensgehaltsgarantie leerlaufen. 28 Du¨rig, Ao¨R 81 (1956), S. 39. 29 Und damit insoweit u. a. verfassungsa¨nderungsfest zu machen, Art. 79 Abs. 3 GG. 30 Dies haben Wissenschaft und Praxis inzwischen allgemein anerkannt; s. § 112 Abs. 3 S. 2 GOBT; Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, 1985, S. 32 f. 31 Terbille, Das Petitionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Jur. Diss. Mu¨nster 1980, S. 141 ff.

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Bereits 1914 konstatierte Bu¨hler die Pflicht, „daß die Beho¨rde sich mit dem Fall, den er (der Petent) vortra¨gt, befaßt und ihm einen Bescheid erteilt“33. Um diesen Inhalt des Petitionsrechts zu ermitteln, hatte es einer Berufung auf die Menschenwu¨rde damals, unter der „grundrechtlosen“ Bismarck’schen Reichsverfassung34 nicht bedurft, und es bedarf ihrer erst recht nicht heute, da das Petitionsrecht als Spezialgrundrecht zweifelsfrei ¨ brigen ließe sich die Pru¨fungs- und Bescheidungspflicht garantiert ist. Im U des Petitionsadressaten aus einer Parallele zu dem anderen formellen Grundrecht in Art. 19 Abs. 4 GG erschließen35. Letztlich sind dies Positivierungen des Rechtsstaatsprinzips36. Andere Rechtsordnungen leiten dieses Ergebnis aus den allgemeinen Grundsa¨tzen des Verwaltungsrechts37 oder den „Principes Ge´ne´raux du Droit“ ab38. So ist es auch im Europarecht39. 32 Stellt man auf eine funktionale Betrachtungsweise des Petitionsrechts unter dem Gesichtspunkt von Art. 1 Abs. 1 GG ab und zieht man weiter den Zusammenhang mit dem demokratischen Prinzip heran, erscheint der status activus des Petenten in neuem Licht. Der einzelne ist vor dem Hintergrund der Volkssouvera¨nita¨t (Art. 20 Abs. 1 GG) dann Zurechnungspunkt aller Staatsgewalt, nicht das Volk insgesamt. Geho¨rt es also „in einer Demokratie zu der in Art. 1 fu¨r unantastbar erkla¨rten Wu¨rde des Menschen, daß er an der Gestaltung der Gemeinschaft, der er angeho¨rt, teilhaben kann“ (Meyer, VVDStRL 33, 1975, S. 75 f.; BVerfGE 5, 85, 205 f.), ist es konsequent, dem homo politicus u¨ber das Petitionsrecht einen Zugang zum Staat zu ero¨ffnen. 33 Bu¨hler, Die subjektiven o¨ffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, S. 160. 34 Vgl. Remmele, Bu¨rgerliche Freiheit ohne verfassungsrechtliche Freiheitsverbu¨rgungen?, in: Dilcher u. a. (Hrsg.), Grundrechte im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./Bern 1982, S. 189 ff. 35 Neubauer, Das Petitionsrecht, Jur. Diss. Erlangen 1957, S. 51. 36 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 787 ff.; Starck, JZ 1981, 457 (461): Der Positivismus habe „gesetzliche Sicherung der Grundrechte, Rechtsstaat und Gesetzma¨ßigkeitsprinzip gefo¨rdert und begru¨ndet, die wesentliche praktische Elemente der Achtung menschlicher Wu¨rde sind.“ 37 Terbille, Petitionsrecht (o. FN 31), S. 138 f. 38 In Italien wird der Richter ausdru¨cklich auf sie verwiesen (Art. 12 Dispos. prel. al Codice civile). In Frankreich leitet der Conseil d’Etat aus bestimmten Normen allgemeine verwaltungsrechtliche Prinzipien ab; der Conseil Constitutionnel hat sie z. T. u¨bernommen, Vedel/Delvolve´, Droit administratif, 9. Aufl. 1984, S. 387 ff. 39 Der EuGH judiziert auf der Basis des Rechtsvergleiches zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten; vgl. Art. 215 Abs. 2 EWG-Vertrag (Amts-

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Da das Spezialgrundrecht die Schutzaufgabe (Pru¨fungs- und Bescheidungspflicht des Petitionsadressaten) abdeckt, ist der Ru¨ckgriff auf die allgemeine Menschenwu¨rdeklausel unzula¨ssig40. Es entwertet zudem diesen fundamentalen „Ausgangspunkt von Staat und Recht“41, wenn man seinen unantastbaren Gehalt auf die Ebene detailliertester Differenzierungen hinsichtlich des Umfangs der Pru¨fungs- und Begru¨ndungspflicht zieht. Du¨rig hat selbst stets davor gewarnt, das Prinzip der Menschenwu¨rde als kleine Mu¨nze zu behandeln42 – es ist in der Tat die eiserne Ration, „the last refuge“ der Verfassung.

III. Bundesverfassungsgericht und Menschenwu¨rdegarantie Das BVerfG sieht in Art. 1 Abs. 1 GG eines der „tragenden Konstitutionsprinzipien“43, ja den „ho¨chsten Rechtswert“44 im grundgesetzlichen „Wertsystem“45. Lediglich der Konsequenz Du¨rigs, die Wu¨rdegarantie als Staatskonstitutionsnorm nicht als subjektives o¨ffentliches Recht anzusehen46, folgt das Gericht nicht47. Demgegenu¨ber wird – nun wiederum ganz im Sinne Du¨rigs und eines wertsystematischen Ansatzes – das Verha¨ltnis zwischen dem Wu¨rdeprinzip und den einzelnen Grundrechten so verstanden, dass diese sich – obwohl verfassungsgeschichtlich durchweg bereits viel fru¨her normiert als jenes allgemeine Prinzip – als dessen Folge darhaftung der EWG). Vgl. Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europa¨ische Gemeinschaft, 2. Aufl. 1982, S. 196 ff.; Bleckmann, Europarecht, 3. Aufl. 1980, S. 97 ff. 40 Dieses fu¨r Art. 17 GG ermittelte Ergebnis bedeutet nicht, dass die Garantie der Menschenwu¨rde nicht auch bei anderen Grundrechten „versta¨rkend“ herangezogen werden kann. 41 Ha¨berle, Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 (426). 42 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 16, 29. 43 BVerfGE 50, 166 (175); 45, 187 (227); 30, 1 (29) = JZ 1971, 171 (Ha¨berle, S. 145); BVerfGE 64, 274; Giese, Das Wu¨rde-Konzept, 1975, S. 14 ff. 44 BVerfGE 48, 127 (163): „Das Grundgesetz geht von der Wu¨rde der freien, sich selbst bestimmenden menschlichen Perso¨nlichkeit als ho¨chstem Rechtsgut aus (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG).“ BVerfGE 5, 85 (204), 35, 202 (221); 45, 187 (227); 50, 166 (175). 45 BVerfGE 7, 198 (205); 50, 166 (175); auch BVerfGE 35, 202 (225): „Menschenwu¨rde als Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung“; 35, 79 (114). 46 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 13. 47 BVerfGE 1, 332 (343, 348); 12, 113 (123); 15, 283 (286); 62, 128 (137).

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stellen und seinen Schutz gewa¨hrleisten48. Art. 1 GG ist deshalb auch grundrechtliches Interpretationsprinzip49. Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG wurde richterrechtliche Basis der Anerkennung eines allgemeinen Perso¨nlichkeitsrechts50. Vom Gericht noch nicht hinreichend gekla¨rt ist das Verha¨ltnis zwischen der Menschenwu¨rde und ihrer in Art. 2 Abs. 2 GG geschu¨tzten „vitalen Basis“51. Schutzobjekt der Menschenwu¨rde ist der „Mensch schlechthin“, ohne Ru¨cksicht auf Fa¨higkeit und Leistung: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Wu¨rde zu“52. Dies gilt auch fu¨r den Nasciturus53 sowie – wie wir noch sehen werden – fu¨r den in vitro erzeugten Embryo, dessen Schutz prima¨r u¨ber Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG erfolgt. Das Gericht zieht aus seinem Satz von der Wu¨rde alles menschlichen Lebens offenbar den Schluss, dass in jedem Eingriff in das Leben zugleich eine Verletzung der Wu¨rde zu sehen ist54. Dies ist zumindest missversta¨ndlich, wenn nicht gar eine „biologistische“ Sicht der Wu¨rde. Das BVerfG definiert die Menschenwu¨rde mittels der Du¨rig’schen Objektformel vom Verletzungsvorgang her: Es widerspreche der Wu¨rde des Menschen, „ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualita¨t ¨ berflu¨ssig, ja genau genommen unzula¨ssig prinzipiell in Frage stellt“55. U ist indes der Versuch des Gerichts, so klassische und konturenscharfe Verfassungsgarantien wie die des rechtlichen Geho¨rs (Art. 103 Abs. 1 GG) u¨ber Art. 1 Abs. 1 zu versta¨rken56. Die Abho¨r-Entscheidung ha¨lt die Ob48 Fu¨r BVerfGE 7, 275 (279) ist die Garantie des Art. 103 Abs. 1 GG unmittelbare Folge der Wu¨rde des Menschen; vgl. auch BVerfGE 9, 89 (95); 36, 174 (188). BVerfGE 30, 173 (194) spricht vom „Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwu¨rde, das allen Grundrechten zugrunde liegt“. 49 Sinngema¨ß auch Starck, a.a.O. (o. FN 8), Art. 1 Rdnr. 17. 50 Vgl. BVerfGE 34, 269 (281 f.); BGHZ 13, 335 (338), 15, 249 (258 f.); 20, 345 (351); 24, 72 (78); 26, 349 (354). 51 BVerfGE 39, 1 (42). 52 BVerfGE 39, 1 (49). 53 BVerfGE 39, 1 (42). 54 BVerfGE 39, 1 (43); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 230 ff. 55 BVerfGE 27, 1 (16); 30, 1 (26); 50, 166 (175); 64, 274. 56 BVerfGE 7, 275 (279); 9, 89 (95); 26, 66 (71); 30, 1 (27) betrachten die Garantie des rechtlichen Geho¨rs als unmittelbare Konsequenz der Wu¨rdegarantie. Ha¨berle (o. FN 41, S. 389, 403) wu¨nscht: „Auch sollte der vorbildliche Ausbau des

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jektformel allerdings fu¨r zu allgemein und zu vage. In der industriellen Massengesellschaft sei der Mensch „nicht selten bloßes Objekt“ planender Eingriffe und staatlicher Vorsorge57. Um eine Verletzung der Wu¨rde bejahen zu ko¨nnen, mu¨sse „Antasten“ deshalb mehr sein, na¨mlich zugleich Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt58. Die Einfu¨hrung dieses subjektiven Elementes in das Versta¨ndnis der Verletzung war geradezu ein notwendiger dialektischer Gegenschlag gegen einen zur bloßen Formel erstarrten Objektbegriff 59. Als Relativierung des absoluten objektiven Achtungsanspruches des Wu¨rdeprinzips stieß der „subjektive Faktor“ gleichwohl auf heftige Kritik, nicht zuletzt von seiten Du¨rigs60 und Ha¨berles61. Man redete hier indes aneinander vorbei. Die allerwenigsten wohlfahrtsstaatlichen Eingriffe sind durch „Geringscha¨tzung“ des Bu¨rgers motiviert. Eine subjektive Komponente der Verletzungshandlung liefe insofern leer. Maßstab muss vielmehr sein, ob in der Behandlung objektiv Geringscha¨tzung zum Ausdruck kommt. Nichts anderes meinte bereits die Abho¨r-Entscheidung selbst: Menschenwu¨rde du¨rfe auch nicht in „guter Absicht“ verletzt werden62. Also ist das subjektive Element des Handelns, das zur Verletzung der Menschenwu¨rde fu¨hrt, letztlich belanglos.

rechtlichen Geho¨rs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) ausdru¨cklich auf Art. 1 Abs. 1 GG gestu¨tzt werden: weil es um die Subjektstellung des Menschen im Verfahren geht“ (vgl. auch ebd., S. 416 f.). Warum aber sollen bereits „vorbildlich ausgebaute“ spezielle, letztlich auf die Magna Charta zuru¨ckfu¨hrbare Garantien noch zusa¨tzlich, ja „ausdru¨cklich“ auf die Menschenwu¨rde-Garantie „gestu¨tzt werden“? 57 BVerfGE 30, 1 (25 f.). 58 BVerfGE 30, 1 (26). 59 Schematisch die Verwendung der Objekt-Subjekt-/Person-/Sache-Begrifflichkeit BVerwGE 64, 274 (278 f.); von Olshausen, NJW 1982, S. 2221 (2222) polemisiert gegen dieses Urteil („Wu¨rde-Oktroi“, S. 2223; „Ausdruck eines letztlich totalita¨ren Wert-Absolutismus“, S. 2224): „das Gericht macht den Menschen, den es vorgeblich schu¨tzen will, selbst ,zum bloßen Objekt des Staats‘, na¨mlich zum Objekt der gerichtlichen Wertung, was dem Menschen ,wu¨rdig‘ sei.“ 60 Du¨rig/Evers, Zur verfassungsa¨ndernden Beschra¨nkung des Post-, Telefonund Fernmeldegeheimnisses, 1969; Du¨rig, Ein Pla¨doyer: zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, in: ders., Gesammelte Schriften, 1984, S. 343 ff. (349). 61 Ha¨berle, a.a.O. (o. FN 41), S. 389 (401); ders., JZ 1971, S. 145 (151). 62 BVerfGE 30, 1 (40).

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Insgesamt la¨sst sich (auch) der Menschenwu¨rdebegriff des BVerfG nur aus konkreten Negationen der Wu¨rde ermitteln. Es ist dringend erforderlich, die aus der Rechtsprechung zu bildenden Fallgruppen63 fu¨r die Gewinnung pra¨ziser Konturen des Begriffs auszuwerten. Dabei zeichnen sich drei Hauptgruppen ab: @ der Schutz der Subjektstellung des Individuums (z. B. auch des lebensla¨nglich Verurteilten) 64, @ der Schutz der perso¨nlichen Spha¨re (etwa gegenu¨ber Datenerhebung) 65, @ die Anerkennung eines Anspruchs auf staatliches Handeln zum Schutz der Wu¨rde (hier geht es zumal um „die Mindestvoraussetzungen fu¨r ein menschenwu¨rdiges Dasein“) 66. Der Rechtsgehalt der Menschenwu¨rdegarantie la¨sst sich prima¨r aus dem jeweils konkret gefa¨hrdeten Bereich (etwa der Intimspha¨re) 67 ermitteln. Ein wichtiges Hilfsmittel dazu – auch darauf hat bereits Du¨rig hingewiesen68 – ist die Rechtspraxis, insbesondere die Herleitung des einzelnen Instituts (etwa des Verbots der Folter, Art. 3 EMRK) in Gesetzgebung oder gefestigter Rechtsprechung aus der Menschenwu¨rde. Am Thema „Strafrecht und Menschenwu¨rde“ sei dies erla¨utert.

63 Zur Kasuistik vgl. von Mu¨nch, Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rdnr. 32 – 34; Zippelius, in: Bonner Kommentar (o. FN 29), Art. 1 Abs. 1 GG Rdnr. 12 – 21. 64 BVerfGE 45, 187 (228 ff.). 65 BVerfGE 27,1 (6 ff.); 65, 1 ff. 66 BVerfGE 40, 121 (133); 45, 187 (228); vgl. bereits BVerfGE 20, 31 (32); BVerwGE 1, 159 (161 f.); 14, 294 (297); 23, 149 (153) = JZ 1967, 57 (Badura); 25, 307 (317 f.). S. nur § 1 Abs. 2 BSHG. 67 BVerfGE 27,1 (6). 68 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 29 ff.; Zippelius, in: Bonner Kommentar (o. FN 29), Art. 1 Rdnr. 7 ff.; Starck, JZ 1981, S. 457 (458).

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IV. Strafrecht und Menschenwu¨rde Wie das von Du¨rig stets besonders geachtete Polizeirecht69 ist das Strafrecht eine der scha¨rfsten Waffen des Staates zum Schutz der Menschenwu¨rde, und es bringt doch – dialektisch – zugleich eine der scha¨rfsten Bedrohungen der menschlichen Wu¨rde mit sich. Beschra¨nken wir uns auf den Komplex „strafrechtlicher Wu¨rde-Schutz“, geht es um die Themenkreise: @ Schutz der Menschenwu¨rde des Strafta¨ters, @ Menschenwu¨rde als Schutzgut strafrechtlicher Normen, @ Pflicht gerade zum strafrechtlichen Wu¨rde-Schutz. Der erste Komplex, die Menschenwu¨rde des Ta¨ters, kommt vor allem im Schuldprinzip (§ 46 StGB) und in der Entscheidung gegen ein reines Maßnahmestrafrecht zum Ausdruck70. Die Wu¨rde-Garantie untersagt es etwa, den Ta¨ter als „Summe seiner sozialen Beziehungen“ und die Tat als deren logische, notwendige Konsequenz aufzufassen71. Autonomie bedeutet zwar nicht strengen Indeterminismus, wohl aber verbietet sie eine ¨ berbewertung „kausaler Determinanten“72. Verantwortlichkeit ist U daher nicht absolut definierbar, sondern muss im Einzelfall nach dem Maß der Schuld abstufbar sein73. Auch fu¨r Art und Maß der Strafe, etwa im Hinblick auf den lebenslangen Freiheitsentzug, wirkt Art. 1 GG als Re¨ brigen darf sich der Staat auch dem u¨belsten Misseta¨ter gegulativ74. Im U 69 Du¨rig, Art. 2 des Grundgesetzes und die Generalerma¨chtigung zu allgemeinpolizeirechtlichen Maßnahmen, Ao¨R 79 (1953/54), S. 57 ff. 70 Vgl. Scho¨nke/Schro¨der/Stree, Strafgesetzbuch, 21. Aufl. 1982, Vorb. zu §§ 38 ff. Rdnr. 6 ff.; Eser, Strafrecht I, 3. Aufl. 1980, S. 9 ff.; Scho¨nke/Schro¨der/ Lenckner, Strafgesetzbuch, a.a.O., Vorb. zu §§ 13 ff. Rdnr. 103 ff.; Badura, JZ 1964, 337 (342 – 344). 71 Vgl. Scho¨nke/Schro¨der/Lenckner, Strafgesetzbuch (o. FN 70), Vorb. zu §§ 13 ff. Rdnr. 103 ff., 109. 72 Ebd., Vorb. zu §§ 3 ff. Rdnr. 108. 73 Die verfassungsgema¨ße Sicht des Ta¨ters als grundsa¨tzlich verantwortlich und sinnbezogen handelnde Person verbietet auch, ihn zum Objekt eines auf soziale Anpassung zielenden therapeutischen Maßnahmevollzugs zu machen. 74 Die lebenslange Freiheitsstrafe steht nur dann mit der Garantie der Menschenwu¨rde in Einklang, wenn dem Verurteilten eine „Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden“, BVerfGE 45, 187 (243 ff.). Gegen die Menschenwu¨rde verstoßen zudem grausame und grob unangemessene Strafen, BVerfGE 1, 332 (348); 6, 389 (439); 45, 187 (228). Zur Begru¨ndung der Strafe als „Wu¨rde des Ta¨ters“ (Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 99 ff.) vgl. Seelmann, JuS 1979, S. 687.

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genu¨ber nie wu¨rdefeindlich verhalten. Weder dem staatlichen Amtstra¨ger ¨ belta¨noch dem einzelnen Bu¨rger75 ist gestattet, sich auf das Niveau des U ters zu begeben. Auch der Massenmo¨rder ist nicht „Kreatur“, sondern Mensch. Die Menschenwu¨rde als Schutzgut strafrechtlicher Normen bildet den zweiten Komplex. Aufgabe des Strafrechts ist es, bestimmte sozialscha¨dliche Verhaltensweisen mit einem Unwerturteil zu versehen und entsprechend zu ahnden. Dabei ist keineswegs jedes Rechtsgut „menschenwu¨rderelevant“76. Die Sicherheit des Kreditverkehrs (§ 265 b StGB) etwa ist zur Konstituierung der Perso¨nlichkeit nicht unverzichtbar. A¨hnlich wie im Verfassungsrecht kommt die Menschenwu¨rde als Rechtsgut des StGB zudem dann nicht zum Zuge, wenn speziellere Institute einschla¨gig sind77. Keineswegs bei jeder Straftat ist zugleich der etwaige Menschenwu¨rde-Kern des geschu¨tzten Rechts „angetastet“78. Ausdru¨cklich als Schutzgut genannt ist die Menschenwu¨rde lediglich in § 130 StGB („Volksverhetzung“). Wu¨rdefeindlich ist ein entsprechender Angriff nach Lenckner dann, wenn er „den Menschen im Kern seiner Perso¨nlichkeit trifft, indem er ihn als unterwertig darstellt und ihm (deshalb) das Leben in der Gemeinschaft“ bestreitet79. Auch beim Vo¨lkermord (§ 220 a StGB) ist prima¨res Schutzgut die Menschenwu¨rde. Entgegengebrachtes Vertrauen, vor allem aber die Mo¨glichkeit, u¨ber Informationen zu disponieren, sind u. a. Schutzgu¨ter von § 203 StGB („Verletzung von Privatgeheimnissen“). Hier wird die Mo¨glichkeit von „Privatheit“ als Voraussetzung von 75 Teilweise verlangt wird „eine Erweiterung der Schutzrichtung in die Gesellschaft hinein: der Mensch darf nicht zum Objekt staatlichen Verfahrens, er darf auch nicht zum Objekt gesellschaftlichen Geschehens gemacht werden“ (Ha¨berle, a.a.O. [o. FN 41], S. 389, 391). Vgl. auch BVerfGE 24, 119 (144). Der die menschliche Wu¨rde verletzende Angriff kann eben auch von Privatpersonen ausgehen. „Auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht ist der Staat in einem solchen Fall gehalten, die mit der Rechtsanwendung gegebenen Mo¨glichkeiten zur Abwehr eines derartigen Angriffs auszuscho¨pfen“, BVerwGE 64, 274 (278). 76 Der straf- und zivilrechtliche Ehrenschutz dagegen ist im Kern Wu¨rdeschutz, BGHSt 11, 67 (71); BVerfGE 30, 173 (194). 77 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 29. 78 Vgl. Thielicke, Theologische Ethik, Bd. I, 4. Aufl. 1972, S. 285, Rdnr. 819: Erst der Verlust der „Steuerungsfa¨higkeit“ tastet den „personalen Bestand des Menschen“ an. 79 Scho¨nke/Schro¨der/Lenckner, Strafgesetzbuch (o. FN 70), § 130 Rdnr. 7.

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Identita¨tsbildung gesichert. Derartige Vorstellungen von Wu¨rde werden uns im Kontext der kommunikationstheoretischen Begriffsbestimmung80 erneut begegnen. Freiheitsverletzungen sind demgegenu¨ber erst dann wu¨rdefeindlich, wenn sie den grundsa¨tzlichen Anspruch des Menschen, selbstbestimmt aus Einsicht zu handeln, negieren81 – etwa bei der Implantation von verhaltenssteuernden Hirnelektroden. Allein in der Ausu¨bung von Willenszwang oder Freiheitseinschra¨nkung liegt demgegenu¨ber noch keine Verletzung der Wu¨rde82. Erst wenn dem Opfer seine Individualita¨t und Identita¨t genommen wird, wenn es zum „Material“, zum Sklaven, zur Ware wird – wie buchsta¨blich bei dem von § 181 StGB erfassten „Menschenhandel“ –, ist die Menschenwu¨rde (zusammen mit der Freiheit und der ko¨rperlichen Unversehrtheit) prima¨res Schutzgut. Zum dritten strafrechtlichen Thema, der Verpflichtung des Staates, sich zum Schutz der menschlichen Wu¨rde speziell des strafrechtlichen Instrumentariums zu bedienen! Grundsa¨tzlich bleibt es dem Gesetzgeber u¨berlassen, welche Art des Schutzes er wa¨hlt83. Im § 218 StGB-Kontext bejahte das BVerfG allerdings die Pflicht, das ungeborene Leben gerade durch Androhung von Strafen zu schu¨tzen84. Das Minderheitsvotum von Rupp-v. Bru¨nneck und Simon sah hierin eine Umkehrung der verfassungsrechtlichen Funktion der Grundrechte: Diese liege nicht darin, „solchen Einsatz (des Strafrechts) zu fordern, sondern ihm Grenzen zu ziehen“85. Eleganz und Eloquenz dieser Formel ko¨nnen nicht die Dezision der u¨berstimmten Senatsminderheit im konkreten Fall verdecken, na¨mlich ihre Entscheidung 80 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, insb. S. 53 ff.; Podlech, in: Azzola u. a., Kommentar zum Grundgesetz fu¨r die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativ-Kommentare), 1984, Bd. 1 Art. 1 Abs. 1; Krawietz, Gewa¨hrt Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung und Schutz seiner Wu¨rde?, in: Geda¨chtnisschrift fu¨r Friedrich Klein, 1977, S. 245 ff. m. FN 2. 81 Scho¨nke/Schro¨der/Eser, Strafgesetzbuch (o. FN 70), § 240 Rdnr. 1. Vgl. auch BGH NJW 1953, S. 351; BGHSt 1, 145 (Beibringen von Beta¨ubungsmitteln als Gewalt). 82 Maurach/Schroeder, Strafrecht – Besonderer Teil, Tlbd. 1, 6. Aufl. 1977, S. 119. 83 BVerfGE 39,1 (44). 84 BVerfGE 39,1 (42 f., 49 f., 55 ff.). Grundlage ist Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. 85 BVerfGE 39,1 (73).

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gegen den strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens. Zu erinnern bleibt, dass das Gericht die Pru¨fung des § 218 StGB anhand des Art. 2 Abs. 2 GG, nicht des Art. 1 Abs. 1 GG vorgenommen hat, obwohl es die Menschenwu¨rde ebenfalls als verletzt ansah (Leben als „vitale Basis“ der Wu¨rde) 86. Gewiss, die Entscheidung weist methodische Schwa¨chen auf, insoweit das Gericht das gesetzgeberische Ermessen u¨ber das im Rahmen einer Evidenzpru¨fung mo¨gliche Maß hinaus durch eine eigene Prognose u¨ber die Wirksamkeit des gewa¨hlten Instrumentariums ersetzt. Im Ergebnis wird man der Linie des Gerichts indes zustimmen mu¨ssen: Es kann sehr wohl eine staatliche Pflicht zum strafrechtlichen Schutz der Menschenwu¨rde geben, allerdings nur dann, wenn dies das einzige taugliche Mittel87 zum Schutz ist. Auch im Bereich des Strafrechts, so erweist sich insgesamt, la¨sst sich die Menschenwu¨rde „negativ“ im Allgemeinen zureichend definieren und schu¨tzen. Andererseits greift die Objektformel im Strafrecht wie im Verfassungsrecht nur dann, wenn sie nicht schematisch, sondern vor ihrem konkreten „ethischen Hintergrund“ gesehen und angewendet wird. Das verlangt nun ein Aufspu¨ren der Wurzeln der Garantie der Menschenwu¨rde, insbesondere ihrer philosophisch-christlichen Grundlagen.

V. Die Menschenwu¨rde als Wert Kants Philosophie ist die wichtigste geistesgeschichtliche Tradition, der Du¨rig und mit ihm das BVerfG bei ihrer Deutung der Menschenwu¨rde verpflichtet sind88. Vor allem in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ arbeitete Kant nicht nur mit den Begriffen „Mittel“ und „Zweck“, sondern auch mit dem Verha¨ltnis zwischen „Wert“ und „Wu¨rde“89. Dabei bildete 86 BVerfGE 39, 1 (36, 51, 53); dazu auch Schwabe, Probleme (o. FN 54), S. 230 ff. 87 BVerfGE 39, 1 (47): „ultima ratio“. 88 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 28 (Objektformel); BVerfGE 45, 187 (228). 89 Die klassische Definition findet sich in der „Kritik der praktischen Vernunft“ unter der in allen Ausgaben verzeichneten Seitenza¨hlung nach der editio princeps A 77. A¨hnliches steht in der „Metaphysik der Sitten“, Tugendlehre § 11 (A 93) („Allein der Mensch als Person betrachtet … ist u¨ber allen Preis erhaben; … denn als ein solches ... ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen

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¨ konomie favorisierte, gewisder Wertbegriff, den die damals entstehende O sermaßen die Folie des philosophischen Begriffs. „Wert“ war die Scha¨tzung einer Sache im Vergleich zu einer anderen. „Werte“ konnten insofern zueinander in A¨quivalenzen gesetzt werden, im Austausch also einem „Marktpreis“ gleichkommen90. Der Wert nun, der gegen keinen anderen getauscht, durch keinen anderen Preis a¨quivalent bewertet werden kann, ist der absolute (oder auch der innere) Wert von etwas. Er verleiht allem u¨brigen einen abgeleiteten Wert. Einen solchen unvertretbaren „inneren Wert, d. i. Wu¨rde“91, hat fu¨r Kant nur eines auf der Welt: die mit moralischer Identita¨t, praktisch-vernu¨nftiger Selbstverantwortung und der Fa¨higkeit zu rationaler Selbstbestimmung ausgestattete Person92. Die Werthierarchie bis zu einem letzten Endzweck zu denken, leuchtet ein. Die Wu¨rde des Menschen als der durch nichts zu ersetzende Wert an sich zeichnet sich dadurch aus, dass sie diesen Rang der notwendigen Anerkennung aller Beteiligten verdankt. Kein „vernu¨nftiges Weltwesen“ kann einer Gliederung widersprechen, die in der Selbstachtung kulminiert, in der alle Subjekte auf dem „Fuß der Gleichheit“ sind. Die wu¨rdebezogene Anerkennung schlechthin muss man jeder Person zuteil werden lassen, weil man sie ganz urspru¨nglich fu¨r sich selbst in Anspruch nimmt. Wer den anderen verachtet, verachtet sich selbst, weil er die Gattungsgemeinschaft mit dem anderen nicht leugnen kann93. Das ist ein besonders starker Punkt der kantischen Philosophie. Der auf Wu¨rde zielende Anerkennungsvorgang setzt keine Intersubjektivita¨t voraus, auch keinen Scho¨pfergott und Weltregenten und keine doppelte Anthropologie. Du¨rigs Bestimmung der Menschenwu¨rde als Verfassungsbegriff ist auch dem Christentum verpflichtet. Wu¨rde kommt dem Menschen aufgrund seiner zentralen Stellung in der Scho¨pfungsordnung zu, sie ist ihm, in ju¨eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu scha¨tzen, d. i. er besitzt eine Wu¨rde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen andern vernu¨nftigen Weltwesen Achtung fu¨r ihn abno¨tigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf dem Fuß der Gleichheit scha¨tzen kann“); zitiert nach der von W. Weischedel hrsg. Ausgabe, 1983, Bd. 6 „Grundlegung ...“, Bd. 7 „Schriften zur Ethik …“. 90 Kant, Grundlegung (o. FN 89), S. 68. 91 Ebd. – Der unvertretbare „Wert“ des Menschen ist in der Sprache des Grundgesetzes seine „Wu¨rde“. 92 Kant, Grundlegung (o. FN 89), S. 69: „Autonomie ist also Grund der Wu¨rde der menschlichen und jeder vernu¨nftigen Natur.“ 93 Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 38.

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disch-christlicher Auffassung, zugleich mit der Vernunft von Gott verliehen94. Spezifisch katholisch gepra¨gt ist dabei die Vorstellung des unverzichtbar Vorgegebenseins der Wu¨rde, die unverlierbar in Gott geborgen ist95. Fu¨r die Reformation ist die imago dei hingegen in erster Linie Aufgabe und Bestimmung des Menschen. Mit dem Su¨ndenfall ist der status integritatis verloren, die Gottesebenbildlichkeit kann nicht mehr ontologisch, ¨ brigen sondern muss teleologisch bestimmt und erworben werden96. Im U geht Du¨rig zwar davon aus, dass es sich hinsichtlich des materialen Gehaltes des Art. 1 GG um ein wertethisch vor allem im Christentum verwurzeltes „Naturrecht neuzeitlicher Pra¨gung“ handelt97. Auch im Wissen um die invocatio dei der Pra¨ambel des Grundgesetzes leitet er daraus einen entsprechenden „christlichen Wertekanon“ indes nicht ab. Von Wertevollzug, von Wertediktatur gar98, kann insofern nicht die Rede sein. Die starke Wertakzentuierung dient prima¨r der Nachkriegs-Vergewisserung: der staatsedukatorisch ehrgeizigen materialen Orientierung und Fundierung der in der Pra¨ambel des Grundgesetzes proklamierten, in ihrem ¨ berdeutKern (Art. 79 Abs. 3 GG) unvera¨nderbaren „neuen Ordnung“. U lich steht noch die Epoche der „Wertezersplitterung“99 und der Selbstpreisgabe der rechtsstaatlichen Demokratie vor Augen100, von der planma¨ßigen Menschenverachtung des NS-Regimes, einschließlich seiner rassistischen 94

Aus protestantischer Sicht Thielicke, a.a.O. (o. FN 78), Bd. 1 Rdnr. 764 ff. Aus katholischer Sicht Vallauri, Bioetica, potere, diritto, in: Justitia 1984, S. 1 ff. 96 Vgl. Thielicke, a.a.O. (o. FN 78), Rdnr. 827, 824. Allein der Mensch ist fa¨hig, die Gottebenbildlichkeit zu reflektieren und darin seine Bestimmung zu erkennen – darin liegt seine Wu¨rde. 97 Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 15 FN 2. 98 Zur (Un-)Angemessenheit der Verwendung der Wertekategorie im Grundrechtsbereich vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), S. 53, 82, 88; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 187; Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Sa¨kularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 37 ff. 99 Vgl. Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe (Hrsg. Lu¨tzeler), Bd. 12: Massenwahntheorie, 1971, S. 288 f.; ders., ebd. Bd. 10/2, 1977, S. 156 ff. (167 ff.: „Zerfall der Werte“; insb. S. 169: „Der Mensch aber, einst Ebenbild Gottes, einst dem obersten Werte zugeordnet, ist dem Wert verfallen, in den er zufa¨llig geraten ist. Seine menschliche Wu¨rde hat sich zur Wu¨rde des Berufsmenschen erniedrigt“). 100 Vgl. Ha¨berle, JR 1974, S. 487 f.; Caspar, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, 1967, S. 133 ff. 95

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Greuel, ganz zu schweigen101. Selbst linksliberale Dichter wie Hermann Broch hatten als inhaltliche Gegenwehr gegen den Relativismus und Positivismus Weimars fu¨r den ku¨nftigen Nach-NS-Staat eine „totalita¨re Demokratie“ gefordert, mit „Gesetzen zum Schutze der Menschenwu¨rde“ als Herzstu¨ck102. Das Denken in einem geschlossenen, lu¨ckenlosen Wertsys¨ berreaktion auf Weimar und das Dritte tem war verfassungspolitisch eine U Reich, gewiss, und es war wa¨hrend des Kalten Krieges dann „abgrenzungs¨ berreaktion auf den Stalinismus der SBZ/DDR. politisch“ auch eine U Ebenso wenig la¨sst sich bezweifeln, dass sich die Interessenauseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland, das Verschleiern und „ethische ¨ berho¨hen“ der Verteilungska¨mpfe mit der Formel von den Werten nun U einer ebenso handlichen wie verfassungsrechtlich unbestimmten Kategorie bedienen konnte (und sich ihrer bis heute ungeniert bedient). Diese Abwertung der Wertordnung zur kleinen Mu¨nze, wenn nicht gar zum Falschgeld des politischen Tageskampfes, hat nicht wenig zu der von Eschenburg ku¨rzlich konstatierten Emotionalisierung der Politik beigetragen. Dies alles geht aber u¨ber Du¨rigs prima¨r „staatsethischen“ Ansatz weit hinaus, einen Ansatz, wie er etwa auch in den Abhandlungen u¨ber seinen Lehrer Apelt zum Ausdruck kommt103. Nach Du¨rigs Auffassung sollte das BVerfG zwar „seinen Weg zur Aufstellung eines positiven Wertekatechismus ruhig fortsetzen“104; Du¨rig selbst aber machte aus der „Werteordnung“ keinen mittelalterlichen ordo, aus der Menschenwu¨rde keine „Christenwu¨rde“105. Insofern erlag er nicht 101 Zur Entstehungsgeschichte der Garantie der Menschenwu¨rde Starck, JZ 1981, S. 457 f. Gegen das NS-System richten sich bereits BVerfGE 6, 132 (163) und BVerfGE 2, 1 (12). S. a. Reis, Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, 1984, S. 1 – 11. 102 Broch, Kommentierte Werkausgabe (o. FN 99), Bd. 11 – Politische Schriften, 1978, S. 4 ff. („Zur Diktatur der Humanita¨t innerhalb einer totalen Demokratie [1939]“, S. 100 ff. („Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung [1949]“): „Der Mensch darf den Menschen nicht versklaven“ (113). „Nichtversklavung ist des Menschen oberstes Recht, und das macht seine Menschenwu¨rde aus“ (162); „die Demokratie beno¨tigt … (auch) eine Gruppe von ,Gesetzen zum Schutz der Menschenwu¨rde‘“ (163). 103 Du¨rig, Gesammelte Schriften (o. FN 7), S. 395 ff., 400 ff. 104 VVDStRL 20 (1963), S. 115 (Diskussionsbeitrag). 105 Vgl. Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 1.1, 1966, S. 16 ff.

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der Gefahr, das Grundgesetz dadurch zu u¨berstrapazieren, dass er in den notwendigerweise knapp und allgemein gehaltenen Verfassungstext das hineinlas, was er ihm dann entnahm. Du¨rig hat alles daran gesetzt, dass das Prinzip der Menschenwu¨rde nicht als hehrer, praxisferner Grundsatz abgetan, sondern als „ethische Unruhe“ der Verfassungsordnung in ihr zur realen Geltung gebracht wird – nicht weniger, aber auch nicht ¨ brigen vielleicht mehr106. Er wird es dem ju¨ngeren Fakulta¨tskollegen im U nachsehen, wenn dieser meint, dass es fu¨r die Effektuierung der Menschenwu¨rde nicht unbedingt eines ganzen „Wertekatechismus“ bedu¨rfte, sondern dass, um in seiner Sprache zu bleiben, der Dekalog genu¨gte.

VI. Luhmann: Menschenwu¨rde als Leistung Der kommunikationstheoretische Gegenentwurf von Luhmann107 vertritt ein leistungs-, nicht wertbezogenes Konzept der Menschenwu¨rde. Podlech hat diesen soziologischen Ansatz ju¨ngst im „Alternativkommentar“ fu¨r die Verfassungsauslegung aufbereitet108. Das BVerfG ist dem im Volksza¨hlungsurteil mit dem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ einen Teil des Weges gefolgt109. Im Gegenlicht dieser Theorie gewinnt die Objektformel zusa¨tzliche Konturenscha¨rfe und Legitimation. Luhmann definiert Wu¨rde als „Bedingung gelingender Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Perso¨nlichkeit“110. Soziale Beziehungen werden zwar vorrangig durch „Rollen“ (Konsument, Wa¨hler, Verkehrsteilnehmer, Steuerzahler usw.) strukturiert; „Identita¨t“ und „Perso¨nlichkeit“ gewinnt der Einzelne aber nicht bereits durch Selbstdefinition i. S. e. „Summe seiner sozialen Rollen“111. Erforderlich ist vielmehr die individuelle Rollenstilisierung, -kombination oder -selektion (etwa im Bereich der Arbeit, in der sich auch 106 Skeptisch zur Werttheorie der Grundrechte Bo¨ckenfo¨rde, NJW 1974, S. 1532; Hesse, Grundzu¨ge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 14. Aufl. 1984, Rdnr. 299, 302. 107 Luhmann, Grundrechte (o. FN 80), S. 53 ff., 68: Podlech, Ao¨R 88 (1963), S. 199; Gusy, DVBl. 1982, S. 986; Ho¨fling, NJW 1983, S. 1582 (1583 f.). Kritik Giese, Wu¨rde-Konzept (o. FN 43), S. 83 ff., 87 ff. 108 Podlech, a.a.O. (o. FN 80), Art. 1 Rdnr. 11 ff. 109 BVerfGE 65, 1 ff. 110 Luhmann, Grundrechte (o. FN 80), S. 61. 111 Ebd., S. 65.

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die Wu¨rde einer Person manifestieren kann) 112. Indes: „Mit jeder Kommunikation riskiert der Mensch seine Wu¨rde“113. Wu¨rde ist insofern weder „Naturausstattung“ noch ein dem Menschen an sich anhaftender „Wert“, wie Luhmann unter distanzierendem Verweis auf Du¨rig ausfu¨hrt114. Wu¨rde ist vielmehr Resultat erfolgreicher Identita¨tsbildung. Liegt Zwang vor, kann das Verhalten nicht perso¨nlich zugeordnet werden – die Darstellungsleistung misslingt115. Nach Podlech ermo¨glicht dieser funktionale, systemtheoretische Wu¨rdebegriff besser als die Wertetheorie das Bezugnehmen auf konkrete Gefa¨hrdungen116. Die von ihm formulierten Bedingungen zur Wahrung von Menschenwu¨rde, @ Sicherung des individuellen und sozialen Lebens, @ rechtliche Gleichheit, @ Wahrung menschlicher Identita¨t und Integrita¨t, @ Begrenzung staatlicher Gewalt, @ Achtung der leiblichen Kontingenz des Menschen117, weisen Gemeinsamkeiten mit den von Luhmann formulierten Funktionen der Grundrechte auf 118. Gegenu¨ber den einleitend skizzierten Fallgruppen der Wu¨rde-Rechtsprechung des BVerfG ist die sprachliche Distanz gro¨ßer als die sachliche. Soweit „Wu¨rde“ an Rollen, an Leistungen anknu¨pft, wird hier der Bogen zu einer Seite der antiken (nicht-juristischen) Lehre von der Menschenwu¨rde geschlagen119. „Dignitas“ bezeichnete als Begriff der politisch-sozialen Spha¨re Roms120 ein Doppeltes: die Auszeichnung jedes 112

Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. 114 Ebd., S. 68 m. FN 44. 115 Ebd., S. 66. Zur Freiwilligkeit als Voraussetzung von Mu¨nch, GrundgesetzKommentar (o. FN 63), Art. 1 Rdnr. 17 f. 116 Podlech, a.a.O. (o. FN 80), Art. 1 Rdnr. 11. 117 Ebd., Rdnr. 17 – 22. 118 Luhmann, Grundrechte (o. FN 80), S. 189. 119 Zur Begriffsgeschichte Horstmann, in: Ritter/Gru¨nder (Hrsg.), Historisches Wo¨rterbuch der Philosophie, Bd. 5, 1980, Sp. 1124 ff. 120 H. Drexler, Dignitas, in: R. Klein (Hrsg.), Das Staatsdenken der Ro¨mer, 1973, S. 231 (232); W. Du¨rig, Dignitas, in: RAC III (1957), S. 1024; Merki, 113

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Menschen vor der Kreatur, aber auch den gesellschaftlichen Rang eines Menschen. Setzt Wu¨rde virtus, tatsa¨chliches Verdienst voraus, ist dignitas also ein Rangbegriff, ein Ausdruck der o¨ffentlichen Stellung eines Ro¨mers, so gibt es eine ho¨here oder eine mindere Form humaner Wu¨rde, Ehre, Geltung121. Das ist in der deutschen Sprache die „Wu¨rde“, zu der man einen Plural bilden kann, z. B. „in Amt und Wu¨rden“, „Kurwu¨rden“. Ist Wu¨rde dagegen ein Spezifikum menschlicher Natur (bzw. in ju¨disch-christlicher Sicht ein Geschenk der Gnade, das erst zu verdienstvollen Taten befa¨higt), so kommt allen Menschen dieselbe Wu¨rde zu122. Insgesamt erscheint jenes u¨berkommene juristische Konzept der Menschenwu¨rde nicht nur dann „griffiger“, wenn es im status negativus um elementare Verletzungen von Personalita¨t und Autonomie geht123. Vielmehr besteht die Gefahr, dass der Schutz der Wu¨rde „ausgeho¨hlt (ist), wenn er von eigener Wu¨rdeleistung (wer entscheidet?) abha¨ngig gemacht wird“124. Jedenfalls mu¨sste deutlicher gemacht werden, dass auch derjenige, dem „Darstellungsleistungen“ misslingen, den Schutz des Grundsatzes von ¨ brigen bedu¨rfte es na¨herer Pru¨fung, der menschlichen Wu¨rde genießt. Im U ob dem „alternativen“ Ansatz etwa im Hinblick auf den Umfang staatlicher Ebenbildlichkeit, in: RAC IV (1959), S. 459; Schadewaldt, Humanitas Romana, in: ANRW I. 4 (1973), S. 43 ff. 121 Vgl. Drexler, a.a.O. (o. FN 120), S. 237, 243. Ebd., S. 239: „fu¨r den Ro¨mer (gibt es) u¨berhaupt kein anderes Ziel seines Lebens als die Mehrung seiner dignitas.“ Ebd., S. 243: dignitas ist „darauf angewiesen, sich zu bewa¨hren in Leistung“. 122 Menschenrechte setzen die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen voraus. Dies finden wir bei den antiken Philosophen, nicht aber bei den antiken Juristen. In Griechenland wie in Rom huldigte man der Statuslehre, die erst Christian Wolff (1679 – 1754) mit seinem Begriff der Rechtsfa¨higkeit im juristischen Bereich u¨berwunden hat. Die Entwicklung der „Wu¨rde“ vom philosophischen Leitbegriff zum subjektiven o¨ffentlichen Recht schildert Oestreich, Entwicklung (o. FN 105), S. 10 ff. 123 Zu den diesbezu¨glichen Definitionen Parsans und Luhmanns vgl. Du¨rig, Pla¨doyer, a.a.O. (o. FN 7), S. 345 f. 124 Starck, a.a.O. (o. FN 8), Art. 1 Rdnr. 6. Dazu Luhmann, Grundrechte (o. FN 80), S. 70: „Der Staat muß voraussetzen, daß der Mensch genug Erfahrung und Verstand besitzt, um seine Perso¨nlichkeit richtig zu handhaben“, das wertethische Axiom durch ein kommunikationstheoretisches (das den Achtungsanspruch des Individuums freilich voraussetzt) ersetzend: Allein der Mensch kann sein eigenes Bewusstsein reflektieren (dazu Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 64, 346 ff.) und Sinn konstituieren.

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Schutzpflichten (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) oder hinsichtlich des vertrackten Problems des Grundrechtsverzichts doch eine „Rolle“ bleibt125. Nicht selten mag der rollenbezogene Wu¨rdebegriff eine Erweiterung des Autonomiebereiches nahelegen. Da es gleichwohl um Autonomie und nicht um vo¨llige Freiheit geht, kann die Ausdehnung des Autonomiebereiches weder schrankenlos sein noch allein zur subjektiven Disposition stehen126.

VII. Menschenzu¨chtung und Menschenwu¨rde Entscheidende Elemente des Wu¨rdebegriffs wurden in der vorindustriellen Epoche gepra¨gt, zeitlich weit vor den bahnbrechenden naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts127. Das Menschenbild Kants, ja auch das der Scho¨pfer des Grundgesetzes, spiegelt insofern noch nicht die grundstu¨rzenden Entwicklungen der Humangenetik der letzten 10 – 15 Jahre wider. Mo¨glich ist heute nicht mehr „nur“ die Verbesserung der menschlichen Lebensumsta¨nde. Die Biologen und Gen-Ingenieure, um nur diese herauszugreifen, erwecken vielmehr „Hoffnung“ auf eine gezielte Beeinflussung des menschlichen Erbgutes, auf eine „Verbesserung“ des Menschen selbst. Er soll langlebiger, scho¨ner, scharfsinniger werden als der alte Adam128. Von den Anwendungsbereichen der Humangenetik interessieren hier vor allem die In-vitro-Fertilisation129 auf der einen Seite und die Manipulation des Genmaterials130 auf der anderen. Jene 125

Der Einzelne kann „die Mo¨glichkeit der Freiheit zur Selbsterniedrigung mißbrauchen“ (Du¨rig) – es „gibt auch keinen ,Grundrechtsschutz gegen sich selbst‘“ (von Mu¨nch) –, er kann wegen der Bedeutung der Menschenwu¨rde fu¨r die verfassungsma¨ßige Ordnung auf die Beachtung dieses Werts aber nicht wirksam verzichten, vgl. Du¨rig, in: Maunz/Du¨rig, Grundgesetz (o. FN 4), Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 21 f., 74; BGHZ 67, 119 (125) = JZ 1977, 173 (Stu¨rner). Zur „individuellen Verfu¨gung u¨ber Grundrechtspositionen“ Pietzcker, Der Staat 17 (1978), S. 527. 126 Vgl. BVerwGE 64, 374; von Olshausen, NJW 1982, S. 2221 ff.; Gusy, DVBl. 1983, S. 984 ff.; Ho¨fling, NJW 1983, S. 1582, 1585; Kirchberg, NVwZ 1983, S. 143. 127 Herzog, a.a.O. (o. FN 16), S. XXX. 128 Vgl. Trockel, Menschenwu¨rde und medizinisch-biologische Forschung, NJW 1971, S. 217 ff. 129 S. o. FN 10; Trotnow, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 51. 130 Ebd., S. 135.

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Befruchtung isolierter menschlicher Keimzellen (Gameten) im Reagenzglas dient der Behandlung von Sterilita¨t. Im Zusammenhang mit den Mo¨glichkeiten der Aufschlu¨sselung des genetischen Codes sind sowohl die Selektion von Keimzellen als auch deren Manipulation, also die Beeinflussung ihrer genetischen Information, grundsa¨tzlich mo¨glich131. Neben dem Problem der Auswahl der Keimzellen132 stellt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht vor allem folgende Frage: Du¨rfen menschliche Zygoten (oder Blastulae), d. h. befruchtete Keimzellen im Mehrzellstadium, die bei der extrakorporalen Befruchtung entstanden, aber nicht in die Geba¨rmutter implantiert worden sind, zu Experimenten verwendet, letztlich also vernichtet werden? 133 Oder mu¨ssten derartige „u¨berza¨hlige“ Embryonen gar „beseitigt“ werden? 134 Wie steht es also mit dem Rechtsschutz fu¨r den nur wenige Tage alten, nicht in der Geba¨rmutter eingenisteten Keimling? Gewiss, es handelt sich bei dem befruchteten, noch nicht eingenisteten, dem § 218 StGB-Schutz damit noch nicht unterfallenden extrakorporalen Ei135 um „vor-vorgeburtliches Leben“. Aber Leben, und zwar menschliches (nicht: animalisches) Leben ist es doch136. Ein unverwechselbares menschliches Anknu¨pfungssubjekt der Lebens- und Wu¨rdebegriffe liegt mit Verschmelzung der Keimzellen vor: ein menschlicher Embryo, dessen Entwicklungsprozess als ein im Wesentlichen kontinuierlicher Vorgang keine scharf abgrenzbaren Stufen aufweist. Ich erinnere an ein Lieblingszitat Du¨rigs aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht (I 1 § 10): „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebu¨hren auch den noch ungeborenen Kindern, schon von der Zeit ihrer Empfa¨ngnis.“ Wenn selbst Missgeburten „so viel als mo¨glich erhalten werden (mu¨ssen)“ (I 1 § 18), wie es bereits 1794 hieß, gilt Vergleichbares heute erst recht fu¨r das keimende menschliche Leben, einschließlich das des extrakorporalen 131

Ebd., S. 138 ( Jaenisch). Ebd., S. 140 (Eser); s. a. Benda, Erprobung (o. FN 9), S. 32. 133 Laufs, Rechtsfragen der ku¨nstlichen menschlichen Fortpflanzung (Manuskript, 15. Jan. 1985), S. 6: die „u¨berza¨hligen Embryonen (sind) dem Untergang oder der Kryokonservierung in Tiefku¨hltruhen oder gar experimentellen Zugriffen ausgeliefert“. 134 Vgl. Eser, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 71, 73. 135 Eser, ebd., S. 28. Hierzu auch § 219 d StGB. 136 Vgl. auch Vallauri (o. FN 95), S. 9, 25. Anders die auf Aristoteles zuru¨ckgehende „Beseelungslehre“, auf die sich Rupp-v. Bru¨nneck, in: BVerfGE 39, 1, 68 (80 f.) berief. S. a. Reis, Lebensrecht (o. FN 101), S. 135 ff. 132

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Embryo. Das befruchtete Ei ist nicht Sache, Kreatur, sondern Mensch, Person – tertium non datur. Die Vorerstreckung des Lebens- und Menschenwu¨rdeschutzes auf diese Fru¨hestform menschlichen Lebens ist verfassungsrechtlich geboten137. Bei der Manipulation menschlicher Zellen ist zwischen dem Gentransfer in Ko¨rper- und dem in Keimzellen zu unterscheiden. Werden somatische Zellen (Gewebezellen) behandelt (sog. Gentherapie), hat dies lediglich fu¨r die Zellen Konsequenzen, die Gegenstand des Eingriffs sind: Das Resultat wird nicht vererbt138. Werden dagegen Keimbahnzellen vera¨ndert, wirkt sich dies auf etwaige Nachkommen des entstehenden Individuums aus. Zumindest bei Eingriffen in Keimzellen – ein vorerst beim Menschen noch nicht anwendbares Verfahren – wird also eine existentielle Schwelle u¨berschritten139. Fu¨r die verfassungsrechtliche Analyse dieses Vorgangs ko¨nnte es zudem wichtig sein, dass bei Gentransfer in Keimbahnzellen eine Zuordnung von physiologischen oder psychologischen Eigenschaften nicht mo¨glich ist. Keimzellen-Experimente mit dem Ziel einer planvollen „Verbesserung“ der Erbsubstanz sind insofern ausgeschlossen. Sie wa¨ren im Ergebnis nichts als der Versuch, die Keimzellen ohne einen in ihnen selbst liegenden Zweck als bloße Versuchsobjekte zu benutzen140. Schon dies wa¨re menschenwu¨rdefeindlich141. Sollte fu¨r einzelne Funktionen in sehr ferner Zukunft einmal doch eine Selektion mo¨glich sein, wu¨rde juristisch dann wohl versucht werden, zwischen „positiver“ und „negativer Eugenik“ zu unterscheiden142. Hier wu¨rde sich erneut die Frage stellen, nach welchen Kriterien ein Eingriff noch als „Heileingriff“ oder bereits als „Optimierung“

137 Vgl. Laufs (o. FN 133, S. 7 f.: der Arzt ist nicht legitimiert „zur Aufopferung eines Teils der Embryonen vor und nach der Implantation … (Es ist ihm nicht) erlaubt, im Interesse einer erfolgreichen ku¨nstlichen Fortpflanzung u¨berza¨hlige Embryonen zu erzeugen und sie dann Experimenten, der pharmazeutischen Industrie und dem Untergang preiszugeben.“ Vgl. Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, 1982, S. 92 ff.; Zippelius, JuS 1983, S. 659; Coester-Waltjen, FamRZ 1984, S. 230 (235). 138 Jaenisch, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 139. 139 Benda, Erprobung (o. FN 9), S. 31. 140 Jaenisch, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 138. 141 Vgl. Laufs (o. FN 133), S. 8 f.: „Bei allen diesen Verfahren benutzt der Forscher keimendes menschliches Leben als Mittel zum Zweck und verletzt darum die Menschenwu¨rde.“ 142 Vgl. Jaenisch, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 138.

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menschlichen Erbgutes klassifiziert werden kann143. Eine „positive Zuchtauswahl“ bra¨chte die Gefahr einer Entindividualisierung mit sich144. Es drohte eine Nivellierung der einzelnen Individuen, ja des Genpools fu¨r zuku¨nftige Generationen145. Mit der Menschenwu¨rde la¨sst sich das alles nicht in Einklang bringen146. Art. 1 Abs. 1 GG anerkennt den Menschen als prinzipiell unzureichenden „Entwurf der Natur“147, an welcher Unzula¨nglichkeit sich das spezifisch Humane entwickelt hat und das es zu schu¨tzen gilt.

VIII. Die Menschenwu¨rde im Verfassungsgefu¨ge Der Zugriff auf das Gengefu¨ge erweist sich als eine ga¨nzlich neuartige Dimension der Gefa¨hrdung der Menschenwu¨rde. Dies gilt nicht nur fu¨r den mit der Objektformel umrissenen Begriff der Wu¨rde, sondern auch fu¨r den systemtheoretischen Ansatz. Wird nicht nur dem einzelnen Menschen das Fundament seiner Wu¨rde, die Freiheit von offener Determination, entzogen, sondern droht die „Chance“, die Menschen als solche in ihren Bedu¨rfnissen, Begabungen und Pra¨ferenzen zu bestimmen, wird Determination grundsa¨tzlich manifest. Programmierte und standardisierte Menschen ko¨nnen in programmierten und standardisierten Rollen keine Identita¨t gewinnen. Das „Identita¨tsproblem“ – ein Leitmotiv in Philoso143 Eser, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 140. Vallauri (o. FN 95), S. 22: Vermutung spricht gegen Zula¨ssigkeit einer Vera¨nderung. 144 Dies gilt vor allem fu¨r das sog. Klonen, die „Produktion“ einer Vielzahl identischer Menschen. Laufs (o. FN 133), S. 9, spricht vom Recht des Menschen „auf eine eigene, unverwechselbare, unwiederholbare Perso¨nlichkeit. Die asexuelle Fortpflanzung des cloning zeigt exemplarisch das prinzipiell Neue, das die biologische Manipulation von herko¨mmlichen Technologien unterscheidet: es geht dabei um die Vera¨nderung des Subjekts der Geschichte und auch des Verfassungsrechts durch menschliches Handeln. Das Klonen von Menschen bleibt schlechterdings unzula¨ssig, weil es gegen ein Verfassungstabu versto¨ßt.“ 145 Eser, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 141. 146 Vgl. auch Laufs (o. FN 133), S. 13: Einer positiven Eugenik „steht das Grundgesetz entgegen. Genchirurgische Eingriffe am Embryo im Interesse einer Standardisierung des Menschen auf ho¨herwertigem Niveau erniedrigte das werdende Leben zu einem bloßen Mittel zum Zweck“. Zo¨gernder Herzog (o. FN 16), S. XXXII. Fu¨r eindeutige strafrechtliche Verbote Mersson (o. FN 9), S. 60, 93, 98. 147 Vgl. Benda, Erprobung (o. FN 14), S. 35.

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phie und Dichtung des 20. Jahrhunderts – ist angesichts dieser Gefa¨hrdungen im Verfassungsbegriff der Menschenwu¨rde sta¨rker zu akzentuieren. Auf eine Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG, teilweise i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, kann insofern erst recht nicht verzichtet werden. Die humangenetischen Gefa¨hrdungen der Menschenwu¨rde lassen sich selbst bei weiter Auslegung der Einzelgrundrechte nicht durchschlagend abwehren148. Die Wu¨rde des Menschen, Art. 1 GG, erweist sich als eine verfassungsrechtliche Notbremse im System des Rechtsgu¨terschutzes. Man darf sie deshalb nicht bei jeder Unebenheit der Strecke ziehen. Hier aber, bei Missbrauch der Technik der extrakorporalen Befruchtung149 sowie beim „Versuch eugenischer Vera¨nderung ku¨nftiger Generationen durch Gentechnik“150 ist es geboten, diese Bremse zu bedienen. Nach den geschichtlichen Erfahrungen kann man nicht mehr darauf vertrauen, dass die von der Forschung151 angestoßenen Entwicklungen unter anderen politischen Umsta¨nden nicht auf das Fu¨rchterlichste missbraucht werden152. In diesem Kontext erscheint dann Du¨rigs bisherige restriktive Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG nicht mehr zureichend. Wir na¨hern uns hier Entwicklungen, die potentiell nicht die einzelne Perso¨nlichkeit, die schon da ist, verletzen, sondern die die Person an sich bedrohen, die also letztlich den Menschen als Subjekt der Geschichte und des Rechts in Frage stellen. Mit der Humangenetik wird ein Gebiet betreten, auf dem nicht die Verletzung einzelner Menschen und ihrer Wu¨rde die Gefahr darstellt, sondern die Zersto¨rung des Verletzbaren. Bei dieser Zersto¨rung dessen, der u¨berhaupt verletzt werden kann, handelt es sich um einen so fundamentalen Eingriff in das Bild 148 Hier zeigt sich auch das Problem der Grundrechtsfa¨higkeit. Das BVerfG leitete allein aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 2 Abs. 2 (i. V. m. Art. 1 Abs. 1) GG die Pflicht des Staates zum Schutz werdenden Lebens ab; BVerfGE 39, 1 (41) = JZ 1975, 205 (Kriele). 149 Trotnow, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 52. 150 Fuchs, Verfu¨gen u¨ber menschliches Leben?, Stifterverband fu¨r die deutsche Wissenschaft, Landeskuratorium Baden-Wu¨rttemberg, 1984, S. 13 (20). Zuru¨ckhaltend Herzog, a.a.O. (o. FN 16), S. XXXIII; Eser, in: Gentechnologie (o. FN 9), S. 141. 151 Die anstehenden Probleme ko¨nnen nicht allein der Binnenkontrolle des Berufsstandes oder dem individuellen Gewissenentscheid u¨berantwortet werden. Aus der Schutzpflicht (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) folgen Schranken fu¨r die Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG). 152 Vgl. Trockel (o. FN 128), S. 218 f. m. FN 48.

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der mo¨glichen Rechtsverletzungen, dass sich dem etwas Ada¨quates nur durch Ru¨ckgriff auf den Grundrechtssatz von der Menschenwu¨rde entgegensetzen la¨sst. Was von den anderen Grundrechten eventuell verletzt werden ko¨nnte, wird hier in der Existenz selbst bedroht. Das Bild von der verfassungsrechtlichen Notbremse bringt es mit sich, dass ihr Ziehen das Unglu¨ck vermeiden soll. Art. 1 GG ist nicht nur als geschichtliche Reminiszenz an schreckliche Verletzungen der Menschenwu¨rde gedacht, sondern soll in Erinnerung an diese fu¨r die Zukunft wirken. Die verfassungsdogmatische Aufgabe, die damit unmittelbar vor uns steht, ko¨nnte nur ein Mensch bewa¨ltigen von der Leidenschaft, Statur und Wu¨rde eines Gu¨nter Du¨rig.

Eher Rechtsstaat als Demokratie: Zielvorstellungen im Widerstand* „Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majesta¨t des Rechts. Die Regierung muß darauf bedacht sein, jede Willku¨r zu vermeiden. Sie muß sich daher einer geordneten Kontrolle durch das Volk unterstellen … Keine menschliche Gesellschaft kann ohne Recht bestehen; keiner, auch derjenige, der glaubt, es verachten zu ko¨nnen, kann es entbehren.“

Mit diesen Worten1 beginnt die Regierungserkla¨rung, die die Ma¨nner und Frauen des 20. Juli 1944 vorbereitet hatten. Das Attentat schlug fehl. Die in der nie verlesenen Erkla¨rung zum Ausdruck kommende Konzeption eines Rechts- und Verfassungsstaates2 charakterisiert auch die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Es fu¨hrt zwar kein direkter Weg von den damaligen Verfassungspla¨nen, insbesondere ihren demokratieskeptischen Teilen,3 in die „neue Ordnung“, die „das Deutsche Volk“, wie es in der Pra¨ambel des Grundgesetzes von 1949 hieß, „dem staatlichen Leben … kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ gab. Aber bezu¨glich der rechtsstaatlichen Elemente liegen die Gemeinsamkeiten auf der Hand, vor allem die gemeinsamen Wurzeln in einer spezifisch deutschen Traditionslinie der Rechtsstaatsidee.

*

Aus: Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift fu¨r Klaus Stern zum 65. Geburtstag, hrsg. von Joachim Burmeister, Mu¨nchen 1997, C. H. Beck, S. 97 – 114. 1 Abgedruckt in Ritter von Schramm, Beck und Goerdeler, 1965, S. 233. Vgl. Kant: „Das Problem der Staatserrichtung ist … selbst fu¨r ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflo¨sbar“ (Zum ewigen Frieden); Ho¨ffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, 1988, S. 56 ff. 2 Zu Wurzeln Hofmann, JuS 1984, S. 9 ff.; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 24 Rdn. 15 ff. 3 Zu den Pla¨nen H. Mommsen, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewa¨hlte Aufsa¨tze, 1991, S. 233 ff., 338 ff.

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Anders als die angloamerikanische rule of law4 und anders als es insbesondere in der amerikanischen Verfassungstradition der Fall war, lag die Bedeutung des Rechtsstaatsbegriffs in Deutschland bis zur ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts weniger in den materialen als in den formalen Qualita¨ten.5 In den Worten Friedrich Julius Stahls,6 des Chefideologen der altpreußischen Konservativen: „Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neuen Zeit. Er soll die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Spha¨re seiner Bu¨rger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbru¨chlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtsspha¨re angeho¨rt, d.i. bis zur notwendigsten Umza¨unung. Dies ist der Begriff des Rechtsstaats, nicht etwa, daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte des Einzelnen schu¨tze, er bedeutet u¨berhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen.“

Den im NS-Staat pervertierten formalen und materialen Rechtsstaat wollten die Ma¨nner des 20. Juli 1944 wiederherstellen.7 Sie waren sich des spezifisch deutschen Spannungsbogens bewusst: der Betonung der frie4 Zu ihr geho¨rt die Verschra¨nkung von individueller und politischer Freiheit – in unserem Staatsdenken kein Allgemeingut; im spa¨ten 19. Jahrhundert ging es verloren. Vgl. Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 557 ff. „Wiederherstellung des unvera¨ußerlichen go¨ttlichen und natu¨rlichen Rechts der menschlichen Person“ war Hauptziel der Kreisauer, Mommsen (Fn. 3), S. 246 f., 248. 5 Die materiale Dimension ist eine spezifisch deutsche Tradition: der staatliche Rechtsetzungsakt als Konkretisierung u¨berzeitlich geltenden Rechts, dazu die Hierarchisierung der Entscheidungsprozesse, vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 764; Kriele, Einfu¨hrung in die Staatslehre, 4. Aufl. 1990, S. 109 ff. Zur formellen Dimension geho¨rt das Organisations-, Zusta¨ndigkeits- und Verfahrensgefu¨ge. 6 Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Auffassung, Bd. II, 3. Aufl. 1856, S. 137 (zit. nach Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986, S. 4). 7 Vgl. Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, 4. Aufl. 1984, S. 373 f., 543 f. Andere sprachen von „Erkla¨rung der unvera¨ußerlichen Freiheitsrechte. Wiederherstellung von Recht, Gesetz und Ordnung“, ebd., S. 545. Goerdeler sagte auf die Frage, „welchen inneren Zustand Deutschland braucht, um zu gesunden und zu bestehen“: „Das Recht muß in der Hand unabha¨ngiger Gerichte gesichert werden. Diese du¨rfen nur nach dem Gesetz, nicht nach Weltanschauung Recht sprechen …“

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densstiftenden Funktion des Rechts einerseits und der Gemeinwohlfunktion des Staates andererseits. Diese Spannung findet sich bereits bei Martin Luther.8 In seiner Stellungnahme zum Vorgehen gegen die Ta¨ufer bejahte Luther die Zula¨ssigkeit von Rechtszwang, da die Schwa¨rmer den a¨ußeren Rechtsfrieden bedrohten. Dies gelte auch dann, wenn sie subjektiv aus Glaubens- und Gewissensgru¨nden handelten: „Obrigkeit soll nicht wehren, was jedermann lehren und glauben will, es sei (wahres) Evangelium oder Lu¨ge. Ist genug, daß sie wehret, Aufruhr und Unfrieden zu lehren.“9

Daraus wurde dann gefolgert, als Untertan habe der Christ auch etwaiges Unrecht der Obrigkeit zu dulden.10 Diese wirkungsgeschichtlich wichtige Interpretation verdeckt die Lo¨sung, die der Widerspruch zwischen Rechtszwang und Liebesgebot (insbesondere dem der Bergpredigt) bei Luther gefunden hat: Der Zwang muss dem Frieden (der Waffenruhe, der Harmonie der Seele, dem sozialen Ausgleich) dienen, dem Leben, dem Dienst am Na¨chsten.11 Daraus leitete Luther seine Forderungen an die Amtsfu¨hrung ab. Die Pflichtenbindung der Obrigkeit entscheidet u¨ber die Bindungswirkung des Eides – eine Hilfe auch in den Gewissensno¨ten der Verschwo¨rer.

I. Nachgeborenen ist schwer fassbar, dass Deutschland die massiven Rechtsverletzungen, die schon zu Beginn des „Dritten Reiches“ begangen wurden (etwa die Verfolgung von KPD- und SPD-Politikern und -Parteiga¨ngern sowie dann die Ermordung von mindestens zehn konservativen Politikern, von Ro¨hm und weiteren 75 SA-Fu¨hrern am 30. Juni/ 8

Vgl. Michaelis, Die Deutschen und ihr Rechtsstaat, 1980, S. 13 ff. Zit. nach Michaelis (Fn. 8), S. 42. Luther wollte nie Rebell sein. Im Bauernkrieg schlug er sich letztlich auf die Seite der weltlichen Obrigkeit. 10 Eine wohl nicht zwingende Konsequenz aus Luthers „Lehre von den zwei Reichen“. Dazu J. Heckel, Lex caritatis. Eine juristische Untersuchung u¨ber das Recht in der Theologie Luthers, 2., erw. Aufl., hrsg. von M. Heckel, 1973. 11 Luthers „Da pacem“-Wunsch richtete sich nicht auf einen Frieden um den Preis der Gewissensfreiheit: „Das weltliche Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter strecken denn u¨ber Leib und Gut und was a¨ußerlich ist auf Erden. Wo weltliche Gewalt sich anmaßt, den Seelen Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Werk“ (Schrift an den christlichen Adel, 1520). 9

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1. und 2. Juli 1934), damals – soweit man sie im Nebel der NS-Propaganda u¨berhaupt genauer wahrnahm – letztlich hinnahm, auch die Verhaftung von mehreren hundert Geistlichen im Jahr 1935. Gewiss, die Wurzeln der parlamentarischen Demokratie reichen bei uns nicht tief; sie bedurften und bedu¨rfen der Pflege. Aber ein Rechtsstaat war Deutschland seit langem. Voltaire und Rousseau hatten unsere Rechtsstaatlichkeit im 18. Jahrhundert neidvoll gepriesen. Der Rechtsstaat war Deutschlands Stolz. Und dann dieser Absturz, schon 1933/34 (das „Erma¨chtigungsgesetz“ vom 24. Ma¨rz 1933 hatte die formale Grundlage fu¨r das Gros der spa¨teren NS-Gesetzgebung geschaffen), das jahrelange Ausbleiben von Aufschrei und Aufstand! In der Genealogie der Faktoren, die zum Absturz in die Barbarei fu¨hrten, nimmt der staatsrechtliche Positivismus der Weimarer Republik,12 die Kombination von prima¨r staatszentriertem Ordnungsdenken und legalistischer Rechtskultur, eine wichtige Stellung ein. Die damalige Betonung der Integrations- und Friedensfunktion des Rechts entsprang dem Bedu¨rfnis, eine als heterogen und zerfallend empfundene Gesellschaft13 zusammenzufu¨hren und -zuhalten. Zugleich versprach der gesetzliche Freiheit gewa¨hrleistende Rechtsstaat relative wirtschaftliche Stabilita¨t in einer Zeit der Umbru¨che und Unruhen. Er sicherte das Grundgefu¨ge der bestehenden Eigentumsordnung gegen Umverteilung. Insgesamt wurde der

12 Warum setzte er der Willku¨r nicht ho¨here Schranken? Warum war die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer keine „Mittwochsgesellschaft“? Differenzierend Ma¨rz, Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: K.W. No¨rr u. a. (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 75 ff. (96 ff.); Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 111 ff.: „Der Rechtspositivismus richtete sich stets mit besonderer Scha¨rfe gegen ein Widerstandsrecht.“ 13 Zum Misstrauen gegen die Wa¨hler (1940/41) Goerdeler (bei Ritter, Fn. 7), S. 576: Es sei unvertretbar, „in einem derart durch Unfreiheit und Propaganda kritiklos gewordenen Volke die ganze Politik … ganz auf das direkte Wahlrecht zu gru¨nden … Der diktatorische oder tyrannische Fu¨hrerstaat ist ebenso unmo¨glich wie der entfesselte u¨berdemokratische Parlamentarismus …“; Mommsen (Fn. 3), S. 248 f.: Goerdelers Staatsbild war „patriarchalisch-liberal“, „im Grunde sehnte er sich … in eine harmonische, konfliktfreie Ordnung zuru¨ck“. In Integrationskrisen wie der Neuordnung Deutschlands nach 1945 wurde jene Traditionslinie – Rechtsstaat als Leitbegriff einer sich selbst organisierenden Rechtsgemeinschaft – erneut wichtig, vgl. Habermas, Faktizita¨t und Geltung, 1992, S. 519 ff., 554 ff., 600 ff.

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Rechtsstaat damals gewiss u¨berfordert.14 Zu wenig erprobt war die Rolle des demokratischen Souvera¨ns als des Tra¨gers politischer Entwicklung, zu distanziert die Haltung der meisten Staatsdiener und Staatsrechtslehrer gegenu¨ber den politischen Parteien und der pluralistischen Massendemokratie, zu unreflektiert die Verschra¨nkung des Rechtsstaates15 mit den Menschenrechten und der Demokratie. In der ga¨ngigen Vorstellung: Gesetz ist Gesetz, lag ein Grund fu¨r den nach 1933 millionenfach ausbleibenden Widerspruch, gerade in Juristenkreisen.16 Legalita¨t, nicht Legitimita¨t war das Thema der Positivisten.17 Der positiven Ordnung zu widersprechen, der Versuchung der Selbstgleichschaltung zu widerstehen, verlangt ja18 die Berufung auf eine u¨berpositive, ho¨here Autorita¨t – eine ideologieanfa¨llige Perspektive.19 Den Gordischen 14 Radbruchs Positivismuskritik (Gesetzliches Unrecht und u¨bergesetzliches Recht, SJZ 1946, S. 105 ff.) schoss u¨ber das Ziel hinaus. Viele Juristen waren nationalkonservativ-autorita¨r gestimmt, hatten ohne Methodenbedenken dem Weimarer Gesetzgeber den Gehorsam versagt. Radbruch, zuna¨chst Wertrelativist, hatte angesichts der NS-Willku¨rherrschaft 1939 dann geschrieben: „Jetzt will mir der Positivismus sogar als ein Ideal erscheinen, das uns bitter nottut“; spa¨ter vertrat er naturrechtliche Auffassungen, ders., Die Erneuerung des Rechts, in: Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1972, S. l ff. Zur Umdeutung der Rechtsordnung ab 1933 Ru¨thers, Die unbegrenzte Auslegung, 4. Aufl. 1991; ders., Ideologie und Recht im Systemwechsel, 1992; ders., Entartetes Recht, 2. Aufl. 1995; Gernhuber, Das vo¨lkische Recht, in: Tu¨binger Festschrift f. E. Kern, 1968, S. 166 ff. 15 Mit Art. 79 Abs. 3 lo¨ste das Grundgesetz diese Aufgabe. Die historisch bedingte Akzentuierung jener staatsbegrenzenden, -formenden Funktion des Rechtsstaats wirkt fort. Der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit sichert den Vorrang der Verfassung. 16 Dass die Beachtung des positiven Rechts das Wichtigste im Staat sei (so bereits Hobbes), glaubten die Positivisten vielleicht – praktiziert haben sie es keineswegs. Sie lieferten das positive Recht der NS-Ideologie aus. Kelsen verwies „die Bedingungen, unter denen Widerstand zu billigen ist, als ,rein moralphilosophische‘ Fragen aus der Jurisprudenz“, Kriele (Fn. 12), S. l13. 17 Dazu Gusy, Staatsrechtlicher Positivismus, JZ 1989, S. 505 ff. (509). 18 Vgl. R. Dreier, Zur gegenwa¨rtigen Diskussion des Verha¨ltnisses von Recht und Moral in der Bundesrepublik Deutschland, ARSP, Beiheft 44, 1991. Geltungs- und Methodenprobleme werden rechts- (Alexy) und staatstheoretisch (Ho¨ffe) ero¨rtert, ebenso verfassungspolitische Konsequenzen des Wertordnungsdenkens (Bo¨ckenfo¨rde). 19 Vgl. die Renaissance des Positivismusthemas nach 1968 – nun als Methodenstreit um Recht und Ideologie, angestoßen durch die kritische Theorie. Radbruchs Verdikt hatte zur Legitimation antipositivistischer Wertejurisprudenz ge-

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Knoten „positives staatliches versus u¨berpositives gegenstaatliches Recht“ hat die Rechts- und Staatsphilosophie seit der Antike zu lo¨sen versucht, zusammen mit Kirchenva¨tern, Historikern, Dichtern. Ein die Problemkna¨uel aller Zeiten, aller Konstellationen durchhauendes Schwert20 vermochte nach wie vor niemand zu schmieden. Aus Positivismus-Sicht handelten „die Widerstandsleistenden … in hohem Grade sittlich, aber rechtswidrig“.21 Selbst Radbruch pla¨dierte nach dem Zusammenbruch, im August 1946, nicht fu¨r ein materiales Naturrecht, sondern betonte den rechtsstaatlichen Wert „formaljuristischen Denkens“. Dieses ko¨nne gegen die Versuchungen des Unrechtsstaates22 wappnen. Die Radbruchsche Formel, zur Verteidigung der Nu¨rnberger Prozesse entwickelt, will den Geltungsanspruch des positiven Rechts denn auch nur dann aufgeben, wenn der Widerspruch des Gesetzes zur Gerechtigkeit und zu den Prinzipien der zivilisierten Menschheit ein so unertra¨gliches Maß erreicht, dass das Gesetz als unrichtiges Recht, als gesetzliches dient. Nun wurde der Zusammenhang von „Vorversta¨ndnis und Methodenwahl“ (Esser) methodisches Gemeingut und lo¨ste das bis dahin salonfa¨hige naturrechtliche Pathos ab. 20 Wer ist zur Definition des u¨bergesetzlichen Rechts berechtigt? Um welchen Begriff der Natur, um welchen des Rechts geht es? Die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsgedankens ist seit E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl. 1964, S. 196, opinio communis. Vgl. Bo¨ckenfo¨rde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Festschrift f. A. Arndt, 1969, S. 65 f.: In der inhomogenen Gesellschaft der Weimarer Republik implizierte die Berufung auf ein absolutes Recht ein „politisches Privileg fu¨r bestimmte Gruppenvorstellungen und -ziele …, sich unter Berufung auf die Absolutheit ihrer Rechtsvorstellung dem Einigungszwang im vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren zu entziehen.“ 21 A. Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 1994, S. 186. Dieser Ansatz schließt den Ru¨ckgriff auf „Recht“ aus. Fu¨r ihn ist dieses identisch mit dem Gesetz, auch mit dem Unrechts-Gesetz. Doehring, Allgemeine Staatslehre, 1991, Rdn. 257, entnimmt dem modernen Vo¨lkerrecht ein Widerstandsrecht: „Die brutale Mißachtung von Menschenrechten … bedeutet … ein international crime. Hiergegen gewa¨hrt das Vo¨lkerrecht … dem Individuum ein Widerstandsrecht; einer Berufung auf Naturrecht bedarf es nicht, denn das Vo¨lkerrecht ist positives Recht.“ Konsequenz dieses Ansatzes: ein Widerstandska¨mpfer ko¨nnte sich auch auf das Recht zur Nothilfe fu¨r andere fundamental Bedrohte berufen, ja auch Staaten ko¨nnten dies; das wu¨rde humanita¨re Interventionen legitimieren, ders., Diskussionsbeitrag, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft fu¨r Vo¨lkerrecht, Bd. 33, 1994, S. 277 ff. 22 Nach Stolleis, Recht im Unrecht, 1994, verlief die Entwicklung des „vo¨lkischen“ Rechts in den verschiedenen Rechtsbereichen unterschiedlich: NS-Recht fraß sich teils zentral, teils nur marginal in das geltende Recht hinein.

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Unrecht zu weichen hat; der Richter, der solch eine Unrechts-Anweisung befolgt, beugt das Recht. Dieser interpretationsbedu¨rftige, umstrittene Ansatz, der sich auch in Art. 7 Abs. 2 der Europa¨ischen Menschenrechtskonvention von 1950 und in Art. 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts fu¨r bu¨rgerliche und politische Rechte von 1966 wiederfindet, beschra¨nkt das ¨ berwinden des Positivismus auf den Ausnahmefall der Diktatur. U

II. Fu¨hrerbefehl und Rechtsstaat bestanden seit 1933 formaliter nebeneinander.23 In dieser Parallelita¨t lag eine Ursache fu¨r die Verspa¨tung des Widerstandes gegen das NS-Regime. Solange der Rechtsstaat seine Ordnungsfunktion zumindest in einem a¨ußerlichen Sinne zu erfu¨llen schien, stellte er trotz der immer schwereren Staatsverbrechen in den Augen einer Mehrheit der bu¨rgerlichen Eliten, der Wirtschaft, des Milita¨rs, der Juristen offenbar ¨ bel dar. Erst der die Wu¨rde des Menschen und damit die verdas kleinere U nunftethische Basis des Rechts negierende Holocaust definierte eindeutig die Widerstandslage.24 Formen gewaltlosen Ungehorsams, wie das solidarische Tragen eines Judensternes seitens nicht-ju¨discher Niederla¨nder, wa¨ren vielen Deutschen als Gefa¨hrdung der Basisfunktion des Rechtsstaats – eben: Ordnung zu halten – erschienen. Amerikaner sehen demgegenu¨ber, schon mangels eines spezifischen Staatsbegriffs, in civil disobedience gegen angeblich ungerechte Gesetze weder eine fundamentale Herausforderung des Staates noch eine Relativierung der Ordnungsleistung des Rechts.25 23 Um die Bewa¨ltigung dieses „Dual State“-Pha¨nomens (Fraenkel, 1941) bemu¨hte sich die rechts- und staatstheoretische Debatte nach 1933. Mit den Stichworten „legale Revolution“ und „konkretes Ordnungsdenken“ wirkte Carl Schmitt terminologisch pra¨gend; die Dualita¨t suchte er durch ein Limitieren des Rechtsstaatsprinzips aufzulo¨sen. Der Versuch musste scheitern. Rechtsstaat und Fu¨hrerprinzip sind unvereinbar. Ein Ernstnehmen der formalen Qualita¨ten des Rechts (Ru¨ckwirkungsverbot, Allgemeinheit des Gesetzes, Gesetzesbindung des Richters, Bestimmtheitsgrundsatz) ha¨tte subversive Kraft entfaltet. 24 Auschwitz war ein Auslo¨ser des Attentats, Graf Vitzthum, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, in: Mehlhausen (Hrsg.), Zeugen des Widerstands, 1996, S. 1 ff. (31 ff.). Zum mangelnden Ru¨ckhalt Mommsen (Fn. 3): „Widerstand ohne Volk“. 25 Vgl. Laker, Ziviler Ungehorsam, 1986, S. 52 ff., 206 ff.

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Nach 1933 begannen Freiheitsabbau und Rechtsperversion nicht mit der Ausnutzung formaler Garantien und Verfahren, sondern mit deren Missachtung. Auch Nationalsozialisten betrieben ja „Naturrecht“, entwickelten ihr Recht etwa aus „natu¨rlichen“ Daseinsqualita¨ten, aus „Blut und Boden“. Die Berufung auf ein ho¨heres, vorpositives Recht, zumal auf das der „artgleichen Volksgemeinschaft“, bildete den Hebel. Spa¨ter, nachdem das „vo¨lkische Recht“ als Mittel revolutiona¨rer Vera¨nderung zur Herrschaft gebracht worden war, kam es zu dem fu¨r totalita¨re Regime typischen (Pseudo-)Legalismus.26 Wegen der juristischen Basis, von der aus Positivisten nach der „legalen Revolution“ des Jahres 1933 – wie schon nach der von 1918/19 – urteilten,27 sahen sich die meisten daran gehindert, Rechtsversto¨ße als solche zu bezeichnen. Wer entlarvte etwa das beru¨chtigte Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 („Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“) oder die barbarischen Nu¨rnberger Gesetze vom Herbst 1935 als „unrichtiges Recht“, als rassistische Rechtsperversion? Selbst die krassesten, nie geahndeten Untaten – etwa die Pogrome vom 9. November 1938 – wurden nicht angeprangert. Wer sie verurteilte, blieb isoliert und brachte sich und seine Na¨chsten in ho¨chste Gefahr. Eine Konsequenz des Dilemmas28 ist: Passivita¨t. Dies ist die bekannte Haltung jenes auf den ersten Blick staatsfernen deutschen Bu¨rgertums – ein unpolitischer Quietismus,29 wie ihn etwa der fru¨he Thomas Mann in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) in Anspruch genommen hat. Im Kern wehrte er sich gegen die Politisierung aller Lebensberei-

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Bo¨ckenfo¨rde (Fn. 20), S. 53 ff., 74; Gernhuber (Fn. 14), S. 195 f. „Der Nationalsozialismus war revolutiona¨r im Verha¨ltnis zum a¨lteren Recht, konservativ im Verha¨ltnis zu den eigenen Normen. Naturrechtliches Denken stand ihm hier wie dort zur Seite.“ 27 Bei Diskontinuita¨t des inneren Gehalts wurde zuna¨chst Kontinuita¨t der a¨ußeren Form gewahrt. 28 Methodenfragen spielten nach 1933 keine entscheidende Rolle. Die Methode war nur eine Magd. NS-Gesetze wurden von regimetreuen Juristen positivistisch, Gesetze aus der „Systemzeit“ antipositivistisch interpretiert; neue Pra¨ambeln oder Ziel- und Zweckbestimmungen erleichterten die Umdeutung. 29 Nicht unpolitisch waren viele Juristen im „Dritten Reich“, sondern letztlich zu politisch: zu wenig resistent gegen Zeitgeist und Politik, zu kooperationswillig bei der Reduzierung des Rechtsschutzes in politisch-sensiblen Bereichen, zu passiv gegenu¨ber der „vo¨lkischen“ Durch- und Umformung des Rechts.

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che, gegen die o¨ffentliche Eingrenzung von Kunst und Kultur.30 Entscheidend sei das Geistige, das Private. Solcherart Nichtpolitik ist natu¨rlich Politik, hat politische Konsequenz. Auch positivistische Passivita¨t nimmt politisch Partei. Wer wie der „unpolitische“ Betrachter ausgangs des Ersten Weltkrieges das Gemeinwesen nur auf den „Geist der Ordnung, Autorita¨t und Pflicht“ aufbaute und im „ ,Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen Volke angemessene, zuko¨mmliche … Staatsform“ sah (und dazu, damals, wie so viele den Krieg verherrlichte) 31, oder wer, wie Generaloberst von Seeckt, dann in der Weimarer Republik den „unpolitischen Soldaten“ propagierte,32 also den, der nur gehorcht und alles weitere der politischen Fu¨hrung u¨berla¨sst,33 der musste im Verhau der Argumente zwischen Gesetz und Recht, staatsbezogenem Gehorsam und gesellschaftlicher Gegengewalt ste¨ ber die Antinomien des Widerstandsrechts, u¨ber Ordnung ckenbleiben. U und Freiheit, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, Gehorsam und Notwehr la¨sst sich mit diesem „unpolitischen“ Ansatz Klarheit nicht gewinnen.

III. Die Widerstandsperspektive des 20. Juli 1944 war gepra¨gt von einem elita¨ren Verantwortungsschema. Widerstand war in den Augen der meisten prima¨r eine Pflicht derjenigen, die politische Verantwortung im Staat trugen.34 Die Entwicklung von Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum 30 Diese politische Diagnose als Betrachtung eines Unpolitischen zu bezeichnen, erweist den „Zauberer“ einmal mehr als Meister der Ironie. 31 Nachweise bei F. Fechner, Thomas Mann und die Demokratie, 1990, S. 42 ff. Wenig spa¨ter warb Thomas Mann bekanntlich fu¨r die Republik – anders als viele Schriftsteller, die zum Untergang beigetragen haben, indem sie der Republik nicht beistanden. Rufe wie „Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist unser Ziel!“ verweigerten die Solidarita¨t aller Demokraten. 32 Fu¨r den apolitischen oder u¨berparteilichen Soldaten (Beamten, Richter usw.) ließ sich zwar einiges sagen. Der Scho¨pfer der „unpolitischen“ Reichswehr ging aber zu weit, wenn er Offiziere und Mannschaften von politischen Willenskundgebungen, der Mitgliedschaft in Parteien und dem Wahlrecht fernhielt. 33 ¨ brigen von der Reichswehr bzw. dann von der Wehrmacht Ha¨tte sich im U erwarten lassen, dass sie die von den politischen Parteien nach und nach gera¨umten Barrikaden zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat ha¨tte besetzen und halten mu¨ssen? 34 Anders als der „bu¨rgerliche“ Ungehorsam wird der „große Widerstand“ traditionell der Verantwortung staatlicher Amtstra¨ger zugeordnet. Als bloßes Fanal

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Ta¨ter ist ein Beispiel fu¨r diese Stufung des Widerstandsrechts. 1942 kam bei ihm der „Durchbruch zur Einsicht, daß er selbst handeln mu¨sse“.35 Er begriff: Von seinen traditionsgehemmten Vorgesetzten und den zo¨gernden ho¨heren Fu¨hrern allesamt konnte die Erhebung nicht erwartet werden: „Die Kerle“, sagte er im Kavalleristenton nach einem dieser erfolglosen Gespra¨che, „haben ja die Hosen voll oder Stroh im Kopf, sie wollen nicht“.36 Schon im Juli 1934, nach der Ermordung des SA-Chefs Ro¨hm und General von Schleichers durch die SS, hatte er die „Mo¨glichkeit einer gewaltsamen Beseitigung des NS-Systems“ besprochen; sie ko¨nne aber „nur von oben her erfolgen“.37 Da die Genera¨le versagten, mu¨ssten – so Stauffenbergs ¨ berzeugung seit 1942 – nun „die Obersten handeln“.38 Damit wanderte U die Aktivlegitimation zur Erhebung in der als gestuft aufgefassten staatlichgesellschaftlichen Ordnung und in der milita¨rischen Hierarchie ein Stu¨ck weit nach unten – eine bereits Luther39 und Kant, aus unterschiedlichen Gru¨nden, unwillkommene faktische „Demokratisierung“ des Widerstandsrechts. Besondere Probleme hatten viele Regimegegner mit dem Treueid, den sie als Offiziere im Jahr 1934 auf die Person Adolf Hitler, nach dem Tod von Reichspra¨sident Hindenburg nun der „Fu¨hrer und Reichskanzler“, gegegen staatliches Unrecht konnte Widerstand in den Augen der Verschworenen des 20. Juli nicht legitim sein. Es musste um die Renaissance gerechter o¨ffentlicher Ordnung gehen. Auch Art. 20 Abs. 4 GG verknu¨pft diese Funktion mit dem Gerechtigkeitsthema – allerdings in einer Sprache, die die Konturen fast verwischt. 35 P. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Bru¨der, 1993, S. 258. 36 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg, 1994, S. 137. 37 Zeller (Fn. 36), S. 32. Im Januar 1942 nannte Stauffenberg „to¨ten“ als Lo¨sung, verwies aber, um Chaos zu vermeiden, darauf, dass ein hoher Befehlshaber mit großem Namen vorangehen mu¨sse. 38 Zit. bei Zeller (Fn. 36), S. 229. 39 Vgl. Mehlhausen, Widerstand und christliches Ethos, in: Doering-Manteuffel/Mehlhausen (Hrsg.), Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa, 1995, S. 17 ff. (die Zwei-Reiche-Lehre habe im deutschen Protestantismus die Ausbildung eines theologisch-ethischen Widerstandsrechts unmo¨glich gemacht); Michaelis (Fn. 8), S. 13 ff., 24; Pfister/Hildmann (Hrsg.), Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt, 1956. Calvin und Althusius proklamierten eine Pflicht zum Widerstand: in geordnetem Verfahrens, nur durch Obrigkeiten. Ockham (Texte zur politischen Theorie, 1995) kannte eine Pflicht zum Widerstand „kraft Naturrechts“: Versagt die Hierarchie, mu¨ssen die Laien die Verantwortung wahrnehmen; „im Fall der Not“ gar den Ko¨nig absetzen.

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schworen hatten. Hitler perso¨nlich galt jetzt die eidbekra¨ftigte Verpflichtung. Dieser Eid bedeutete eine vormoderne Personalisierung der Treuepflicht, die selbst hinter die Verfahren der Feudalzeit zuru¨ckfiel. Neben einem metaphysischen Element besitzt der Eid ein konditionales. Dieses verweist auf die Legitimationsbasis des Verpflichtungsempfa¨ngers. Die Instrumentalisierung des Eides als einseitige, bedingungslose Bindung verfehlte diese Dimension. Treue ist eine Beziehung auf Gegenseitigkeit. Treue kann nicht in Anspruch nehmen, wer selbst treulos ist und das Recht bricht – und keineswegs „schu¨tzte der Fu¨hrer das Recht“ (so aber Carl Schmitt), im Jahre 1934 („Ro¨hmputsch“) so wenig wie im Jahre 1941 („Kommissarbefehl“). Eine verbrecherische Fu¨hrung, die ihr Volk verra¨t, lutherisch: eine Obrigkeit, die ihre Pflichtenbindung abstreift, kann nicht verraten werden.40 Nicht Eidestreue wird Tyrannen geschuldet,41 sondern – aus Treue zum Recht – Eidbruch, Ungehorsam, Widerstand.42 Als Tra¨ger dieses a¨ußersten Notrechts handelt der einzelne43 als Repra¨sentant, Treuha¨nder und Nothelfer des Ganzen, als homo politicus.44 Der 40 Ende 1943 erkla¨rte Stauffenberg, man sei nun gewissensma¨ßig verpflichtet, entgegen diesem Eid, den Hitler gebrochen habe, zu handeln, Hoffmann (Fn. 35), S. 333, 335. 41 Vgl. „Aufruf an die Wehrmacht. Entwurf des Generalobersten L. Beck“ (Beck war als Staatsoberhaupt vorgesehen) bei Ritter (Fn. 7), S. 622 ff. (624): „Eine solche Fu¨hrung … hat den Anspruch auf Gehorsam vor Gott und den Menschen verwirkt, denn sie hat den Eid gebrochen, den sie selbst einst dem Vaterlande geschworen hat, … und damit die Treue, die sie den Eidleistenden schuldig ist, mit Fu¨ßen getreten …“ 42 Bezu¨glich einer Pflicht zum Widerstand verwiesen die Verschworenen auf Hitler. In Mein Kampf, 1925, S. 98/99, hatte er (um seinem Putschversuch zu rechtfertigen) formuliert: „Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengefu¨hrt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angeho¨rigen eines solchen Volkes … Pflicht … Menschenrecht bricht Staatsrecht!“ 43 Die egalita¨r-individualistische Auspra¨gung in Art. 20 Abs. 4 GG unterscheidet sich von jenem Recht, das im Mittelalter oder bei den Monarchomachen nur Institutionen (Kirche, Reichssta¨nde) zuerkannt worden war, in der Tradition Calvins nur A¨ltesten oder Ephoren. Diese sachkundigeren, effizienteren Widerstandsberechtigten sollten das Recht fu¨r den einzelnen ausu¨ben. 44 In a¨hnliche Richtung zielt die katholische Naturrechtslehre, soweit sie kollektive Ausu¨bung des Widerstands verlangt: nur organisiert habe dieser eine Chance, das Unheil ohne Bu¨rgerkrieg zu wenden. Die Forderung des Aquinaten (auf den sich Stauffenberg berief), Widerstand du¨rfe das Unheil nicht vergro¨ßern, korrespondiert dem Gebot der Verha¨ltnisma¨ßigkeit.

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Rebell als der wahrhaft Getreue: bis zum 20. Juli 1944 kein deutscher Topos. Fritz Bauer und Theodor Heuss deuteten demgegenu¨ber schon in der fru¨hen Nachkriegszeit den Widerstand treffend: „[Er ist] eine Form der modernen Menschenrechtsbewegung, als Bewegung aus dem Willen zur Freiheit und aus dem Anspruch des Geistes auf seine Autonomie, nicht zuletzt auch als Ansatz fu¨r die Fundierung einer neuen politischen Moral.“45

IV. Neben der Beendigung der Judenvernichtung – dem obersten Gebot46 – waren die Reinigung Deutschlands von der Schande der staatlichen Morde und die „Rettung des Reiches“ Claus Stauffenbergs Motiv und Ziel. Die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit nach innen wie nach außen (also mehr als „nur“ der formale Rechtsstaat) war das Hauptanliegen seines Bruders, des Juristen Berthold Stauffenberg,47 wie auch das des Kreisauer Kreises und Goerdelers (Regierungserkla¨rung): „Als Erstes sind Recht und Anstand wiederherzustellen … Gehen wir wieder den Weg des Rechts, des Anstands und der gegenseitigen Achtung!“

Angesichts der Verbrechen des Regimes musste die Erneuerung des Rechtsstaats48 in der Tat als vordringliche, sofort und von den Deutschen 45 Steinbach, Einfu¨hrung, in: Zeller (Fn. 36), S. VII ff. (XIV f.). Vgl. H. Juros, Das Recht auf Widerstand als Gewissensproblem, in: C. Arndt u. a., Widerstand in der Demokratie, 1983, S. 7 ff. (14 ff.): „Widerstand als ein Gewissensurteil ist nur dann gerechtfertigt, wenn das moralische Bewußtsein gleichzeitig eine Sache des Rechtsbewußtseins ist … Ein gerechter Widerstand beinhaltet essentiell ein grundentscheidendes Vertrauen in die friedensstiftende Kraft des Rechtes“ (S. 15/ 16). 46 Im August 1942 a¨ußerte Stauffenberg, die deutsche Vernichtungspolitik in der Sowjetunion vor Augen: „Die erschießen massenhaft Juden. Die Verbrechen du¨rfen nicht weitergehen“, Hoffmann (Fn. 35), S. 251; vgl. ebd., S. 249 – 268. 47 Die Bru¨der waren zudem durch Stefan George gepra¨gt, durch seine Dichtung und geistige Bewegung, einschließlich des damit einhergehenden humanistischen Ethos und des Ausgreifens auf ein Neues. Es ging George um Grundwerte der Scho¨pfung, um die Form, von der auch seine Schrift zeugt, nicht um Politik, gar Tagesgeschehen. 48 Dies verkannten die Anha¨nger der im Staatsrecht h. L., wonach „sich das Recht aus sich selbst heraus legitimiere“, Kriele (Fn. 12), S. 128. Demgegenu¨ber Berthold Stauffenberg (Protokoll des Gestapo-Verho¨rs): „Statt einer neuen

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selbst49 in Angriff zu nehmende Aufgabe betrachtet werden – nach dem Sturz des Diktators, der „rettenden Tat“ (Goerdeler), der Voraussetzung fu¨r alles weitere. Fu¨r die Bru¨der Stauffenberg hatte die Frage Vorrang, wie man Deutschland nach seiner erwarteten Niederlage erhalten und ihm durch Su¨hnung die Hoffnung auf Ru¨ckkehr in den Kreis der europa¨ischen Vo¨lker geben ko¨nnte. Jenseits jenes Generalnenners verfolgten die Verschworenen – natu¨rlich – unterschiedliche Vorstellungen. Sie kamen ja aus verschiedenen politischen Lagern, jeder mit eigenen Erfahrungen, Ideen, Wu¨nschen. Selbst im engeren, vergleichsweise homogenen wertkonservativen Kreis um Beck, Goerdeler und Claus Stauffenberg50 gab es immer wieder Meinungsunterschiede, auch im Juli 1944. Eine spezifische Demokratievorstellung besaß „der deutsche Widerstand“, fasst man die einschla¨gigen Gruppen und Stro¨mungen unter diesem Begriff vereinfachend zusammen, nicht.51 Das auf staatsbu¨rgerlicher Gleichheit und allgemeinem, gleichem Wahlrecht aufbauende parteiendemokratisch-parlamentarische System von Weimar, ja die liberale Demokratie insgesamt, so wie sie sie wahrnahmen und verstanden, sahen die meisten Verschworenen (die meisten Deutschen ohnehin) als gescheitert an; desRechtsordnung kamen wir zur Rechtlosigkeit und sogar in weitem Umfang zum Verlust der Rechtsgefu¨hle“; nach Zeller (Fn. 36), S. 288 war dies „die fu¨r ihn zentrale Anklage gegen Hitler und sein Regime …: Sie haben dem deutschen Volk die Maßsta¨be fu¨r eine Bindung an go¨ttliches und menschliches Recht genommen und haben es ihrer Machtwillku¨r unterworfen“. Zu Rechtsgefu¨hl als Begriff Riezler, Das Rechtsgefu¨hl, 2. Aufl. 1946. 49 Deutschland mu¨sse die NS-Greuel aus eigener Kraft su¨hnen, forderten die Bru¨der Stauffenberg. Die Abrechnung mit den Kriegsverbrechern solle der ku¨nftigen deutschen Regierung (nicht also den spa¨teren Siegerma¨chten) u¨berlassen bleiben – ein weiterer Anlass zu einer raschen Erhebung, bevor noch der Gegner die ¨ berdeutschen Grenzen erreicht ha¨tte. Vgl. die geplanten Aufrufe des Chefs der U gangsregierung, die Claus Stauffenberg Generaloberst Beck vorlegte: ein Volk ko¨nne „alles, auch das Schlimmste, mit freiem Mut ertragen und mit unverbru¨chlicher Hoffnung in die Zukunft schauen, wenn es wieder gereinigt, entsu¨hnt und verso¨hnt mit den go¨ttlichen Ma¨chten sein Schicksal auf sich zu nehmen vermo¨ge …“ 50 Er war, so Zeller (Fn. 36), S. 104, „fu¨r Deutschland, nicht fu¨r Hitler in den Krieg gegangen“. 51 Vgl. Hammersen, Politisches Denken im deutschen Widerstand, 1993, S. 4 ff., 142 ff.; Paul Graf Yorcks Worte, zit. in: Zeller, Geist der Freiheit, 5. Aufl. 1965, S. 487 ff. Goerdeler forderte 1940, die angestrebte Umsturzregierung alsbald plebiszita¨r zu legalisieren, Mommsen (Fn. ), S. 239, 286.

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halb, in der Diktion von Julius Leber und Claus Stauffenberg, „keine Revolution der Greise!“ Ziel war ein umfassender, u¨ber die Verfassungs- und Reichsreformpla¨ne der zwanziger Jahre deutlich hinausgehender geistig-politischer Neuansatz – im weiten Rahmen eines demokratischen Regierungs- und Legitimationssystems. Hatten nicht gerade elita¨re bu¨rgerliche und intellektuelle Kreise der Weimarer Republik distanziert gegenu¨bergestanden („Demokratie ohne Demokraten“) und sie gegen die „legale“ NS-Revolution nicht verteidigt? Waren nicht die verfassungspolitischen Vorstellungen, vertreten von den bu¨rgerlichen Mittelparteien und den Konservativen in den zwanziger Jahren (Einfu¨hrung einer von den Berufsverba¨nden zu besetzenden Reichssta¨ndekammer, Ermo¨glichung einer Reichsregierung auf parlaments-„freier“ Grundlage), gepra¨gt von einem korporativen, gouvernementalen, ja obrigkeitsstaatlichen, antipluralistischen und antiparlamentarischen Denken? Zwangen die Bedingungen der modernen Industriegesellschaft – fragte man sich damals auch in vielen anderen europa¨ischen Staaten – nicht zum Bruch mit dem Prinzip liberal-parlamentarischer Demokratie? Berthold und Claus Stauffenberg „verachteten“,52 wie sie in sprachlicher Na¨he zu Stefan George im Juli 1944 formulierten, „die Gleichheitslu¨ge“: nicht im menschenrechtlichen, sondern im sozial nivellierenden Sinne (verko¨rpert in ihren Augen durch den vermassenden Nationalsozialismus und den unmenschlichen „Bolschewismus“). Die Bru¨der „beugten“ sich „vor den naturgegebenen Ra¨ngen“:53 vor den in der Wirklichkeit vorgefundenen, in ihrem Bestand insofern als gerecht empfundenen Unterschie52 Nachfolgende Zitate stammen aus dem Entwurf eines knappen „Eides“, an dem Berthold und Claus Stauffenberg mit dem Germanisten Fahrner noch Mitte Juli 1944 arbeiteten, Hoffmann (Fn. 35), S. 396 f. (Text des „Schwures“); Zeller (Fn. 36), S. 230 ff., 296; ders. (Fn. 51), S. 489. Manches an diesen („Eid“-)Formulierungen erinnert an George (vgl. von Kahler, Stefan George, 1964, S. 26 [„Demokratie wurde abgelehnt, insofern sie die Herrschaft der Massen begu¨nstigt“]) und an Nietzsche („Gleiches Recht fu¨r alle – das ist die ausbu¨ndigste Ungerechtigkeit, denn dabei kommen die ho¨chsten Menschen zu kurz“), manches an Calvins Schema einer gestuften Demokratie, anderes an F.J. Stahls Kontrastierung: Freiheitsgedanke versus emanzipatorische, revolutiona¨re Gleichheit, vieles an Tocquevilles Warnung vor einer potentiell freiheitsvernichtenden Herrschaft der Massen. 53 Natu¨rlich ist zum Versta¨ndnis auch die Begriffs- und Sprachbildung der Zeit zu beru¨cksichtigen. Manches ist inzwischen anders konnotiert. Die Sprache des „Schwures“ ist zudem nicht rechtlicher Natur.

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den.54 Dass der Gleichheitssatz, staatsrechtlich gesprochen, auch einen Differenzierungsauftrag und ein Nivellierungsverbot entha¨lt, war damals, obwohl das Tempo der „Verpo¨belung“ (Bonhoeffer) und der Gleichschaltung der Gesellschaft rasch zunahm, weit weniger deutlich, als es dies aus heutiger grundrechtsdogmatischer Sicht ist.

V. Alle Verschworenen wollten natu¨rlich – in einem allgemeinen Sinne – „Demokratie“. Niemand stellte die Legitimation von Herrschaftsmacht aus dem Konsens der rechtsgleichen Bu¨rger umfassend in Frage. Aber der deutsche Staat sollte „organischer“ und sta¨rker sein,55 der Selbstdarstellung fa¨higer, tiefer fundiert und werthaltiger als die als relativistisch und glanzund wu¨rdelos erachtete Zahlen- und Massendemokratie. Es sollte mehr auf Perso¨nlichkeiten und Verantwortungsbewusstsein ankommen, weniger auf Parteien und Programme.56 Stets blieb eine substantielle Differenz bestehen zwischen dem angeblich „aus den metaphysischen Tiefen des 54 Diese Vorstellungen teilten wichtige Kreise des Widerstands, vgl. Hammersen (Fn. 49), S. 245. Mommsen (Fn. 3), S. 234 (bzw. 242) spricht von der „tiefgegru¨ndeten Abneigung der deutschen Gesellschaft gegen die pluralistische Aufgliederung ,gewachsener‘ Sozialordnungen“, von dem „in Deutschland unausgetragenen Gegensatz traditioneller Sozialordnung und nivellierter Massengesellschaft“. Goerdeler (zit. bei Ritter [Fn. 7], S. 592) notierte im Fru¨hherbst 1943: Die ku¨nftigen „demokratischen Einrichtungen ko¨nnen nur in dem Schrittmaß hergestellt werden, wie es gelingt, das Recht wieder herzustellen … und das deutsche Volk wieder politisch reif zu machen“. 55 Zeller (Fn. 36), S. 206: „Die Deutschen sollten zu einer Demokratie, die noch nie ihr eigen war, erst von oben geleitet werden“; Mommsen (Fn. 3), S. 251 f. (S. 257 zum „organizistischen Gesellschaftsbild“; S. 286 f. zur Distanz zu parlamentarisch-demokratischen Institutionen, besonders in von Hassells Verfassungsentwurf vom Jan./Feb. 1940). 56 ¨ bergang eine „fremdnu¨tzige“ Auch Leber und Claus Stauffenberg sahen im U Milita¨rdiktatur als unumga¨nglich an. Freie, gleiche Wahlen im fru¨hestmo¨glichen ¨ ber den wollten Zeitpunkt sollten dann auf den neuen Staatsaufbau hinwirken. U sich vor allem die Kreisauer Vorstellungen machen. Vgl. Goerdeler (bei Ritter [Fn. 7], S. 607): die „verantwortliche Reichsregierung (erha¨lt zwar) genu¨gend Bewegungsfreiheit, um fu¨hren zu ko¨nnen; unerla¨ßlich aber ist eine Kontrolle durch eine Vertretung des Volkes“. Als Anha¨nger des Pra¨sidialsystems befu¨rwortete er zeitweilig „eine von Wahlen unabha¨ngige Staatsspitze“, womo¨glich also eine restaurierte Monarchie?

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Volksgeistes“ erwachsenen NS-Fu¨hrerkult auf der einen Seite und dem Eliten- und Fu¨hrerbild der „nationalkonservativen“ Kreise auf der anderen. Diesen qualitativen Unterschied formulierte Dietrich Bonhoeffer. In einer 1933 gehaltenen Rede forderte er „echte Autorita¨t“: Der „klaren Begrenzung seiner Autorita¨t (ist der echte Fu¨hrer sich) verantwortlich bewußt“; „die Gefu¨hrten (bringt er) von der Autorita¨t seiner Person weg zur Anerkennung der echten Autorita¨t der Ordnungen und des Amtes“; er weiß, „daß er durch seine Gefu¨hrten der gebundenste, der am schwersten mit Verantwortung gegen die Ordnungen des Lebens belastete, der Diener schlechthin ist.“57

¨ berlegungen: Bei strikter Ablehnung des totaIndirekt belegen diese U len, alles durchdringenden, alles entscheidenden Staates suchte man u¨berwiegend nach einer autorita¨reren Regierungsform, als sie die Erste Republik trotz der Diktaturkompetenz des Reichspra¨sidenten (Art. 48 Abs. 2 WeimRV) geboten hatte.58 Der sta¨rkere Staat und seine Werte wurden erstrebt, nachdem Weimar „versagt“ hatte. Ein Staat war das Ziel, der seiner Verantwortung fu¨r die Freiheit aller gerecht wird, nicht durch sich selbst blockierende Parteien- und Interessenkonflikte gefa¨hrdet. Die „u¨berpolitische“ Einheitsbildung, das Vertiefen legitimer staatlicher Autorita¨t und gesellschaftlicher Homogenita¨t (bis hin zur Idee „konfliktfreien“ Regierens) blieb das große, deutschen Traditionen und Traumata verhaftete Thema. Die Trennung zwischen o¨ffentlicher und privater Spha¨re war zu wahren. Wer traute schon der heterogenen Gesellschaft Legitimation durch Leistung zu? Fu¨r die Schwierigkeiten, die die Verschwo¨rung mit einem fu¨r die Probleme der Gegenwart und der Zukunft tauglichen Demokratiekonzept hatte, gab es weitere Gru¨nde. Drei seien genannt: @ der Typus des „unpolitischen Soldaten“ (als Beck und Stauffenberg sich zur Erhebung entschlossen hatten,59 hatten sie, wie fru¨her schon 57 Hammersen (Fn. 51), S. 248. Fu¨hrer, Fu¨hrung, Fu¨hren waren fu¨r Weimar typische Hoffnungs- bzw. Erwartungsbegriffe. 58 Der Verwaltungsjurist Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg – zwischen Kooperation und Opposition schwankend und 1944 hingerichtet – ist ein Beispiel fu¨r Schwierigkeiten dieser gouvernementalen Ansa¨tze. Vgl. Mommsen (Fn. 3), ¨ bertragung westlicher deS. 240 ff.; auch Trott war „weit davon entfernt, die U mokratischer Prinzipien auf Deutschland gutzuheißen“ (ebd., S. 255). 59 Vgl. Becks Forderung nach Beteiligung der Heerfu¨hrer an den großen poli¨ berzeugung von der politischen Vertischen Entscheidungen und Stauffenbergs U

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Scharnhorst und Gneisenau, diesen Typus abgestreift; Stauffenberg verstand sich als „Soldat im Volk“);60 @ der Typus des „unpolitischen Professors“, des distanzierten, passiven Kritikers von Parlament, Parteien, Demokratie (Stauffenberg war insoweit, betrachtet man die verbreitete Vorliebe fu¨r eine „gu¨ltige Ordnung“ [E.R. Huber] und einen „deutschen Weg“, in bester Gesellschaft); @ die weitgehende Selbstisolation Deutschlands in der Staatengemeinschaft nicht erst seit 1919, die das Land vom westlich-verfassungsstaatlichen Erfahrungsschatz abschnitt (zu diesem Schatz geho¨rt die Verschra¨nkung von Menschenrechts-, Demokratie- und Staatsversta¨ndnis); auch in Widerstandkreisen war die Vorstellung verbreitet, die demokratisch-parlamentarischen Einrichtungen anderer La¨nder stellten fu¨r das deutsche Volk kein geeignetes Modell dar. Die Vorstellung (und Erfahrung), dass Streit, Interessengegensa¨tze, Parteienunterschiede das Natu¨rlichste der Welt sind, dass das Gemeinwohl nicht als etwas Vorgegebenes vom Himmel fa¨llt, sondern sich in den Subsystemen von Gesellschaft und Staat, im Dialog und Antagonismus der Akteure erst herausbildet, kurz: die Lehren von der modernen Massendemokratie waren im weitgehend antipluralistischen Deutschland der dreißiger Jahre kaum verbreitet, geschweige denn mehrheitsfa¨hig. Nach 1933 mussten ihre wichtigsten Vertreter emigrieren. Zu verbreitet war das etatistische Diktum: „Beide Ha¨nde fu¨r das Vaterland, kein Finger fu¨r die Parteien!“ – ein Denken, das dann auch im Widerstand verbreitet war. Diese vordemokratische Ideologie hinderte ihre Personifikation, den greisen Reichspra¨si¨ brigen nicht, in der Staatskrise die Macht dem Fu¨hrer gerade denten, im U antwortung des Offizierskorps und seiner perso¨nlichen als Generalsta¨bler, Hoffmann (Fn. 35), S. 181. 60 War die Reichswehr in Wirklichkeit gar nicht so unpolitisch, sondern hatte, so etwa K.-J. Mu¨ller, mit den Nationalsozialisten eine „Entente“ gegen Liberalismus und Demokratie geschlossen (und nahm deshalb auch den blutigen 30. Juni 1934 hin)? Dieser These zuneigend Klausa, Politischer Konservatismus und Widerstand, in: Steinbach/Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, 1994, S. 219 ff. (S. 222 f.). Goerdeler kritisierte an Stauffenberg den sich einmischenden „politischen Offizier“, Zeller (Fn. 36), S. 221. R.-C. Frhr. von Gersdorff, Soldat im Untergang, 1977, schildert seine Offizierskameraden als zuna¨chst pointiert unpolitisch. In der Fritsch-Krise noch hatte Beck gesagt: „Meuterei und Revolution sind Worte, die es im Lexikon des deutschen Soldaten nicht gibt.“

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der Partei zu u¨bertragen, die den Staat erkla¨rtermaßen in einer „Bewegung“ aufgehen lassen wollte.

VI. Im Horizont des Vertrauens in „die auf das Recht gestu¨tzte Kraft des Staates“61 und des Verlangens nach „starker Staatsfu¨hrung“ (Mierendorff) war es gewiss schwierig, eine demokratische Vision im auf das Individuell-Humane bedachten Sinn zu entwickeln (wenn ihr etwa auch Kreisauer und Sozialdemokraten nahegekommen sind). Ha¨tten sich mit einer solchen Vision obrigkeitstreue deutsche Offiziere und Bu¨rger, noch ganz der romantischen Gemeinschaftsideologie, dem pra¨sidialen Autoritarismus und dem technokratischen Expertentum verhaftet, fu¨r eine Neuordnung auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewinnen lassen? Ha¨tte nicht die Sorge u¨berwogen, Demokratie bedeute Desintegration, parlamentarische Demokratie Parlamentsabsolutismus, Pluralismus „Polykratie“ (Popitz), also fragmentierte Souvera¨nita¨t? War es da verwunderlich, dass bei dieser unterschiedlichen Einscha¨tzung von Rechtsstaat und Demo¨ berkratie das Gewicht seitens der Verschworenen, jedenfalls fu¨r eine U gangszeit, mehr auf Ersteren gelegt wurde, teilweise gar mit hochkonservativen oder staatspatriarchalischen To¨nen? Einfacher und klarer war es mit der Herrschaft des Rechts. Die „Wiederherstellung der vollkommenen Majesta¨t des Rechts“62 war die Kernforderung der geplanten Regierungserkla¨rung: eine traditionell rechtsstaatliche Vision also, gepra¨gt vom Rechtsbewusstsein der Verschworenen.63 Dem61 Goerdeler (bei Ritter [Fn. 7]), S. 611. Zeller (Fn. 36), S. 96: Nach Halder (Gespra¨che Sommer 1941) schwebte Stauffenberg „eine am englischen Vorbild orientierte ,Demokratie mit straffer Fu¨hrung‘ vor, die auf eine mo¨glichst kurze Phase der Milita¨rdiktatur ha¨tte folgen sollen“. Haubach (zit. nach Mommsen [Fn. 3], S. 272) meinte: „Unsere Bewegung muß begreifen lernen, daß Zeremonie, Befehl und straffe Fu¨hrung keineswegs undemokratisch sind.“ 1941 betonte Goerdeler (ebd., S. 273) den „gesunden Gedanken einer fu¨r kurze Zeitra¨ume erforderlichen diktatorischen Durchsetzung der Vernunft“. 62 Diese umfassende Forderung aus der Regierungserkla¨rung Goerdelers (zit. bei Ritter von Schramm [Fn. l]) richtete sich mittelbar auch gegen einen Positivismus, der juristisch scheinperfekt den Vollzug des Holocaust organisierte: Reduktion des Rechts auf leere Legalita¨t, auf zahnlosen Formalismus. 63 Weitere Punkte: Wiederherstellung der o¨ffentlichen Moral, der Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens, der Meinung; Erziehung und Bildung der

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nach Restauration, ein Zuru¨ck zum Ancien Regime, eine Verbindung zu deutschem Anti-Rationalismus und -Modernismus? Keineswegs! Das intensive Zusammendenken von Gesetz, Recht und Freiheit, Zentralthema der Beratungen der Verschworenen, o¨ffnete sich der Idee des konstitutionell-demokratischen Staates. Wa¨re er zu Ende gedacht und nach einem gelungenen Staatsstreich umgesetzt worden, ha¨tte dieser Ansatz wohl bedeutet: allgemeine Gesetze (nicht: gesetzesvertretende Notverordnungen und Fu¨hrerbefehle); Gesetzgebung durch gewa¨hlte Volksvertreter (mit Unklarheiten u¨ber Wahlrecht und -verfahren im Einzelnen, aber wahrscheinlich mit Perso¨nlichkeitswahl, nicht: Klassen- und Proportionalwahlrecht);64 Schritte in Richtung Funktionengliederung, kommunale Selbstverwaltung, Refo¨deralisierung; Gewa¨hrleistung der Pluralita¨t von Gruppen und Interessen; Garantie der Rechtsgleichheit, des Minderheitenschutzes und der wichtigsten bu¨rgerlichen Freiheiten (mit starken Einschra¨nkungsmo¨glichkeiten). Probleme hatten viele Verschworene, wie gesagt, mit der „erlogenen bru¨derei“ (Stefan George), soweit sie als Ausdruck von Nivellierungsdruck gesehen wurde.65 Der Gleichheitssatz, einschließlich des gleichen, gleichgewichteten Stimmrechts der wahlberechtigten Bu¨rger, geho¨rt zur Substanz der modernen Demokratie. Ihn zu respektieren braucht, schon Tocqueville hat darauf hingewiesen, den Sinn fu¨r soziale Unterschiede und fu¨r die natu¨rliche Verschiedenheit der Menschen keineswegs abzustumpfen.66 Probleme sahen viele Verschworenen daru¨ber hinaus in der Jugend auf christlich-religio¨ser Basis (bei Toleranz gegenu¨ber Andersgla¨ubigen); Abschaffung der Lu¨genpropaganda. Letztlich ging es um ein Gemeinwesen, das auch eine geistig-sittliche Dimension aufweist. 64 Nachweise (auch zu Goerdelers Erwa¨gung eines „qualifizierten Wahlrechts“ fu¨r „Gruppen, die sich durch hervorragende Bewa¨hrung und Leistung auszeichnen“) bei Mommsen (Fn. 3), S. 278 f., 283. 65 Erinnert sei an die Berufs- und Lebenswelt von Claus Stauffenberg, an die Gemeinschaft und Schichtung des Offizierskorps – das Gegenteil der Gleichschaltung im totalita¨ren Staat. Von daher mo¨gen sich Probleme mit egalita¨r-individualistischen, gar radikal-demokratischen Herrschaftsmodellen erkla¨ren. Zudem ging die h. L. in Weimar dahin, dass der Gleichheitssatz nur eine Gleichheit vor beziehungsweise unter dem Gesetz sei, der Gesetzgeber also diskriminieren du¨rfe. 66 Dass die Idee der Menschengleichheit keine Rolle zu spielen habe bei der rechtlichen Gestaltung (vgl. Spann, Gesellschaftslehre, 3. Aufl. 1930, S. 165 f.; Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 226 f.), war der Ansatz antiindividualistischer und antidemokratischer Soziologen und Juristen. Mommsen (Fn. 3), S. 280: Moltkes „organizistische Auffassung“ versuchte, „die pluralistischen Kra¨fte der

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Aufgabe, den Bereich der Wirtschaft und der Arbeit neu zu ordnen. Fu¨r manche Widerstandskreise waren das grundsa¨tzliche Recht der Intervention des Staates in der Wirtschaft sowie seine Befugnis, berufssta¨ndische Lo¨sungen anzustreben, eine Selbstversta¨ndlichkeit – wobei „Staat“ ganz traditionell eher unpolitisch gedacht wurde, „oberhalb“ der Gesellschaft mit ihren interessenpolitischen Divergenzen. Mehrheitlich zielte der deutsche Widerstand – so pluralistisch er auch war – auf die Induktion des Gemeinwohls durch staatliche Sicherung von Freiheit, Humanita¨t und Gerechtigkeit, demnach auf einen modernen Rechts- und Verfassungsstaat: mit Gewaltenteilung, Herrschaft auf Zeit, Grundrechten. Dieser zentrale Ansatz ging deutlich u¨ber Verfahrensund Organisationsaspekte hinaus, schloss inhaltliche Ziele ein und fu¨gte sich letztlich auch in die Grundidee der Demokratie – diese verstanden als eine auf Volkssouvera¨nita¨t gegru¨ndete, legitime Organisation des Ge¨ ber die politische meinwesens mit zahlreichen Ausgestaltungsvarianten. U Willensbildung im Einzelnen und die demokratische Fu¨hrungsauslese machte man sich im Widerstand keine abschließenden Gedanken; ebenso wenig stellte man sich den Interessenkonflikten der pluralistischen Industriegesellschaft. In ihren problembestimmten Zuordnungen von gestuften Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren, von Sachversta¨ndigen- und Interessenkulturen hat sich die Demokratie als das Fundament einer lebendigen, ausdifferenzierten, letztlich egalita¨ren Gesellschaft mit dem Rechtsstaatsprinzip als der Bedingung der Mo¨glichkeit individueller Freiheit und staatlicher Gerechtigkeit verbunden.67 Letztlich auf dies, auf diese Verschra¨nkung von Rechtsstaat und Demokratie, zielte die Tat des 20. Juli 1944. Fu¨r den traditionsreichen, unmittelbar angestrebten Kern ihrer Zielvorstellungen, fu¨r die Renaissance der „Majesta¨t des Rechts“, beriefen sich die Verschworenen auf das Recht zum Widerstand und die Pflicht zur Nothilfe – insgesamt ein eher rechtsstaatlicher als demokratischer Ansatz.

Gesellschaft institutionell in den Stufenbau des Gemeinwesens zu binden und sie damit aus einer die bestehende Ordnung gefa¨hrdenden Potenz in eine stabilisierende Gro¨ße zu verwandeln“. 67 Die Verschra¨nkung von Demokratie und Rechtsstaat (responsible government; government of law and not of men) ist auch eine Aufgabe der europa¨ischen Integration.

Qu’est-ce que la justice ?* Le sujet choisi m’a e´te´ sugge´re´ par mon expe´rience de quinze anne´es de coope´ration avec mes colle`gues d’Aix-Marseille, mais je suis suˆr que les anne´es futures apporteront a´ la recherche commune d’autres the`mes de re´flexion. Il permettra de montrer combien il est enrichissant de comparer les manie`res diffe´rentes dont les juristes français et allemands ont traite´ des proble`mes similaires. Une telle comparaison est d’autant plus ne´cessaire que ce sujet choisi touche a` une question juridique fondamentale : qu’est-ce que la justice ? Qu’est-ce qui, dans le syste`me de re´partition des biens et des droits, revient a` chaque individu ? Ce sujet permettra de constater que, dans les situations cre´e´es par les grands bouleversements historiques, toutes les solutions propose´es pour re´parer les injustices contiennent des apories. Il donnera e´galement l’occasion de me´diter sur l’adage bien connu selon lequel on ne re´pare pas une injustice par une autre injustice. Nous savons tous que la poursuite de la justice, ou bien de la le´galite´, est la premie`re taˆche de l’E´tat moderne et le fondement de sa le´gitimite´. Il s’agit du proble`me souleve´ par les fameux « biens des e´migre´s » en France, a` l’e´poque post-napole´onienne, et du proble`me souleve´ en Allemagne, a` l’e´poque actuelle, par les « biens des anciens Junker », c’est-a`dire les terres que posse´daient les hobereaux dans les territoires estallemands. Je comparerai la manie`re dont ce proble`me fut traite´ des deux coˆte´s du Rhin, a` ces deux e´poques diffe´rentes.

*

Dans : Revue de la recherche juridique. Droit prospectif 1998. 2, pp. 759 – 762. – Extrait d’une communication donne´ a` l’Universite´ de Droit, d’E´conomie et des Sciences d’Aix-Marseille a` l’occasion de la remise du diploˆme de Docteur Honoris Causa, le 21 novembre 1997, Aix-en Provence 1998, Presses Universitaires d’Aix-Marseille.

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I. « Fermer les dernie`res plaies de la Re´volution », pour reprendre une expression de Louis XVIII, roi que Balzac qualifiait de « grand politique » : dans ce but la France de la Restauration restitua en nature aux anciens possesseurs leurs biens exproprie´s pendant la Re´volution, dans la mesure ou` ceux-ci e´taient encore « dans les mains de la nation ». Dans le cas ou` ces « domaines nationaux » avaient de´ja` e´te´ vendus aux enche`res – ce qui e´tait le cas pour une tre`s grande majorite´ –, ou donne´s aux nouveaux nobles, l’ancien proprie´taire touchait une compensation, sous forme d’emprunt d’E´tat de trois pour cent sur un capital d’un milliard de francs, le fameux « Milliard des e´migre´s ». En tout, il y eut environ 25000 cas d’indemnisation. Quant aux acque´reurs de biens nationaux, ils e´taient alors prote´ge´s par la loi, ce qui leur permettait, a` l’exemple de Benjamin Constant, de garder leurs biens fraıˆchement acquis. Meˆme si la non-restitution des biens vendus signifie la ratification d’actes re´volutionnaires dirige´s contre les proprie´te´s des e´migre´s, la solution française e´tait un compromis. Avec le temps, elle contribua a` un certain rapprochement entre les « deux France », bien que la nouvelle de Balzac « Le Bal de Sceaux », ce drame des classes sociales en forme de come´die, montre qu’il n’y avait gue`re de mariages entre l’aristocratie de l’Ancien Re´gime d’une part, et la bourgeoisie ou la nouvelle noblesse d’autre part. Les « deux peuples » français, selon l’expression de Louis XVIII, s’inte´gre`rent petit a` petit. La restitution des biens du clerge´ joua d’ailleurs dans ce contexte un roˆle non ne´gligeable. Chateaubriand appela fort justement le dernier acte le´gislatif concernant les biens des e´migre´s, c’est-a`-dire la loi de 1825, « loi de justice, loi de proprie´te´ ».

II. Quelque deux cents ans plus tard, dans l’Allemagne re´unifie´e, la voie choisie pour re´soudre un proble`me paralle`le n’a pas de´veloppe´ une telle force d’inte´gration. Les biens des anciens proprie´taires, confisque´s entre 1945 et 1949 par la soi-disant « re´forme agraire de´mocratique » dans la zone d’occupation sovie´tique, c’est-a`-dire les biens des gros proprie´taires terriens de plus de 100 hectares, qu’on de´signait du nom de hobereaux, ne furent pas restitue´s a` ces derniers apre`s la re´unification. Par contre, les

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biens confisque´s entre 1949 et 1989, c’est-a`-dire a` l’e´poque de la RDA, furent restitue´s a` leurs anciens possesseurs. Lothar de Maizie`re – chef du dernier gouvernement de la RDA – justifia le refus d’annuler ladite « re´forme agraire » (a` savoir la confiscation des grands domaines et la distribution des terres aux petits paysans) en disant qu’« il e´tait pre´fe´rable que ceux qui avaient seme´ pendant quarante ou cinquante ans puissent continuer a` re´colter ». Une belle phrase, mais elle passe a` coˆte´ de l’essentiel : les anciens proprie´taires ne re´clament pas la restitution des biens entre-temps distribue´s ou vendus aux petits paysans, mais re´clament seulement la restitution des biens reste´s dans les mains de l’E´tat ; ceux-ci repre´sentent d’ailleurs une tre`s grande partie des terres cultivables de l’est de l’Allemagne. Sur quoi se fonde la solution allemande ? La raison invoque´e par le gouvernement du chancelier Helmut Kohl pour justifier cette nonrestitution est que Moscou et le dernier gouvernement de la RDA en auraient fait la condition sine qua non de la re´unification. La Cour constitutionnelle fe´de´rale a accepte´ cette justification, bien qu’entre-temps elle soit conteste´e par presque tous les acteurs et te´moins de la re´unification. A l’heure actuelle, le ministre fe´de´ral des finances, devenu l’he´ritier principal des « biens des hobereaux », vend ces terres morceau par morceau, en espe´rant ainsi acquitter les dettes engendre´es par la ruineuse politique socialiste de la RDA, dettes loin d’eˆtre de´finitivement re´gle´es malgre´ les 1000 milliards de marks de´ja` investis a` l’est par la main publique. Le but du gouvernement est noble mais le moyen est contestable. Bonn semble avoir inconsciemment copie´ la Constitution re´volutionnaire de 1799, selon laquelle « les biens des e´migre´s sont irre´vocablement acquis au profit de la Re´publique » ; c’est-a`-dire, si nous remplaçons le mot « e´migre´s » par le mot « hobereaux » : « les biens des hobereaux sont irre´vocablement acquis au profit de la Re´publique fe´de´rale ». La solution allemande inviterait presque a` inverser la devise de 1945 Junkerland in Bauernhand (la terre des hobereaux aux mains des paysans), et a cre´e´ le slogan : Kein Bauernland in Junkerhand (pas de terres de paysans aux mains des hobereaux). Chose absurde, car aujourd’hui les nouveaux proprie´taires ou les nouveaux fermiers ne sont souvent pas des paysans pauvres mais d’anciens fonctionnaires socialistes, qui dirigent des

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latifundia gigantesques et que l’on de´signe du beau nom de « barons rouges ». Certes, il faut reconnaıˆtre qu’il y a une diffe´rence essentielle entre la situation de la France d’alors et la situation de l’Allemagne aujourd’hui : moins d’une ge´ne´ration se´parait la confiscation des biens et le retour des e´migre´s ; presque deux ge´ne´rations se´parent chez nous les confiscations sous le drapeau sovie´tique et le de´sir des hobereaux de re´cupe´rer leurs biens. Ne doit-on pas admettre que le temps qui passe peut annihiler la substance du droit de proprie´te´ ?

III. Ce qui est inte´ressant, c’est la comparaison entre la solution bourbonnienne et la solution « kohlienne » : en France, restitution des biens non vendus ; en Allemagne, non-restitution. Peut-on eˆtre surpris que les 40.000 anciens proprie´taires allemands confronte´s aux « plaies de la re´volution » – la re´volution de type stalinien – ressentent ce qu’ont pu ressentir les e´migre´s confronte´s au de´cret jacobin de 1793 : « Les e´migre´s … sont morts civilement, leurs biens sont acquis a` la Re´publique » ? Laissons de coˆte´ les proble`mes constitutionnels, financiers et historiques et ne retenons que ce re´sultat : a` savoir que cet « abıˆme des re´volutions non ferme´ » constitue l’un des obstacles a` l’inte´gration des deux Allemagne. Il e´tait ne´cessaire et souhaitable que les Allemands tirent une leçon de l’histoire – aus der Geschichte lernen. Mais a-t-on jamais tire´ une telle leçon ? A-t-on vraiment appris quelque chose de l’exemple français ? Si l’on essaie de voir ce que les deux cas ont en commun, on peut dire que, aux deux e´poques mentionne´es, les Français et les Allemands se trouvaient confronte´s avec ce devoir essential : rendre justice a` toutes les victimes de ces deux grands bouleversements re´volutionnaires. Certes, il y avait, a` l’e´poque postnapole´onienne en France, et il y a aujourd’hui en Allemagne, des victimes qui ont souffert bien plus que de la seule perte de biens mate´riels : emprisonnements, tortures, dommages de sante´, effondrement des bases de la vie professionnelle. A` toutes ces victimes, il n’e´tait et il n’est pas possible de rendre justice, quelle que soit la compensation mate´rielle qu’on leur accorde pour leurs dommages immate´riels.

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La question qui se pose est donc la suivante : a-t-on le droit de restituer aux uns – aux ex-possesseurs – leurs biens inte´graux alors qu’aux autres on ne peut offrir qu’une mince compensation ? Au XIXe`me sie`cle, a` l’e´poque du libe´ralisme naissant, des premiers essais de gouvernement repre´sentatif et de la monte´e de la bourgeoisie, dans un souci de ralliement et de protection de la proprie´te´, la re´ponse e´tait « oui ». Aujourd’hui, a` la fin d’un sie`cle qui a subi l’empreinte d’ide´es e´galitaristes, la re´ponse est « non ». La Cour constitutionnelle fe´de´rale d’Allemagne a conside´re´ la non-restitution comme une solution de justice au regard des compensations ne´cessairement insuffisantes accorde´es aux autres cate´gories de victimes. La Cour constitutionnelle hongroise a d’ailleurs au meˆme moment pris une de´cision semblable. Je ne suis pas suˆr – et je ne suis pas le seul en Allemagne a` penser ainsi – que cette e´galisation sche´matique de diffe´rentes cate´gories de victimes puisse trouver une justification d’ordre juridique ou e´thique. N’est-ce pas le devoir de l’E´tat, dans un esprit de re´conciliation ge´ne´rale, de « fermer les plaies » la` ou` il le peut ? Essayons de tirer une leçon de ces tentatives françaises et allemandes pour « fermer les dernie`res plaies » : apparemment il n’existe pas de justice absolue et totale. La « justice » en tant que telle est un principe trop abstrait pour servir de base a` des revendications concre`tes. Chaque cate´gorie de victimes, chaque socie´te´, chaque e´poque a` sa propre conception de la justice, surtout apre`s les grands bouleversements politiques et sociaux. C’e´tait la situation de la France au de´but du XIXe`me sie`cle, c’est la situation de l’Allemagne re´unifie´e. Dans de telles circonstances, on ne peut pas re´parer inte´gralement et de façon absolument juste les dommages cre´e´s par les grands bouleversements. On ne peut alors qu’e´viter d’ouvrir de nouvelles plaies, surtout dans un pays encore blesse´. On ne peut que faire preuve de tact, de sensibilite´, de sens des proportions, de sens de la mesure. Et avant tout il faut prendre en conside´ration les pre´ce´dents de l’histoire et les solutions juridiques applique´es a` des cas similaires dans d’autres pays. Ce sont des attitudes et des qualite´s que l’e´tude du droit e´tranger et du droit compare´ de´veloppe et perfectionne. C’est la`, je pense, l’esprit de notre jumelage.

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Form, Sprache und Stil der Verfassung* A. Der Bezugspunkt: Idee und Funktion der Verfassung Jeder Staat hat eine Verfassung. Als große Gru¨ndungstexte der Gesellschaften formulieren Verfassungen1 Bedingungen legitimer politischer Herrschaft. Dazu setzen sie, urkundlich niedergelegt, die staatlichen Institutionen ein, regeln deren Aufgaben und Kompetenzen und bestimmen die freiheits- und gleichheitswahrenden Verfahren und Grenzen. Letzteres, die herrschaftslegitimierende Gewa¨hrleistung der Grundrechte, der Schutz des Individuums gegen und durch den Staat, bildet den Kern der Idee und der Funktion der Verfassung. Folgt dieser Funktion die Form der Verfassung? Wie ha¨ngen also, erstens, Verfassungsfunktion und Verfassungsform zusammen? Erkla¨rt eine Verfassung etwa mittels einer Pra¨ambel, in welchem Kontext sie entstanden und welchen Werten, Zielen und Gemeinsamkeiten sie verpflichtet ist? Und ¨ bergangs- und Schlussbestimmungen funktionsadsind ihre jeweiligen U a¨quat? Was haben, zweitens, Verfassung und Sprache miteinander zu tun? Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina etwa, ein bloßer Annex zum englischsprachigen Friedensvertrag von Dayton (USA) aus dem Jahr 1995, existiert nach wie vor nicht einmal in einer der Landessprachen2. Was bedeutet das, da doch die Sprache „das geheime Leben der Nation“ ist (Gottfried Benn), fu¨r die Versta¨ndlichkeit und Bindungskraft der Verfassung, was fu¨r den Zusammenhalt und die Lebenschancen des Landes? Welchen Beitrag leistet demnach die Sprache einer Verfassung zur Erfu¨llung * Aus: Verfassungstheorie, hrsg. von O. Depenheuer und Chr. Grabenwarter, Tu¨bingen 2010, Mohr Siebeck, S. 373 – 389. 1 Ero¨rtert wird nachfolgend die Verfassung im modernen, erstmals ausgangs des 18. Jahrhunderts realisierten Sinn. Zu a¨lteren Begriffen (Konstitution, Status, Leges fundamentales) Heinz Mohnhaupt/Dieter Grimm, Verfassung, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 5 ff. 2 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft. Zur internationalen Verflechtung als Wirkungsbedingung moderner Staatlichkeit, Paderborn u. a. 2006, S. 40 ff.

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¨ berzeugungs- und Legitimationsfunkihrer Orientierungs-, Ordnungs-, U tion? „Vom Stil des Rechts“ („Beitra¨ge zu einer A¨sthetik des Rechts“) handelte Heinrich Triepels opus ultimum von 19473 . Wenn, wie Buffon in seiner Antrittsrede vor der Acade´mie française 1753 formulierte (in seinem „Discours sur le style“): „Le style est l’homme meˆme“4, dann fragt sich drittens: Inwieweit ist der Stil einer Verfassung die Verfassung selbst? Trifft der Normierungsstil das „Richtige“, das Nachhaltige, das Zukunftstaugliche? Fo¨rdert der Stil also die Funktionserfu¨llung5? Nicht um ein scho¨ngeistiges Nebenthema aus dem Staatsrecht geht es nachfolgend, sondern um einen wichtigen Topos einer zeitgerechten Theorie der Verfassung6. Nicht konstitutionelle A¨sthetik, Linguistik oder Stilistik werden verhandelt, sondern Normativita¨t, Positivita¨t und Legitimita¨t der Verfassung, letztlich also ihre Bedeutung, ihre Leistungsfa¨higkeit, ihre „Kausalita¨t“ fu¨r den Erfolg des Gemeinwesens.

B. Elemente der Form der Verfassung Die weltweite Verbreitung von schriftlichen, meist von einer Pra¨ambel ¨ ber(oder einem sonstigen Pra¨text) eingeleiteten und einem Epilog aus U gangs- und Schlussbestimmungen abgeschlossenen Verfassungen ta¨uscht. „Die“ Schriftform, „die“ Pra¨ambel, „den“ Epilog gibt es nicht. Der Befund ist vielmehr a¨ußerst heterogen. Insofern la¨dt die Frage nach der Form einer 3 Mit einer Einfu¨hrung von Andreas von Arnauld und Wolfgang Du¨rner erneut vero¨ffentlicht, Berlin 2007. 4 Vgl. Josef Isensee, Vom Stil der Verfassung, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 7. 5 Auf Deutschland zugespitzt lautet die Frage: Welchen Stil hatte das Grundgesetz im Jahr 1949, geschaffen mit wertegewissem, tatkra¨ftigem Optimismus, im Horizont der Rechtsverwu¨stungen des „Dritten Reiches“? Behindern die seitherigen Text- und damit auch Stila¨nderungen das Wahrnehmen der Verfassungsfunktion? Erleben wir die Metamorphose jenes neuen (Nachkriegs-)Verfassungsstils der Straffheit und Stetigkeit in das alte (Zwischenkriegs-)Leiden der (angeblichen) Stillosigkeit, „Unrast und Unsicherheit“ der Verfassung (Heinrich Triepel)? Zum Stil anderer Verfassungen Peter Quint, What is a Twentieth Century Constitution?, in: Maryland Law Review 67 (2007), S. 238 ff. 6 Neuere Arbeiten zur Verfassungstheorie u¨bergehen die Topoi „Form, Sprache, Stil“ weitgehend mit „benign neglect“, vgl. Martin Morlock, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, Berlin 1988; Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung. Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie, Paderborn u. a. 2009.

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Verfassung7 zu differenzierender, vergleichender und wertender Betrachtung ein. I. Die Verschriftlichung der Verfassung Die Grundlagen, auf denen sich ein Volk als politische Einheit konstituiert, werden durchweg schriftlich fixiert, auf ho¨chster Normstufe. Sie sollen als solche prinzipiell außer Streit gestellt und verstetigt werden. Eine geschriebene Verfassung braucht zumindest jeder Bundesstaat: Die Kompetenzen zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten mu¨ssen „sichtbar“ gegeneinander abgegrenzt, die wechselseitigen Garantien, durchaus im Wortsinn, „berufbar“ festgeschrieben werden. Der Geltung und Wirksamkeit einer Verfassung, ihrer rechts-, einheits- und konsenssichernden Kraft hilft die Verschriftlichung prinzipiell auf. Schon die Zehn Gebote erlangten ihre pra¨gende Kraft auch dadurch, dass sie mittels (Schrift-)Tafeln vorgezeigt wurden8. La¨sst sich die weltweite Faszinationskraft geschriebener Verfassungen9 nicht u¨berhaupt mit dem Charisma der drei Buchreligionen vergleichen?

7 „Die Form ist die Mutter der Freiheit“ (Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, 2 Ba¨nde, 4. Aufl., Leipzig 1904/1905). Auf die Form von Verfassungen trifft das insofern zu, als diesbezu¨glich, in den Grenzen der sinngebenden Idee, große Gestaltungsfreiheit besteht, so dass Ernst Stadlers Gedicht „Form ist Wollust“ von 1914 bzgl. der Verfassungsform offene Tu¨ren einrennt. Vgl. Hans Huber, Formenreichtum der Verfassung und seine Bedeutung fu¨r ihre Auslegung, in: Manfred Friedrich (Hrsg.), Verfassung. Beitra¨ge zu einer Verfassungstheorie, Darmstadt 1978, S. 305 ff. (315 ff.). 8 Die Autorita¨t der Zwo¨lf Tafeln litt andererseits ( jedenfalls in der deutschen Pandektistik) nicht darunter, dass sie in schriftlicher Form nicht u¨berliefert sind, ja womo¨glich nie inskribiert waren, vgl. Marie Theres Fo¨gen, Das ro¨mische Zwo¨lftafelgesetz. Eine imaginierte Wirklichkeit, in: Markus Witte, Marie Theres Fo¨gen (Hrsg.), Kodifizierung und Legitimierung des Rechts in der Antike und im Alten Orient, Wiesbaden 2005, S. 45 – 70 (S. 47 ff.). Cicero behauptete, er habe „den virtuellen Text als carmen gelernt“, als Lied, vgl. dies., Das Lied vom Gesetz, Mu¨nchen (Carl Friedrich von Siemens Stiftung) 2006, S. 68. Verwendeten nicht auch alte Rechtssprichworte Reim und Stabreim? 9 Nur Großbritannien erwies sich insoweit als „immun“: eine Verfassung im kontinentaleuropa¨ischen und US-amerikanischen Sinne fehlt. Vgl. Oliver Lepsius, Der britische Verfassungswandel als Erkenntnisproblem, in: Jo¨R N.F. 57 (2009), S. 559 ff. Ein partieller Ersatz ist der im Jahr 2000 in Kraft getretene Human Rights Act 1998, vgl. Jestaedt (Fn. 6), S. 102 f.

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Gu¨te und Erfolg einer Verfassung ha¨ngen auch von ihrem zeitlichra¨umlichen Kontext, ihrer „Ambience“ ab. Verschriftlichung kann diesen Zusammenhang verdeutlichen und seiner Verstetigung dienen. Indem eine Verfassung10 die Ausu¨bung politischer Herrschaft durch Recht ordnet, neutralisiert und rationalisiert sie, ihrer Intention nach, die Auseinandersetzung der Gruppen um Macht und Teilhabe am Sozialprodukt. Die Verschriftlichung macht das ebenso transparent wie sie, im Prinzip, den Prozess der staatlichen Einheitsbildung stabilisiert. II. Das Grundgesetz: Ein Beispiel fu¨r Texttreue? La¨ngst schon entha¨lt der Text des Grundgesetzes11, u¨berpru¨ft man dieses als Paradigma einer zeitgeno¨ssischen Verfassung, nicht mehr das gesamte Verfassungsrecht. Pra¨torische Konstruktionen wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurden (bundes-)verfassungstextlich nicht rezipiert, ganz zu schweigen vom „ungeschriebenen Verfassungsrecht“ bzw. „Verfassungsgewohnheitsrecht“. Ein weiteres Beispiel ist das Prinzip der Bundestreue. Rudolf Smend hatte es schon in der Bismarck’schen Reichsverfassung „aufgefunden“. Der in der Politik ha¨ufig verwendete Begriff „Bundestreue“ kommt im Grundgesetztext nicht vor, ebenso wenig das „Fu¨reinander-Einstehen“, mit dem das Bundesverfassungsgericht den Kern der wechselseitigen Bund-La¨nder-Pflichten umschreibt12. Die europa¨ische Integration relativiert die konstitutionelle Texttreue am sta¨rksten. Man denke nur an die Erstreckung der Deutschengrundrechte auf EUAusla¨nder. Immer mehr Autoren vertreten die unmittelbare Anwendung etwa des Art. 12 GG, gegen seinen Wortlaut, auf alle Unionsbu¨rger. Ein 10 Als „Instrument of Government“ entha¨lt sie die grundlegenden Rechtssa¨tze u¨ber die Organisations- und Funktionsweise der Staatsgewalt sowie, als „Bill of Rights“, die Schlu¨sselaussagen zur Stellung des Einzelnen. Die staatlichen Schutzpflichten (vgl. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) und die sozialstaatlichen Ziele (vgl. Art. 20 und 28 GG) verlangen den aktiven und ausgleichenden Staat. 11 Es sollte die nu¨chtern gehaltene Ordnung eines Transitoriums (Theodor Heuss) sein; Carlo Schmid befu¨rwortete gar ein bloßes Organisationsstatut. Mittlerweile ist das Grundgesetz immer detaillierter und umfangreicher geworden. Da gema¨ß Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG jede A¨nderung eine solche des Wortlauts verlangt, u¨berlagern immer neue Textschichten jenes Stammgesetz der spa¨ten 1940er Jahre. 12 Vgl. Hermann-Wilfried Bayer, Die Bundestreue, Tu¨bingen 1961; Hartmut Bauer, Die Bundestreue. Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik des Bundesstaatsrechts und zur Rechtsverha¨ltnislehre, Tu¨bingen 1992.

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besonders weitreichendes Beispiel ist Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG, la¨sst er doch (europa-)integrationspolitisch bedingte Grundgesetza¨nderungen ohne Wortlauta¨nderung zu13. Zur „Verfassung Deutschlands“ geho¨rt auch das gliedstaatliche Verfassungsrecht. Vor zwei Jahrhunderten bereits, im Jahr 1818, erhielten Bayern und Baden (ein Jahr danach Wu¨rttemberg) grundrechtssichernde Vollverfassungen. 1871 zog das Reich nach, freilich noch ohne Grundrechtsabschnitt. Jenen Landesverfassungen stand die franzo¨sische Charte constitutionelle von 1814 als Leitbild vor Augen, nicht die Bill of Rights von Virginia von 1776. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die deutschen La¨nder dem Gesamtstaat verfassungspolitisch erneut voran. Als Gescha¨ftsfu¨hrer ohne Auftrag antizipierten sie, ohne ihre Verfassungsautonomie voll auszuscho¨pfen, Kernelemente des ku¨nftigen Grundgesetzes. Schon wegen des „de´doublement fonctionel“ fu¨hrender Verfassungspolitiker spielten diese „vorkonstitutionellen“ Konstitutionen dann im Parlamentarischen Rat eine Rolle. Die fru¨hen gliedstaatlichen Verfassungen arbeiteten am moralischen Fundament der deutschen Nachkriegsordnung – ein weiterer Mehrwert der Verschriftlichung. „Erschu¨ttert von der Vernichtung, die die autorita¨re Regierung der Nationalsozialisten unter Missachtung der perso¨nlichen Freiheit und Wu¨rde des Menschen … verursacht hat“ – die Pra¨ambel der Landesverfassung von Bremen vom 21. Oktober 1947 war eine gelungene ethische Ortsbestimmung14. Sie nannte die Nationalsozialisten beim Namen und verhinderte, entgegen mancher Zeitstimmung, Verdra¨ngung. Analoges gelang manchen ostdeutschen Verfassungen nach dem Fall der Mauer, weitgehend frei von Kitsch, ohne falsches Pathos15. Auch eine der13 Folgt dann, wenn die Rechtsprechung ein „neues“ Grundrecht „kreiert“, aus Art. 79 Abs. 1 GG die „Pflicht“ zum Nachfu¨hren des Textes? Oder wa¨chst der Bereich der Grundrechtsfortbildung aus dem Text der Verfassung hinaus, und der Blick in ihren Text ließe nicht mehr das Verfassungsgesamt erkennen? Dieser Gefahr, leidvoll bekannt seit Weimar, sollte Art. 79 Abs. 1 GG begegnen. Gewiss, auch der Text einer Verfassung lo¨st sich vom Urheber ab, gewinnt Selbststand, die in der Urkunde manifestierten politischen Teloi, Traumata und Tra¨ume der „founding fathers“ spielen nur noch eine schwindende Rolle, der objektive Gehalt macht sich geltend – aber auch gegen den Wortlaut der Verfassung? 14 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: VVDStRL, Bd. 46 (1988), S. 7 ff. 15 Vgl. Hans v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesla¨nder. Einfu¨hrung und synoptische Darstellung, 2. Aufl., Berlin 1997.

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art anschlussfa¨hige, moralisch-programmatische Fundierung und politische Integration hat die Verfassung zu leisten, zumal im orientierungsund vergewisserungsbedu¨rftigen Deutschland. Dieser Funktion folgt die Form, mit der Schriftform als wichtigem Flankenschutz. III. Pra¨ambel und Epilog als verbindliche Formelemente Einer Verfassung einen Vorspruch, eine Einleitung voran zu stellen und sie mit einem Epilog abzuschließen, benennt zwei weitere, meist wenig beachtete Formelemente. Fu¨r die raum-zeitliche Situierung und Terminierung einer Verfassung sind ihre Pra¨ambel und ihr Schlussteil von erheblicher, Formales deutlich u¨bersteigender Bedeutung. Vorspru¨che vor normativen Texten – vor Verfassungen und Vertra¨gen, vor Gesetzen, Richtlinien, Verordnungen, Resolutionen etc. – stellen eine seit der Antike verbreitete und umka¨mpfte Praxis dar16. Vorspru¨che sollen belehren und u¨berzeugen, sollen die nackte Norm umkleiden, Gebote flattieren, den Befehl verdecken17. Pra¨ambeln vor Verfassungen sollen, deren spezifischer Funktion dienend, informieren, legitimieren, integrieren. Mo¨glichst sollen sie auch, einleitend bereits, zur normativen Kla¨rung und Kra¨ftigung beitragen, indem sie Werte und Leitbilder, Zwecke und Ziele zum Ausdruck bringen. Fundamente und Kontexte sollen offen gelegt werden. Nicht selten benennen Pra¨ambeln auch in Anspruch genommene vorstaatliche, ggf. auch weltanschauliche Gru¨nde fu¨r den Geltungsund Gestaltungsanspruch einer Verfassung. 16 Vgl. Fo¨gen, Lied (Fn. 8), S. 9 ff. (S. 20 ff. zur europarechtlichen Pra¨ambelPraxis). Zu Spruchformen in den Pra¨ambeln Peter Ha¨berle, Pra¨ambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Festschrift fu¨r Johannes Broermann, Berlin 1982, S. 211 ff. 17 So schon Platons Empfehlung, die Adressaten von Gesetzen sanft (mittels Proo¨mien) auf diese einzustimmen, ja sie zu u¨berreden, auf dass sie „geneigter und aufgrund dieser Geneigtheit gelehriger“ sein mo¨gen, Fo¨gen, Lied (Fn. 8), S. 11. Vgl. Gerhard Ries, Prolog und Epilog in Gesetzen des Altertums, Mu¨nchen 1983, S. 104 ff. (S. 109 „Ehrfurcht vor den Go¨ttern und Vorfahren“ als ein Inhalt von antiken Vorspru¨chen). Der Bundesgesetzgeber verzichtet auf hochtrabende Vorspru¨che und stellt stattdessen bei wichtigen Gesetzen eine Leitvorschrift an die Spitze. Sie soll Ziel und Zweck der nachfolgenden Normen ausdru¨cken. Vgl. etwa Wolfgang Graf Vitzthum/Tatjana Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht. Zur Schutz- und Fo¨rderfunktion von Umwelt- und Technikgesetzen, Berlin 1990.

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Der Status von Vorspru¨chen als positives Recht ist umstritten. Fu¨r die Pra¨ambel des Grundgesetzes etwa, unser Referenzbeispiel, musste das Bundesverfassungsgericht ausdru¨cklich besta¨tigen, dass (auch) sie, soweit sie Verfassungsgrundsa¨tze und Staatszielbestimmungen normiert, Recht, verbindliches Verfassungsrecht, ist18 – also nicht ein rhetorischer Vorspruch, aus Gru¨nden der Dekoration oder der Pieta¨t dem eigentlichen Verfassungstext vorangestellt. Mit bescheidenem Pathos hebt die Pra¨ambel des Grundgesetzes auch nach 60 Jahren ihrer Geltung, Anpassung und Fortentwicklung den Blick weiterhin auf zum Firmament der Ideen: „Verantwortung vor Gott und den Menschen“, verfassungsgebende Gewalt des Volkes, gleichberechtigte Mitgliedschaft „in einem vereinigten Europa“; Dienst am „Frieden der Welt“. Zugleich stellt sich das Grundgesetz mit diesem Vorspruch seinen Legitimationsausweis selbst aus und unterstreicht einigungspolitisch seinen korrespondierenden Geltungsanspruch („fu¨r das gesamte Deutsche Volk“). In dem erhabenen und feierlichen, gleichwohl bestimmten, pra¨gnanten Tonfall klingen, cum grano salis, religio¨se Verku¨ndigung und Glaubensbekenntnisse an. ¨ bergangs- und Schlussbestimmungen, die konstitutionellen „HinDie U terho¨fe“ und „Abladehalden“ ( Josef Isensee) also, enthalten vor allem Aussagen zur Kontinuita¨t oder Diskontinuita¨t der jeweiligen Verfassung (und der etwaigen Fortgeltung von altem Recht), einschließlich der Modalita¨ten ihres Inkrafttretens und ihrer etwaigen dereinstigen Ablo¨sung19. Wie verfassungs- und staatspolitisch brisant solche Epiloge im Einzelfall sein ko¨nnen, la¨sst etwa der in der Neufassung von 1990 umstrittene Art. 146 GG (Geltungsdauer des Grundgesetzes) erkennen20 – letztlich o¨ffnet er das Grundgesetz, in den Grenzen des Art. 79 GG, einer Totalrevision. 18 BVerfGE 36, 1 (Grundlagenvertrag); BVerfGE 77, 137 (Teso). Im Europarecht (etwa vor Richtlinien) und im Vo¨lkerrecht (vor Vertra¨gen oder Resolutionen) sind Vorspru¨che, Erwa¨gungsgru¨nde u. a¨. weit verbreitet. Breviloquenz ist ihnen selten zu attestieren. 19 Ein Beispiel ist Art. 117 GG (voru¨bergehende Fortgeltung von Rechtsvorschriften). Die Norm wurde Vorbild fu¨r die viel weiter gehende Regelung des Art. 143 Abs. 1 GG. Ein anderes Beispiel: Art. 120 GG (Kriegsfolgelasten und Lasten der Sozialversicherung) mit der Sonderregelung des Art. 120 a GG (Lastenausgleich). 20 Zugleich entha¨lt Art. 146 GG eine Anerkennung der verfassungsgebenden Gewalt. Geregelt ist die legale Aktivierung dieser Gewalt, freilich nur aus der Ordnung des Grundgesetzes heraus, also unter Respektierung der gesamten prozeduralen und materialen Vorgaben des Art. 79 GG.

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C. Die Sprache als konstitutionelles Schlu¨sselelement I. Recht und Sprache Recht wird durch Sprache geschaffen, durch Sprache sichtbar und ho¨rbar gemacht, angewendet, fortentwickelt, aufgehoben. Justitia mag eine Augenbinde tragen – geknebelt, stumm ist sie nicht und darf sie nicht sein: Recht-Sprechung ist ihre Aufgabe. Die Sprache, vornehmlich natu¨rlich die verschriftliche Sprache, bildet den in seiner Bedeutung nicht zu u¨berscha¨tzenden Rohstoff des Rechts: „Kein ding sei wo das wort gebricht“ (Stefan George). In welcher Sprache aber wird die Verfassung zur Geltung gebracht? Mit welchen Wo¨rtern, Worten und Wendungen, in welcher Terminologie, Tonlage und To¨nung konstituiert sich das Volk als Verfassungsgeber, errichtet es sich – letztlich schreibend, nicht redend – sein Sprachdenkmal, sein verbalisiertes Staatssymbol? Inwieweit korrespondieren Sprache und Dignita¨t einer Verfassung? Inwieweit beruht die Funktionalita¨t einer Verfassung auch auf ihrer Sprache? Und welche Sprache, welches „Haus des Seins“ (Heidegger), fo¨rdert den Verfassungserfolg? Der erfahrene Staatsmann Talleyrand, kein Heiliger, aber auch kein blutverschmierter Robespierre, forderte bekanntlich: Eine Verfassung sei „courte et obscure“. Andere wu¨nschen sie sich so klar, detailliert und komplett wie mo¨glich, ganz auf die ku¨hle ratio und die Vorhersehbarkeit der Auslegung zielend, selbst auf die Gefahr hin, dass die Sprache damit eher trocken, lakonisch und schmucklos statt volkstu¨mlich, anschaulich und bildhaft ausfa¨llt. Eine Verfassung muss gewiss kein Sprachkunstwerk sein; aber dass sie trotz ggf. knapper Fassung verstehbar ist, dass ihr wahrer, ihr wirklicher, ihr besta¨ndiger Sinn ermittelbar und vermittelbar ist, das ist eine zentrale Bringschuld zumal des demokratischen Verfassungsstaates21. Eine Verfassung denke wie ein Philosoph und rede wie ein Bauer (Rudolf von Jhering). In der Tat! Gerade auch dem Bu¨rger gegenu¨ber darf sie die Aussage nicht verweigern. Auch deshalb sollte sie sich nicht in fremden Vokabularwelten verirren22. 21 So hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache fu¨r die deutsche Sprache, wegen deren demokratiepolitischer Bedeutung, BVerfGE 89, 155 (184 f.); BVerfGE 98, 218 (246): als eine kulturelle Grundlage des Staatsvolkes ist die deutsche Sprache eine unentbehrliche Funktionsbedingung der Demokratie. 22 Ha¨lt sich das Grundgesetz, unser Referenzbeispiel, an die Sprache des Volkes, ist es ein popula¨r gewordenes Spiegelbild der raum-zeitlichen Kultur

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II. Verfassungsadressaten und Verfassungssprachen Die Sprache der Verfassung hat sich an der konstitutionellen Steuerungs-, Kontroll-, Klarstellungs- und Integrationsfunktion zu orientieren. Die Analogie zum Inhalt-Form-Problem in Dichtung und bildender Kunst liegt nahe. Allein mit den Mitteln der Sprache, mit ihren Begriffen, Prinzipien und Systemen, beansprucht eine Verfassung, das Leben des Gemeinwesens in seinen rechtlichen Grundlagen zu ordnen, zu stabilisieren, zu formen und gleichzeitig, ebenfalls in den gebotenen Grenzen, offen zu halten und fortzuentwickeln. Die sprachliche Gestalt unterliegt dabei keinen externen Bindungen. Die verfassungsgebende Gewalt ist auch terminologisch unbegrenzt. Verfassungen richten sich an die Allgemeinheit wie an den Spezialisten, an das Kardinalskollegium der deutschsprachigen Staatsrechtslehrer ebenso wie an deren „Spielkameraden in Karlsruhe“ (Gu¨nter Du¨rig). Deshalb muss eine Verfassung, auch die einer Demokratie, zuvo¨rderst fachsprachlich abgefasst sein. Nicht nur soweit sie sich an die Staatsorgane und die Organwalter wendet, ist poetische Strahlkraft nicht geboten; hermetische Unversta¨ndlichkeit ist verboten. Zugleich muss eine Verfassung, wie gesagt, gemeinsprachlich sein, will sie ihre Wirklichkeit den Bu¨rgern vermitteln, also den Grundbestand des politischen Konsenses und die Funktionsund Kommunikationsbedingungen einer Demokratie terminologisch hegen. Friedrich Naumanns Vorstellung von einer volkssprachlichen, ja volkspa¨dagogischen Verfassung freilich ging zu weit. Was aber ist eine „sprachlich korrekte“, eine terminologisch „funktionale“, eine linguistisch „erfolgreiche“ Verfassung? Wie also ist sie zu formulieren? Die Ordnungs- und Orientierungsfunktion einer Verfassung verlangt sprachliche Eindeutigkeit bezu¨glich der Grundlagen des Staates. Vor allem beim Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip darf es keine terminologisch faulen oder flauen (Formel-)Kompromisse geben. Zugleich zielen Verfassungen im Allgemeinen auf das Grundsa¨tzliche, das Stetige, das Stabile. Den politischen Kra¨ften sind freilich – das verlangt auch das demokratische Prinzip – Gestaltungsspielra¨ume offen zu halten, etwa in der BilDeutschlands? Oder handelt es sich um einen unzuga¨nglichen Text, voll nichtsnutziger Ambiguita¨t, ohne Emotion, ohne die Macht des Pathos? Vgl. Hans Schneider, Gesetzgebung. Ein Lehr- und Handbuch, 3. Aufl., Heidelberg 2002, § 13 („Stil und Sprache der Gesetze“), eine ins Operative zielende, einen großen Erfahrungsschatz aufbereitende Untersuchung.

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dungs-, Sozial- und Finanzpolitik. Keineswegs jeder Herrschaftsakt ist konstitutionell vorgegeben, auch Rechtspolitik erscho¨pft sich nicht im Verfassungsvollzug. Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung sind, nicht nur in der Ordnung des Grundgesetzes, je eigensta¨ndige Staatsgewalten. Die Poesie der Verfassung macht die Prosa der Gesetze nicht u¨berflu¨ssig. Nicht einmal alle wesentlichen Fragen lassen sich sprachlich-kasuistisch vorab formulieren, geschweige denn beantworten. Die zu regelnde Wirklichkeit ist zu komplex und in zu rascher Bewegung, als dass sie – selbst in dichterischer Sprache – erscho¨pfend auf den Begriff gebracht werden kann. Geboten ist eine zeitlose Sprache. Auch ku¨nftige Generationen als potentielle weitere Adressaten einer Verfassung mu¨ssen ihre Terminologie verstehen und als pra¨gend empfinden ko¨nnen. Verfassungen sind eben „dazu bestimmt, altes Recht zu werden“ (Niklas Luhmann). Sprachliche Versta¨ndlichkeit und volkstu¨mliche Vertrautheit unterstu¨tzen ihre intendierte gemeinschafts- und einheitsbildende Kraft. Besonders soweit es um Organisation und Verfahren geht, sind klare, rechtstechnische Wendungen fo¨rderlich. Zeitgeistgefa¨lligkeit wa¨re hier so scha¨dlich wie Ambivalenz, Banalita¨t so unscha¨dlich wie Hergebrachtes. Freiheitssicherung, Schutzgewa¨hrleistung und Kontrolle verlangen eine den Bu¨rgern zuga¨ngliche, sie informierende, sie „mitnehmende“ Sprache. Gelegentliche Fanfarensto¨ße sta¨rken im allgemeinen Getu¨mmel. „Im Staate geht es immer nur mit Ach und Krach“ (Smend). Deshalb mu¨sste die konstitutionelle Sprache, als ein Mittel der Politik, zugleich suggestiv und defensiv sein, fest und offen, farbig und neutral – die Quadratur des Kreises. Dem „Ach und Krach“ der Politik, den vielfa¨ltigen Versta¨ndnissen von Freiheit, Gleichheit und Solidarita¨t jedenfalls ist Raum zu geben, auch dem durchweg freiheitsfo¨rdernden Miteinander und Gegeneinander der Institutionen23. Offene rechtspolitische Diskussion ja, aber „nicht nur nach dem Motto“, wie bekommt „jeder sein Anliegen ins Grundgesetz, sondern auch unter der Fragestellung: Wie weit will man eigentlich das Grundgesetz mit Einzelzielen bestu¨cken?“24 23

Zu Herkunft und fortbestehenden Angemessenheit der Gewaltenteilungslehre Ernst-Wolfgang Bo¨ckenfo¨rde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl., Berlin 1981; Christoph Mo¨llers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, Tu¨bingen 2005. 24 Bundespra¨sident Horst Ko¨hler, F.A.Z. Februar 2009. – Gibt es aber nicht auch ein qualifiziertes, ja dro¨hnendes Schweigen der Verfassung?

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III. Das Grundgesetz als verfassungssprachliche Referenz Wie eine Verfassung als solche hat auch ihr sprachliches Element unterschiedlichen Funktionen zu dienen. Das verlangt nach Kompromissen, nach einem Kurs zwischen Pra¨zision und Popularita¨t. „Vertikaler“ und „horizontaler“ Vergleich von Verfassungssprachen kann hier behilflich sein. Untersucht man diesen Aspekt fu¨r Deutschland, ist evident: Das Grundgesetz weist Bezu¨ge zu fru¨heren deutschen (glied- und gesamtstaatlichen) Verfassungen ebenso auf wie zu ausla¨ndischen Vorla¨ufern und Vorbildern. Traditionelles findet sich neben Neuem. Auf den Schultern verfassungssprachlicher Riesen stehend, ist das Grundgesetz selbst eine Gro¨ße geworden, ein sprachkra¨ftiger, lebendiger, werbender Exportschlager im Wettbewerb der Rechts- und Verfassungskulturen. Auch außerhalb Europas wird das Grundgesetz nach Aufbau, Inhalt und Sprachstil partiell rezipiert und umfassend bestaunt. Die Grundrechtecharta der Europa¨ischen Union etwa, im Jahr 2000 proklamiert, lehnt sich an das Grundgesetz (in dessen Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht) an. Die in einer „Sternstunde der Nachkriegszeit“ (Meinhard Hilf) gewa¨hlte Sprache des Grundgesetzes diente der Abgrenzung ebenso wie der Bestimmung der neuen, eigenen Position25. Von Menschenwu¨rde etwa, dem neuen Fundamentalprinzip (Art. 1 GG), war in der Weimarer Reichsverfassung nur adjektivisch, an versteckter Stelle, die Rede. Nun, im Jahr 1949, wurde die Wu¨rde des Menschen gleich eingangs als „unantastbar“ festgeschrieben, in (feiertags-)sprachlichem Anklang an die Allgemeine Menschenrechtserkla¨rung von 1948, als Kartierung und Sicherung des Grundes des Grundgesetzes. Zugleich greift der geniale Minimalismus dieser Bestimmung („Die Wu¨rde des Menschen ist unantastbar“) in die Sterne, rhetorisch-pathetisch und kantisch-metaphysisch. Die Lakonie und Poetizita¨t dieses Satzes, vor allem seine Dogmatik und Strahlkraft haben etwa Gu¨nter 25

Der Parlamentarische Rat benutzte die Weimarer Reichsverfassung von 1919 und, etwa bzgl. des Versammlungs- und des Petitionsrechts, die Paulskirchen-Verfassung von 1849 als Vorbilder. Die staatskirchenrechtlichen Regelungen Weimars wurden gar in toto u¨bernommen (Art. 140 GG). Der Amtseid des Bundespra¨sidenten (Art. 56 GG) wurzelt in der Formulierung des Art. 42 WRV. Die Va¨ter und Mu¨tter des Grundgesetzes bekannten sich zu Anknu¨pfungen auch dann, wenn die entsprechende Formulierung schon in Weimar umstritten war (etwa die „allgemeinen Gesetze“, nun Art. 5 Abs. 2 GG), oder wenn die Wortwahl bereits seinerzeit als abgestanden galt (etwa Art. 7 Abs. 4 GG). Eine andere Ausdrucksweise ha¨tte freilich das als stabilisierend perzipierte Kontinuita¨tsband zerrissen.

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Du¨rig jahrzehntelang bescha¨ftigt26. Allein schon Wortwahl und Akzentuierung des Eingangsartikels o¨ffneten den Zugang zu einer Ebene besonderer Sensibilita¨t27. IV. Verfassungssprachvergleich, im Horizont des Grundgesetzes Angesichts der Verbreitung und Vertiefung der Integration Europas ist der Verfassungsvergleich besonders zu intensivieren, die Suche nach Gemeinsamkeiten einer werdenden europa¨ischen Verfassungsstaatlichkeit, einer sprachlich fassbaren europa¨ischen Verfassungsidentita¨t. „Horizontale“ Vergleichung war dem Parlamentarischen Rat aus zeitlichen und wohl auch sprachlichen Gru¨nden seinerzeit nicht mo¨glich. Die Besatzungsma¨chte beeinflussten die konkrete Sprachgestaltung nicht. Bezugnahmen auf die Schweiz blieben distanzierender Art: keine direkte Demokratie. Nun aber gilt es! Mehr EU-interne Verfassungsvergleichung und mehr Forschung u¨ber „multilevel constitutionalism“ sind geboten – zur Festigung einer europa¨ischen und Wahrung der nationalen Identita¨t, innerhalb einer fragmentierten und fu¨hrungslosen globalen Verantwortungsgemeinschaft des Vo¨lkerrechts. In angelsa¨chsischen La¨ndern wird die Rechtssprache auch als „literary text“ analysiert. Ein „literary approach to the constitution“ fehlt bei uns (noch). Dem „law as literature“-Zugriff ist das Grundgesetz28 bisher entgangen, ebenso der „Reinigung“ seiner Sprache von den ma¨nnlichen Rol-

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Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Die Menschenwu¨rde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, S. 201 ff. 27 Art. 1 GG kennzeichnet den knappen, pra¨gnanten Sprachstil, der im Grundrechtsteil urspru¨nglich vorherrschte. Eine Parallele findet sich in der eindringlichen Verknu¨pfung des nationalen Schicksals mit der europa¨ischen Integration (Pra¨ambel, Art. 24 Abs. 2 GG, seit 1992 der freilich in die Breite gegangene „Europa-Artikel“ 23 GG, der vor allem materielle Bedingungen fu¨r die Ratifikation von europa¨ischem Prima¨rrecht statuiert). Mit Recht ist heute von einer Europa¨isierung der mitgliedstaatlichen Verfassungen und einer Konstitutionalisierung des Europarechts die Rede. 28 Seiner Sprache hat freilich auch kein Dichter oder Metaphernschmied Flu¨gel verliehen. Anders in der Schweiz: Adolf Muschg entwarf Teile der Pra¨ambel der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999. Christa Wolf formulierte in der Wendezeit die Pra¨ambel des Verfassungsentwurfs des (Ostberliner) Runden Tisches.

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lenbezeichnungen und der Einfu¨hrung „geschlechtsneutraler“ Terminologie. Eine knappe Verfassung du¨rfte ha¨ufig stabilita¨tsfo¨rdernder sein als ein weitschweifiges Dokument. Die ku¨rzesten Artikel des Grundgesetzes (Art. 30: „Bundesrecht bricht Landesrecht“; Art. 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“) sind geglu¨ckte, einga¨ngige Formulierungen. Abschnitt VII des Grundgesetzes entha¨lt zwar die la¨ngsten Sa¨tze, wahrt aber mittels ¨ bersichtlichkeit. Der Abschnitt „Die RechtspreAufza¨hltechnik meist die U chung“ ist besonders wortreich. Die Prozessgrundrechte freilich sind von imponierender Ku¨rze und sprachlicher Frische. Der allerku¨rzeste Satz steht im Grundrechtsteil: „Eigentum verpflichtet“. Knapper kann keine ¨ berdurchschnittlich lang und durchweg ganz prosaisch gerieNorm sein! U ten die meisten Grundgesetza¨nderungen der letzten Jahrzehnte. Man denke an Art. 12 a, 13, 16 a, 29, 104 a und b, 106 GG, von Abschnitt X a (Verteidigungsfall) ganz zu schweigen. Die No¨te des politischen Kompromisses fu¨hrten zu Stilbru¨chen und Unwuchten. Viele A¨nderungen ignorieren die „lapidare Sprachgestalt“29 des Grundgesetzes, manche gefa¨hrden gar seine innere Balance und seinen leitbildartigen Charme. Fremdwo¨rter sind dieser Verfassung so fremd wie ein sprach-nationalistischer Verdeutschungsfimmel: keine Transformation etwa der „Bundesrepublik“ in „Bundesfreistaat“. Aber die deutsche Sprache als Verfassungssprache muss dem Grundgesetz bleiben30. Ausschmu¨ckende Adjektive fehlen, ebenso Alliteration, Klangspielerei und Sprachbilder. Auch argumentative Passagen und symbolische, rhetorische oder metaphorische Kniffe sucht man vergeblich. Das Grundgesetz will beim Wort genommen, zur Aussage aufgefordert werden. Insgesamt ist seine Sprache eher wortkeusch, abstrahierend und „o¨ffnend“. Nahezu vollsta¨ndig wird auf edukative, suggestivappellierende Begriffe verzichtet. Diese terminologische Kargheit und Zuru¨ckhaltung haben dem Grundgesetz – seiner integrativen und „normativen Kraft“ (Konrad Hesse) – keineswegs geschadet, im Gegenteil. Weil es 29

BVerfGE 74, 51 (57). Ob ausdru¨ckliches Verankern der deutschen Sprache im Grundgesetz angezeigt ist, bleibt umstritten, vgl. Michael Stolleis, Deutsch ins Grundgesetz?, in: Merkur 63 (2009), S. 429 ff. Die Sprache des Grundgesetzes jedenfalls hat die deutsche zu sein, die des Volkssouvera¨ns. Sie allein ermo¨glicht die verfassungsgebotene parlamentarisch-demokratische und rechts- und sozialstaatliche Ordnung. Zur restriktiven franzo¨sischen Regelung vgl. Rainer Haas, Franzo¨sische Sprachgesetzgebung und europa¨ische Integration, Berlin 1991. 30

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weder mit gesellschafts- und staatspa¨dagogischen Kraftspru¨chen bedra¨ngt noch eine erzieherische „Tyrannei der Werte“ aufrichtet, weil es Fundament, Rahmen, Organisation, ja auch Werte des Gemeinwesens einga¨ngig und nu¨chtern formuliert und ebenso, ja vorab, gleich im Ersten Abschnitt und spa¨ter auch verfassungsprozessual erscho¨pfend abgesichert (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG), die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Bu¨rger gewa¨hrleistet, ist dem Grundgesetz gemeinschaftsbildende und einheitsstabilisierende Qualita¨t zugewachsen. Das Grundgesetz kombiniert, soweit mo¨glich, generelle Versta¨ndlichkeit und Orientierungskraft mit Freiheitlichkeit und spezieller Rechtssicherheit. Seine Terminologie erwies sich als zukunftsoffen und werbend. In Teilen, man denke etwa an die Menschenwu¨rde, schla¨gt sich seine Begrifflichkeit bereits im allta¨glichen Sprachgebrauch nieder. Inhalte des Grundgesetzes, die den modernen Verfassungsstaat in geglu¨ckter Weise umschreiben und schu¨tzen, beeinflussen die gesamteuropa¨ische Verfassungsentwicklung. Insgesamt unterstu¨tzt damit auch die Sprache die konstitutionelle Funktion, zumal die Einheitsbildung, die Konsenssicherung und Selbstdarstellung des Gemeinwesens.

D. Der Stil der Verfassung – die Verfassung selbst? I. Ein verfassungsspezifischer Stil? Verfassungen zielen prima¨r, auch stilistisch und rezeptionspolitisch, auf den Versta¨ndnishorizont des Juristen. Der Verfassungsrechtler bleibt der letztlich Maßgebende in der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Peter Ha¨berle), mo¨gen sich auch „alle“ fu¨r kompetent und zusta¨ndig halten, in Verfassungsfragen mitzureden. In den angeblich „schon technisch viel komplizierteren“ steuer-, erb-, sozialversicherungs- oder prozessrechtlichen Fragen wu¨rde man sich dieses Mitreden nie trauen. Weisen Verfassungen charakteristische Stilmerkmale auf ? Gibt es einen „typischen“, einen spezifischen Verfassungsstil? Die Ausdrucks- und Gestaltungsweise, der Stil also, ist etwa beim Grundgesetz sachlich-nu¨chtern, bildlos, streng. Bei aller neuerlicher „Aufgeschwemmtheit“ (freilich ohne barocke Schno¨rkel) ist diese Verfassung – jedenfalls auf den ersten Blick – pra¨gnant und kategorisch, mit u¨berwiegend festen Begriffen und Prinzipien, systematisch geordnet, pragmatisch (um nicht zu sagen: unsystema-

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tisch) fortentwickelt. Abwechslung ist nicht ihr Stil: variatio non delectat. Ein zweiter Blick ins Grundgesetz zeigt freilich, dass jedenfalls diese Verfassung keinen einheitlichen Stil besitzt. Wahrscheinlich gibt es ihn ohnehin nicht, den konstitutionellen Stil. Naheliegender Weise existieren deren mehrere, in den institutionellen Abschnitten z. B. ist der Stil ein anderer ¨ blicherweise werden bei der Verfassungsgebung als im materialen Teil. U und spa¨ter dann bei der Verfassungsa¨nderung diverse Stile miteinander kombiniert. Der Gesamtstil kann dadurch verwischt werden. Auch diese „Stil-Fragen“ sind wichtig im Hinblick auf die normative Wirksamkeit und den politischen Erfolg der Verfassung. Aus funktionaler Perspektive – „form follows function“ – seien einige Ausdrucks- und Gestaltungselemente des Grundgesetzes, unseres bevorzugten Referenzbeispiels, skizziert, in der Abfolge seiner Abschnitte.

II. Zum Stil des Grundgesetzes und dessen Konsequenzen Bemerkenswert ist zuna¨chst das wertzentrierte Credo des Grundgesetzes: sein Bekenntnis zu den „Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 2 GG). Wendet sich das Grundgesetz bei diesem Entfalten seiner legitimierenden Kraft nicht zu Recht auch an das Gemu¨t? Wenn Josef ¨ bernahme einer Isensee31 diesbezu¨glich von „Wallungswerten“ spricht (in U respektlosen Formel von Gottfried Benn), geht die Lust am „e´pater le bourgeois“ mit ihm durch. Wir sollten auch nicht jede Poeten-Selbstinterpretation fu¨r bare Mu¨nze nehmen. Der Stil des Grundrechtsabschnitts ist besonders lapidar. Gelegentlich leidet die juristische Pra¨zision sogar, klagt das Bundesverfassungsgericht32, am „feierlichen Pathos einpra¨gsamer Kurzformeln“. Stilpra¨gend, von suggestivem Sog, sind Grundgesetzsa¨tze wie: „Jeder hat das Recht auf Leben und ko¨rperliche Unversehrtheit“; „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“; „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“; „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Komplexe, normgepra¨gte Garantien wie Eigentum, Erbrecht, Ehe und Familie sind – das geho¨rt zum Anschaulichkeitsstil des Grundgesetzes – ihrer Technizita¨t entkleidet. Um ihren Sinngehalt zu erschließen, bedarf es daher, unterstreicht auch das 31 32

S. o. Fn. 4, S. 13 (auch „Rauschwerten“). BVerfGE 32, 54 (72).

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Bundesverfassungsgericht33, „der Einbeziehung insbesondere der Regelungstradition und der Regelungsgeschichte“. Die Kehrseite eines konstitutionellen Lapidarstils besteht darin, dass die konkrete Bestimmung von Inhalt und Schranken insbesondere der Grundrechte in weitem Maße dem Gesetzgeber (und dann der richterlichen Kontrolle) zufa¨llt. Dieser legt also – „Gesetzma¨ßigkeit der Verfassung“ (in der griffig-polemischen Formulierung von Walter Leisner) – die effektive Reichweite der individuellen Freiheit und Gleichheit fest. Viele Gesetzesvorbehalte des Grundgesetzes fallen knapp und schematisch aus. Die Schubkraft des beherrschen¨ bermaßverbotes egalisiert auch die seltene rechtstechnische Ausdifden U ferenzierung des Schrankenregimes. Das Verbot von Einzelfallgesetzen, das Zitiergebot und die Unantastbarkeit des Wesensgehalts, die Direktiven also des Art. 19 Abs. 1 und 2 GG, greifen in der Praxis nicht recht. Der aufwa¨ndige Verwirkungsartikel 18 GG, auch er noch auf altbundesrepublikanischem Grund gewachsen, la¨uft faktisch leer. Die „streitbare Demokratie“ hat insoweit – voru¨bergehend? – ihre Verwirkungs-Streitaxt beiseite gelegt. Grundpflichten und soziale Grundrechte statuiert das Grundgesetz extrem sparsam, Letzteres im Unterschied zu den Verfassungen der neuen Bundesla¨nder. Diese versuchten sich in missverstandener Identita¨tspolitik – mittels narrativer Normen, philanthropischer Verheißungen und u¨berbordender Programmatik. Die Wieselworte „sozial“, „gerecht“ und „o¨kologisch“ jedenfalls tauchten inflationa¨r auf 34. Viele stiften weiterhin Verwirrung. Die Weimarer Reichsverfassung mit ihren sozialpolitisch u¨ppigen, praktisch freilich uneinlo¨sbaren und deshalb letztlich desintegrierenden Zusagen bzgl. sozialer Grundrechte ha¨tte Menetekel sein mu¨ssen35. Im Ergebnis kommt die wert-, gesellschafts- und ordnungspolitische Regelungsscheu Stil und Wesen des Grundgesetzes als der Rahmenverfassung einer Demokratie zugute36. 33

BVerfGE 74, 51 (57). Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Auf der Suche nach einer sozio-o¨konomischen Identita¨t? Staatszielbestimmungen und soziale Grundrechte in Verfassungsentwu¨rfen der neuen Bundesla¨nder, in: VBlBW 1991, S. 404 – 414. 35 ¨ berlegenheit: die BundesKein Grund fu¨r eine „Bonn ist nicht Weimar“-U republik verdankt Weimar wesentliche Grundlagen (den Sozialstaat, die Aufwertung der Kommunen). Die Erste Republik scheiterte nicht wegen ihrer Verfassung, sondern weil sich die Eliten vom parlamentarisch-demokratischen System abkehrten. 36 Daran erinnerte Bundespra¨sident Ko¨hler mit seiner Mahnung, nicht auch noch ein Staatsziel „Sport“ in die Verfassung aufzunehmen: „Ich bin ein großer 34

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E. Zur Leistungsfa¨higkeit der Verfassung Walter Bagehots „Englische Verfassung“ aus dem Jahr 1867 unterschied zwischen „dignified“ und „efficient“ Teilen der Verfassung, zwischen der Monarchie und dem House of Lords auf der einen Seite und dem House of Commons und dem Kabinett auf der anderen. Jene „ehrwu¨rdigen“ Institutionen, so jener Klassiker, schaffen und bewahren die Autorita¨t („die Ehrerbietung der Bevo¨lkerung“), auf deren Grundlage dann die „leistungsfa¨higen“ Bestandteile – Regierung, Gesetzgebung, Verwaltung – „wirken und herrschen“ ko¨nnen. Im freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat ist die Verfassung selbst das „Symbol der Einheit“ und der Legitimita¨t des Gemeinwesens. Sie ist die „dignified institution“, sie gewa¨hrleistet eine Leistung, die „efficient“ ist, eine den menschlichen Mo¨glichkeiten angemessene, solidarische, auch Geistigem gewidmete Entfaltung in einem selbstbestimmten Gemeinwesen, in dem die Summe der Herrschaftsunterworfenen, das Volk, die Quelle der o¨ffentlichen Gewalt ist. Nach Form, Sprache und Stil der Verfassung zu fragen, ist insofern auch in einer demokratisch verfassten Industriegesellschaft weder anachronistisch noch romantisch, im Gegenteil. Zunehmend und zutreffend wird auf den Zusammenhang von formaler, sprachlicher und stilistischer Qualita¨t der Verfassung einerseits und Folgebereitschaft und Erfolg andererseits hingewiesen37. Freilich, dieser Konnex (Form, Sprache und Stil der Verfassung einerseits, Kenntnis, Rezeption und Akzeptanz auf Seiten der Bu¨rger und Organwalter andererseits) darf, wie die Bedeutung der Verfassung insgesamt, nicht u¨berscha¨tzt werden. Verfassungsrecht ist keine Magie, das Grundgesetz keine sa¨kularisierte Bibel. Die Erosion des unentbehrlichen „Willens zur Verfassung“ und damit der normativen Steuerungskraft als Teil eines umfassenderen Wertewandels ist eine latente, momentan zunehmende Gefahr. Mit welchem Maßstab aber attestieren wir einer Verfassung „Erfolg“? Form, Sprache und Stil der Verfassung sind „richtig“, wenn sie Anha¨nger des Sports, aber unser bewa¨hrtes Grundgesetz verdient auch Ruhe“ (s. o. Fn. 24). 37 Vgl. Paul Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, S. 209 ff. (Rn. 30 ff., 100 ff.); Meinhard Hilf, Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: HStR, Bd. VII, Heidelberg 1992, S. 79 ff. (Rn. 6 ff., 28 ff.); Andreas Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion. Ein Beitrag zum Verfassungshandwerk, in: Ao¨R 119 (1994), S. 35 ff.

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funktions- und normgema¨ß, „unrichtig“, wenn sie norm- und systemwidrig, wenn sie unanschaulich oder sonstwie dysfunktional sind38. Liegt in der Form, der Sprache und dem Stil einer Verfassung das Geheimnis ihres Erfolges oder der Grund fu¨r ihren etwaigen Misserfolg? Das Grundgesetz genießt eine Popularita¨t, wie sie keine andere deutsche Verfassung je erreicht hatte. Die Akzeptanz unserer Verfassung gru¨ndet freilich prima¨r in der Sache, die sie vertritt und schu¨tzt, in den Institutionen, die sie konstituiert und kontrolliert, in der Wirksamkeit, die ihre Einrichtungen und Verfahren – man denke nur an das Bundesverfassungsgericht – in der Praxis erlangt haben, gerade auch aus der Sicht der freiheits-, gleichheitsund schutzsuchenden, Solidarita¨t und Sicherheit einfordernden Bu¨rger: Die Regierung ist „nicht zu ma¨chtig im Angesicht der Freiheiten ihres Volkes“ (Abraham Lincoln). Zusa¨tzlich mag zeitweise, neben der stabilita¨tsfo¨rdernden Knappheit des Grundgesetzes, eine spezifische „Gemu¨tslage der Deutschen“ eine Rolle gespielt haben, „die in der Verfassung jene Identita¨t zu finden hoffen, die glu¨cklicheren Nationen in Geschichte, Religion, Kultur, Lebensstil geschenkt wird“39. So kulturspezifisch und zeitabha¨ngig Verfassungen auch sein mo¨gen – seit mehr als zwei Jahrhunderten hat sich besonders die US-amerikanische Verfassung als fa¨hig erwiesen, die gestellten Aufgaben zu bewa¨ltigen. Ihr Stil, ihre Sprache, ihre Form haben den Bedeutungs- und Realita¨tstest bestanden, haben ihre Integrationskraft unter Beweis gestellt40. Eine Verfas38 Nach u¨ber 50 zum Teil umfangreichen und, gemessen an ihrer Urfassung, verfassungslinguistisch und rechtsa¨sthetisch u¨berwiegend kaum u¨berzeugenden A¨nderungen zeigt unsere Verfassung u¨ber weite Partien nun ein anderes Gesicht. Das Grundgesetz der Berliner Republik ist la¨nger und technischer als jener „Bonner Urfaust“. Die Verfassung wurde immer mehr zur Pinnwand, auf die jede gesellschaftliche oder parteipolitische Gruppierung ihr Begehr heftet – Fo¨rderung der Kultur, der Kinder, der deutschen Sprache, Schutz des Wassers, der Arktis, der Menschenaffen –, um sich anschließend auf eine angebliche konstitutionelle Nobilitierung ihres Anliegens zu berufen. Wann schla¨gt diese instrumentalisierende ¨ berfrachtung um in eine Schwa¨chung der Substanz? verfassungspolitische U 39 Isensee (Fn. 4), S. 9. Dieser identita¨tspolitische und den Aspekt der Dauerhaftigkeit betonende Ansatz („Die Verfassung als Vaterland“) ist seit der Wiedervereinigung Deutschlands einem sta¨rker instrumentellen, partiell auch improvisatorischen Versta¨ndnis der Verfassung gewichen. Der normativen Kraft des Grundgesetzes (im Unterschied zum Ruf nach einer Stabilisierungspause, nach einer Reformdrosselung) braucht dieser neue Ansatz nicht im Wege zu stehen. 40 Vgl. Quint (Fn. 5).

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sung, die diese Leistungen erbringt, sichert dem Gemeinwesen unentbehrliche Legitimita¨ts- und Solidarita¨tsressourcen. Sie hilft dem Gemeinsamkeitsgefu¨hl der Bu¨rger auf und dem „Grundgefu¨hl der Ordnung, das alle haben“ (Hegel).

Ernst Kantorowicz als Rechtshistoriker* Nein, ein Bestseller fu¨r Rechtshistoriker wurde ,The King’s Two Bodies‘1, das Hauptwerk des Media¨visten Ernst Kantorowicz aus dem Jahr 1957, nicht. Erst recht wurde dies nicht sein drei Jahrzehnte zuvor im Geist Stefan Georges verfasstes Buch ,Kaiser Friedrich der Zweite‘.2 Mo¨gen neben Hitler, Go¨ring und Himmler auch zahlreiche Juristen zur bewundernden Lesergemeinde dieses suggestiv wertsetzenden Bestsellers geho¨rt haben – Rechtswissenschaftler haben das stilistische und historiographische Meisterwerk, von ganz wenigen, meist formalen Zitaten abgesehen, nicht rezipiert, auch nicht nach seiner Wiedervero¨ffentlichung im Jahr 1963. Das farbig erza¨hlende, dichterisch dichte Buch u¨ber den letzten Stauferkaiser, einer bildreich-ku¨nstlerischen Sprachwelt verpflichtet, enthielt, auch in seinen herrschaftstheoretischen, politisch-theologischen und rechtsgeschichtlichen Passagen, keinerlei Nachweise. Narratives gilt nichts in Normwissenschaften. Dem dann positivistisch erla¨uternden, teilweise weiterfu¨hrenden, den Hauptband in Details korrigierenden ,Erga¨n* Aus: Mythen, Ko¨rper, Bilder. Ernst Kantorowicz zwischen Historismus, Emigration und Erneuerung der Geisteswissenschaften, hg. von Lucas Burkart, Joachim Kersten, Ulrich Raulff, Hartwig v. Bernstorff und Achatz v. Mu¨ller, Go¨ttingen 2015, Wallstein Verlag, S. 125 – 147. 1 Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton, N. J. 1957 (21966); Die zwei Ko¨rper des Ko¨nigs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, aus dem Amerikanischen u¨bersetzt von Walter Theimer/Brigitte Hellmann, Stuttgart 1990. – Mein Exemplar der ,Two Bodies‘ entha¨lt die handschriftliche Widmung „Fu¨r Hans mit beiden Leibern des Verfassers“, das des ,Kaiser Friedrich‘-Buches den Eintrag „Dem lieben Hans P. vom Vf. 31.III.27“. Widmungsempfa¨nger (und spa¨terer Schenker an mich) war jeweils Dr. Hans Peters (urspru¨nglich Pietrkowski, 1906 – 1996), ein entfernter Verwandter des Media¨visten (Elsie Kantorowicz war seine Mutter). So ku¨ndigte Kantorowicz einen London-Besuch bei Peters und der „frech-knusprigen Greisin“ (dessen Mutter) einmal brieflich (aus Princeton, 22 Alexander Street) fu¨r den 11. 4. 1958 mit den Worten an: „Du Armer wirst also von Familie u¨berrannt sein, und ich bedauere Dich sehr.“ 2 Ernst H. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927; ders., Kaiser Friedrich der Zweite. Erga¨nzungsband, Berlin 1931.

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zungsband‘ von 1931 begegnete die forschende Juristenzunft u¨berwiegend ebenfalls mit „benign neglect“. Bis heute u¨berdecken das aristokratische Pathos und das staatsmetaphysische Raunen der auf Umgestaltung der Gegenwart zielenden ,Friedrich‘-Erza¨hlung die im Weinberg des mittelalterlichen Rechts erarbeiteten heilig-nu¨chternen „Quellennachweise und Exkurse“, obwohl gerade diese wichtige Fingerzeige fu¨r die Rechts-, Verfassungs- und Vo¨lkerrechtsgeschichte enthalten. Das ,Two Bodies‘-Werk, 1990 endlich auch auf Deutsch publiziert, begru¨ndete das internationale Ansehen des Gelehrten. Exquisite Fachaufsa¨tze, die wichtigsten mittlerweile ebenfalls u¨bersetzt,3 befestigten seinen Rang als exzellenter Erforscher des Spa¨tmittelalters und der Fru¨hen Neuzeit sowie als Mythen und Metaphern ma¨chtiger Deuter des Kaiser-, Ko¨nigund Fu¨rstentums. Immer wieder widmete sich der Gelehrte dem Geist und der Gefa¨hrdung des fru¨hmodernen Herrscherverbandes. Kantorowicz ging dabei auch den o¨ffentlichen Herrscherkulten, -ritualen und -symbolen nach, behandelte herrscherbezogene kirchliche Lobgesa¨nge und Lobgebete, weltliche Rechtsformeln und einschla¨gige theologisch-philosophische Ableitungen und Folgerungen. Auf der Suche nach der Ausstrahlungsund Langzeitwirkung der ,Two Bodies‘ in der zentraleuropa¨ischen rechtsgeschichtlichen Forschungslandschaft wird man gleichwohl kaum fu¨ndig. Die Metapher der ,Zwei Ko¨rper‘ blieb weitgehend bloße Zier- und Zitierformel. In der anglo-amerikanischen Welt mag das etwas anders sein, prima¨r aus biographischen Gru¨nden: Als Jude musste Kantorowicz Ende 1938 u¨ber England in die USA fliehen.4 Dort, im Exil, pra¨gte er im 3 Ernst H. Kantorowicz, Go¨tter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendla¨ndischen Ko¨nigtums, hg. von Eckhart Gru¨newald und Ulrich Raulff, mit einer Einleitung von Johannes Fried und einem Nachwort von Eckhart Gru¨newald, aus dem Englischen u¨bersetzt von Walter Brumm, Stuttgart 1998; ders., Laudes regiae. A Study in Liturgical Acclamation and Mediaeval Ruler Worship – with a Study of the Music of the Laudes and Musical Transcriptions by Manfred F. Bukofzer, Berkeley/Los Angeles 1946 (21958). Brieflich berichtete er am 2. 11. 1945: „Meine Arbeiten laufen […] darauf hinaus, was man ,Kultgeschichte des Mittelalters‘ nennen ko¨nnte, wovon ein Teil mein engeres Gebiet ist, die ,politische Liturgie‘ oder die politisch-historische Auswertung der liturgischen Gebete. Es ero¨ffnet sich ein ungeheures […] Quellenmaterial, das einem gleichzeitig die Mittel an die Hand gibt, mit fast juristischer Pra¨zision Eigenheiten […] festzustellen. Liturgie und Recht sind ja auch nahe genug verwandt.“ 4 Vgl. Janus Gudian, Ernst Kantorowicz. Der „ganze Mensch“ und die Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 2014, S. 133 ff.; Robert L. Benson, Kantorowicz on Continuity and Change in the History of Medieval Rulership, in: Ernst

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ihm verbleibenden Vierteljahrhundert Lebenszeit vornehmlich amerikanische Hochschu¨ler und Forscher.

1. In diesem Horizont lautet mein erster Punkt (von insgesamt vier): Mit Kantorowicz hat sich bisher kein einziger deutscher Rechtswissenschaftler auseinandergesetzt. Die wohl wichtigsten neueren rechtshistorischen Leistungen, Jan Schro¨der, ,Recht als Wissenschaft‘, und Michael Stolleis, ,Geschichte des o¨ffentlichen Rechts in Deutschland‘, setzen mit der Fru¨hen Neuzeit ein.5 Ernst Rudolf Hubers achtba¨ndige ,Deutsche VerfassungsgeKantorowicz. Ertra¨ge der Doppeltagung, Institute for Advanced Study, Princeton/ Goethe-Universita¨t Frankfurt, hg. von Robert L. Benson und Johannes Fried, Stuttgart 1997, S. 202 ff.; ebd., Robert E. Lerner, Kantorowicz and Continuity, S. 104 ff.; ebd., Johannes Fried, Ernst H. Kantorowicz and Postwar Historiography. German and European Perspectives, S. 180 ff. (zur Frage, ob es einen einzigen Kantorowicz oder „zwei Kantorowicz“ gegeben habe, einen deutschen nationalen und einen amerikanischen demokratischen); Eckhart Gru¨newald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beitra¨ge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“, Wiesbaden 1982; Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, Mu¨nchen 2007; Ulrich Raulff, Die amerikanischen Freunde: Erich von Kahler, Ernst Kantorowicz und Ernst Morwitz, in: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, hg. von Barbara Schlieben u. a., Go¨ttingen 2004, S. 365 ff.; ders., Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, Mu¨nchen 2009; Geschichtsko¨rper. Zur Aktualita¨t von Ernst H. Kantorowicz, hg. von Wolfgang Ernst und Cornelia Vismann, Mu¨nchen 1989; Jost Philipp Klenner, Souvera¨nes Kleingeld. Ernst Kantorowicz (1895 – 1963), in: Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Portraits, hg. von Jo¨rg Probst und Jost Philipp Klenner, Frankfurt a. M. 2009, S. 137 ff. 5 Jan Schro¨der, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500 – 1850), Mu¨nchen 2001 (die 2. Aufl., 2012, behandelt die Methodenlehre einschließlich der Weimarer Republik; wird eine 3. Aufl. ins Mittelalter ausgreifen?); Michael Stolleis, Geschichte des o¨ffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft, Mu¨nchen 1988. Hinsichtlich der zeitlichen Beschra¨nkung seiner epochalen Literaturgeschichte stellt Stolleis darauf ab, „wann Schriften auftauchen, in denen das ius publicum als Sonderrecht der o¨ffentlichen Herrschaft sachlich und terminologisch erfaßt wird“; diesen Beginn verortet er in „der zweiten Ha¨lfte des ¨ ffentliches Recht in Deutsch16. Jahrhunderts“ (Einfu¨hrung, S. 44, 46); ders., O land. Eine Einfu¨hrung in seine Geschichte (16.–21. Jahrhundert), Mu¨nchen 2014, formuliert auf S. 13, sich auf Kantorowicz’ ,Two Bodies‘ als „grundlegend“ beziehend, bezu¨glich des mittelalterlichen Staatsrechts: „(Es) bestand aus Gewohnheitsrecht, wenigen politisch zentralen Urkunden und einigen von den mittelal-

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schichte‘ (1960 ff.) beginnt mit der Franzo¨sischen Revolution, Manfred Friedrichs ,Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft‘ mit dem Reichsverfassungsrecht des spa¨ten 16. Jahrhunderts.6 Die meisten Juristen verbinden mit dem Namen Kantorowicz, wenn er ihnen u¨berhaupt etwas sagt, ohnehin den Rechtswissenschaftler und engagierten politischen Schriftsteller Hermann U. Kantorowicz (1877 – 1940), den Autor wichtiger strafrechtsdogmatischer und wissenschaftstheoretischer Beitra¨ge.7 Einige ganz wenige Literaturwissenschaftler mo¨gen etwas von Gertrud Kantorowicz (1876 – 1945) geho¨rt haben. Unter Pseudonym publizierte sie in Stefan Georges exklusiver Zeitschrift ,Bla¨tter fu¨r die Kunst‘. Zusammen mit Ernst Kantorowicz’ greiser Mutter Clara, ihrer Tante, kam die Lyrikerin im Konzentrationslager Theresienstadt um.8 Gewiss, diverse rechts- und verfassungshistorische Werke setzen hinsichtlich des behandelten Zeitraumes fru¨her an, vor Gutenberg, ja vor der Entwicklung der neuen territorialen Staaten, die im 12. Jahrhundert begann. Keines dieser Bu¨cher9 befasst sich indes mit Ernst Kantorowicz. terlichen Juristen gebildeten Leitsa¨tzen“, aus denen dann die Leges fundamentales hervorgegangen seien. 6 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart u. a. 1960; Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatswissenschaft, Berlin 1997, S. 6: die „Wissenschaft des deutschen Staatsrechts“ beginnt mit „Ausgang des 16. Jh.“. 7 Hermann U. Kantorowicz (1877 – 1940), in: Deutsche und Europa¨ische Juristen aus neun Jahrhunderten, hg. von Gerd Kleinheyer und Jan Schro¨der, Heidelberg 41996, S. 227 ff. Wie sein Namensvetter (und dessen namensgleiche a¨ltere Cousine Gertrud) ist der Jurist in Posen gebu¨rtig. In ,Zwei Ko¨rper‘ (Anm. 1) zitiert der Historiker verschiedentlich den Juristen. 8 Michael Philipp, „Was ist noch, was Er nicht lenkt“. Gertrud Kantorowicz und Stefan George, in: Frauen um Stefan George, hg. von Ute Oelmann und Ulrich Raulff, Go¨ttingen 2010, S. 119 ff. 9 Ernst-Wolfgang Bo¨ckenfo¨rde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tu¨bingen 22006; Otto Brunner, Land und Herrschaft. ¨ sterreichs im Mittelalter, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte O Darmstadt 51984; Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Mu¨nchen 2008; Hans Hattenhauer, Europa¨ische Rechtsgeschichte, Heidelberg 1992; ders., Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, Heidelberg 41996; Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 21987; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Bis 1250, Ko¨ln u. a. 132008; Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, Mu¨nchen 111986; ders./Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch, Mu¨nchen 191992; Hans Schlosser, Neuere Europa¨ische Rechtsgeschichte. Privat- und Strafrecht vom Mittelalter bis

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In ,Die geschichtlichen Grundlagen des Deutschen Staatsrechts‘ u¨bernimmt der Staatsrechtler Klaus Stern immerhin Kantorowicz’ These, die Herrschaft Friedrichs II. sei, obwohl „personell, nicht anstaltlich verbu¨rgt“, „nicht mehr auf religio¨s-jenseitige Ziele ausgerichtet, sondern bereits rechtlich-administrativ verfasst und umgesetzt“ gewesen.10 Der Staufer hat die Begru¨ndung seines Herrschaftsverbandes, der noch nicht als ,Staat‘ im rechtlich-technischen Sinn zu qualifizieren ist, in der Tat erstmals „auf sich selbst“ gestellt, auf ein geistiges Prinzip: iustitia. Im dynamischen friderizianischen ,Justitia-Staat‘ – der Kaiser als pater legis – habe sich, so Kantorowicz, „die Diesseitserfu¨llung mit der Jenseitserlo¨sung“ vertragen.11 „Dies ist reich des Geistes: abglanz / Meines reiches“, hatte George im Jahr 1910 gedichtet (im 1914 vero¨ffentlichten Gedichtband ,Der Stern des Bundes‘), „Geist“ hervorhebend groß schreibend. Strictu sensu la¨sst sich fu¨r das Mittelalter weder von o¨ffentlich-staatlichem Recht noch von Vo¨lkerrecht sprechen – gewiss ein Grund fu¨r die Schwierigkeit der meisten Rechts- und Vo¨lkerrechtshistoriker mit dieser A¨ra und dem ,Friedrich‘-Buch. Natu¨rlich gab es neben orientierend-handlungsleitenden Formeln und religio¨s-ethischen (christlichen) Standards, wie pax, concordia, caritas, fraternitas, amicitia, normative Ordnungen sowohl der Herrschaft wie der Beziehungen zwischen den Ma¨chten. Zu denken ist etwa an das Lehns-, Vertrags-, Gesandtschafts-, Fremden- und Kriegsrecht. Beispiele sind Handels-, Schifffahrts- und Niederlassungsvertra¨ge, Friedensschlu¨sse sowie Abmachungen u¨ber Gebietsabtretungen. Das alles mag zwar im weitesten Sinne Recht gewesen sein – staatlicher Natur im modernen Sinn war es nicht. Vorherrschend war eine personale Ordzur Moderne, Mu¨nchen 2012; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Die geschichtlichen Grundlagen des Deutschen Staatsrechts, Mu¨nchen 2000; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, Mu¨nchen 7 2013. 10 Stern (Anm. 9), S. 9 (mit Anm. 17); Mitteis, Staat (Anm. 9), S. 342: ¨ bergang von den Formen mittelalterlichen Verfassungslebens zum modernen „U Staat“. 11 Kantorowicz, Erga¨nzungsband (Anm. 2), S. 95 ff. („Staatsmetaphysik“): Weltliche Herrschaft leite ihren Ursprung einerseits unmittelbar von Gott ab („rex imago Dei“), wie auch dieser mit der Gerechtigkeit identisch sei (ebd., S. 80, 87), andererseits aus „der zwingenden Notwendigkeit der Dinge“; im letzteren Sinne habe Friedrich II. eine „Zwangsla¨ufigkeit der weltlichen Herrschaft geltend gemacht“: der Staat werde zum „Heilsgut“, er bewahre die Menschen vor Selbstzerfleischung, Justitia „als Staatsgru¨nderin“. Zur „Divinisierung des Herrschers mittels der Justitia“ geho¨re dessen Gesetzesgebundenheit.

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nung, nicht auf das Amt des Herrschers, gar auf staatliche Institutionen bezogen, sondern auf die Person, den Repra¨sentanten der Dynastie. Diesem Herrscher verlieh die mittelalterliche Idee des Priesterko¨nigtums, die Manifestierung Gottes im Ko¨nig, eine durch Rituale wie Weihe, Salbung und Kro¨nung gesteigerte Legitimita¨t. Der Herrscher stand fu¨r die Herrschaft, fu¨r die Verbandseinheit, fu¨r sein Reich. Erst nach der Epoche der Staufer, ¨ bergang vom Feudalismus zum Staat, a¨nderte sich das. In Urkunden im U und Vertra¨gen wurden nun, so Heinhard Steiger12, auch transpersonale Elemente genannt: successores, haeredes, terrae. Ein ,o¨ffentliches Recht‘ als Herrscher- und A¨mtersonderrecht bildete sich dann im Laufe des 16. Jahrhunderts heraus. Im 17. Jahrhundert kam die Reichspublizistik auf. Erst im 18. Jahrhundert, im Horizont der Aufkla¨rung, verlagerte sich die Rechtssubjektivita¨t vom Fu¨rsten auf den Staat. Kantorowicz seinerseits hat, besonders in ,Die zwei Ko¨rper‘, intensiv juristische Klassiker ausgewertet, auch zur begrifflichen Kla¨rung. Neben Fritz Kern und Georg Jellinek13 zitierte er, etwa zum ,Staat‘ als Korporation mit schließlich u¨berperso¨nlicher Kontinuita¨t und zum staatstheoretisch hin und her gewendeten Su¨ndenfall Adams, am ha¨ufigsten die monumentalen Ba¨nde von Otto von Gierke, ,Das deutsche Genossenschaftsrecht‘.14 Auf die zeitgebundenen politischen Auffassungen, die angreifbaren verfassungsrechtlichen Folgerungen und die rechtspolitischen Wirkungen dieser mit kollektiven Notwendigkeiten operierenden ,Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft‘ ging der Historiker nicht ein. Ebenso wenig wurde der brisante, von Kantorowicz eher deskriptiv-formal als substantiell ka¨mpferisch herangezogene Begriff ,Politische Theologie‘ erla¨utert, ob12 Heinhard Steiger, Von der Staatengesellschaft zur Weltrepublik? Aufsa¨tze zur Geschichte des Vo¨lkerrechts aus vierzig Jahren, Baden-Baden 2009, S. 14 ff.: „Die Geburt des Vo¨lkerrechts“ verortet „im 15./16.“, ja (ebd., S. 53 ff.) im 13. Jahrhundert. 13 Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im fru¨hen Mittelalter, Leipzig 1914; Georg Jellinek, Adam in der Staatslehre, in: Neue Heidelberger Jahrbu¨cher, Bd. 3, 1893, S. 135 ff. 14 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 3 Ba¨nde, 1866, 1873, 1881. Ein Beispiel ist der Verweis (Kantorowicz, Erga¨nzungsband [Anm. 2], S. 22) auf Bd. III, S. 546 ff. bezu¨glich des Aufkommens der „bedeutungsvollen ,organischen‘ Anschauung“ von der Kirche als Leib (der Papst als Haupt). Kantorowicz ist mit den dreieinhalbtausend Seiten vertraut. Ihn interessiert die „verdichtende“ Fortbildung der Lehnsverba¨nde zu selbststa¨ndigen „Anstalten“, also die Ko¨nigsamt und -person trennende Entwicklung: das Thema der ,Zwei Ko¨rper‘.

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wohl er den aufregenden Untertitel der ,Zwei Ko¨rper‘ bildet.15 Den sich hier aufdra¨ngenden Namen Carl Schmitt u¨bergeht Kantorowicz geradezu demonstrativ: keine Auseinandersetzung mit dem dezisionistischen Staatstheoretiker und spa¨teren „Kronjuristen des ,Dritten Reiches‘“. All dies ist freilich keine erscho¨pfende Begru¨ndung fu¨r die weitgehende Nichtbeachtung Kantorowicz’ in der deutschen Rechtswissenschaft – mein Thema.

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Im Vorwort (Anm. 1) ist von dem „Versuch“ die Rede, zu begreifen, mit welchen Mitteln „sich im spa¨teren Mittelalter gewisse Axiome einer politischen Theologie zu entwickeln begannen, die mutatis mutandis bis zum 20. Jahrhundert gu¨ltig bleiben sollten“. Freilich seien die „furchtbaren Erlebnisse“ seiner (Kantorowicz’) Zeit, in der Vo¨lker „den unsinnigsten Dogmen zum Opfer fielen“, „nicht die Ursache der Studie gewesen“. Kapitel I handelt dann von der Verknu¨pfung von juristischem Spekulieren mit theologischem Denken (im England des 15. Jahr¨ bernahme theologischer Begriffe ins hunderts). Seit Jahrhunderten sei die U Staatsrecht „gang und ga¨be“ (S. 42), der „Jargon des Doppelko¨rpers“, „kein Reservat der Juristenzunft“, „fast ein Gemeinplatz“ auch bei Dichtern (S. 47 f., bezogen auf Shakespeares ,Richard II.‘). Die Metapher, „Produkt christlichen theologischen Denkens“, sei ein „Markstein christlicher politischer Theologie“ (S. 496). Dante habe (S. 457) das ,Menschliche‘ aus dem christlichen Verband herausgenommen und als Wert eigenen Rechts isoliert: „vielleicht seine originellste Leistung auf dem Gebiet der politischen Theologie“. Josef Fleckenstein im „Geleitwort“ zu ,Zwei Ko¨rper‘ (S. 14) resu¨miert: „Politische Theologie“ postuliere „die innere Einheit von Theologie und Politik fu¨r das Mittelalter“; sie umschreibe „die Bedingungen, unter denen das mittelalterliche Ko¨nigtum im Sinne der Zeit zu verstehen“ sei. Zur politisierenden „politischen Theologie“ und staatsrechtlichen Instrumentalisierung theologischer Begriffe Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souvera¨nita¨t, Mu¨nchen/Leipzig 1922, affirmierend behandelt in Bezug auf die gegenrevolutiona¨ren Staatstheoretiker der Restaurationszeit; sie verurteilten, dass die Menschen sich selbst (Volkssouvera¨nita¨t) und ihren Institutionen (Gewaltmonopol) go¨ttliche Attribute zuerkannten; ders., Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970. Zum Beziehungsfeld Jacob Taubes (Hg.), Der Fu¨rst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, Mu¨nchen u. a. 21983. Heinrich Meier, Was ist Politische Theologie? What is Political Theology?, Mu¨nchen 2006, S. 13 definiert Politische Theologie als „eine politische Positionsbestimmung“, fu¨r die „die go¨ttliche Offenbarung die ho¨chste Autorita¨t und die letzte Grundlage“ ist; ders., Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 32009, S. 269 ff. Ich danke Heinrich Meier fu¨r begriffsgeschichtliche Hinweise.

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2. Von der heutigen juristischen Forschergeneration in Deutschland kann ein sta¨rkeres Interesse fu¨r Kantorowicz nicht erwartet werden. Das Hauptaugenmerk der meisten rechtsgeschichtlich engagierten Kollegen richtet sich auf die ju¨ngere und ju¨ngste Vergangenheit, einschließlich der Begriffsund Wissenschaftsgeschichte. ,Juristische Zeitgeschichte‘ ist das neueste Label. Kann man den Kollegen ihre Mittelalterabstinenz verdenken? Wer beherrscht noch perfekt Latein? Wer erschrickt nicht angesichts der Flut a¨ußerst schwer entzifferbarer Urkunden? Welcher universita¨re Rechtshistoriker, von einigen Spezialisten, die Drittmittel- und Karrierechancen entsagen, abgesehen, taucht schon in die Abgru¨nde der noch immer erst partiell erschlossenen, schier inkommensurablen Quellen des buchdrucklos „dunklen“ Mittelalters? Stellen fu¨r entsprechend professionalisierte Juristen an Akademien, Max-Planck-Instituten und den Monumenta Germaniae Historica werden offenbar immer rarer. Selbst die christlichen Kirchen und die mit ihnen verbundenen Theologen vernachla¨ssigen das Mittelalter in dem Glauben, so dem Vorwurf mangelnder Modernita¨t entgehen zu ko¨nnen. In einer A¨ra entkernender und modulierender Hochschulreform ka¨mpfen die Germanisten, Romanisten und Kanonisten an den deutschen ¨ berleben ihrer Fa¨cher. Insofern fallen die KirRechtsfakulta¨ten fu¨r das U chenrechtler und die Experten der deutschen Rechtsgeschichte u¨berwiegend aus, wenn es um die Erforschung mittelalterlicher Kaiserbilder und vormoderner Reichs- und Rechtstheorien geht, etwa um die Herleitung des Erdenstaates aus dem Su¨ndenfall im Paradies. Traditionell sind die Germanisten und die Kanonisten fu¨r diese Aufgabe zusta¨ndiger und kompetenter als die Ro¨mischrechtler. Diese unterstreichen ihre fortbestehende Relevanz etwa mit einer zweiba¨ndigen Gesamtdarstellung des ius civile.16 Spektakula¨rer noch ist die Neuu¨bersetzung der bedeutendsten juristischen Hinterlassenschaft der ro¨mischen Antike: der Rechtssammlung ,Corpus Iuris Civilis‘. Fu¨nf gewaltige Ba¨nde sind seit 1997 bereits erschienen.17 16

Hermann Lange, Ro¨misches Recht im Mittelalter, Bd. I: Die Glossatoren, Mu¨nchen 1997; ders./Maximiliane Kriechbaum, Bd. II: Die Kommentatoren, Mu¨nchen 2007; Knut Wolfgang No¨rr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren in erster Instanz in civilibus, Heidelberg 2012. 17 Die bisher fu¨nf Ba¨nde, von Okko Behrends u. a. betreut, sind in Mu¨nchen (1997 – 2013) erschienen. Zur justinianischen Rechtssammlung Schlosser, Euro-

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Kantorowicz wa¨re begeistert! Das Gesetzgebungswerk des ostro¨mischen Kaisers Justinian (527 – 565), geschaffen zur Sta¨rkung der Rechts- und Reichseinheit, beeinflusste die Normgebung Kaiser Friedrichs II., besonders die systematische Kodifizierung und dynamische Neugestaltung des Rechts seines Ko¨nigreichs Sizilien, die Errichtung seines Rechtsko¨nigtums. Auch die Europa¨ische Union ist als Rechtsgemeinschaft konstruiert, die vereinheitlichende Umgestaltung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ihr wichtigster Hebel. Und da sollte uns der Staufer nichts zu lernen geben? In seinem beru¨hmten ,Liber Augustalis‘, den ,Konstitutionen von Melfi‘, fu¨hrte Friedrich II. normannisches Gesetzesrecht und gemeines sizilisches Gewohnheitsrecht mit neuem Satzungsrecht zusammen – lang und weit ausstrahlend.18 Das soll die EU erst einmal nachmachen! Von den deutschen Vo¨lkerrechtshistorikern, die etwa mit Wolfgang Preisers ,History of the Law of Nations‘ (1984) und Wilhelm Grewes spa¨ter ebenfalls auf Englisch erschienenen ,Epochen der Vo¨lkerrechtsgeschichte‘ (21988) auch international Maßsta¨be gesetzt hatten, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit Kantorowicz ebenfalls nicht zu erwarten. Gewiss, zu Weltherrschaftsgedanke und friedenschaffender Intervention als Pflicht der Herrscher-Gilde, zur (eintra¨glichen) Schutzpflicht(politik) des Kaisers gegenu¨ber den Schwachen und den Juden, zum Scheitern aller Versuche, die Legitimation und Macht des Kaisers gegenu¨ber Kirche und Papst abzugrenzen, zu diplomatischen, ja vertraglichen Beziehungen zwischen christlichen Fu¨rsten und muslimischen Herrschern, zu Vertra¨gen im Verha¨ltnis Herrscher zu Kommunen, zu Solidarita¨t der Bruderschaft, ja der pa¨ische Rechtsgeschichte (Anm. 9), S. 38 ff. Die ,Digesten‘ bezeichnen Juristen als Priester, Kantorowicz (Anm. 1), S. 117 ff. 18 Auf dass Sizilien, so Liber I, 95, 1, „allen ein Anlass zur Bewunderung und Spiegel der Nachahmung werde, der Neid der Fu¨rsten und das Vorbild der Reiche“. Als Gesetzgeber berief er sich auf ro¨mische Traditionen: Wie Augustus wollte er Konstitutionen (Kaisergesetze) erlassen, „die jeglicher anderer Rechtsaufzeichnung vorzugehen hatten“; das 1231 verku¨ndete Gesetzbuch fu¨r Sizilien erfuhr nach Erga¨nzungen „1246 seinen Abschluss“; Friede und Recht waren nun „in die letztverantwortlichen Ha¨nde des Staates u¨bernommen worden“, Hattenhauer, Europa¨ische Rechtsgeschichte (Anm. 9), S. 304 ff. In einem Brief vom 8. 3. 1954, dessen Kenntnis ich Janus Gudian und Jost Philipp Klenner verdanke, unterstreicht Kantorowicz das Nachwirken der fu¨r seine „Staatsmetaphysik“ zentralen ,MelfiKonstitutionen‘: Bei den franzo¨sischen Glossatoren des 16. Jahrhunderts habe er viele Wendungen des ,Liber‘ wiedergefunden, was auch darauf zuru¨ckzufu¨hren sei, dass die Franzosen „die Glossatoren der Sizilischen Gesetzgebung des 13. Jhdts. und danach ausgewertet haben“.

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Familie der abendla¨ndischen Ko¨nige (Fu¨rstensolidarita¨t), zu intensiver Kommunikation der Herrscher untereinander und integrierender ,freier Einung‘ der Reichsfu¨rsten, zu Gleichstellung von Kaiser, Ko¨nigen und Fu¨rsten als jeweils ,gottunmittelbar‘ – zu alldem wird man im ,Friedrich‘-Buch fu¨ndig. Aber die vo¨lkerrechtliche Literatur ist mittlerweile weit u¨ber das Werk, das Hugo von Hofmannsthal 1927 noch als bestes Buch des Jahres gepriesen hatte, hinausgegangen.19 Theodor Mommsens ,Ro¨misches Staatsrecht‘ (31887), ein anderes, ebenfalls literarisch herausragendes Werk deutscher Historiographie, erging es genauso. Ju¨ngere, weltweit exzellent vernetzte Internationalrechtler wie Bardo Faßbender und Anne Peters, die Herausgeber des ,Oxford Handbook of the History of International Law‘ (2012), verfolgen zudem eine andere, Imperium Romanum, deutsches Mittelalter, Religion und Emotion sowie elisabethanische Korporationskonstruktionen kaum kreuzende Forschungsspur: eine globale, partiell enteuropa¨isierte Geschichte des Vo¨lkerrechts.20 A¨hnliches findet sich bei Fachhistorikern wie Ju¨rgen Osterhammel, die, die Querverbindungen und Transferprozesse zwischen den Regionen und Kulturen hervorhebend, Weltgeschichte neu, eben global schreiben, die die Ereignisse und Prozesse also in weltweite Kontexte einzuordnen versuchen.21 Gewiss, schon 1976 hatte Preiser (,Fru¨he vo¨lkerrechtliche Ordnungen der außereuropa¨ischen Welt‘), was von seinem Schu¨ler KarlHeinz Ziegler (,Vo¨lkerrechtsgeschichte‘, 22007) dann vertieft und erweitert wurde, die Existenz vo¨lkerrechtlicher Ordnungen im alten China und im vorkolonialen Mittelamerika nachgewiesen. Nur: Die Urspru¨nge des heutigen universellen Vo¨lkerrechts liegen im alten Vorderasien und in Europa. „Hic salta!“ mo¨chte man manchen Weltrechtshistorikern zurufen, angestachelt auch durch Kantorowicz’ witzigen, knurrend-polemischen Kommentar zur seinerzeit ho¨chst lu¨ckenhaften Edition des kaiserlichen ,Falken19 Hugo von Hofmannsthal, Sa¨mtliche Werke, Bd. 40, Frankfurt a. M. 2011, S. 390. 20 Diskussion in: European Journal of International Law 25, 2014, S. 287 ff. Die globale Perspektive hilft auch der Kontextualisierung der Vo¨lkerrechtsgeschichte; Globalgeschichten mo¨gen insofern ein Großnarrativ werden, Martti Koskenniemi, Histories of International Law: Dealing with Eurocentrism, in: Rechtsgeschichte 19, 2011, S. 152 ff. 21 Vgl. Akira Iriye/Ju¨rgen Osterhammel (Hg.), Geschichte der Welt, 6 Ba¨nde, Mu¨nchen, seit 2012; Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einfu¨hrung, Mu¨nchen 2013. Mit diesem Ansatz sind große Quellen- und Sprachprobleme verbunden.

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jagd‘-Buches: „Bescha¨mend“ sei es, „daß sich in Deutschland zwar Bearbeiter und Verleger fu¨r Alttibetanische Hochzeitsgesa¨nge und Feuerla¨ndische Kleinplastik finden, aber nicht fu¨r dieses stofflich wie geistesgeschichtlich ungemein interessante Werk des schließlich bedeutendsten Monarchen des deutschen Mittelalters.“22 Hinzu kommt ein prinzipielles historiographisches Problem, bezogen auf das christliche Mittelalter und auf Kantorowicz’ Werke. Ein Charakteristikum dieses Media¨visten besteht im pointierten Einbeziehen der religio¨s-geistlichen und kirchlich-liturgischen Dimension. Kantorowicz hat Theologie und Philosophie genauso im Blick wie go¨ttliche und staatliche Normsetzung, wie Mythisches, Rituelles und Symbolisches, wie Charisma und Spekulation. Juristen aber, nicht nur Positivisten und Rechtsempiriker, haben Schwierigkeiten mit Numinosem, Prophetischem, Transzendentem, mit allem Irrationalen. Ein Beispiel: Hans Peter Ipsen, der fu¨hrende Europarechtler der 1970er Jahre, sah den letzten Sinn des Staates in der rational organisierten Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zustande gekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevo¨lkerung, womit er einer Formulierung Arnold Gehlens folgte. Beide unterscha¨tzten, wie Werner von Simson formulierte, die Unentbehrlichkeit „des im Staat bewahrten Emotionalen“.23 Ohne dieses von Kantorowicz „Metaphysik“ und von Ernst Cassirer „Mythos“ genannte imagina¨re Element, ohne Herrscherlaudes, Rechtssymbole und die christliche Kirche war mittelalterliche Herrschaft undenkbar. Ohne ,emotive terms‘ wie Nation, Gemeinschaft, Landsmannschaft, ohne sa¨kularisierte Werte wie Gerechtigkeit, Frieden, Solidarita¨t, ohne Menschenwu¨rde als Fenster zur Metaphysik halten auch die sachlich-funktionellsten Gebilde der Moderne auf Dauer nicht zusammen. Rationale rechtspolitische Konstruktivisten u¨bersehen oder u¨bergehen dies nach wie vor. Relevant wird das etwa bei der Vertiefung der Integration Europas. Ein europa¨isches Volk gibt es nicht. Elementare Voraussetzungen fu¨r eine europa¨ische Sozial-, Solidar- und Schicksalsgemeinschaft fehlen. Eine ,europa¨ische Identita¨t‘, eine ,europa¨ische Seele‘, eine ,Heimat Europa‘ hat bisher niemand entdeckt. Es existiert kein europa¨ischer Patriotismus, 22

Kantorowicz, Erga¨nzungsband (Anm. 2), S. 156. Werner von Simson, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: Vero¨ffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 29, 1971, S. 3 ff.; ders., Was heißt in einer europa¨ischen Verfassung „Das Volk“?, in: Europarecht 26, 1991, S. 1 ff. 23

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kein Vaterland Europa, kein gemeinsamer Mythos. Fu¨r Bru¨ssel la¨sst sich niemand totschießen (fu¨r die ,Idee Europa‘ vielleicht schon). Zu den Halt gebenden Elementen der EU als solcher geho¨rt das Weiterbestehen der Mitgliedstaaten in ihren sie charakterisierenden Verschiedenheiten. Diese halten die Teile zusammen und damit das Ganze. Das Befo¨rdern einer Ganzheit, die, in der Terminologie von Immanuel Kant, allzu vieles ,zusammenschmelzt‘, reißt Wurzeln aus, die sie selbst nicht schlagen kann. Hatte nicht bereits Friedrich II. homogenisierendes ,Zusammenschmelzen‘ in seinem urspru¨nglich ganz heterogenen Ko¨nigreich Sizilien versucht, freilich mit a¨ußerster Gewalt, ohne bleibenden Erfolg?

3. Auch in der Schwesterdisziplin der Rechtshistoriker, bei den deutschen (Mittelalter-)Historikern, konstatiere ich ein Rezeptionsdefizit, eine Diskrepanz zwischen einem generellen Respekt vor dem ,Kollegen‘ Kantorowicz einerseits und einem nachgerade ruhmlosen Beschweigen seiner Werke andererseits. Gewiss, man liest nur das, was man lesen kann. Kantorowicz’ farbige Lebensgeschichte und seine unverbru¨chliche Treue zu Stefan George („kein Tag“, bekannte er noch zwei Jahrzehnte nach dem Tod seines ,Meisters‘, „an dem ich mir nicht bewusst wa¨re, daß alles, was ich etwa zu leisten vermag, aus einer Quelle gespeist ist“24) bleiben beachtet, zudem manch Historiographisches. Ich erwa¨hne etwa die Arbeiten von Eckhart Gru¨newald, Ute Oelmann, Ulrich Raulff und Janus Gudian.25 Insofern ist Kantorowicz heute a¨hnlich pra¨sent wie wa¨hrend der fru¨hen

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Brief an Robert Boehringer vom 13. 7. 1954. Vgl. Gudian (Anm. 4), S. 35. Eckhart Gru¨newald, Sanctus amor patriae dat animum – ein Wahlspruch des George-Kreises? Ernst Kantorowicz auf dem Historikertag zu Halle a. d. S. im Jahr 1930, in: Deutsches Archiv fu¨r die Erforschung des Mittelalters 50, 1994, S. 89 ff.; Ute Oelmann, Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch, in: Schlieben u. a. (Anm. 4), S. 133 ff.; Ulrich Raulff, Der letzte Abend des Ernst Kantorowicz. Von der Wu¨rde, die nicht stirbt: Lebensfragen eines Historikers, in: Rechtshistorisches Journal 18, 1999, S. 167 ff.; Gudian (Anm. 4); Carola Groppe, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bu¨rgertum und der George-Kreis 1890 – 1933, Ko¨ln u. a. 1997; Barbara Picht, Erzwungener Ausweg. Hermann Broch, Erwin Panofsky und Ernst Kantorowicz im Princetoner Exil, Darmstadt 2008. 25

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Brackmann-Kontroverse nach Erscheinen des ,Friedrich‘-Buches.26 Ja, Kantorowicz fasziniert heute sta¨rker, breitgefa¨cherter, transnationaler als fru¨her. Die Parallele zur Konjunktur des la¨nder- und fa¨cheru¨bergreifenden Interesses an Stefan George liegt nahe. Dem Werk Georges, seiner Dichtung, gilt diese Beachtung derzeit freilich weniger als seinem wirkma¨chtigen Charisma, seiner Distanz zur Demokratie, seinem Verhalten 1933, seinem Nachleben und, vor allem, seinem Kreis.27 Ist – das andere Extrem – Otto Gerhard Oexles Verdikt repra¨sentativ fu¨r die Media¨visten? Oexle proklamierte, als Forschungsleistung habe uns das ,Friedrich‘-Buch in seinem „intellektuellen und politisch-sozialen historischen Kontext nichts mehr zu sagen“. Und der kritische Historiker postulierte mit einem Pathos, das an die antike ,damnatio memoriae‘ und die Brecht’sche ,Kinderhymne‘ erinnert, „daß in Deutschland auch keine politisch-soziale Gegenwart mehr denkbar sein oder gar wirklich werden mo¨ge, der ein Buch dieser Art etwas zu sagen ha¨tte“.28 Kann man sich, umgekehrt, ein Deutschland, ein Zentraleuropa, vor allem: einen Media¨visten vorstellen, gar wu¨nschen, dem die historische 26 Albert Brackmann, Kaiser Friedrich II. in „mythischer Schau“, in: Historische Zeitschrift 140, 1929, S. 534 ff.; ders., Nachwort, in: Historische Zeitschrift 141, 1930, S. 472 ff. (als Replik auf Ernst Kantorowicz, „Mythenschau“. Eine Erwiderung, ebd., S. 457 ff.); Gudian (Anm. 4), S. 66 ff. 27 Parallelen zu Ernst Ju¨nger und Martin Heidegger dra¨ngen sich auf, wobei eine der Besonderheiten Georges sein ,Geheimes Deutschland‘ war. Sein Kreis interessiert heute – Kantorowicz geho¨rte ihm seit 1920 an – als ein Schlu¨sselkapitel deutscher und europa¨ischer Zeit- und Geistesgeschichte und als ein kultur- und sozialwissenschaftlicher Kristallisationskern ersten Ranges. Mit Georges (letztem) Werk befasst sich Ernst Osterkamp, Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, Mu¨nchen 2010. Vgl. auch das George-Jahrbuch, hg. von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann, Tu¨bingen/Berlin 1996 ff. 28 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaften im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Historische Zeitschrift 238, 1984, S. 17 ff.; ders., Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, in: Ius Commune 30, 1987, S. 77 ff.; ders., Sozialgeschichte-Begriffsgeschichte-Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: Vierteljahresschrift fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71, 1984, S. 305 ff. (in der 5. Aufl. von ,Land und Herrschaft‘ [1965] a¨ußert Brunner seine „Betretenheit angesichts der zeitgebundenen politischen Auffassungen“ der 3. Aufl. von 1943). Vgl. aber Kroeschell (Anm. 9), S. 325: „Fu¨r Verfassungsgeschichte wie Rechtsgeschichte steht freilich noch heute außer Zweifel, daß Brunners Werk mit seiner ¨ berwindung des neuzeitlich-staatlichen Bequellennahen Terminologie und der U zugsrahmens einen ,Paradigmenwechsel‘ markierte.“

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Wirkung des ,Kultes des Staates‘, die u¨bernationale, auf Nationales zielende Kaiser- und Mythengeschichte, einschließlich der Erforschung ihrer politisch-theologischen Dimension, sowie das mittelalterliche Postulat der Fu¨rstensolidarita¨t gleichgu¨ltig sein ko¨nnte und du¨rfte? Natu¨rlich hat die ,Friedrich‘-Erza¨hlung auch andere, weiterfu¨hrende Spuren in der Fachforschung hinterlassen. Ich erinnere nur an den erfrischend homerischen Disput zwischen Hans Martin Schaller und Erich Klingelho¨fer u¨ber die bestrittene Bedeutung der staufischen Reichsgesetze.29 Insgesamt aber scheint mir in der deutschen media¨vistischen Forschung, trotz Josef Fleckenstein, trotz Johannes Fried,30 ein Vergessen zu u¨berwiegen, wobei nicht das Mittelalter als solches vernachla¨ssigt wird, sondern Kantorowicz, genauer: seine (im ,Friedrich‘-Buch) ,monumentalistische‘ (Nietzsche-) Geschichtsschreibung. Sie stellt uns eine große historische Ta¨tergestalt derart vor Augen, dass wir in der Gegenwart ebenfalls Bedeutendes vollbringen wollen. Wissenschaft aber, so la¨sst sich Oexles Verdikt erkla¨ren, erforscht, soweit mo¨glich, die objektive Wahrheit. Sie dient der abstrakten Erkenntnis, nicht dem Leben. Das Beschwo¨ren menschlicher Ganzheit, das Ausmalen von Vorbildern, das Beantworten der fundamentalen Frage „Wie sollen wir leben?“ ist nicht ihre Aufgabe. Fu¨r die weitgehende Nichtrezeption der ,Two Bodies‘ gibt es eine andere, simple Erkla¨rung. Was geht uns in unserer republikanisch-demokratischen Postmoderne ein Werk an, mo¨gen manche meinen, das auf mehr als 550 Seiten mit u¨ber 1000 weit ausholenden Anmerkungen – ein Spa¨twerk eben – eine einzige juristische Metapher dreht und wendet? Eine bloße Rechtsfiktion zudem, mit der englische Kronjuristen einer versunkenen Epoche ein schon damals, bei den Tudors, verwehendes Problem gelo¨st haben: das der u¨berperso¨nlichen Stabilisierung der Herrschaft beim Tod des Herrschers? Gewiss, in Diktaturen – demnach in der Mehrzahl der heutigen Staaten – bleibt die ,transmortale‘ Kontinuita¨t der Herrschaft das Problem. Aber in demokratischen Verfassungsstaaten? Selbst der sensible 29 Hans Martin Schaller/Erich Klingelho¨fer, in: Stupor Mundi. Zur Geschichte Friedrichs II. von Hohenstaufen, hg. von Gunther G. Wolf, Darmstadt 21966. 30 Fleckenstein, Geleitwort, in: Kantorowicz (Anm. 1), S. 9 ff.; ders., Ernst Kantorowicz zum Geda¨chtnis, in: Frankfurter Universita¨tsreden 34, 1964, S. 11 ff.; Fried, Einleitung, in: Kantorowicz (Anm. 3), S. 7 ff.; ders., Ernst H. Kantorowicz, in: Gudian (Anm. 4), S. 180 ff. Demgegenu¨ber Wolfgang Stu¨rner, Friedrich II. 1194 – 1250, Darmstadt 32009, S. XXII (Vorwort): „mythisch u¨berho¨hende Deutungen“, „problematische Extremposition“.

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Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff u¨bersah Kantorowicz’ Augen o¨ffnende Kapitel in den ,Zwei Ko¨rper‘ u¨ber ,Richard II.‘ und ,Macbeth‘. Gleiches gilt fu¨r die angloamerikanische law and literature-Bewegung. Ihre Beispiele entstammen Shakespeare, ihre Belege u¨bergehen die ,Two Bodies‘.31 Also kein Beschweigen, sondern Rechercheschwa¨che?

4. Gerade als Rechtshistoriker hat uns Kantorowicz – bei unvoreingenommener, kritischer Lektu¨re – viel zu sagen. Fu¨r Rechtswissenschaftler hat der Media¨vist Wichtiges wieder fruchtbar gemacht oder ganz neu ans Licht gezogen. Beispiele sind die eschatologische Fa¨rbung der Renovatio-Idee; die Spannung zwischen natura und iustitia; das Wiederaufflackern antiker Herrschaftsvergottung; die Vorstellung vom Kaiser als lex animata, als Quelle und lebende Verko¨rperung des Rechts; das Entstehen und Ausbreiten einer europa¨ischen Rechtswissenschaft (einschließlich eines auch kanonistisch geschulten Juristenstandes). Hervorzuheben ist die hohe Bedeutung, in formeller wie inhaltlicher Hinsicht, des ro¨mischen Rechts sowie der Durchsetzung des Rechts in der Herrschaftsideologie der Staufer. Andere rechtsgeschichtlich relevante Beispiele sind der Aufbau eines zentralen Verwaltungs- und Justizsystems; die Ableitung der Adelsprivilegien aus einer gottgewollten, rationaler Begru¨ndung nicht bedu¨rftigen Weltordnung; die die Gesellschaftsordnung mitbestimmenden Herrschaftsvertra¨ge und die sonstigen, teilweise ungeschriebenen Rechte. Der Kaiser war, so der ,Erga¨nzungsband‘, hinsichtlich der Gerechtigkeit dominus et pater, aber auch filius et minister, als mittelalterlicher Herrscher Recht und Billigkeit (aequitas) so untergeordnet wie ihnen als antiker Imperator u¨bergeordnet. Dies alles sollte Rechtshistoriker nicht faszinieren? Relevant ist doch auch die schon aus der Antike vertraute legitimationspolitische Bedeutung der 31 Ekkehart Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen: Historien, Ro¨merdramen, Trago¨dien, Frankfurt a. M. 1992; Richard A. Posner, Law and Literature. A Misunderstood Relation, Cambridge, Mass. 1988, S. 54 ff., 261 f.; Richard Weisberg, Poethics and Other Strategies of Law and Literature, New York 1992; Bruce L. Rockwood (Hg.), Law and Literature Perspectives, New York u. a. 1998; Maria Aristodemou, Law and Literature. Journeys from Here to Eternity, Oxford 2000; Jack Benoit Gohn, Richard II: Shakespeare’s Legal Brief on the Royal Prerogative and the Succession to the Throne, in: Georgetown Law Journal 70, 1982, S. 943 ff.

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propagandistisch-integrativen Selbstdarstellung des Herrschers und der ¨ ffentlichkeitsarbeit, die Aufkla¨rung Herrschaft:32 die ,Image‘-Pflege und O der Bevo¨lkerung (sowie des Papstes und der befreundeten, zur Solidarita¨t aufgerufenen Herrschaftsverba¨nde) u¨ber Sinn und Grundlage, Aktion und Telos der Staatsgewalt. Jeden Rechtshistoriker du¨rften genauso die Trennung von Person und Amt interessieren, also die Herausbildung u¨berpersonaler, Herrscherwechsel u¨berdauernder Institutionen; die ungebrochene politische Kraft der Rechtsgemeinschaft ,ro¨mische Kirche‘; der Einfluss der ,Modernita¨t‘ Friedrichs II. auf die Renaissance und die Geburt des abendla¨ndischen Staates – Entwicklungen im Horizont der satanischen Grausamkeit dieses ,Aufkla¨rers‘ wie der caesarischen Milde dieses Visiona¨rs. Rechtshistorisch wichtig sind auch die auf diesen Herrscher bezogene Weissagung vom Endkaiser einerseits und seine zunehmend widerchristlichen Angriffe auf den Papst andererseits. Geschichtlich interessierte Juristen fasziniert zudem das neugeordnete Sizilien – als das Modell eines fru¨hen Beamten- und Einheitsstaates mit ausgebautem Gerichts- und Vollstreckungswesen und einer weitgehend gelenkten Wirtschaft. Angesichts von vielfa¨ltigem Verrat und immer wieder aufflammendem Widerstand ist Friedrichs Sizilien zugleich der Ort gezielter kaiserlicher Vergeltung, zuletzt ziellosen Terrors und schließlich des Scheiterns des Herrschers. Fordern schon diese Themen methoden- und ideologiekritische Rechtshistoriker heraus, gilt dies erst recht von Kantorowicz’ Ausfu¨hrungen zu den komplexen Rechtsquellen im Mittelalter. Durchga¨ngig ist im ,Friedrich‘-Buch die Rede vom go¨ttlichen oder natu¨rlichen Recht, vom Naturrecht (lex aeterna) auf der einen Seite (als mit dem Menschen geboren, in sein Gewissen eingeschrieben) und dem positiven, vom Herrscher gesetzten Recht auf der anderen. Der Stauferzeit fehlte eine Verfassung im modernen Sinn, so dass Grundlagen, Aufgaben und Grenzen der Herrschaft nicht in menschengemachten Sa¨tzen von ho¨chstem Rang normiert waren. Kein Mangel herrschte aber an ungeschriebenen Rechtssa¨tzen, an Herkommen, an consuetudo; auch das ro¨mische Recht, das Kaiserrecht, galt. Kantorowicz begeisterte sich vor allem fu¨r den ,modernen‘ normativen 32 Vgl. Helmut Quaritsch (Hg.), Die Selbstdarstellung des Staates. Vortra¨ge und Diskussionsbeitra¨ge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule fu¨r Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1977, S. 21 ff.; Herbert Kru¨ger, „Staatspflege“, „Sichtbarmachen der Staatsidee“, Grundrechte als „Vehikeln der Staatshervorbringung“, „Staatsberedsamkeit“; ders., Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 21966, S. 217 ff., 437 ff.

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Neugestaltungswillen des illuster heros, wie ihn dann Dante, des Kaisers Panegyriker, nannte. Die Kosten dieses „großen Menschentums“, die Konfiskationen, Verwu¨stungen, Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Blendungen, Hinrichtungen, werden im ,Kaiser Friedrich‘-Narrativ nicht verschwiegen. Wohl aber ist das der Fall bezu¨glich der undeutlich bleibenden normativen Kollisions- und Rangfragen. Aus diesem Rechtsgeltungs- und Rechtsquellen-Komplex abschließend drei rechtshistorisch relevante Beispiele. Das Moment der perso¨nlichen Treuebindung an den Machttra¨ger im Horizont des Lehnsrechts war fu¨r den Kaiser und damit fu¨r Kantorowicz’ Erza¨hlung zentral. So bedrohte Friedrich II. im Mainzer Reichslandfrieden von 1235 alle, die ihre Gerichtsbarkeit von ihm ableiteten, mit harter Bestrafung fu¨r ungerechtes Richten. Das mit dem Treueverha¨ltnis und den naturrechtlichen Geboten, die auch die Herrscherrechte begrenzten, korrespondierende ius resistendi freilich, mein erstes Beispiel, bescha¨ftigte den jungen Historiographen Kantorowicz weit weniger als – spa¨ter – den seinem Amt und dessen Wu¨rde verpflichteten Hochschullehrer. Als solcher verteidigte er Freiheit und Ethos des Professors 1949/50 gegen eine unwu¨rdige inneramerikanische ,Kommunistenjagd‘ so mutig, wie er es 1933 getan hatte, damals gegen den massiven rassistischen NS-Terror.33 Freunde aus dem George-Kreis, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, im Jahr 1926 neben anderen und Stefan George himself am kollektiven Korrekturlesen des ,Kaiser Friedrich‘ beteiligt, sowie Bertholds ju¨ngerer Bruder Claus beriefen sich bei ihrem Widerstand gegen die NS-Gewaltherrschaft auf jene traditionsreiche Reziprozita¨t von Gehorsams- und Treuezusage des Eidgebers einerseits und Treue und Fu¨rsorgezusage des Eidnehmers andererseits. Die 1934 im Reich u¨berfallartig verscha¨rfte Ei33 „Ich kann nicht zweimal dem Gleichen zuschauen“, hatte er 1950 gea¨ußert. Vgl. Kantorowicz, Erga¨nzungsband (Anm. 2), S. 200 f.: Die Anschauung, auf Grund derer der Kaiser als Retter der Kirche, gezwungen durch Versagen des Papstes, auftritt, „wird spa¨ter als ,Notstandstheorie‘ Allgemeingut“. Dass beim „Versagen einer der Gewalten die andere einzutreten hatte, war im u¨brigen eine a¨ltere Lehre“. Ebd., S. 208: Diese Theorie lehre, „daß die Verantwortung des Staates wirksam wird, wenn die Kirche entartet“. Zum Widerstandsrecht ders. (Anm. 1), S. 75 f., 146, 364, 370 ff. Zum Kontext Arthur Kaufmann/Leonhard E. Backmann (Hg.), Widerstandsrecht, Darmstadt 1972; Wolfgang Graf Vitzthum, Stauffenberg. Zur Rechtfertigung von Eidbruch und Tyrannenmord, in: Coexistence, Cooperation and Solidarity. Liber amicorum Ru¨diger Wolfrum, hg. von Holger Hestermeyer u. a., Leiden/Boston 2012, Bd. II, S. 2145 ff.

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desformel war zwar immer noch religio¨s u¨berho¨ht. Der bei Gott geschworene ,heilige Eid‘ (der Beamten und Soldaten) sollte aber jeglichen Widerstand delegitimieren: Nicht nur in der Vormoderne wurde Sakrales widerchristlich instrumentalisiert. Wer dann den permanenten Bruch des Treueversprechens zum ,Fu¨hrer‘ durchschaute, schu¨ttelte die Bindung an den pseudoreligio¨sen Eid leichter ab. Deshalb konnten sich jene Verschwo¨rer, unter dem Schock der mo¨rderischen Verfolgung der Juden, der Kriegsverbrechen der Wehrmacht im Osten und des Hungertodes von insgesamt mehr als zwei Millionen russischer Kriegsgefangener, im Fru¨hwinter 1943/44 zum Doppelentschluss ,Tyrannento¨tung und Staatsstreich‘ durchringen. Der 20. Juli 1944 war ein Akt der Notwehr, der Nothilfe und des Notstands. Die Empo¨rer, Menschenrechtler avant la lettre, handelten als Retter von Recht und Reich, ,gezwungen‘ durch die Regimeverbrechen. Kantorowicz erwa¨hnte die einschla¨gige mittelalterliche Theorie.34 Augustinus und der Aquinate, beide im ,Kaiser Friedrich‘ ausgewertet, hatten die Grundlagen gelegt. Wird der Herrscher zur Bestie, ist die Herrschaft auf einen anderen zu u¨bertragen: die Befa¨higten, etwa die Ephoren, sind berechtigt, ja letztlich verpflichtet, das Gemeinwesen in seinem eigentlichen, von Gott gemeinten Sinn zu bewahren. Sie haben die existentiell gefa¨hrdeten Menschen und Vo¨lker zu retten und menschenwu¨rdige Zusta¨nde unter der allgemeinen Gu¨ltigkeit des Rechts zu schaffen. Das ist kein Hochoder Landesverrat: Verra¨ter kann man nicht verraten. Die Parallele zum modernen Menschenrechtsschutz dra¨ngt sich auf, die Analogie zur voraussetzungsreichen „humanita¨ren Intervention“ und zur ebenfalls schwieriger zu begrenzenden als zu begru¨ndenden kollektiven „Schutzverantwortung“.35 Schon die Allgemeine Erkla¨rung der Menschenrechte von 1948 hatte in ihrer Pra¨ambel die Notwendigkeit unterstrichen, „die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schu¨tzen, damit der Mensch nicht als letztes Mittel zur Rebellion gegen Tyrannei und Un34

Kantorowicz, Erga¨nzungsband (Anm. 2), S. 200 f., 208. Vgl. Christopher Verlage, Responsibility to Protect. Ein neuer Ansatz im Vo¨lkerrecht zur Verhinderung von Vo¨lkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Tu¨bingen 2009; Alex J. Bellamy, Responsibility to Protect. The Global Effort to End Mass Atrocities, Cambridge 2009. Die Wirkkraft des „Prinzips“ der Schutzverantwortung (zu) hoch einscha¨tzend Anne Peters, Humanity as the A and O of Sovereignty, in: European Journal of International Law 20, 2009, S. 513 ff.; Hugo Grotius hatte „humanita¨re Interventionen“ nur in a¨ußerst engen Grenzen zugelassen, etwa zur Abwehr von Menschenfresserei, nicht schon zur Beka¨mpfung von „Barbarei“. 35

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terdru¨ckung greifen muss“. Die Scho¨pfer dieser UNO-Deklaration gingen von der vorstaatlichen Anerkennung und rechtlichen Geltung des Widerstandsrechts aus. Von hier aus ha¨tte sich ein Bogen zum Menschenwu¨rdeThema im dunklen ,Dante-Schlusskapitel‘ der ,Zwei Ko¨rper‘ schlagen, ha¨t¨ berforderungsgefahr dieses ten sich Differenzierungsbedu¨rftigkeit und U Ansatzes illustrieren lassen.36 War das dem sachlich-strengen Media¨visten zu juristisch? Zweites Rechtsquellen-Beispiel: Intensiv ging Kantorowicz auf das „Statutum in favorem principum“ von 1231 ein. Nach der teils kunstvoll erhellenden, teils zugleich verdunkelnden Ausdeutung seitens des Gelehrten war das Statut keine bloße Aufgabe von Reichszusta¨ndigkeiten zugunsten der Fu¨rsten, kein Nullsummenspiel. In dem im Stil einer vo¨lkerrechtlichen Abmachung verfassten Dokument sah Kantorowicz vielmehr den Eckstein eines strategischen grand design des jugendlichen ,Staatsgenies‘, gerichtet auf ein Vorab-Stabilisieren des deutschen Teils des poro¨sen Reiches. Dieses umfasste ja auch riesige, traditionell unbotma¨ßige nichtdeutsche Teile, die, so verstehe ich Kantorowicz’ Andeutungen, nach dem Ordnen der deutschen Verha¨ltnisse dann scha¨rfer an die Kandare genommen werden konnten und sollten. Letzteres war die gro¨ßere, vom Kaiser, auch wegen des anschwellenden pa¨pstlichen Widerstandes, letztlich nie bewa¨ltigte Agenda. An den rebellischen lombardischen Sta¨dten (,Reichsitalien‘) hatte sich, wie die Niederlage bei Legnano 1176 belegt, schon Barbarossa, Friedrichs II. bedeutender Großvater, die Za¨hne ausgebissen. ¨ berzeugung der meisten Rechtshistoriker wurde jenes Statut Nach U dem 20-ja¨hrigen Ko¨nig Heinrich VII., dem a¨ltesten Sohn des Kaisers, von den Fu¨rsten auf dem Wormser Reichstag abgerungen. Nolens volens habe Friedrich II. die Fu¨rstenprivilegien, diesen Ausverkauf der Reichsrechte, dann im Mai 1232 besta¨tigt.37 Das Statut dehnte die kaiserlichen 36 Kantorowicz (Anm. 1), S. 444 ff. (S. 213: Dantes Abneigung gegen die Herrschaft der Juristen in der Kirche; S. 222: „humana civilitas“; S. 449: Dante als juristische Autorita¨t; S. 468 ff.: sein Denken in den Rechtsbegriffen seiner Zeit; S. 453 ff.: Wu¨rde des Menschen; S. 488: der sterbliche Ko¨nig ist „im Hinblick auf seine Dignita¨t“ unsterblich. Zu seiner Stellung in der mittelalterlichen Staatslehre Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wien/Leipzig 1905. 37 Vgl. Johannes Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, Mu¨nchen 2008, S. 293 ff.; Stu¨rner (Anm. 29), S. 280 ff. Demgegenu¨ber Willoweit (Anm. 9), S. 66 f.: die Fu¨rstenprivilegien seien weniger Beweis „kaiserlicher Ohnmacht“ denn Ausdruck „neuartigen“, „extrem territorialen Herrschaftsdenkens“.

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Zugesta¨ndnisse an die geistlichen Fu¨rsten von 1220, niedergelegt in der ,Confoederatio cum principibus ecclesiasticis‘, auf die weltlichen Fu¨rsten ¨ bereinkunft auf Augenho¨he, aus. ,Confoederatio‘ signalisiert: Es war eine U kein ungleicher Vertrag. Das Statut machte die Fu¨rsten de iure weitgehend zu Territorialherren. De facto hatten sie sich diesen Status bereits mehr oder weniger angemaßt. Friedrichs II. Reaktion auf diese Lage bestand in ihrem Erkennen und formell verbriefenden, realpolitisch unausweichlichen Anerkennen, der Verzicht auf die Ausu¨bung seiner Hoheitsrechte u¨ber Burgen und Sta¨dtebau auf dem Gebiet der Fu¨rsten eingeschlossen. Materiell war es eine a¨ußerst schwerwiegende, ohne Vorbehalt eines Widerrufs erkla¨rte, nie mehr korrigierte Preisgabe. Seiner imperialen Gesamtvision halber musste der „ro¨mische Caesar und Imperator“, wie ihn Kantorowicz anruft, Deutschland-bezogen Real-, ja Verzichtpolitiker werden. Die Fu¨rsten ihrerseits wurden zunehmend zu Inhabern der Landeshoheit mit besta¨tigter (abgeleiteter) Gerichtsgewalt und gesicherten Rechtsetzungsbefugnissen (zu Beginn des 15. Jahrhunderts war die Territorialherrschaft dann weitestgehend konsolidiert). Die Reichsfu¨rsten, wie sie sich auf dem Weg zum modernen Staat nun nannten und zum Reichsfu¨rstenstand zusammenschlossen, wurden Staatsbildner, ihre Gebiete Territorialstaaten mit ausgebauter Gerichts- und Finanzverwaltung. Anders als Frankreich und England, keinem u¨bernationalen ro¨mischen Imperium verpflichtet, wurde Deutschland kein Einheits-, sondern ein Bundesstaat. Das Grundgesetz von 1949 garantiert diesem Staatstypus Ewigkeit – gewiss keine intendierte Spa¨tfolge jenes in den Augen seines ru¨hmenden Biographen ,großen Entwurfs‘ Friedrichs II. Das Naturrecht, mein drittes und letztes Rechtsquellen-Beispiel, wirft besonders schwierige Definitions- und Kollisionsfragen auf. Die Selbstversta¨ndlichkeit, mit der Kantorowicz des Kaisers durchgehende Berufung auf naturrechtliche Sa¨tze referiert, ja akzeptiert, verblu¨fft: Das ungeschriebene, unaba¨nderliche, natu¨rliche Recht gestatte, verbiete oder gebiete dieses oder jenes. Offenbar verdra¨ngt dieses Recht als ho¨chstrangige, auf go¨ttlichen Willen zuru¨ckfu¨hrbare Normschicht im Kollisionsfall das menschengesetzte positive, geschriebene Recht. Die rechtsdogmatischen Probleme dieser machtvollen Rechtsquelle, die auch in den ,Zwei Ko¨rper‘ eine wichtige Rolle spielt, macht Kantorowicz freilich nicht deutlich. Sieht er sie nicht, oder will er das (auch) willku¨rliche Element der ,naturrechtlichen Legitimation‘ der kaiserlichen Handlungen verdecken? Das Problem des Naturrechts, so der Rechtsphilosoph Erik Wolf, besteht in der offensicht-

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lichen Vieldeutigkeit und damit Instrumentalisierbarkeit dieser Lehre, etwa der anthropologischen Naturrechtstheorien. Diese sehen in der Natur des Menschen ein Richtmaß des Rechts. Anknu¨pfungspunkt kann zum einen die einzigartige Natur jedes einzelnen Menschen sein, mit der Folge, dass jeder sein und bleiben darf und soll, was er und wie er seiner Natur nach ist – mit der Konsequenz eines Rechts auf Existenz und Selbstbestimmung. Ein anderer Bezugspunkt kann die Lebenskraft als nicht weniger offensichtliche Natur des Menschen sein. Daraus folgt dann das Gegenteil jener ersten Konsequenz: die Stipulation eines an der menschlichen Triebnatur anknu¨pfenden machiavellistischen Machtrechts, eines naturgegebenen Vorrechts des Sta¨rkeren, eines – so schon der Sophist Kallikles in Platons ,Gorgias‘ – Heroenrechts, auf Grund dessen die Schwa¨cheren unterworfen werden du¨rfen.38 Welcher dieser Begriffe der ,Natur‘ (und des Rechts) vom Kaiser als Basis des massiv in Anspruch genommenen Naturrechts propagiert, von Kantorowicz aber nicht problematisiert wurde, liegt auf der Hand: jene ¨ bermenschen in Verbindung mit der ro¨mispa¨tsophistische Lehre vom U schen Idee des Divus Augustus und der Vision des alttestamentarischen Propheten Daniel, wonach „dem Sta¨rksten das Reich gebu¨hre“. Legitimierte das Naturrecht also etwa auch den Machtrausch des ,Sta¨rksten‘ und den blutigen Terror des Kaisers? An den antiliberalen, antirelativistischen Gestalten-, ja Heroenkult in Gedichten Stefan Georges brauche ich nicht zu erinnern. Friedrich II. – Kantorowicz unterstrich es wiederholt – leitete seine alles rechtfertigende Sonderstellung aus dem Providentiellen seiner Erhebung ab, aus seiner schicksalhaften Auszeichnung. Ein anderer berief sich spa¨ter auf die Vorsehung. Gewiss hat Kantorowicz wie so unendlich vieles auch jene missbrauchsaffine Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffes gesehen, einschließlich der Unmo¨glichkeit, den faktischen Gegebenheiten allein die Kriterien fu¨r Recht und Gesetz zu entnehmen. Kantorowicz, der die Worte sorgfa¨ltig wa¨hlte, war zweifellos bewusst, wie interpretationsbedu¨rftig auch weitere Formeln und Schlu¨sselbegriffe waren, zumal pax und 38

Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung, Karlsruhe 31964, S. 118 ff. (Naturrecht, verstanden als „Selbstordnung des Machtwillens“, mu¨nde in ein „Recht des Sta¨rkeren“). S. 120 unter Verweis auf Kantorowicz: „das hellenistische Ideal vom soteriologischen Weltherrscher“, das sich „bis ins Spa¨tmittelalter (Friedrich II. v. Hohenstaufen) erhalten“ habe; Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts. Eine Einfu¨hrung, Mu¨nchen 41987, S. 80 ff.; Lena Foljanty, „Recht oder Gesetz“. Juristische Identita¨t und Autorita¨t in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, Tu¨bingen 2013.

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iustitia. Aber der große Gelehrte, fasziniert von Gro¨ße, von der rex iustusund vicarius Christi-Selbstperzeption des „Gro¨ßten Friedrich“, neigte offensichtlich weniger zum Abstrahieren, Relativieren, Entideologisieren als zum Recherchieren, Mythisieren und Akklamieren. Wichtiger noch waren Kantorowicz freilich der zwischenmenschliche Kontakt, das geistgoldene Gespra¨ch, zumal bei einem von ihm selbst „lecker bereiteten Mahl“, sowie der detaillierte, nie unterbrochene briefliche Austausch. Erich von Kahler hat mir das bezeugt, als ich, zu spa¨t, vier Jahre nach Kantorowicz’ Tod in Princeton das Vo¨lkerrechtsstudium aufnahm. Von dem großen Media¨visten, von Kantorowicz’ Aura, war die Luft noch immer aufgeladen. Welch entdeckungsreiches Geschenk erwartet uns alle mit der fu¨r 2015 bevorstehenden Edition der weltumspannenden Korrespondenz von EKa (wie er seinen Namen Freunden gegenu¨ber ab¨ bermittlung seiner Trouvaillen in Brief und Aufsatz, der ofku¨rzte)! Die U fene Austausch von Gedanken ,viva voce‘, das pointenspru¨hende, selbstironische, lebhafte Gespra¨ch – das war, neben den wissenschaftlichen Meisterwerken, Kantorowicz’ eigentliches Element, sein Proprium. Das Gespra¨ch, das ihn auch im Fachlichen seine ,charis‘ entfalten ließ im Wu¨rdig-Spielerischen jenes Dialogs, den er im Sinn von Goethes ,Ma¨rchen‘ verstand: „Was ist herrlicher als Gold“, fragt der Ko¨nig. „Das Licht“, antwortet die Schlange. „Was ist erquicklicher als Licht“, fragt jener. „Das Gespra¨ch“, antwortet diese.

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Materiale Gerechtigkeitsaspekte der Seerechtsentwicklung* I. Die Frage nach dem Verha¨ltnis von Recht und Gerechtigkeit Materiale Gerechtigkeitsaspekte der Seerechtsentwicklung1 zu untersuchen heißt, der Doppelfrage nach dem Verha¨ltnis von Recht und Gerechtigkeit und von Gerechtigkeit und Frieden nachzugehen. „Justitia pax est“ steht dabei im Vordergrund. Die Erhaltung des Friedens ist zur zentralen Aufgabe der Vo¨lkerrechtsordnung geworden, die Gerechtigkeit der Ordnung – auch die der Zuordnung und Nutzung des Meeres – ein Mittel zur Anna¨herung an das Friedensziel. Wenn nachstehend gleichwohl der Versuch, na¨here Aussagen u¨ber die Gerechtigkeit zu treffen, im Vordergrund steht, liegt das an der u¨berragenden Bedeutung der Frage nach der Gerechtigkeit. Eine Seerechtsentwicklung, die Gebote der (Verteilungs-)Gerechtigkeit grob verletzte, ha¨tte vor den Schubkra¨ften der Geschichte keinen Bestand. * Aus: Aspekte der Seerechtsentwicklung (Arbeitshefte Staat und Wirtschaft, Bd. 3), W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Mu¨nchen 1980, Hochschule der Bundeswehr, S. 329 – 362. 1 Nachfolgende Skizze vernachla¨ssigt prozedurale Gerechtigkeitsaspekte, konzentriert sich also auf Verteilungsresultate, nicht auf den Vorgang ihres Hervorbringens. Auch Verfahrensfragen weisen Gerechtigkeitsaspekte auf, „procedure“ und „justice“ ha¨ngen zusammen. Wichtigstes Richtmaß fu¨r „procedural justice“ im Seerechtskontext du¨rfte das Nichtzuwiderhandeln gegen Ziel und Zweck der Konferenzverhandlungen sein (vgl. den Rechtsgedanken von Art. 18 Wiener Vertragsrechtskonvention): eine Art vorvertraglicher Vertrauensschutz mit Vorwirkungen auf die Verhandlungen. Die Konferenz besitzt ein Mandat und eine Verfahrensordnung, eine hinreichend pra¨zise Problembemessung und globale Zielbestimmung, einen „großen Plan“. Sich an derartige Vorsa¨tze, Regeln, Zwecke zu halten, ist zumindest ein Indiz fu¨r Verfahrensgerechtigkeit. Vgl. G. Jaenicke, Die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, 38 Zao¨RV (1978), S. 438 ff.; W. Graf Vitzthum, Friedlicher Wandel durch vo¨lkerrechtliche Rechtsetzung, in: J. Delbru¨ck (Hrsg.), Vo¨lkerrecht und Kriegsverhu¨tung, Berlin 1979, S. 123 ff.

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Der Beantwortung der Frage nach dem Verha¨ltnis von Recht und Gerechtigkeit hat sich die Rechtsphilosophie mit solcher Vorliebe angenommen, dass darin oft die ganze Problematik dieser Disziplin eingeschlossen zu sein schien, so unterschiedlich die Antworten auch ausfielen. Die Su¨dwestdeutsche Schule um Gustav Radbruch versuchte das Problem auf terminologischer Ebene zu lo¨sen. Indem sie den Gerechtigkeitsbezug in den Begriff des Rechts hineinnahm, erkannte sie als „Rechtsnormen“ nur „gerechte“ oder wenigstens nach „Gerechtigkeit“ strebende Normen an.2 Dieser Ansatz wird nicht allen Pha¨nomenen gerecht. Es gibt auch ungerechte Normen, die durch Zwang durchgesetzt werden.3 Aus diesem einen Aspekt, der Gerechtigkeit, das Wesen des Rechts zu deuten,4 zwingt, wie Dietrich Schindler5 und Reinhold Zippelius6 gezeigt haben, zu unzula¨ssiger Reduzierung der Vielschichtigkeit des Rechts. Gleiches gilt von der von Rudolf von Ihering und Philipp Heck inspirierten, bis heute etwa in der soziologischen Vo¨lkerrechtsschule um Myres S. McDougal7 nachwirkenden Interessenjurisprudenz. Auch sie sucht das Ganze des Rechts auf eine einzige Formel zu bringen: Recht ist das Resultat von Interessenwirkungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschaffte Max Huber8 dieser Sicht im Vo¨lkerrecht 2 Vgl. R. Zippelius, Das Wesen des Rechts, 4. Aufl., Mu¨nchen 1978, S. 22; E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tu¨bingen 1963, S. 713 ff. (nach 1933 notierte Radbruch: „Gerechtigkeit, nicht Zweckma¨¨ berordnung der Gerechtigkeit ßigkeit die Idee des Rechts!“ – eine „Kehre“ zur U u¨ber die Sicherheit und Zweckma¨ßigkeit). 3 Zippelius (Anm. 2), S. 22. 4 Radbruchs „Relativismus“ (dazu Wolf [Anm. 2], S. 738 ff.) verhinderte ein Absolutsetzen dieser Betrachtungsweise: Kern war seine Mahnung, „sich in Behauptungen u¨ber Wesen und Inhalt der Gerechtigkeit zuru¨ckzuhalten. Sie erinnert jeden Rechtsdenker daran, daß es gilt, im Stand der Frage auszuharren, … in der Hoffnung, daß auch eine Wissenschaft, die von wahrer Gerechtigkeit nicht mehr weiß, als den es scheinbar besser Wissenden ihre Grenzen zu zeigen, unter der Gnade steht, die alle menschliche Gerechtigkeit u¨berho¨ht und vollendet“ (ebd., S. 756 f.). Vgl. Radbruchs Feststellung: „Der gesamte politische Tageskampf stellt sich dar als eine einzige endlose Diskussion u¨ber die Gerechtigkeit“. 5 Verfassungsrecht und soziale Struktur, 5. Aufl., Zu¨rich 1970, S. 39 ff. 6 Wesen (Anm. 2), S. 1, 2, 22, 67. 7 Some Basic Theoretical Concepts about International Law, Journal of Conflict Resolution 4 (1960), S. 337 ff.; U. Scheuner, New Haven Approach und Vo¨lkerrecht, in: ders. (Hrsg.), Autorita¨t und internationale Ordnung, Berlin 1979, S. 63 ff.; J.L. Kunz, The Changing Science of International Law, AJIL 56 (1962), S. 495 f.; W. Rudolf, Vo¨lkerrecht und deutsches Recht, Tu¨bingen 1967, S. 21. 8 Die soziologischen Grundlagen des Vo¨lkerrechts, Berlin 1928, S. 10.

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Hausrecht: Dieses Recht sei der Ausdruck durchschnittlicher Kollektivinteressen. Das kausale Rechtsdenken Rudolf Mu¨ller-Erzbachs lenkte nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufmerksamkeit auf zusa¨tzliche Faktoren, auf Liebe, Hass, Vertrauen, Macht.9 Am Ansatz, der unvermittelten Herleitung der Norm aus der Realita¨t, a¨nderte dies nichts. Dieses Rechtsdenken greift zu kurz. Rechtsnormen sind nicht nur Interessenderivate; sie sind auch Interessenentscheidungen.10 Mo¨gen Macht und sonstige „Realien“11 in das Recht einbrechen, mo¨gen sie Rechtsbildung und -reform anstoßen und wichtige Elemente vorgeben12 – sie enthalten kein Richtmaß fu¨r Wertentscheidungen, fu¨r die Abwa¨gung kollidierender Zwecke.13 Insofern verfehlen Interessenjurisprudenz wie kausales Rechtsdenken die Frage nach dem Maßstab, mit dem die außerrechtlichen Faktoren gegeneinander abzugrenzen sind. „Vor dem Forum der Gerechtigkeit muss zur Analyse, welche Interessen im Spiel sind, immer die Bewertung hinzutreten.“14 Diese Abwa¨gung kann sich nicht in einer Realanalyse erscho¨pfen. Zu groß ist der Spielraum, den die Vorgegebenheiten der rechtlichen Entscheidung lassen. Bei der Abwa¨gung ist deshalb jede Normgebung vor die Bewertungsfrage gestellt.15 Die Spannung zwischen den Realien des Rechts und ihrer rechtlichen Bewertung, der Dualismus „zwischen dem zu ordnenden Sachverhalt und dem Prinzip der Ordnung selbst“,16 la¨sst sich nicht u¨berspielen. Die Gerechtigkeitsfrage ist demnach die Frage nach dem richtigen Prinzip der Ordnung.17 Materialen Gerechtig9

Vgl. Zippelius (Anm. 2), S. 62. Ebd. S. 61 ff., 66 f. 11 Eugen Hubers Ansatz (Recht und Rechtsverwirklichung, S. 29, 31, 34, 61, 28) wird von D. Schindler (Anm. 5), S. 33 ff. aufgegriffen und zur Lehre vom „Parallel- und Komplementa¨rverha¨ltnis von Recht und Außerrechtlichem“ ausgebaut, S. 70 ff. 12 Schindler (Anm. 5), S. 91 ff. 13 Vgl. Zippelius (Anm. 2), S. 63, 66 f., 117 ff. 14 Ebd., S. 66. 15 Huber (Anm. 8), S. 9: „Es kann wohl kaum fraglich sein, daß von allen Rechten (das Vo¨lkerrecht) sich am engsten an seinen sozialen Unterbau anschließt und anschließen muß, weil hier die objektive Rechtsordnung unmittelbar auf dem Willen der Rechtssubjekte beruht, und weil es hier an Organen fehlt, welche in der La¨ge wa¨ren, unabha¨ngig vom Willen einzelner Rechtssubjekte die objektive Rechtsordnung zu verwirklichen.“ 16 Zippelius (Anm. 2), S. 67. 17 Ebd. 10

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keitsaspekten der Seerechtsentwicklung nachzugehen heißt demnach, Leitbilder einer richtigen Ordnung der Herrschafts- und Nutzungsverha¨ltnisse am Meer zu suchen und an ihnen das rechtspolitische Geschehen zu messen.

II. Die Frage nach Gerechtigkeitsaspekten der Seerechtsentwicklung 1. Relevanz und Realita¨t der Gerechtigkeitsfrage Fu¨hrt die Gerechtigkeitsfrage zu einem wirklichkeitsnahen Gegenstand? Wa¨re diese Frage zu verneinen, mu¨sste die Suche nach fu¨r gerecht befundenen Prinzipien und ihrer Wirkung auf das Seerechtsgeschehen be¨ berfliegt man das vo¨lkerrechtreits an dieser Stelle abgebrochen werden. U liche Schrifttum, ist die Ausgangsfrage zu verneinen. Einige Stichproben mo¨gen genu¨gen. Die Begriffe Gerechtigkeit, Billigkeit, Fairness, richtige Ordnung tauchen im Sachverzeichnis wichtiger Bu¨cher nicht auf.18 Arthur Nussbaums Vo¨lkerrechtsgeschichte entha¨lt lediglich das Stichwort „gerechter Krieg“.19 Alfred Verdross/Bruno Simma behandeln „Billigkeit“ nur im Zusammenhang mit Art. 38 Abs. 2 IGH-Statut.20 Fu¨ndiger wird man

18 Vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Vo¨lkerrecht, 4. Aufl., Ko¨ln u. a. 1980; ders., Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Organisationen, 3. Aufl., Ko¨ln u. a. 1979; R. Wolfrum/N.J. Prill/J.A. Bru¨ckner (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, Mu¨nchen 1977; L. Henkin, How Nations Behave, 2. Aufl., New York 1979; F. v. Liszt/M. Fleischmann, Das Vo¨lkerrecht, 12. Aufl., Berlin 1925; E. Reibstein, Vo¨lkerrecht, 2 Bde., Freiburg/Mu¨nchen 1957/1963; W. Preiser, Macht und Norm in der Vo¨lkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1978. 19 Geschichte des Vo¨lkerrechts in gedra¨ngter Form, Mu¨nchen/Berlin 1960, S. 409; J.M. Mo¨ssner, Einfu¨hrung in das Vo¨lkerrecht, Mu¨nchen 1977, S. 237 (bellum iustum); O. Kimminich, Vo¨lkerrecht im Atomzeitalter, Freiburg i. Br. 1969, S. 386; H. Kro¨ger (Gesamtredaktion), Vo¨lkerrecht, 2 Bde. (Staatsdruckerei der DDR), 1973, Bd. 1, S. 124, Bd. 2, S. 418; E. Menzel/K. Ipsen, Vo¨lkerrecht, 2. Aufl., Mu¨nchen 1979, S. 568. 20 Universelles Vo¨lkerrecht, Berlin 1976, S. 669; W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, New York 1964, S. 398 (equity); Menzel/Ipsen (Anm. 19), S. 569 (Billigkeit); Reibstein, II (Anm. 18), S. 303 Fußn. 71: „Ex aequo et bono, d. h. nach Billigkeit und Zweckma¨ßigkeit, ohne Bindung an Rechtsvorschriften, eine Erinnerung an die im Mittelalter allgemein u¨blich gewesene Nebeneinanderstellung von minne und recht in den Schiedsvertra¨gen.“

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auch nicht bei den Politikwissenschaftlern.21 Die Praktiker22 schließlich sind nicht ergiebiger, schon weil sie dem Vo¨lkerrecht einen relativ geringen Stellenwert einra¨umen. Ist die Gerechtigkeitsfrage also realita¨tsfern, jedenfalls fu¨r „Realpolitiker“ und „realistische“ oder „kritische Vo¨lkerrechtler“? Man sollte sich von der Gerechtigkeitsabstinenz der angefu¨hrten Autoren nicht beirren lassen: Die Frage nach der gerechten Ordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen ist ein Kernproblem heutiger vo¨lkerrechtlicher und damit auch seerechtlicher Gestaltung. „Das Vo¨lkerrecht“, beschließt Friedrich Berber sein Lehrbuch, „kann nur dann Frieden auf Erden garantieren, wenn das hohe und schwere ethische Gebot der Gerechtigkeit zwischen den Vo¨lkern wie im Innern der Staaten immer und u¨berall verwirklicht wird“.23 Dass dieser 21

W.G. Grewe, Spiel der Kra¨fte in der Weltpolitik, Du¨sseldorf/Wien 1970; H.–P. Schwartz (Hrsg.), Handbuch der deutschen Außenpolitik, 2. Aufl., Mu¨nchen 1976; W. Friedmann, An Introduction to World Politics, 4. Aufl., London/ New York 1962; K. Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, Stuttgart u. a. 1978, S. 96; „Der Gemeinwohlbegriff des Politischen stammt aus dem Bereich der Innenpolitik und wird den Gegebenheiten im Bereich der internationalen Politik u¨berhaupt nicht gerecht. Dort steht der Konflikt- und Machtaspekt des Politischen so eindeutig im Vordergrund, daß kaum jemand auf den Gedanken kommt, außenpolitisches Handeln als Gemeinwohlhandeln zu definieren.“ 22 H.-D. Genscher, Außenpolitik im Dienste von Sicherheit und Freiheit, Stuttgart 1976; H.A. Kissinger, Memoiren 1968 – 1973, Mu¨nchen 1979. Diese Gerechtigkeitsabstinenz ist umso verwunderlicher, als der außenpolitischen Praxis Gerechtigkeitsprobleme gela¨ufig sind. So soll z. B. die Empfehlung 242 (1967) des UN-Sicherheitsrates die Grundlage fu¨r einen „gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten“ bilden. Vgl. Draft Declaration on Rights and Duties of States der ILC (Text in: UNYB 1948/49, S. 948), Pra¨ambel („the reign of law and justice is essential to the realization of this [UN-Friedens-] purpose“, Art. 8 (Pflicht zur Streitschlichtung „in such a manner that international peace and security, and justice, are not endangered“); Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of their Independence and Sovereignty (GAOR, XX, Suppl. 14, S. 11 [1965]), Pra¨ambel; Declaration on principles of international law concerning friendly relations and co-operation etc. (GAOR, XXV, Suppl. 28, S. 121 [1970]), in der „justice“ bzw. „just“ fu¨nfmal vorkommt. 23 3 Ba¨nde, Mu¨nchen/Berlin 1960, 1962, 1964 (Zitat in Bd. 3, S. 270). Vgl. zum „gerechten Preis“ Chr. Tomuschat, Internationale Abha¨ngigkeiten im Rohstoffbereich, in: W.A. Kewenig (Hrsg.), Vo¨lkerrecht und internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, Berlin 1978, S. 149 ff. (165 ff.). Vgl. Forderung nach „internationaler sozialer Gerechtigkeit“ und „lohnenden und gerechten“ Rohstoffpreisen in der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, UN-Res. 3281 (XXIX) vom 12. 12. 1974. Vgl. Prinzip fairer Aufteilung der

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wertbezogene Ansatz nicht zu hoch gegriffen ist, la¨sst sich bereits an Hand der Satzungen Internationaler Organisationen belegen. Schon dem Vo¨lkerbund ging es darum, „auf Gerechtigkeit und Ehre gegru¨ndete internationale Beziehungen zu unterhalten … (und) die Gerechtigkeit herrschen zu lassen“ (Pra¨ambel). Konsequent wurde versucht, Vorkehrungen fu¨r „Schritte zur Wahrung von Recht und Gerechtigkeit“ (Art. 15 Abs. 7) zu schaffen.24 Ein Menschenalter spa¨ter spricht die Charta der Vereinten Nationen vom Entschluss, „Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit … gewa¨hrleistet werden“ kann (Pra¨ambel). Gema¨ß Art. 1 ¨ bereinstimmung Ziff. 1 zielt die UNO u. a. auf Friedenssicherung in U mit „den Grundsa¨tzen der Gerechtigkeit und des Vo¨lkerrechts“. Die Grundsa¨tze der UNO umfassen u. a. die Regelung von Streitfa¨llen in einer Weise, „daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefa¨hrdet werden“ (Art. 2 Ziff. 3).25 Zu den „allgemeinen Rechtsgrundsa¨tzen“, die der IGH anzuwenden hat, geho¨ren auch die Prinzipien der Gerechtigkeit.26 Hinzu kommt seine bereits erwa¨hnte27 Befugnis, mit Zustimmung der Parteien den Streitfall ex aequo et bono zu entscheiden, d. h. vom geltenden Recht abzusehen, ganz auf die Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen und insofern zu einem außerrechtlichen Billigkeitsurteil zu gelangen. Bedenkt man schließlich, dass die UN-Generalversammlung fu¨r „die fortschreitende Entwicklung des Vo¨lkerrechts sowie seine Kodifizierung“ Sorge zu tragen hat (Art. 13 Abs. 1 lit. a UN-Charta) 28 – ist es dann wirklich unwichtig, der Frage nachzugehen, inwieweit die derzeitige Seerechtsreform Geboten der Gerechtigkeit folgt? Betrachtet man diesen Kontext na¨her, ist die Frage nach der Pra¨senz des Gerechtigkeitsaspektes fast schon uninteressant, so sehr geho¨rt er von Anfang an zum Alltag Nutzung eines Wasserlaufes, E. Klein, Umweltschutz im vo¨lkerrechtlichen Nachbarrecht, Berlin 1976, S. 187 ff. 24 Zur Satzung Verdross/Simma (Anm. 20), S. 77 f.; Reibstein, II (Anm. 18), S. 301 f. 25 Zur UN-Charta Menzel/Ipsen, Vo¨lkerrecht (Anm. 19), S. 210 ff. 26 Vgl. R.A. Falk, The Status of Law in International Society, Princeton 1970, S. 163 f. 27 S. o. bei Anm. 20. 28 Der Versuch einer Neuordnung des gesamten internationalen o¨ffentlichen Seerechts im Rahmen der 1973 ero¨ffneten Konferenz, das bisher ehrgeizigste Rechtsfortbildungsvorhaben, verdeutlicht die Grenzen der UN-Vo¨lkerrechtspolitik.

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aller Beteiligten. Niemals zuvor ist eine vo¨lkerrechtspolitische Entwicklung eingeleitet worden, die so unmittelbar, so direkt von Gerechtigkeitsvorstellungen angestoßen wurde, die dann so intensiv vom permanenten Rekurs auf das Gerechtigkeitsgebot begleitet wurde, und die nun, 13 Jahre nach ihrer Einleitung, so kritisch am Maßstab einer gerechten Ordnung gemessen wird. Zwei Beispiele mo¨gen dies belegen. Das erste stammt aus Arvid Pardos UN-Meeresbodenrede vom 1. November 1967, die die rechtspolitische Lawine ausgelo¨st hat. Bereits im 7. Satz seiner mehr als dreistu¨ndigen Rede sagte der maltesische UN-Botschafter, erforderlich sei eine Nutzung des Meeresbodens „within a just legal framework“.29 Was der Inselstaat unter „just“ verstand, hatte er dem UN-Generalsekreta¨r bereits am 18. August 1967 mitgeteilt,30 und dieser materiale Verteilungsansatz wurde schnell internationale communis opinio: Die Vorteile der Meeresbodenausbeutung sollten gegenleistungsfrei prima¨r den Entwicklungsla¨ndern zugutekommen. Der gegenteilige Ansatz, die Verwendung des Gros der Ressourcen zum ausschließlichen Vorteil der Industrienationen, bedeute gleichheitswidrig: „The strong would get stronger, the rich richer“.31 Zweites Beispiel: Einige Jahre spa¨ter (1969, 1974 bzw. 1977) entschieden der IGH und ein Internationales Schiedsgericht die Nordsee-Festlandsockel-32 und die Isla¨ndischen Fischereifa¨lle33 bzw. den franzo¨sisch-britischen Streit um die Aufteilung des Unterwassergebietes am Su¨dwesteingang des Kanals.34 Beim ersten Urteil lag das durchga¨ngige Abstellen auf Gerechtigkeits- und Billigkeitsgesichtspunkte – die Anteile der Anrainerstaaten mu¨ssten „just and equitable“ sein35 – insofern nahe, als die Anwendung

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A/C.1/PV.1515, S. 3 – 5. A/6695: Note verbale und Memorandum. 31 A/C.1/PV.1515, S. 58 – 60. 32 North Sea Continental Shelf Case of 20 February 1969, in: S. Oda (Hrsg.), The International Law of the Ocean Development, Leiden 1972, S. 373 ff. 33 Fisheries Jurisdiction Case, in: S. Oda (Hrsg.), The International Law of the Ocean Development (Loseblatt), Alphen aan den Rijn/Germantown 1979, VI.C.3, S. 1 ff. 34 Court of Arbitration, in: Oda (Anm. 33), VII.B.2, S. 1 ff. 35 S. o. (Anm. 32), S. 374 f., 379 ff., 383 („delimitation is to be effected by agreement in accordance with equitable principles“, C.1 des Tenors). 30

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des A¨quidistanzprinzips „unquestionably to inequity“ gefu¨hrt ha¨tte.36 Umso auffa¨lliger die anderen Judikate. Immer wieder fragen sie danach, was „an equitable solution“, „an equitable adjustment of the rights involved“, „an equitable apportionment of the fishing resources“ sei,37 worin „an equitable delimitation“, eine Grenzziehung „in accordance with equitable principles“ bestehe, sowie, was „equity … in the particular circumstances of the present case“ bedeute.38 Das Schiedsgericht pru¨ft eingehend, ob sich das A¨quidistanzprinzip trotz geographischer Besonderheit als Maßstab fu¨r „a ,just‘ or ,equitable‘ delimitation“ eigne.39 Die Beispiele belegen: Dem gerechtigkeitsabstinenten Schrifttum entgeht ein zentraler Aspekt heutiger internationaler Rechtspolitik und Judikatur. Die Gerechtigkeitsfrage lebt, besonders im Seerechtsgeschehen.40 Die Suche nach Prinzipien einer „gerechten“ internationalen Ordnung und nach den hinter derartigen Postulaten stehenden Interessen geho¨rt zur Beurteilung des Neuordnungsprojekts. 2. Relativita¨t und Ambivalenz der Gerechtigkeitsfrage Relevanz und Realita¨t des Gerechtigkeitsaspektes hervorzuheben darf ¨ berscha¨tzen dieses Aspektes verleiten. Gegen (den spa¨ten) Radnicht zum U bruch war einleitend davor gewarnt worden, die Gerechtigkeit als das allein 36 Ebd. (Anm. 32), S. 380. Vgl. schon S. 375: „The plea that … the results can never be inequitable, because the equidistance principle is by definition an equitable principle of delimitation, involves a postulate that clearly begs the whole question at issue.“ Die Parteien hatten Angabe der einschla¨gigen „principles and rules of law“ fu¨r die Abgrenzung ihrer Festlandsockelteile beantragt (ebd.), S. 379 f. Der IGH wies auf die dem Vo¨lkerrecht immanente Billigkeit hin: Es enthalte Normen, die die Mitberu¨cksichtigung von Gesichtspunkten der Billigkeit forderten: „in this field it is precisely a rule of law that calls for the application of equitable principles“ (ebd., S. 379). Vgl. Verdross/Simma (Anm. 20), S. 337 f. 37 S. o. (Anm. 33), S. 7, 9. 38 S. o. (Anm. 34), S. 11, 13, 21, 30. 39 Ebd., S. 39. 40 Vgl. UN-Generalsekreta¨r K. Waldheim: „Providing the developing countries with greater access to the riches of the sea was a major supportive effort in the search for a more equitable … global economic system“, in: Summary Records of Meetings, UNCLOS III, Off. Rec., Vol. VII, New York 1978, S. 3. Ebd., S. 3 f.: „[Without a new law of the sea] conflict would become the price of the sea’s resources … To accept such a situation – favouring, as it would, power at the expense of justice – was unthinkable.“

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Wesentliche des Rechts anzusehen.41 Der Normgeber kann seiner Interessenabwa¨gung die Prinzipien einer „gerechten“ Ordnung zugrunde legen, er braucht es aber nicht. Er kann bestimmte andere Faktoren u¨berproportional stark gewichten, z. B. eine mo¨glichst exakte Kopie natu¨rlicher Faktoren anstreben: Grenzziehung am „Talweg“, an einer Wasserscheide, einem Bergru¨cken oder einer unterseeischen Großformation.42 Mag eine solche Grenzbestimmung auch das Gerechtigkeitsziel teilweise verfehlen, kann sie doch den fundamentalen Werten der Rechtssicherheit 43 und des Friedens44 dienen. Zu unterstreichen ist auch die Relativita¨t der Gerechtigkeitsfrage. Bei ihrer Interessenabwa¨gung ist die Dritte UN-Seerechtskonferenz von einer Vielzahl von Leitbildern bestimmt worden, nicht allein von der Suche nach allgemeiner „Gerechtigkeit“. Erwa¨hnt seien Gesichtspunkte des Umwelt- und Bestandsschutzes, der Konfliktverhu¨tung (Abru¨stung und Ru¨stungsbeschra¨nkung) sowie der Wissensvermehrung (Meeresforschung).45 Die Suche nach einer „gerechten“ Ordnung ist zudem ambivalent. Sie ist abha¨ngig von der Interessenlage des Anwalts der „Gerechtigkeit“, von der Sachfrage, auf die die Suche eine Antwort geben soll, von der Reaktion des Adressaten und vom Standpunkt des Betrachters. Dies soll am Beispiel der zuna¨chst naturrechtlichen Begru¨ndung und spa¨teren realpolitischen Desavouierung des Grundsatzes der Freiheit der Meere illustriert werden Die Parallele zum aktuellen Versuch, die Kontinentalrandlinie als die „natural boundary between continents and oceans“ zu rechtfertigen,46 als „natu¨rliche“ und damit letztlich auch rechtliche Außengrenze des Festlandsockels, liegt auf der Hand. Im Jahr 1609 leitete Hugo Grotius die Meeresfreiheit aus Gerechtigkeitsprinzipien ab: aus der Natur der Sache.47 Sicher, er bediente sich eines ganzen Arsenales religio¨ser und rationaler Argumente.48 Den Zentralpunkt seiner Ableitung eines „Naturrechts der Freiheit der Meere“ aber bildete der bereits von Fernando Vasquez gefu¨hrte „Nachweis“, dass am Meer ein Eigentums- oder sonstiger Herrschaftserwerb 41

S. o. I. Vgl. W. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, Berlin 1972, S. 87 ff.. 43 Vgl. Zippelius (Anm. 2), S. 139 ff. 44 S. u. IV. 45 Vgl. Vitzthum (Anm. 1), S. 128 ff., 131 ff., 141 ff. 46 Nachweise Vitzthum (Anm. 42), S. 87 ff., 363 f. (Anhang 3). 47 Zu diesem Argument Zippelius (Anm. 2), S. 53 ff., 77 f., 83 f. 48 Vgl. Wolf (Anm. 2), S. 252 ff. (268). 42

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u¨berhaupt nicht mo¨glich sei:49 „(Das Befahren des Meeres zu hindern) ist gegen das natu¨rliche Recht oder prima¨re Vo¨lkerrecht, das insoweit nicht gea¨ndert werden kann. … An den Gewa¨ssern und Meeren gibt es … kein anderes Recht, und kann es kein anderes geben als das auf den allgemeinen Gebrauch … Niemand darf in einer Sache, die ihrer Natur nach frei … ist, die Freiheit der Seefahrer behindern und verletzen … entgegen der Regel, wonach alles als erlaubt zu gelten hat, was nicht ausdru¨cklich verboten ist.“50 Mit seinem gegen Meeresmonopolanspru¨che gerichteten Zitat gelang es Grotius, Doktrin und Praxis des mare liberum zu begru¨nden. Er maß die Okkupationsanspru¨che der Portugiesen51 am „Natur der Sache“-Prinzip. Wegen ihrer Naturwidrigkeit seien sie „unvernu¨nftig“, „phantastisch“ und „gegen die natu¨rliche Billigkeit verstoßen(d)“52 – so auch schon Elisabeth I. von England wenige Jahre zuvor: „Ein Recht auf den Ozean ko¨nne keinem Volke oder Privatmann zustehen, denn weder die Natur noch der Begriff des Gemeingebrauches ließen eine Besitzergreifung zu“.53 Kurz: die Freiheit der Schifffahrt beruht nach Grotius auf dem natu¨rlichen Recht, gegen das keine Anspru¨che aufkommen ko¨nnen.54 Das Recht der Niederlande auf Selbstbehauptung ihrer Schifffahrts- und damit auf Handelsfreiheit wird in einem ersten Schritt gestu¨tzt auf das natu¨rliche Recht aller Vo¨lker auf freien Seeverkehr und -handel. Diese allgemeine Freiheit wird in einem zweiten Schritt autorisiert durch Ineinssetzen mit den Regeln der Vernunft und „dem Zwang der Naturgesetze“.55 Grotius’ Ru¨ckschluss vom aus damaliger Sicht zutreffend erfassten Sein („Nichtokkupierbarkeit von Woge und Wind“) auf das normative Sollen (Herrschaftsfreiheit) belegt nicht deshalb die Ambivalenz des Gerechtigkeitsargumentes, weil sich die Vorgegebenheiten der rechtlichen Regelung mittlerweile gea¨ndert haben. Das Meer ist heute okkupierbar. Monopolanspru¨che ko¨nnen nun dauerhaft durchgesetzt werden. Vasquez’ Argument, „die Seefahrt kann aber niemand scha¨dlich sein, es sei denn dem Seefahrer 49

Vgl. Reibstein, I (Anm 18), S. 393 ff., 396 ff., 412. Ebd., S. 396, 398. 51 Gegen die portugiesische Monopolisierung des Seewegs nach Indien richtete sich das Parteigutachten des Niederla¨nders Grotius. 52 So bereits Vasquez, s. Reibstein, I (Anm. 18), S. 397, 399. 53 Zitiert ebd., S. 402. 54 Reibstein, ebd., S. 403 ff.; Wolf (Anm. 2), S. 267. 55 Wolf (Anm. 2), S. 268. 50

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selbst“,56 erscheint an der tankerverseuchten bretonischen Ku¨ste heute nicht weniger vernunft- und naturwidrig, als Vasquez und Grotius der Anspruch, „(daß) das unermeßlich große Meer nach Westindien … von anderen Sterblichen als Spaniern (bzw. Portugiesen) nicht befahren werden darf …“57 Ein bloßes Abstellen auf die gea¨nderte Sachlage verharrte auf der Ebene eines empirischen Naturrechtes. Zum Kern des reichen Rechtsdenkens zu Beginn der Neuzeit und zu seiner offensichtlichen Ambivalenz stieße es nicht vor. Es soll auch nicht auf John Seldens „Mare clausum“ (1636) abgestellt werden, eine im Auftrag Karls I. verfasste Replik auf das „Mare liberum“. Dieser gelehrte Engla¨nder vertrat die Auffassung, dass die neuen Praktiken der Errichtung ku¨stennaher Interessenzonen „den Maßsta¨ben der Gerechtigkeit hinreichend entsprechen“.58 Es soll vielmehr allein auf die Niederlande abgestellt werden, hatte doch ihre Forde¨ berseehandel das grotianische rung nach uneingeschra¨nkter Teilhabe am U Denken veranlasst. In dem Vierteljahrhundert seit Erscheinen des „Mare liberum“ waren die Generalstaaten in den Kreis der Privilegierten aufge¨ berseebesitzes u¨bten sie ein Handelsmonopol aus. ru¨ckt. Kraft ihres U Der Friedensvertrag mit Spanien (Mu¨nster 1648) erkannte ihre weltumspannenden Kolonial- und Handelsinteressen an: „keiner der Vertragschließenden (du¨rfe) in den außereuropa¨ischen Gebieten des anderen Schifffahrt oder Handel treiben“.59 Es war eine Neuverteilung der Welt. Die siegreichen Niederlande, in den Rang einer Seemacht erhoben, ließen leichten Herzens die Meeresfreiheit fallen.60 Hatte Grotius den Satz vom mare liberum noch als einen allgemein menschlichen nachgewiesen, als einen nach den Regeln der Vernunft, dem Zwang der Naturgesetze und damit den Prinzipien der Sachgerechtigkeit geboten Satz, waren es nun die Generalstaaten zufrieden, „daß die Freiheit des Seehandels und der Seeschifffahrt als die Freiheit der eigenen Fahrt auf bestimmten Routen und als niederla¨ndisches Reservat verstanden wurde“.61

56 57 58 59 60 61

Zitat bei Reibstein, I (Anm. 18), S. 398. Ebd., S. 397. Ebd., S. 414. Ebd., S. 420. Ebd. Ebd.

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III. Materiale Gerechtigkeitsaspekte der Meeresbodenfrage 1. Begu¨nstigung der Entwicklungsla¨nder als Leitbild Am 9. April 1970 fragte Eberhard Menzel zweifelnd, ob das Vo¨lkerrecht die Aufgabe habe, „eine Ordnung im Sinne materieller Gerechtigkeit herzustellen, und ob es damit nicht schon von der Konzeption her u¨berfordert ist. Eine solche Homogenita¨t der Weltanschauungen ist letztlich nur in einer civitas maxima, in einer Weltstaatlichkeit mo¨glich. In einer pluralistischen Staatengemeinschaft hat eine internationale Rechtsordnung im wesentlichen nur die Aufgabe, fu¨r den Verkehr zwischen den Staaten geeignete Institutionen zur Verfu¨gung zu stellen und auf deren Einhaltung zu achten. Die vo¨lkerrechtlichen Zusta¨ndigkeiten fu¨r die Herstellung einer materiellrechtlichen Ordnung beschra¨nken sich heute auf sehr begrenzte Gebiete.“62

Menzel ha¨tte seine spa¨rlichen Beispiele fu¨r Versuche, sich auf Teilgebieten des internationalen Lebens materieller Gerechtigkeit zu na¨hern,63 wenige Monate spa¨ter erweitern ko¨nnen. Am 17. Dezember 1970 beschloss die UN-Generalversammlung in ihrer Meeresbodenprinzipien-Resolution64 genau dies: die Errichtung eines universalen, an materialer Gerechtigkeit – gegenleistungsfreier Begu¨nstigung der Entwicklungsla¨nder – orientierten Spezialregimes.65 Die Umsetzung dieses Konzepts einer sozial-verteilungsgerechten und deshalb integrierenden, friedensfo¨rdernden Ordnung66 in vo¨lkervertragliche lex lata ist bis heute nicht gelungen. Bereits die Malta-Initiative von 1967 hatte die Schlu¨sselbegriffe fu¨r das Leitbild einer ku¨nftigen Ordnung geliefert: @ die Aufforderung, den Grund und Untergrund der Hohen See außerhalb des Festlandsockels zum „common heritage of mankind“ zu erkla¨ren, sowie 62

E. Menzel, Grundfragen eines europa¨ischen Sicherheitssystems, in: W. Schaumann (Hrsg.), Vo¨lkerrechtliches Gewaltverbot und Friedenssicherung, Baden-Baden 1971, S. 261 ff. (270). 63 Ebd., Anm. 9 nannte er die Bereiche Menschenrechte, Beseitigung der Rassendiskriminierung, Verhu¨tung und Bestrafung des Vo¨lkermordes. 64 Res. 2149 (XXV); ArchVR 15 (1912), S. 324 ff.; Vitzthum (Anm. 42), S. 358 ff. (Anhang 1). 65 Na¨heres ebd., S. 40 f., 264 ff., 324 ff. 66 Die institutionellen und prozeduralen Elemente werden hier zugunsten der materiellrechtlichen vernachla¨ssigt (vgl. Anm. 1).

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@ die Aufforderung, die Ressourcen dieses Gebietes „in the interests of mankind“ zu nutzen, prima¨r dazu, „to promote the development of poor countries“.67 Es war nicht der Common-Heritage-Grundsatz, der die Sprengkraft des Vorstoßes ausmachte. Dieser Grundsatz war weder neu, noch kaum mehr als eine Leerformel. Eine derartige Kommunklausel, der Kern bereits der Meeresfreiheit, war z. B. in einer Fischerei-Resolution des Institut de Droit International aus dem Jahre 1937 enthalten: „he´ritage commun de tous les hommes“.68 Sie fand sich 1966 im Weltraumvertrag (Art. 1 Abs. 1) in der Gemeinwohlformel wieder, Weltraumaktivita¨ten sollten „the province of all mankind“ sein.69 Im Juli 1967 war sie von der World Peace Through Law Conference auf den Meeresboden angewandt worden.70 Die besondere Wirkung der Malta-Initiative bestand vielmehr in der Anreicherung des „neuen Rechtsprinzips“71„common heritage“ mit der materiellrechtlichen Ordnungskonzeption „taking into account the special interests and needs of the developing countries“:72 „(It) implies equitable distribution of the benefits from exploitation of the heritage.“73 Diese Konkretisierung durch die Forderung nach nicht-reziproker Vorzugsbehandlung der Entwicklungsla¨nder hob die „Gruppe der 77“-La¨nder aus der internationalen Erbengemeinschaft heraus in den Rang befreiter Vorerben.74 Im Kern geht es seither um das Verknu¨pfen der speziellen Meeresbodenfrage mit dem allgemeinen Ziel der Hilfe fu¨r a¨rmere La¨nder, um eine partielle Pflichtbindung des Meeresbergbaus also zu Lasten der Industriestaaten. In der Prinzipien-Deklaration von 1970 wurde dieses verteilungspolitische Konzept, gegen das sich die UdSSR bis zuletzt mit dem Verdikt „unsozialistisch“ gestra¨ubt hatte,75 von der u¨berwa¨ltigenden Staatenmehrheit anerkannt.76 67

A/6695, Memorandum Ziff. 3. Annuaire de l’Institut de Droit International 1931, S. 268. 69 Zur neueren Entwicklung Seidl-Hohenveldern (Anm. 18), Rz. 943 ff. 70 Worauf Pardo, A/C.1/PV.1515, S. 61 hinweist. 71 Pardo, A/C.1/PV.1989, S. 27 (1968). 72 UN Gen.Ass.Res.2461 (XXIII) vom 21. Dezember 1968. 73 Pardo, A/C.1/PV.1589, S. 28 (1968). 74 Der Rest der Menschheit wa¨re bloßer „Pflichtteils-“ oder „Verma¨chtnisnehmer“. 75 A/C.1/PV.1798, S. 31. 68

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Die Bedeutung dieses Versuchs, materiale Vorstellungen umzusetzen, sei an Hand des Grundsatzes der Meeresfreiheit erla¨utert. Nach ihm „kann ein Staat an den Scha¨tzen des Meeres nur teilhaben, wenn er sich selbst an der Meeresnutzung beteiligt; dabei gilt der Grundsatz des freien Zugangs und des freien Wettbewerbs“.77 Dementsprechend wa¨re die Ausschu¨ttung eines Teils des einschla¨gigen Gewinns an die unterindustrialisierten Staaten systemfremd. Im ku¨nftigen Meeresbodenrecht dagegen soll fu¨r jeden Staat das Recht folgen, an den Vorteilen beteiligt zu sein, selbst wenn er nicht den Willen oder die Kapazita¨t zur Meeresnutzung besitzt,78 die Nutzungsoption also nicht selbst wahrnimmt. Insofern geht es um gegenleistungsfreie Gewinnbeteiligung. Sie wird nicht als freiwillig gewa¨hrte, potentiell reversible Unterstu¨tzungsmaßnahme gedeutet, sondern als irreversible, „einklagbare“ Rechtspflicht.79 Es liegt nahe, diese verteilungspolitische Zielbindung mit Parallelentwicklungen in nationalen Rechtsordnungen zu vergleichen. Das Vo¨lkerrecht des Meeresbodens soll im „Treibhaus“ der Dritten UN-Seerechtskonferenz zu Entwicklungsfortschritten getrieben werden, fu¨r deren Durchleben das staatliche Verfassungsrecht beim ¨ bergang vom „Nachtwa¨chter“- zum „Sozial- und Fu¨rsorgestaat“ JahrhunU derte beno¨tigte.80 Bis jetzt ist die Staatengemeinschaft den Nachweis schuldig geblieben, dass ein derart dramatisches „phase-skipping“ mo¨glich ist.81 So undeutlich die gegenwa¨rtigen Vo¨lkerrechtstendenzen auch sind – eine Sozialpflichtigkeit des Meeresbergbaus wu¨rde das ku¨nftige Meeresbo76 UN Gen.Ass.Res.2749 (XXV) vom 17. Dezember 1970, besonders Abs. 7 und 9. Die Res. wurde mit 108 gegen 0 Stimmen bei 14 Enthaltungen angenommen. 77 O. Rojahn, Die Anspru¨che der lateinamerikanischen Staaten auf Fischereirechte jenseits der Zwo¨lfmeilengrenze, Hamburg 1972, S. 274. 78 Ebd., S. 274 f. 79 „The benefits derived from the … exploitation of the sea should accrue to developing states … as a necessary consequence of the peaceful use of the common heritage of mankind“, Cabral de Mello, ebd., S. 275. 80 Vgl. das Dreitaktschema M. Krieles, Einfu¨hrung in die Staatslehre, Reinbek bei Hamburg 1975: „Friede: Der Staat“, „Freiheit: Der Verfassungsstaat“, „Gerechtigkeit: Der demokratische Verfassungsstaat“. Zugespitzt: Das ku¨nftige Meeresrecht soll aus dem friedlosen – staatsrechtlich gesehen: vorstaatlichen – „Urzustand“ ohne das Stadium der „bu¨rgerlichen Freiheit“ durchlaufen zu haben sogleich in die Phase der Sozialstaatlichkeit und materiellen Gleichheit hinu¨bertreten. 81 Beim Regime wa¨re dann weniger an „Wohlfahrtsstaat“ als an „-diktatur“ zu denken.

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denregime in den breiten Strom der aktuellen, durch technologischen Fortschritt, wirtschaftliche Verflechtung und Bevo¨lkerungswachstum angestoßenen Rechtsentwicklung stellen. Dieser allgemeine Trend ist durch die Forderung der Entwicklungsla¨nder nach gerechterer Verteilung des wirtschaftlichen Reichtums gekennzeichnet. Der Su¨den fordert den Norden auf, das Vo¨lkerrecht zu einem „law of international welfare“ auszubauen.82 Diese Tendenzen haben zu einer Schwerpunktverlagerung in der Arbeit der UNO gefu¨hrt: von der Aufrechterhaltung der Koexistenz und des formalen („negativen“) Friedens hin zur Schaffung der Infrastruktur fu¨r Kooperation und materiellen Frieden durch gro¨ßere soziale Gerechtigkeit.83 Das Vo¨lkerrecht ist heute nicht mehr bloßes Zwischenma¨chterecht, sondern „Rechtsordnung der vielfach gegliederten Menschheit“, „auf der Grundlage eines billigen Ausgleichs, insbesondere zwischen den Industriela¨ndern und der Dritten Welt“.84 ¨ berzeugung, dass der Weltfriede auf die Von der (funktionalistischen) U Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden kann, ging bereits im Jahre 1919 die Pra¨ambel der Internationalen Arbeitsorganisation aus.85 In der Zwischenkriegszeit baute Hans Wehberg diesen Ansatz zu einem „neuen“ Vo¨lkerrecht aus, unbedingt ausgerichtet an den Grundwerten „(materieller) Frieden“ und „(soziale) Gerechtigkeit“.86 Wehberg entwickelte dabei keine apriorischen Prinzipien der Gerechtigkeit, sondern ging von deren Minimalelementen aus, fragte also danach, was unter keinem denkbaren Gesichtspunkt als gerecht empfunden werden kann. Alles, was zur ¨ berwindung dieser Zusta¨nde fu¨hrt, erschien tendenziell dann als Plus U in Richtung auf das Gerechtigkeitsziel:87 Funktionsgewinn Internationaler Organisationen, friedliche Streiterledigung, Revision ungerechter Vertra¨ge („peaceful change“), ethisch-teleologisch bestimmte Auslegungsmaximen, weltweite Solidarita¨t.88 „Die internationale Rechtsordnung darf sich nicht 82

Vgl. Verdross/Simma (Anm. 20), S. 252. Ebd., S. 59 f., 91 f., 251 ff. 84 Ebd., S. 658 f. 85 Ebd., S. 173. Die ILO erhielt 1946 den Status einer Spezialorganisation der UNO. 86 P.K. Keiner, Bu¨rgerlicher Pazifismus und „neues“ Vo¨lkerrecht, Diss. jur. Freiburg i. Br. 1976, S. 177 ff. Zur Staatengleichheit als Ausdruck des Gerechtigkeitszieles Rojahn (Anm. 77), S. 210 f. 87 Keiner (Anm. 86), S. 179 f. 88 Ebd., S. 182 ff., 202 ff., 248 ff. 83

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darauf beschra¨nken, nur die besitzenden Staaten zu schu¨tzen, sie muß vielmehr auch dem Revisionsbegehren der ,hungrigen‘ Staaten Rechnung tragen.“89 Das UN-System wurde in Verfolg derartiger Grundvorstellungen nach Auslaufen der Dekolonisierung ganz in diese Richtung hin ausgebaut: „Peace“ als Ziel, „international social justice“ als Mittel.90 Erzwungen wurde diese Haltung durch den damaligen Ost-West-Gegensatz sowie eine anfangs unterscha¨tzte Koha¨renz der Gruppe der Entwicklungsla¨nder, die sich in der UNCTAD ein wirkungsvolles Instrument zur Durchsetzung ihrer Forderungen schuf. Den vorla¨ufigen Ho¨hepunkt bildet die am 1. Mai 1974 von der UN-Generalversammlung angenommene „Declaration on the establishment of a new international economic order“91 sowie die „Charter of economic rights and duties of States“ vom 12. Dezember 1974.92 Durch diese Instrumente soll ein System „kollektiver wirtschaftlicher Sicherheit“, auf Grundlage der Privilegierung der Entwicklungsla¨nder, aufgebaut werden.93 In diesem allgemeinen Kontext, wie gesagt, stehen die speziellen Bemu¨hungen um ein Meeresbodenregime seit 1967. Spa¨testens seit 1974 geht es nicht um die Herausbildung eines speziellen maritimen Montanrechts, also einer investitions- und umweltschu¨tzenden, die Entwicklungsla¨nder an den Ertra¨gen privilegiert beteiligenden Tiefseebergbauregelung. Im Kern 89

Ebd., S. 250. O. Kimminich, Diskussionsbeitrag, in: W.A. Kewenig (Hrsg.), Die Vereinten Nationen im Wandel, Berlin 1975, S. 46 f. (47); Reibstein, II (Anm. 18), S. 312: „oberstes Ziel (der UNO ist) mehr die Erhaltung des Friedens als die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Wer realistisch denkt, wird diese beiden Ziele nicht gegeneinander ausspielen du¨rfen.“ 91 Res. 3201 (S-VI), AJIL 68 (1974), S. 789 ff.; deutsch EA 29 (1974), S. D 294 ff. 92 UN Gen.Ass.Res.3281 (XXIX), mit 120 gegen 6 Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen (westliche Staaten) angenommen; deutsch EA 30 (1975), S. D 364 ff. Die Charta, durch UNCTAD angeregt, stellt die Wirtschaftsbeziehungen auf das spannungsreiche Fundament „souvera¨ne Gleichheit“/„internationale soziale Gerechtigkeit und Zusammenarbeit“/„allgemeine Vorzugsbehandlung“ der Entwicklungsla¨nder. Vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Die „Charta“ der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, in: Recht der Internationalen Wirtschaft (AWD) 21 (1975), S. 237 ff.; N.J. Prill, Weltwirtschaftsordnung, in: Handbuch VN (Anm. 18), S. 524 ff. 93 Vgl. K. Ipsen, Entwicklung zur „collective economic security“ im Rahmen der Vereinten Nationen?, in: Kewenig (Anm. 90), S. 11 ff. 90

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angestrebt wird vielmehr eine neue internationale Meeresbodenordnung. Diese Regelung la¨uft Gefahr, ja intendiert, den maritimen Bergbausachverhalt in ein prima¨r auf die allgemeine Ordnung des internationalen Handels und Technologietransfers zugeschnittenes, insofern sachfremdes Kleid zu zwa¨ngen. 2. Entwicklung des Meeresbodenrechtes 1967 – 1980 Die Bemu¨hungen um ein verteilungsgerechtes Meeresbodenregime zerfallen in zwei Phasen: in das Fa¨llen der Wertentscheidung (1967 – 1970) und ihre Implementation (seit 1970). Mit der Annahme der UN-Meeresbodenprinzipien-Deklaration war die erste Phase abgeschlossen. Das anschließende Jahrzehnt umfasst die bis heute nicht beendete zweite Phase. Das Resultat der ersten Phase war jene bereits skizzierte Einigung auf das „Common Heritage“-Prinzip in seiner entwicklungspolitischen Ausrichtung. Zwei Umsta¨nde relativierten dieses Resultat. Hier ist erstens der sich damals bereits abzeichnende Zugriff von Ku¨stenstaaten auf den gesamten Kontinentalrand zu nennen.94 Die mittlerweile nahezu irreversible Nationalisierung all der Teile des „Erbengemeinschaftsgutes“, die das Gros der Energievorkommen in sich bergen, ist auch Ausdruck einer inneren Widerspru¨chlichkeit der „neuen Weltwirtschaftsordnung“. Neben der „progressiven“ Forderung nach Entwicklungsla¨nderpra¨ferenz huldigt sie dem „konservativen“ Grundsatz der (wirtschaftlichen) Souvera¨nita¨t.95 Angesichts dieser Antinomie ihres eigenen Konzepts kann die sich abzeichnende Monopolisierung der wichtigsten submarinen Erdo¨l- und Erdgasprovinzen durch einige wenige Langku¨stenstaaten aus Entwicklungsla¨ndersicht nicht als „neuordnungswidrig“ angesehen werden. Jedenfalls hat sich die Dritte Welt Versuchen, dem „Common Heritage“-Prinzip nur den weit energietra¨gera¨rmeren Tiefseeboden zuzuordnen, nicht entgegengestellt. Das Resultat ist die exzessive Begu¨nstigung nicht nur der USA, Kanadas, Australiens, der UdSSR, Großbritanniens und Japans, sondern auch die Bevorzugung der wichtigsten Schwellenma¨chte des Su¨dens. Diese ko¨nnen ihre Dominanz u¨ber ihre weniger industrialisierten Hinterla¨nder („Vierte Welt“) steigern. 94

Vgl. Vitzthum (Anm. 1), S. 133 ff., 160 ff. Vgl. W. Graf Vitzthum, Neue Weltwirtschaftsordnung und neue Weltmeeresordnung, EA 33 (1978), S. 455 ff. 95

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Der Wert jener Grundsatzeinigung wurde zweitens dadurch relativiert, dass die Meeresboden-Deklaration unter einer Fu¨lle von Blankettbegriffen, Formelkompromissen und Lu¨cken leidet. So dezidiert sie die Nichtapproprierbarkeit des Meeresbodens unterstreicht und eine entwicklungspolitische Pflichtbindung der marinen Energie- und Rohstoffgewinnung proklamiert, so undeutlich a¨ußert sie sich zum Rechtsstatus der Vorkommen, ganz zu schweigen von der Festlandsockelaußengrenze und der rechtstechnischen Ausgestaltung eines „entwicklungsla¨nderfreundlichen Regimes“. Bei aller Relativierung – ein Blick auf die Bemu¨hungen um eine „neue internationale Wirtschaftsordnung“ macht den Rang jener fru¨hen Weichenstellung zugunsten eines Entwicklungsla¨ndervo¨lkerrechts, bezogen auf den Meeresboden, deutlich. Dort ist „das Wertproblem … die zentrale Frage, … nicht so sehr das Instrumentarium“.96 „Es fehlt nicht an Werten, es fehlt an einer Einigung u¨ber die Werte“.97 Da diese Wertentscheidung im Meeresbodenbereich gefallen ist, wird auch deutlich, warum dem ku¨nftigen Meeresbodenregime aus der Sicht der unterindustrialisierten La¨nder eine Vorreiterfunktion zukommt bei ihrem Bemu¨hen um eine Gesamtreform der weltwirtschaftlichen Ordnung,98 eine Reform, u¨ber deren materiale Grundlage noch kein Konsens besteht. Die zweite Phase der Bemu¨hungen um ein Meeresbodenregime (1970 – 1980) macht deutlich, dass jene Zielentscheidung nur die eine, die wohl weniger bedeutsame Sache ist. Grundsatz- und Wertentscheidungen verlieren an Gewicht und Dynamik, wenn sie nicht konkret und zu¨gig implementiert werden. Um ein Zuru¨ckfallen hinter den einmal fixierten gemeinsamen politischen Willen zu verhindern,99 mu¨ssen Zielentscheidungen durch eine koordinierte Vielzahl von Einzelmaßnahmen realisiert werden. Weniger in der Vorbereitung und Auswahl eines bestimmten Konzeptes liegt das Problem als in der Umsetzung der Willensfestlegung. Die Meeresbodenberatungen haben mit dem Glauben aufgera¨umt, dass „(das Instrumentarium), wenn die Wertfrage erst einmal gelo¨st ist, verha¨ltnisma¨ßig 96

W. Pfeifenberger, Diskussionsbeitrag, in: Kewenig (Anm. 90), S. 61 f. (62). K.M. Meesen, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 64 f. (64). 98 Vgl. Vitzthum (Anm. 1), S. 165: Dem Regime wird durch Auswechseln der Fragestellung ein neuer Zweck unterlegt. Es soll den maritimen Vorla¨ufer und Induktor einer terranen, „neuen“ Weltrohstoffordnung bilden. 99 Vgl. W. von Simson, Der politische Wille als Gegenstand der Europa¨ischen Gemeinschaftsvertra¨ge, in: B. Aubin u. a. (Hrsg.), Festschrift fu¨r Otto Riese, Karlsruhe 1964, S. 83 ff. (91 ff.). 97

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leicht einzusetzen ist“.100 Das gewa¨hlte Verfahren eignete sich fu¨r die (generelle) Wertfixierung, nicht aber fu¨r ihre (spezielle) Realisierung.101 Der „Gruppe der 77“ verfehlte bisher den Nachweis, dass die von ihr befu¨rworteten Mittel zum Erreichen des gemeinsam erstrebten Zweckes tauglich sind. Durchsto¨ßt man die Nebelwand der vorgebrachten taktischen Gegenargumente, trifft man auf eine einheitliche strategische Linie: Die Industriela¨nder fragen nach wie vor, ob die immer komplexer ausfallenden Regimeentwu¨rfe der Dritten Welt eine wirksame und gangbare Meeresbodenordnung vorzeichnen. Wa¨re dies eine Ordnung, so eine Standardfrage, die nicht nur die Interessen der terrestrischen Rohstoffexporteure beru¨cksichtigt, sondern auch die der entsprechenden Verbraucherla¨nder, zumal die der Vierten Welt? Diente es wirklich den Interessen der Entwicklungsla¨nder, wenn das Unternehmen („Enterprise“) der ku¨nftigen Meeresbodenbeho¨rde ein Monopol erhielte und dadurch der Tiefseebergbau, zu dem auf absehbare Zeit nur einige wenige Staaten in der Lage ¨ berzieht die Dritte sein werden, auf Jahre hin behindert werden ko¨nnte? U Welt ihre Forderungen nicht dadurch, dass sie mittels einer „neuen internationale Meeresbodenordnung“ eine „neue internationale Wirtschaftsordnung“ zu pra¨judizieren sucht? Ist es nicht kontraproduktiv, das Erlangen der meeresbergbaubezogenen, relativ nahe liegenden Vorteile abha¨ngig zu machen von der Lo¨sung einer fernen, kaum konsensfa¨higen Jahrhundertaufgabe? Gewiss, an der Bereitschaft, „Vorstellungen gro¨ßerer sozialer Egalisierung auf die internationale Ebene (zu u¨bertragen)“,102 mangelt es nicht. Aber trifft die Vorstellung der Dritten Welt zu, dass eine befriedigende Lo¨sung ihrer Probleme gerade mittels dieser ihrer Instrumente mo¨glich ist? Als Reforminteressierte sind die unterindustrialisierten La¨nder begru¨ndungspflichtig. Besitzen ihre Entwu¨rfe hinreichend sachbezogene Bestimmungen fu¨r eine vernu¨nftige Zuordnung und Nutzung der Vorkommen sowie genu¨gend faire Angebote fu¨r die La¨nder, die auf diese Ressourcen angewiesen sind,103 und fu¨r die, die sie als einzige werden allgemein verfu¨gbar machen ko¨nnen? Die Dritte Welt hat sich bisher nicht der Mittel bedient, 100

Pfeifenberger (Anm. 96), S. 62. Zum Verfahren der Konferenz s. o. Anm. 1. 102 U. Scheuner, Diskussionsbeitrag, in: Kewenig (Anm. 90), S. 72 f. (72). 103 Westeuropa verfu¨gt nur u¨ber 3 % der Welterdo¨lreserven. Die Bundesrepublik Deutschland ist bei wichtigen NE-Metallen zu 100 % vom Import abha¨ngig. 101

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mittels derer sie auf die ergiebigste und einfachste Weise ihr meeresbodenbezogenes Ziel ha¨tte erreichen ko¨nnen. Stattdessen hat sie sich auf kontraproduktive Problembemessungen (eine sektorale Weltordnung) und Rezepte (Produktionsplanung, obligatorischer Technologietransfer, Abdra¨ngen der Industriela¨nder von Schaltstellen der Meeresbodenbeho¨rde, hohe Abgabenlast fu¨r Bergbautreiber) versteift. Sicher, das ku¨nftige Meeresbodenrecht la¨sst sich nicht unvermittelt aus den einschla¨gigen Realita¨ten herleiten. Der rechtspolitische Spielraum ist groß.104 In ein Meeresbodenregime ko¨nnen neben Erwa¨gungen der (Verteilungs-)Gerechtigkeit und der Beru¨cksichtigung natu¨rlicher Vorgegebenheiten auch andere Vorstellungen Eingang finden. Aber die Wirksamkeit der normativen Ordnung ist davon abha¨ngig, dass sie in der Realita¨t verankert ist: Sie muss, zumal die internationalrechtliche, die vorgegebenen Tatsachen in ihren Dienst stellen.105 Insofern hat sich die Meeresbodenordnung, will sie die Abha¨ngigkeit des Su¨dens vom Norden lindern helfen, auf deren wirkliche Ursachen einzustellen, und sie hat sich an die „richtige Adresse“ zu wenden.106 Auf diese „haltgebenden Elemente im Außerrechtlichen“107 ko¨nnen gerade Vo¨lkerrechtsreformen nicht verzichten; andernfalls werden sie zu abgehobener Deklamation. Das englische Parlament, sagte de Lolme, ko¨nne alles, nur nicht aus einer Frau einen Mann machen und aus einem Mann eine Frau.108 Teil XI des ICNT/Rev. 1, der informelle derzeitige Konventionstext, kann noch vieles andere nicht. Er kann zumal nicht den Umstand u¨bergehen, dass es den Meeresbodenbergbau auch 13 Jahre nach der Malta-Initiative noch nicht gibt, dass es sich bei ihm um einen a¨ußerst kapitalintensiven, technologisch, wirtschaftlich und o¨kologisch risikoreichen Industriezweig handeln wird, und dass manche La¨nder auf Zugang zu der submarinen Rohstoffprovinz sta¨rker angewiesen sind als andere. Das ku¨nftige Recht kann zudem die jeweilige geographische Lage der Staaten, ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungsstand, ihre Sicherheitsbedu¨rfnisse, ihre technologische und finanzielle Kapazita¨t und die sich aus all dem ergebenden Interessen und Konstellationen nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass es sie leugnet. 104 105 106 107 108

S. o. I. Vgl. Zippelius (Anm. 2), S. 53 ff., 58 ff., 66 f. Ebd., S. 60. D. Schindler, Recht Staat Vo¨lkergemeinschaft, Zu¨rich 1948, S. 38. Vgl. Zippelius (Anm. 2), S. 58.

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Die Wirkkraft eines Meeresbodenregimes ha¨ngt davon ab, dass es (auch) auf diese Tatsachen hin orientiert ist. Das von der Grundentscheidung von 1970 angepeilte Regime wird nur normative Kraft gewinnen, wenn es Augenmaß fu¨r das Reale und Realisierbare beweist. Fehlte es daran, erhielte Menzel auf seine eingangs zitierte skeptische Frage – hat das Vo¨lkerrecht die Aufgabe, eine Ordnung im Sinne materieller Gerechtigkeit herzustellen109 – eine verneinende Antwort.

IV. Konsequenzen des Zusammenhanges von Gerechtigkeit und Frieden Abschließend ist auf den Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit zuru¨ckzukommen. Die Seerechtsentwicklung erha¨lt Inhalt und Zielrichtung letztlich vom Frieden, pax ultima auch hier: Frieden als Ziel, internationale soziale Gerechtigkeit als Mittel.110 Dazu mu¨ssen die Mittel vom Ziel gepra¨gt, „Gerechtigkeit“ und „Billigkeit“ ko¨nnen nicht alleiniges Ziel sein. Andernfalls mu¨ssten die Mittel nicht unbedingt friedlich bleiben.111 Das aber mu¨sste zur Relativierung nicht nur des Friedenskonzepts der UN-Charta fu¨hren, sondern, betrachtet man mit Wehberg den Krieg als die gro¨ßte Ungerechtigkeit,112 auch zur Zersto¨rung des Gerechtigkeitskonzeptes selbst und aller Wege zu seiner Realisierung. Was bedeutet das fu¨r das einleitend skizzierte Verha¨ltnis von Recht zu Gerechtigkeit? Gewiss, es gibt auch ungerechte Rechtsordnungen, die mit Gewalt durchgesetzt werden. Aber auf Dauer la¨sst sich keine Gemeinschaft – und schon gar nicht die durchsetzungsschwache Vo¨lkerrechtsgemeinschaft – Regelungen bieten, die nicht wenigstens ihrer Intention nach auch „richtige“ Regelungen sind.113 Die Forderung nach „Gerechtigkeit“ hat die neuere Seerechtsentwicklung nicht nur angestoßen, begleitet, beschleunigt; nach ihrem Abschluss wird sie auch den Maßstab fu¨r die Beurteilung der Resultate abgeben.

109 110 111 112 113

S. o. Anm. 62. Vgl. Vitzthum (Anm. 1), S. 123 f. Kimminich (Anm. 90), S. 47. Vgl. Keiner (Anm. 86), S. 248 ff., 295 ff., 309 f. Vgl. Zippelius (Anm. 2), S. 67, 114.

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Nicht nur im aktuellen Meeresbodenkontext, sondern auch in traditionellen Bereichen der Rechtsentwicklung (Fischerei, Festlandsockel, Schifffahrt, Umweltschutz, Meeresforschung),114 und nicht nur in Verteilungs-, sondern auch in Verfahrenshinsicht115 gibt das Seerechtsgeschehen insofern zu Bedenken Anlass. Dies gilt weniger im Verha¨ltnis OECD-La¨nder/Gruppe der 77 als im Verha¨ltnis unterindustrialisierte Langku¨sten- bzw. Rohstoffexportla¨nder/geographisch benachteiligte, unterindustrialisierte Verbraucherla¨nder. Letztere, „die A¨rmsten der Armen“ („Vierte Welt“), drohen in die Rolle von Hinterla¨ndern ihrer von der Natur und dem Seerechtsgeschehen begu¨nstigten Vorderla¨nder (zu ihnen geho¨ren Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko, Venezuela; Kenia, Nigeria; Saudi Arabien, Indien, Sri Lanka, China) gedra¨ngt zu werden. Hier, im Verha¨ltnis der Dritten zur Vierten Welt ballt sich ein Konfliktpotential zusammen,116 dem die bisherige Seerechtsentwicklung zusa¨tzlich Nahrung gegeben hat, insbesondere durch die nahezu kompensationslose Begu¨nstigung der Langku¨stenstaaten (Fischerei, Festlandsockel) und der terrestrischen Rohstoffexportla¨nder (Tiefseebergbau). Gelingt es der Dritten UN-Seerechtskonferenz nicht, ihre Arbeit sta¨rker an den Interessen der Vierten Welt zu orientieren, wird diese ihre Resultate langfristig in Frage stellen. Die Formel, unter der sich die Gegner der jetzigen Neuordnung des Meeresvo¨lkerrechts dann sammeln werden, wird wiederum „Gerechtigkeit“ heißen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Reform der Reform dann in den Bahnen eines „peaceful change“ bewegen wird. Gelingt dies nicht, wird die Dritte UN-Seerechtskonferenz nicht als ein neuer friedensbegru¨ndender Wiener Kongress in die Geschichte eingehen, sondern als ein maritimes Versailles.

114 Vgl. B. Ru¨ster, Die Zukunft des blauen Planeten, in: P.J. Opitz (Hrsg.), UNO aktuell, S. 127 ff. (145). Teilweise versuchten Ku¨stenstaaten, ihre Wirtschaftszonenforderungen mit dem equity-Prinzip zu legitimieren, z. B. Kenia, UN Doc.A/AC.138/SC.II/SR.31. 115 Vgl. Vitzthum (Anm. 1), S. 143 ff. (148), 164 ff. 116 Vgl. ebd., S. 166 Anm. 97; H. von Hentig, Der Friedensschluß, Mu¨nchen 1965, S. 267 Anm. 4 (Brockdorffs Rede in Versailles habe „above all harsh accusa¨ ber den Vertrag von Versailles habe tion of injustice“ enthalten); S. 288 Anm. 2: U ein Diplomat gesagt: Er erfu¨lle „toutes les conditions d’une guerre juste et durable“. Vgl. demgegenu¨ber die Gesamtordnung, welche die Großma¨chte Europa 1815 gaben.

Geho¨rt Anatolien zu Europa?* „Es ist dies ein außergewo¨hnlicher Tag, an welchem wir eine beispiellose Tat vollbringen durften“, sagte der Minister, nachdem das Ergebnis der siebenstu¨ndigen in Franzo¨sisch gefu¨hrten Verhandlungen an jenem heißen, trockenen 6. Juli urkundlich festgehalten worden war. Er fuhr fort: Als vor fast 500 Jahren Konstantinopel fiel, beschlossen die byzantinischen Gelehrten, das Land zu verlassen. Man konnte sie nicht zuru¨ckhalten. Viele von ihnen gingen nach Italien. Die Renaissance war das Ergebnis. Heute haben wir uns vorbereitet, von Europa eine Gegengabe zu empfangen. Wir erhoffen eine Bereicherung, ja, eine Erneuerung unserer Nation. Bringen Sie uns Ihr Wissen und Ihre Methoden, zeigen Sie unserer Jugend den Weg zum Fortschritt. Wir bieten Ihnen unsere Dankbarkeit und unsere Verehrung an.

Soweit der tu¨rkische Unterrichtsminister Reschid Galip, im Bericht des in Ungarn geborenen Philipp Schwartz.1 Vor seiner von den Nationalsozialisten erzwungenen Emigration Pathologieprofessor in Frankfurt am Main, war Schwartz seit Fru¨hjahr 1933 in Zu¨rich Gru¨nder und Leiter der ,Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland‘, ab Herbst 1933 dann ¨ niversitesi wirkte er weOrdinarius in Istanbul. Am Aufbau der Istanbul U sentlich mit. Um diesen Aufbau ging es in jenen erfolgreichen Verhandlungen am 6. Juli 1933 in Ankara. Zum 1. August wurden die vernachla¨ssigten alten Hochschulen aufgelo¨st, die Mitglieder des Lehrko¨rpers entlassen. Drei Monate spa¨ter ero¨ffnete ein neu ernannter, jugendlicher Unterrichtsminister das erste Unterrichtsjahr der Universita¨t. „Die Feier fand in der riesigen Torhalle des Kriegsministeriums, jetzt Zentralgeba¨ude der Universita¨t, statt“, so Zeitzeuge Schwartz; und weiter: 25 Meter hoch, in zwei Stockwerken mit breiten Galerien umrandet und weit genug, um zu erlauben, daß seinerzeit der Sultan und seine hohen Wu¨rdentra¨ger, von fu¨nfzig Spahis begleitet, hoch zu Rosse zur Haupttreppe gelangten. Die *

Aus: Poesie als Auftrag, hrsg. von Dagmar Ottmann/Markus Symmank, Wu¨rzburg 2001, Ko¨nigshausen & Neumann, S. 321 – 336. 1 Philipp Schwartz, Notgemeinschaft, hrsg. von Helge Peukert, Marburg 1995, S. 35 ff. (S. 46 f.; ebd., S. 69 f. auch na¨chstes Zitat).

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ma¨chtigen Marmorsa¨ulen, welche die Rampen hielten, schmu¨ckten 2000 Jahre lang griechische und ro¨mische Heiligtu¨mer. Ebenso viele junge Ma¨nner und Frauen fu¨llten nun den Raum, Treppen und Galerien, und andere 3000 umdra¨ngten das Geba¨ude, dessen riesige Tore weit offen standen. Der Minister stellte seine Professoren – ausla¨ndische und einheimische – einen nach dem anderen vor, jeder freudig oder gar jubelnd empfangen.

Berichtet wird hier von einem großen, zu Unrecht fast vergessenen ,Professorenimport‘: 144 deutschsprachige Wissenschaftler nahmen „fern hinten in der Tu¨rkei“ im Wintersemester 1933/34 die Lehre auf. Das Ausmaß ¨ berfremdung‘’ la¨sst sich daran ablesen, dass es 1933 in Istanbul der ,U 27 tu¨rkische und 38 ausla¨ndische Ordinarien gab. Fast alle Ausla¨nder waren Deutsche, meist als Juden auf der Grundlage des ,Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ vom April 1933 entlassen, die Mehrzahl Mediziner und Naturwissenschaftler. Im Bereich der Sozialwissenschaften finden sich besonders klangvolle Namen: der spa¨tere Regierende Bu¨rgermeister von Berlin Ernst Reuter (er lehrte an der Verwaltungshochschule in Ankara), die Nationalo¨konomen Fritz Neumark2 und Wilhelm Ro¨pke, der Soziologe Alexander Ru¨stow3 sowie der damals 31ja¨hrige Privatdozent Ernst Hirsch,4 der dann das tu¨rkische Urheber-, Handels-, Patent- und Universita¨tsgesetz mitgestaltete. Auch Paul Hindemith fand zuna¨chst ,Zuflucht am Bosporus‘. Diese „Invasion“ machte Istanbul in jenen dunklen Jahren, wie Schwartz5 bitter-ironisch formulierte, zur „gro¨ßten und besten deutschen Universita¨t“. Ein halbes Jahrhundert spa¨ter, am 16. Dezember 1999, gab Bundeskanzler Gerhard Schro¨der vor dem Deutschen Bundestag eine Regierungserkla¨rung ab. Die vom damaligen Oppositionsfu¨hrer Wolfgang Scha¨uble polemisch zugespitzte und sogleich reflexhaft verneinte Frage nach der ,Zu2 Zuflucht am Bosporus, Frankfurt a. M. 1982; Verein Aktives Museum, Haymatloz – Exil in der Tu¨rkei 1933 – 1945, Berlin 2000. 3 Ortsbestimmung der Gegenwart (3 Bde.), Zu¨rich/Stuttgart 1950 ff; engl. Kurzfassung: Freedom and Domination, hrsg. von Dankwart A. Rustow, Princeton, N.J. 1980. 4 Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatu¨rks, Mu¨nchen 1982. 5 Abrundend (Anm. 1), S. 49, 62: Einer „Sa¨ngerin [verdankte ich] Kla¨nge, die ich in meiner Kindheit in ungarischen, ruma¨nischen und serbischen Volksliedern und in den erhabenen Klagen der ju¨dischen Liturgie geho¨rt hatte […]. Auch in der tu¨rkischen Sprache [fand ich] ungarische, serbische, ruma¨nische und semitische Elemente.“

Geho¨rt Anatolien zu Europa?

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geho¨rigkeit Anatoliens zu Europa‘ beantwortete er nicht. Der Kanzler beschra¨nkte sich auf einen Bericht u¨ber Weichenstellungen beim Europa¨ischen Rat (ER) in Helsinki. Fu¨r die vielen unter uns lebenden Menschen tu¨rkischer Herkunft ist es entscheidend zu wissen, ob das Land ihrer Va¨ter auf eine demokratische Zukunft als Teil Europas hoffen darf. Eine solche Perspektive [betrifft] die Zukunft [auch] unserer Demokratie. Durch die Verleihung des Kandidatenstatus wird […] klargestellt: Die Tu¨rkei wird nicht diskriminiert. [Vor ihr liegt] ein langer, auch beschwerlicher Weg. [Mit dem neuen Status ist] kein Automatismus […] verbun¨ ber die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wird erst und nur dann zu den. U reden sein, wenn das Land die politischen Kriterien fu¨r eine Mitgliedschaft […] samt und sonders erfu¨llt. […] Unsere 14 Partner in der Europa¨ischen Union und mit ihnen die Bundesregierung sowie eine klare Mehrheit in diesem Land begreifen die Europa¨ische Union eben nicht als Club des christlichen Abendlandes, sondern als eine Wertegemeinschaft, die auf der Achtung des Rechts, der Demokratie, der Toleranz, der Humanita¨t und der Solidarita¨t gru¨ndet. Eine Tu¨rkei, die sich zu diesen Grundsa¨tzen nicht nur bekennt, sondern sie auch real anwendet, wird […] willkommen sein. Einen Ausschluß […] aus religio¨sen Gru¨nden gibt es nicht. […] Europa hat ein eigenes Interesse daran, daß [die Tu¨rkei] nicht in einen islamischen Fundamentalismus abrutscht.6

¨ ber eine Wie la¨sst sich dieses Thema Tu¨rkei – Europa (EU) ero¨rtern? U tu¨rkische EU-Mitgliedschaft lassen sich so viele Diskurse fu¨hren, wie sich wissenschaftliche Disziplinen daran beteiligen. Der Bundeskanzler benannte bereits Schlu¨sselbegriffe: „christliches Abendland“, „Wertegemeinschaft“, „islamischer Fundamentalismus“. Es sind Stichworte – wie unter der Last von zwei abendla¨ndischen Jahrtausenden hervorgepresst – ganz aus okzidentaler Perspektive. Vor dem Horizont des islamischen Antilaizismus, der kurdischen und alewitischen Frage, der tu¨rkischen Sozialstrukturen sowie der Militarisierung des Landes zielen sie auf die Frage nach der kollektiven Identita¨t der Deutschen7 und der Zukunft Europas. Diese Frage8 6 Vgl. die Schlussfolgerungen des ER-Vorsitzes am 19./20. 6. 2000: Der ER nehme „die Initiativen zur Kenntnis, die dieses beitrittswillige Land ergreift, um die Beitrittskriterien zu erfu¨llen. Im Einklang mit den Schlussfolgerungen von Helsinki erwartet der ER konkrete Fortschritte insbesondere in den Fragen der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und des Gerichtssystems“, in: Internationale Politik 55 (2000) S. 118. Auf ihrem Gipfel in Kopenhagen, 1983, hatten die Staats- und Regierungschefs die Beitrittskriterien fu¨r die mittel-, ost- und su¨dosteuropa¨ischen La¨nder formuliert. 7 Vgl. Josef Isensee, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, S. 103 ff.

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stellt sich freilich vor allem fu¨r die Gegenseite. Seit wann, wieso eigentlich und wie ,nachhaltig‘ sehen ,die‘ Tu¨rken ihre Zukunft in Europa? Warum nicht in einem naho¨stlichen oder vorderasiatischen Staatenbund, in einer islamisch gepra¨gten ostmediterranen Allianz, u¨ber Syrien und Jordanien bis A¨gypten reichend? Auch in einem etwaigen Verbund mit von Turkvo¨lkern besiedelten La¨ndern um das Schwarze und das Kaspische Meer – fru¨here, nicht selten o¨lreiche Republiken der ehemaligen Sowjetunion – wu¨rde die in manchem noch ganz vormoderne Tu¨rkei Teile ihrer politischen, sozioo¨konomischen und kulturellen Besonderheit besser wahren ko¨nnen als im postmodernen, kulturrelativistischen und sa¨kularen EU-Europa.9 Baku und Bagdad liegen dem Bosporus schon geographisch na¨her als Barcelona und Bru¨ssel.10 Und umgekehrt: Wa¨re eine um ,Anatolien‘ erweiterte EU ¨ berginge eine solche Groß-EU nicht Unterschiede, noch ,europa¨isch‘? U auf die es weiterhin maßgeblich anka¨me? Risse sie nicht Wurzeln aus, die sie nicht selbst schlagen kann? Stieße eine derart ausgreifende Integration nicht an die Grenzen ihrer Nu¨tzlichkeit, ihrer Legitimation? Und wa¨re andererseits eine Tu¨rkei noch ,sie selbst‘, wenn sie sich den europa¨ischen, von dem christlichen Fundament schwer ablo¨sbaren Werten verschriebe, der Wahrung der Bu¨rger- und Minderheitenrechte, der offenen, pluralistischen Gesellschaft? Elemente einer Antwort lassen sich der Geschichte der europa¨isch-tu¨rkischen Beziehungen entnehmen.11 Dieses Element bezieht sich auf das vertraute Bild der Konfrontation, der Abwehr des ,ganz Anderen‘, und 8 Zu englischen, franzo¨sischen und italienischen „osmanische Begegnungen“ Nabil Matar, Turks, Moors, and Englishmen in the Age of Discovery, New York 1999; Evelyn Breckman, Victims of Piracy, London 1979; David Lowenthal, The Heritage Crusade and the Spoils of History, 2. Aufl., Cambridge 1998. 9 In der deutschen Gesellschaft, so eine tu¨rkische Pauschalkritik, genieße die Familie nicht den gebotenen herausragenden Rang. 10 Istanbul „geho¨rt“ eher zu Innsbruck, Diyarbakir eher zu Damaskus. Welten liegen zwischen der sta¨dtischen oberen Mittelschicht im Westen und der ostanatolischen Landbevo¨lkerung. Die innere Stabilita¨t des Landes erscheint ungesichert. Die USA dra¨ngen gleichwohl auf ein engeres Verschra¨nken Europa/Tu¨rkei. 11 Vgl. Hagen Schulze/Ina Ulrike Paul, Europa¨ische Geschichte, Mu¨nchen 1994; Albert Hourani, Die Geschichte der arabischen Vo¨lker, Frankfurt a. M. 2000; Anette Vo¨lker-Rasor (Hrsg.), Fru¨he Neuzeit, Mu¨nchen 2000; Paul Michael Lu¨tzeler, Europa¨ische Identita¨t und Multikultur, Tu¨bingen 1997; Stefan Kimm/ Dieter Zerlin (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Islamischen Kulturraum in Geschichte und Gegenwart, Mu¨nchen 1992; Franco Cardini, Europa und der Islam, Mu¨nchen 2000; Udo Steinbach, Geschichte der Tu¨rkei, Mu¨nchen 2000.

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auf den weniger bekannten Aspekt der Kooperation, der befruchtenden Begegnung. Welche dieser beiden Linien ku¨nftig dominieren wird, bestimmt u¨ber die tu¨rkische EU-Mitgliedschaft. Geht die Tu¨rkei den Reformweg in Richtung politisch integrierte ,europa¨ische Wertegemeinschaft‘ und selbstverantwortliche Zivilgesellschaft voran, entscheidet sie sich also fu¨r weniger Fundamentalismus12 und mehr rechtsstaatliche Demokratie,13 kommt der Schablone Scha¨ubles, die eine EU-Kompatibilita¨t der Tu¨rkei indirekt a limine und ad infinitum ablehnt, der Gegenstand abhanden. Die Geschichte der tu¨rkisch-europa¨ischen Beziehungen ist, sieht man von Episoden der Zusammenarbeit ab, eine Geschichte der Konflikte. Das zentralasiatische Reitervolk der Tu¨rken, das im 11. Jahrhundert nach Kleinasien vordrang, erschien den Europa¨ern von Anfang an als fremd und bedrohlich. Nicht erst seit dem Fall Konstantinopels ist die anatolische Halbinsel unter osmanischer bzw. tu¨rkischer Herrschaft. Weit entfernt von der Urheimat zwischen Ural, Chinesischer Mauer und Kaspischem Meer gab es nun ein großes tu¨rkisches Kernland, das stets seine Unabha¨ngigkeit erhalten konnte – eine große historische Leistung! Seit dem 14. Jahrhundert griffen die Tu¨rken, die fru¨hzeitig Muslime geworden waren, Europa an. Die Gefahr wurde besonders bedrohlich, als auf dem Ho¨hepunkt des Ansturms die Reformation das christliche Abendland spaltete. So eroberten die Tu¨rken seit dem 15. Jahrhundert den su¨do¨stlichen Rand Europas: die heutigen La¨nder Griechenland, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Ruma¨nien. Bis einschließlich Ungarn geriet das Donaubecken unter ihre Herrschaft. Dann zielten die Tu¨rken auf den Kern: auf Venedig, Polen, das Heilige Ro¨mische Reich. 1529 standen sie vor Wien, am Tor zum Herzen Europas. Die Seeschlacht von Lepanto (1571) stoppte die Tu¨rken. Unter Don Juan de Austria siegte das damalige maritime ,Eurocorps‘: die vereinigte Flotte von Venedig, Kirchenstaat und Spanien.14 Ein Jahrhundert spa¨ter (1683) misslang die Eroberung Wiens ein zweites Mal. Die von Prinz Eugen gefu¨hrte Gegenoffensive vertrieb dann die Tu¨rken, die Kreta noch halten konnten, aus Ungarn, Kroatien und Serbien (1699: Friede 12

Vgl. Dankwart A. Ru¨stow, Die Tu¨rkei, Go¨ttingen 1990, S. 32 f., S. 43 ff. Der Schutz der kurdischen Minderheit in der Su¨dosttu¨rkei verlangt garantierte Selbstverwaltungsstrukturen. 14 Die drei großen katholischen Ma¨chte des Mittelmeers waren Spanien, das Heilige Ro¨mische Reich und Venedig. 13

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von Karlowitz). Ab dem spa¨ten 18. Jahrhundert sprach man bezu¨glich des von Westen und Norden her bedra¨ngten Osmanischen Reiches nur noch vom ,Kranken Mann am Bosporus‘ – die Kluft zwischen den wissenschaftlich-technischen Leistungen einiger west- und nordeuropa¨ischer La¨nder und der Welt des Islam hatte sich dramatisch erweitert. Russland ru¨ckte nach Su¨den vor, das Schwarze Meer war nicht la¨nger ein osmanisches Binnenmeer. Der interkontinentale Handel ging in europa¨ische Ha¨nde u¨ber. Im 19. Jahrhundert beherrschte Europa die Welt. Die Großma¨chte teilten ¨ sterosmanische Beutestu¨cke unter sich auf: England nahm sich Zypern, O reich-Ungarn Bosnien. 1913 kam Kreta zu Griechenland. Das auf einen europa¨ischen Bru¨ckenkopf no¨rdlich des Bosporus und auf das kleinasiatische Anatolien geschrumpfte Osmanische Reich, dessen Ende vom Vertrag von Lausanne (1923) besiegelt wurde, bzw. die nach wie vor riesige Tu¨rkei blieben auch nach der Revolution der Jungtu¨rken (1908),15 dem Massaker an den Armeniern (1915) und der vom Nationalismus inspirierten Modernisierung durch Mustafa Kemal Atatu¨rk16 in den 1920er/30er Jahren und ebenso dann nach dem Zweiten Weltkrieg, der in bewaffneter Neutralita¨t unbeschadet u¨berstanden wurde, in Europa pra¨sent: als Exporteur von ,Gastarbeitern‘ (nahezu 500.000 derzeit allein in Berlin), als Importeur von Rechtsmodellen (das Schweizer Zivil-, das italienische Straf- und das deutsche Strafprozessrecht wurden u¨bernommen), als Großeinka¨ufer von Ru¨stungsgu¨tern, als Gastgeber von immer mehr sonnenhungrigen Touristen und als vom Europa¨ischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) vielfach Verurteilter17. So ist das Gesicht der Tu¨rkei seit jeher nach Westen gewandt, Europa zu, der Drang in die EU ein Stu¨ck Kontinuita¨t.

15 Ruma¨nien und Bulgarien nutzten die Gunst der Stunde und proklamierten ihre Unabha¨ngigkeit. 16 Das Kriegsende hatte die Auflo¨sung des Osmanischen Reiches gebracht. Aus den Ruinen entstand die Tu¨rkei (das Sultanat wurde abgeschafft), mit Ankara als Hauptstadt; die arabischen Provinzen kamen unter britische und franzo¨sische Kontrolle. 17 Die Tu¨rkei hat die Individualbeschwerde 1987 anerkannt; 1990 folgte die Erkla¨rung nach Art. 46 EMRK (a. F.). Vgl. Walter Ka¨lin, Die Vorbehalte der Tu¨rkei in ihrer Erkla¨rung gem. Art. 25 EMRK, Europa¨ische Grundrechtezeitschrift 14 (1987), S. 427 ff. Liste der Menschenrechtsfa¨lle in: European Court of Human Rights: Survey. Forty Years of Activity 1959 – 1998, Strasbourg 1999, S. 25 – 85.

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Die Antwort des christlichen Europa auf jene jahrhundertelange tu¨rkische Bedrohung hatte darin bestanden, den Gegner als „Antichristen“ zu stigmatisieren. Auch Luther wa¨hlte in seiner „Heerpredigt wider den Tu¨rken“ (1529) das apokalyptische Deutungsmuster. Noch das 17. Jahrhundert ventilierte die Idee eines Kreuzzugs gegen die Ungla¨ubigen. Einzelne Pa¨pste und katholische Ma¨chte setzten auf die ,Solidarita¨t der Christenheit‘. Viele Vo¨lker waren freilich von ihren Mitchristen la¨ngst im Stich gelassen worden. Am tragischsten die Su¨dslaven: 1389, in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje), hatte der serbische Adel sein Leben gelassen. Noch die heutige post-jugoslawische Trago¨die laboriert an diesem Trauma – „Vergangenheit, die nicht vergeht“. Die Abwehr der Tu¨rkengefahr einte nicht Europa. Zu tiefgreifend waren bereits die konfessionellen und nationalen Unterschiede. Noch heute pra¨gt der katholisch-protestantische Dualismus unseren Kontinent. Europa, so wie es seit den 1950er Jahren in Europarat, EWG/EG/EU, WEU und OSZE institutionalisiert wurde, diese gewachsene, spezifische, zugleich verunsicherte Wertegemeinschaft18 („Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz“ in der Aufza¨hlung des Bundeskanzlers) – dieses Europa verdankt Elemente seiner Identita¨t auch der Auseinandersetzung mit den Tu¨rken: Tu¨rkengefahr als (partieller) fe´de´rateur. Die Abgrenzung gegen ,Nichteuropa‘ formte Europa zur Kulturgemeinschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich eine analoge Konstellation. Vor dem Hintergrund u¨berstandener NS-Verbrechen und aktueller kommunistischer Bedrohung ru¨ckte Europa in ,antitotalita¨rem Konsens‘ zusammen: der Westen, Europa, einmal mehr nicht als geographischer Begriff, sondern als politische Idee, als Freiheitsprojekt. Diesmal war die Tu¨rkei dabei, von Anfang an, bei Nato und Europarat. Fu¨r die Einda¨mmung der Sowjetunion und die Linderung des westlichen Arbeitskra¨ftemangels war die hochgeru¨stete, bevo¨lkerungsreiche Tu¨rkei unentbehrlich. Ein halbes Jahrhundert hat das funktioniert, auch zum Vorteil der Tu¨rkei. Ab 1923 hatte Kemal Atatu¨rk sein Land gezwungen, den jahrhundertelangen Weg europa¨ischer Modernisierung und Sa¨kularisierung in einer einzigen Generation zu durcheilen. Bei dieser revolutiona¨ren Umgestal18

Zu den EU-Werten (Art. 6 EUV) Frank Schorkopf, Homogenita¨t in der Europa¨ischen Union, Berlin 2000; Bassam Tibi, Europa ohne Identita¨t?, Mu¨nchen 2000.

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tung, die sein Nachfolger Ismet Ino¨nu¨ fortsetzte, wurde die Tu¨rkei auch von den einleitend erwa¨hnten Emigranten unterstu¨tzt. Ein Jahrhundert zuvor (1835 – 39) hatte bereits Hellmuth von Moltke als Generalstabsoffizier in Konstantinopel gewirkt. „Werden wie Europa“, hatte ein jungtu¨rkischer Reformer als Programm verku¨ndet, „mit seinen Rosen und seinen Dornen.“ Die Kooperation19 setzt sich bis in die Gegenwart fort, auf vielen Ebenen. Bekannt ist etwa die vertragliche Verpflichtung deutscher Fußballtrainer und tu¨rkischer Ballku¨nstler. Mit ihrem Beitrittsantrag von 198720 dra¨ngt die noch keineswegs umfassend modernisierte Tu¨rkei nun in die EU. Seit 1963 der EWG assoziiert,21 erhielt sie fru¨hzeitig das historische Versprechen (das Marokko verweigert wurde),22 an der europa¨ischen Integration teilhaben zu ko¨nnen – auf der Grundlage des europa¨ischen Wertekanons. Die Tu¨r zu dieser Mitgliedschaft wurde, nach dem Negativbescheid des EU-Gipfels von Luxemburg 1997, auf dem eingangs zitierten ER-Treffen 1999 ein wenig weiter geo¨ffnet, unter deutscher Mithilfe. Angesichts dieses ,Anatolien ante portas‘ interessieren die tiefgreifenden europa¨isch-tu¨rkischen Differenzen lebhaft.23 Das Gesamtbild ist freilich, blickt man genauer hin, vielschichtig, der Beziehungsbefund – der ,Professorenimport‘ hat es in einem Detail bereits angedeutet – bunt. Fu¨r die identita¨tspolitische Diskussion ergeben sich aus diesem ,zweiten Blick‘ neue Aspekte. Sie bedeuten weder, dass die Tu¨rkei in na¨chster Zeit die Kriterien fu¨r die EU-Aufnahme erfu¨llen, noch dass ihr dies jemals gelingen wird; Skepsis erscheint durchaus angebracht. Mit einem schematischen Ablehnen ,Anatoliens‘ als ,leitkulturwidrig‘ ist es ebenso wenig getan wie mit einem multikulturfreundlichen ,Herein!‘-Rufen. Eurozentrische Arroganz hilft so wenig wie kulturrelativistische Selbstverleugnung. Es bedarf vielmehr, frei von Selbsthass oder Selbstverliebtheit, einer ein- und ausgrenzenden 19 Im Herbst 1944 brach Ankara die diplomatischen Beziehungen zu Berlin ab. Trotz sta¨rkster Pression schu¨tzte Ankara die deutschsprachigen Emigranten. 20 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., Mu¨nchen 1999, Rz. 1868 f. 21 ABl. EG 1964, S. 3685. Der Antrag stammte von 1959. Das Abkommen ist auf spa¨teren Beitritt angelegt. Die Zollunion trat 1996 in Kraft. 22 Der Beitrittsantrag wurde nicht behandelt: Marokko sei kein ,europa¨ischer Staat‘. 23 Die ungesteuerte Zuwanderung bringt eine sta¨ndige Migration ins ,europa¨ische‘ Haus. Deutschland ist nicht darauf vorbereitet, multikulturell zu denken und zu handeln.

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Vergewisserung u¨ber die europa¨ischen Werte. Das ist schwierig. Zu keinem anderen Thema ist der Zugang so sehr von ,Political Correctness‘-Verboten verstellt wie zu diesem. Beginnen wir bei Religion und Geschichte! Konstantin der Große verlagerte 326 n. Chr. das Reichszentrum nach Byzanz, das er in Konstantinopel umbenannte. Wa¨hrend sich im Westen die Trennung von Religion und Staat entwickelte, blieb dies dort aus. Mitte des 11. Jahrhunderts wurde in Byzanz eine (freilich bald wieder aufgelo¨ste) juristische Fakulta¨t24 gegru¨ndet. Nach dem Untergang des vom Vierten Kreuzzug (1203/04), der kein Religionskrieg war, to¨dlich geschwa¨chten Byzantinischen Reiches wurde der Sultan, eine religio¨s-politische Autorita¨t fu¨r alle Muslime seines Reiches, der dortige Herrscher. Den Kern der osmanischen Armee, die 1453 mit der Eroberung von Konstantinopel das Byzantinische Reich zum Einsturz brachte, bildete das 1329 aus christlichen Gefangenen zusammengestellte, durch die ,Knabenlese‘ immer wieder erga¨nzte Korps der Janitscharen, eine Art (,vertu¨rkte‘) So¨ldnertruppe. Noch heute ist Istanbul das geistige und wirtschaftliche Zentrum der Tu¨rkei. Von der osmanischen Expansion hat Europa auch ,profitiert‘. Die Eroberung von Konstantinopel fu¨hrte, dem einleitend zitierten tu¨rkischen Minister war das ein halbes Jahrtausend spa¨ter noch ganz gela¨ufig, zu einer Fluchtwelle von Gelehrten und Ku¨nstlern.25 Diese regten das geistige Leben Italiens, ja Gesamteuropas an. Das griechisch-byzantinische Wissen verband sich mit dem in Europa aufbrechenden Willen zur Neuerung und half den Humanismus auszulo¨sen. Die Sultane betrieben zudem keine systematische Islamisierung der eroberten La¨nder. Das Osmanische Reich war ein multireligio¨ser Staat. Christliche und ju¨dische Gemeinden erhielten einen anerkannten Status. Der Koran verbietet die Zwangsislamisierung (freilich nicht die religio¨se Diskriminierung – nur a¨ußerst wenige christliche Kirchen durften in der Tu¨rkei gebaut werden; die Alewiten werden ins Abseits gedra¨ngt). Die unterworfenen La¨nder und Vo¨lker behielten teilweise ihre hergebrachte politisch-kulturelle Pra¨gung. Rassische Vorurteile blieben weitestgehend aus. Die Herausforderung, die die Tu¨rken fu¨r Europa seit dem fru¨hen Mittelalter darstellten, war auch eine kulturelle, wissenschaftliche und administrative. Die Eroberung von Wien wa¨re wegen der technischen Perfekti24 25

Schon in der Antike gab es etablierte Rechtsschulen, etwa in Beirut. Eingesetzt hatte die Flucht schon im 14. und fru¨hen 15. Jahrhundert.

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on der tu¨rkischen Mineure und Ingenieure um ein Haar gelungen. Selbst literarisch brauchte Istanbul den Vergleich mit manchen RenaissanceHo¨fen nicht zu scheuen: Su¨leyman der Pra¨chtige (1520 – 66), Sultan, Stifter und Gesetzgeber, war ein bedeutender Dichter.26 Der Aufstieg des Osmanischen Reiches ließ eine eigene osmanisch-tu¨rkische Sprache und Kultur entstehen. Neben Handelsabkommen wurden u¨ber ideologische Grenzen hinweg politische Vertra¨ge und milita¨rische Allianzen geschlossen.27 Der ,allerchristlichste‘ Ko¨nig Ludwig XIV. etwa verbu¨ndete sich mit den Osmanen gegen Habsburg und das Reich. Selbst Pa¨pste suchten Vorteile an der Seite der Tu¨rken. Italien hatte ohnehin kaum Beru¨hrungsa¨ngste. Jahrhundertealte Kontakte hatten dort das Idealbild des edelmu¨tigen Sultans entstehen lassen. In Lessings Ring-Parabel siegt die interreligio¨se Toleranz. Alles Osmanische u¨bte eine starke Anziehungskraft auf Fremde aus. Jahrhundertelang war Istanbul Zufluchtsort fu¨r politisch Verfolgte: fu¨r Juden, Ungarn, Polen, ab 1933 fu¨r Deutsche. Im Fundament Europas findet sich somit nicht allein griechisch-ro¨misches und ju¨disch-christliches Gedankengut. Fremdes hat seinen Anteil am Eigenen. Die ,ganz Anderen‘ haben inspiriert und unsere Weltsicht modifiziert. Zur ,europa¨ischen Identita¨t‘ geho¨ren auch tu¨rkische Ansto¨ße. Gewiss, byzantinische Flu¨chtlinge, Zweckbu¨ndnisse (Ludwig XIV.) und europa¨ische Flu¨chtlinge (1933/45) konstituierten keinen das europa¨ische Selbstversta¨ndnis auf Dauer erweiternden Impuls. Samuel Huntingtons ganz eindimensionaler „Clash of Civilizations“ (1996) verfehlt aber die partiell vorhandenen Gemeinsamkeiten und Wechselbezu¨ge. Damit ha¨ngt die Antwort auf die EU-Mitgliedschaftsfrage letztlich weniger von Religio¨sem oder Historischem ab als von den ku¨nftigen rechtsstaatlich-demokratischen Reformen der Tu¨rkei. Nur mit einem unbedingten ,Ja‘ zum Wertekatalog Europas ko¨nnte Ankara die Hu¨rden u¨berwinden.28 Aber will das die Tu¨rkei wirklich? Was wu¨rde diese ,Europa¨isierung‘ fu¨r sie bedeuten? Wa¨hrend den Europa¨ern durch die Schrecknisse des Zweiten Weltkriegs und die seit 1945 bekannt gewordenen NS-Verbrechen 26 Aus gleicher Zeit stammen die Sinan-Moscheen in Istanbul, Bauwerke von einer leiseren Harmonie als die damaligen (fru¨hes Barock) bei uns. Sie wenden sich, anders als unsere Kathedralen, an die Gemeinschaft, nicht an das schauende Individuum. 27 Vgl. Karl-Heinz Ziegler, Deutschland und das Osmanische Reich in ihren vo¨lkerrechtlichen Beziehungen, in: ArchVR 35 (1997), S. 255 ff. 28 Vgl. „Kandidat Tu¨rkei“. Internationale Politik 55 (2000).

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die Augen dafu¨r aufgingen, in welchen Irrweg einseitiger Nationalismus fu¨hren kann, ist die Tu¨rkei nach wie vor von nationalistischen Ideen fasziniert. Bei der Republikgru¨ndung u¨bernahm Atatu¨rk diesen Ansatz von europa¨ischen, insbesondere franzo¨sischen Vorstellungen des fru¨hen 20. Jahrhunderts – ein epochenverhafteter Import. An der ,Kultur des Nationalismus‘ 75 Jahre spa¨ter auch nur zu zweifeln, ist ein Sakrileg. Im Gegenzug exportiert die Tu¨rkei viele ihrer Modernisierungsprobleme nach Europa. Umso nachdru¨cklicher hat die EU darauf zu beharren, dass die (fu¨r alle Kandidaten gleichen) Beitrittskriterien, wie auf dem Kopenhagener Gipfel 1993 fixiert und seither regelma¨ßig rezitiert, erfu¨llt werden. Sobald diese Kriterien erfu¨llt sind, werden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen – ein Junktim, das Impulse fu¨r den weiteren Reformprozess geben soll. Man mag insofern von den politischen Kosten der Nichtteilnahme29 sprechen. Bei den strengen ,Konditionalita¨ten‘ der Weltbankgruppe etwa greift dieser Mechanismus (der Markt ist freilich die beste Konditionalita¨t). Ankara muss den Status als Beitrittskandidat Zug um Zug umsetzen. Dies bedeutet Liberalisierung, nicht Christianisierung. Das institutionalisierte Europa ist eine Werte-, nicht eine Religionsgemeinschaft. Die EU-Grundrechtecharta 2000 entha¨lt, wie die EMRK oder das Grundgesetz, nicht Christen-, sondern Menschenrechte; die EU ist keine Religionsunion. Die Aufnahme des mehrheitlich muslimischen Bosnien-Herzegowina in den Europarat scheiterte bisher nicht an der Religionsfrage, sondern an der dort weiterhin desolaten Menschenrechtslage.30 Fu¨r die Entscheidung wichtiger Fragen ist in der EU weiterhin Einstimmigkeit erforderlich. Dies ist schon im Hinblick auf die notorisch schlechten griechischtu¨rkischen Beziehungen wichtig. Zudem ist das EU-Parlament traditionell Tu¨rkei-kritisch. Seine Einstellung wirkt sich auf die Akzeptanz etwaiger ¨ ffentlichkeit aus. Gewaltig Beitrittsverhandlungen in der europa¨ischen O sind auch die strukturellen Probleme. Mehr als 40 % der tu¨rkischen Erwerbsta¨tigen sind nach wie vor in der Landwirtschaft ta¨tig. Selbst das Agrarland Polen liegt weit darunter. Es geht fu¨r die Tu¨rkei demnach um einen grundlegenden, tief pflu¨genden Reform- und Transformationsprozess. Deshalb bleibt die Frage: Will die Tu¨rkei die EU-Kriterien wirklich erfu¨l29 Beispiele sind das Einfrieren der Rechtsbeziehungen Griechenland/EWG ¨von 1967 bis 1974 nach dem Obristenputsch und, als Reaktion auf die FPO Regierungsbeteiligung, die umstrittene Aktivierung des Art. 7 EUV im Jahr 2000. 30 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Europa¨ischer Fo¨deralismus, Berlin 2000, S. 81 ff.

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len? Derzeit treten wichtige Reformvorhaben offenbar auf der Stelle. Defizite bestehen vor allem beim Schutz der Menschenrechte31 und der Minderheiten. Im Polizeigewahrsam wird anscheinend weiter gefoltert.32 Die freie Meinungsa¨ußerung bleibt eingeschra¨nkt. Der Nationale Sicherheitsrat, ein Staat im Staate, beeinflusst das politische Leben bis tief in den zivilen Bereich hinein. Die u¨bel beleumdeten Staatssicherheitsgerichte amtieren weiter.33 Aus deutscher Sicht geht es um einen weiteren Aspekt. Zwischen der – bereits jetzt kostspieligen – Politik des Heranfu¨hrens der Tu¨rkei an die EU und der umstrittenen deutschen Zuwanderungspolitik gibt es Wechselwirkungen. Viele Deutsche schließen von der hiesigen Situation der Tu¨rken (Stichworte: „anatolische“ Parallelgesellschaften, doppelte Loyalita¨t) auf eine Integrationsunfa¨higkeit der Tu¨rkei. Solange die Arbeitslosigkeit unter den Tu¨rken in Deutschland gro¨ßer ist als unter den Einheimischen, solange der Anteil der hiesigen tu¨rkischen Jugendlichen in den Lehranstalten nicht ihrem Anteil an der Bevo¨lkerung entspricht, hinkt die Integration in der Tat. Je mehr sich die Tu¨rkei Europa gegenu¨ber o¨ffnet, desto einfacher wird es fu¨r die hiesigen Tu¨rken oder tu¨rkischsta¨mmige Deutsche werden, Deutschland nicht nur als transitorisches Jobland, sondern, auch durch Spracherwerb, als zweite Heimat anzunehmen. Ob dereinst ,Anatolien‘ zu ,Europa‘ geho¨ren wird, ha¨ngt demnach weniger von den Europa¨ern als von den Tu¨rken ab. Schla¨gt Ankara den Pfad ,Barcelona‘ ein, wird es in Europa willkommen, ja mit 63 Millionen Einwohnern bei weiter starkem Bevo¨lkerungswachstum bald eine der fu¨hrenden EU-Ma¨chte sein: nach Deutschland das bevo¨lkerungsreichste Land. Ob das der Fall sein wird, oder ob die Zukunft der Tu¨rkei Richtung ,Baku‘ zeigt, ist derzeit nicht zu sagen. Fast sechs Jahrzehnte nach dem Istanbuler ,Professorenimport‘ ist Ankara auf dem Europa¨isierungspfad nicht recht vorangekommen.34 Die Tu¨rkei sieht sich selbst offenbar nicht als Teil einer u¨berwo¨lbenden Gesamtheit, die einer gemeinsamen ,Verfassung‘ gehorcht, sondern als ,kulturellen Sonderfall‘. In der Zypern- und der Kurdenfrage verweigert sie Kompromisse. Wa¨hrend der EU-Zug fu¨r mehr als ein Dutzend Beitritts31

Der EGMR ha¨lt Ankara fu¨r Menschenrechtsverletzungen in Nordzypern, wo eine starke tu¨rkische Truppe „Hoheitsgewalt“ (Art. 1 EMRK) ausu¨bt, verantwortlich. 32 Vgl. Human Rights Law Journal 21 (2000), S. 58 ff.; BT-Drs. 14/4724. 33 Vgl. auch Wolff Heintschel von Heinegg, Der A¨ga¨is-Konflikt, Berlin 1989. 34 Vgl. Fortschrittsbericht der EU-Kommission v. 8. 11. 2000.

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kandidaten zur Abfahrt gepfiffen hat, verhandelt Ankara noch am Schalter u¨ber einen Preisnachlass.35 Die Teilhabe an der europa¨ischen Integration wirft, la¨sst sich resu¨mieren, fu¨r ,Anatolien‘ noch gro¨ßere Identita¨tsprobleme auf als fu¨r Europa. Ein Beharren Ankaras auf einer angeblichen Sonderrolle der Tu¨rkei oder auf sonstigen Beitrittserleichterungen ko¨nnte dazu fu¨hren, dass die europa¨isch-tu¨rkische Dauerbeziehung zwar nicht in einen Bruch mu¨ndet, aber doch u¨ber eine lieblose ewige ,Verlobung‘ nicht hinaus gelangt: Die ju¨ngere akademische tu¨rkische Elite will durchaus nach Europa,36 aber das Land insgesamt schafft es offenbar nicht – aus den skizzierten tiefgreifenden strukturellen Gru¨nden. Denkbar (und wu¨nschenswert) wa¨re auch, bei entsprechenden grundlegenden Vera¨nderungen, eine wechselseitig bereichernde, dauerhafte Verbindung: das ,Hagia Sophia-Modell‘. Die Kuppelbasilika Hagia Sophia, beim Fall Konstantinopels schon 1000 Jahre alt, eines der architektonischen Meisterwerke der Welt, wurde mit vier neuen schlanken Tu¨rmen zuna¨chst in eine Moschee,37 seit 1934 dann unter Freilegung der u¨bermalten christlichen Mosaiken in ein großartiges laizistisches Museum verwandelt – ein Zeugnis eurasisch-mediterraner Kulturgeschichte38, ein Modell gegenseitigen christlich-muslimischen Zugewinns, ein Paradigma tu¨rkisch-europa¨ischer Zusammengeho¨rigkeit.

35

Die nationale Identita¨t der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV) genießt freilich nur insoweit Schutz vor EU-Eingriffen, als sie auf den in Art. 6 Abs. 1 EUV festgeschriebenen Grundprinzipien basiert; der domaine re´serve´ ist stark eingeschra¨nkt. 36 Das, was Verfassungsstaaten fu¨r ihr eigentliches Wesen halten, ist heute nur noch in u¨berstaatlichen Zusammenha¨ngen zu bewahren. 37 Schon 1847 – 49 war die einst gro¨ßte Kirche der Christenheit restauriert worden. 38 Die gewaltige Mesquita in Cordoba, aus dem 8./9. Jahrhundert, ist das Gegenbeispiel. Mitten hinein in das maurische Bauwerk hat Karl V. eine Renaissancekathedrale bauen lassen. Die beiden Bauten befruchten sich nicht, sie beka¨mpfen sich nicht, sie sind sich vollkommen fremd. In der Tu¨rkei haben deutsche Stadtplaner und Architekten (Bonatz, Elsa¨sser, Taut) in den 1930er/40er Jahren eine bedeutende Rolle gespielt.

Die herausgeforderte Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung* Et haec quidem quae iam diximus, locum [aliquem] haberent etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum aut non curari ab eo negotia humana. Diese hier dargelegten Ausfu¨hrungen wu¨rden auch Platz greifen, selbst wenn man anna¨hme, was freilich ohne die gro¨ßte Su¨nde nicht geschehen ko¨nnte, dass es keinen Gott gebe oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht beku¨mmere.

Mit diesen Worten in den „Prolegomena“ von „De jure belli ac pacis libri tres“ legte der entschiedene Aristoteliker Hugo Grotius im Jahr 1625 eine Grundlage fu¨r das moderne Naturrecht. Er versuchte, das Kriegs- wie das Friedensvo¨lkerrecht frei von einer religio¨sen Grundlage zu konstruieren. Ein Recht, das Staaten ganz unterschiedlicher Religionen bindet, kann in der Tat nur Wirkung entfalten, wenn es sich nicht mit einer bestimmten Religion identifiziert: Nichtidentifikation, wenn auch nicht Werteindifferenz, als Bedingung der Mo¨glichkeit einer allgemein bindenden Vo¨lkerrechtsordnung. Die Gefa¨hrdung ihres Zusammenhalts und die den einschla¨gigen Spaltungstendenzen begegnende Arbeit an einer vo¨lkerrechtlichen Integrationslehre bilden das Thema dieser Skizze. Sie ist einem der großen Vo¨lkerrechtsgelehrten der Gegenwart gewidmet.1 Angesichts der fließenden Situation unserer Zeit tra¨gt Nachfolgendes den Charakter der Vorla¨ufigkeit. Als normativer Maßstab der internationalen Politik hat die Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung in unserer globalisierten Welt der Raumkonflikte, Handelska¨mpfe und Religionskriege einen eigensta¨ndigen, unentbehrlichen Wert. Die souvera¨ne Gleichheit der Staaten, das Gewaltverbot und die Menschenrechte, der Kern also der Art. 1

* Aus: Weltinnenrecht: Liber amicorum Jost Delbru¨ck, hrsg. von Klaus Dicke u. a., Berlin 2005, Duncker & Humblot, S. 849 – 864. 1 Delbru¨ck (Hrsg.), Vo¨lkerrecht und Kriegsverhu¨tung, 1979.

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und 2 der UN-Charta, bilden die Systemgrundlage dieser Ordnung.2 Diese Trias dient nachfolgend als Maßstab, um die jeweilige vo¨lkerrechtspolitische Herausforderung und korrespondierende Integrationsaufgabe zu bestimmen. Die Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung, die schon Grotius zu wahren suchte,3 ist heute gefa¨hrdeter denn je. Jede der modernen Desintegrationsgefahren setzt an einem speziellen Konflikt an: am Kalten Krieg, am NordSu¨d-Konflikt, am clash of civilizations sowie, im Schatten des 11. September 2001, am war on terror. Den vo¨lkerrechtspolitischen Spaltern erschien es jeweils nicht mo¨glich, die Konflikte de lege lata in ihrem eigenen Interesse zu lo¨sen. Deshalb schlugen sie, von Lenin bis Pra¨sident George W. Bush, neue Pfade ein, ohne Ru¨cksicht auf den Zusammenhalt der Gesamtordnung. Diese Versuche eines divide et impera ignorieren unsere Maßstabstrias – Staatengleichheit, Gewaltverbot, Menschenrechte – und potenzieren die Desintegrationsgefahren. Risse in dieser Ordnung entstanden im ¨ berblick – 20. Jahrhundert – und auf diese Epoche beschra¨nkt sich der U zuna¨chst durch das Propagieren eines sozialistischen Vo¨lkerrechts. Bald nach den 1950er Jahren forderten dann die unterindustrialisierten Staaten ein sie gegenleistungsfrei begu¨nstigendes Entwicklungsvo¨lkerrecht. Normative Spaltungsgefahren gehen zudem vom islamischen Rechtsdenken aus. Aktuell gefa¨hrden auch Tendenzen der Unilateralisierung den Zusammenhalt, zumal der „Pra¨emptivkrieg“ der US-gefu¨hrten coalition of the willing gegen den Irak im Jahr 2003. Wie la¨sst sich den im Zuge der internationalen Re-Ideologisierung („Einheit von Moschee und Staat“) und ReMilitarisierung („Wir Amerikaner lieben den Mars, ihr Europa¨er die Venus“) versta¨rkt auftretenden Spaltungsgefahren begegnen? Nachfolgende Antwortsuche geht historisch vor. Von der u¨berwundenen sozialistischen Herausforderung fu¨hrt die Skizze u¨ber das verblassende Entwicklungsvo¨lkerrecht zur aktuellen islamischen und der kaum weniger

2 Vgl. Graf Vitzthum (Hrsg.), Vo¨lkerrecht, 3. Aufl. 2004, 1. Abschnitt. – Auf einem anderen Blatt steht die Fragmentierung des Vo¨lkerrechts, die Vielzahl kollidierender oder sich u¨berschneidender Spezialregime. Beispiele sind Umweltvo¨lkerrecht/WTO-Recht, Recht der Friedenssicherung/Schutz der Menschenrechte. 3 Der eingangs zitierte Gedanke ist spanisch-scholastischen Ursprungs (16. Jahrhundert). Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 290 Fn. 34 fu¨hrt seinen Stammbaum sogar bis zu Gregor von Rimini († 1358) zuru¨ck.

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brennenden hegemonialen Herausforderung, bevor es abschließend um die forschungspolitische Integrationsagenda geht.

I. Sozialistischer Spaltungsversuch im Ost-West-Konflikt Die Frage nach der Existenz eines „sozialistischen Vo¨lkerrechts“ zielte jahrzehntelang auf den Versuch Moskau-treuer Internationalrechtler, ein Aufspalten des allgemein geltenden Vo¨lkerrechts zu rechtfertigen. Die weltpolitische Wende von 1989/90 und die damit einhergehende rechtsdogmatische Flurbereinigung beantworteten die Frage schließlich im negativen Sinne. Das behauptete „System“ sozialistischer Staaten gibt es nicht mehr. Im Rechtssinn hat es ein solches nie gegeben. Verschwunden ist damit auch die Pra¨tention besonderer „intersozialistischer Rechtsbeziehungen“. Sie diente Moskau als ideologischer Hebel, um Gewalt gegenu¨ber abweichenden sozialistischen Staaten zu legitimieren, die Prinzipien der Souvera¨nita¨t, der Staatengleichheit und des Gewaltverbots also zu delegitimieren. Die Kreml-These, wonach im „sozialistischen Weltsystem“ die „Bruderstaaten“ untereinander nur u¨ber beschra¨nkte Souvera¨nita¨t verfu¨gen, implementierten die Truppen des Warschauer Paktes blutig, von Budapest 1956 bis Prag 1968. Worum ging es rechtsdogmatisch? Wa¨hrend fast des gesamten 20. Jahrhunderts waren gema¨ß sozialistischer Theorie die Staaten die nahezu exklusiven Subjekte des Vo¨lkerrechts.4 ¨ berbau-Theorem, das auch fu¨r das Recht galt, besagte: die StaaDas Basis-U ten sind Herrschaftsorganisationen der sie tragenden Klassen. Insofern war vom Klassencharakter des (Vo¨lker-)Rechts die Rede, von einer Welt unauflo¨sbarer Gegensa¨tze. Wie in den innerstaatlichen Gesellschaften die Beziehungen zwischen der herrschenden und der unterdru¨ckten Klasse galten auch die zwischen den bu¨rgerlichen und den sozialistischen Staaten als unverso¨hnlich antagonistisch. Aus dieser Perspektive – des behaupteten Wegfalls einer globalen „ideensolidarischen“ (Staaten-)Gemeinschaft – war die Ordnung des Vo¨lkerrechts dreigeteilt. Erstens gab es weiterhin das zwischen den „kapitalistischen“ Staaten, den „Kra¨ften der Reaktion“, geltende „bu¨rgerliche“ Vo¨lkerrecht. Zweitens herrschte, zwischen den „fortschrittli4 Vgl. Schweisfurth, Socialist Conceptions of International Law, EPIL IV (2000), S. 434 ff.; Uibopuu, Socialist Internationalism, ebd., S. 443 ff.; Vo¨lkerrechtslehrbuch der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften (1957), 1960 (dt. ¨ bersetzung). U

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chen“ Staaten, das neuartige sozialistische Vo¨lkerrecht. Drittens galt – voru¨bergehend – zwischen Staaten, die unterschiedlichen Systemen angeho¨rten, ein begrifflich hilflos als „allgemeindemokratisch“ bezeichnetes Vo¨lkerrecht, wobei im sozialistischen Lager sein Vo¨lkerrecht dem allgemeindemokratischen vorgehen sollte.5 Galt aber dieser Grundsatz des proletarischen Internationalismus, der als pra¨tendierter Vo¨lkerrechtssatz sowjet-marxistischer Pra¨gung letztlich fu¨r die Subordination der einzelnen sozialistischen Staaten unter die UdSSR stand? 6 Die Antwort etwa Theodor Schweisfurths war schon in den 1970er Jahren eindeutig: Ein sozialistisches Vo¨lkerrecht in diesem Sinne hat es nie gegeben.7 Wegen seiner vo¨lkerrechtspolitischen Aussichtslosigkeit hatte es auch keine Zukunft. Die souvera¨ne Gleichheit der Staaten und das Verbot zwischenstaatlicher Gewaltanwendung hatten zwischen den sozialistischen Staaten weiterhin Geltung behalten: keine Spaltung der Rechtsordnung, kein Recht jenseits der Grenzen des universellen Vo¨lkerrechts. Die Erfolglosigkeit sozialistisch gefu¨hrter Aufstandsbewegungen in der Dritten Welt, dann das Neue Denken in der Sowjetunion ab Mitte der 1980er Jahre, schließlich der Sturz der kommunistischen Regime in Europa seit 1989 und die Aufnahme der meisten mittel- und osteuropa¨ischen Staaten in den Europarat und zunehmend auch in die NATO und die Europa¨ische Union – all dies hat letztlich bewirkt, dass vom verklungenen Postulat eines „sozialistischen Vo¨lkerrechts“ keine dogmatische Gefa¨hrdung mehr ausgeht.8

¨ bergangszeit, 1929. Vgl. Korowin, Das Vo¨lkerrecht der U Erlaubte der „sozialistische Internationalismus“ Gewalt in den intersozialistischen Beziehungen? Waren die „Bruderstaaten“ insoweit nicht souvera¨n, dass sie ihr politisches System nicht eigensta¨ndig a¨ndern durften? Erlaubte das „sozialistische Recht“ also „Hilfeleistung“ gegen Regimechange? 7 Sozialistisches Vo¨lkerrecht?, 1979, 109, 539, 560 ff. Vgl. demgegenu¨ber etwa Tunkin, Vo¨lkerrechtstheorie, 1972, 487 f. 8 Kubanische, nordkoreanische oder chinesische Vo¨lkerrechtspositionen werfen keine rechtssystematischen Probleme auf. Die Volksrepublik China hatte die sowjetische These von besonderen intersozialistischen Beziehungen durchgehend beka¨mpft. 5 6

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II. Desintegrationstendenzen im Nord-Su¨d-Konflikt Die Spaltungsgefahren, die seit den 1960er Jahren vom Propagieren eines droit international du de´veloppement9 ausgingen, setzten sektoraler an als jene sozialistischen. Auch sollten die rechtspolitischen A¨nderungen nun im Konsens erfolgen, nicht mehr im Konflikt. Es ging der Dritten Welt um einzelne Inhalte des Vo¨lkerrechts, etwa die Lockerung der Bindung der ehemaligen Kolonien, der „proletarian nations“,10an das u¨berkommene Vertrags- und Gewohnheitsrecht.11 Nicht handelte es sich, mochten die Befreiungsbewegungen auch das Prinzip des Gewaltverbots herausfordern (Kolonialismus als permanent aggression, mit einem „korrespondierenden“ Recht auf Selbstverteidigung), um ein Infragestellen der Kernelemente der Rechtsquellen- oder der Souvera¨nita¨tslehre. Rechtspolitische Desintegrationstendenzen folgten aus der mit einer gewissen Sympathie etwa von Maurice und Thibaut Flory12 systematisierten Forderung nach einer „neuen internationalen Wirtschaftsordnung“.13 Im Kern ging es dem tiers-mondisme um reverse discrimination. Auf zwei UN-Sondergeneralversammlungen (1974 und 1975) und diversen

9 Philip, La Confe´rence de Gene`ve, in: De´veloppement et Civilisation, 1964, 52 ff.; ders., in: Association Française pour le De´veloppement du Droit Mondial (Hrsg.), L’adaption de l’ONU au monde d’aujourd’hui, 1965, 129 ff. Vgl. Kaltenborn, Entwicklungsvo¨lkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung, 1998, 19 ff. 10 Bedjaoui, in: Snyder/Slinn (Hrsg.), International Law of Development, 1987, 87 ff.; ders., Pour un nouveau droit social international, YB of the A.A.A. 39 (1969), 17 ff. 11 Vgl. GA Res. 1803 [XVII], Declaration on the Permanent Sovereignty over Natural Resources, 14. 12. 1962; Chimni, The Principle of Permanent Sovereignty over Natural Resources, IJIL 38 (1998), 208 ff. 12 In Frankreich nahmen neben den Bru¨dern Flory in erster Linie Colliard, R.J. Dupuy, Feuer, Pellet und Virally diese Gedanken auf. Souvera¨n bilanzierend M. Flory, Mondialisation et droit international du de´veloppement, RGDIP 1997, III, 609 ff. 13 Vgl. die Resolutionen der UN-Generalversammlung: 3201 (S-VI), Declaration on the Establishment of a New International Economic Order, 1. 5. 1974; 3202 (S-VI), Programme of Action on the Establishment of a New International Economic Order, 1. 5. 1974; 3281 (XXIX), Charter of the Economic Rights and Duties of States, 12. 12. 1974. Vgl. Bettati, Le Nouvel Ordre Economique International, 1985.

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UNCTAD-Tagungen14 mit verhandlungsstrategischem Geschick vorgetragen, steht jene rechtspolitische Forderung weiterhin allja¨hrlich auf der Tagesordnung der UN-Generalversammlung15 – in den Augen der pays de´favorise´s mehr als ein bloßer Merkposten fu¨r vergangene Dritte-WeltAufbru¨che. Es geht um eine ku¨nftige internationale Kooperations- und Solidarordnung,16 um ein droit social international.17 Kann man heute noch von „Entwickungsvo¨lkerrecht“ bzw. von einer entsprechenden rechtspolitischen Herausforderung sprechen? Im Umweltvo¨lkerrecht hat sich das Konzept „Sonderkriterien fu¨r Dritte-Welt-La¨nder“ partiell durchgesetzt. Common but differentiated responsibilities lautet die entsprechende Rechtsfigur. Sie zielt auf eine pflichtenbezogene Minderbelastung der erst am Beginn der Industrialisierung stehenden La¨nder im Vergleich zu einer Mehrbelastung der Industriestaaten.18 Im internationalen Seerecht, etwa im Fischerei- und im Festlandsockelrecht, finden sich seit den spa¨ten 1970er Jahren ebenfalls Privilegierungen der Entwicklungsla¨nder. Weitere derartige Ansa¨tze, die das umfassende Ziel der positiven Diskriminierung sektoral zu verwirklichen suchen, gibt es im internationalen Handels- und Finanzrecht (etwa Schuldenerlass und soft loans fu¨r die a¨rmsten La¨nder).19 Verhallt ist freilich der ideologische, potentiell systemdestabilisierende La¨rm der Forderung nach globaler reverse discrimination, niedergelegt etwa in der Charter of the Economic Rights and Duties of 14 UNCTAD, 1964 gegru¨ndet, entwickelte sich zum Anti-GATT-Sprachrohr der Entwicklungsla¨nder. In den 1980er Jahren sank der Stern von UNCTAD. 15 Vgl. ein „Recht auf Entwicklung“, 1981 von der UN-Generalversammlung als „unvera¨ußerliches Menschenrecht“ proklamiert. 1986 in der „Declaration on the Right to Development“ (Res. 41/128, 4. 12. 1986) konkretisiert, wurde es 1993 in der Wiener Menschenrechtserkla¨rung vom 25. 6. 1993, ILM 32 (1993), 1663 rezipiert. 16 Eine Besonderheit war der Versuch, durch Resolutionen der Generalversammlung fundamental neues („soziales“) Vo¨lkerrecht zu schaffen. Der Ansatz scheiterte. Es kam zu keiner Erweiterung des Kanons der Rechtsquellen (Art. 38 IGH-Statut). 17 Vgl. M. Flory, Droit international du De´veloppement, 1977, 14, 16, 23. Vgl. auch: „dem Prozess der Globalisierung (ist) eine sta¨rkere soziale Dimension zu verleihen“ (Erwa¨gungsgrund 3 der Pra¨ambel des Cotonou-Abkommens AKPStaaten/EG, 23. 6. 2000 [Amtsblatt L 317 vom 15. 12. 2000]). 18 Vgl. Centre for International Sustainable Development Law (Hrsg,), Sustainable Development Law, 2004. 19 Dies sind zentrale Aufgaben der Weltbankgruppe.

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States.20 An seine Stelle21 trat das murmelnde teˆte-a`-teˆte der Experten. Sie bearbeiten Sektor fu¨r Sektor – Medien, Gesundheit, Wasser, Weltraum, geistiges Eigentum, Erna¨hrung, Klima –, auch in der Absicht, den besonderen Bedu¨rfnissen und Interessen der Entwicklungsla¨nder (partiell) entgegen zu kommen. Vo¨lkerrechtspolitisch war jener entwicklungsla¨nderfreundliche, letztlich gescheiterte Vorstoß, denkt man an das Engagement der auteurs tiers-mondistes Bedjaoui, Bennouna und Benchikh, womo¨glich Europas und des Maghrebs „letztes Hurra“. Die aktuellen Gefahren fu¨r die Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung sind außereuropa¨ischen Ursprungs. Es sind islamische und US-amerikanische Herausforderungen.

III. Vom Islam ausgehende Desintegrationsgefahr Die Frage nach der Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung wird heute vom islamischen Rechtsversta¨ndnis aufgeworfen.22 Die Einheitsfrage besitzt insofern eine religio¨s-politische Dimension. Herausgefordert sind die u¨berkommene Staatsorientierung des Vo¨lkerrechts sowie seine bereits von Grotius ins Auge gefasste Nichtidentifikation mit religio¨sen Autorita¨ten. Bedrohen also islamische Vorstellungen die Einheit des Vo¨lkerrechts als einer sa¨kularen, prima¨r staatsorientierten Rechtsordnung? Stehen wir seit den ab Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Tendenzen der Re-Islamisierung an der Schwelle eines postsa¨kularen, poststaatlichen Zeitalters?

20 GA Res. 3281 (XXIX), 12. 12. 1974 (Fn. 13), ohne Zustimmung der Industriela¨nder verabschiedet. Bereits 1961 und 1971 brachten proklamierte „Entwicklungsdekaden“ keinen durchschlagenden Erfolg. Desintegrationsgefahren fu¨r die Vo¨lkerrechtsordnung hingen eher mit einigen „Tyrannei-der-Mehrheit“-Entscheidungen zusammen. 21 Die Herausforderung verlor spa¨testens in dem Moment an Gewicht, in dem die Zweite Welt und damit eine bedeutende Gegenposition entfiel. 22 Vgl. Salem, Islam und Vo¨lkerrecht, 1984; Pohl, Islam und Friedensvo¨lkerrechtsordnung, 1988; Mikunda Franco, Das Menschenrechtsversta¨ndnis in den islamischen Staaten, Jo¨R 44 (1996), 205 ff. Zur scharia Wichard, Zwischen Markt und Moschee, 1995. Zu Entwicklung und System Schacht, An Introduction to Islamic Law, 1964; Coulson, Conflicts and Tensions in Islamic Jurisprudence, 1969. Zur islamischen Offenbarung, dem Interpretationsprivileg der Religionsgelehrten Tellenbach/Haustein (Hrsg.), Beitra¨ge zum Islamischen Recht IV, 2004.

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Das islamische Recht23 beruht im Kern auf der Maxime: Gottes Wille, ¨ berlieferung und normaausgedru¨ckt im Koran und in der authentischen U tiven Praxis des Propheten, der sunna, ist die ho¨chste Regel. Den Satz „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ hat Mohammed nie gea¨ußert. Gro¨ berlegung, dass man vielleicht auch ein Recht ohne Gott tius’ vorsichtige U denken ko¨nne, muss strenggla¨ubigen Muslimen als Gottesla¨sterung erscheinen.24 In ihrer Theorie unterliegt das Recht den Prinzipien der scharia, der Hauptquelle der Normgebung. Mit ihr sollen die staatlichen Gesetze vereinbar sein. Wer alles Recht auf den geoffenbarten Willen Gottes als dem Inhaber der Souvera¨nita¨t zuru¨ckfu¨hrt,25 dem mu¨ssen religio¨s motiviertem Zugriff entzogene Menschenrechte problematisch erscheinen, zumindest soweit sie in Differenz zu den Lehren des Islam stehen. Jedenfalls das klassische islamische Recht trennt die geistlichen Angelegenheiten nicht deutlich von den weltlichen. Origina¨re Regelungsgegensta¨nde sind der Glaube, das religio¨s-soziale Zusammenleben der Muslime sowie die (untergeordnete) Stellung der Angeho¨rigen der anderen (a¨lteren) Buchreligionen, also der Juden und Christen. Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung werden bejaht. Eine liberale Grundhaltung freilich, die auch religio¨se Indifferenz, gar eine Abkehr von den axiomatischen Glaubensvorstellungen oder den Anschluss an eine andere Religionsgemeinschaft zula¨sst, wird prinzipiell abgelehnt: Pluralismus nur in den Grenzen des Islam.26 Religionsfreiheit etwa fu¨r Juden und Christen im modernen verfassungsstaatlichen Sinne gibt es selbst in der Tu¨rkei nicht (wohl aber in Aserbaidschan).27 Was im Koran steht – an seinem wo¨rtlichen, kon23

„Den“ Islam gibt es nicht. Es existieren nur (heterogene) islamische Staaten oder Gemeinschaften sowie muslimische Individuen (Schiiten, Sunniten etc.). 24 Als Verko¨rperung der Gemeinschaft der Muslime besitzt das islamische Gemeinwesen mit dem Islam als religio¨s-politischer Ordnung eine besondere Qualita¨t – ein Problem fu¨r die souvera¨ne Gleichheit der Staaten. 25 Den Gla¨ubigen ist die Souvera¨nita¨t nach dieser Sicht nur treuha¨nderisch u¨berlassen. Koran und sunna bilden die normativen Texte der Offenbarung. Soweit das „klassische“ islamische Recht „essentialisiert“ wird, bleibt seine Entwicklung unberu¨cksichtigt. 26 Vgl. Kra¨mer, Gottes Staat als Republik, 1999, 49 ff. 27 Die staatliche Obrigkeit als Garantin der Religion zu sehen, setzt eine StaatReligion-Einheit voraus, die mit den menschenrechtlichen wie verfassungsstaatlichen Freiheiten nicht kompatibel ist. Auch die Zivilgesellschaft ist in islamischen La¨ndern religio¨s gepra¨gt – ein Problem fu¨r Freira¨ume, zumal fu¨r aufgekla¨rte laizistische Vernunft.

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textlosen Versta¨ndnis halten vor allem die Sunniten strikt fest –, ist diskussionsverbietende Wahrheit. Diese Zusammenha¨nge fu¨hren, wenn die Transpositionen der hermetischen Rechtssprache des Islam nicht ta¨uschen, zu Umsetzungsschwierigkeiten bei den UN-Menschenrechtspakten von 1966, an die sich praktisch alle muslimischen Staaten gebunden haben, seit 2003 auch die Tu¨rkei. Probleme mit dem Konzept vom Individuum – es gibt u¨ber eine Milliarde Muslime in der Welt – als des Tra¨gers der Menschenrechte und als eines partiellen Vo¨lkerrechtssubjektes liegen in jedem System go¨ttlichen Rechts auf der Hand, erst recht in scharia-Staaten. Gleiches gilt bezu¨glich der Herausbildung offener, liberaler Gesellschaften, jedenfalls gegenu¨ber dem Absolutheitsanspruch religio¨ser Fanatiker. Auch die Kooperation mit internationalen (Menschenrechts-)Gremien bleibt defizita¨r. Ein Beispiel ist die Todesstrafe. Die seinerzeit u. a. von der Bundesrepublik Deutschland in der UNO lancierte Initiative fu¨r ein weltweites Verbot der Todesstrafe hat 1989 mit der Annahme des Zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt u¨ber bu¨rgerliche und politische Rechte28 ihren formell erfolgreichen Abschluss gefunden. Vom Koran fu¨r einige Delikte als absolute Sanktion vorgesehen, ist die Todesstrafe in vielen islamischen La¨ndern aber einfach nicht zum Thema zu machen (mag ihr Vollzug dann auch ausgesetzt werden). In einer Offenbarungsreligion, so eine unter Muslimen verbreitete ¨ berzeugung, ko¨nnen gottgegebene Institute und Regeln, etwa bezu¨glich U der Konsequenzen eines Abfalls vom Glauben, durch keine menschliche Instanz abgeschafft werden, schon gar nicht durch einen zeitlich begrenzten Herrscher. Insofern gibt es auch Zweifel an der Sa¨kularisierungs- und Reformfa¨higkeit islamischer Gemeinwesen. Die Teilnahme des Iran am internationalen Menschenrechtsdiskurs, etwa u¨ber das Verbot der Folter („Demokratie ist, wo nicht gefoltert wird“ [Willy Brandt]), gera¨t seit der Revolution von 1979 immer wieder ins Stocken. Weitere Schwierigkeiten der Vereinbarkeit mit dem Gewaltverbot folgen aus dem djihad, dem Glaubensgrundsatz vom Kampf. Er besitzt auch eine milita¨rische Dimension. Fu¨r Muslime mag der Kampf gegen Ungla¨ubige, was nicht seine Schrankenlosigkeit bedeutet, de facto eine Art bellum iustum sein. Dieses Thema ist

28

BGBl 1992 II, 391.

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freilich zu bekannt (und angesichts des djihad-Terrorismus auch zu komplex), als dass es in unserer Skizze vertieft werden ko¨nnte.29 Eine weniger bekannte spezifische Herausforderung des Islam fu¨r die Vo¨lkerrechtsordnung liegt in seiner umma-Zentrierung. Das klassische, nach wie vor pra¨gende islamische Recht ist auf ein Universalgemeinwesen hin orientiert. Ihm sind im Laufe der Zeit durch Mission und djihad mo¨glichst alle Mitglieder der Menschheitsfamilie einzugliedern. Als Ideal anerkannt wird die janusko¨pfige umma, die politisch-religio¨se Einheit aller Muslime. Sie ist die Tra¨gerin der abgeleiteten Souvera¨nita¨t. Nicht der Staat als politische Entscheidungseinheit, als weltliche juristische Person und Souvera¨nita¨tstra¨ger im zwischenstaatlichen Verkehr steht im Vordergrund, sondern die transnationale Religionsgruppe, die Gesinnungsgemeinschaft, die Gesamtheit der (Recht-)Gla¨ubigen, der u¨berethnische Personenverband. Die ideale umma sorgt, egalita¨r und solidarisch, fu¨r alle ihre Mitglieder wie eine Mutter fu¨r ihre Kinder: die Familie als Mikrokosmos einer „Welt-umma“. Die islamischen Vo¨lker insgesamt bilden, dieser Theorie nach, nicht nur eine spirituelle Einheit, sondern auch eine politische Gemeinschaft, mit dem Koran als „islamischer Verfassung“.30 Dieses umma-Konzept fu¨hrt zu Gegensa¨tzen zwischen, einerseits, dem Vo¨lkerrecht als einem Zwischen-Staaten-Recht, das auf der souvera¨nen Gleichheit seiner staatlichen Subjekte aufbaut, und, andererseits, dem Konzept eines Rechts, bei dem der Akzent auf den Beziehungen zwischen staatenu¨bergreifenden, religio¨s homogenen Personalko¨rperschaften liegt. Spannungen werden damit auch in die zwischenstaatlichen Organisationen hineingetragen. Die gemeinsame vo¨lkerrechtliche Grundlage der Beziehungen zwischen den muslimisch gepra¨gten Gemeinwesen einerseits und dem „Rest der (Staaten-)Welt“ andererseits ist wenig belastbar.31 Der real existierende Islam ist freilich, jedenfalls in politicis, pragmatisch. Die wenigen Verfassungen islamischer Staaten, die sich u¨berhaupt zur in29 Gema¨ß mittelalterlicher islamischer Lehre ist die Welt zweigeteilt: in das Territorium des Islam, in dem Frieden herrscht, und in das von den Ungla¨ubigen bewohnte „Gebiet des Krieges“ – ein Problem fu¨r Beziehungen auf der Basis souvera¨ner Gleichheit. 30 Er entha¨lt freilich keine einzige Verfassungsnorm im modernen Sinne. 31 Am Herausbilden des modernen Staatsbegriffs in den konfessionellen Bu¨rgerkriegen des 16./17. Jahrhunderts war der Islam nicht beteiligt. An der Trennung von Religion und Staat sowie an der Differenz von Staat und Gesellschaft fehlte es im traditionellen islamischen Denken.

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ternationalen Einbindung a¨ußern, gehen dem Recht und der Realita¨t entsprechend vom Nebeneinander der Staaten aus. Mit der Existenz nichtislamischer Staaten haben sich selbst Islamisten abgefunden, sogar mit der Vielzahl muslimischer Einzelstaaten. Die Staatengemeinschaft wird als Ausgangspunkt anerkannt, mag auch das Endziel die Auflo¨sung alles organisiert Staatlichen in einer Weltgemeinschaft sein. Die islamischen Staaten beteiligen sich zudem – begrenzt, zuru¨ckhaltend, unstetig – an der fortschreitenden Entwicklung des Vo¨lkerrechts und seiner Kodifizierung. Auch haben sie bislang nicht versucht, ihre Glaubensgrundsa¨tze in das universelle Vo¨lkerrecht einzubringen oder ein islamisches Staatensystem (mit, wie seinerzeit im sozialistischen Lager, pra¨tendierten rechtlichen Sonderbeziehungen im innersystemaren Bereich) zu konstruieren. Die Aufnahme der „allgemein anerkannten Menschenrechte“ in die Pra¨ambel der 1992 gea¨nderten Verfassung von Marokko etwa, eines, wie es dort heißt, „souvera¨nen muslimischen Staates mit arabischer Staatssprache“, der „einen Teil des Großen Arabischen Maghreb bildet“, deutet in die gleiche Richtung. Was kann der Westen, was kann das Konzept der rechtsstaatlichen Demokratie im islamischen Teil der Welt bewirken? 32 An der Aufgabe einer dauerhaften „Einhausung“ der umma-zentrierten islamischen Gemeinwesen33 in die staatenorientierte internationale Gemeinschaft haben alle zu arbeiten, um der Einheit der Ordnung des Vo¨lkerrechts willen.

IV. Unilateralisierungsgefahren einer US-amerikanischen Hegemonie Realpolitisch gro¨ßere Gefahren fu¨r die Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung bilden Konzepte, die die USA im Kontext ihres war against terrorism entwickelt haben. Hier geht es prima¨r um preventive und preemptive self-defense (eine Art „fru¨her“ Pra¨ventivschlag), also um eine nach geltendem Vo¨lker¨ berdehnung des Selbstverteidigungs-, Gegenschlagsrecht bedenkliche U

32

Optimistisch Feldman, After Jihad, 2003, 11: „Islamic democracy is not a contradiction, because secularism (…) is not a necessary condition of democracy.“ 33 Feldman (Fn. 32), 20 f.: „The word Islam [implies] a recognition of God’s ultimate sovereignty – a sovereignty that places all people on equal footing before the divine Majesty. To mistreat one’s fellows not only violates their rights but offends God.“

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und Nothilferechts.34 Russland hat nach dem Massaker von Beslan diese „Bush-Doktrin“ aufgegriffen und Pra¨ventivschla¨ge gegen Terroristen angeku¨ndigt, wo immer in der Welt sich diese befinden. Pre-emptive strikes mo¨gen in einer unverschuldeten Notlage unter besonderen Umsta¨nden noch vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt sein. Dies gilt aber, la¨sst man sich auf diese semantischen Feinheiten u¨berhaupt ein, keineswegs generell, rechtfertigt also milita¨rische Aktionen jedenfalls nicht gegenu¨ber nicht unmittelbar bevorstehenden oder nicht beweisbaren Bedrohungen. Anticipatory defense mag ausnahmsweise unter das naturgegebene Selbstver¨ brige ist Aggression, ist teidigungsrecht (Art. 51 UN-Charta) fallen – alles U hegemonialer Unilateralismus, mag dieser auch auf eine gea¨nderte Bewertung der perzipierten Bedrohungslage (Massenvernichtungswaffen in der Hand von Diktatoren oder Terroristen) seit dem 11. September zuru¨ckgehen. Hier, beim unilateralen Postulieren und Anwenden neuer Institute zur milita¨rischen Terrorismusbeka¨mpfung (oder beim „Wiederentdecken“ alter Institute aus dem 18./19. Jahrhundert wie guerre de pre´caution und guerre pre´ventive), liegt also eine weitere vo¨lkerrechtspolitische Herausforderung. Die Bush-Administration verfolgt auch imperiale Interessen im Namen einer Mission des „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“. Der derzeitige US-Unilateralismus entspricht jedoch kaum dem von Hegel ex post entschlu¨sselten, objektiven Geschehen der Weltgeschichte als Weltgericht. Gefahren der Desintegration der internationalen Rechtsordnung ko¨nnen eben auch von den „Leuten des Evangeliums und der Thora“ ausgehen. Rechtspolitische Zentrifugalkra¨fte werden vor allem in dem Moment wirksam, in dem Staaten mit christlich-ju¨dischem Hintergrund das Recht „kulturka¨mpferisch“ mit ideologischen, quasi-religio¨sen oder gar konfessionellen Gehalten aufladen, etwa einem messianischen Sendungsbewusstsein 34 Delbru¨ck, The Fight against Global Terrorism, GYIL 44 (2001), 9 ff.; Bothe, Terrorism and the Legality of Pre-emptive Force, EJIL 14 (2003), 227 ff. Auch die humanita¨re Intervention versto¨ßt prinzipiell gegen das Gewaltverbot, Liebach, Die unilaterale humanita¨re Intervention im „zerfallenen Staat“, 2004, 257 f. Zum Kontext Mu¨nkler, Die Neuen Kriege, 6. Aufl. 2003; Mu¨ller, Amerika schla¨gt zuru¨ck, 2003; Clarke, Against All Enemies, 2004; Charney, Terrorism and the Right of Self-Defense, AJIL 95 (2001), 835 ff.; Franck, ebd., 839 ff.; Greenwood, International Law and the Pre-Emptive Use of Force, San Diego Int. L. J. 4 (2003), 7 ff.; Streinz, Wo steht das Gewaltverbot heute?, Jo¨R 52 (2004), 219 ff.; Benvenisti, The US and the Use of Force, EJIL 15 (2004), 677 ff.; Byers/Nolte (Hrsg.), United States Hegemony and the Foundations of International Law, 2003.

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oder christlichen Autoritarismus huldigen. Spaltungsgefahren drohen ebenso, wenn das Vo¨lkerrecht, kurzfristig oder fallbezogen, die Systemfolgen ignorierend, „uminterpretiert“ wird. Das kann z. B. beim Einsatz milita¨rischer Gewalt ohne UN-Mandatierung der Fall sein.35 Grotius, der Vater des klassischen Vo¨lkerrechts, hatte bereits im eingangs zitierten Werk, das er als (religions-)politischer Flu¨chtling in Paris erscheinen ließ, eine u¨berzeugende Antwort auf unsere Unilateralisierungs- und Pra¨ventionskriegs-Fragen36 gegeben: Illud vero minime ferendum est quod quidam tradiderunt, jure gentium arma recte fumi ad imminuendam potentiam crescentem, quae nimium aucta nocere posset […]. Ita vita humana est, ut plena securitas nunquam nobis constet. Adversus incertos metus a` divina providentia, & ab innoxia cautione, non a` vi praesidium pretendum est. In keinem Falle aber ist es zula¨ssig, wie einige behaupten [etwa Alberico Gentili], dass nach dem Vo¨lkerrecht ein Krieg begonnen werden du¨rfe, um das Anwachsen einer Macht, welche spa¨ter scha¨dlich werden ko¨nnte, zu verhindern […]. Das menschliche Leben ist so, dass eine vollkommene Sicherheit niemals vorhanden ¨ bel muss der Schutz bei der go¨ttlichen Vorsehung oder ist. Gegen ungewisse U durch unscha¨dliche Bu¨rgschaften gesucht werden, aber nicht durch Gewalt.

V. Aufgabe der Wissenschaft Integrationspolitisch mag sich auf den zweiten Blick gerade der Schutz der Menschenrechte als Element einer Zukunftsagenda fu¨r die Weltgemeinschaft erweisen. Zu erinnern ist an die islamische These, wonach die Idee der Menschenrechte als Teil des Menschheitserbes, auf das der Westen kein Monopol besitze, zu verstehen sei. Diese These ist geeignet, 35 Auch Gesichtspunkte politischen Gleichgewichts rechtfertigen keinen Pra¨ventionskrieg. 1870 hatte Pra¨sident Thiers versucht, mittels Pra¨ventionsgedanken und Grossma¨chteintervention die deutsche Einheit zu verhindern: Sie bra¨chte „pour l’Europe le chaos, pour la France le troisie`me rang!“ Die bloße Ru¨ckwendung zu a¨lteren Schemata (vgl. Weil, Vers une normativite´ relative en droit international, RGDIP 1982, I, 5 ff.) wird die Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung freilich nicht stabilisieren ko¨nnen. 36 Das Vertrauen auf die „go¨ttliche Vorsehung“ war ein Grund fu¨r Grotius’ Reserve gegenu¨ber dem Widerstandsrecht. Zu aktuellen Herausforderungen Kepel, The War for Muslim Minds, 2004, einerseits und Rose, Guantamano Bay, 2004, andererseits.

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den immer wieder neu zu begru¨ndenden und neu zu sichernden Kern des Anspruchs auf Universalita¨t der Menschenrechte zu untermauern – ohne einen Glauben ins Abseits zu dra¨ngen. Eine alleinige Ableitung der Menschenrechte aus der ju¨disch-christlichen Tradition, letztlich aus dem Ius Publicum Europaeum sowie dem Gedankengut der Aufkla¨rung, wu¨rde ihre Universalita¨t gefa¨hrden. Jene islamische These, versta¨ndig formuliert (was nicht der Fall ist bei der gelegentlichen Einlassung, dass der Westen die Menschenrechte erst nach der Aufkla¨rung „entdeckt“ habe, der Islam aber schon vor 1.400 Jahren), mag damit das Einpassen des Konzepts der Menschenrechte in die spezifischen islamischen Gemeinschafts- und Rechtsvorstellungen erleichtern. Einer Integrationslehre des Vo¨lkerrechts hilft das auf.37 Um ihre Einheit zu wahren, ist die Vo¨lkerrechtsordnung zur Zuru¨ckhaltung aufgerufen, zur Konzentration auf ihren systembildenden Kern: Staatengleichheit, Gewaltverbot, Menschenrechte. Die umfangreichen Vorbehalte muslimischer Staaten zu den Menschenrechtsvertra¨gen sind insofern beredt. Problematisch ist es auch, wenn immer mehr Menschenrechte argumentativ in den Rang von ius cogens gehoben werden. Es du¨rfen nicht immer opulentere Menschenrechte einer „dritten Generation“ und stets weiter ausgreifende Verpflichtungen mit „erga omnes“-Rang postuliert werden. Nur die grundlegenden Menschenrechte sind einschla¨gig geschu¨tzt, die Freiheit von Sklaverei und von Folter etwa. Ihre weltweite Durchsetzung bleibt ohnehin ein Desideratum. Von einem Menschenrecht auf Erna¨hrung oder Entwicklung,38 auf soziale Solidarita¨t oder auf klares Wasser la¨sst sich ohne Verwa¨sserung des Konzepts nicht sprechen. Demgegenu¨ber ist auf der strikten Einhaltung der fundamentalen Justizgrundrechte (Recht

37 Hoffnungen lassen sich an dem Umstand festmachen, dass nicht nur die Stro¨mungen im Islam, sondern auch die Charaktere der muslimischen Staaten, von Algerien bis Indonesien, von Usbekistan bis Albanien, politisch wie rechtlich uneinheitlich sind. Von den Resten der sozialistischen Staatenwelt gilt nichts anderes. Heterogenita¨t kann rechtspolitisches Spaltungspotential entscha¨rfen. Die dogmatischen Probleme fu¨r die Vo¨lkerrechtsordnung waren im sozialistischen Lager freilich geringer als sie es heute im islamischen „Haus“ sind: Der Sozialismus war keine Offenbarungsreligion. 38 Vgl. Worku, Entwicklungstendenzen des regionalen Menschenrechtsschutzes, 2000.

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auf Verteidiger, Pflicht zur Information von Angeho¨rigen nach Festnahme etc.) 39 zu beharren, in Syrien ebenso wie in Guanta´namo. In seinen unentbehrlichen Fundamenten, nicht in jeder seiner Auspra¨gungen muss das Vo¨lkerrecht als die universale, sa¨kulare normative Weltordnung seine Einheit wahren.40 Die Aufgabe, eine detaillierte Ordnung im Sinne materieller Gerechtigkeit herzustellen, wu¨rde die Rechtsordnung der Weltgemeinschaft u¨berfordern. Das Vo¨lkerrecht bleibt eine im Schwerpunkt zwischenstaatliche Koexistenz-, Kooperations- und Legitimationsordnung. Der Weg bis zum Entstehen einer weltstaatlichen Solidarordnung ¨ berziehen des Kooperationsansatzes,41 ist noch unu¨bersehbar weit. Jedes U jeder verbale Idealismus ohne substantiierenden Realismus schu¨rt falsche ¨ bereinstimmung Erwartungen und wirkt letztlich desintegrierend. Eine U in allen Schlu¨sselfragen – Voraussetzung einer materiell angereicherten Rechtsordnung – wa¨re nur in Christian Wolffs irrealer civitas maxima gegeben.42 Aequalitas der Glieder setzte bereits Grotius dort voraus, wo er den Gedanken der „Menschheit“ verwendete. Eine substantielle Gleichgestimmtheit der Staaten fehlt aber heute so wie fru¨her, von einer solchen der Weltreligionen ganz zu schweigen. In unserer pluralistischen Staatengemeinschaft hat das Vo¨lkerrecht im Wesentlichen die Aufgabe, im Interesse eines geordneten Zusammenlebens der Menschen fu¨r den Verkehr zwischen den Vo¨lkerrechtssubjekten geeignete Institutionen und Verfahren zur Verfu¨gung zu stellen und fu¨r die Einhaltung und Verbesserung der entsprechenden Regeln zu sorgen. Fu¨r die Wissenschaft bedeutet dies den Abschied von ideologie-, sozial-, religionsoder hegemonialpolitischen Tra¨umen.43 Auch nach dem Zerfall der sozia39 Vgl. Grabenwarter, Right to fair trial and terrorism, in: Societe´ Française pour le Droit International, 2004, 211 ff.; Stahn, International Law at a Crossroads?, Zao¨RV 62 (2002), 184 ff.; von Schorlemer, Human Rights, EJIL 14 (2003), 265 ff. 40 Hinter dem Problem eines etwaigen Zerfallens der Ordnung stehen generelle Zweifel an der fortbestehenden Universalisierbarkeit von Werten, Normen, Institutionen. 41 Optimistisch Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964. 42 Ius gentium, 1749 (eine der staatlichen Ordnung entsprechende Konstruktion der Vo¨lkerrechtsordnung). 43 Kritisch auch Bayart, Le Gouvernement du monde, 2004, in Abgrenzung zu den provozierenden Thesen von Hardt/Negri, Empire, 2000.

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listischen Staatengruppe ließen sich wider mondialistischen Erwartungen die Schlu¨sselbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu einer UN-kontrollierten Weltinnenpolitik transformieren. Stattdessen gilt es, die Arbeit44 an der skizzierten Integrationslehre des Vo¨lkerrechts fortzufu¨hren. In der real- wie rechtspolitisch verwickelten Situation unserer Zeit, die weder bereits eine „postnationale Konstellation“ aufweist, noch durch das pra¨- und transnationale umma-Konzept einer „Vo¨lker- und Menschheitsfamilie“ bestimmt ist, bleibt dies Aufgabe genug.

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Wir haben viel und lange an der Einheit der Vo¨lkerrechtsordnung zu arbeiten, im Horizont der skizzierten Herausforderungen und im Vertrauen auf die humanistische Idee einer langsam voranschreitenden Vernunft.

« L’homme ne doit pas faire de l’homme un esclave ! »* Nous savons tous qu’Eckart Klein fait partie de ce petit cercle de publicistes allemands qui, tout en donnant parfois des cours comme professeur invite´ dans des universite´s ame´ricaines, enseigne e´galement en France, avec un engagement admirable, et publie en français. Paralle`lement, notre colle`gue s’est concre`tement, comme peu d’entre nous, occupe´ de la question « law and literature », et cela avec beaucoup de succe`s.1 Il n’est donc pas surprenant que plusieurs travaux de Klein soient, eux aussi, presque des pie`ces de litte´rature.2 Mais les liens les plus e´troits qui se sont tisse´s entre lui et moi au cours des deux dernie`res de´cennies ont e´videmment, comme terrain commun, le droit international public. Nous coope´rons avant tout e´troitement dans la re´daction commune de l’ouvrage « Vo¨lkerrecht ».3 Dans cette œuvre, le grand chapitre « Les organisations internationales et les organisations supranationales », dont Klein est l’auteur,4 connaıˆt, de re´e´dition en re´e´dition et de traduction en traduction,5 un rayonnement tout spe´cial, ce que les commentateurs ont, a` bon droit, toujours souligne´. En plus de ces points communes, il faut mentionner le vif et constant inte´reˆt d’Eckart Klein pour les droits de

* Aus : Der Staat im Recht. Festschrift fu¨r Eckart Klein, hrsg. von Marten Breuer u. a., Berlin 2013, Duncker & Humblot, S. 1345 – 1356. 1 E. Klein, Demokratie und Egalita¨t als Utopien ? Bemerkungen zu dem Roman « Schwarzenberg » von Stefan Heym, in : FS fu¨r Peter Schneider, 1990, pp. 179 et suiv. (« Schwarzenberg » a e´te´ publie´ a` Munich en 1984). 2 E. Klein, Vo¨lker und Grenzen im 20. Jahrhundert, in : Der Staat 32 (1993), pp. 357 et suiv. ; du meˆme auteur, Staat und Zeit, 2006. 3 W. Graf Vitzthum (e´d.), Vo¨lkerrecht. Lehrbuch, 1e`re e´d. 1997, 687 pp. ; 5e`me e´d. 2010, 769 pp. 4 E. Klein / S. Schmahl, Die Internationalen und die Supranationalen Organisationen, in : Graf Vitzthum (n. 3) 5e`me e´d., pp. 263 et suiv. 5 En chinois : Peking 2002, 955 pp. ; en russe : Moscou 2011, 961 pp.

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l’homme : leur gene`se, leur de´veloppement, leur re´alisation.6 Deux aspects inte´ressent particulie`rement le spe´cialiste de droit constitutionnel et de droit international : d’une part la discussion sur les droits de l’homme au niveau mondial, dirige´e par les deux Conventions internationales de 1966 sur la protection des droits de l’homme, d’autre part l’influence des catalogues nationaux des droits fondamentaux, cre´e´s lors des derniers processus de de´mocratisation en Europe de l’Est, en Asie et en Afrique. Si je me permets aussi d’inse´rer, dans ma contribution juridique de´die´e a` notre ami, quelques observations personnelles, et de mentionner quelques rencontres, e´galement personnelles – la vie d’un universitaire est « un hasard sauvage », pour citer Max Weber –, on comprend facilement la raison du choix de mon sujet : une esquisse des re´flexions de quelques e´crivains germanophones e´migre´s aux E´tat-Unis, faites entre 1938 et 1968, et portant sur une de´mocratie universelle et sur les droits de l’homme.

I. L’emble´matique fauteuil en osier d’Hermann Broch dans la maison Kahler « Schau, Erich, der Wolfgang sitzt auf dem Stuhl vom Hermann ! » (« Regarde, Erich, Wolfgang est assis dans le fauteuil d’Hermann ! »). « Wolfgang », c’e´tait moi, un e´tudiant allemand, qui venait de de´barquer a` l’universite´ de Princeton pour y faire des e´tudes. « Erich » c’e´tait Erich von Kahler,7 historien et philosophe de la culture et e´galement philosophe de l’amitie´.8 6

E. Klein (e´d.), Globaler demokratischer Wandel und Schutz der Menschenrechte, 2005 ; du meˆme auteur, Menschenrechte und Jus Cogens, in : FS fu¨r Georg Ress, 2005, pp. 151 et suiv. 7 Voir G. Lauer, Die verspa¨tete Revolution : Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, 1994. – E. von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920 ; du meˆme auteur : Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas, Zu¨rich 1937 ; Man the Measure. A New Approach to History, New York 1943 ; The Tower and the Abyss. An Inquiry into the Transformation of the Individual, New York 1957 ; Die Philosophie von Hermann Broch, Tu¨bingen 1962 ; The Meaning of History, New York 1964 ; Stefan George. Gro¨ße und Tragik, Pfullingen 1964 ; The Jews among the Nations, New York 1967 ; The Orbit of Thomas Mann, Princeton 1969 ; Untergang und ¨ bergang. Essays, Mu¨nchen 1970 ; Briefwechsel Friedrich Gundolf / Erich von U Kahler, e´d. K. Pott / P. Kuse, 2 volumes, Go¨ttingen 2012.

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Et « Hermann » ? C’e´tait Hermann Broch, e´crivain avant-gardiste et intellectuel antitotalitaire.9 Les spe´cialistes comparent l’importance de Broch, comme e´crivain, a` celle d’Andre´ Gide, de James Joyce ou de Robert Musil. Ne´ en 1886 a` Vienne, d’origine juive ; Broch fut arreˆte´ par la police dans la prison de Bad Aussee, en 1938, apre`s l’annexion de l’Autriche. Avec l’aide de Joyce, d’Albert Einstein – depuis 1933 a` l’Institute of Advanced Study a` Princeton – et de Thomas Mann, Broch put e´migrer aux E´tats-Unis. A` New York, il se lia d’amitie´ avec un autre intellectuel de l’ancienne Autriche, Erich von Kahler, ne´ a` Prague en 1885, un sage dote´ de grandes qualite´s d’cœur, d’humour et d’une vaste culture. Ces deux auteurs croyaient au pouvoir du mot, qui e´claire et donne forme aux choses.10 Leur amitie´ e´tait pour tous deux une richesse exceptionnelle, sur 8 A Heidelberg, Kahler e´tait en contact avec le poe`te Stefan George (1868 – 1933) et avec le groupe d’amis proches du poe`te (Gundolf, Wolfskehl, etc.), tous des personnalite´s spirituelles et artistiques, un ce´nacle choisi, soupçonne´ d’e´litisme. George, dans le premier nume´ro de sa revue « Bla¨tter fu¨r die Kunst » (« Les feuillets pour l’art »), publie´ en 1892, voulait, a` une e´poque de crise profonde, « un art de nature spirituelle, sur la base d’une sensibilite´ nouvelle » et il s’engagea a` cre´er un art pour l’art. La revue se tient a` l’e´cart du re´alisme et du naturalisme, mais aussi de tout commerce avec « les projets visant a` ame´liorer le monde ou avec les reˆves de bonheur ide´al ». Pendant toute sa vie, George fut d’avis que les grands artistes et poe`tes sont des cre´ateurs, des me´diateurs, des gardiens du feu sacre´, et que la constitution d’un petit cercle d’amis e´tait une condition pre´alable a` chaque renouvellement culturel. 9 Voir P.M. Lu¨tzeler, Hermann Broch. Eine Biographie, 1985 ; M. Durzak, Hermann Broch, 2011. – Lu¨tzeler (e´d.), Hermann Broch. Kommentierte Werkausgabe, 13 volumes, 1978 et suiv. ; du meˆme auteur (e´d.), Hermann Broch. Menschenrecht und Demokratie. Politische Schriften, 1978 ; E. Kiss (e´d.), Hermann Broch. Werk und Wirkung, 1985 ; Hermann Broch. Literature, Philosophy, Politics. The Yale Broch Symposium 1986, e´d. S.D. Dowden, 1988 ; M. Klinger, Hermann Broch und die Demokratie, 1994 ; A. Stevens / F. Wagner / S.P. Scheichl (e´ds.), Hermann Broch. Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit. Londoner Symposion 1991, 1994 ; Lu¨tzeler (e´d.), Freundschaft im Exil. Thomas Mann und Hermann Broch, 2004 ; du meˆme auteur (e´d.), Hermann Broch. Briefe an Erich von Kahler, 2010 ; du meˆme auteur, Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrecht, Biographie, 2011. 10 Dans les anne´es 1950 – 1960, les spe´cialistes de litte´rature, surtout aux E´tatsUnis, se sont intensivement occupe´s de Broch. Aujourd’hui, meˆme son roman « La Mort de Virgile », a` l’e´poque conside´re´ comme un classique moderne, est passe´ a` l’arrie`re-plan. Est-il possible que la survalorisation de l’œuvre d’art, a` laquelle, dans la premie`re partie du 20e`me sie`cle, on attribuait une force re´demptrice, conduise

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le plan humain et professionnel. Ils y voyaient e´galement une anticipation exemplaire de l’homme nouveau, un mode`le de re´conciliation, meˆme de fraternisation des hommes, a` une e´poque ou` beaucoup d’ide´ologues propageaient et pratiquaient l’absolue se´paration entre amis et ennemis.11 De 1942 a` 1948, Broch loua le studio de la maison de Kahler. One Evelyn Place, Princeton N.J., devint un centre de re´flexions intellectuelles sur l’art, l’exil et la « massification », une enclave de la vieille Europe sur la coˆte est des E´tats-Unis. Par le travail des intellectuels, dans un esprit de fraternite´, les deux amis espe´raient que l’on pourrait encore une fois orienter le monde vers le bien : travail et amitie´ comme promesse du maintien de l’humanite´ parmi les hommes. Sur le « porch », la ve´randa de Kahler, il y avait un fauteuil en osier, a` haut dossier. Toutes les photos de Broch que l’on voit habituellement dans les livres le montrent assis dans ce fauteuil, l’air attentif, absorbe´ dans ses pense´es. C’est ici et dans son studio, au deuxie`me e´tage, que Broch, poeta doctus par excellence et e´crivain pour e´crivains, a travaille´ pendant trois anne´es, avec Kahler, a` son grand œuvre « La Mort de Virgile ». Le roman, plus lyrique que narratif, parut en1945 a` New York, en meˆme temps en allemand et en anglais.12 Un moment de gloire : la grande litte´rature, qui rend compte de ce que la sociologie, l’histoire, les sciences sociales ne peuvent pas dire, n’e´tait donc pas morte.

aujourd’hui a` une re´action contraire ? – Les romans de Broch, « Die Schlafwandler » (« Les Somnambules ») et « Der Versucher » (« Le Tentateur ») ont e´galement fait de Broch, a` l’e´poque, l’un des auteurs modernes classiques les plus renomme´s au monde. Des e´crivains et intellectuels de notre e´poque, comme George Steiner, Carlos Fuentes, Susan Sontag, Bernard-Henri Le´vy, Milan Kundera et Durs Gru¨nbein, ont reconnu la signification de Broch comme penseur politique et critique de son temps. 11 Voir Lauer (n. 7), pp. 414 et suiv. ; B. Picht, Erzwungener Ausweg. Hermann Broch, Erwin Panofsky und Ernst Kantorowicz im Princetoner Exil, 2008, pp. 82 et suiv. 12 Le mouvement « law and literature » n’a pas encore suffisamment reconnu toute la signification de « La Mort de Virgile » concernant la place de l’e´crivain dans l’E´tat. Dans cet ouvrage, Broch e´claire la signification de l’e´crivain pour l’E´tat : pour son mythe, sa le´gitimation et son ancrage dans le coeur des citoyens. Le roman montre combien l’e´crivain est indispensable a` l’E´tat. C’est Schiller qui, dans son « Wilhelm Tell », a donne´ la Confe´de´ration suisse son mythe fondateur. – Voir P. Eide-Offe, Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs « Der Tod des Vergil », 2011, pp. 122 et suiv.

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C’est donc dans ce le´gendaire fauteuil que, sans connaıˆtre les histoires d’arrie`re-plan ayant un lien intellectuel avec ce meuble, j’avais pris place, en septembre 1967, seize ans apre`s la dernie`re visite de Broch, ce qu’Alice (« Lili ») von Kahler fit gaiement remarquer a` son mari. Ce beau fauteuil est pour moi l’emble`me de la collaboration fraternelle des intellectuels europe´ens e´migre´s aux E´tats-Unis. Ses entrelacs, a` la fois solides et e´lastiques, symbolisent leur engagement commun et durable pour la de´mocratie et les droits de l’homme. Cette collaboration donna lieu a` trois documents. Du point de vue du droit international et de la the´orie de la de´mocratie, ces textes historiques sont aussi inte´ressants aujourd’hui qu’a` l’e´poque de la guerre et de l’apre`s-guerre.

II. Le projet de Princeton : Une de´mocratie universelle fonde´e sur les droits de l’homme Les sujets politiques dominaient les entretiens et les projets des intellectuels e´migre´s a` Princeton. Albert Einstein, le plus ce´le`bre d’entre eux, obtint en1940 la nationalite´ ame´ricaine. Il mourut en 1955, a` l’aˆge de 76 ans, a` Princeton. De´ja` en 1939, peu avant le de´but de la Deuxie`me Guerre mondiale, il signa l’appel bien connu au Pre´sident Franklin D. Roosevelt. L’avertissement d’Einstein quant au danger d’une « bombe allemande nouveau type » fit progresser le «Manhattan Project », c’est-a`dire le de´veloppement de la bombe atomique ame´ricaine. Apre`s la guerre, Einstein, qui aimait les hommes (et les femmes) et son violon, s’engagea pour le de´sarmement13 et pour un controˆle international de l’armement. Herman Broch, Thomas Mann, e´galement a` Princeton de 1938 a` 1941,14 ainsi que son gendre Giuseppe Antonio Borgese, historien, ¨ ber den Frieden : Weltordnung und Weltuntergang, 2004 ; A. Einstein, U A. Zimmermann, Einsteins Idee der Weltregierung und die Praxis der Weltorganisation – Tendenzen einer Supranationalisierung im Vo¨lkerrecht, in : S. Albrecht / R. Braun / T. Held (e´ds.), Einstein weiterdenken. Thinking beyond Einstein, 2007, pp. 385 et suiv. 14 Voir H.R. Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938 – 1952, 2011, pp. 53 et suiv. : « Je fais la guerre » e´crit Thomas Mann en français, devenu alors un combattant politique contre l’Allemagne de Hitler. Et il la fait avec tous les moyens qui sont a` sa disposition. Certes, 13

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philosophe et intellectuel sicilien, d’un tempe´rament volcanique,15 s’engage`rent sur une voie diffe´rente. Ils formule`rent, pour la pe´riode de l’apre`s-guerre, la vision d’une socie´te´ de´mocratique universelle. Ils participe`rent au projet collectif du livre « The City of Man » (New York 1940), commence´ en 1940 et rapidement termine´. Dans cette « Declaration of World Democracy » – tel est le sous-titre de ce document, dirige´ contre le totalitarisme, mais aussi contre un capitalisme effre´ne´ –, un groupe socialement et politiquement homoge`ne de 17 intellectuels ide´alistes, parmi lesquels le trio d’e´migre´s europe´ens cite´ ci-dessus, conçut, dans une prose emphatique et dans un esprit anti-isolationniste, un E´tat universel, de´mocratique et centralise´, modele´ par les valeurs humanistes. Son fondement devait eˆtre une loi garantissant la protection de la dignite´ de l’homme. Broch e´tait convaincu de la validite´ universelle des droits de l’homme. Responsable, dans le livre commun du groupe de Princeton, de la partie consacre´e aux re´flexions d’ordre e´conomique, Broch, inspire´ par le « New Deal » du pre´sident Roosevelt et par l’e´conomiste John Maynard Keynes, mais d’une grande inde´pendance d’esprit, plaida pour une combinaison d’e´conomie de marche´ et de dirigisme e´tatique. Comme le souligne la citation de Broch reproduite dans le titre « L’homme ne doit pas faire de l’homme un esclave ! », la meˆme ide´e – un leitmotiv des the´ologiens et philosophes du sie`cle des Lumie`res – e´tait exprime´e par Immanuel Kant, 150 ans plus toˆt, dans les « Fondements de la me´taphysique des mœurs » et dans la « Critique de la raison pratique » : « l’eˆtre humain ne doit jamais eˆtre traite´ comme une chose ».16 Hermann pas plus qu’avant, il e´tait devenu un parfait de´mocrate, malgre´ son discours « Vom zuku¨nftigen Sieg der Demokratie » (1938). Il ne pouvait pas se repre´senter une de´mocratie sans « la ne´cessaire coloration de l’aristocratie del’esprit ». Face aux de´sastreux de´veloppements que connaissait l’Europe, il e´tait meˆme preˆt a` soutenir une « dictature e´claire´e ». 15 G.A. Borgese, Goliath. The March of Fascism, New York 1937. G. di Stefano, « Italienische Optik, furios behauptet ». Giuseppe Antonio Borgese – der schwierige Schwiegersohn, in : Thomas-Mann-Jahrbuch 8 (1995), pp. 139 et suiv. 16 W. Graf Vitzthum, Die Menschenwu¨rde als Verfassungsbegriff, in : Juristenzeitung 1985, pp. 201 et suiv. Voir De´claration universelle des droits de l’homme (1948), article 4 : « Nul sera tenu en esclave ni en servitude ; l’esclave et la traite des esclaves sont interdits sous toutes les formes. » De´ja` pour Platon et les stoı¨ciens, tout homme est citoyen de la Cite´ universelle. Aristote, au contraire dans sa « Politique », de´clare qu’il est « naturel » qu’il existe des maıˆtres et des serviteurs. Il ose

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Broch, dans sa « The´orie de la folie des masses », avait, dans un langage assez flou, qualifie´ cette ide´e de « principe fondamental du droit de l’humain ».17 En meˆme temps, Broch, qui e´tait te´moin des malheurs de la de´mocratie en Europe, essaya, avec un certain humanisme militant, de de´fendre la de´mocratie contre elle-meˆme18 et de´veloppa l’ide´e provocatrice d’une « de´mocratie totalitaire ». Cette ide´e fut reprise plus tard dans le concept de « streitbare Demokratie » (« de´mocratie combative »). Cette expression de Broch n’est pas tre`s heureuse, elle rappelle le « despotisme e´claire´ » et l’esprit de caserne du roi de Prusse au 18e`me sie`cle. Selon Broch, la dictature de l’ide´e d’humanite´, sur la base d’une loi prote´geant la dignite´ de l’homme, est l’unique forme de pouvoir porteuse d’espoir.19 Malgre´ ce lapsus sur le plan terminologique, on ne peut douter de

conside´rer comme « naturel » que les plus intelligents soient dirige´s par les plus aptes, voir M. Villey, Le droit et les droits de l’homme, 2009, pp. 84/85. 17 H. Broch, The´orie de la folie des masses, e´d. e´tablie par P.M. Lu¨tzeler, 2008, p. 9 : « J’espe`re », e´crit Broch en 1949, « que mon travail apportera ma petite pierre a` la construction future du monde. La the´orie … me semble apparaıˆtre pour l’instant comme la seule voie par laquelle l’e´crivain … peut parvenir a` engager un de´bat avec la situation actuelle du monde. » Une fois qu’il a ce´de´ a` la folie des masses et a` ses phe´nome`nes d’esclavage physique et spirituel, l’homme, selon Broch, a besoin d’une « conversion aux valeurs de l’humanite´ ». Au centre de ces mesures e´ducatrices modernes, il y a, chez Broch, le droit de l’homme (singulier!) : sur le plan e´thique un « absolu terrestre ». Pour Broch, il s’agit avant tout d’un nouveau fondement e´thique des droits de l’homme. Pour cela, il propose une « loi pour la protection des droits de l’homme » ; ainsi qu’une Cour internationale de l’ONU, pour poursuivre ceux qui enfreignent les droits de l’homme. Voir M. Welan, Her¨ sterreichische Liga fu¨r Menmann Broch und die Menschenrechte, in : O schenrechte (e´d.), Hermann Broch – ein Engagierter zwischen Literatur und Politik, 2004, pp. 9 et suiv. ; du meˆme auteur : Das Menschensrecht Hermann Brochs, in : FS fu¨r Peter Pernthaler, 2005, pp. 429 et suiv. – En ce qui concerne « la folie des masses », yoir de´ja` G. Le Bon, La psychologie des foules, Paris 1895 ; O. y Gasset, La rebellio´n de las masas, Madrid 1929 ; E. Canetti, Masse und Macht, 1960. 18 W. Graf Vitzthum, Brochs demokratie- und vo¨lkerbundtheoretische Schriften, in : P.M. Lu¨tzeler (e´d.), Hermann Broch, 1986, pp. 289 et suiv. – En 1941, Thomas Mann de´fendit aussi l’ide´e que la de´mocratie se devait d’eˆtre militante, pour un simple motif de survie. Dans un monde d’esclavage ge´ne´ral, tel que le concevait la Gestapo, n’y aurait pas de de´mocratie. 19 H. Broch, Politische Schriften, e´d. P.M. Lu¨tzeler, 1978, pp. 24 et suiv. (« Zur Diktatur der Humanita¨t innerhalb einer totalen Demokratie »), pp. 110 et suiv. (« Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung »).

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l’hostilite´ profonde de Broch et des autres intellectuels de Princeton a` l’e´gard de la tyrannie, voire de la simple hypertrophie de l’autorite´.20 J’aimerais rappeler aussi que, dans les anne´es 30, Broch e´tait en contact avec le philosophe ne´othomiste Jacques Maritain, qui e´tait en train de de´velopper des ide´es semblables. Apre`s la guerre, le philosophe français, qui enseigna a` l’universite´ de Princeton entre 1948 et 1960, collabora, entre autres, a` la re´daction de la De´claration universelle des droits de l’homme, aux Nations unies, en 1948, a` laquelle fait suite, en 1950, la Convention europe´enne des droits de l’homme. Une profession de foi sans ambiguı¨te´ pour la de´mocratie impre´gnait, a` cette e´poque, ses e´crits.21 Selon ces intellectuels de Princeton, le temps des E´tats nationaux e´tait (ou devait eˆtre) passe´.22 L’E´tat de´mocratique universel futur – son caracte`re de´mocratique (pour Kant son caracte`re « re´publicain ») e´tait, selon eux, la condition premie`re d’une paix universelle – devait eˆtre repre´sente´ par un parlement mondial. Ce dernier ne devait pas eˆtre une assemble´e de de´pute´s des diffe´rents E´tats nationaux, ce qu’est l’Assemble´e ge´ne´rale des Nations unies depuis 1945.23 Le parlement mondial futur 20

Eiden-Offe (n. 12), p. 21, refuse mon interpre´tation de Broch concernant sa malheureuse expression « de´mocratie totalitaire », ambigue¨ et provocatrice. Malgre´ tout, Broch reste pour moi un pre´curseur de la « de´mocratie combative » pre´vue par la Loi fondamentale cre´e´e en 1949. Eiden-Offe se re´fe`re a` des the´ories actuelles, de Jacques Derrida par exemple, inspire´es par le danger de terrorisme pour la de´mocratie. 21 Voir J. Maritain, Les Droits de l’homme et la loi naturelle, New York 1942 ; du meˆme auteur : Christianisme et de´mocratie, New York 1943 ; Principes d’une politique humaniste, New York 1944. Il s’agissait pour Maritain, dans ces œuvres, comme pour Broch dans les siennes, de prote´ger la liberte´ de´mocratique et d’e´viter la dictature. Ainsi Maritain fit, en 1942, a` partir de bases philosophiques, un catalogue de 26 droits de l’homme. 22 La re´sistance anti-hitle´rienne en Allemagne n’e´tait pas un phe´nome`ne homoge`ne. Il y avait, entre autres, une-importante opposition des e´le´ments conservateurs libe´raux. Ce sont, parmi eux, surtout les « jeunes » et les membres e´minents du Cercle de Kreisau, qui se sont ouverts a` l’ide´e que le temps des E´tats nationaux e´tait passe´ et qu’une coope´ration europe´enne et internationale e´tait a` l’ordre du jour. 23 Article 9 – 1 : « L’Assemble´e ge´ne´rale se compose de tous les membres des Nations unies » ; Article 3 : « Sont membres … des Nations unies les E´tats … ». De`s 1946, Einstein se de´clara en faveur d’une re´vision fondamentale de la Charte des Nations unies, afin de rendre possible un gouvernement mondial, le point essentiel devant eˆtre la parlementarisation des Nations unies, c’est-a`-dire la transformation de l’Assemble´e ge´ne´rale en un parlement mondial.

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devait, au contraire, eˆtre e´lu au suffrage universel par l’humanite´ entie`re, d’apre`s « les principes du libre suffrage, de l’e´galite´ et de la justice ». Ju¨rgen Habermas, philosophe de l’E´cole de Francfort, inspire´ par des ide´es ge´ne´reuses, de´veloppe aujourd’hui des conceptions analogues concernant la repre´sentation universelle : une ide´e dicte´e par la volonte´ de cre´er un re´gime mondial, cense´ garantir une justice universelle, mais – disent les critiques – qui refle`te un certain esprit autoritaire qui n’est pas sans danger.

III. Le projet de Chicago : Une constitution mondiale fonde´e sur les devoirs et les droits de l’homme Peu de temps apre`s – le lancement des deux bombes atomiques sur le Japon venait d’avoir lieu – Borgese et Kahler participe`rent a` un projet similaire a` l’Universite´ de Chicago, a` l’e´poque donc de la menace atomique devenue re´alite´. Le re´sultat du travail commun du « Committee to Frame a World Constitution » fut le « Preliminary Draft of a World Constitution », publie´ en 1948 dans la revue « Common Cause : A Journal of One World », et e´galement sous forme de livre a` New York. Cette « Chicago Constitution » n’e´tait rien moins que l’e´bauche d’une unique re´publique mondiale, de´mocratique, fe´de´rale et non capitaliste. « Le gouvernement mondial de la justice », tel qu’il e´tait conçu dans cette e´bauche peu re´aliste, devait eˆtre fonde´ sur les devoirs et les droits de l’homme, ces derniers e´tant, bien entendu, dirige´s contre l’E´tat lui-meˆme. Il est inte´ressant de souligner que l’on commençait, a` Chicago, par les devoirs de l’homme et non par les droits (et il s’agit de devoirs juridiques, non seulement de devoirs moraux). Dans la ce´le`bre De´claration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, par contre, les droits de l’homme e´taient mentionne´s en premier, et presque de façon exclusive. De plus, cette « Chicago constitution » stipulait que « chaque loi concernant les droits (et les devoirs) civiques et politiques des individus devait eˆtre comple´te´e par une loi e´quivalente concernant les droits (et les devoirs) e´conomiques ». Certes, il y avait, derrie`re cette ide´e nouvelle, a` coˆte´ du grand mouvement des « Word Federalists », la conviction que les droits classiques a` la liberte´ – par exemple le droit de tout individu a` la liberte´ de pense´e, de conscience et de religion, le droit a` la liberte´ d’opinion et d’expression, le droit a` la liberte´ de re´union et d’association pacifique, le

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droit a` la vie et a` la re´sistance a` la tyrannie, le droit a` la liberte´ et a` la suˆrete´ de la personne, le droit de circuler librement, de choisir sa re´sidence a` l’inte´rieur de son pays, de quitter tout pays, y compris le sien, et le droit d’y revenir, le droit d’asile, le droit a` une nationalite´, le droit de se marier et de fonder une famille, le droit a` la proprie´te´, le droit de gre`ve, etc. –, face a` l’ine´galite´ e´conomique et sociale existante, ne peuvent pas eˆtre pareillement ve´cus par tous les hommes. La critique de Lassalle et de Marx, concernant le droit a` la proprie´te´ tel que le concevait John Locke, qui favorisait davantage les posse´dants que les non-posse´dants, allait de´ja` dans ce sens. La « premie`re ge´ne´ration » des droits de l’homme avait donc besoin d’eˆtre comple´te´e par une « deuxie`me ge´ne´ration », celle des droits socioe´conomiques de l’homme – cette conviction s’est impose´e tre`s toˆt –, pour ne pas perpe´tuer les ine´galite´s existant en fait, mais pour les re´duire. Et alors, de´ja` a` l’horizon, se dessinait une « troisie`me ge´ne´ration » des droits de l’homme : droit au travail, droit a` la se´curite´ sociale et a` la sante´, droit au repos et aux loisirs, droit au logement, droit a` l’e´ducation, droit a` la culture, droit a` un environnement propre, droit a` l’eau, droit au de´veloppement, droit a` la paix, etc. Aujourd’hui, le projet « Weltethos » (« e´thique universelle ») du the´ologien de Tuebingen, Hans Ku¨ng, tend, dans un langage certes trop ge´ne´ral, vers un but semblable : e´quilibrer les droits de l’homme par « les responsabilite´s de l’homme » ; aucun droit sans responsabilite´s, aucune proclamation des droits de l’homme sans l’accompagnement d’une proclamation des responsabilite´s de l’homme ; l’acceptation des responsabilite´s est indispensable a` la re´alisation des droits de l’homme.24 La De´claration solennelle de 1948 incluait de´ja` l’article 29 – 1 : « L’individu a des devoirs envers la communaute´, dans laquelle seul le libre et plein de´veloppement de sa personnalite´ est possible » ; alors, pas de danger pour les liberte´s individuelles, liberte´s auxquelles Ku¨ng, tout comme Broch et Kahler, fut toujours attache´ de tout son eˆtre.

24 Voir H. Ku¨ng, Menschen-Verantwortlichkeiten sta¨rken Menschenrechte, in : J. Goodhill (e´d.), Menschenpflichten. Eine Liebes-Erkla¨rung in 19 Artikeln, 2011, pp. 22 et suiv. ; du meˆme auteur : Projekt Weltethos, 1993 : Dokumentation zum Weltethos, 2002. Voir, au contraire, C. Tomuschat, Grundpflichten des Individuums im Vo¨lkerrecht, in : AVR 21 (1983), pp. 289 et suiv. Voir aussi les devoirs de l’individu selon le droit international lors de crimes contre le droit international.

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Nous voyons ici combien les ide´es des 20e`me et 21e`me sie`cles ont change´, par rapport aux ide´es des 18e`me et 19e`me sie`cles. Autrefois, il s’agissait d’assurer les droits de l’individu face a` l’autorite´ de l’E´tat. Dans une de´mocratie, le citoyen est, au contraire, un e´le´ment constitutif de la communaute´. C’est pourquoi il a aussi des devoirs notables vis-a`-vis de la communaute´ de l’E´tat de´mocratique. En effet, celle-ci ne peut subsister durablement et se de´velopper que si le citoyen y contribue par son engagement, son travail et sa loyaute´. Cette ide´e s’est de´veloppe´e a` partir du « contrat social »·de Rousseau. Elle se retrouve dans la transformation de l’E´tat de droit libe´ral en E´tat de droit social, et ceci dans de multiples domaines.25 L’ide´e de devoirs de l’homme ne signifie pas, du reste, qu’il faille abandonner, ni meˆme seulement relativer les droits de l’homme classiques, ceux qui garantissent les liberte´s individuelles. Ces dernie`res, au contraire, sont garanties tre`s pre´cise´ment dans l’e´bauche de la « Chicago Constitution ». Nouvelle, meˆme re´volutionnaire, e´tait, par contre, cette de´claration de la « World Constitution », e´le´mentairement socialiste, et j’entends « e´le´mentairement » au double sens du terme : « les quatre e´le´ments de la vie – la terre, l’eau, l’air et l’e´nergie –, sont de´clare´s bien commun du genre humain. Leur gestion et l’utilisation que l’on en fait doivent eˆtre, dans tous les cas, subordonne´es a` l’inte´reˆt du bien public ». Ce que cette de´cision dramatique devait avoir comme conse´quence dans le de´tail n’e´tait pas pre´vu dans le texte de Chicago. Mais ces ide´es concernant la proprie´te´ commune ne sont pas tout a` fait tombe´es dans l’oubli, ainsi que je le montrerai par la suite.

IV. Le projet de Santa Barbara : Une constitution pour les oce´ans, fonde´e sur le principe du patrimoine commun de l’humanite´ La fille cadette de Thomas Mann, Elisabeth (1918 – 2002), avait collabore´ a` cette constitution mondiale de Chicago. Elisabeth – « Medi » dans le jargon familial –, la principale figure enfantine de l’e´mouvante 25 F. Glum, Einfu¨hrung, in : Ist eine Weltregierung mo¨glich ? Vorentwurf einer Weltverfassung, 1951, pp. 10 et suiv.

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nouvelle de Thomas Mann « Unordnung und fru¨hes Leid » (« De´sordre et chagrin pre´coce »), publie´e en 1925, avait e´pouse´, en 1939, a` l’aˆge de 21 ans, a` Princeton, Giuseppe Antonio Borgese, brillant orateur et fougueux antifasciste, de 36 ans plus aˆge´ qu’elle. Elisabeth connaissait et admirait depuis longtemps les e´crits de Borgese. Hermann Broch fut l’un des membres du trio te´moin au mariage de ce couple d’e´migre´s. Klaus, le fre`re d’Elisabeth, et le compositeur ame´ricain Roger Sessions furent les deux autres te´moins. La volontaire Elisabeth travailla d’abord comme secre´taire, puis comme assistante et finalement comme coauteur de son mari et pe`re de leurs deux enfants, qui mourut en 1952. Elisabeth reprit, en 1968, d’importants e´le´ments du concept d’E´tat mondial et de bien commun, en tant qu’ « associate » (« senior fellow ») au « Center for the Study of Democratic Institutions » a` Santa Barbara, en Californie, un laboratoire d’ide´es interdisciplinaires, totalement inde´pendant. Elisabeth transposa ces ide´es mondialistes, centralistes et socialistes, exprime´es par les projets de Princeton et de Chicago, et cre´a un nouvel ordre international des mers, dans son ouvrage « The Ocean Regime. A Suggested Statute for the Peaceful Uses of the High Seas and the Sea-Bed Beyond the Limits of National Jurisdiction » (Santa Barbara 1968). Qu’Elisabeth ait fait du sauvetage des oce´ans et d’une internationalisation des ressources de la mer le nouveau but de sa vie, e´tait la conse´quence de ces ide´es de constitution et de de´mocratie universelles, fonde´es sur les droits de l’homme, telles qu’elles avaient e´te´ de´veloppe´s a` Princeton et Chicago : a` savoir que les oce´ans ne doivent pas eˆtre l’objet d’une exploitation excessive de la part des puissances mondiales ; qu’il doit y avoir une responsabilite´ commune, qui pre´serve tous les inte´reˆts, et en particulier ceux des ge´ne´rations futures et de la nature. Par la`, le nouvel ordre des mers deviendrait le levier d’un nouvel ordre mondial plus juste. Cela fait partie des nombreux hasards heureux de ma vie d’avoir pu, par l’interme´diaire de Lili et d’Erich von Kahler, faire l’connaissance d’Elisabeth a` New York, a` l’hoˆtel « Pierre », fre´quente´ alors par les artistes et les intellectuels (comme l’hoˆtel « Bedford » dans les anne´es 30 et 40). Dans le hall troˆnait Salvador Dali, reconnaissable a` sa moustache retourne´e vers le haut et a` sa canne a` pommeau d’argent (il pensait ainsi e´chapper a` l’ennui des conventions). J’ai ensuite, a` partir de 1969, travaille´ pendant plusieurs anne´es aux coˆte´s d’Elisabeth a` ce vaste projet « Pacem in Maribus » (« Paix dans les mers », « PIM »), conçu dans l’esprit progres-

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siste et optimiste d’un nouvel ordre international des oce´ans.26 Elisabeth e´tait une personnalite´ qui n’aimait pas regarder en arrie`re ; elle se levait chaque matin a` 5 heures et avait de´ja`, avant de prendre son petit de´jeuner, expe´die´ une correspondance nombreuse. Si elle se sentait abattue – cela pouvait parfois arriver a` cette merveilleuse optimiste qui accomplissait toute forme de travail avec rapidite´ et facilite´ –, elle allait en ville et achetait des casseroles. La premie`re grande confe´rence consacre´e a` PIM – 32 autres devaient suivre – eut lieu a` l’e´te´ 1970 a` Malte, dans une chaleur africaine. Cette confe´rence demanda a` Elisabeth un tre`s grand engagement intellectuel et un e´norme travail d’organisation. Hardie et timide, de´ployant des qualite´s de strate`ge, n’oubliant pas le plus petit de´tail musical ou culinaire, Elisabeth e´tait le centre. Cette confe´rence re´unit plus de 250 personnes – spe´cialistes, diplomates, journalistes –, dont un assez grand nombre venu des pays·socialistes et des pays du tiers-monde. L’intensite´ des de´bats n’excluait pas une atmosphe`re le´ge`re et joyeuse. Paralle`lement aux confe´rences consacre´es a` PIM eut lieu, a` partir de 1973, la troisie`me Confe´rence sur le droit de la mer, organise´e par les Nations unies. Son re´sultat, la Convention des Nations unies sur le droit de la mer, de l982, reprend le concept de « Common heritage of mankind » (« Patrimoine commun de l’humanite´ »), applique´ aux fonds marins profonds et a` ses pre´cieuses ressources naturelles.27 Ce concept, approfondi et de´veloppe´ dans le cadre inofficiel de PIM, signifie que 26 Pacem in Maribus. Ocean Enterprises, e´d. E.H. Burnell / P. von Simson, 1970 ; W. Graf Vitzthum, Pacem in Maribus, in : Ao¨R 96 (1971), pp. 100 et suiv. ; Pacem in Maribus. Legal Foundations of the Ocean Regime, Malta 1971 ; E. Mann Borgese (e´d.), Pacem in Maribus, 1972 ; D. Krieger (e´d.), Proceedings Pacem in Maribus Convocation, 1974 ; E. Mann Borgese (e´d.), The Drama of the Oceans, 1975 ; du meˆme auteur : A Constitution for the Oceans, in : San Diego Law Review 15 (1978), pp. 371 et suiv. ; The Mines of Neptune. Minerals and Metals from the Sea, 1985 ; The Future of the Oceans. A Report to the Club of Rome, 1986 ; The Oceanic Circle. Governing the Sea as Global Resource, 1989 ; The Common Heritage of Mankind. From Non-living to Living Resoures and beyond, in : Liber Amicorum Judge Shigeru Oda, 2002, pp. 1334 et suiv. ; H. Pils / K. Ku¨hn (e´ds.), Elisabeth Mann Borgese und das Drama der Meere, 2012. 27 W. Graf Vitzthum, Die Bemu¨hungen um ein Regime des Tiefseebodens. Das Schicksal einer Idee, in : Zao¨RV 38 (1978), pp. 744 et suiv. ; du meˆme auteur : Der Rechtstatus des Meeresbodens. Vo¨lkerrechtliche Probleme der Zuordnung und Nutzung des Grundes und Untergrundes der Hohen See außerhalb des Festlandsockels, 1972.

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l’exploitation des fonds marins profonds doit eˆtre au service du profit ge´ne´ral, en particulier celui des pays du tiers-monde, et soustraite a` la mainmise incontroˆle´e de quelques E´tats ou entreprises ne´ocolonialistes et avides de progre`s, et doit eˆtre, au contraire, administre´e par une autorite´ internationale dispensatrice de licences. L’ambassadeur maltais Arvid Pardo (1914 – 1999), en 1967 aux Nations unies, a` New York (ironie du hasard, c’e´tait le moment ou` je prenais place, a` Princeton, dans le fameux fauteuil d’osier de Broch),28 et Elisabeth Mann Borgese dans son projet « The Ocean Regime », en 1968 a` Santa Barbara, en ont e´te´ les pre´curseurs.29 Tous deux, ge´ographiquement et mentalement de grands voyageurs, cosmopolites lie´s par une amitie´ solide et par une e´troite collaboration, comme l’avaient e´te´ a` Princeton Broch et Kahler, de´gage`rent du de´sordre de la « lex lata » un nouvel ordre, jusqu’alors en grande partie inconnu. Et meˆme si les re´sultats de leur engagement commun n’ont pas comple`tement re´pondu a` leurs conceptions ide´alistes, pacifistes et e´cologistes – meˆme le principe de « patrimoine commun de l’humanite´ » avait e´te´ tre`s affadi –, leurs ide´es et leurs personnalite´s ont, a` juste titre, connu une forte reconnaissance internationale. Il en est presque toujours ainsi : les reˆves et les visions peuvent transformer le monde, du moins assouplir des positions endurcies et insuffler un vent nouveau dans les teˆtes et les chancelleries. Avec Pardo et Elisabeth, plus qu’une nouvelle façon de penser le droit de la mer, c’est un nouvel ordre du monde, base´ sur le « patrimoine commun de l’humanite´ », qui prit le large. Il est vrai que les ide´es e´taient grandes, ge´ne´rales et progressistes, mais elles e´taient porte´es par une autorite´ morale convaincante.

28 United Nations. Statement of Ambassador Arvid Pardo. General Assembly Docs., A/C 1/PV 1515 and 1516, November 1, 1967 ; A. Pardo, Who will Control the Seabed ?, in : Foreign Affairs 45 (1968), pp. 123 et suiv. 29 W. Graf Vitzthum (e´d.), Die Plu¨nderung der Meere. Ein gemeinsames Erbe wird zerstu¨ckelt, 1981.

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V. Des ide´es originales comme re´sultat d’une coope´ration fraternelle et conçues dans un esprit moderne En conclusion, deux remarques s’imposent. La premie`re : toutes les ide´es ci-dessus expose´es doivent paraıˆtre a` Eckart Klein bien impraticables, sinon irre´alistes et illusoires, et peu dignes d’eˆtre mentionne´es. Mais, une fois conçues et lance´es dans le monde, des ide´es originales, meˆmes vagues dans leur formulation, semblant venir d’une autre plane`te, ne peuvent elles pas, a` une autre e´poque et dans une autre re´alite´ internationale, porter leurs fruits ? 30 Nous ne vivons certes pas la fin des visions et des mythes. Les ide´es originales ne se laissent pas effacer, ni re´duire en cendres. La seconde remarque : toutes les ide´es mentionne´es ont e´te´ conçues lors de de´bats entre amis, a` l’inte´rieur de petits groupes inspire´s par un meˆme ide´al. C’est l’expe´rience de Princeton, de Chicago, de Santa Barbara et, j’aimerais ajouter, de Berlin, lieu de la publication de notre livre commun « Vo¨lkerrecht ». De notre coope´ration fraternelle – et je ne cite que les noms de Michael Bothe, Rudolf Dolzer, Kai Hailbronner, Marcel Kau, Philip Kunig, Alexander Proelß, Stefanie Schmahl et Meinhard Schro¨der, tous coauteurs de ce livre –, en a re´sulte´, si je peux me permettre de le dire, beaucoup de bien pour nos e´tudiants et pour notre science juridique, ce qui e´tait le but d’Eckart Klein, le sens profond de son engagement, de son admirable te´nacite´, et la raison de son rayonnement.

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« Ce qui a e´te´ pense´ une fois ne peut plus eˆtre retire´ ». C’est la` le message essentiel de Friedrich Du¨rrenmatt quant aux dangers lie´s a` la de´couverte de la physique nucle´aire et a` l’attente suscite´e par cette ide´e que tout ce qui est pensable sera une fois pense´, aujourd’hui ou demain. Dans sa come´die « Die Physiker » (« Les physiciens »), Zu¨rich 1980, il s’agit de pre´server le monde de la science et de pre´server la science de la tentation du pouvoir. Mais il y a aussi une de´marche contraire : ce qui a e´te´ pense´ une fois peut, au moment de sa de´couverte, paraıˆtre irre´aliste , meˆme utopiste ; mais plus tard, quand les re´alistes d’aujourd’hui appartiennent depuis longtemps au passe´, cela peut devenir un e´le´ment constructif, que la communaute´ peut utiliser de façon utile.

Russisches Vo¨lkerrechtsdenken* Eng war die geistige Elite Russlands seit dem spa¨ten 18. Jahrhundert mit Europa verbunden. Ihr Land solle mit Europa zusammengehen und dessen Entwicklung nachholen, forderten Russlands Liberale. Die Europa¨er ihrerseits, die Deutschen zumal, waren vom lockenden wie schreckenden Reich ostwa¨rts der fundamentalen europa¨ischen Kulturscheide fasziniert, von seinen kosmischen Ausmaßen, seinen Autoren und Ikonen, seinen dunklen Ra¨tseln. Das Gros der russischen Bevo¨lkerung indes, im Jahrhundert der großen Romane dann auch Teile der sta¨dtischen Intelligenzija hingen am Slawentum. Ihr Land solle, dra¨ngten die Anti-Westler, seinen eigenen Weg gehen, autorita¨r-patriarchalisch, russisch-orthodox, der „russischen Erde“ verbunden. Wie hat das alles die russische Rechtsentwicklung beeinflusst? Bildet Russland rechtskulturell einen eigenen Raum? Gibt es gar russisches Vo¨lkerrechtsdenken? Ohne einen Blick auf Geschichte, Glauben und Geographie – Kontexte fu¨r das russische Rechtsdenken – lassen sich die Fragen nicht beantworten.

I. Vo¨lkerrecht: Hinweise und Beispiele An der langen Entwicklung des Vo¨lkerrechts hatte Russland jahrhundertelang keinen Anteil. Erst in der Fru¨hen Neuzeit trat das Land in einem „ansteigenden“ Prozess der Verdichtung seiner Beziehungen (Heinhard Steiger) in das von den alten europa¨ischen Ma¨chten gepra¨gte Vo¨lkerrecht ein. Russland entwickelte ein ambivalentes Verha¨ltnis zum Ius Publicum Europaeum. Zwar war das Land auf der internationalen Bu¨hne angekommen, es hatte aber ihre normativen Regeln nicht wirklich angenommen. Gewiss, alle Staaten benutzten und vernutzten die Formen des Rechts. Aber die alten „nations civilise´es“ bedachten Herkommen und ¨ berlieferung des Vo¨lkerrechts sta¨rker als der Newcomer. U

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Originalbeitrag 2016.

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Virtuos wurden Vertra¨ge geschlossen, meist in lateinischer Sprache: Allianz-, Grenz-, Zessions-, Friedens- und dynastische Ehevertra¨ge. Das Vertragsrecht war neben dem Gewohnheitsrecht die wichtigste Rechtsquelle. Vertragstreue war das Problem, Vertragsbruch nahezu die Regel. Rechtsverachtung, gar Rechtsnihilismus war das nicht. Politisches Handeln war auf Rechtsgru¨nde angewiesen. Mochten die Argumente oberfla¨chlich oder vorgeschoben sein – notwendig waren sie. „Grundlos“ durfte kein Krieg begonnen, keine „Krim“ annektiert werden. Universelles Vo¨lkerrecht, ein lebendiges System, gilt fu¨r alle Staaten gleich. Stellt man auf Macht und Geist ab, mag es eine „spanische“ Epoche gegeben haben, freilich kein „spanisches“ Vo¨lkerrecht. In einer universellen Ordnung kann es partikularistische „Vo¨lkerrechte“ nicht geben. Insofern geht es hier um Russlands Haltung zum Vo¨lkerrecht, um „Russian approaches to international law“ (Lauri Ma¨lksoo). Ein Beispiel: Nach der Oktober-Revolution 1917 fu¨hlten sich die neuen Machthaber an die „Geheimvertra¨ge und Schulden des Zaren“ nicht gebunden. Abgelehnt wurde auch Vo¨lkergewohnheitsrecht, jedenfalls insoweit, wie das Revolutionsregime an der Entstehung nicht mitgewirkt hatte. Diese „tabula rasa“-Position ließ sich nicht halten. Die Westma¨chte pochten auf „pacta sunt servanda“ und intervenierten. Ein „clean slate“, lernten Lenin und Trotzki, gibt es nicht. Revolutionen dispensieren nicht vom Vo¨lkerrecht. Zweites Beispiel: Fru¨her wurde gema¨ß der „liberte´ a` la guerre“ und eines „droit de conqueˆte“ Land legal erobert. So entriss Russland im Großen Nordischen Krieg Schweden seine Ostseeprovinzen. Auch im Su¨den und Osten wurden mit „Kreuz und Knute“ riesige Ra¨ume annektiert. Seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist die gewaltsame Wegnahme fremden Gebiets jedoch vo¨lkerrechtswidrig („Stimson-Doktrin“). So pochten die baltischen Staaten mit Erfolg darauf, im Jahr 1940 nicht untergegangen zu sein, und die Vereinten Nationen verurteilten die gewaltsame Annexion der Krim 2014 als vo¨lkerrechtswidrig und nichtig.

II. Russlands geschichtliche und rechtliche Entwicklung Besonders interessiert hier die russische Herrschaftsform, besteht doch ein Zusammenhang zwischen innerem Machtgefu¨ge und außengerichte-

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tem Handeln. Einflussreich waren in allen fu¨nf einschla¨gigen Epochen Autokratie, Orthodoxie und Geographie. Erste Epoche, Kiewer Rus (10.–13. Jahrhundert): Skandinavische Wara¨ger („Wikinger“) ließen sich gegen Ende des ersten Jahrtausend zwischen Finnischem Meerbusen, Schwarzem Meer und Kaspischem Meer nieder, vermischten sich mit den ansa¨ssigen Ostslawen und gewannen die Oberhand. Mit dem legendentra¨chtigen, blu¨henden Byzanz, das griechische Kultur und ro¨misches Recht pflegte und zur westlichen Welt geho¨rte, wurden Vertra¨ge geschlossen und Kriege gefu¨hrt. 988 wurde die „Rus“ getauft. Großfu¨rst Wladimir von Kiew erhielt eine Purpurgeborene zur Frau. Als Glied der byzantinischen Kaiserfamilie war er in der europa¨ischen „Familie der Ko¨nige“ nun ebenbu¨rtig. Wichtiger noch war eine zweite Weichenstellung. Als sich die Christenheit in West- und Ostkirche spaltete (1054), optierte die Rus fu¨r die Orthodoxie. Die aus ro¨mischer Sicht „schismatische Kirche des Ostens“ vermittelt keine Rechtsidee. Weltliche und geistliche Spitze fallen im Autokraten zusammen, Imperium und Sacerdotum sind ungetrennt. Der Alleinherrscher gibt den Ton an, die Kirche die spirituelle Legitimation. Das war keine Blaupause fu¨r Staat und Recht, wie es die ro¨mische Kirche mit ihren (kanonischen) Rechts- und Verwaltungsstrukturen zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert war. Mitte des 13. Jahrhunderts eroberten Mongolen („Tataren“), die ja sogar bis Liegnitz vorstießen, das Kiewer Reich – auch eine Folge der Zwietracht unter den russischen Fu¨rsten. Diese Erfahrung ist ein Grund dafu¨r, dass Russland auf Souvera¨nita¨t nach außen und Einigkeit nach innen, konkret: auf Autokratie, fixiert ist. Die Tataren ließen der Kirche ihre Privilegien und den tributpflichtigen Russen ihre Religion. Fu¨r zweieinhalb Jahrhunderte – eine ungeheuer lange Zeit – kamen die auswa¨rtigen Kontakte zum Erliegen, die geistigen Impulse starben ab, die „russische Seele“ versank in Selbstgenu¨gsamkeit. Puschkin bilanzierte: „Die Tataren hatten mit den Mauren nichts gemein. Als sie Russland eroberten, brachten sie dem Land weder Algebra noch Aristoteles.“ So nahm Russland auch nicht teil an der Verwissenschaftlichung des Rechts, die in Europa mit der Rezeption des Ro¨mischen Rechts einsetzte. Bis heute zeigt das russische Recht, eine ostslawische Untergruppe des kontinentaleuropa¨ischen Rechtskreises, „ganz eigene“ Zu¨ge (Herbert Ku¨pper).

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Zweite Epoche, Moskauer Reich (14.–17. Jahrhundert): Vorka¨mpfer der Vertreibung der Goldenen Horde waren die (Groß-)Fu¨rsten von Moskau. Der Metropolit residierte bereits an der Moskwa, dort bildete sich das religio¨se Zentrum. Das Moskauer Gebiet wurde zum Sammlungskern aller Russen in einem Staat. Die mythisch aufgeladene „russische Erde“ begrenzte nicht die russische Eroberungslust. Iwan III. (1462 – 1505) eroberte Nowgorod (1472), eine mit der Hanse eng verbundene autonome Handelsmetropole. Sie war eine politische Besonderheit: Es herrschte die Volksversammlung. Dieser Freistaat (wie freie Sta¨dte u¨berhaupt mit ihrer wichtigen Rolle, in Europa, fu¨r die Rechtsentwicklung) ha¨tte eine Alternative zur byzantinisch-mongolisch-moskowitischen Autokratie sein ko¨nnen, eine Bru¨cke nach Europa. Fu¨r Russland „darf“ es „im nahen Ausland“ aber keine „ansteckende“ Regimealternative geben: „Carthaginem esse delendam!“ (deshalb seit dem „Maidan“, Winter 2013/14, die russische Destabilisierung der Ukraine). Im 16. Jahrhundert wurde das souvera¨ne islamische Khanat Kasan erobert (1552) und die Kolonisierung Sibiriens intensiviert. Nach dem Ende der Dynastie der Rurikiden (1598/1605) brach die Ordnung zusammen. Polen-Litauen und Schweden attackierten, Usurpatoren agierten – eine „schreckliche, eine zarlose Zeit“! Eine Volksbewegung vertrieb die Aggressoren, der erste Romanov-Zar wurde gewa¨hlt (1613). Diese „Zeit der Wirren“ ist wie der Tatarensturm ein russisches Trauma, ein Grund wohl fu¨r das Erdulden noch so autorita¨rer, aber jedenfalls „einigender“ Herrschaft. Moskaus Ausdehnungsdrang kollidierte mit Litauen, Polen und Schweden, also mit drei „alten“ katholischen bzw. protestantischen Ma¨chten. Zwischen Protestantismus und Orthodoxie gab es fru¨he, letztlich gescheiterte Kontakte (Dorothea Wendebourg). Seit dem Fall von Konstantinopel (1453) sah sich Moskau als Hort der Orthodoxie, als „Zentrum der christlichen Welt“, als „Drittes Rom“. Der Großfu¨rst sah sich als Nachfolger der ostro¨mischen Kaiser, weit u¨ber den gewo¨hnlichen Sterblichen stehend, von Gott erwa¨hlt, die Gottesfurcht der einzige „Garant“ der Gesetzlichkeit. Die „Dritte Rom“-Lehre, im 19. Jahrhundert zur Idee eines „russischen Weges“ verdichtet, ist wieder en vogue. Insgesamt entwickelte Russland eine eigensta¨ndige Herrschaftsform. Sie war, in den Worten des Go¨ttinger Historikers Reinhard Wittram, „weder ein christliches Chanat, noch eine byzantinische Theokratie, noch auch abendla¨ndischer Absolutismus“, sondern „eine Tradition der

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faktischen Macht und ihrer theologischen Interpretation“ – schlechte Voraussetzungen fu¨r ein einander Anna¨hern von Russland und Europa. Dritte Epoche, Russla¨ndisches Imperium (1700 – 1917): Peter I. (1689 – 1725) festigte diese Herrschaftsform. Sein Milita¨rgesetz von 1716 dekretierte: Der Zar „ist ein allma¨chtiger Monarch, der niemandem auf der Welt Rechenschaft fu¨r seine Taten abzulegen braucht, der aber … Macht besitzt, seine Staaten als christlicher Herrscher nach seinem … Dafu¨rhalten zu regieren.“ Auch die Kirche unterstellte der Zar seiner Kontrolle und erweiterte massiv die russischen Grenzen. Erst spa¨ter im 18. Jahrhundert versuchte Frankreich, eine Barrie`re de l’Est gegen Russland (und Habsburg) zu errichten. Unter Bruch mit „Alt-Moskau“ befahl der Zar Bartscheren, Seeorientierung, Kalenderreform. An der Newa-Mu¨ndung erbaute er nach westlichem Muster Sankt Petersburg, seine dem Meer zugewandte Metropole, und gru¨ndete die Akademie der Wissenschaften. Ja¨h brach „der Tu¨rke des Nordens“ den Friedensvertrag mit Schweden (aus dem Jahr 1684) und schritt zum Krieg (ab 1700). Seine Verbu¨ndeten, Sachsen-Polen und Da¨nemark, betrog er um ihren Anteil an der Beute. Estland, Livland und Teile Kareliens kamen unter russische Herrschaft (Friede von Nystad 1721). Auf Dra¨ngen Schwedens und Frankreichs hatte in diesen „europa¨ischen Weltkrieg“ sogar der Sultan eingegriffen, der „Feind des christlichen Namens“. ¨ sterreich gleichgeNun eine Großmacht, England, Frankreich und O stellt, fand sich Russland im Labyrinth der europa¨ischen Vertragspraxis schnell zurecht. Peter, von der Nachwelt der Große genannt, nahm den Titel „Zar und Imperator“ an. Er rekurrierte damit nicht auf Byzanz, sondern nahm Maß am Heiligen Ro¨mischen Reich deutscher Nation (Wittram). Die Seema¨chte verhinderten eine vollsta¨ndige Kontrolle Russlands u¨ber die Ostsee. Das lenkte Russland „vom Wasser auf das Land“ zuru¨ck (Walther Mediger). England baute seine Seeherrschaft aus, das Zarenreich expandierte versta¨rkt zu Lande, die Kriegsstu¨rme a¨nderten ihre Richtung. Herausragend unter Peters Nachfolgern war Katharina II. (1762 – 1796). Sie fo¨rderte die auf lateinisch beratende Akademie, holte vermehrt Siedler ins Land und stieß im Russisch-osmanischen Krieg (1768 – 1774) bis ans Schwarze Meer vor. Bekannt wurde Katharinas „Instruktion“ von 1767. Diese Normenkompilation proklamierte Rechtsgleichheit, Folterverbot und „Freiheit des Gedankens und der Rede“. Voltaire pries sie als „Evangelium der gesamten Menschheit“, und hundert Jahre spa¨ter verglich

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sie der Jurastudent Leo Tolstoi mit Montesquieus „Geist der Gesetze“. In ihrer Rechtspolitik freilich ru¨ckte Katharina von den aufgekla¨rten Maximen ab. Der Interessenkoalition mit dem Adel opferte sie die Leibeigenen. Weiterhin behinderte die Feudalordnung Russlands Entwicklung hin zu einem Schema reziproker Rechte und Pflichten, das in Europa der Herausbildung subjektiver Rechte aufhalf (Harold J. Berman). Erst 1861 wurden die Bauern befreit, freilich nicht vollsta¨ndig: Selbst Freibauern wurden von Gutsherren weiterhin bedra¨ngt. Zwischen Recht und Wirklichkeit, zwischen importierten Reformansa¨tzen und den eigenen, beharrenden Realita¨ten, besteht in Russland traditionell eine Kluft. Den o¨sterreichisch-preußischen Frieden von Teschen (1779), der den Bayerischen Erbfolgekrieg beendete, garantierte neben Frankreich auch das Zarenreich, nun im Konzert der Staaten und der Vo¨lkerrechtsgesellschaft ganz angekommen. Es kooperierte mit Wien und Berlin in „negativer Polenpolitik“ (Klaus Zernack). Zwischen 1772 und 1795 ließen die drei „Schwarzen Adler“ in drei Teilungen die Adelsunion Polen-Litauen fu¨r mehr als ein Jahrhundert von der Landkarte verschwinden. Dies „Finis Poloniae“ schnitt tief in das bereits poro¨se vo¨lkerrechtliche Gefu¨ge ein: Alteuropa hob sich auf (Steiger). In der Folge der napoleonischen Kriege wurde Alexander I. (1801 – 1825) zum „Retter Europas“. Der Sieg u¨ber Napoleon, und 150 Jahre spa¨ter u¨ber Hitler, einte die russische Nation und versta¨rkte ihren Patriotismus und Nationalismus (heute werden sie von der staatlichen Geschichtspolitik gegen den „verkommenen Westen“ gerichtet). Nikolaus I. (1825 – 1855) wurde dann der Status quo fixierte, antiaufkla¨rerische „Gendarm Europas“. Russland stagnierte, gespiegelt in Gogols „Tote Seelen“ (1842). Die Großen Reformen der 1860/70er Jahre, Russlands Aufbruch in die europa¨ische Moderne, implantierten Prinzipien und Institute des „westlichen“ Rechts, ohne „innere Legitimation“ (Ku¨pper). Unvorbereitet sollten die Richter nun selbststa¨ndig das Recht ermitteln. Zur Abhilfe wurden junge Juristen vermehrt an deutsche Universita¨ten beordert, erst zu Savigny, dann zu Jhering. Sie studierten Roms Bedeutung fu¨r das Recht sowie die Lehren der Historischen Schule von „Volksgeist“ und „dem organischen Werden“ des Rechts. Anders als im Baltikum und in Polen blieb es in Russland bei einer bloßen „Kryptorezeption“ (Martin Avenarius) des ro¨mischen Erbes. So fehlten weiterhin eine wirkliche Trennung von Staat und Gesellschaft und eine gesicherte Stellung des Individuums, Umsta¨nde, die Russlands Na¨he zu zentralen europa¨ischen Ver-

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sta¨ndigungspunkten relativierten, auch im Vo¨lkerrecht. Dieses ist, dem „Global History turn“ in der Vo¨lkerrechtsgeschichte zum Trotz, letztlich „eingebettet in die maßgeblich vom ro¨mischen Recht bestimmte europa¨ische Rechtsgeschichte“ (Karl-Heinz Ziegler), mit Anfa¨ngen in der griechisch-ro¨mischen Antike. Eine bu¨rgerliche Gesellschaft mit fo¨rderlicher liberaler Wirtschaftsordnung und punktuell erweiterten subjektiven Rechten konnte sich in Russland so nicht entwickeln. Die Staatsgrundgesetze von 1906 garantierten dann erstmals – spa¨t – Grund- und Verfahrensrechte. Die Duma wurde einberufen, Stolypin reformierte die Agrarordnung. Verbesserungen in der Selbstverwaltung und intensive Diskussionen u¨ber Recht, flankiert von avantgardistischer Kunst (Kandinsky, Malewitsch, El Lissitzky), waren Folgen. 1907 einigten sich Russland und England u¨ber die Verteilung der Interessenspha¨ren in Asien. Ein Jahr spa¨ter bildete sich, unter Einschluss Frankreichs, die Tripelentente cordiale. Angesichts explodierender Ru¨stungskosten initiierte Nikolaus II. (1894 – 1917), der letzte Zar, die Haager Friedenskonferenzen (1899, 1907), gepra¨gt vom estnisch-russischen Vo¨lkerrechtler Fedor F. Martens, dem weltbesten Kenner seines Fachs. Regeln zur Ba¨ndigung des Krieges wurden beschlossen. Der Erste Weltkrieg war dann fu¨r Russland besonders katastrophal. Als im Fru¨hjahr 1917 Chaos ausbrach, wurde eine – chancenlose – demokratische Regierung gebildet. Vierte Epoche, Sowjetunion (1917/21 – 1991): Nach der Oktoberrevolution setzten die Bolschewiki den Marxismus-Leninismus gewaltsam durch – ein radikaler Bruch im Rechts- und Gesellschaftssystem. Auch das „bu¨rgerliche“ Vo¨lkerrecht wurde, wie gesagt, abgelehnt. 1921 wurde die Sowjetunion gegru¨ndet. Als aber weder die kapitalistischen Staaten noch ¨ berdas Recht „abstarben“, suchten sowjetische Vo¨lkerrechtler fu¨r eine „U gangszeit“ nach Formen der Kooperation (Evgenij A. Korovin). Am kosmopolitischen Aufbruch der Vo¨lkerbunda¨ra beteiligte sich die Sowjetunion nicht. Den Versailler Vertrag verletzend kooperierten sie und die Schwarze Reichswehr. Die Sowjetunion gru¨ndete Gulag-Lager mit Abermillionen Ha¨ftlingen, dokumentiert in Warlam Schalamows „Erza¨hlungen aus Kolyma“. Jurisprudenz und Gerichtsbarkeit blieben ideologisch voreingenommen. Der Zweite Weltkrieg begann mit dem „Hitler-Stalin-Pakt“. Dessen geheimes Zusatzprotokoll teilte Ostmitteleuropa auf, mit riesiger sowjetischer Beute. Nach dem opferreichen Sieg im „Großen Vaterla¨ndischen

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Krieg“ kam auch Mittelosteuropa unter sowjetrussische Herrschaft. Ausbrechende Mitglieder wurden mit Gewalt im Warschauer Pakt gehalten („Breschnew-Doktrin“). Im staatlichen Recht behauptete sich der positivistische Ansatz, im Vo¨lkerrecht die souvera¨nita¨tsfixierte Schule, im Verha¨ltnis Vo¨lkerrecht – Landesrecht Heinrich Triepels betagter Dualismus. Erst mit der Perestroijka (ab 1985) endete die Isolation der russischen Rechtswissenschaft. Eine „tiefgreifende Debatte u¨ber den Rechtsstaat“ (Angelika Nußberger) setzte ein. Die Einstellung zum Recht, nicht der Kanon der Methoden und Quellen des Rechts markierte die verbliebenen Unterschiede zur europa¨ischen Tradition. Im „Hurricane of Change“ des Jahres 1991 implodierte die UdSSR, an sich selbst zugrunde gegangen. Warschauer Pakt und sowjetisches Imperium desintegrierten, der sozialistische Rechtskreis lo¨ste sich auf. Fu¨nfte, gegenwa¨rtige Epoche, „Russla¨ndische Fo¨deration“ (seit 1991/92): „Russla¨ndisch“ umfasst den Vielvo¨lkerstaat, „russisch“ die Ethnie. 1993 wurden eine neue Verfassung und die „Gemeinschaft Unabha¨ngiger Staaten“ gegru¨ndet. Viele Rechtsgebiete wurden neu gefasst. Russland trat dem Europarat und der EMRK bei (1998). Mit einigen fru¨her sozialistischen Staaten gru¨ndete es (2015) die Eurasische Wirtschaftsunion, fast eine Kopie der EU. Demgegenu¨ber imaginiert der „Eurasianismus“ aus den 1920er Jahren ein Tertium zwischen Europa und Russland, ju¨ngst umgeformt in ein antiwestliches Eurasiertum. Die mehrfach revidierte russische Rechtsordnung funktioniert schlecht. Verfahren stagnieren, Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses erodieren, Dissidenten und Talente emigrieren. Wegen der hohen Last der Milita¨rausgaben, bedauert der Kreml, fehle Geld fu¨r Soziales. Pra¨sident Putins „gelenkte Demokratie“ und sein Großmachtanspruch – Macht war in Russland immer an Personen, nie an Institutionen gebunden – bescheren „regimealternativen“ Nachbarla¨ndern hybride Kriege und den Russen das Narrativ vom starken Staat. Methodisches juristisches Denken wird im zunehmend ideologisierten Umfeld kaum gepflegt. Gewiss, die „wilden 1990er Jahre“ mit ihren oligarchischen Raubzu¨gen sind vorbei. Die „Herrschaft des Rechts u¨ber die Gewalt“ ( Jhering) aber la¨sst auf sich warten – dabei ist Rechtlichkeit die entscheidende Leistung des modernen Staates: Nicht was er kann, sondern nicht kann, nicht darf, sichert ihm Legitimita¨t und Loyalita¨t (Werner von Simson). Russland beharrt auf dem eigenen, dem „russischen Weg“, mit einer prima¨r instrumentellen Rolle des generel-

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len Rechts wie des Vo¨lkerrechts. Der Kulturwissenschaftler Manfred Heinemann resu¨miert: „Russland stirbt zurzeit seinen eigenen Weg, o¨konomisch und durch den FSB (den Inlandsgeheimdienst) ,intellektuell‘ bewacht“.

III. Russlands Haltung zum Vo¨lkerrecht – drei Beispiele Erstes Beispiel, Verha¨ltnis Vo¨lkerrecht – Landesrecht: Souvera¨nita¨tsfixierung, geopolitischer Kontext, bewusst autonomes, „unrezipiertes“ Rechtsdenken charakterisieren Russlands Haltung zum Vo¨lkerrecht. Zur Vertiefung drei Beispiele, beginnend mit dem Verha¨ltnis von Vo¨lkerrecht und Landesrecht. Den einschla¨gigen Theorienstreit – fu¨r „Dualisten“ bilden staatliches Recht und Vo¨lkerrecht separate Ordnungen, fu¨r „Monisten“ sind sie Teile einer Gesamtrechtsordnung – entscheidet die russische Verfassung differenzierend. Sie garantiert den Anwendungsvorrang der vo¨lkerund wohl auch der menschenrechtlichen Vertra¨ge (Art. 15 Abs. 4 S. 2, Art. 17 Abs. 1), nicht aber den der u¨brigen Rechtsquellen des Vo¨lkerrechts. Jeder darf sich rechtsuchend an „zwischenstaatliche Organe“ wenden (Art. 46 Abs. 3). Das macht den Gang zum EGMR in Straßburg zu einem zunehmend genutzten „Grundrecht“ in einem Staat, in dem Minderheiten drangsaliert und Oppositionsfu¨hrer „liquidiert“ werden. Da Russland seinen EMRK-Verpflichtungen nur teilweise nachkommt, wurde es zum „besten Kunden“ in Straßburg. Mit Entscheidung vom 14. Juli 2015 leitete das russische Verfassungsgericht einen souvera¨nita¨tsbetonenden Kurswechsel ein, per Gesetzesnovelle umgehend (14./18. 12. 2015) abgesichert. Stipuliert wird der Vorrang der russischen Verfassung vor den Entscheidungen des EGMR. Das russische Verfassungsgericht darf nun pru¨fen, ob ein Straßburger Judikat der russischen Verfassung widerspricht – letztlich ein Souvera¨nita¨tsvorbehalt, der Russland das letzte Wort ermo¨glicht. Damit beharrt Moskau (wie tendenziell gelegentlich auch das Bundesverfassungsgericht) auf dem 19. Jahrhundert-Dualismus, dem Primat des staatlichen Rechts. Das erinnert an den „static positivism“ (Ma¨lksoo), den westliche Vo¨lkerrechtler ihren russischen Kollegen generell attestieren, an die traditionelle Distanz Russlands zum „esprit d’internationalite´“. Wer der EMRK beitritt, gibt einen Teil seiner Kompetenzen ab und akzeptiert generell vo¨lkerrechtliche Vollzugsbefehle fu¨r den nationalen Rechtsraum. Die Bindungswirkung von EGMR-

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Urteilen so in Frage zu stellen, wie es Russland nun tut, ist „unakzeptabel“ (Venedig-Kommission des Europarates). Moskaus Kurswechsel verdeutlicht erneut Zusammenha¨nge zwischen innerer Rechtsordnung und „politique juridique exte´rieur“. Autorita¨re Herrschaft nach innen und souvera¨nita¨tsbetonende Abschließung nach außen sind russische Herrschaftstradition. Zweites Beispiel, Russland und das Seerecht: Hier geht es um maritim-geopolitische Kontexte (und Elemente) des russischen Vo¨lkerrechtsdenkens. Trotz seiner kontinentalen Ausmaße, trotz der la¨ngsten Seegrenze der Welt ist Russland kein Glu¨ckskind der Natur. Wie fu¨r Deutschland seine Mittellage in Europa ist fu¨r Russland seine Position als Landmacht das geopolitische Schlu¨sseldatum. Alle Zaren ka¨mpften um Zugang zu eisfreien Gewa¨ssern und weltweiten Seewegen. Alle Meere, die Russland umspielen, haben enge und seichte, leicht zu blockierende Zuga¨nge. Moskau ko¨nnte den Weg seiner Flotte in den Atlantik durch Ost- und Nordsee und in das Schwarze Meer oder in das Mittelmeer milita¨risch nicht erzwingen. Peter der Große hatte den Ba¨r schwimmen gelehrt. Ende des 18. Jahrhunderts war der no¨rdliche Pazifik faktisch ein russisches Meer, der dortige Robben- und Walfang eine russische Doma¨ne. Ab 1819 umfuhren Korvetten des Zaren, Anspru¨che vorbereitend, die Antarktis. In der zweiten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts beteiligte sich Russland am Verbot milita¨rischer Nutzung der Antarktis, des Weltraums und des Meeresbodens. Im Vordergrund der aktuellen Seerechtspolitik Russlands stehen die Arktis und die Krim. Moskau beansprucht den Großteil des ressourcenrei¨ 1982) chen Arktischen Ozeans. Sein „Festlandsockel“ (Art. 76 UN-SRU erlaube ihm den Griff nach dem Nordpol. Es geht um Macht, um bedeu¨ l-, Gas- und Fischvorkommen, um polu¨berquerende Flugrouten tende O und strategische Schifffahrtswege. Das Krim-Interesse Russlands ist vor allem geostrategischer Natur: ohne die Flottenbasis Sewastopol mit Hinterland keine Machtprojektion ins Mittelmeer und in den Nahen Osten. Sollte die Annexion der Krim anerkannt werden, wu¨rden ihr Festlandsockel und ihre Ausschließliche Wirtschaftszone nutzungsrechtlich russisch. Die Ukraine wu¨rde im Asowschen Meer und im verbleibenden nassen Dreieck um Odessa „eingemauert“, und dem Schwarzen Meer drohte, was hinsichtlich der Ostsee stets verhindert wurde, der Umschlag zum mare clausum.

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Traditionell tritt Russland, Konsequenz seiner Randmeerlage, fu¨r die Freiheit der Meere ein. Fremde Kaufleute sollten in Russlands Ha¨fen gelangen ko¨nnen und vice versa. Konsequent lehnte die UdSSR auf den UNSeerechtskonferenzen 1958/60 exzessive lateinamerikanische Ku¨stenmeerForderungen ab. Auf der Dritten UN-Seerechtskonferenz (1973 – 1982) focht Moskau, wie die beiden deutschen Delegationen verblu¨fft registrierten, Seite an Seite mit dem „Klassenfeind“ USA fu¨r freie Meeresnutzung. Es ging beiden Ma¨chten vor allem um das Recht, fremde Ku¨stenvorfelder erlaubnisfrei zu durchfahren, zu u¨berfliegen und zu durchtauchen. Besonders erfolgreich waren die „strange bedfellows“ beim Offenhalten der internationalen Meerengen („Transitpassage“). Russland definiert sich geopolitisch und agiert entsprechend. Unnachgiebig verfolgt es seine von der geographischen Lage beeinflussten Interessen. Das ist indes kein spezifisch russisches Verhalten, kein Sonderweg, sondern ein breiter, ausgetretener Pfad. Mehr oder weniger benutzen ihn alle, Nationalisten wie Navalisten: „sovereignty and security first!“ Widerspru¨che werden ignoriert, Verbu¨ndete desavouiert, Normen negiert. Ob es Russlands „enlightened interest“ entspricht, „seinen“ Arktisanteil auf Kosten seiner vernachla¨ssigten terrestrischen Infrastruktur zu entwickeln, ist dann eine Frage der Politik und der Ideologie, der Occasion und der Strategie. Fu¨r ihre Beantwortung sind fu¨r den juristischen Diskurs professionalisierte Normwissenschaftler nicht professionalisiert. Drittes Beispiel, das Argument Gerechtigkeit im Krim-Kontext: Hier interessiert der Versuch Russlands, die gewaltsame Annexion (Ma¨rz 2014) mit dem Argument Gerechtigkeit zu rechtfertigen. So antwortete Pra¨sident Putin in einem Interview am 11. Januar 2016 auf den Vorwurf des Rechtsbruchs: „Napoleon hat einmal gesagt, die Gerechtigkeit sei die Inkarnation Gottes auf Erden. Ich sage Ihnen: Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland ist gerecht.“ Dieser „prinzipielle“ Ansatz entzieht den KrimFall dem konkreten positivrechtlichen Maßstab „Annexionsverbot“ zugunsten des generellen Bezugsrahmens „Gerechtigkeit“. „Bloß“ positivrechtlich ermittelte Illegalita¨t wu¨rde, der Tendenz nach, durch „gerechtigkeitsbegru¨ndete“ Legitimita¨t verdra¨ngt – mit negativen Folgen fu¨r Recht und Rechtssicherheit. „Ius est ars boni et aequi“ (Ulpian): Recht hat Gerechtigkeit zu schaffen (diese Gerechtigkeitsfunktion reklamierte im Mittelalter die geistliche Gewalt fu¨r sich). Aber mit Hilfe des offenen (Wert-)Prinzips „Gerechtigkeit“

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la¨sst sich eine Entscheidung – hier: die Annexion der Krim – nicht unmittelbar begru¨nden. Es bedarf vielmehr konkreter, Zusta¨ndigkeit, Form, Verfahren und Rechtsfolgen festlegender Normen. Liegen diese vor, sind sie heranzuziehen (es sei denn, es handele sich um den extremen Ausnahmefall von ausgesprochen kriminellen Normen, um „gesetzliches Unrecht“): kein unmittelbarer Griff nach generellen Prinzipien bei Vorhandensein einschla¨giger konkreter Normen! Diese „formalrechtlichen“ Normen besitzen „materialen“ Gerechtigkeitswert. Sie sind nicht juristische Quisquilien, sondern Kernstu¨cke jeder Rechtsordnung. „Ohne einen geordneten Prozess, ohne effektive Verfahrensnormen kann es Gerechtigkeit nicht geben, wie immer diese im einzelnen zu verstehen sei“ (Gerhard Robbers). Hegels „ewige Gerechtigkeit“ ist in diesen Normen „geerdet“, operationalisiert, ermo¨glicht. Das Gerechtigkeitsargument in der Form, in der es Pra¨sident Putin zur Legitimation der Annexion der Krim verwendet hat, ist zudem nicht nur methodisch und rechtsdogmatisch verfehlt, sondern im Vo¨lkerrecht angesichts des Reziprozita¨tsprinzips auch gefa¨hrlich. Warnend hat etwa die fru¨here US-Außenministerin Madeleine Albright einmal erkla¨rt, es sei „ungerecht“, dass sich ein so reiches Gebiet wie Sibirien allein „in der Hand Moskaus“ befinde.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Das russische Vo¨lkerrechtsdenken ist, erstens, nicht auf Internationale Organisationen, Supranationalita¨t oder gar „globale postsouvera¨ne Ordnungsmodelle“ hin orientiert, sondern fixiert auf nationale Souvera¨nita¨t, territoriale Integrita¨t und Regimeerhalt. Der Akzent auf Souvera¨nita¨t geht auf tiefsitzende historische Erfahrungen zuru¨ck: den Mongolensturm, ¨ berfa¨lle. Der Vertrag ist die „Zeit der Wirren“, Napoleons und Hitlers U weiterhin die von Russland bevorzugte Rechtsquelle des Vo¨lkerrechts. Zweitens: Geographische und strategische Parameter spielen fu¨r Russlands Haltung zum Vo¨lkerrecht eine Schlu¨sselrolle. Aus taktischen Gru¨nden kooperiert Moskau hier auch mit internationalen Einrichtungen, zur Absicherung seiner arktischen Ambitionen etwa mit der UN-Festlandso¨ ffentlichkeit ckelkommission. Mangels hinreichender demokratischer O muss sich der Kreml nicht der Frage stellen: Sind geostrategische Gewinne „wichtiger“ als gefestigte Rechts- und Sozialstaatlichkeit und wissenschaftlich-technische Exzellenz? Autoritarismus und Zentralismus nach innen

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und Behauptungs-, Einwirkungs- und Expansionswillen nach außen ha¨ngen zusammen. Zeigt sich, drittens, im Krim-Fall, beim Argument der Gerechtigkeit, eine gravierende Besonderheit der russischen Einstellung zum Recht, ein religio¨sen, naturrechtlichen, voraufkla¨rerischen oder wertethischen Traditionen nahes Rechtsdenken? Forderte nicht schon Leo Tolstoi die Subordination von Politik und Recht unter Religion und Moral? Ist die Rechtskultur Russlands insofern ein aliud gegenu¨ber Max Webers „okzidentaler Rationalita¨t“ und der wissenschaftlich-methodisch fundierten Rechtskultur Europas? Vor einer scharfen Kontrastierung von russischem und europa¨ischem Rechtsdenken ist zu warnen. Die untersuchten Beispiele sind keine hinreichende Basis, um Russlands etwaige Orientierung an einem „ganz anderen“ Rechtsmodell zu belegen. Die Charakteristika des russischen Rechtsdenkens lassen sich nicht an einen einzigen Haken ha¨ngen, die Unterschiede zwischen den Rechtskulturen Russlands und Europas nicht mit einer einzigen Formel fassen. Soviel aber la¨sst sich, in den Worten der EGMR-Richterin Angelika Nußberger, fu¨r die Rolle des Rechts als Wert in diesem ra¨tselvollen, großen Land sagen: „Dass Recht einen Wert hat, gilt es nachzuweisen; es wird kein Grundkonsens daru¨ber vorausgesetzt.“

Staatsdichtung und Staatslehre

Der Dichter und der Staat* Als im Mai 1924 das Ko¨nigreich Italien die Siebenhundertjahrfeier der Universita¨t Neapel beging, einer Stiftung des Staufers Friedrich II., lag an des Kaisers Sarkophag im Dom zu Palermo ein Kranz mit der Inschrift: SEINEN KAISERN UND HELDEN DAS GEHEIME DEUTSCHLAND

Diesen Vorfall wertete Ernst Kantorowicz, der Biograph Friedrichs II., als Zeichen, dass „eine Teilnahme fu¨r die großen deutschen Herrschergestalten sich zu regen beginne – gerade in unkaiserlicher Zeit.“1 Den Kranz hatten Mitglieder des Kreises um den Dichter Stefan George niedergelegt·neben: Kantorowicz der Historiker Wolters, der Altphilologe Blumenthal sowie Berthold und Alexander Stauffenberg2. Neun Jahre spa¨ter erlag die „unkaiserliche“ Weimarer Republik dem Ansturm ihrer inneren Feinde, darunter ihrer literarischen Gegner von rechts wie links. Hatte George, hatte sein Gedichtband „Das Neue Reich“ aus dem Jahre 1928 das Heraufkommen des „Dritten Reiches“ gefo¨rdert? Wie passte dies aber gegebenenfalls zusammen mit Claus Stauffenbergs nicht zuletzt aus dem Geist des Dichters geborenem Attentat am 20. Juli 1944 auf den „Widerchrist“? 3 Und was besagt das fu¨r unser Thema „Geist und Macht“ in seiner speziellen deutschen Problematik, in den Aporien dieses Jahrhunderts? * ¨ ber Geist und Macht in Deutschland – Eine DisAus: Dichter und Staat. U putation zwischen Walter Jens und Wolfgang Graf Vitzthum, Berlin/New York 1991, de Gruyter, S. 5 – 49. 1 Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, Vorbemerkung. 2 Vgl. Eckhart Gru¨newald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, Wiesbaden 1982, S. 75. 3 So nannte Stauffenberg Hitler in Bezug auf ein so betiteltes Gedicht Georges aus dem „Siebenten Ring“. Zu Stauffenberg im George-Kontext Nachweise bei Gru¨newald (FN 2), S. 109; Karl Josef Partsch, Stauffenberg – Das Bild des Ta¨ters, Europa-Archiv 1950, S. 3196 ff. (3198 f.); Klaus Landfried, Politik und Utopie – Stefan George und sein Kreis in der Weimarer Republik, in: Werner Link (Hrsg.), Schriftsteller und Politik in Deutschland, Du¨sseldorf 1979, S. 62 ff. (75 ff.).

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Das „Geheime Deutschland“ ist eine erste Antwort. Die Formel tauchte bereits im wilhelminischen Reich auf 4. Im Jahre 1910 schrieb Karl Wolfskehl, einer der a¨ltesten, treuesten Weggefa¨hrten Georges: „Denn was heute unter dem wu¨sten Oberfla¨chenschorf noch halb im Traume sich zu regen beginnt, das geheime Deutschland, das einzig lebendige in dieser Zeit, das ist hier, nur hier zu Wort gekommen.“ Mit „hier“ meinte der deutsch-ju¨dische Schriftsteller die Zeitschrift „Bla¨tter fu¨r die Kunst“, das literarische Hauptorgan des George-Kreises. Ebenfalls noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand Georges Gedicht „Geheimes Deutschland“ – ein hermetischer, magischer Text. Seine Schlusszeilen lauten: Nur was im schu¨tzenden schlaf Wo noch kein taster es spu¨rt Lang in tiefinnerstem schacht Weihlicher erde noch ruht – Wunder undeutbar fu¨r heut Geschick wird des kommenden tages.

Der Dichter verheißt den Freunden neue Lebensmo¨glichkeiten, Rettung „vom Geiste her“5. Das „Geheime Deutschland“ ist die poetische Vision eines „Neuen Reiches“. Es verko¨rpert eine „andere, eine innerliche Einheit“6. In diesem „Staat“7 – einer „Staats“-Gru¨ndung innerhalb des realen Staates und an ihm vorbei – ist unter Fu¨hrung des Dichters „grosses 4

Vgl. Gru¨newald (FN 2), S. 74 ff.; Karlhans Kluncker, „Das geheime ¨ ber Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985. Deutschland“. U 5 Vgl. Friedrich Franz von Unruh, Stefan George und der deutsche Nationalismus, Die Neue Rundschau 43 (1932), S. 478 ff. (480). George vertrat die Auffassung, „daß in der dichtung eines volkes sich seine letzten schicksale enthu¨llen“, Nachweis bei Kluncker (FN 4), S. 27, der fortfa¨hrt: Er habe „Dichtung geradezu als Medium angesehen, gesellschaftliche Vera¨nderungen zu bewirken“. Vgl. auch Landfried (FN 3), S. 77 ff. 6 George erkla¨rte gegenu¨ber seinem holla¨ndischen Dichterfreund Albert Verwey: Sein Weg sei „nicht der geliebte, der moderne der jetzigen Zivilisation: Ich will eine andere, eine innerliche Einheit. Damit bin ich an unsere Welt herangetreten“; Nachweis bei Gru¨newald (FN 2), S. 75 f. In der Tat: George hat 1890 Bla¨tter fu¨r die Kunst, nicht Bla¨tter fu¨r Staat und Politik gegru¨ndet. 7 Der Begriff wurde synonym gebraucht fu¨r den George-Kreis: „von seinen Mitgliedern“, zuerst wohl von Wolters, „in Anlehnung an Schiller“, Kluncker (FN 4), S. 22. Na¨heres bei Erich von Kahler, Stefan George. Gro¨ße und Tragik, Pfullingen 1964. Der Historiker Walter Elze sah gar „eine Weltregierung des Dichters“, „die Herrschaft des Dichters … und seine so vo¨llig neue Weltordnung“ (Privatbrief, 1923).

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wiederum gross“, „Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht“8. Diese Aussagen u¨ber das „Geheime“, das „Geistige“, das „Andere Deutschland“9 sind „seltsam unkonkret“; ein „Reich“ a` la George „ist nicht vorstellbar“10. Das Bild einer auf Geist gegru¨ndeten, geist-bestimmten Herrschaft ist ganz zeit- und wirklichkeitsentru¨ckt und zugleich ganz deutsch. Wie ließe sich auch „Geist“ – ein Schlu¨sselwort von Herder u¨ber Nietzsche und die Bru¨der Mann bis hin zum „Geist der Nationen“, zum „Geist des Grundgesetzes“ – ins Englische u¨bersetzen: mit spirit, mit mind, doch wohl nicht mit ghost? In Deutschland lassen sich Dichter weniger intensiv auf die staatliche Wirklichkeit ein als anderswo. Wo sonst wa¨re die Kluft zwischen Geist und Macht so tief, die Antinomie von Literatur und Politik so scharf ? Schriftsteller-Agende bei uns11 ist nicht das unvermeidlich glanzlose „Ach und Krach“ der Einrichtungen und Verfahren des Staates, sondern dessen Gegenbild, das stets glanzvolle „Ganz Andere“12, die Poetik der Staatsferne13: ein Leitmotiv unseres Themas polis und poiesis. Chiffre dieses 8 Aus Georges Gedicht „Der Dichter in Zeiten der Wirren“, einem Schlu¨sseltext des Bandes „Das Neue Reich“. 9 „Das andere (i. S. v. das bessere) Deutschland“ war u. a. ein SPD-Wahlkampfslogan. Vgl. auch Gu¨nter Grass, Treffen in Teltge, 1979, S. 92: „Einzig die Dichter, das sagt der (Friedens-)Aufruf (gegen Ende des 30-ja¨hrigen Krieges), wu¨ßten noch, was deutsch zu nennen sich lohne. Sie ha¨tten … die deutsche Sprache als letztes Band geknu¨pft. Sie seien das andere, das wahrhaftige Deutschland.“ 10 Gru¨newald (FN 2), S. 77. 11 Die „Ach und Krach“-Formel stammt von dem Staatsrechtslehrer Rudolf Smend, dessen Lehren und die seines Schu¨lers Konrad Hesse die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig beeinflussten. Zur „Glanzlosigkeit“ der Weimarer Republik und Gemeinsamkeitsstiftung durch Verfassungsrecht Gu¨nter Du¨rig, Grundgesetz. Textausgabe, 26. Aufl., Mu¨nchen 1990, Einfu¨hrung, S. 7 ff. 12 Nachweise bei Gru¨newald (FN 2), S. 77. Von Georges „perso¨nlicher Erziehung einzelner junger Menschen – gegen Staat und Gesellschaft“ spricht Kluncker (FN 4), S. 22 ff., ebenso von einer „Verselbsta¨ndigung der Gesellschaftskritik“. Nach Friedrich Wolters, Stefan George und die Bla¨tter fu¨r die Kunst, Berlin 1930, S. 547, blieb George „Gegner der bestehenden Gesellschaft um einer ho¨heren Ordnung, Gegner des bu¨rgerlichen Staates um einer ho¨heren Form, Gegner … des Massenmenschen um des vollkommenen staatlichen Menschen willen“. 13 „Indem das politische Reich wankt“, heißt es bei Schiller (Entwurf fu¨r das Gedicht „Deutsche Gro¨ße“, 1797) „hat sich das Geistige immer fester und vollkommener gebildet“. Vgl. auch Kluncker (FN 4), S. 19: „In die Tradition Nietz-

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Sich-Nicht-Einlassens auf die politische Wirklichkeit, dieses Position-Beziehens von Dichtung gleichsam außerhalb des Staats ist das „Geheime Deutschland“. Den Staat in der Projektion der Dichter verdeutlicht ein Epigramm Friedrich Hebbels14. Unter dem Titel „Der verborgene Kaiser“ lesen wir: Ihre Ko¨nige kennen die Vo¨lker der Erde: sie rollen Stolz in Carrossen daher, Trommeln und Fahnen voran; Aber sie haben zugleich auch einen verborgenen Kaiser, Welcher am Brunnen vielleicht selber das Wasser sich scho¨pft, Und, sei dieser ein Ku¨nstler, ein Denker oder ein Weiser, Eh das Jahrhundert vergeht, tra¨gt er die Krone allein.

Hebbels ku¨nftiger „Kaiser“, „ein Ku¨nstler, ein Denker oder ein Weiser“, la¨sst sich auf das Vorhandene nicht ein – so wenig wie das spa¨ter der George-Kreis bezu¨glich der angeblich „ungeistigen“ Ersten deutschen Republik15 tat; so wenig wie sich viel spa¨ter viele Autoren wirklich unserer angeblich ebenfalls „ungeistigen“ Zweiten deutschen Republik annahmen16. Hier wie dort die Ersatzfunktion poetischer Utopien: eine „kaiserliche“, eine von einem einzigen mythischen oder ideologischen Punkt her definierte, idyllische, spiritualisierte Welt scheint auf, eine scho¨ne, u¨berzeitliche Gegenwelt zur materialistischen, zeitverhafteten Welt der „Carossen“ und sche-Benn eingefu¨gt, sehen auch die Bla¨tter fu¨r die Kunst Dichtung, d. h. konkret ihre eigene Dichtung als Gegen-Welt zu Staat und Gesellschaft an“. Ebd., S. 22 ist von den „Bla¨ttern“ und dem „Kreis“ als einem „kulturpa¨dagogischen Gegenmodell“ die Rede: „Das Georgesche Gedicht war im besten Fall immer Gegengedicht fu¨r den Zeitraum vom Naturalismus bis zum beginnenden Nationalsozialismus …“ Von der „Rolle des Dichters als Richter und Fu¨hrer seiner Zeit“ ist ebd., S. 30 f. die Rede, ebenso von der „Hoffnung auf einen besseren deutschen Nationalstaat“. Dieses Gegenu¨ber-Stehen ermo¨glichte eine vom „hurrapatriotischen“ Zeitgeist, der 1914 auch manchen seiner Anha¨nger infizierte, ganz abgesetzte, eigensta¨ndige Position Georges („die leichenfelder ungepflu¨gter toten“). 14 Nachweis bei Gru¨newald (FN 2), S. 79 f. 15 Zum Verha¨ltnis George und George-Kreis einerseits und Staat (Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich) andererseits vgl. Gottfried Kliesch, Der Dichter und die Usurpatoren, in: Stefan George-Gymnasium Bingen (Hrsg.), Stefan George, Bingen 1968; Klaus Landfried, Stefan George. Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975; Kluncker (FN 4), S. 27 ff.; Gru¨newald (FN 2), S. 1 l8 ff.; Michael Landmann, Stefan George, in: Castrum Peregrini 141/142 (1980), S. 47 ff.; von Unruh (FN 5), S. 482 ff.; von Kahler (FN 7), S. 23 ff. 16 Nachweise bei Peter Ha¨berle, Das Grundgesetz der Literaten, Baden-Baden 1983.

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„Fahnen“. Angesichts imaginierter Einheit und Erneuerung trifft der Bannstrahl des Poeten die real existierende Erstarrung und Zerrissenheit, einerlei ob diese Wirklichkeit (bzw. ihr so perzipierter Ausschnitt) wilhelminisch, austromarxistisch, faschistisch oder demokratisch ist. Im Verzicht auf vertiefte empirische Befundnahme in Staatsdingen; im Fremd-Bleiben, Gegenu¨ber-Stehen, im „Nicht-Ankoppeln“ an die politische Realita¨t; im Entwurf krasser Gegenbilder zur jeweiligen Gegenwart; in der Vision einer „Rettung durch Geist-“, nicht durch Parteienherrschaft liegt, nicht erst im 20. Jahrhundert, eine Konstante des Verha¨ltnisses von Dichter und Staat in Deutschland. Diese Relation untersuche ich nachfolgend in drei Schritten. Ich beginne mit „Dichter“ als Begriff und Problemfeld. Danach wende ich mich dem „Staat“ zu, den staatsbezogenen Aussagen von Dichtern. Es folgt die Ero¨rterung des – so meine These – wechselseitigen „Sich-Brauchens“ von Staat und Dichter. Meine Schlussbemerkung gilt der Rolle der Dichtung in einem zu Europa hin offenen, nun gesamtdeutschen Verfassungsstaat. Die Dichter, werde ich zeigen, sind von großem Wert fu¨r den Staat; sie mu¨ssen daher dafu¨r sorgen, dass man auf sie ho¨rt; das Umgekehrte gilt genauso. Der Staat braucht den Dichter, der Dichter den Staat: den Staat als Bedingung der Mo¨glichkeit von Freiheit, Gleichheit, Bru¨derlichkeit. Staat und Dichter sind aufeinander angewiesen. Es bedarf eines gegenseitigen Anerkennens von Geist und Macht, von Politik und Literatur. Mein erster Abschnitt soll, bezogen auf den Aspekt „Dichter“, terminologische Klarheit bringen. Dichter meint, pragmatisch weit gefasst, den Autor – oder die Autorin – von sprachlich intensiv gestalteten Texten unterschiedlicher Arten und Genera: den Romancier, den Lyriker (den poe`te oder poet als den Verfertiger von Versen) und Liedermacher, den Dramatiker und Stu¨ckeschreiber. Angesichts der hohen Bedeutung, die der Gattung des Essays auch in unserer modernen Literatur zukommt, sind nichtfiktionale Werke eingeschlossen. Fu¨r unser Thema wichtige Autoren sind zugleich Romanschriftsteller und Essayisten: Thomas und Heinrich Mann, Musil, Do¨blin, Broch, Du¨rrenmatt, Frisch; ha¨ufig haben sie, wie die Letztgenannten, zugleich fu¨r die Bu¨hne geschrieben. Brecht, ein großer Dichter, war in erster Linie Bu¨hnenautor, Kafka Erza¨hler. Schriftstellernde Politiker und politisierende Schriftsteller sind hierzulande selten. Bei Kerr und Kraus, Golo Mann und Adolf Muschg steht das „Dichterische“ eher im Hintergrund; ich erfasse sie deshalb nur am Rande.

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Durch „assoziative Kombinatorik“ von Worten und Bildern weckt der Dichter, wie Gu¨nter Kunert sagt17, Vorstellungen und Empfindungen, die anders nicht mobilisierbar oder kreierbar wa¨ren. Das ist das Genuine der Dichtung. Auf das Form-Inhalt-Problem und auf die Wirkung der vom Inhalt ablo¨sbaren Form kommt es nachfolgend ebenso wenig an wie auf den Umstand, dass die Ku¨nstler in der Moderne mit Erfolg den Anspruch auf Autonomie erhoben haben, auf Unabha¨ngigkeit von religio¨ser Bindung und politischer Instrumentalisierung. Auch dem „Geistigen“ und „Dichterischen“ als einer Qualita¨t des Seins, der Gesinnung (kontra¨r zum Nu¨tzlichkeitsdenken, zum Wu¨rgegriff antihumaner Mechanismen, zur „Entzauberung der Welt“) und des „Blicks“ gehe ich nicht nach. Das, was Dichter als Dichter zum Staat sagen, wird untersucht, nicht das Eigengewicht des A¨sthetischen, nicht das formale Wie. Auf den in Deutschland gelegentlich konstruierten Unterschied zwischen Dichter einerseits und Literat bzw. Schriftsteller andererseits lasse ich mich ebenfalls nicht ein, aus drei Gru¨nden. @ Erstens besitzen sie alle eine spezifische Gemeinsamkeit: ihr Medium ist die Sprache, das wirklichkeitsschaffende Wort. „Kein ding sei wo das wort gebricht“18. ¨ berga¨nge (wenn die Unterscheidung je legitim @ Zweitens werden die U war) fließender. Im „Stande der verlorenen Unschuld und des depri17

F.A.Z. vom 23. 6. 1990. Im „Laokoon“ („Handlungen“ seien „der eigentliche Gegenstand der Poesie“) ging Lessing noch davon aus (was schon Herder kritisierte), dass die Bilder der Poesie Wahrnehmungen nachahmen (idealistische Anschauungsa¨sthetik). „Dichter“ ist so wertbesetzt wie begrifflich vage. Wesentliche Kriterien sind traditionell das „Scho¨pferische“, „Urspru¨ngliche“. Hinzu kommt, wie Paul Hoffmann lehrt (Symbolismus, Mu¨nchen 1987), das Merkmal eines „lyrischen Elements“; es ist konstitutiv fu¨r eine repra¨sentative deutsche Spezies des Romans, durch seine Konzentration auf einen individuellen Helden, auf Subjektivita¨t und „Innerlichkeit“ (von Goethe bis Hermann Hesse), im Kontrast zum westlichen Gesellschaftsroman. Der so konzipierten Vorstellung vom „origina¨ren“ Dichter wurde in Deutschland zeitweilig der bloß „derivative“ Schriftsteller („Literat“) gegenu¨bergestellt (auch i. V. m. „Asphalt“ und „wurzellos“). Spa¨ter dann eine Umwertung des Wortgebrauchs. Mit der Neubesinnung auf die kritische und gesellschaftliche Funktion von Literatur in der Tradition der europa¨ischen Aufkla¨rung kam der „Literat“ zu Ehren. Das missbrauchte Wort „Dichter“ wurde (wie bei den Nachbarn) nun auf die Lyriker beschra¨nkt, die sich freilich z. T. lieber „Liedermacher“ nannten. Mittlerweile wird „Dichter“ wieder unbefangener gebraucht, auch im dialektischen Bezug zum „Staat“. 18 Schlusszeile von Stefan Georges Gedicht „Das Wort“.

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mierenden Aufgekla¨rtseins“ (Kunert) leugnet niemand die Gattungsgemeinschaft aller „Wortarbeiter“; auch die Mauer zwischen poe´sie pure und litte´rature engage´e ist gefallen. @ Drittens besitzt die Staatsrechtslehre in Sachen „Dichter-Staat“ und „Staats-Dichter“ keine spezifische Kompetenz; kein Kommentar deshalb zu dem literaturwissenschaftlichen Ansatz, der nur noch „Texter“ kennt19. Die formalen Gemeinsamkeiten ko¨nnen offenkundige Unterschiede im Gewicht, in der dichterischen Intensita¨t nicht verdecken. Der sich am Bonner Staat, wie er ihn wahrnimmt, kritisch abarbeitende Rolf Hochhuth etwa mag ein Polemiker und in seiner Kritik an Rom fu¨r viele interessant sein – untersuchungswu¨rdig fu¨r unser Thema ist er nicht. Die Staatsbilder eines Hermann Broch20 oder eines Ernst Ju¨nger21 sind allemal ausgearbeiteter. Literatur- und deutschlandpolitische Gemeinsamkeiten besitzen Grass und Walser nicht22. Der „Zauberer“ hieß Thomas, nicht Heinrich Mann23. All das steht weitgehend außer Streit, der Konsens der „Priester und Laien“ kanonisiert24. Demnach interessieren uns Benn und Bo¨ll ebenso wie Brecht und Do¨blin, George wie Grass, Martin Walser und Christa Wolf 25. Alle sind sie – wie viele andere – Dichter. Ihre Bilder vom Staat sind 19

Vgl. Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt/M. 1990; Peter Wapnewski, Zumutungen. Essays zur Literatur des 20. Jahrhunderts, Mu¨nchen 1982, S. 14 ff. 20 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, Die demokratie- und vo¨lkerbundtheoretischen Schriften, in: Peter Michael Lu¨tzeler (Hrsg.), Hermann Broch, Frankfurt/M.1986, S. 281 ff. 21 Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung u¨ber Ernst Ju¨nger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958; Karl Heinz Bohrer, Die A¨sthetik des Schreckens, Mu¨nchen/Wien 1978. 22 Vgl. Rudolf Augstein/Gu¨nter Grass, Deutschland, einig Vaterland? Ein Streitgespra¨ch, Go¨ttingen 1990 (mit der These von Grass, Auschwitz schlo¨sse moralisch-politisch einen gesamtdeutschen Staat aus, erlaube nur eine „Konfo¨deration der beiden Staaten, mit Wa¨hrungseinheit, Wirtschaftseinheit“). 23 Verbrannt aber wurden die Bu¨cher des A¨lteren, nicht die des Nobelpreistra¨gers. 24 Vgl. Peter Schneider, „… ein einzig Volk von Bru¨dern“. Recht und Staat in der Literatur, Frankfurt/M.1987, S. 15. 25 Vgl. Alfred Do¨blin, November 1918. Eine deutsche Revolution, Bde. I-III, Mu¨nchen 1948 – 50; Ju¨rgen Schro¨der, Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation, ¨ ber Deutschland Stuttgart 1978; Schneider (FN 24), S. 275 ff.; Martin Walser, U

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es wert, nachgezeichnet, interpretiert und entstehungs- wie einflussgeschichtlich analysiert zu werden. Ich beginne mit einer zentralen Frage: der nach der Geschichte des Wirkens von Dichtung und der Indienstnahme des Geistes. Schon die Antike kannte und nutzte die Verfu¨hrbarkeit der Dichter. Sie sprach zugleich von ihrer Verantwortung fu¨r die Rezeption ihrer Werke. Nicht erst die totalita¨ren Staaten der Moderne haben uns gelehrt: Dichtung ist verfu¨gbar, ist prinzipiell disponibel26. Dabei lassen sich Gedichte wohl am leichtesten instrumentalisieren. Das „neue reich“, 1894 erstmals von Wolfskehl evoziert, wurde 1933, „zeitgema¨ß aktualisiert“, zum Kristallisationspunkt eines „geistigen Faschismus“. Zu Unrecht, wie wir wissen: Stefan George war kein Prophet des Dritten Reiches. Fu¨r die willku¨rliche Auslegung, fu¨r den Missbrauch seines Werkes haftet der Dichter nicht. Regimefreundliche Aufrufe unterzeichneten im Jahr der „Machtergreifung“ Max Schmeling und Gerhart Hauptmann, nicht George, nicht Wolfskehl. In die Preußische Akademie der Ku¨nste, aus deren Sektion fu¨r Dichtkunst Heinrich Mann mit Hilfe Gottfried Benns gerade vertrieben worden war, ließ sich George nicht hineinziehen. Seinen Ablehnungsbrief u¨bermittelte er dem Kultusminister im Mai 1933 durch Ernst Morwitz, einen Juden27. Paradigma politischer Vereinnahmung ist Heinrich Mann28. Fru¨hzeitiger, hellsichtiger Empo¨rer gegen Untertanengesinnung und Nationalismus, als Emigrant in Frankreich und Amerika dann Ka¨mpfer gegen jeglichen Totalitarismus, akzeptierte ausgerechnet dieser humanistische Internationalist im Jahr 1949 den „Nationalpreis“ der DDR. Zum ersten Pra¨sidenten der neuentstehenden „Deutschen Akademie der Ku¨nste zu Berlin“ (Ost) berufen – vor dem Amtsantritt bewahrte ihn die Gnade des fru¨reden, Frankfurt/M. 1989; Christa Wolf, Im Dialog. Aktuelle Texte, Frankfurt/M. 1990. 26 Vgl. Manfred Fuhrmann, Literatur unter Augustus, in: Kaiser Augustus und die verlorene Republik (Katalog), Berlin 1988, S. 607 ff.; Viktor Po¨schl, Vergil und Augustus, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der ro¨mischen Welt, Teil II, Bd. 31/2, Berlin/New York 1981, S. 710 ff.; Joachim Dalfen, Polis und Poiesis. Die Auseinandersetzung mit der Dichtung bei Platon und seinen Zeitgenossen, Mu¨nchen 1974, S. 13 ff. 27 Nachweis bei Gru¨newald (FN 2), S. 115 f., 130; lnge Jens, Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion fu¨r Dichtkunst der Preußischen Akademie der Ku¨nste, Mu¨nchen 1971, S. 206 f. 28 Vgl. Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, Wege zur Arbeiterklasse, Berlin/Weimar 1970.

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hen Todes –, „vollzog sich“ 1961, wie es im damaligen SED-„Erbe“-Gestammel hieß, „der historische Vorgang der Ru¨ckkehr Heinrich Manns in seine sozialistische Heimat. In der ersten Reihe des Trauerzuges, der seine Urne zum Dorotheensta¨dter Friedhof u¨berfu¨hrte, schritt Walter Ulbricht“. Heinrich Mann, seit 1932 als leidenschaftlicher Anwalt alles ¨ bernationalen“ hervorgetreten, drei Jahrzehnte spa¨ter instrumentalisiert „U als, wie DDR-Kulturpolitiker formulierten, „Vorka¨mpfer unseres sozialistischen deutschen Nationalstaates“! Dass Mann im Exil dem Vorstand des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus beitrat, dass er mit Gide und Malraux den ersten Kongress ( Juni 1935 in Paris) dieser Schriftstellervereinigung vorbereitete, an dem dann etwa auch Brecht und Musil teilnahmen; dass er in seiner Kongressrede die großen Traditionen der bu¨rgerlichen Aufkla¨rung beschwor – das alles, einschließlich all der weiteren eindeutigen Reden und Essays bewahrte ihn spa¨ter so wenig vor Vereinnahmung durch SBZ und DDR wie Stefan George, drei Jahrzehnte zuvor, durch sein o¨ffentliches Schweigen eine zeitweise „Vernutzung“ durch den Hitler-Faschismus hatte vermeiden ko¨nnen. Hier wie dort wurden Dichter gezielt zur Selbstdarstellung und Legitimierung des Staates eingesetzt29. Der Staat braucht den Dichter, gewiss. Der Dichter kann den Mythos bringen, auf den es ankommt, das Programm entwerfen, auf dem vieles beruht. Der Dichter kann durch kritisch-fundamentales In-Frage-stellen ein ¨ berdenken und Neubegru¨nden einleiten30, das nicht weniger GemeinU

29 Die Aspekte „Literatur in der DDR“ und „Rolle der Schriftsteller bei der Vereinigung Deutschlands“ sollen hier nicht vertieft werden. Umstritten ist Christa Wolfs (FN 25, S. 10) Dictum – „Wir sind das Volk – ein kurzer geschichtlicher Augenblick, in dem das Volk, seiner Identita¨t anscheinend gewiss, Souvera¨nita¨t und Subjekt seiner eigenen Geschichte war. Wir sind ein Volk! – wa¨re das wirklich die Steigerungsform?“ Vgl. aber Hans Mayer, Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt/M.1991, S. 188 ff., 208 ff., 248 ff.; Michael Naumann (Hrsg.), Die Geschichte ist offen. DDR 1990: Hoffnung auf eine neue Republik, Reinbek 1990. 30 Vgl. Martin Walsers (FN 25, S. 88 ff.) „Behauptungsarbeit“ seit Beginn der ¨ berwindung der Trennung der 1970er Jahre – auch die Uwe Johnsons – fu¨r die U „beiden Deutschla¨nder“: „Wir mu¨ssen die Wunde namens Deutschland offenhalten … Das Wort (Verfassungspatriotismus) riecht nach dem Abfindungslabor, aus dem es stammt.“ Auch „Kulturnation“ erscheint ihm als „Abfindungsform“ (ebd., S. 98 f.): „Die Nation ist im Menschenmaß das ma¨chtigste geschichtliche Vorkommen, bis jetzt. Ma¨chtig im geologischen, nicht im politischen Sinn. Die Na-

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samkeit stiftet als sein Wahrnehmen jener mythopoietischen Funktion31. Die Linie zum Missbrauch ist hier wie dort – bei der gru¨ndenden und besta¨tigenden wie bei der kritischen und aufkla¨rerischen Rolle – indes schnell u¨berschritten32. Dazu tragen Dichter nicht selten selbst bei. George etwa reklamierte im Fru¨hjahr 1933 die „Ahnherrschaft der neuen nationalen (nicht: nationalsozialistischen) Bewegung“, Heinrich Mann erwa¨rmte sich in der Nachkriegszeit (schlecht informiert im fernen Exil) fu¨r Alexander Abuschs „sozialistische Nation“ DDR33. Welch Beispiel politischer Klarsicht aus sozialistisch-humanistischer Gesinnung bietet demgegenu¨ber Alfred Do¨blin, zumal mit dem Roman „November 1918“. Der Begriff Elitenkonkurrenz bezeichnet einen weiteren Aspekt unseres Themas. Die o¨ffentliche Wirkung von Dichtern, ihr Freiheits- und Fu¨hrungsanspruch, konkurriert mit der Brillanz und Resonanz anderer Intellektueller. So schreibt Max Weber34: „Es gab eine Zeit, wo man lateinische Reden und griechische Verse zu dem Zwecke machen lernte, … politischer Denkschriftenverfasser eines Fu¨rsten zu werden. Das war die Zeit der ersten Blu¨te der Humanistenschulen … bei uns eine schnell voru¨bergehende Epoche, die immerhin auf unser Schulwesen nachhaltig eingewirkt hat, politisch freilich keine tieferen Folgen hatte. Anders in Ostasien. Der chinesische Mandarin … war urspru¨nglich anna¨hernd das, was der Humanist unserer Renaissancezeit war: ein humanistisch an den Sprachdenkma¨lern der fernen Vergangenheit geschulter und gepru¨fter Literat.“ tion wird sich sicher auflo¨sen irgendwann. Aber doch nicht durch eine Teilung“. Vgl. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, Frankfurt/M. 1990. 31 Zur kritisch-emanzipatorischen Funktion Hans Robert Jauß, Das kritische Potential a¨sthetischer Bildung, in: Jo¨rn Ru¨sen/Eberhard La¨mmert/Peter Glotz (Hrsg.), Die Zukunft der Aufkla¨rung, Frankfurt/M. 1988, S. 211 – 232. 32 Vgl. Rainer Kunze, Deckname „Lyrik“, Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1990; Erich Loest, Der Zorn des Schafes: Aus meinem Tagebuch, Ku¨nzelsau/ Leipzig 1990. Walsers (FN 25, S. 94 ff.) Hinweis auf Wulf Kirstens Gedichte, die nicht eine (vorschnelle) Meinung a¨ußern, sondern die Dinge beim Namen nennen: „Mir ist im Westen noch kein Intellektueller begegnet, bei dem der Anspruch auf Demokratie die ganze Sensibilita¨t ausmacht, beherrscht. In den Kirsten-Sa¨tzen kann man politische und dichterliche Empfindungsfa¨higkeit u¨berhaupt nicht mehr trennen.“ 33 Heinrich Manns DDR-Option war durch den Glauben motiviert, dort ¨ bereinstimmung mit seiwerde etwas Neues entstehen, das er bejahen ko¨nne in U ¨ berzeugungen im Geist der Aufkla¨rung und der Franzo¨sischen Revolution. nen U 34 Staatssoziologie, 2. Aufl., Berlin 1966 (hrsg. von Johannes Winckelmann), S. 36.

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Maßgeblich wurde bei uns, im Okzident, demgegenu¨ber die Schicht der Juristen, unter Mitwirkung des eingangs erwa¨hnten Staufers Friedrich II. Mit den Rechts- und Staatswissenschaftlern kam der mittlerweile weltweite Siegeszug des rationalen, bu¨rokratischen Staates. Herrschaft wurde formal, nicht mehr material legitimiert. Dem Gefu¨hl der Zusammengeho¨rigkeit, auf das der Staat angewiesen ist, war dies nicht fo¨rderlich. Das „harte“ Geba¨ude, das Soziologie, Staatslehre und politische Wissenschaften an die Stelle mythisch-poetisch-religio¨ser Vorstellungen setzen, muss seinerseits zum Mythos werden, zumindest zu einer allgemein akzeptierten haltgebenden Konvention, zu einem unbezweifelten Grundgefu¨ge (Werner von Simson), wenn es den Wechsel der Sachlagen und Ansichten u¨berleben soll, die ihm einst verstandesma¨ßige Geltung verschafften35. Hier zeigt sich eine wichtige Rolle (nicht: „Aufgabe“) des Dichters. Er kann Gefu¨hle und Einsichten poetisch oder sprichwortkra¨ftig ausdru¨cken, „haltgebend“, gemeinsamkeitsstiftend. Das Mehr der dichterischen Sprache, das u¨ber die Vermittlung und Analyse von Sachverhalten, u¨ber das Aufstellen von Regeln und das bloße Meinen hinausgeht, wirkt auch bezu¨glich der res publica. Platt-affirmative Staatsdichtung hat hier keinen Ort. Der Wert der Dichter fu¨r den freiheitlichen demokratischen Staat besteht vornehmlich darin, die Lu¨gen aufzudecken, auf die jeder angewiesen ist, der im Namen einer absoluten Wahrheit regieren will. Im „Staat im Recht“ gibt es keine unbeweisbare Wahrheit außer der, dass es eine solche nicht gibt. Unhaltbar sind daher alle religio¨sen oder sa¨kularen Staatsmythen, die den Glauben an eine absolute Wahrheit verlangen. Ein Hinweis auf die Antike verdeutlicht diese Rezeptions- und MachtAspekte. Glanz und Grenze jener staatserhaltender Mythen behandelte, 2500 Jahre vor Max Weber, Platon – als Philosoph ein Konkurrent der Dichter, so wie spa¨ter die Juristen Konkurrenten der Philosophen wurden. Ausgangspunkt der Dichterkritik Platons war der hohe Rang der Dichtung bei den Griechen: der Dichter als Lehrer und Therapeut des Volkes, als Vater der Weisheit, als Seher und Ratgeber; der Vers, die Trago¨die, das Epos als Instrument staatsbu¨rgerlicher Erziehung, als Waffe im politischen Kampf; Homer als Patriot36. Galt des Dichters Wort den Griechen sohin als 35 Dem Verha¨ltnis dieser These zu staatstheoretischen Integrationslehren ist hier nicht nachzugehen. Zu letzteren Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928; Manfred Mols, Integrationslehre und politische Theorie, in: Archiv des o¨ffentlichen Rechts 94 (1969), S. 511 ff. 36 S. o. FN 26, insbesondere Dalfen.

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Norm, war der Philosoph (wie auch der Historiker) zur Normenkontrolle befugt (Werner Jaeger). In Rom hielten Vergil und Horaz Distanz zur Macht: Viktor Po¨schl referiert ihr Unbehagen gegenu¨ber einer „Identifikation des Dichters mit dem Staat“. „Go¨ttliche“ Diener der Musen; privilegierte Partner der Macht; Abha¨ngigkeit von staatlicher „Lizenz“ und perso¨nlicher Patronage, Bedingtheit aller Dichtung im Staat – nie schienen mir die antiken Topoi zu poiesis und polis aktueller als im „Stasi“-Staat der 1970er und 1980er Jahre. Kumpanei zwischen (ehrgeizigen) Dichtern und (vereinnahmenden) Fu¨rsten schadet der Wahrheit, dem Dichter, dem Staat. Das „Bleibende aber“, meint im Ergebnis Platon, auch im Hinblick auf seine eigenen, ontologisch fundierten Staatsentwu¨rfe, „stiften die“ – Philosophen; Ho¨lderlin sagt Gleiches von den Dichtern. Fu¨r beide gilt: ma¨chtig geworden (solche Teilnahme korrumpiert) geht es affirmativen Staats-Philosophen wie bornierten Staats-Dichtern, den „Scho¨nheitschirurgen der Macht“ (Mircea Dinescu), an die Macht. „Machtlose“ Dichter sind ma¨chtiger. Davon zu trennen ist der Aspekt der Professionalisierung. Dichter, Philosophen, Juristen, Historiker, Nationalo¨konomen, Soziologen – sie alle bewegen sich, wenn sie vom oder im Staat handeln, auf einem fachlich „besetzten“, terminologisch verminten Terrain. Dem mu¨ssen sie sich gewachsen zeigen; sonst ho¨ren die „Profis“ weg, und „Amateure“ sitzen Missversta¨ndnissen auf. Ein Dichter, der staatsbezogene „Interdisziplinarita¨t“ wagt, muss zwar nicht Mitglied im mitteleuropa¨ischen Kardinalskollegium sein: in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (ihr geho¨ren auch ¨ ffentlichrechtler an); aber ohne ein gewiso¨sterreichische und helvetische O ses Bild von den Begriffen und Grundzu¨gen der Staatswissenschaften, ohne entsprechende (Teil-)Professionalisierung kommt ein Dichter, der sich in politicis a¨ußert, nicht weit. Dazu ein Beispiel. Hermann Broch – im Exil in Princeton dann ein Freund von Albert Einstein, Erich von Kahler, Ernst Kantorowicz und Thomas Mann – wandte sich Ende der zwanziger Jahre staatstheoretischen Fragen zu: mittelbar in seiner 1932 abgeschlossenen avantgardistischen Trilogie „Die Schlafwandler“, unmittelbarer in fragmentarisch gebliebenen Essays. In ihnen verwarf er den Parlamentarismus als u¨berholte, weder wahrheitsfo¨rdernde noch wehrhafte „Maschinerie“ (eine neuromantische Metapher). ¨ berlebte Einrichtungen“, hieß es dann 1945 in Brochs „Tod des Vergil“ „U – einem der großen poetischen Texte zum Thema Politik und Kunst –, „verkehren Wirklichkeit zu Scheinwirklichkeit, Freiheit zu Scheinfreiheit,

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und dies ist der beste Boden fu¨r alles Verbrechertum.“ Brochs Gegenkonzept: eine „totalita¨re Demokratie“, begrifflich, wie er leichthin erla¨uterte, „auf dem Prinzip aufgebaut“: „Zwiebel ist gut, Schokolade ist gut, wie gut muß erst beides zusammen sein“. Brochs Antiparlamentarismus und terminologischer Totalitarismus gingen (auch) auf Carl Schmitt zuru¨ck, den damals geistreichsten, bis heute umstrittensten Staatsrechtslehrer. Des Linksliberalen Broch Suche nach „Werteinheit“ endete in der Sackgasse der rechtstotalita¨ren Liberalismuskritik Schmitts; vom „totalen Staat“ sprachen damals ohnehin viele, etwa auch Forsthoff und Ernst Ju¨nger. ¨ berlebt“ ist der Parlamentarismus nur fu¨r den, der, wie Schmitt, von fal„U ¨ berholt“ erscheint das parschen, diskursutopischen Pra¨missen ausgeht. „U lamentarische System auch denen, die, wie Broch, u¨ber dem Engagement zugunsten einer neuen „Totalita¨t“ den Blick verlieren fu¨r Wesen und Wert parlamentarischer, kompromissorientierter Verfahren37. Wer eine pointiert „antiparlamentarische Demokratie“ propagiert, la¨dt die antimodernen Brandstifter ins demokratische Haus. Damit sind wir beim zweiten Abschnitt unserer Skizze, dem Begriff des Staates und dem spezifischen „Staatsproblem“ deutscher Dichter. Um welchen Staat geht es? Das Na¨chstliegende ist in Deutschland seit jeher problematisch: der real existierende Staat. Unsere Dichter haben ha¨ufig Schwierigkeiten mit dem Ansehen und Annehmen der staatlichen Wirklichkeit. Vielen geht es nicht um Staatsexistenz oder -substanz, sondern um Staatsersatz – oder gleich um Europa oder einen „Weltstaat“ (Ernst Ju¨nger, Broch). Imagina¨re, „menschheitliche“ Gebilde tro¨sten u¨ber die Niederungen der realen Lage hinweg. Das hat Tradition38. Im Jahr 1808 – das Reich war kurz zuvor untergegangen – beherrschten die Franzosen die terra firma, den Kontinent, und Britannia ruled the waves. Da proklamierte der vom George-Kreis spa¨ter viel geliebte Jean Paul bitterironisch die Deutschen zu Herren der Lu¨fte. Seine Metapher verortete das Reich der Deutschen – ein gleichsam ko¨rperloses Gebilde – in A¨therho¨hen weltbu¨rgerlicher Bildung, in visiona¨rer Innerlichkeit ohne Bodenhaftung. Auf Ernst Moritz Arndts Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?“ lautete 37

Zum parlamentarischen Verfahren Wolfgang Graf Vitzthum, Parlament und Planung, Baden-Baden 1978, S. 232 ff. – Parlamentskritik war damals weit verbreitet. Vgl. Weber (FN 34), S. 14 f., 81 ff. 38 Vgl. Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdra¨ngung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, Mu¨nchen 1986, S. 11 ff.

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die ha¨ufigste Antwort: nicht der greifbare (wenn auch politisch wenig bedeutsame) einzelne deutsche Staat, nicht eine Provinz oder ein Stamm, nicht Pommernland, nicht Schwabenland als Identifikationsobjekt der Deutschen, sondern das damals nur noch als Idee existierende ganze Deutschland, das „Reich“ – nicht mehr als Tra¨ger einer universalen Mission, sondern als Vehikel einer kulturnationalen Idee. Außerhalb des realpolitischen Gefu¨ges entstanden, blieb Dichtung neben dem Staat oder in Opposition zu ihm. Als das Reich unter Bismarck dann – kleindeutsch zwar, aber mit Thron und Altar, „Trommeln und Fahnen“ – geeint war, wollte sich allenfalls ein philistro¨ser Diederich Heßling, „Der Untertan“, im Erreichten einrichten und saturieren39. Heinrich Mann selbst, Stefan George, die Naturalisten, Sozialisten, viele Bildungsbu¨rger, die organisierte Arbeiterschaft – sie alle hatten ganz andere, jeweils meist ganz unterschiedliche Bilder von „Deutschland“. Von der literarischen Opposition mit „geistigen“ Gewichten gewogen, wurde das Wilhelminische Reich als zu leicht befunden. Die Kluft zwischen Potsdam und Sanssouci, zwischen Staat und Dichter, erschien unu¨berbru¨ckbar. „Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik“ oder: „Sachlichkeit, Ordnung und Anstand“ – so formulierte der junge Thomas Mann die Scheinalternative40. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ verfasste er, als Letzter, das a¨sthetische Kursbuch dieses deutschen Sonderweges: den Gegensatz zwischen staatlich-politischer und poetisch-geistiger Fu¨hrerschaft41; das hohe Lied, wie Erich von Kahler42 spa¨ter analysierte, der „Entpolitisierung“ und der „Versta¨ndnislosigkeit fu¨r die Realita¨ten des politischen Lebens auf Seiten des Bu¨rgertums und der Intelligenz“. Oszillieren zwischen provinziellem politischen Personal einerseits und „kom39 40

1990. 41

Vgl. Isensee (FN 8), S. 12 f. Nachweise bei Frank Fechner, Thomas Mann und die Demokratie, Berlin

Isensee (FN 38), S. 13; Fechner (FN 40), S. 42 ff. (78 ff.). Die Verantwortung des Geistes, Frankfurt/M. 1952, S. 92 ff. (100). Das „Problem Deutschland“ beruhe auf seiner „vorzeitigen Verknu¨pfung … mit einer universalen Idee, dem Ro¨mischen, spa¨ter Heiligen Ro¨mischen Reich … (Deutschland war damit) von allem Anfang an in ein Geru¨st von universalem Ausmaß eingespannt … (Ihm fehlte jegliche Vorbereitung) fu¨r die gigantische Aufgabe, eine unmittelbare menschheitliche Idee zu vertreten“ (S. 97 f.); hier sei auch der Gegensatz angelegt „zwischen politischer und geistiger Fu¨hrerschaft. Hier entspringt die tief eingewurzelte Geistfeindlichkeit der herrschenden Klassen …“ (S. 100). 42

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pensierendem“ Ausgreifen auf universale Dimensionen andererseits; realer Regionalismus versus geistiger Globalismus; Hegel statt Kant, Walser gegen Grass, Bubner versus Habermas – die Frontstellung in Deutschland hat sich kaum gea¨ndert. Die Weimarer Republik lo¨ste die borussische Monarchie ab. Verfassungspolitisch schloss Deutschland zur parlamentarischen Demokratie des Westens auf. Unter enormem a¨ußeren Druck und innerem Rechtfertigungszwang stehend, ohne stu¨tzende Traditionen, Loyalita¨ten und Symbole brauchte der Staat die Dichter nun dringender denn je. Es fehlte in der Republik am Gefu¨hl der Zusammengeho¨rigkeit, an Entlastung durch haltgebende Konventionen. Viele Dichter nahmen die Erste deutsche Republik gleichwohl nicht an. Die Einberufung der Nationalversammlung in die Stadt Goethes und Schillers fu¨hrte zu keiner legitimierenden, integrierenden Landnahme im „Geistigen“: kein „Erden“ des „Reichs der Lu¨fte“, im Gegenteil. Die wahren oder angemaßten Beherrscher der deutschen Sprache gefielen sich darin, nahezu alles, was die Republik als ehrbar und achtenswert ha¨tte ausweisen ko¨nnen, la¨cherlich zu machen. Kurt Tucholsky43, Karl Kraus, Alfred Kerr – die Intellektuellen (die sich grenzenlos hassten und beka¨mpften) konnten sich nicht genug tun, alles Vergangene der deutschen Geschichte herabzusetzen; mit Recht sicherlich in manchem, aber zum Schaden dessen, was nun einmal die Menschen, die diesem Vergangenen unsa¨gliche Opfer gebracht hatten (Kriegshinterbliebene, Invaliden, Zeichner nun wertlos gewordener Kriegsanleihen, entlassene Beamte und Soldaten), an den Staat in seinem und ihrem Unglu¨ck band44. 43 Vgl. Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutschland u¨ber alles, Berlin 1929, S. 230; S. 42: gegen SPD und Gewerkschaften; S. 45 ff.: gegen Hohenzollern, Reichswehr, Polizei, Kirche, Beamte, Preußen – ein Rundumschlag. Es ging Tucholsky, Kerr (im Weltkrieg hatte er Durchhaltegedichte vero¨ffentlicht) und Kraus aber um die Sache. Zu Tucholskys Erbitterung u¨ber die „Unversehrtheit“ der alten Zusta¨nde vgl. Alexander von Bormann, Weimarer Republik, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978, S. 261 ff. (263, 280 ff.). 44 Vgl. Tucholsky (FN 43), S. 62: der Staat sei heute das, „was die Religion im Leben der Urgroßeltern gewesen ist: eine dunkle, mysterio¨se, aber auf alle Fa¨lle anzubetende Sache“; S. 71: „Man wird mich gewiß keiner za¨rtlichen Liebe fu¨r diese Republik zeihen“; S. 78: „Wir u¨berlegen, wofu¨r wird da (im Krieg) gestorben? Fu¨r gar nichts. Fu¨r die Interessen der andern“; S. 91: „Der Strom, der die kleinen Steuerzahler vom Staat trennt, ist … hundertmal breiter als die Elbe“; S. 138 f.: Antiparlamentarisches; S. 195: „Karg-preußisch, schlicht und sauber sehen diese Ku¨chenha¨user der Politik aus; aber es wird darinnen mit schlechtem Fett gekocht,

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Jene Parodisten und Polemiker bewunderten nichts außer ihrem eigenen Witz. Im Kampf um Bewusstseinswandel und gesellschaftliche Vera¨nderungen sah die linke Publizistik, blind gegenu¨ber traditionellen Werten und seelischen Realita¨ten und No¨ten, nicht, dass der Staatsmythos, sei er nun u¨berlebt oder nicht, doch wenigstens einem vo¨llig hemmungslosen, fanatischen Wahnsinnsmythos im Wege stand. Wenn ein Volk an nichts mehr glaubt, ist es – das ist der wohl richtige Kern von Brochs „Massenwahntheorie“45 – offen fu¨r jede Verfu¨hrung, die ein Besessener als Rettung vor dem (angeblichen) Nichts anbietet. So erlagen viele Deutsche Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“. Sie fielen denen in die Ha¨nde, die zuna¨chst ein nationalistisches Großdeutschland, dann ein germanisches Weltreich errichten wollten. Was half es den Schriftstellern, dass sie zu der Leere, die dieser Wahnsinn zu fu¨llen vorgab, selbst beigetragen hatten? Dass die deutschen Dichter und Denker der klassischen Periode – Lessing, Herder, Klopstock, Kant, Schiller – ihre Gedanken vornehmlich auf einen idealen Aspekt der Natur des Menschen richteten46; dass sich ( jedenfalls seit dem 18. Jahrhundert) die Anwa¨lte der Humanita¨t auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Zusta¨nde ihres eigenen Volkes und Staates kaum einließen (und gerade durch dieses Gegenu¨berstehen wirken konnten) – dieses Leitmotiv des Verha¨ltnisses von Dichter und Staat in Deutschland mu¨ndete nun, ausgangs der Weimarer Republik, in die Kakophonie hasserfu¨llter Nationalismen und Rassismen. „Tatenarmer“ und „boden-loser“ Universalismus im „Geistigen“ schlug im Realen partiell und der Koch darf gar nicht allein kochen. Es spucken ihm viele in die Suppe“; S. 208: Reichstagspra¨sident Lo¨be sei „von ru¨hrender Ahnungslosigkeit in geistigen Dingen; allemal dabei, wenn es eine patriotische Dummheit zu machen gilt“. Tucholsky skizziert dann die eigene Position, S. 226 ff.: „Nun haben wir auf 225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft, und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland … es gibt ein Gefu¨hl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefu¨hl heraus lieben wir dieses Land … Im Patriotismus lassen wir uns von jedem u¨bertreffen – wir fu¨hlen international. In der Heimatliebe von niemand … Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land … (Wir), die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel … Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben.“ 45 Nachweise o. FN 20. Auch Weber (FN 34), S. 96 f. fu¨rchtete „die unorganisierte Masse: Die Demokratie der Straße“. 46 Hierzu Kahler (FN 42), S. 102.

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um in rabiaten Antihumanismus und primitiven Antiintellektualismus – Deutschland als Urtypus eines „u¨berrationalisierten Irrationalismus“47. Die Besonderheit deutscher Staatlichkeit ergibt sich nicht nur aus jenem „Reich der Lu¨fte“ und „geheimdeutschen“ Ideengut. Hinzu kommen vielmehr Besonderheiten der geopolitischen, o¨konomischen, kulturellen und, wenn man so sagen darf, „heimat-radizierten“ Lage. Vor 160 Jahren notierte ein kritischer Beobachter der damaligen deutschen Verfassungsbewegung48: „Das Volk lebt weder von Brot noch von Begriffen allein; es will durchaus etwas Positives zu lieben, zu sorgen und sich daran zu erfrischen, es will vor allem eine Heimat haben in vollem Sinne, d. i. seine eigentu¨mliche Spha¨re von einfachen Grundgedanken, Neigungen und Abneigungen, die alle seine Verha¨ltnisse lebendig durchdringen und in keinem Kompendium registriert stehen.“

Der preußische Ministerialbeamte, der solches „sinnliche“ Erkenntnisund Identifikationsbedu¨rfnis der Bu¨rger – eine notwendige Erga¨nzung der Abstraktheit der gesetzlichen Pflicht (Schillers Desiderat in den Briefen u¨ber die a¨sthetische Erziehung der Menschen) – ausmachte, war Joseph Freiherr von Eichendorff. Heute richtet sich der Identifikationsversuch der Deutschen auf das Grundgesetz und seine Reformen49: „Verfassung als Vaterland“ (Isensee). Gemeinsam ist allen Ansa¨tzen das lutherische Alleinvertrauen auf das (Verfassungs-)Wort: das Operieren mit dem Schriftprinzip (sola scriptura); das Grundgesetz als Ersatzbibel; der Staatsrechtslehrer als sa¨kularisierter Schriftgelehrter; Kirchen- und Juristentage, PENClub-Sitzungen und Akademie-Kongresse als weltliche Konzile. Ein katholisches Moment kommt hinzu: Im Streit um das wahre Wort entscheidet eine Instanz letztverbindlich – das Bundesverfassungsgericht50. Nicht Augstein, nicht Grass, nicht Kohl, nicht Beckenbauer – Roman Herzog, der Gerichtspra¨sident, ist der praeceptor Germaniae. Die mittlerweile mehr als 80-ba¨ndige Entscheidungssammlung des Karlsruher Gerichts verko¨r-

47 Ders., S. 104; er wu¨nschte einen „neuen Geist universaler Gesinnung und menschlicher Bru¨derlichkeit, der eine lange Ahnenschaft in Deutschland hat“ (S. 115). 48 Nachweise Isensee (FN 38), S. 31. 49 Zur Ablo¨sung oder Neulegitimation des Grundgesetzes Du¨rig (FN 11), S. 9, 18. 50 Isensee (FN 38), S. 18 f., 27 f.

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pert, darin dem U. S. Supreme Court vergleichbar51, eine der großen einheitsstiftenden Leistungen des Landes, ein Stu¨ck Literatur. Kooperation also von Verfassungsgerichtsbarkeit, Staatslehre und Dichtung? Integration durch kritischen Freiheitsanspruch und Arbeit am „Unbezweifelbaren“, Gemeinsamkeitsstiftung durch Mythos und Logos? Christa Wolf schrieb den Vorspruch52 des Verfassungsentwurfs des zentralen Runden Tisches der sterbenden DDR. Der Berner Schriftsteller Adolf Muschg formulierte fu¨r eine totalrevidierte Schweizer Bundesverfassung (1977) die Pra¨ambel53: „Im Namen Gottes des Allma¨chtigen! Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiss, dass frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Sta¨rke des Volkes sich misst am Wohl des Schwachen; eingedenk der Grenzen aller staatlichen Macht und der Pflicht, mitzuwirken am Frieden der Welt, haben Volk und Kantone der Schweiz die folgende Verfassung beschlossen …“

Das ist ein erfrischend formulierter Versuch, die moderne Schweiz bekenntnishaft in ihrer Basis und Bedingtheit zu situieren. Niemand wird hier zum Grundrechtsvollzug vergattert; ganz im Sinne Goethes stattdessen ein pragmatisches Konzept der Freiheit: Man kann dieses Erbe nur besitzen, indem man es immer neu erwirbt54. Pathetische Menschheitsbelehrung, volkspa¨dagogische Signale, zivilreligio¨se Erbaulichkeit und zivilgesellschaftliche Angestrengtheit finden sich nicht – dieser Dichter flieht nicht „aus“ dem Staat, und er kennt die Grenzen der „Verfassbarkeit“55. 51 Richard A. Posner, Law and Literature. A Misunderstood Relation, Cambridge (Mass.)/London 1988, S. 268 ff. (281 ff.). 52 Zur (alten) Pra¨ambel der DDR-Verfassung von 1968 s. Hanno Helbing, Der Sinn einer Pra¨ambel, in: NZZ (Hrsg.), Der Entwurf fu¨r eine neue Bundesverfassung, Zu¨rich 1979, S. 13 ff. (sie habe „eine eigentliche Kampfverfassung des sozialistischen Staates deutscher Nation“ angeku¨ndigt). 53 Expertenkommission fu¨r die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung (Hrsg.), Verfassungsentwurf, Bern 1977, S. 1. 54 Dies., Bericht, S. 19. 55 Tendenzen einer Totalitarisierung der Verfassung kritisiert Isensee (FN 38, S. 20 f.): vom thematisch beschra¨nkten obersten Rechtssatz werde das Grundgesetz zum allumfassenden Integrationsprogramm. Ein a¨hnliches Bild hatte bereits Novalis gezeichnet: „Eine vollkommene Konstitution – Bestimmung des Staatsko¨rpers, der Staatsseele, des Staatsgeistes – macht alle ausdru¨cklichen Gesetze u¨berflu¨ssig. Sind die Glieder genau bestimmt, so verstehen sich die Gesetze von selbst“. Ein solches Verfassungsversta¨ndnis aber subalternisiert den Gesetzgeber! Das ¨ berfrachten der Verfassung mit Gesetzgebungsauftra¨gen, Staatszielbestimmungen U

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Also scheut er unverbindliche politische Programme – Helvetia, du hast es besser. Wie selbstentlarvend dagegen Rolf Hochhuths Wort vom Bundestag, der „von sieben reaktiona¨ren Sklerotikern in Karlsruhe entmu¨ndigt“ wird56; seit Jahrzehnten besteht das Bundesverfassungsgericht aus zwei Senaten a` acht Richtern (anfangs war die Zahl der Richter sogar noch ho¨her). Ist es Hochmut, Hochhuth zu u¨bergehen und sich dem dritten, letzten Abschnitt zuzuwenden, dem wechselseitigen Aufeinander-Angewiesensein von Dichter und Staat? Ich hatte bereits betont: Der Staat braucht die Dichter. Ihr Wert fu¨r ihn besteht zuna¨chst darin, dass sie dem unbewussten Gefu¨hl der Zusammengeho¨rigkeit, auf das der Staat angewiesen ist, Ausdruck, Form, Versta¨ndlichkeit geben. Poetische oder sprichwortkra¨ftige Sa¨tze werden zum Bestandteil des allgemeinen Konsenses und so zugleich zu einer Grundlage fu¨r individuelle Folgebereitschaft und Opferbereitschaft. Auf diese Weise vermittelt Dichtung ein Bewusstsein durchgehender Identita¨t in allem Wandel57. Die besondere „Staatsperso¨nlichkeit“ kann aus einem zuna¨chst oftmals wenig artikulierten Mythos entstehen, der, wie schon der griechische Terminus verra¨t, wo¨rtlicher Aussage bedarf und erst im Wort Gestalt gewinnt und (u¨ber-)lebt. Es waren die Dichter, die Polens nationale Identita¨t u¨ber die drei Teilungen hinweg bewahrt haben. Es war der Roman, sagt Heinrich Mann, der „das franzo¨sische Volk zur Demokratie erzogen“ hat: „(Balzac und Zola) haben das Glu¨ck gekannt, … auf eine Tribu¨ne gehoben zu werden, ihr Volk die Dinge bewegen, den Geist in Welt und Tat verhandelt zu sehen …“ und sozialen Grundrechten ist gleichwohl eine Lieblingsbescha¨ftigung von Poeten und Pastoren. 56 Juristen. Drei Akte fu¨r sieben Spieler, 1979, S. 87. 57 Vgl. Werner von Simson, Der Staat der Industriegesellschaft, in: Der Staat 11 (1972), S. 51 ff. (57 f.): „Es fehlt das wesentliche Identita¨tsbewußtsein des einzelnen mit gerade diesem westdeutschen Staat, … das Bewußtsein, daß unser Staat ein identischer Gegenstand ist, der nacheinander verschiedene, sich ho¨her entwickelnde Zusta¨nde annimmt. In diesem Sinne hat Deutschland sich nach dem letzten Kriege nicht wieder gefunden … Das Irrationale am Staat, ohne das er nie zur moralisch-geistigen Erscheinung wird, la¨ßt sich, einmal verloren, nicht wieder herstellen … Der Staat als Personifizierung des Allgemeinen wird, jedenfalls wo er einmal als geistig-sittliche Kategorie aufgehoben war – und das traf bei uns zu – … (nur noch) von einer Minderheit akzeptiert … Die Bundesrepublik hat etwas verloren und kann es nicht wiedergewinnen, etwas, das anderen Staaten erhalten geblieben ist: den Glauben an eine im Staat bewahrte, unbedingt zu erhaltende Lebensform.“

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Viele Betrachter neigen dazu, Existenz und Notwendigkeit staatsbildender und -erhaltender Mythen zu leugnen. Aber auch der Verfassungsstaat bedarf der Sinngebung des Gemeinsamen, der gemeinsamkeitstiftenden Dichtung, deren Mitarbeit an der Einheitspflege durch Recht, also mittels Sprache58. Gewiss, ein freies Gemeinwesen kennt keine absolute Wahrheit. Die einzige Wahrheit des demokratischen Verfassungsstaats besteht – unter Verzicht auf eine ausformulierte, gar prophetisch verku¨ndete Doktrin – im Geltenlassen vieler Wahrheiten, in einem „System zur gemeinschaftlichen Wahrheitsfindung“ (von Simson). Trotzdem geht es nicht ohne ein unbezweifeltes Grundgefu¨ge fu¨r Gesellschaft und Staat. Hier liegt, wie gesagt, eine wichtige Rolle des Dichters. Er bringt den unentbehrlichen Mythos: unbestimmt in allem einzelnen und doch verstanden und anerkannt als das, was dem Staat in allen seinen Schicksalen gemeinsam ist, begriffen auch als das, was ihn charakterisiert und was ihn dem Bu¨rger vor anderen vertraut und akzeptabel macht. Gewiss, heute glaubt niemand mehr an das Unverstandene, es sei denn in religio¨sen Dingen. So ist ein Staatsmythos nicht la¨nger haltbar, wenn man dabei an eine Wahrheit glauben soll, die keiner anzweifeln darf. Stattdessen ist Mythos nicht als eine Wahrheit zu nehmen, sondern als eine nu¨tzliche Konvention. La¨sst man sie gelten, integriert sie den Staat, auch indem sie viele Fragen und mo¨gliche Meinungsverschiedenheiten ausklammert und in der Schwebe ha¨lt. So la¨sst sich ein gemeinsames Leben herstellen, das nicht immer wieder durch Zweifel und Streit ernsthaft erschu¨ttert wird. Auch der Verfassungsstaat kann, wie gesagt, auf u¨ber jede Diskussion erhabene, weil von deren Resultat ganz unabha¨ngige, von allen akzeptierte Institutionen, Traditionen, Rituale und Symbole nicht verzichten. Haltgebende Konventionen bedu¨rfen des poetischen Ausdrucks, um in all ihrer Unbestimmtheit verstanden und befolgt zu werden – fast wie in archaischen Zeiten, als die Verku¨ndigung von Gesetzen (Solon war Dichter und Gesetzgeber) u¨ber die inhaltliche Kundgabe hinaus kraft der mythischen und magischen Potenz der Sprache auf den Menschen in seiner sinnlich-geistigen Ganzheit zu wirken vermochte. Vieles von dem, was heute staatsintegrierend wirksam ist, hat dichterischen Ursprung. Ein Beispiel mag dies belegen. Die regionalen, sprachlichkulturellen und religio¨sen Verschiedenheiten in der Schweiz sind so groß, dass sie in rationaler Wahrheitsfindung kaum je ha¨tten auf eine gemeinsame Formel gebracht werden ko¨nnen. Ein dichterischer Gedanke aber leis58

Vgl. auch Ha¨berle (FN 16), S. 84 ff., 105.

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tet diesen Dienst. La¨ngst wissen wir, dass ein Wilhelm Tell nie gelebt hat; auch ein Ru¨tlischwur ist geschichtlich nicht recht nachzuweisen. Aber Schiller hat die dramatische Kraft dieser Sage erkannt als die Form, in der sich das Eigengefu¨hl der Schweizer zeigen und allgemein bewusst machen ließ. Von jener erdichteten Wahrheit lebt dieses Gefu¨hl noch heute – trotz ihrer Trivialisierung durch Max Frischs „Wilhelm Tell fu¨r die Schule“ (1971); trotz ihrer bitteren Parodie in Du¨rrenmatts „Besuch der alten Dame“ (1956), in der die Lands- und die Bu¨rgergemeinde als Henkerund Mo¨rdergemeinde erscheinen59. Schillers Tell- und Schweiz-Mythos gibt dem Staat nach wie vor, was er braucht, um als solcher aufzutreten. „Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiss, dass frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht …; eingedenk der Grenzen aller staatlichen Macht …“ – der helvetische Verfassungsentwurf von 1977 beruft sich, wie gesagt, in der Pra¨ambel aus der Feder eines Dichters (Muschg) auf diesen Gru¨ndungsmythos. Diese Wirkung des Dichters ha¨ngt manchmal gar nicht davon ab, was dieser zum Staat im Einzelnen sagt. Die Existenz des Dichters allein, die Gewalt, die er der heimischen Sprache verliehen hat, sein Ansehen in der Welt genu¨gen gelegentlich schon, um den Effekt, von dem wir reden, hervorzubringen. Goethe war ein Patriot der Welt, nicht seines Landes; aber seine Gestalt und sein Rang gaben dem damaligen zerrissenen Deutschland ein Gefu¨hl des gemeinsam Verstandenen und als Eigentum Geliebten; fu¨r die Spa¨teren konnte das zur Staatsgru¨ndung nicht ohne Bedeutung sein. Im Land der „Dichter und Denker“ ist nach Schiller und Goethe so viel Entsetzliches gedichtet und gedacht worden, dass dieser Formel kein positiver Sinn mehr zu entnehmen ist. Zu einer Zeit, in der wenig anderes u¨ber Deutschland und die Deutschen zu sagen war, kam dem Dichter-Denker-Ausdruck freilich eine fu¨r Staat und Gesellschaft fast unentbehrliche Bedeutung zu. Am Beispiel der Weimarer Republik habe ich bereits auf zwei Gefahren hingewiesen. Dichter ko¨nnen – ich erwa¨hnte Tucholsky – dadurch schaden, dass sie (und sei es aus einer Art unglu¨cklicher Liebe zu ihrem Gemeinwesen) den „dichterischen Gehalt des Staates“ auflo¨sen (wenn auch die Trennlinie zwischen kritisch-emanzipierendem InFrage-Stellen und radikalem, revolutiona¨rem Fundamentalwiderstand schwer zu ziehen ist). Dichter ko¨nnen zudem einen scha¨dlichen Mythos ins Leben rufen und dem Staatsgefu¨hl hybride Zu¨ge verleihen. Man 59 Vgl. Schneider (FN 24), S. 102, S. 109 ff. zum „Mythos vom Ursprung und der Einheit der drei Vo¨lker“ (S. 112), zum „Mythos der Herkunft“ (S. 120).

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braucht nur an Kleists „Germania an ihre Kinder“ oder an sonstige patriotische Extravaganzen des 19. Jahrhunderts zu denken, um diese Gefahr zu erkennen. Der Staat braucht den Dichter, gewiss; aber das Umgekehrte trifft nicht weniger zu: der Dichter ist auf den Staat angewiesen, auf den Staat als Friedens- und Handlungseinheit, den demokratischen Verfassungsstaat als Voraussetzung und Wirklichkeit der Freiheit. Die Lehrer des Staatsrechts, bei denen der Staat – im Unterschied zur Verfassung – bisher nicht im Mittelpunkt des Interesses steht60, haben hier eine Bringschuld. Die Wissenschaften vom Staat mu¨ssen seine – bis auf weiteres – Unentbehrlichkeit verdeutlichen. Der Verfassungsstaat ist gleichermaßen Pflichtsubjekt der Freiheits- und Gleichheitsanspru¨che seiner Bu¨rger wie Adressat ihrer Schutz- und Leistungsanspru¨che. Die Epoche der Staatlichkeit in diesem gleichheits- und freiheitssichernden Sinne ist noch nicht zu Ende61. Staatsrechtslehre wie Dichtung stehen vielmehr vor einer Renaissance dieses Staatsbegriffes. Dazu bedarf es – fu¨r Dichter wie fu¨r Verfassungsrechtler – der Lebensna¨he, des Sich-Einlassens auf die Realita¨t, einschließlich ihrer konkreten Entwicklungen und historischen Verwerfungen, ihrer unverfu¨gbaren Daten, ihrer immanenten Grenzen. Die Bedingtheit des Staates, seine reale Identita¨t, seine „Lage“ ist zu erfassen und mit zu verfassen, sta¨ndig und unerbittlich gepru¨ft an den geschichtlichen Tatsachen: so findet die Dichtung zum Staat und der Staat zur Dichtung. Vom Staat darf nicht das Unmo¨gliche verlangt und dafu¨r das Mo¨gliche preisgegeben werden. Dichter und Staatswissenschaftler laufen in Deutschland leicht Gefahr, um der Verfolgung des vermeintlich Vollkommenen willen – einer universalistischen Reichsidee, eines „geheimen Deutschland“, einer ho¨heren „Legitimita¨t“ – das notwendigerweise Unvollkommene (aber praktisch und rechtlich Mo¨gliche) zu opfern: Parlamentarismus, Legalita¨t, Prozedu-

60

Vgl. aber Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Heidelberg 1987, S. 591 ff. (595 f., 702 ff., 608 ff., 648 Anm. 230 [Bo¨ckenfo¨rde: „Staatsrecht ohne Staat“]). 61 Vom Ende der Epoche der Staatlichkeit sprach Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Vorwort (zur Ausgabe 1963), Berlin 1963, S. 10.

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ralita¨t, verfassungsstaatliche Zivilita¨t62. „Legitimita¨t“ gegen Legalita¨t auszuspielen hat hierzulande eine besonders u¨ble Tradition. Das Aufeinander-Angewiesensein von Dichter und Staat bedeutet keineswegs, dass preisende Staats-Dichtung erwu¨nscht oder sinnvoll wa¨re. Staatslob ist nicht der Preis fu¨r staatlich verfasste und geschu¨tzte Freiheit. Dichter bleiben gerade dort wichtig, wo sie u¨ber die Konventions- und Mythosbildung hinaus (oder an ihrer Stelle) Warner, Kritiker, Oppositionelle sind. Im Verfassungsstaat umschließt die Integration auch und gerade das Rationale63. Die Arbeit an der Sinngebung und Pflege des Gemeinsamen geht u¨ber den Schutz der Staatssymbole und das Verleihen von Verdienstmedaillen weit hinaus. Expressionistisch und revolutionsversessen u¨berspitzt, im Kern aber treffend formulierte der spa¨tere Ra¨terepublikaner Gustav Landauer diese Aufgabe „aufgekla¨rter Integration“ so64: „Der Dichter … ist im o¨ffentlichen Leben, das heißt aber fu¨r gewo¨hnlich im Land der Philister, der geborene Widerspruchsgeist. … Wo aber Stockung und Starrheit gekommen ist, wo die Gelenkigkeit eingerostet ist und wieder Ungeist, Unrecht und Schlendrian sich breit macht, da ist er, der immer die Sache des Lebens fu¨hrt, … der Befreier. …Wir aber brauchen in Wahrheit die immer wiederkehrende Erneuerung, … wir brauchen den Fru¨hling, den Wahn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen – wieder und wieder und wieder – die Revolution, wir brauchen den Dichter!“

Nicht „Rausch“, nicht „Tollheit“, nicht „Revolution“, wohl aber „Widerspruch“, „Befreiung“, „Erneuerung“ – diese Rolle des Dichters im Raum eines demokratisch-parlamentarischen Gemeinwesens sichtbar zu ¨ brigen aus staatlich-gemachen und zu schu¨tzen; den Dichter auch im U sellschaftlicher Ferne, ja Fremde herauszufu¨hren und dem Staat, seinen Institutionen, Verfahren und Dienern „auszusetzen“; in diesem Sinne den 62 Auf einem anderen Blatt steht Heinrich Heines Kritik des reaktiona¨ren vorma¨rzlichen Deutschlands und seines Zustandes nach 1848/49. Die Metapher vom Reich der Lu¨fte findet sich auch bei Heine. 63 Zum Begriff der Aufkla¨rung vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufkla¨rung, Frankfurt/M. 1978, S. 7 ff. (S. 20 f.: „Als Ausdruck der Totalita¨t beansprucht Kunst die Wu¨rde des Absoluten“). 64 Eine Ansprache an die Dichter, in: Alfred Wolfenstein (Hrsg.), Die Erhebung. Jahrbuch fu¨r neue Dichtung und Wertung, Bd. 1, Berlin 1919, S. 296 – 304 (302 f.) [ jetzt in: Gustav Landauer, Zeit und Geist. Kulturkritische Schriften 1890 – 1919, hrsg. von Rolf Kauffeldt/Michael Matzigkeit, Mu¨nchen 1997, S. 287 – 293 (291 f.), und in: Gustav Landauer, Werkausgabe, Bd. 3, hrsg. von Gert Mattenklott/Hanna Delf, Berlin 1997, S. 15 – 19 (18 f.)].

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Staatsdichtung und Staatslehre

Dichter zusammen mit dem Staatsrechtslehrer zum (weiteren) Hu¨ter des Verfassungsstaates zu machen65 – auch dies geho¨rt zum komplexen, komplizierten Verha¨ltnis von Dichter und Staat, und zwar in doppelter Hinsicht: @ Dichtung kann erstens helfen, das Modell eines aufgekla¨rten, wertgebundenen Positivismus mit Leben zu erfu¨llen. Formale Verfahren bedu¨rfen materialer Orientierung. Angesichts einer pluralistischen Gesellschaft sind die Grundwerte weitgehend interpretationsoffen; an ihrer Formulierung und Entwicklung wirkt Dichtung mit. @ Dichtung kann zweitens ihrerseits, wegen ihrer a¨sthetischen Mehrdeutigkeit, auch Ausdruck von Ideologien sein. Nicht nur die Klassiker lassen sich, wie die Theater in der DDR gezeigt haben, sowohl systemkonform als auch systemkritisch inszenieren. Zur Aufkla¨rung tra¨gt die ¨ berkommenem Dichtung auch durch den kritischen Umgang mit U bei. Meine Bemerkung zum Schluss unterstreicht den europa¨ischen Kontext ¨ ber die bloße binnen- und gesamtdeutsche Sicht hinaus unseres Themas. U gewinnt das Verha¨ltnis von Geist und Macht in Deutschland wegen des europa¨ischen Einigungswerkes eine neue Perspektive. „Ein einzelnes Land“, sagte Heinrich Mann bereits in der Zwischenkriegszeit, „ist in Europa nicht mehr lebensfa¨hig, weder wirtschaftlich noch politisch und erst recht nicht sittlich; mehrere, u¨bernational Verbundene, haben Aussicht, ihre Menschen besser und glu¨cklicher zu machen.“ Diese u¨berstaatliche Bedingtheit, etwa beim Menschenrechts- und beim Umweltschutz, ist eine heute nicht mehr fortzudenkende Lebensvoraussetzung und wesenspra¨gende Eigenschaft der (west-)europa¨ischen La¨nder. Rechtlichkeit und Freiheitlichkeit, einschließlich einer u¨ber die nationalen Grenzen hinausreichenden, immer dichter werdenden Rechtspflege in Straßburg und Luxemburg, sind die entscheidenden Leistungen; sie sind das, was den Staat – auch und gerade in seiner Verschra¨nkung mit anderen Staaten – erst rechtfertigt. Mein Lehrer Werner von Simson hat fru¨hzeitig auf diese staatsu¨bergreifende Bedingtheit der Staatlichkeit und damit der Sicherheit und Freiheit hingewiesen66. Von dem Europa der Hopfenanbausubventionen, der Gen-Richtlinien und der Kohlepreise, von dem Europa, das den o¨kologi65

Vgl. Ha¨berle (FN 16), S. 106 ff. Die Souvera¨nita¨t im rechtlichen Versta¨ndnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 186 ff.; ders. (FN 57), S. 58 ff. 66

Der Dichter und der Staat

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schen Schutz seiner Randmeere so wenig schafft wie das Abschmelzen seiner Butterberge, ist fraglich, wie es eine Festigung – in unbewusster Folgsamkeit – erreichen kann. Ohne diesen vorerst nur in den Mitgliedstaaten vorhandenen Halt aber wird Europa den zentrifugalen Kra¨ften, die im Transformations- und Integrationsprozess nach 1992 noch versta¨rkt auftreten du¨rften, kaum auf Dauer widerstehen. Was kann der Dichter dazu beitragen, dass der Traum eines vereinigten freiheitlichen Europa – Annette Kolb, Heinrich, Thomas und Klaus Mann, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Stefan Zweig haben ihn in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts intensiv getra¨umt67 – ausgangs der zweiten Ha¨lfte dieses Jahrhunderts bildhaften, symbolischen Charakter gewinnt und die Bu¨rger ihr Selbstversta¨ndnis ku¨nftig entscheidend aus der Zugeho¨rigkeit zum europa¨ischen Integrationswerk beziehen? Oder, wo das nicht gelingt, was kann, was muss ein einiges Europa unberu¨hrt bestehen lassen, um das zu erhalten, was sich nur in einzelnen Lebensformen bewahren la¨sst? De Gaulle, ein Meister des Wortes, wusste um dieses Problem. Er schlug ein Europa der Vaterla¨nder vor, nicht einen profillosen Organismus, in dem keine Vaterschaft mehr eine Rolle spielte. Erst wenn man sich der Rolle des Dichterischen im Leben der Vo¨lker, der Staaten und Europas insgesamt bewusst ist, kann man die Wichtigkeit dieser Frage ermessen.

67 Nachweise bei Paul Michael Lu¨tzeler (Hrsg.), Pla¨doyers fu¨r Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915 – 1949, Frankfurt/M. 1987, S. 7 ff. Natu¨rlich geht der Europa-Essay bis in die Romantik zuru¨ck (Novalis, die Bru¨der Schlegel).

„Die Gesetze des Geistigen“: George, Broch, Grass* „Ich war nicht die Dichterin dieses Staates.“ Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war Christa Wolfs Satz so wichtig, dass sie ihn am 3. Februar 1993 auf der Titelseite brachte. Das Zitat galt dem Verha¨ltnis der bekanntesten Schriftstellerin der ehemaligen DDR zum Staat, zur Staatssicherheit. ¨ berIn dem Prosaband „Was bleibt“ hatte Wolf, als die Mauer fiel, ihre U wachung durch die „Stasi“ geschildert. Anschließend verharrte sie, inmitten eines lebhaften Streites u¨ber die a¨sthetischen Bedingungen der deutschen Literatur, in versteinertem Schweigen. Im Spa¨twinter 1992/93 wurden dann Akten bekannt, nach denen Wolf von 1959 bis 1962 selbst Informelle Mitarbeiterin („IM“) der Stasi gewesen war. Opfer und Ta¨terin zugleich? Schon im Hinblick auf das, was von der verblichenen DDR „bleibt“, ist die politische Haltung einer Christa Wolf und eines Heiner Mu¨ller, des großen Ostberliner Dramatikers, zu kla¨ren. Unser Thema greift indes weiter aus als jener neudeutsche Literaturstreit u¨ber „Gesinnungsa¨sthetik“. Wir fragen, was Schriftsteller zu o¨ffentlichen, politischen Themen gesagt und geschrieben haben – eine Doppelfrage. Wie nehmen Dichter den Staat wahr; wie bilden sie ihn ab? Und wie entwerfen sie ihn, welches Schreck- oder Wunschbild scheint auf ? Beide Fragen ha¨ngen eng miteinander zusammen. Die empirische Befundnahme oder ihr Unterbleiben, das perspektivische Entru¨cken oder Heranholen des Objekts, das Perhorreszieren oder A¨sthetisieren der Wirklichkeit – alles schla¨gt sich in literarischen Staats-Visionen und -Kritiken nieder, in den Themen, Sehweisen und Sprechformen der Schriftsteller. Der Staat in der Perzeption und Projektion der Dichter ist demnach unser Thema. Dabei interessiert vornehmlich die deutsche Sicht. Insofern geht es zuna¨chst um den geteilten, nun wieder vereinten Nationalstaat, um querelles allemandes: um das meist spannungsreiche Verha¨ltnis Dichter-Staat-Na*

Aus: Michael Kilian (Hrsg.), Dichter, Denker und der Staat. Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, Tu¨bingen 1993, Narr Francke Attempto Verlag, S. 23 – 52.

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tion. Das Thema handelt immer auch von Europa. So gibt es eine große deutsche Tradition des Europa-Essays, von Novalis bis Heinrich Mann. Zu Nationalismus und Europaaffinita¨t tritt seit der Klassik (Weltliteratur, Weltbu¨rger) Kosmopolitismus, mit Weltorientierung und Weltverwandlung als Themen. Mit der Romantik, die das Wesen der Literatur im Volk suchte, mit Neuromantik und Postmoderne interessieren daru¨ber hinaus nun auch Regionalismus, Heimat sowie die civil society. Am Prozess der politisch-kulturellen, ja auch der moralischen Identita¨tsfindung und -wahrung, am Versuch des Deutens von Geschichte und Gegenwart, am Entwerfen und Verwerfen von Zuku¨nften, an der Destruktion und Konstruktion von politischen Mythen und Legitimationen – an all dem waren und sind Schriftsteller fu¨hrend beteiligt. Sie beeinflussen das kollektive Bewusstsein von Staatlich-Politischem auch dann, wenn sie sich, einer „autonomen“ A¨sthetik verpflichtet, dem verweigern. Mit Dichtern wurde Staat gemacht; Dichter haben Revolutionen ausgelo¨st. Kein Wunder, dass Staatsrechtslehrer der Staats-Dichtung nachspu¨ren, der Rolle der Literatur in der Politik und der Politik in der Poetik, dem Staat der Literaten. Weil sich u¨ber die Literaten Sinnvolles nicht aussagen la¨sst, geht es nachfolgend um das Beispiel dreier Autoren: Stefan George, Hermann Broch, Gu¨nter Grass. Jeder steht fu¨r eine bestimmte Epoche der deutschen und damit auch der europa¨ischen Geschichte. Zusammen decken sie das 20. Jahrhundert ab. Jeder repra¨sentiert eine spezielle Haltung des Schriftstellers in politicis. Stefan George steht fu¨r das das Verha¨ltnis von A¨sthetenund Prophetentum sowie fu¨r die Antithetik geistiges vs. politisches Reich. Der engagierte Schriftsteller Hermann Broch interessiert als Befu¨rworter einer „totalen Demokratie“ und eines gesellschaftlichen Auftrages der Literatur. Gu¨nter Grass, der sich selbst als „vaterlandslosen Gesellen“ sieht und doch mit Staat und Gesellschaft in Deutschland auf das engste verklammert ist, steht fu¨r den Problemkreis „Dichter vor der deutschen und der europa¨ischen Frage“; hierzu geho¨rt etwa seine Wahrnehmung des Bundesstaats, der fo¨deralen Wirklichkeit. Weder sind diese Autoren und ihre Rollenversta¨ndnisse so repra¨sentativ fu¨r das Gesamtthema, wie es etwa Thomas Mann, Bertolt Brecht und Heinrich Bo¨ll wa¨ren; noch decken Broch, George und Grass das gesamte Spektrum unserer Frage ab. Aber sie geben Einblicke in die Komplexita¨t des Verha¨ltnisses von Poesie und Politik, von Literatur und Gesellschaft.

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I. „(…) alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend“, fernab von „weltverbesserungen und allbeglu¨ckungstra¨umen“ – mit diesem Programm leitete Stefan George (1868 – 1933) im Jahr 1892 seine „Bla¨tter fu¨r die Kunst“ ein. Die Vero¨ffentlichung wolle „die geistige kunst auf grund der neuen fu¨hlweise und mache – eine kunst fu¨r die kunst“. Ein Vierteljahrhundert spa¨ter, „in Zeiten der Wirren“, maß George dem Dichter dann doch eine u¨ber die Dichtung hinausgreifende Rolle zu. Es war dies allerdings ein Amt ganz eigener Art. Bis zu seinem Gedichtband „Der Teppich des Lebens“ (1901) auf die Erneuerung der deutschen Dichtung im Sinne der literarischen Moderne konzentriert, sah sich George nun auch als Verku¨nder eines geheimen, eines anderen Deutschland. Aus dieser – abgehobenen – Perspektive eines geistigen Reiches, eines an Schiller und Ho¨lderlin erinnernden Prophetentums, fielen verwirrende, auf den ersten Blick erschreckende Worte: (…) Der sprengt die ketten fegt auf tru¨mmersta¨tten Die ordnung · geisselt die verlaufnen heim Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht · er heftet Das wahre sinnbild auf das vo¨lkische banner Er fu¨hrt durch sturm und grausige signale Des fru¨hrots seiner treuen schar zum werk Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.

„(…) das vo¨lkische banner (…) das Neue Reich“? „Neu“ und „Reich“ gar groß geschrieben, wa¨hrend der Dichter sonst die egalisierende Kleinschreibung bevorzugte. George ein „Vo¨lkischer“, ein Wegbereiter des Dritten Reiches? Nahm das 1928 vero¨ffentlichte Gedicht die Machtergreifung von 1933 vorweg? War das die Konsequenz jenes fru¨heren nichtstaatlichen, nichtgesellschaftlichen Fanals oder dieses spa¨teren Herabsteigens aus dem Reich des Geistes in die Niederungen der „weltverbesserungen und allbeglu¨ckungstra¨ume“? Dann bliebe der Poet doch wohl besser bei der poe´sie pure und u¨berließe die Politik den Profis, den Staat den hommes d’E´tat. Gewiss, Georges jahrzehntelange Politik der Nichtpolitik dru¨ckte Distanz zum Wilhelminismus, spa¨ter dann zu Weimar aus, Kritik also an dem als ungeistig empfundenen spa¨ten Kaiserreich und an der glanzlosen, angeblich tatenarmen Republik von Weimar. Aber kehrte der Neuromantiker damit bereits der Aufkla¨rung, der sozialen und politischen Realita¨t, dem demokratischen, egalita¨ren, rationalen Staat den Ru¨cken? Wollte der Dich-

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ter eine „ganz andere Republik“? La¨sst sich ein Zusammenhang herstellen zwischen jener „l’art pour l’art“-Vorrede (Bla¨tter fu¨r die Kunst hieß Georges Zeitschrift, nicht Bla¨tter fu¨r den Staat) und diesem „vo¨lkischen banner“? Vor allem: Wie sah das imaginierte andere Deutschland aus, wie das „Neue Reich“ des Dichters? George und seinem „Kreis“ schwebte eine Polis der Dichter vor, eine neue, geistig beseelte, zugleich leibhaftige Herrschaft. Aber was bedeutete das konkret? Welche politische message hatte George – wenn er eine hatte? Lassen sich diesem zeit- und personenverhafteten Spezialaspekt, dem „Staats-Bild Stefan Georges“, Aussagen u¨ber das allgemeine Verha¨ltnis von Literatur, Wirklichkeit und Vision entnehmen, noch heute, zwei Menschenalter spa¨ter, nach Vollendung der deutschen Einheit sowie des europa¨ischen Binnenmarktes? Was lernen wir also durch Schriftsteller u¨ber den Staat, u¨ber seine Legitimationsgrundlagen, u¨ber seine Macht und ihre Schranken – vom unentbehrlichen staatlichen Gewaltmonopol bis hin zur verbrecherischen Macht von Gestapo und Stasi? Erliegen Dichter wie mancher Historiker der Anziehungskraft der Politik, dem Charisma der Herrscher? Oder betonen sie das Trennende, das Abstoßende? Sind Dichter Kritiker, Warner und Empo¨rer, gar – ein ha¨ufiger Vorwurf – nihilistisch, zersetzend? Oder sind sie als Wertevermittler und, wie Novalis forderte, „Staatsverku¨ndiger“ und „Prediger des Politischen“ unentbehrlich fu¨r eine ethische und emotionale Fundierung des Gemeinwesens, insofern also staats- und gesellschaftsintegrierend? Kann Kassandras Rolle in einem Land der zeitweiligen Staatsvergottung und des schrankenlosen Personenkults nicht staatserhaltender sein als das Wahrnehmen weihemythischer Aufgaben? Ist also der kritische Dichter, gar der aus historischem oder staatsedukatorischem Gespu¨r warnend eingreifende eine Stu¨tze des Staates? Georges Thema war (wie Friedrich Franz von Unruh 1932 schrieb) die „Rettung Deutschlands vom Geiste her“. Hitler war 1921, als „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ entstand – das Gedicht des Eingangszitats publizierte George 1928 im Band „Das Neue Reich“ –, noch ein weithin unbekannter Stammtischredner. Nur „Dummko¨pfe, Hochstapler oder Betru¨ger“ bega¨ben sich jetzt in die Politik, warnte George Anfang der zwanziger Jahre den engagementwilligen jungen Milita¨rhistoriker Walter Elze. Parteienzank, Hinterzimmerpolitik, Hurra-Patriotismus waren nicht Georges Welt. „Am streit wie ihr ihn fu¨hlt nehm ich nicht teil“, hieß es in seinem visiona¨ren Anti-Kriegs-Gedicht von 1917. Nicht bei ihm, sondern in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) schlugen sich die

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„Ideen von 1914“ nieder. Im Unterschied etwa zu Friedrich Gundolf, Max Weber oder Hugo von Hofmannsthal und anders als die große Mehrzahl der engagierten Literaten der Vorkriegszeit ließ sich George nicht von der Kriegsbegeisterung, gar vom Hass auf Frankreich anstecken. Sein „Deutschtum war in Ursprung und Wesen und Richtung immer europa¨isch“ (Edgar Salin). Darin war George damals Heinrich Mann na¨her als dessen beru¨hmterem Bruder. Auch die „staatlichen“ Gedichte Georges zeigen ein Maß an Sprachkunst, Bedeutungsreichtum und Vollkommenheit, das bei aller (wie Erich von Kahler analysierte) „Tendenz zur Einzirkung und Abschließung“ nationalistische oder rassistische Engfu¨hrung ausschließt. Unter den Aufrufen zum (Hitler-)Plebiszit des Jahres 1933 standen die Namen Gerhart Hauptmann und Max Schmeling sowie die zahlloser anderer bekannter Deutscher „der Stirn und der Faust“. Es fehlte George. Fu¨r ihn lagen Kunst und Leben, Geist und Politik auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Keine Bru¨cke, allenfalls ein Rezeptionsstollen fu¨hrt vom „Neuen Reich“ des Dichters zum Dritten Reich des „Fu¨hrers“. Konsequent weigerte sich George nach der Machtergreifung, das Ehrenpra¨sidium der Preußischen Akademie der Ku¨nste zu u¨bernehmen. Aus der umka¨mpften Institution war Heinrich Mann unter Mithilfe Gottfried Benns, der spa¨ter selbst mit Schreibverbot belegt und aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, gerade vertrieben worden. Seinen Ablehnungsbrief ließ George – in diesem Leben war alles Wille und Geste, nichts Unachtsamkeit oder Zufall – dem Kultusminister durch Ernst Morwitz u¨berbringen. Als Jude ist Morwitz spa¨ter aus seinem Amt als Richter verdra¨ngt worden. Die „Ahnherrschaft der neuen nationalen“ (nicht: nationalistischen oder gar nationalsozialistischen) „Bewegung“ ko¨nne er nicht ableugnen, ließ der Dichter am 10. Mai 1933 ausrichten. Es sei aber doch sehr verwickelt, „wie Geist zur Politik herabsteige und zum Allgemeingut“ werde: „Die Gesetze des Geistigen und des Politischen sind gewiss sehr verschieden.“ So wahrte George Distanz, achtete auf Distinktion. Die „kleine schar (…) Stolz entfernt vom wirkenden getriebe“ war das Volk in Georges „Staat“ – nicht das Parlamentsplenum, nicht die „Wir sind das Volk“ skandierende Menge. „Jede Staatsform“, sagte der Dichter dem spa¨teren Nationalo¨konomen Salin, „ist so viel oder so wenig wert wie die Menschen, die sie tragen. Von mir aus mag es Demokratie auf allen Gebieten geben, nur im geistigen Bereich hat sie nichts zu suchen.“

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Die Bru¨der Stauffenberg za¨hlten zu Georges Na¨chsten: kein 20. Juli 1944, la¨sst sich u¨berspitzt sagen, ohne Georges Gedicht „Der Widerchrist“ aus seinem Band „Der siebente Ring“ (1907). Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der noch in der Nacht nach seinem Attentat und Staatsstreichversuch standrechtlich erschossen wurde, bezog die Beschreibung des falschen Fu¨hrers (des „Fu¨rsten des Geziefers“, also Beelzebubs) ganz unmittelbar auf den „bo¨hmischen Gefreiten“: (…) Der Fu¨rst des Geziefers verbreitet sein reich · Kein schatz der ihm mangelt · kein glu¨ck das ihm weicht . . Zu grund mit dem rest der empo¨rer! Ihr jauchzet · entzu¨ckt von dem teuflischen schein · Verprasset was blieb von dem fru¨heren seim Und fu¨hlt erst die not vor dem ende. Dann ha¨ngt ihr die zunge am trocknenden trog · Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof . . Und schrecklich erschallt die posaune.

George war demnach kein Dichter, der, anknu¨pfend an einen Strang der antiken Tradition, den Staat seiner Zeit literarisch erho¨hte. Auch der braunen Revolution, deren Beginn er vor seiner Abreise in die Schweiz, wo er starb und beerdigt wurde, noch miterlebte, lieferte er nicht den poe¨ berbau. George war niemandes Gehilfe, niemandes Kumpan. In tischen U seinem am Griechentum, an Fichte und Nietzsche orientierten „Ringen um die Formung des Deutschen“ (von Unruh) hielt er Abstand zu Vo¨lkischen wie zu Feudalen. Andererseits beka¨mpfte George die Nazis auch nicht aktiv, distanzierte sich nicht o¨ffentlich. Stauffenbergs – spa¨te – Tat war auch aus dem Geiste Georges geboren, gewiss. Aber nicht zuletzt Nicht-Georgeaner ka¨mpften und starben im Widerstand. Und einige Anha¨nger des Dichters waren zumindest anfangs zugleich Anha¨nger des „Fu¨hrers“. Friedrich Wolters etwa, im Jahre 1930 Verfasser einer stilisierten Geistesgeschichte des George-Kreises, unterzeichnete nationalistische Aufrufe und vero¨ffentlichte „Vaterla¨ndische Reden“ (in Form und Inhalt allerdings weit entfernt von der durchweg vulga¨ren NS-Bewegung). Selbst bei den drei Bru¨dern Stauffenberg, die am 6. Dezember 1933 an Georges Sarg die Totenwache hielten, war eine spontane klare Gegnerschaft zum „Dritten Reich“ nicht gegeben. George war damit weder ein Staats- noch ein Antistaats-Dichter, weder ein Apologet der Macht noch ein Anarchist. Die Tagespolitik war so wenig

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sein Thema wie die konkrete Umsetzung seiner Einsichten und Bilder. Mit Dichtung suchte George in einer ganz anderen Dimension zu wirken: als Vor-Bild, als Erzieher in kleinstem Kreis, als Sa¨nger einer Widerwelt der inneren Einheit, Sicherheit, Form, als Warner vor dem Ungeist (der Technik, der Moderne, der Unbildung, der Masse), als ku¨nstlerischer Nomothet. „Dies ist reich des Geistes“, hieß es 1914 im „Stern des Bundes“ („Geist“ auch hier ausnahmsweise groß geschrieben). „Wir haben uns nur zu bescha¨ftigen mit dem was schon jenseits des grossen Sumpfes liegt“, formulierte George 1919 in den „Bla¨ttern fu¨r die Kunst“. Insofern ist George das Paradigma des Dichters, der, aus einer eigensta¨ndigen, geistigen Position heraus, ein distanziertes, nichtpolitisches Verha¨ltnis zum Staat seiner Zeit hat. Eine solche Nicht-Staatsauffassung ist natu¨rlich hochpolitisch. Sie hat, zumal in „gelockerten fu¨hrungslosen zeiten“, eine doppelte Wirkung. Sie delegitimiert Politik und Parteien, und sie immunisiert gegen Verfu¨hrer und Dogmatisierer. Insofern wa¨re es verku¨rzt, setzte man mit Antipolitik Georges Weigerung gleich, „in diesem allgemeinen wirrwarr (…) hineinzurufen mit einem wort der wu¨rde der edlen leidenschaften oder auch nur der vernunft“ (1919). Fu¨r George ist vielmehr seine Betonung des Dichterischen die Sache selbst, da „in der dichtung eines volkes ¨ ber „die zeichen der zeit sich auch seine lezten schicksale enthu¨llen“. U und was in der welt wirklich vorgeht“ ko¨nne man „sich zuweilen besser aus gedichtbu¨chern (unterrichten) als aus zeitungspapieren.“ Staatsdichtung, Dichtung also, die sich (kritisch oder hymnisch) mit „den staatlichen und gesellschaftlichen dingen“ befasst, ist ha¨ufig verfu¨gbar. Intellektuelle, Ku¨nstler und Dichter sind prinzipiell und gelegentlich auch real disponibel. Man denke an Georges Zeitgenossen 1933, an Benn, Johst, Becher, Josef Weinheber. Der Bedeutung als Schriftsteller ko¨nnen politische Verstrickungen nichts anhaben: keine Abha¨ngigkeit der literarischen von der moralischen Qualita¨t. George freilich erwies sich als nicht verfu¨gbar und als nicht verfu¨hrbar. Dichtung kann sich vom Dichter ablo¨sen. Wider Willen des Autors vermag ein suggestives Gedicht, ein dunkles Wort, eine offene Formulierung – kein fiktionaler Text ist eindeutig – eine bestimmte Wirkung zu entfalten. Ein literarisches Erzeugnis des spa¨ten 19. Jahrhunderts kann als Rezept zur Lo¨sung politischer Probleme des fru¨hen 20. Jahrhunderts instrumentalisiert werden. So wurde das „neue reich“ erstmals 1884 von Karl Wolfskehl, einem der wichtigsten Freunde Georges, im Gedicht „Opferko¨nig“ evoziert – ohne na¨heren staatlich-gesellschaftlichen Bezug. Das „Neue Reich“,

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nun groß geschrieben, wurde 1921 dann von George selbst aufgegriffen: ein Begriff fu¨r sein „reich des Geistes“. Zwo¨lf Jahre spa¨ter wurde es, von der NS-Propaganda grob verfa¨lscht, zum Kristallisationspunkt eines geistigen Faschismus. Das bu¨rgerliche 19. Jahrhundert ist beim patriotischen Vernutzen Schillers kaum fairer vorgegangen. Georges „Widerchrist“ aus dem Jahr 1907 ermutigte 1944, auf Hitler bezogen, zum Aufstand. Das Gedicht war offen und komplex und konnte von Oberst Graf Stauffenberg so verstanden werden. Die na¨chstliegende Deutung des Gedichtes war es sicher nicht. Der spa¨tere Attenta¨ter mag den Ruf nach Ta¨terschaft bereits fru¨her vernommen haben: (…) Doch alle jugend sollt ihr sklaven nennen die heut mit weichen kla¨ngen sich beta¨ubt mit rosenketten u¨berm abgrund ta¨ndelt. Ihr sollt das morsche aus dem munde spein Ihr sollt den dolch im lorbeerstrauße tragen (…).

Wichtiger noch wurde fu¨r diesen Teil des deutschen Widerstandes, der sich u¨ber das kurzfristig Vergebliche der geplanten Tat kaum Illusionen machte, Georges Gedicht „An die Toten“. Auch dieses 1919 vero¨ffentlichte Gedicht greift weit u¨ber die Personen und Positionen des Tages hinaus. Seine existentielle, das Scheitern einbeziehende Abschließung und Ha¨rte, seine magische Weisung und seine bestenfalls superlangfristige Verheißung sind ein Beleg auch fu¨r Georges Haltung „in den staatlichen und gesellschaftlichen dingen“. (…) Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen Sein selber erinnert der ku¨r und der sende: Wird sich ihm ero¨ffnen die go¨ttliche deutung Unsagbaren grauens . . dann heben sich ha¨nde Und mu¨nder erto¨nen zum preise der wu¨rde Dann flattert im fru¨hwind mit wahrhaften zeichen Die ko¨nigsstandarte und gru¨sst sich verneigend Die Hehren · die Helden!

II. Nicht nur Schriftsteller, auch Wissenschaftler und Wirtschaftsfu¨hrer, Kirchenma¨nner, Sportler, Journalisten und Schauspieler sind potentiell disponibel. Das erwies sich im Dritten Reich wie in der DDR. Die Schwierigkeit totaler Opposition gegenu¨ber einem totalita¨ren System haben die

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Schriftsteller immer wieder selbst dargestellt, von Ernst Ju¨nger in den Parabeln des „Abenteuerlichen Herzens“ u¨ber Volker Braun bis hin zu Gu¨nter de Bruyns eindringlicher „Zwischenbilanz“. Auch in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland mo¨gen einige Schriftsteller, im eigenen Ru¨ckblick jedenfalls, der Politik als zu verfu¨gbar erschienen sein. Sie wirkten am Gru¨ndungsmythos dieser Gesellschaft und ihres Staates mit. Die Leser wurden literarisch sozialisiert: Literatur als „Produktionssta¨tte der westdeutschen Identita¨t“ (Frank Schirrmacher). Dichter, die sich, in welchem Rollenversta¨ndnis auch immer, Staatlich-Institutionellem widmen, etwa einen Deutschland-Essay schreiben oder verfassungspolitische Vorschla¨ge en de´tail entwickeln – solche Dichter des Staates und der Gesellschaft bewegen sich in einem professionalisierten, entsprechend verminten Gela¨nde. Sie mu¨ssen sich mit dessen Topographie und Terminologie vertraut machen, sonst ho¨ren die Profis weg, und Amateure sitzen Missversta¨ndnissen auf. Der staatsinteressierte Dichter beno¨tigt somit, wenn Politik und Literatur zusammenkommen sollen, eine gewisse Vorstellung von den Paradigmen und Problemen der Rechts- und Staatswissenschaften. Das Thema „professionalisierte Terminologie“ ist nur auf den ersten Blick angesiedelt bei dem Pha¨nomen raumgreifender Metaphern wie Deutschland als „Europas Herz“ (Grabbe), als „heilig Herz der Vo¨lker“ (Ho¨lderlin), als „Kern der Menschheit“ (Schiller), als „Des erdteils herz“ (George). Zwar lauern Gefahren des Missversta¨ndnisses und des Missbrauchs in nahezu allen dichterischen, also ausdeutungsfa¨higen Bildern und Begriffen. Problematischer aber ist der direkte Zugriff von Dichtern auf staatsrechtliche Thematik und Terminologie. Da ist, fehlt es an Kenntnissen, ein Danebengreifen fast unvermeidlich – mit fatalen Folgen fu¨r die intendierte Wirkung. Ein bereichsoder begriffsbezogen nicht professionalisierter Autor mag politischen Fehlentwicklungen ungewollt poetischen Flankenschutz geben. An Begriff und Gegenstand der parlamentarischen Demokratie la¨sst sich dies erla¨utern. Das einschla¨gige Beispiel ist der linksliberale ju¨dische Dichter Hermann Broch (1886 – 1951). Im amerikanischen Exil wurde der ¨ sterreicher ein Freund von Einstein, Thomas Mann, Erich von Kahler O und Ernst Kantorowicz. Sie alle dachten u¨ber die Verteidigung der Demokratie nach, u¨ber den Schutz der Freiheit unter Wahrung der Freiheit. Nur Broch aber propagierte die „totale“, ja die „totalita¨re“ Demokratie. Ein terminologischer Missgriff ? Oder gar eine Infektion mit der Ideologie des Gegners? Worum ging es? Erschreckt von der Wehrlosigkeit der Weimarer

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Republik gegenu¨ber ihren Verderbern von rechts wie links, wandte sich Broch in den dreißiger Jahren, in der Grenzsituation der totalita¨ren Herausforderung und der angeblich legalen Verfassungsablo¨sung, staats- und demokratietheoretischen Fragen zu. Mittelbar geschah dies in seinem fiktionalen Werk, unmittelbar in Essays, Traktaten, Studien: den Fragment gebliebenen „Politischen Schriften“, darunter 1937 eine antifaschistische „Vo¨lkerbund-Resolution“, und der umfangreichen „Massenwahntheorie“. Getragen war dieses Engagement von prodemokratischem Pathos. Gepra¨gt aber war es durch Paradigmenunkenntnis und laienhafte Begrifflichkeit. Broch interessiert dabei auch als Gegentyp zu George. Der Broch der dreißiger und vierziger Jahre ist der engagierte Dichter par excellence, ein Nachfahr Emile Zolas und Heinrich Heines, ein Vorfahr von Heinrich Bo¨ll und Gu¨nter Grass. Dies war nicht die Welt eines alle „Auftra¨ge“ und Rollen verweigernden, letztlich „alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidenden“ Stefan George. In seiner 1932 abgeschlossenen „Schlafwandler“-Trilogie (dieser Roman begru¨ndete seine internationale literarische Anerkennung) thematisierte Broch den „Zerfall der Werte“ („Werteverlust“ als eine Ursache der wachsenden Gewaltbereitschaft in Deutschland analysierten auch die christlichen Kirchen 1993). In Brochs Analyse delegitimiert der allgemeine Wertezerfall – ein Topos ja auch der materialen Wertethik Max Schelers – die wertfundierten und -bezogenen staatlichen Prinzipien, Institutionen, ¨ berVerfahren. Dies umso mehr, als diese von der Systemopposition zur U windung der Weimarer Republik benutzt wurden, die kraftlose Demokratie also ihren eigenen Waffen zum Opfer fiel. Es rundete das Bild ab, dass sich der Reichstag schließlich, mit dem Erma¨chtigungsgesetz von 1933, aus Furcht vor dem Tode selbst entleibte. Die parlamentarische Demokratie vor allem erschien Broch, wie vielen radikalen Kritikern der liberalen Moderne, ¨ berlebals eine u¨berholte, „ins Gigantische angewachsene Maschinerie“. „U te Einrichtungen“, hieß es dann in Brochs beru¨hmtem „Tod des Vergil“ (1945), „verkehren Wirklichkeit zu Scheinwirklichkeit, Freiheit zu Scheinfreiheit, und dies ist der beste Boden fu¨r alles Verbrechertum.“ Die „professionelle parlamentarische Politik“, hatte Broch zuvor schon behauptet, sei „nur durch die sehr du¨nnen Wahlfa¨den und die etwas sta¨rkeren Korruptionsfa¨den dem Volk verbunden“. Bereits 1919 hatte Broch Gedanken u¨ber „konstitutionelle Diktatur als demokratisches Ra¨tesystem“ vero¨ffentlicht, also u¨ber eine auch bei den Beratungen des selbsternannten Runden Tisches in Ost-Berlin propagierte Alternative zum Parlamentarismus

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(Christa Wolf schrieb dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches 1990/ 91 die Pra¨ambel). Brochs These von der Sinnentleertheit des institutionellen Mittelpunkts des parlamentarischen Regierungssystems, einschließlich seiner Thematisierung der „korrupten Republik“ – „Die Weltbu¨hne“ geißelte Korruptionsfa¨lle damals besonders heftig –, bewegte sich ganz im Kielwasser des umstrittensten Staatsrechtslehrers der Epoche: Carl Schmitt. Die Suche jenes Linksliberalen nach neuen Totalita¨ten war begrifflich von diesem rechtsgerichteten Antiliberalen und „Apokalyptiker der Gegenrevolution“ ( Jacob Taubes) infiziert. Dieser hatte in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ (1927) Politik als ka¨mpferische Unterscheidung von Freund und Feind definiert – seine Antwort auf die Weimarer Hilflosigkeit angesichts zahlreicher zum Bu¨rgerkrieg bereiter Gruppen. Vom antipluralistischen „totalen Staat“, von der autorita¨ren „totalen Mobilmachung“ im Sinne eines tendenziell alle Lebensbereiche erfassenden Politisierungsprozesses sprach auch Ernst Ju¨nger in „Krieg und Krieger“ (1930). „Was heute fu¨r Europa not ta¨te“, formulierte selbst der republikanische Schriftsteller Thomas Mann, „wa¨re die aufgekla¨rte Diktatur“. Von „vo¨lliger Identita¨t von Macht und Geist“ als der „Behauptung“ des totalen Staates schwa¨rmte Gottfried Benn (1933). Broch meinte das Richtige: Wertfundierung des Staates (via Garantie der Menschenwu¨rde und der Menschenrechte), streitbare Demokratie, Friedens- und Paktfa¨higkeit Deutschlands. Aber der Kulturpessimist blieb der ideologisch verku¨rzten Kritik des gla¨nzend formulierenden antiparlamentarischen Demokraten (ein Widerspruch in sich!) Schmitt, fu¨r den auch diktatorische Methoden A¨ußerungen massendemokratischer Kraft sein konnten, verhaftet; so sagte Broch Falsches. Terrainunkundig schoss er u¨ber das Ziel hinaus. Sein Totalita¨tsrezept verfehlt die offene Gesellschaft, das Freiheitsziel des Verfassungsstaates. Brochs Werttotalita¨t, dem universalistischen Menschenbild des Christentums und Kants und dem Wertekonsens der liberalen Gesellschaft verpflichtet, ist in einem radikal humanen Sinne gedacht. Faschisten, nicht Demokraten erkla¨rten damals Gegner zu Feinden. Auf Humanita¨t haben sich Faschisten nie berufen. Sie propagierten das Zuru¨ckdra¨ngen der Besonderheiten, das Einpassen der Individuen in die Totalita¨t von Staatsgesellschaft und „Bewegung“. Demgegenu¨ber ging es Broch um Definition und Sicherung eines gemeinsamen, die Menschen verbindenden Wertekatalogs.

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Nicht weniger deutlich erlag ein halbes Jahrhundert spa¨ter Heiner Mu¨ller im unu¨bersichtlichen Winter 1989/90 diesen deutschen antiparlamentarischen Traditionen und direktdemokratischen, letztlich nichtstaatlichen Illusionen. Von der Noch-DDR zwischen November 1989 und Ma¨rz 1990 behauptete der Ost-Berliner verwegen: ohne eine „basisdemokratische Alternative“ zu der angeblich von der Deutschen Bank unterhaltenen „Demokratie der BRD“ werde „Europa eine Filiale der USA sein“. Da war sie wieder, die Behauptung, die eigentliche, die wahre, die bessere Demokratie bestu¨nde darin, dass die Staatsgewalt unmittelbar durch Entscheidungen des Volkes ausgeu¨bt, also nicht durch Volksvertretungen „verfa¨lscht“ werde – Demokratie gleichsam als Volksherrschaft ohne Staat, als Volksselbstherrschaft. Brochs wie Schmitts wie Mu¨llers damit unser gesamtes Jahrhundert umspannenden Versuche, die Demokratie vom angeblich ideell substanzlosen, angeblich geschichtlich toten Parlamentarismus abzulo¨sen und die legitimierte Staatsgewalt in nichtparlamentarischer, volksbesta¨tigter Fu¨hrung zu suchen, hat in Deutschland, unter Dichtern zumal, Tradition. Am vertrautesten sind Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Dort hieß es: „Ich will nicht die Parlaments- und Parteienwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt.“ Ein Jahr spa¨ter, 1919, sang auch Broch an den Lagerfeuern des Sta¨ndestaates und der dann in Artikel 165 Weimarer Reichsverfassung skizzierten Wirtschaftsdemokratie das Hohe Lied der (angeblichen) Nichtpolitisierung, verlangte auch er, „unpolitisch“ wie es bereits Thomas Mann fu¨r das Kaiserreich und die erste Nachkriegszeit gefordert hatte, nach „Sachlichkeit, Ordnung und Anstand“. Kein Zufall, dass die Mitarbeit von Mann und Broch an dem vom Thomas-Mann-Schwiegersohn G.A. Borgese geleiteten (Exil-)Projekt „The City of Man. A Declaration on World Democracy“ (1941) nichts Proparlamentarisches oder sonstwie Politikfa¨higes zu Tage fo¨rderte. F.D. Roosevelts New Deal- und Zweiter WeltkriegDemokratie standen Pate, die planungsgla¨ubige, starke Pra¨sidentschaft also, die Vorstellung von der Aktualisierung aller Potenzen des modernen Staates – die Exilschriftsteller als Dienstleistende fu¨r die offizielle US-Politik. ¨ berlebt ist der Parlamentarismus keineswegs. Er ist es nur fu¨r den, U der, wie Carl Schmitt (bereits ein Jahrzehnt vor seiner vielfa¨ltigen, verwickelten Kooperation mit dem NS-Regime), von falschen Pra¨ missen ausgeht. Zu ihnen geho¨rt sein Gedanke, dass sich aus der o¨ffentlichen Diskussion freier Repra¨sentanten, heute garantiert u¨ber Artikel 38 Ab-

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satz 1 in Verbindung mit Artikel 42 Absatz 1 Grundgesetz, zwangsla¨u¨ berlebt hat sich fig das Richtige, das Gemeinwohl-Taugliche ergebe. U der Parlamentarismus auch fu¨r den, der, wie Hermann Broch und Heiner Mu¨ller, u¨ber dem intensiven politisch-ethischen, antifaschistischen Engagement zugunsten einer neuen Totalita¨t (Broch) oder eines basisdemokratischen Dritten Weges (Mu¨ller) den Blick verliert fu¨r den prinzipiellen Wert und das im Konkreten unvermeidbare „Ach und Krach“ (Rudolf Smend) liberaldemokratischer Institutionen. Auf Versta¨ndigung und Konsens abzielende, auf Kompromiss, nicht auf Werteinheit abzielende, kurz: parlamentarische Verfahren sind heute unentbehrlicher denn je. „Nur eine repra¨sentative Ausu¨bung politischer Gewalt ermo¨glicht eine Herrschaft nach Rechtsgesetzen“ (Peter Badura). Wenn Broch von seinem widerspru¨chlichen Zentralbegriff „totalita¨ re Demokratie“ leichthin sagt, dieser sei „auf dem Prinzip aufgebaut“: „Zwiebel ist gut, Schokolade ist gut, wie gut muss erst beides zusammen sein“, so ist dies kurios, frivol – und gefa¨hrlich. Brochs Total- und Weltdemokratie, Schmitts „Verfassungslehre“ (1928), Heiner Mu¨llers „Dritter Weg“ sind Themen der Staatslehre, gewiss. Brochs Abha¨ngigkeit von USamerikanischen Stiftungen, Schmitts Charakter und Mu¨llers IM-Ta¨tigkeit sind es nicht. Eine Alternative zum Parlamentarismus findet sich nicht in einer identita¨ren Demokratiekonzeption, die Schmitts „totalem Staat“, Brochs „Totaldemokratie“ und Mu¨llers „basisdemokratischer Alternative“ zugrunde liegt. Auch Anfu¨hrer der neomarxistischen Studentenrevolte von 1968 – les extre`mes se touchent – favorisierten diesen Ansatz. Die Gemeinsame Verfassungskommission, die das Grundgesetz seit 1992 auf seine Tauglichkeit fu¨r das wiedervereinte Deutschland hin durchmusterte, betrachtete die nun postmodern verpackten Vorschla¨ge, mehr plebiszita¨re Demokratie zu wagen, zeitweilig mit unziemlichem Interesse. Dabei ist das Identita¨tskonzept la¨ngst als verantwortungslose Illusion entlarvt. Soweit in gro¨ßeren Gemeinwesen je versucht, ist der Ansatz stets gescheitert. 1990 definierte Heiner Mu¨ller („Zur Lage der Nation“) die „Aufgabe“ der Literatur: „die Wirklichkeit, so wie sie ist, unmo¨glich zu machen“ – gewiss eine deutliche Abkehr von jeglichem Versuch, Staat und Gesellschaft literarisch-ideologisch aufzuru¨sten. Aber ist es ein Argument fu¨r mehr direkte Demokratie? Sowenig Demokratie ohne Grund- und Menschenrechte mo¨glich ist, sowenig kann die Staatsgewalt in einem freiheitlichen Fla¨chenstaat auf Dauer ohne gewa¨hlte Volksvertretung auskommen. Wer eine antiparlamentari-

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sche Demokratie propagiert, negiert zentrale Bedingungen einer vom Volk anerkannten Politik. Zu denen, die u¨ber Alternativen zum Parlamentarismus nachdachten, geho¨rte auch der expressionistische Dichter Johannes R. Becher, der spa¨tere Scho¨pfer der DDR-Hymne (und, wie Stephan Hermlin und Ernst Bloch, Verfasser von Hymnen auf Stalin). Bechers Gedicht „Traum vom Ra¨tedeutschland“ evozierte „Die deutsche Ra¨temacht“. Die ersten drei Strophen allerdings erscheinen uns heute – ungewollt prophetisch – wie eine Vision (mit umgekehrtem Vorzeichen) des Oktober / November 1989, als ein nie befragtes Staatsvolk seinen Unwillen revolutiona¨r artikulierte: So stand ich spa¨t am Abend Am Brandenburger Tor, Es kam das Bild im Traume Mir nochmals traumhaft vor: Ein Brand Unter den Linden! Ein brennend Menschenheer! Aus allen Straßen zu¨ngeln Die Fackelzu¨ge her. Sie trugen alle Fackeln Und hoben ihre Faust: „Die Knechtschaft ist zu Ende!“ Das Fackelmeer erbraust. (…)

Fu¨r den Staat in der Sicht von Dichtern la¨sst sich aus all dem dreierlei ableiten. Soweit sich Schriftsteller, erstens, u¨berhaupt auf Staat und Demokratie einlassen, und soweit sie dabei u¨ber den Befund hinausgreifende Aussagen treffen, erfolgt dies ha¨ufig als ein Befassen mit einem Ideal in abstracto, einem „Bild im Traume“ (Becher). Postuliert wird die Demokratie als solche. Zugleich wird sie ihrer stu¨tzenden Institutionen, etwa der Volksvertretung, beraubt. Andere auf der staatlich-gesellschaftlichen Ebene wirkende, in das demokratische Gefu¨ge einzubauende Kra¨fte werden ebenfalls ignoriert. Das entkonkretisiert diesen komplizierten, besonders voraussetzungsabha¨ngigen und verletzbaren Staats- und Regierungstypus. Die Demokratie muss dann defizita¨r erscheinen, was sie mittelbar dem Zugriff von Nichtdemokraten o¨ffnet. Broch hat nicht dies, sondern das Gegenteil gewollt. Der Trompetenton seiner Terminologie ta¨uscht. Seine „Totaldemokratie“ ist keine totalita¨re, sondern eine ganzheitlich-freiheitliche, pluralistische Demokratie, wehrhaft ohne militant zu sein. Nur: die falsche Begriffswahl leistet Missversta¨ndnissen und Missbrauch Vorschub. Die

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Broch vorschwebende Zweck-Mittel-Relation bringt er mit der schlimmen Formel „totale Demokratie“ nicht auf den Begriff. Der aus der Wiener Perspektive des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts betrachtet „neutrale“ Begriff der Totalita¨t (Rudolf Smend sah noch 1928 in den verfassungsstaatlichen Grundwerten eine „Werttotalita¨t“) war politisch bald so besetzt, dass Broch damit sein freiheitlich-humanes Anliegen fast ad absurdum fu¨hrte. Wenn „jeder echte Staat ein totaler Staat“ ist (Carl Schmitt), und wenn „[die] Totalita¨t des Politischen (…) in dem totalen Staat ihre Form finden [muss] (Ernst Forsthoff), dann verfu¨hrt die befu¨rwortende Verwendung des Begriffs „total“ fa¨lschlich zu der Annahme, auch Broch sei fu¨r die Vernichtung des Gegners als Feind. An Brochs Suche, zweitens, nach einer neuen politischen All-Einheit, die an die Stelle des sozialen Systems „Repra¨sentation“ und seines staatlichen Organs „Parlament“ treten ko¨nnte, la¨sst sich beobachten: Es ging ihm um ku¨nstlerische Kategorien, um wert- und kunstphilosophische Konstrukte als Modelle fu¨r die staatlich-gesellschaftliche Spha¨re. Seiner „Totaldemokratie“ korrespondiert der weltanschauliche, ku¨nstlerische Monismus, die Suche nach einer wieder zu gewinnenden ku¨nstlerischen und moralischen Totalita¨t. Selbst im bewunderten Mittelalter hat sie, entgegen Friedrich Schlegel, Ludwig Uhland, Hermann Broch und Oswald Spengler so keineswegs bestanden. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herrschte die Sehnsucht nach einer umfassenden geistigen Erneuerung, in Distanz zu der durch den Rationalismus der Aufkla¨rung gepra¨gten, als defizita¨r bewerteten Gegenwart. Die Unu¨bertragbarkeit der einschla¨gigen a¨sthetischen und philosophischen Begriffe und Schemata ist aber weit gro¨ßer, als naive Interdisziplinarita¨t annimmt. In der Versuchung zu leichtfu¨ßiger Transgression aus der Spha¨re der „Gesetze des Geistigen“ in die der „Gesetze des Politischen“ liegt das Problem jeder Poeten-Politik. Das gilt vor allem von einer Staatsdichtung, die ihren Gegenstand nicht sorgfa¨ltig von allen Seiten erfasst. Zudem fehlt Dichtern ha¨ufig die Gelegenheit, ihre Forderungen und Modelle an den Niederungen und Unu¨bersichtlichkeiten der Realita¨t zu messen. Nicht eine Flucht aus der Realita¨t, sondern ein Erleben der Dinge, die er beeinflussen will, erschließt dem Schriftsteller ihr Wesen. Von der professionalisierten Welt des Staates gilt dies besonders. Ein Bewahren des Menschlichen – Brochs Thema – ist nur aus den Bedingungen der Wirklichkeit heraus mo¨glich. Ho¨lderlin: „Die Dichter mu¨ssen, auch die geistigen, weltlich sein.“

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Die Abstraktheit „staatsdichterischen“ Arbeitens, drittens, ist ein weiteres, schon bei Stefan George angetroffenes Problem. In Brochs großem Streitgespra¨ch des Vergil mit Augustus im „Tod des Vergil“ spricht der ro¨mische Dichter vage vom „Reich des Menschen und der Menschlichkeit“, vom „Reich der Ideen“. Nichts anderes beobachten wir selbst bei Brochs Aufsatz „Trotzdem: Humane Politik. Verwirklichung einer Utopie“. Die Voraussetzungen „humaner Politik“, das Bleigewicht der Realita¨t gegenu¨ber hochfliegenden Visionen, wird gar nicht als Problem gesehen. Broch geizte nicht mit unbestimmten „Weltdemokratie“-Vorschla¨gen. Aber hatte er hinreichend die einschla¨gigen Umsta¨nde, Mo¨glichkeiten, Wirkungsabla¨ufe bedacht? Mit den politisch-strukturellen und wirtschaftlich-sozialen Voraussetzungen und den Ansatzpunkten fu¨r die Verwirklichung seiner Forderungen etwa bezu¨glich des Vo¨lkerbundes (1937), des universellen Menschenrechtsschutzes (1945) oder des „Kampfes um die Menschenrechte“ durch die „Intellektuellen“ (1950) befasste sich Broch so wenig, wie es sein Vergil beim Kampf um die „Menschlichkeit“ tat. Dabei wa¨re (dies auch gegen ein Leitmotiv des ES-PE-DE-Trommlers Gu¨nter Grass) weniger die Demokratie als solche zu „singen“ als die Bedingung ihrer Mo¨glichkeit zu reflektieren, sind doch die ethischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen (des Verfassungsstaates, der Demokratie, der Grund- und Menschenrechte) nicht Gegenstand der verfassungsrechtlichen Gewa¨hrleistung – sie du¨rfen es nicht sein, sollen Staat und Demokratie nicht ins Totale umschlagen. In Deutschland hat es an faustischem In-die-Ferne-Schweifen oder abgeschotteter Innerlichkeit nie gefehlt. Mangelware blieb der Wille zum Detail, die Kraft, in der Bewa¨ltigung der konkreten Lage die Aufgabenerfu¨llung, die Leistung zu sehen. Statt sich mit der Ambience der liberaldemokratischen, parlamentarischen Institutionen zu befassen, wendet sich Broch dem schon im „Chandos-Brief“ (1902) des jungen Hofmannsthal konstatierten Verlust der Ganzheit des Daseins zu, also prinzipiellen Gefahren der Desintegration und der Delegitimation. Brochs Visionen kannten nur das Reich der Freiheit, nicht das der Notwendigkeit. Mit den Verbindungen zwischen beiden, mit den konkreten, auch sicherheits-, finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Bedingungen der Zielverwirklichung, befasste er sich nicht. Die Gru¨nde, die zur Moderne, zum Zersprengen der (stark u¨berzeichneten mittelalterlichen) Totalita¨t gefu¨hrt hatten, waren ja keineswegs entfallen. Die Modernisierungs- und damit auch Destabilisierungsfaktoren waren vielmehr noch gravierender geworden. Warum hatten die Republikschutzgesetze Weimar nicht schu¨tzen ko¨nnen?

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Warum hatte der Vo¨lkerbund den Opfern der Aggression nicht beigestanden? Warum war die verfassungsstaatliche „Werttotalita¨t“ zerfallen? Der „Begriff des Ganzen“ war offenbar noch vollsta¨ndiger verlorengegangen, als Hofmannsthal und Broch glaubten. Kurz: Das Zuendedenken von Begriffen und Schemata in einem unbedingten Sinne geht dort, wo sie auf bedingte Sachverhalte anzuwenden sind, ins Leere. In einer immer uneinheitlicher gewordenen Welt gilt dies von Vorstellungen der Gesamtheit oder des Universellen. Der engagierte Schriftsteller mag sich an dieser Wirklichkeit reiben – ignorieren darf er sie nicht.

III. Der Fo¨deralismus ist ein weiteres großes Staatsthema, fu¨r alle Staatsrechtslehrer wie fu¨r die wenigen Staatsdichter. Dieses Staatsstrukturprinzip ha¨ngt eng mit der Gewa¨hrleistung der Demokratie und des Rechtsstaates (Gewaltenteilung) zusammen. Zudem gibt es Verbindungen zwischen europa¨ischer Integration und supranationaler Bundesstaatlichkeit. Letztere in all diesen Nuancen haben deutsche Schriftsteller immer wieder aufgegriffen. Einmal wird Fo¨deralismus im Sinne innerstaatlicher Auflockerung verwendet, als Kurzformel etwa fu¨r den Gegensatz zu Zentralismus, Machtballung, Einheitsdenken. Das ist besonders bei Gu¨nter Grass der Fall, also bei dem, „der als erster großer deutscher Literat in die Politik eingestiegen ist“ (Rudolf Augstein). Fo¨deralismus spielt sodann im zwischenstaatlichen Bereich eine Rolle. Als Instrument und Form u¨ber- oder transnationaler Zusammenschlu¨sse war dies schon bei den Mu¨nchner Ra¨terepublikanern von 1919 der Fall. Nur notdu¨rftig kaschierten Kurt Eisner und Gustav Landauer bei ihren antiunitarischen Modellen weltrevolutiona¨re Hintergedanken. Spa¨ter dann, bei Heinrich Manns europa¨isch-fo¨deralistischen Konzepten, standen friedens- und kulturpolitische Aspekte im Vordergrund, die ihrerseits bis in die Romantik, ja bis in die Antike zuru¨ckreichen. Konzentrieren wir uns auf Grass! Wie erfasste er den Bundesstaat, wie die fo¨derale Wirklichkeit? Am 2. Februar 1990 kontrastierte Grass wa¨hrend des Kongresses „Neue Antworten auf die deutsche Frage“ den von ihm nichtgeliebten deutschen „Einheitsstaat“ der von ihm seit Jahren gewu¨nschten „Konfo¨deration“ der beiden Staaten: Ich lehne den Einheitsstaat ab (…) Dieses Vaterland verrate ich jetzt schon; mein Vaterland mu¨ßte vielfa¨ltiger, bunter, nachbarlicher, aus Schaden klu¨ger und eu-

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ropa¨isch vertra¨glich sein (…) Warum muß der deutschen Konfo¨deration, die unsern Nachbarn ertra¨glich sein ko¨nnte, immer wieder eins draufgesattelt werden, mal nach vagem Paulskirchen-Konzept als Bundesstaat, dann wieder, als mu¨ßte das so sein, in Gestalt einer Groß-Bundesrepublik? (…) Komplexgesa¨ttigter Gro¨ßenwahn hat die Deutschen dazu verleitet, ihre Mo¨glichkeiten, sich als Kulturnation in einem Bundesstaat zu finden, nicht zu verwirklichen und statt dessen mit aller Gewalt den Einheitsstaat als Reich zu erzwingen (…).

Der Danziger hatte jahrelang die beiden deutschen Staaten als denkbare Vermittler zwischen den Machtblo¨cken angesehen, als West-Ost-Bindeglied. In der Bereitschaft zum Gespra¨ch mit seinen exilierten mittelund osteuropa¨ischen Kollegen ließ er sich in den 1970er Jahren von Heinrich Bo¨ll weit u¨bertreffen. So blieb Grass, der sich dann Ende 1992 bei sei¨ ber den Niedergang der politischen Kultur im ner „Rede vom Verlust. U geeinten Deutschland“ ausdru¨cklich als Verfassungspatriot bezeichnete, den Kategorien von Jalta verhaftet, und zwar auch noch zu einem Zeitpunkt (1989/90), als Mitteleuropa-Vordenker wie Kundera und Konrad la¨ngst die Wiedereingliederung ihrer La¨nder in das verfassungsstaatliche Europarat-Europa betrieben. Es war dies der kurze Moment, als „Einig-Vaterland“ auf der Tagesordnung der Weltpolitik stand. Bei seiner beharrlichen Werbung fu¨r einen Weg zwischen jener „vermittelnden“ Zweistaatlichkeit und dieser „gefa¨hrlichen“ Einheitsstaatlichkeit – „Auschwitz ist ja nur (…) in einem Einheitsstaat zu machen“ – u¨bersah Grass die evidente freiheitssichernde und identifikationsermo¨glichende Zwischenform: den Bundesstaat. Sollten Stasi und „Bautzen“, „Mauertote“ und Ausbu¨rgerungen u¨berwunden werden, gab es mehr als die Grass-Alternative Einheitsstaat oder Konfo¨deration. Nicht die Konfo¨deration, nicht der Zentral- oder Einheitsstaat – der Bundesstaat ist die traditionelle und bewa¨hrte Organisationsform Deutschlands. Der Fo¨deralismus ist nicht nur ein technokratisch-prozedurales und institutionelles, sondern auch ein kulturell-gesellschaftspolitisches, integrierendes und demokratiefo¨rderndes Schema. Angesichts dessen war es geradezu zwingend, dass sich Deutschland nach dem 2. Oktober 1990 erneut (beziehungsweise nach wie vor) als Bundesstaat organsierte, also nicht als Einheitsstaat, nicht als Staatenbund. Als Form gestufter freiheitlicher Integration erleichterte der Fo¨deralismus die staatliche Einigung, 1990 nicht weniger als 1871. Ein zentral gesteuerter Einheitsstaat ist auf Grund andersartiger Traditionen und Bedingungen heute noch in gewissem Sinne Frankreich – die neue wie die alte Bundesrepublik Deutschland

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dagegen ist ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz). Fu¨r die Vertiefung und Verbreitung der europa¨ischen Integration ha¨tte, anders als es Grass 1990 formulierte, eine „Konfo¨deration der beiden deutschen Staaten“ beziehungsweise eine „Zweistaatlichkeit, aber in einem sehr starken Verbund, zwei Staaten einer Nation“ keinen Modellcharakter besessen. Die Europa¨ische Gemeinschaft hat ihre eigene, letztlich vorbildlose Geschichte und Gegenwart. Was ist angesichts dieser Zusammenha¨nge von dem Staats-Bild eines Schriftstellers zu lernen, der sich vor seinen zugespitzten Aussagen – „Wer gegenwa¨rtig [1990] u¨ber Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens schließt einen zuku¨nftigen deutschen Einheitsstaat aus“ – offenbar weder der einschla¨gigen terminologischen Instrumente noch der verfu¨gbaren traditionsreichen Alternativen vergewissert? Kennt Grass den europa¨ischen Auftrag des Grundgesetzes und die Verfassungsentscheidung zugunsten der internationalen Zusammenarbeit? Bei Uninformiertheit besteht die Gefahr, dass Dichter außerhalb der Germanistikseminare nicht ernst genommen werden, obgleich das, was sie bei zureichender Kenntnis zu sagen ha¨tten, verbreitungswu¨rdig wa¨re – wie Richard von Weizsa¨cker 1984 in seiner Antrittsrede als Bundespra¨sident betonte: „Die Aussagen von Christa Wolf haben auch fu¨r uns im Westen eine bestimmende geistige Bedeutung.“ Aber will sich Grass – „mißtrauisch aus der geschichtlichen Erfahrung heraus, daß die Einheit uns Deutschen immer nur Unglu¨ck gebracht hat“ (1992) – u¨berhaupt orientieren? „Die kommunizierende Mehrzahl“, die „Konfo¨deration zweier fo¨deralistischer deutscher Staaten“, war im Jahre 1967 eine interessante Vision des „Citoyen Dichter“, der hier sein moralisch-gesellschaftliches Gewicht als Dichter in die Waagschale der politischen Auseinandersetzung warf; zwei Jahrzehnte spa¨ter verfehlte dies Modell die gru¨ndlich vera¨nderte Lage und ignorierte Wu¨rde und Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen. Die Integration Europas war ein vielbeschworenes Thema deutscher Schriftsteller von Novalis, den Gebru¨dern Schlegel und Heinrich Heine u¨ber Hofmannsthal, Hermann Hesse, Annette Kolb, Rudolf Borchardt, Arnold Zweig und die beiden Bru¨der Mann bis hin zu Musil, Do¨blin, Enzensberger. Heinrich Mann, also der Bruder, der politisch mehr Recht als Unrecht hatte, und der von Anfang an Europa¨er und Demokrat war, wa¨hrend Thomas noch von einem besonderen deutschen Weg tra¨umte und an

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Demokratie nicht recht glauben wollte – Heinrich Mann also pla¨dierte in ¨ sterden 1920er/1930er Jahren fu¨r einen Bundesstaat, der zwar nicht O reich, wohl aber neben Deutschland Frankreich einbegriffe. Der verspa¨tete deutsche Nationalstaat habe seinen eigenen Ideen nie ganz genu¨gt. Dies sei kein Grund, weshalb eine noch gro¨ßere Idee, „die Fo¨deration der deutschen Nation mit der franzo¨sischen, nicht Wirklichkeit werden sollte!“ Heinrich Mann ersehnte also „den Bundesstaat Deutschland-Frankreich“: Fo¨deralismus als u¨bernationale Integrationsidee. Nur dieser garantiere den Menschen ihre Freiheit: „Ein einzelnes Land ist in Europa nicht mehr lebensfa¨hig, weder wirtschaftlich noch politisch und erst recht nicht sittlich; mehrere, u¨bernational Verbundene haben Aussicht, ihre Menschen besser und glu¨cklicher zu machen.“ A¨hnliches meinte wohl Gu¨nter Grass, als er 1991 forderte, alle diese „verru¨ckten“ Nationalismen in Europa (etwa im deutsch-polnischen Verha¨ltnis) „ersatzlos zu streichen“. Europa, auch ein Aspekt im Widerstand gegen das „Dritte Reich“, half bei der Emanzipation Osteuropas von der sowjetischen Dominanz, auch mittels der von Schriftstellern angefeuerten Mitteleuropa-Debatte. Diese legte auch die Schwierigkeiten vieler DDR-Autoren mit der Agenda „ Europa“ bloß. Hans Magnus Enzensbergers „Ach Europa!“ war ein small is beautiful-Einspruch gegen einen potentiell zentralisierenden Zusammenschluss. Zu Recht verlangen viele Schriftsteller Ru¨cksichtnahme auf die fortbestehende Unentbehrlichkeit der Einzelstaaten und Regionen, auf ihre emotionalen Bindungs- und kulturellen Selbstgestaltungskra¨fte. Heimat und Europa brauchen sich so wenig auszuschließen wie Literatur und Politik.

IV. Die Relation von Dichter und Staat in Deutschtand ist, zusammenfassend, ein Spiegelbild der Probleme, die die Deutschen mit dem Staat haben. Fu¨r die Situation unter dem Grundgesetz in der alten Bundesrepublik ist dies bekannt. Gewiss, dieser Verfassung, im Unterschied zu ihrer Weimarer Vorla¨uferin, blieb das Schicksal der offenen Beka¨mpfung weitgehend erspart. Das Dichterwort als zusa¨tzliche Quelle der Legitimation fu¨r das Gemeinwesen indes – die Legitimation an der Leistung greift auf Dauer zu kurz – fiel unter dem Grundgesetz, jedenfalls ab den 1960er Jahren, aus (eine Ausnahme bildete Martin Walser). Man wollte nicht Erfu¨llungsgehilfe, gar Vordenker sein. Legitimationspru¨fung lautete das Thema, Legitimita¨tsdefizite wurden aufgedeckt. Vielen Literaten erschien unsere Verfas-

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sungswirklichkeit als besonders du¨rftig und kalt. 1989/90 konnten sich viele keinen Reim darauf machen, dass bei den Montagsdemonstrationen in der DDR der Ruf „Wir sind das Volk“ umschlug in „Wir sind ein Volk“. Wie konnten die Leipziger und Dresdner nur unter das Grundgesetz mit seinen Legitimationskrisen kommen wollen? Ru¨ckzugsgefechte wurden bis in den Winter 1992/93 bei der Beratung plebiszita¨rer Reformen der nun gesamtdeutschen Verfassung ausgefochten. In der deutschen Literaturund Geistesgeschichte gibt es dafu¨r Vorla¨ufer. Oft ging es Dichtern, „Mimesiserwartung und Wirkungsauftrag“ zum Trotz, weniger um die Realita¨t des Gemeinwesens – so wie es nun einmal gewachsen und verwachsen und nur marginal zu a¨ndern war – als um Staatsersatz: um ein imagina¨res Reich, das anzustreben der Deutsche in Pflicht genommen wurde, oder mit dessen geheimer Existenz oder baldiger Erscheinung u¨ber die lebenswirklichen Niederungen hinweggetro¨stet werden sollte. Das Reich der Deutschen war das der weltbu¨rgerlichen Bildung, der Rechtlichkeit: „so wie die Franzosen die Herren des Landes sind, die Engla¨nder die des gro¨ßern Meeres, [sind] wir die der beide und alles umfassenden Luft (…)“, hieß es 1808 in Jean Pauls „Frieden-Predigt an Deutschland“, Metaphern, die dann Heines „Winterma¨rchen“ 1844 aufgriff: „Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten / Hier u¨ben wir Hegemonie / Hier sind wir unzerstu¨ckelt; / Die anderen Vo¨lker haben sie / auf platter Erde entwickelt.“ Die Dichtung hat das Staatliche in der alten Bundesrepublik Deutschland so wenig zum Thema gemacht wie die deutsche Staatsrechtslehre. Letztere widmete sich eher der Verfassung, der Demokratie oder dem Sozialen als dem Staat, seinen Funktionsbedingungen, seinen Lagen. Haben mehr Wissenschaftler als Schriftsteller ausgesprochen, dass der Verfassungsstaat die Bedingung der Mo¨glichkeit von Freiheit, Gleichheit und Solidarita¨t ist, dass er die Voraussetzung fu¨r Republik und Demokratie ist, fu¨r rule of law und inneren und a¨ußeren Frieden? Die Wiederentdeckung des modernen Staates als Friedens- und Handlungseinheit steht an. Die Epoche der Verfassungsstaatlichkeit hat, historisch betrachtet, gerade erst begonnen. Weltweit (man denke an afrikanische Stammesherrschaften, an islamische Theokratien, an arabische Feudalregime) hat sich dieser Staatstypus noch keineswegs durchgesetzt. „Deutschland ortlos“, die jahrelange Dekonstruktion des Nationalen bei Heiner Mu¨ller, hielt Schritt mit verbreiteten l’E´tat-est-mort-Thesen im Westen, nicht aber mit dem Geschichtsbeben in Mittel- und Osteuropa. Rasch a¨ndert sich die europa¨ische

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Staatenwelt. Der Einzelstaat, in dem die Anha¨nglichkeit an die bestehenden Zusta¨nde in unbewusster Folgsamkeit und dichterischen Bildern gefestigt war, soll, heißt es u¨berwiegend, in Westeuropa aufgehen im gro¨ßeren Zusammenhang. Bei Victor Hugo, Romain Rolland und Heinrich Mann noch eine Vision, eine Utopie vom vereinigten Europa, sind wir der friedlichen politischen Einigung der Alten Welt heute na¨her denn je. Viele europa¨ische Staaten beziehen ihr Selbstversta¨ndnis aus der Zugeho¨rigkeit zur Europa¨ischen Gemeinschaft, zum Europarat, zur Nato. Auf wichtigen Politikfeldern ist ihre Leistungsfa¨higkeit heute u¨berstaatlich bedingt. Von parastaatlichen Suprastrukturen ist es indes fraglich, ob sie eine hinreichende emotionale Verwurzelung erreichen ko¨nnen. Ohne diese wird eine Europa¨ische Union den zentrifugalen Kra¨ften, die von Seiten der Mitgliedstaaten und deren innergesellschaftlichen Spannungen ebenso drohen wie von den Wirbelstro¨mungen des Weltgeschehens, nicht auf Dauer widerstehen. Der Wald hat keine Wurzeln, nur die Ba¨ume haben sie. Der Nationalstaat ist noch nicht entbehrlich. Er allein kann bis auf weiteres die Kluft u¨berbru¨cken zwischen dem einzelnen, der Heimat und der Region einerseits und Europa, der Welt und der Weltgesellschaft andererseits. Das ferne Gebilde in Bru¨ssel bietet keine hinreichenden Identifikationsmo¨glichkeiten: zu anonym, zu undurchsichtig, zu sehr gedacht, zu wenig gewachsen, lautet der Vorwurf. Die Hinwendung zu Europa, ein „Mythos des Abendlandes“, ersetzt nicht nationales und regionales Selbstbewusstsein. Was ko¨nnen, was wollen Dichter dazu beitragen, dass der Traum eines in Freiheit geeinten Europa bildhaft Symbolkraft und politische Stabilita¨t gewinnt? Und was muss das institutionelle Europa auf mitgliedstaatlicher Ebene bestehen lassen, um das zu erhalten, was sich, frei ¨ berspanntheit, nur von nationaler Borniertheit und kosmopolitischer U in einzelnen Lebensformen und gestuften Identita¨ten bewahren la¨sst? Diese Doppelfrage stellt sich der Wissenschaft wie der Literatur, jedenfalls soweit diese sich staatlich-o¨ffentlichen Themen, auch der Integration Europas, widmen mag. Damit wa¨re nun, da die Teilung des Kontinents u¨berwunden ist, „Europa in der Perzeption und Projektion der Dichter“ die Fortsetzung unseres Themas. Oder ist Europa, je staatlicher es wird, desto weniger ein Stoff fu¨r Dichter? Ziehen sich diese auf „die Gesetze des Geistigen“ zuru¨ck und kapseln sich von „den Gesetzen des Politischen“ ab?

Gerechtigkeit fu¨r Bosnien: Juli Zehs Bilder vom Balkan* Hattest Du nie, sagt sie [Clara, die junge Radiomoderatorin], eine Idee von Gerechtigkeit? Nein, sage ich [Max, der Karrierejurist, Spezialgebiet Vo¨lkerrecht]. Von richtig und falsch? Nein, sage ich. Gut und bo¨se? Nein, sage ich. Sind alle Juristen so? Ja, sage ich.1

Wenn trotz dieser desillusionierenden Behauptung des ma¨nnlichen Protagonisten Max in Juli Zehs Roman „Adler und Engel“ nun ein Jurist in diesem Bielefelder Kreis von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftlern und in Anwesenheit der Schriftstellerin das Wort ergreift, dann kann dieser Jurist, also ich, nur ein Staunen erregen wie Kaspar Hauser unter den Gebildeten seiner Zeit. Und doch – die meisten Juristen, und das gilt auch fu¨r unsere Autorin, die ja eine exzellente Europa- und Vo¨lkerrechtlerin ist2, fragen zumindest indirekt nach der „Angemessenheit“ von Normen, der „Fairness“ einer Rechtslage, der „Richtigkeit“ eines Judikats und damit der Gerechtigkeit und ihren außer- und innerrechtlichen Voraussetzungen. Die Gerechtigkeitsfrage eru¨brigt sich lediglich fu¨r Positivisten, im Roman verko¨rpert durch den US-Großanwalt Rufus. Unser Thema ist demnach nur fu¨r die wenigen Juristen ein non-issue, die, obwohl die Posaunen des Positivismus verklingen, eine inhaltliche Auseinandersetzung

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Aus: Susanne Kaul/Ru¨diger Bittner (Hrsg.), Fiktionen der Gerechtigkeit, Baden-Baden 2005, Nomos Verlagsgesellschaft, S. 117 – 133. 1 Juli Zeh, Adler und Engel, Frankfurt/Main, S. 174 f. 2 Zeh, keine „Dichterjuristin“, hat ihren „Kinderglauben an die Gerechtigkeit noch nicht verloren“, DIE ZEIT, 4. Ma¨rz 2004, S. 53.

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mit Normen fu¨r unerlaubt oder u¨berflu¨ssig halten,3 und seien diese Normen auch so evident ungerecht, ja verbrecherisch wie die NS-Rassegesetze oder die Vertreibungsdekrete eines Milosˇevic´. Alle u¨brigen Juristen beziehen Stellung, kritisieren, hinterfragen, begru¨nden – so auch ich in nachfolgender Skizze. Das Thema „Gerechtigkeit“ stellt sich im Vo¨lkerrecht – und mein Thema ist prima¨r hier angesiedelt – in einem doppelten Sinne. Zum ersten wegen der von Vo¨lkerrechtsleugnern bezweifelten Rechtsqualita¨t dieser relativ durchsetzungsschwachen Materie. Vo¨lkerrechtler sind keine richtigen Juristen [wirft Clara Max an den Kopf]. Absolut korrekt, sage ich [Max], und Vo¨lkerrecht ist kein richtiges Recht. Mehr eine Religion.4

Zum zweiten: Das Vo¨lkerrecht steht in besonderem Maße im Spannungsverha¨ltnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit. Es sucht, verku¨rzt formuliert, seine Position zwischen Positivismus und Naturrecht,5 „legal formalism“ („black letter law“) und materialen, wertorientierten Ansa¨tzen. Zehs Debut-Roman6 illustriert dies am Beispiel der umstrittenen „humanita¨ren Intervention“: an der Frage nach der Rechtskonformita¨t eines nicht UN-mandatierten Einsatzes gegen ein vo¨lkermordendes Regime oder einen terroristischen Warlord. Im Roman geht es insofern um einen etwaigen (Nato-)Milita¨rschlag gegen „Arkan den Sa¨uberer“, den womo¨glich schlimmsten serbischen Milizenfu¨hrer und Berufsverbrecher – eine Dynamit-geladene Fragestellung: Louise [Arbour, die Chefankla¨gerin des Haager Kriegsverbrechertribunals fu¨r das ehemalige Jugoslawien] bat uns [die Kanzlei von Rufus] um ein Gutachten. Auf 3 Vgl. Reinhold Zippelius, Das Wesen des Rechts, Mu¨nchen, 4. Aufl. 1978, S. 72. Gerechtigkeitserwa¨gungen mu¨ssen kollidierende Zwecke einbeziehen: „Zielkonflikte als relativierende Faktoren“, ebd., S. 117. 4 Zeh (Fn. 1), S. 118. Vgl. schon John Austin (zit. in: Wolfgang Graf Vitzthum [Hrsg.], Vo¨lkerrecht, 3. Aufl., Berlin 2004, l. Abschn., Fn. 64): „Positive International Morality (commonly called International Law) is a branch of the science of positive morality.“ Auch andere qualifizierten Vo¨lkerrecht als ein Pseudo-Recht. 5 Zu letzterem Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl., Karlsruhe 1966. 6 Zeh, Die Stille ist ein Gera¨usch – Eine Fahrt durch Bosnien, Frankfurt/M. 2002, vertieft dies „perso¨nlicher“ (Ich-Erza¨hlerin ist offenbar Zeh selbst), Reiseschilderung, Fiktion, Reflexion kombinierend. Stimmen bevo¨lkern die „Stille“: „Zeitgeschichte von unten“, der Alltag der Menschen.

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zwanzig Seiten stellte ich [Max] den Grundsatz der territorialen Integrita¨t dar, der Eingriffe in die inneren Angelegenheiten souvera¨ner Staaten verbietet, auch solche zum Zwecke der Strafverfolgung. Dann wa¨lzte ich Kommentare, interpretierte Urteile des Internationalen Gerichtshofs, las die neuesten Aufsa¨tze der Vo¨lkerrechtslehre im Internet und entwickelte auf weiteren achtundvierzig Seiten ein Konzept, nach dem Ausnahmen von diesem Grundsatz im Fall schwerster Menschenrechtsverletzungen mo¨glich wa¨ren. Rufus las es und ließ mich seine Meinung wissen, knapp, fast unho¨flich. Max, sagte er, auf einem Gebiet wie dem Vo¨lkerrecht, das sich seiner Natur nach vor allem durch Schwammigkeit auszeichnet, kann man nur eins sein: Positivist. Sonst ko¨nnen wir unsere Disziplin auch gleich umbenennen in Weltpolitik und sie Diplomaten und Moralisten u¨berlassen. Natu¨rlich hatte [Rufus] recht. Nur dass Arkan einer der schlimmsten Verbrecher war, die auf der Welt herumliefen […] Ich strich die letzten achtundvierzig Seiten, pla¨dierte fu¨r die Unverletzlichkeit Serbiens und sicherte Arkan damit ein Leben in Freiheit.7

Nicht nur diesem mo¨rderischen Kriegsherrn ermo¨glicht Ich-Erza¨hler Max mit seinem Wechsel ins Lager der Positivisten ein „Weitermachen“. Auch vielen Gewaltta¨tern, Zuha¨ltern und Terroristen half die formalrechtlich legitime Langmut der internationalen Gemeinschaft. Sie alle haben sich, wie auch Anwa¨lte, Kriegsgewinnler, Investoren und Dolmetscher in der unu¨bersichtlichen postjugoslawischen Trago¨die eingerichtet, ja fu¨hren, suggeriert der Roman, besonders im geschundenen Vielvo¨lkerstaatBosnien-Herzegowina ein (nur) fu¨r sie ausko¨mmliches Miteinander. Der „Normgehorsam“ von Rufus, Max und der Haager Ankla¨gerin, das Beharren dieser Repra¨sentanten der Vo¨lkerrechtsgemeinschaft auf „Rechtssicherheit“, also auf das Fehlen einer ausdru¨cklichen Interventionsberechtigung im Vo¨lkerrecht, deckt im Ergebnis auch die ubiquita¨ren Drogengescha¨fte und „ethnischen Sa¨uberungen“. Das verletzt unser Rechtsempfinden, ist kaum vereinbar mit der Befriedungs- und Ordnungsaufgabe der internationalen Rechtsgemeinschaft und stellt die Gerechtigkeitsfrage unausweichlich. Die Antwort versuche ich zuna¨chst aus der Perspektive von „Adler und Engel“, zeichne also Zehs „Fiktionen“ der Gerechtigkeit nach. Anschließend ero¨rtere ich, vor der Folie von Zehs vielfarbigem bosnischem „Fahrtenbuch“, die von jener fiktionalen Perspektive abweichende Gerechtigkeitslage im realen, von ihr erfahrenen, schlangenreichen Gebilde „Bosnien-Herzegowina“. Vo¨lkerrechtlich ist dieser Staat ein internationales Semi7

Zeh (Fn. 1), S. 253.

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protektorat, staatsrechtlich eine Ethnokratie. In zehn Jahren mag das Land, dessen blutgetra¨nkte innere Ordnung noch zersplitterter und komplexer ist als der Balkan selbst, von dem von Zeh in ihrer Magisterarbeit vertretenen „Beitrittsrecht“ zur EU8 Gebrauch machen und, mit all seinen Verletzungen und Verhetzungen, Mitteleuropa dann noch na¨her ru¨cken. Den Abschluss der Skizze bildet die generellere Frage, inwieweit man, wie es Zeh in diesen beiden Bu¨chern mittelbar unternimmt und ju¨ngst fu¨r sich ganz unmittelbar in Anspruch nahm, „Schriftsteller und politischer Denker in Personalunion sein [kann]“.9 Wie geht Zeh also mit der „politischen Rolle“ um, die „der Literatur per se […] zukommt, weil es ein natu¨rliches Bedu¨rfnis der Menschen ist zu erfahren, was andere Menschen – repra¨sentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren – denken und fu¨hlen“? 10

I. Zuna¨chst zur Frage nach der Gerechtigkeit anhand „Adler“ und „Engel“! Beide – das Girlie Jessie, die kindlich-verru¨ckte Tochter eines Drogendealers, sowie Max, der in sie chancenlos verliebte, angepasste Junganwalt, der sie beschu¨tzen will – agieren nicht nur vor dem Horizont der gro¨ßeren, politischen Trago¨die. Das Paar verko¨rpert vielmehr auch seinerseits das bosnisch-herzegowinische Drama. Jessie steht fu¨r das ta¨ter- und opferreiche Problemland, Max fu¨r die hilflose internationale Gemeinschaft, die vergeblich versucht, den bosnischen Knoten zu lo¨sen und die Bewohner von ihren Schwa¨chen und A¨ngsten zu erlo¨sen. Jessie, ju¨ngstes Mitglied einer Familie von Drogenha¨ndlern, verkauft schon als 13-Ja¨hrige ihren Schulkameraden, darunter Max, Haschisch und Kokain. Insofern ist diese Drogen-Lolita Ta¨terin. Ru¨cksichtslos instrumentalisiert sie ihre Freunde, betru¨gt selbst Vater und Bruder und stiftet spa¨ter Max zu einem (versuchten) Mord an. Dieser kriminelle Teenager ist zugleich Opfer. Die Selbstbefreiung aus den Fa¨ngen des Drogenclans 8

Zeh, Recht auf Beitritt?, Baden-Baden 2002. Die Titelfrage ist zu verneinen. Zeh (Fn. 2). Ebd.: „Um politisch zu sein, braucht man [… nur] gesunden Menschenverstand und ein Herz im Leib.“ 10 Ebd.; dies. (Fn. 6), S. 45: „Baut sich die Menschheit u¨ber Jahrhunderte Denkma¨ler und Symbole. [… Schla¨gt] nach fu¨nfhundert Jahren mitten hinein in ihren mu¨hsam errichteten Spiegel. [… Sieht] sich selbst, wie sie wirklich ist. Sieben Jahre Unglu¨ck.“ 9

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und seiner serbischen „Gescha¨ftspartner“, Arkans paramilita¨rischen „Tiger“, misslingt. Daraufhin entzieht sich Jessie ihren vermeintlichen Ha¨schern durch Selbstto¨tung. Ihre einzige Liebe, der Adonis-gleiche Mitschu¨ler Shershah, Sohn eines iranischen Diplomaten, Dealer wie sie, nutzt ihre Verliebtheit zynisch aus: Das Ma¨del liebt mich, sagte er [Shershah], und Liebe ist immer egoistisch. So haben wir alle gewonnen. Du bist ein verdammtes Schwein, sagte ich [Max]. Er lachte, und Jessie, die vom Klo zuru¨ckkam, freute sich, als sie ihn lachen sah.11

Ta¨terin und Opfer in Personalunion, unschuldig und schuldig, ein „Produkt“ der u¨blen Gesamtmisere und zugleich eine Ursache fu¨r deren dramatische Zuspitzung – Jessie ist eine Metapher der bosnischen Trago¨die; nicht anders freilich als Schillers „Wilhelm Tell“ eine helvetische Freiheitsliebe versinnbildlicht, die in der Realita¨t so a¨hnlich, aber vielleicht auch ganz anders aussah. Hatte Heiner Mu¨ller im Jahre 1990 („Zur Lage der Nation“) als „Aufgabe“ der Literatur postuliert: „die Wirklichkeit, so wie sie ist, unmo¨glich zu machen“, so ermo¨glicht die Jessie-Figur umgekehrt, Teile der Balkan-Wirklichkeit in ihrem Kontext und ihrer Ambivalenz kennenzulernen – als Ansatzpunkt fu¨r informierte Antworten auf die Frage nach der „Gerechtigkeit“ dieser Lage. Ein solches Fragen, ein Suchen der Stille im La¨rm, dann eine Reflexion, schließlich (ohne den Diplomaten ins Handwerk zu pfuschen) ein Diskurs – das alles, Analyse und gestaltendes Denken, ist nur aus der Kenntnis der Tatsachen, den Bedingungen der Realita¨t heraus mo¨glich. Wir haben uns mit „dem Grad von Bestimmtheit [zu] bescheiden, den der gegebene Stoff zula¨sst“.12 Aber diesen Grad mu¨ssen sie zu erreichen suchen. Ho¨lderlin: „Die Dichter mu¨ssen, auch die geistigen, weltlich sein.“ Jessie verko¨rpert die Lage der schuldig-unschuldigen Lost Generation des Balkans, mag deren Anzahl auch unter der der vielen Flu¨chtlinge und Auswanderer liegen.13 Max ist das Sinnbild der hilfs- und schutzbereiten, fachlich kompetenten, aber, bezogen auf die wirklichen Probleme, ahnungs- und erfolglosen internationalen Institutionen. Seine Putativnothilfe ist dafu¨r ein Beispiel. Max glaubt Jessies Hinweisen, dass sie in Lebensgefahr ist. In Wirklichkeit ziehen Drogenvater Herbert und -bruder Ross im Hintergrund die 11 12 13

Zeh (Fn. l), S. 156. Aristoteles, Nikomachische Ethik, l094b. Der Balkan verliert seine „high potentials“, seine Jugend, Zeh (Fn. 6), S. 55.

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Fa¨den so, dass Jessie, ihre nu¨tzliche Marionette, verschont bleibt. Es liegt also keine reale, sondern nur eine eingebildete Notwehr- bzw., aus der Sicht von Max, Nothilfelage vor: Putativnothilfe eben. Max legt ein Gewehr auf Shershah an; weil dieser sich schutzsuchend zu Boden wirft, wird er von einem Lastwagen u¨berfahren. In diesem Moment weiß niemand, was dieser Shershah wirklich war: Freund oder Feind, Bedrohung oder Hilfe, Opfer oder Ta¨ter. So selbstlos, so parsivalesk rein das Motiv von Max (Opferschutz und Liebe, unbewusst vielleicht aber auch der Wunsch, den Rivalen auszuschalten) auf den ersten Blick erscheint, so machtvoll das in Anschlag gebrachte Mittel (Schusswaffe) war – Motiv und Mittel vermo¨gen Jessies Selbstto¨tung nicht zu verhindern. Was von Max’ Engagement u¨brig bleibt, ist der folgenreiche Versuch letztlich grundloser, sinnfreier Gewalt: eine Anspielung auf das so aufwa¨ndige wie letztlich zielverfehlende Engagement der internationalen Gemeinschaft. Max personifiziert die Staatengemeinschaft, die auf dem Su¨dwestbalkan eingriff, um zu helfen – freilich in einer ho¨chst unu¨bersichtlichen Situation, in der Ta¨ter- und Opferrollen ineinander verschlungen und die Erfolgsaussichten ho¨chst unsicher sind. Auch ko¨nnten die Eingriffsmotive als egoistisch, die hochgreifenden Rechtfertigungsnarrative (Nothilfe, Notstand, Menschenrechts- und Minderheitenschutz) als interessenverhu¨llende Phrasen kritisiert werden. Letztlich geht es in den internationalen Interventionen in die postjugoslawischen Erbfolgekriege um die bekannte Spannung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, subjektivem Rechtsgefu¨hl und objektivem „law in the books“, positivem Recht und u¨berpositivem Naturrecht. „Adler und Engel“, eine Kaskade so versto¨render wie sprechender Bilder und Metaphern, ist die fiktionale Grundlage fu¨r unser Gespra¨ch u¨ber Gerechtigkeit, ihre Fiktionen und ihre Phrasen. Als „Rechtsordnung der die Vo¨lker als Organisationsform ihres politischen Seins erfassenden Staaten“14 verbietet das Vo¨lkerrecht Einmischung „in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zusta¨ndigkeit eines Staates geho¨ren“ (Art. 2 Nr. 7 UN-Charta). Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, wie etwa der Vo¨lkermord in Ruanda, sind vom „domain re´serve´“ nicht gedeckt. Insoweit begrenzen die Menschenrechte die Souvera¨nita¨t. Unabha¨ngig vom jeweiligen Landesrecht ist Genozid im Vo¨lkerrecht eine Straftat. Auch der Minderheitenschutz, zentral fu¨r das ethnische Leopardenfell des Balkans, ist vom Vo¨lkerrecht garantiert. 14

Ipsen, Vo¨lkerrecht, 5. Aufl., Mu¨nchen 2004, § 1 Rn. 5.

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Dies alles verdra¨ngt freilich nicht das in Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta niedergelegte Gewaltverbot.15 Staaten sind nicht zum unilateralen Einsatz von Waffengewalt befugt, egal welches Motiv hinter dem Engagement steht. Die etwaige „Gerechtigkeit“ eines Pra¨ventivkrieges oder einer Intervention hilft der Legitimita¨t auf, nicht aber der Legalita¨t. Die Doktrin vom gerechten Krieg ist tot. An ihre Stelle ist die formalisierte Rechtsfigur des gerechtfertigten Krieges getreten, das Prinzip also einer Gewaltanwendung, die nach vo¨lkerrechtlichen Regeln ausnahmsweise zula¨ssig ist.16 Letzteres kann lediglich in drei Fa¨llen gegeben sein: bei Zustimmung des Opfers („Intervention auf Einladung“), bei Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat („UN-Mandat“) oder bei Ausu¨bung des Rechts auf (individuelle oder kollektive) Selbstverteidigung. Keiner dieser drei Rechtfertigungsgru¨nde ließ sich zweifelsfrei bejahen, als der massive Nato-Einsatz das Friedensabkommen von Dayton (1995) herbei bombte – nach Vertreibungen, Massenmorden sowie „Kollateralscha¨den“ der Intervention und der tragisch erwiesenen Unfa¨higkeit der UNO, wenigstens ihre Schutzzone Srebrenica17 zu schu¨tzen. So musste „humanita¨re Intervention“ als juristischer Notnagel her.18 Mit dem Argument „Hilfe gegen weitere Kriegsverbrechen“ sollte die internationale Gewaltanwendung gerechtfertigt werden, erst recht spa¨ter, im Fall „Kosovo“. Wegen der epochalen Entscheidung der Vo¨lkerrechtsgemeinschaft fu¨r das Gewaltverbot und wegen der allen „humanita¨ren Interventionen“ innewohnenden Missbrauchs- und „Dammbruch“-Gefahren wird diese Art des Eingreifens von der herrschenden Vo¨lkerrechtslehre und u¨berwiegenden Staatenpraxis abgelehnt.19 Auch angesichts einer noch so brutalen Verletzung von Menschenrechten, ja selbst bei Vo¨lkermord ist eine nicht au15 Alle Staaten haben jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabha¨ngigkeit eines anderen Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der UNO unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu meiden. 16 Vgl. Talmon, Grenzen der „grenzenlosen Gerechtigkeit“, in: Wolfgang Ma¨rz (Hrsg.), An den Grenzen des Rechts, Berlin 2003, S. 10 l ff. (128 ff.). 17 Zeh (Fn. 6), S. 230: „Eine Schutzzone einrichten (…), sicheren Unterschlupf versprechen. Dann zulassen, dass die Stadt in wenigen Tagen leer gera¨umt wird. Achttausend Menschen vor den Augen der UNO-Soldaten geschlachtet.“ 18 Fu¨r die Nato-Angriffe auf Bosnien (zur Beendigung der „ethischen Sa¨uberungen“) schuf der UN-Sicherheitsrat eine gewisse Rechtsgrundlage: S/RES/836 (1993). 19 Nachweise Doehring, Vo¨lkerrecht, Heidelberg, 2. Aufl., 2004, Rn. 804, 1008 ff.

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torisierte Intervention nicht gerechtfertigt, so „unmoralisch“ diese dogmatisch-positivistische Position auch dem erscheinen mag, der um die horrenden Opferzahlen, etwa im Sudan („Vo¨lkermord auf Raten“), weiß. Hier stoßen wir erneut auf das Auseinanderklaffen von, auf der einen Seite, Rechtsgefu¨hl („das darf man doch nicht geschehen lassen!“), Moralita¨t („Unta¨tigkeit gegenu¨ber Massakern ist unmoralisch“), Naturrecht („wenn eine Million Menschen auf der Flucht sind, ist Passivita¨t Unrecht“) sowie Gerechtigkeit („die UNO muss laut ihrer Charta Bedingungen fu¨r Gerechtigkeit schaffen, also die Menschenrechte effektiv schu¨tzen“) und, auf der anderen Seite, dem kategorialen Gewaltverbot, dem Kernprinzip, der „Gesamtra¨son“ des modernen Vo¨lkerrechts. Eine Minderheit von Rechtslehrern20 versucht, den Gewaltopfern ein Notwehrrecht und ihren Helfern ein Nothilferecht einzura¨umen. Aber selbst im evidenten (Vertreibungs-, ja Genozid-)Fall „Kosovo“ drang die Nato mit ihrer Nothilfe-Argumentation21 letztlich nicht durch. Zeh referiert diesen zentralen Rechtfertigungsstreit, der auch eine Krise des Nachkriegs-Internationalismus und ihrer Institutionen (UNO, NATO, Europarat) markiert, ohne eigene Stellungnahme.22 Das ist zu bedauern. Gewiss, ein Buch, das zu beschreiben unternimmt, was fu¨r Bosnien „Gerechtigkeit“ ausmacht (oder ausmachen ko¨nnte), braucht keine positiven Vorschla¨ge daru¨ber zu machen, wie es besser, „gerechter“ gemacht werden ko¨nnte. Aber ein solches Werk sollte u¨ber aller Empathie das EthnienDilemma, das wirtschaftlich-soziale Chaos und das Rechtfertigungsnarrativ „Gewalt zur Gewaltbeendigung“ nicht unkommentiert ausblenden. Zwar schreibt Zeh, vor dem Bosnien-Krieg sei der interethnische „Hass […] wenig verwurzelt“ gewesen, ja die „ethnischen Differenzen [seien] nicht fu¨r den Krieg verantwortlich“ zu machen.23 Aber verwischt sie 20

Doehring (Fn. 19) za¨hlt zu dieser Minderheit; zuru¨ckhaltend Talmon (Fn. 16). 21 Die Gewalt gegen die Kosovo-Albaner war eine schwere Menschenrechtsverletzung. 22 Zeh (Fn. 6), S. 61: ,,,Sarajewo‘ ist ein verwirrender Kampf, bei dem man nicht weiß, wem die Daumen gedru¨ckt werden sollen.“ Ebd., S. 94 f.: „Seit Tagen gelingt es mir nicht mehr, das Bo¨se als Ausnahme von der Regel des Guten zu begreifen.“ 23 Ebd., S. 142 f. „Ich glaube nicht an ethnischen Hass vor dem Krieg … [Fast ha¨tte ich sogar] behauptet, Serben, Moslems und Kroaten seien eine Erfindung Westeuropas.“

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¨ ffnen ihres Visiers, nicht die Grenze zwihier, bei diesem allzu knappen O schen „fact“ und „fiction“, Tatbestand und Urteil, Meinen und Wissen? ¨ berzeugender ist Zehs Misstrauen gegenu¨ber großen, die verborgenen U Probleme verhu¨llenden Phrasen und luftigen dogmatischen Konstruktionen. Sie ertra¨gt die Spannungen und Polarita¨ten. Ohne sie zu gla¨tten, macht sie sie fruchtbar fu¨r ihr Gerechtigkeitsthema. Jagd auf Karadzˇic´? (…) Jeder weiß, wo er ist. In seinem Haus in Pale […]. Remember Milosˇevic´. Jahrelang heißt es, sie kriegen ihn nicht. Wenn er fa¨llig ist, wird er mit ein bisschen Hin und Her verhaftet. Bei sich zu Hause. Dann geht er nach Den Haag, dafu¨r kommt ein Milliardenkredit nach Belgrad. Vo¨lkerrecht. Die Kunst besteht darin, sich nicht aufzuregen.24

Zeh erwa¨hnt das quellenma¨ßig nicht belegte, erstickend „realpolitische“ Geru¨cht, die Sa¨uberung Srebrenicas sei abgesprochen gewesen zwischen Westma¨chten und Kriegsfu¨hrern, weil die Moslemstadt mitten in serbischem Gebiet lag. Sonst wa¨re der Friedensvertrag [von Dayton] nie unterzeichnet worden.25

Den ga¨ngigen Erkla¨rungen und tendenzio¨sen „Theorien“ gegenu¨ber erweist sich Zeh als verblu¨ffungsfest. Kritisch blickt sie mit ihrem „law and literature“-Wissen hinter kaschierende moralische Prinzipien, diplomatische Formeln und vo¨lkerrechtliche Floskeln. Einerseits war die „humanita¨re Intervention“ gegen die „ethnischen Sa¨uberungen“ mit dem Nie-wieder-Auschwitz-Argument gerechtfertigt worden (so Außenminister Fischer); andererseits hatten die intervenierenden Helfer ein Zuru¨ck zum multiethnischen Status quo ante – nach dem Schweigen der Waffen und Versiegen der Flu¨chtlingsstro¨me – nicht mit dem gebotenen Nachdruck gefordert: kein roll-back beim mo¨glich werdenden, von manchen erwu¨nschten regime change. Seit Dayton ist das „pazifizierte und demokratisierte“ Bosnien-Herzegowina geradezu narkotisiert und unvera¨ndert fragmentiert und blockiert. Jede der drei ehemaligen Kriegsparteien herrscht nun u¨ber ein ethnisch weitgehend mit Gewalt homogenisiertes Gebiet. Desintegrationswillen gibt es zumal bei den serbischen Bosniern. Deren nun „bosniaken- und kroatenfreier“ Gliedstaat „Republika Srpska“ mo¨chte sich am liebsten Serbien anschließen. Die humanita¨re Intervention hat das verbrecherische Vertreiben und Ausrotten beendet, gewiss. Aber hat sie Bedingungen fu¨r Gerechtigkeit geschaffen? 24 25

Ebd., S. 246. Ebd., S. 232.

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Auf der Makro-Ebene des universellen Vo¨lkerrechts, der internationalen Organisationen und der Nato bewegt sich Zeh mit Skepsis.26 Auf der Mikro-Ebene, dem konkreten Sein der Individuen und ihren gelegentlich auch interethnisch gelingenden Beziehungen, sind beide Zeh-Bu¨cher, allem geschilderten Elend, Verrohen und Missverstehen zum Trotz, latent optimistisch.27 Wird hier, auf dem so schicksalsdunklen wie u¨berlebenskra¨ftigen Balkan, gar der „europa¨ische Mensch“ geboren? Zeh, nicht ¨ berheblichkeit ebenso wie ohne Hoffnung, vermeidet intellektuelle U „abendla¨ndische“ Belehrung. Diese rechtskundige Autorin blickt auf das Nahe, Greifbare, auf das individuelle Tru¨mmer- wie das ba¨uerliche Getreidefeld, auf die Leichen in den Flu¨ssen, in den Ha¨usern – nie voyeuristisch, sondern stets empathisch, um der Opfer willen und zugleich zur eigenen Erkenntnis. Das Partikulare und Reale ist ihr Thema, das sie mit induktiver Methode verfolgt. Das Gera¨usch der Stille fasziniert Zeh, nicht das Dro¨hnen der Slogans und Waffen. Der globale „Zusammenprall der Kulturen“ (Samuel Huntington) wird ignoriert, ebenso Hans Wehbergs pazifistischinternationalistische „Organisation der Welt“. Zeh geht vorurteilsfrei ganz dicht, ja mikroskopisch genau an Personen, Dinge, Geru¨che und Geru¨chte heran, auf der Suche nach ihnen abzugewinnenden Aussagen.

II. Nun zu den nicht-fiktionalen Gerechtigkeitsfragen! Der international kontrollierte, sto¨rungsanfa¨llige Staatsaufbau am Rande Europas, der Horizont also der in den beiden Bu¨chern Zehs erza¨hlten Geschichten, wirft zwei „Gerechtigkeitsaspekte“ auf. Bei Zeh, die die u¨bergreifenden ethnischen Spannungen, „das ,Who is who‘ des Balkans“, weitgehend ausblendet, scheinen beide Aspekte nur indirekt auf. Zum einen geht es um das Etablieren einer „gerechten o¨ffentlichen Ordnung“, zum anderen darum,

26 Ebd., S. 79, 142 f.; zu Zehs Misstrauen gegenu¨ber der „international crowd“, der „Selbstsicherheit“ der „Balkanhelden“, der „Propaganda im Westen“. 27 Vgl. ebd., S. 44: „Das erste Detail, an dem ich mich festhalten kann, ist der Anblick eines Ma¨dchens, das sich im Gehen Kartoffelchips auf die weit herausgestreckte Zunge legt und in den Mund flitzen la¨sst.“

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¨ bergangsverwaltung der Herrschaft des Rechts und der die internationale U Gerechtigkeit („transitional justice“) zu unterwerfen.28 Wie organisiert man, erstens, Demokratie in einem Gemeinwesen, in dem neben diversen u¨belgelittenen Minderheiten drei Volksgruppen leben, die unterschiedlich große Anteile an der Gesamtbevo¨lkerung aufweisen und die, blutig miteinander verfeindet, je nach Partizipationsregelung „Blockade!“ oder „Mehrheitstyrannei!“ rufen? Das Westminster-Modell der Demokratie, „the winner takes it all“, setzt, um den Willen der Majorita¨t derart pra¨mieren zu ko¨nnen, weitgehende Homogenita¨t des Staatsvolkes voraus, mit der Chance fu¨r die Minderheit zur Mehrheit zu werden. Auf das heterogene, stark zerfallsgefa¨hrdete Drei-Ethnien-Gebilde BosnienHerzegowina passt jenes Demokratie-Modell offensichtlich allenfalls nach sehr massiven Modifikationen. Ist eine Volksgruppendemokratie ¨ berrepra¨sentation einzelner Ethnien und ohne Vetorecht ohne latente U einzelner Minderheiten u¨berhaupt denk- und machbar? Beantwortete also eine ethnienkonforme Demokratie die Gerechtigkeitsfrage? Wie intensiviert man, zweitens, die Rechts- und Gerechtigkeitskontrolle bezu¨glich des Handelns der internationalen Gemeinschaft bzw. ihrer Re¨ berpru¨fung und pra¨sentanten? Ist eine unabha¨ngige und zugleich „faire“ U effektive Durchsetzung u¨berhaupt mo¨glich, wenn wesentliche Aufgaben nicht durch heimische Organe, sondern durch machtvolle fremde Wirkungseinheiten (UNO, Weltbankgruppe, Nato, EU/EG, OSZE, Europarat) wahrgenommen werden, wenn also ein Land unter einer Art Co-Administration aus nationalen und internationalen Elementen steht? Gewiss, auch die Vertreter der Staatengemeinschaft, einschließlich des ubiquita¨ren Milita¨rs (SFOR), sind bei ihrer „peace-keeping operation“ der „dritten Generation“ der Herrschaft des Rechts unterworfen. Der viel zitierte augustinische Satz: „Was sind schließlich Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Ra¨uberbanden?“ gilt natu¨rlich auch fu¨r diese Organwalter. Kein „Internationaler“, kein „ex-pat“, operiert in einem rechtsindifferenten Arkanum, auch nicht der kompetenzstarke Hohe Repra¨sentant der internationalen Gemeinschaft, der, Zusatzgesetzgeber und -regierung in einem, fast wie ein absoluter Herrscher eine Art von Vormundschaftsregime fu¨hren kann (seine Kompetenzen aber selten ausscho¨pft). Aber durch wen und mit welcher Konsequenz werden gegenu¨ber diesen milita¨rischen Potenzen 28 Wolfgang Graf Vitzthum/Ingo Winkelmann (Hrsg.), Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas, Berlin, 2003.

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und zivilen Potentaten die entsprechenden Kontrollstandards gesetzt und wie werden sie durchgesetzt? Quis iudicabit? Der hochkomplexe Gesellschafts- und Staatsaufbau in Bosnien-Herzegowina la¨sst sich hier nicht nachzeichnen. Zu konstatieren ist nur, dass, bezogen auf die erste der beiden Gerechtigkeitsfragen, in dem Kleinstaat von 4 Mio. Einwohnern keine faire Demokratie herrscht, sondern eine preka¨re Ethnokratie. So werden die Abgeordneten der beiden „Vo¨lkerkammern“ in diesem Zwillings-Bundesstaat im Unterschied zu denen der Volksvertretungen delegiert (von den jeweiligen Volksvertretungen bzw. Kantonsparlamenten), also nicht unmittelbar vom Volk gewa¨hlt. Nach einem a¨hnlichen Schema beschickten fru¨her, vor der Direktwahl des Europa¨ischen Parlaments, die Mitgliedstaaten der EWG die Europa¨ische Parlamentarische Versammlung. Demokratiedefizit des institutionellen Europas lautete damals das Verdikt. In Bosnien war dieses ethnozentrierte Repra¨sentationsmodell bisher auch einer „good governance“ abtra¨glich; vo¨lkisch ist nie gut. Das personell aufgebla¨hte, kompetentiell blockierte, volksgruppenfixierte bosnisch-herzegowinische Regierungssystem ist auch finanziell untragbar. Die Verwaltung allein verschlingt 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.29 Die Durchsetzung von ethnischen Mindestbeteiligungen in den Regierungen und Bu¨rokratien und die Einrichtung von Volksgruppenra¨ten und Vo¨lkerkammern personalisieren, perpetuieren und petrifizieren die heillose Ethnisierung. Orientiert man sich am Standard demokratischer Verfassungsstaaten, sind die mehrheitsdemokratischen Kosten im ethnisch verfassten Bosni¨ berrepra¨sentation en-Herzegowina zu hoch. Auf Dauer ist schon die U der serbisch-bosnischen Volksgruppe inakzeptabel. Das Ignorieren faktischer Ungleichheiten macht das Volksgruppenschema ungerecht.30 Daru¨ber hinaus hemmt es die Entfaltung einer aktiven, gestaltungswilligen Zi29 Entscheidungen des Verfassungsgerichts und Dekrete des Hohen Vertreters der Staatengemeinschaft versta¨rkten die vo¨lkische Pra¨dominanz, also die nahezu gleichberechtigte Beteiligung der Hauptethnien an Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung. Politisch relevante Posten werden nach vo¨lkischem Proporz vergeben. Der ethnische Schlu¨ssel ist schon sachlich angreifbar – lassen sich die Volksgruppen angesichts der Mischehen wirklich deutlich unterscheiden? 30 Wirklichkeitsferne und Ungerechtigkeit schwa¨chen die normative Kraft des Rechts. Mangels zentraler Durchsetzungsinstanz ist das Vo¨lkerrecht auf „Wirklichkeitsna¨he“ besonders angewiesen. Vorerst „funktioniert“ Demokratie in Bosnien nur ethnokratisch kanalisiert und protektoratsa¨hnlich temperiert: kein transethnisches „Konkordieren“.

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vilgesellschaft. Schon Platon, Aristoteles, Althusius, Montesquieu und Hegel schien eine staatsbu¨rgerliche Gesinnung unentbehrlich fu¨r den Staat. Fu¨r soziale Homogenita¨t und politisch-kulturelle Stabilita¨t als Voraussetzungen fu¨r ein demokratisches Gemeinschaftsleben interessiert sich das „Fahrtenbuch“ freilich wenig. Staat und Gesellschaft, Demokratie und Fo¨deralismus sind kein zentrales Thema der jungen Bosnienreisenden. Nun zur zweiten Gerechtigkeitsfrage, der nach der Rechtskontrolle der „Internationalen“. Das oktroyierende Einwirken der Staatengemeinschaft in Bosnien ist auf allen Regierungs- und Normierungsebenen zu spu¨ren.31 Der Hohe Repra¨sentant setzt seine Machtfu¨lle – manchmal geballt, ein andermal freilich nicht – vor allem in Personaldingen ein. Selbst Mitglieder des gewa¨hlten Staatspra¨sidiums hat dieser prokonsularische Vizeko¨nig abgesetzt. Umso u¨berraschender ist die Tatsache, dass er wie die u¨brigen „Internationalen“ bisher nicht einer hinreichend ausgestalteten und nicht nur halbherzig wahrgenommenen rechtlichen Kontrolle unterliegt. Die weiten Eingriffsbefugnisse der Vo¨lkerrechtsgemeinschaft sind nicht exakt definiert. Ihr Einsatz ist jeweils schwer vorauszusehen. Natu¨rlich sind auch alle Vertreter der internationalen Gemeinschaft an „Gesetz und Recht“ gebunden, an die „rule of law“, an die UN-Charta mit ihrer Verpflichtung auf Recht und Gerechtigkeit und an die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen. Weitere Maßsta¨be sind die universellen Menschenrechtspakte und -standards, die EMRK sowie das IGH-Statut mit seinem Verweis auf die allgemeinen Rechtsgrundsa¨tze als eine Rechtsquelle des Vo¨lkerrechts. Aber welche internationale Institution soll diese Maßsta¨be anlegen, welche die „Internationalen“ gegebenenfalls zur Verantwortung ziehen;32 notfalls das Verfassungsgericht des Landes, in dem die „Internationalen“ ta¨tig sind? Wie wa¨re die Richterbank dann zusammenzusetzen, wie wa¨ren ihre Entscheidungen zu vollstrecken? Ich breche hier ab. Weder fu¨r jenen multiethnischen Demokratie-, noch fu¨r diesen internationalen Kontrollaspekt der doppelten bosnischen Gerechtigkeitsfrage hat sich bisher eine u¨berzeugende Antwort gefunden. So bleibt es auch bezu¨glich des speziellen Gerechtigkeitsthemas vorerst bei der generellen Aussage von Rudolf Smend: „Im Staate geht es immer 31

Negative Nebenerscheinungen: Zersto¨rung lokaler Gehaltsstrukturen, Prostitution, Korruption, Alimentationsmentalita¨t, Bu¨rokratisierungstendenzen, Passivita¨t. 32 Diese Aufgabe stellt sich auch im Kosovo, einer faktischen „UNO-Kolonie“.

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nur mit Ach und Krach.“ Vielleicht setzt sich Zeh in einem ihrer na¨chsten Bu¨cher, sie versteht sich ja als „politische Schriftstellerin“, mit diesen Aspekten auseinander? Zum literarischen Ausblenden, wie bisher, sind sie auf Dauer zu zentral. Fu¨r die politische Kultur und rechtsstaatlich-demokratische Zukunft sind diese Gerechtigkeitsthemen geradezu existenziell, u¨ber Bosnien-Herzegowinas hinaus: ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit, Frieden als Frucht der Gerechtigkeit.

III. Schriftstellerin und Spitzenjuristin in Personalunion, eine Autorin, die ihrem Schreiben ganz unbefangen eine „politische Rolle“ zumisst33 – lassen sich, mein dritter, letzter Punkt, den „Bildern vom Balkan“ generalisierbare Aussagen zum Thema „Poetik und Politik“ bzw. „law and literature“ entnehmen? 34 Dazu fu¨nf abschließende Beobachtungen. Zeh unterzieht, erstens, das ungewo¨hnliche Gebilde „Bosnien-Herzegowina“, „dieses winzige Muttermal auf dem Erdko¨rper“35, eigenem Augenschein, ohne vorgefasste Meinung und ohne rosa Brille: eine ertragreiche empirische Befundnahme. Zeh bildet ihr Sujet ohne Schaum vor dem Mund ab, anschaulich, fair, direkt, ohne Karl-May-Balkanromantik: durch ganz nahes Heranholen der Personen und Gegensta¨nde, nicht durch A¨sthetisieren oder Perhorreszieren der Wirklichkeit: Perzeptionsgerechtigkeit auch „in politicis“, ohne politisch-korrekte Selbstgerechtigkeit oder mitteleuropa¨ische Besserwisserei. [Mit] eigenen Augen sehe ich [die Ich-Erza¨hlerin], was man den Schnittpunkt europa¨ischer Kulturen, die Grenze zwischen Morgen- und Abendland, den Vielvo¨lkerstaat nennt. „Plopp“ macht es, als die Wirklichkeit andockt an den Begriffen.36

Zeh entwirft, zweite Beobachtung, keine „Lo¨sung“ fu¨r Bosnien, keine politisch-literarische Multi-Kulti-Vision, keine abstrakten Zuku¨nfte fu¨r den Su¨dwestbalkan. Wichtiger ist ihr, und das ist wohl mit dem Medium der Literatur auch am ehesten zu leisten, die Destruktion von internatio33 34 35 36

Zeh (Fn. 2). Diese Autorenrolle kann in „Zeiten der Wirren“ besonders orientierend sein. Zeh (Fn. 6), S. 52. Das Land ist kaum gro¨ßer als Hessen. Ebd., S. 67.

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nalem Diplomatenkitsch und nationalem Gewaltmythos.37 Politik als ka¨mpferische Unterscheidung von Freund und Feind, als die Vernichtung des Gegners als Feind38 – das ist Zeh fremd, ja zuwider. Das Bosnien ihres „Fahrtenbuches“ hat Zu¨ge einer landschaftlich oder kulturell herb-scho¨nen (geradezu vormodernen) Idylle, teils aber auch Zu¨ge einer politisch-pa¨dagogischen Provinz, reich an u¨berraschenden Lektionen. Fu¨r die „aufgekla¨rte Diktatur“ (Thomas Mann) der „internationals“ u¨ber das kleine, sich selbst im Wege stehende Land hat Zeh, drittens, sehr wenig Sympathie. Keine einzige internationale Regierungs- oder Nichtregierungsorganisation kommt gut weg. Zeh macht freilich auch hier keine positiven Vorschla¨ge. Sie benennt keine Alternative, es sei ¨ berlebenswillen denn, dass sie in dem in seinem Facettenreichtum und U als letztlich „sympathisch“ erlebten „Volk“ eine solche sieht. Also Volksselbstherrschaft, Volksherrschaft ohne Staat? Nein, unsere Autorin vergleicht die Lage nicht mit bereits Erdachtem oder Erfahrenem. Sie liefert keine Modelle, keine hoch greifenden Konzepte aus staatsrechtlichen Seminaren; von diesen gibt es bereits, besonders fu¨r den Balkan, eine große Zahl. Zeh ist nicht das Gestalten, sondern das Miterleben entscheidend, der unmittelbare Kontakt mit den Menschen, mit ihrem Umfeld, ihren Lebensbedingungen, ihrem Erinnerungs- und Existenzkampf, ihrem Versuch, die Bilder vom Gemetzel des Krieges von 1992 – 1995 zu ba¨ndigen. Diese unbekannte, schwer zu durchdringende Dimension, einschließlich der Leere, will Zeh erfassen, verstehen, mitteilen. Das ist der Versuch, der Stille ihr Gera¨usch – Todesschreie wie Schreie der Lust – abzulauschen: das Gegenteil von Gegenwarts- und Wirklichkeitsflucht. In der fernen bosnischen Andersartigkeit la¨sst Zeh uns unserer hautnahen Eigenartigkeit gewahr werden. Zeh ist, vierte Beobachtung, eine deutsche Autorin neuen Typs. In Deutschland39 hat es an faustischem oder fernstenliebendem Schweifen, an abgeschotteter Innerlichkeit und deduktivem Urteilen aus „sicherer“ Distanz nie gefehlt. Mangelware blieb der Wille zum Detail, die Auseinandersetzung mit den Tatsachen, mit den Voraussetzungen von Humanita¨t 37

Etwa die „Ethnizita¨t“ als Kriegsursache, die „Effizienz“ und „Neutralita¨t“ der Organe der Internationalen Gemeinschaft (OHR, SFOR, OSZE, UNHCR). 38 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1929. 39 Das Verha¨ltnis Politik/Literatur spiegelt auch unsere staatsbezogenen Probleme.

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und Demokratie, mit den Bedingungen der Mo¨glichkeit einer gerechten staatlich-gesellschaftlichen Ordnung. Schiller hat niemals den Balkan bereist, Kant kam nur bis Ko¨nigsberg. Von Ku¨nstlern und Dichtern weitgehend unbetreten blieb das Reich der Notwendigkeit.40 „Politische“ Schriftsteller mo¨gen sich an der Realita¨t stoßen; ignorieren du¨rfen sie sie nicht: ohne Tatsachenkenntnis kein gestaltendes Denken. Andernfalls werden die Autoren außerhalb der Bu¨cherstuben und Seminare nicht ernst genommen, obgleich das, was sie bei zureichender Wirklichkeitswahrnehmung zu sagen ha¨tten, wichtig, ja, wie eine fru¨hzeitige Erdbebenwarnung, womo¨glich lebensrettend wa¨re. Zeh hat genau hingeschaut und angeho¨rt, hat Blindheit und bloßes hearsay vermieden. Das gibt ihren desillusionierenden Metaphern und bilderbeladenen Beschreibungen gerechtigkeitspolitische Bedeutung. Zum Fu¨nften und Letzten: Rasch a¨ndert sich die Konfiguration der europa¨ischen Staatenwelt. Der Einzelstaat ist dabei, in einem gro¨ßeren Verbund aufzugehen, fast wie ein Stu¨ck Zucker in einer Tasse Kaffee. Wie aber soll Europa ohne seine traditionelle Radizierung den zentrifugalen Kra¨ften auf Dauer widerstehen, wie im Streit der Welt bestehen? Der Wald hat keine Wurzeln, nur die Ba¨ume haben sie.41 Was ko¨nnen Schriftsteller dazu beitragen, dass die Vision eines gerechten Europas – eines Gebildes, in dem die Gespenster des Vo¨lkischen und des Nationalistischen im Hegelschen Sinn „aufgehoben“ sind – ihrerseits bildhaft Symbolcharakter und damit politische Realita¨t gewinnt? Hier setzen wir auf Juli Zehs analytische und erza¨hlerische Kraft, auf, wie sie im „Fahrtenbuch“ bekennt, ihren „Traum von Europa, mit dem es [ihr] ernst ist“.42 Ein gerechtes Europa bewa¨hrt sich nicht nur in seinen technischen Funktionen. Es stellt sich vielmehr seiner Geschichte, seiner politisch-kulturellen Agenda. Mit wortgewordenen Bildern zeichnet Zeh den Balkan und seine Menschen. In der Abneigung gegen große Worte, neoromantische Phrasen und ausgelutschte Idealismen ist Zeh eine Verbal-Gefa¨hrtin des tatsachenaffinen Gottfried Benn, der sich seinerseits auf Kierkegaard und Nietzsche 40 Die Dichtung hat das Staatliche in der alten Bundesrepublik Deutschland so selten thematisiert wie dies die Staatsrechtslehre selbst tat. Die Wiederentdeckung des Staates als Handlungseinheit und Garanten der Gerechtigkeit steht an. 41 Der Staat ist, l’E´tat-est-mort-Thesen zum Trotz, unentbehrlich. Er kann die Kluft u¨berbru¨cken zwischen verortetem Einzelnen und entgrenzter Weltgesellschaft. 42 Zeh (Fn. 6), S. 170.

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bezog. Zeh, ein ganz eigensta¨ndiges Kind des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sucht die Stille im Gera¨usch, die Menschen in der Landschaft – mit radikal-skeptischem Wirklichkeitssinn, im Horizont der postjugoslawischen Erbfolgekriege. So weisen „Fahrtenbuch“ und „Adler und Engel“ u¨ber ihren Personen-, Farben- und Klangreichtum hinaus auf die gerade erst begonnene Suche nach einer gerechten Ordnung fu¨r Bosnien.

Le cinquie`me commandement et le droit au tyrannicide* Fin novembre 1943, le lieutenant-colonel Claus Schenk von Stauffenberg eut un entretien avec le capitaine Axel von dem Bussche.1 Ce dernier s’e´tait de´ja`, en accord avec les conjure´s, de´clare´ preˆt, au prix de sa vie, a` tuer Hitler. Depuis le 1er octobre 1943 chef d’e´tat-major aupre`s du commandement des forces de re´serve a` Berlin, Stauffenberg e´tait e´troitement implique´ dans les pre´paratifs de l’attentat et du coup d’E´tat. Ce jeune officier de 36 ans expliqua a` Bussche que tuer un tyran e´tait une taˆche plus facile pour un catholique. Bussche re´pondit que la religion luthe´rienne, elle aussi, permettait d’e´liminer les tyrans. Stauffenberg mentionna le serment du soldat ; Bussche re´pliqua que ce serment reposait sur une fide´lite´ re´ciproque, qu’il avait e´te´ rompu par Hitler et n’e´tait donc plus valable. Depuis le de´but de l’e´te´ 1942, Stauffenberg e´tait membre du groupe de Re´sistance le plus important, compose´ de quelques dizaines de militaires et de civils. A` cette e´poque, Stauffenberg conside´rait que la guerre n’e´tait pas encore perdue. Pour mettre un terme aux crimes de guerre, aux massacres collectifs et aux meurtres racistes, les Re´sistants voulaient tuer le tyran et renverser le re´gime nazi. Mi-de´cembre 1943, Stauffenberg expliqua au commandant Ludwig von Leonrod que le Fu¨hrer n’e´tait plus « supportable » et devait eˆtre « e´limine´ ». Que dans l’actuelle « situation de´sespe´re´e » dans laquelle se trouvait l’Allemagne, le serment de fide´lite´ au drapeau n’e´tait plus valable. Que, en tant * Dans : Grenzu¨berschreitendes Recht – Crossing Frontiers. FS Kay Hailbronner, e´ds. Georg Jochum/Wolfgang Fritzemayer/Marcel Kau, Heidelberg 2013, C. F. Mu¨ller, pp. 663 – 671. 1 ` A consulter, pour les re´fe´rences et les de´tails supple´mentaires : Wolfgang Graf Vitzthum, Stauffenberg. Zur Rechtfertigung von Eidbrauch und Tyrannenmord, dans : Coexistence, Cooperation and Solidarity. Liber Amicorum Ru¨diger Wolfrum, e´ds. Holger P. Hestermeyer et al., Leiden/Boston 2012, pp. 2145 – 2163 ; Rudolph-Christoph von Gersdorff, Tuer Hitler. Confession d’un officier allemand antinazi, Paris 2012 ; Jean-Paul Picaper, Ope´ration Walkyrie. Stauffenberg et la ve´ritable histoire de l’attentat contre Hitler, Paris 2009 ; Gilbert Badia, Ces Allemands qui ont affronte´ Hitler, Paris 2000 ; Joseph Rovan, Le « non » allemand a` Hitler. Multiplicite´ et unite´, Commentaire 67 (1994), pp. 555 – 566.

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que « catholique fervent », Leonrod avait meˆme « le devoir d’agir malgre´ ce serment ». Ces discussions concernant le droit au tyrannicide e´taient, d’abord dans une perspective the´ologique et morale, l’objet d’entretiens entre jeunes gens qui avaient ve´cu l’e´chec de la Re´publique de Weimar et surve´cu a` la violence du re´gime nazi et a` la guerre. Alors que Bussche, dont la participation a` la Re´sistance n’avait pas e´te´ de´couverte, Stauffenberg, Leonrod et plus d’une centaine d’autres conjure´s furent, apre`s l’e´chec du soule`vement du 20 juillet 1944, exe´cute´s. La question du droit au tyrannicide, abondamment de´battue depuis l’Antiquite´, par les philosophes, les the´ologiens et les historiographes, sera au centre de notre re´flexion. Le « parjure » de Stauffenberg, ainsi que sa tentative d’assassinat du commandant supreˆme et sa tentative de coup d’E´tat, en pleine guerre, alors que son propre peuple combattait a` la vie a` la mort, ces deux actes e´taient-ils justifie´s ? Dans ce cas, sur quelle base juridique, formalise´e ou non formalise´e ? Cette action, qui s’opposait par la violence a` un re´gime de violence, e´tait-elle, comme l’exprimait le philosophe du droit Arthur Kaufmann dans les anne´es 90, « contraire au droit, tout en e´tant hautement morale » ? Pour re´pondre a` ces questions, il convient d’abord d’examiner les notions de serment du soldat (chapitre A.), ensuite de tyrannicide, cette dernie`re dans une perspective the´ologique et morale (chapitre B.) et juridique (chapitre C.). A` ces questions, les Re´sistants, qui agissaient, pour la plupart, au nom de valeurs chre´tiennes, patriotiques et conservatrices, accordaient une grande importance. S’ensuivront des re´flexions dicte´es par deux points de vue emprunte´s au droit international public actuel (chapitre D.). Les questions fondamentales ont e´te´ si abondamment analyse´es au cours des sie`cles que re´ponse et remarque finale (chapitre E.) seront bre`ves.

A. Le jour meˆme de la mort du Pre´sident du Reich, Paul von Hindenburg, le 2 aouˆt 1934, le ministre de la Reichswehr, le ge´ne´ral Werner von Blomberg, demanda a` la Wehrmacht de renouveler le serment de fide´lite´ au drapeau. Le nouveau serment du soldat fut, en fait, un serment de fide´lite´ a` la personne du Fu¨hrer : « Je jure par Dieu et prononce le serment sacre´ que je veux preˆter obe´issance absolue au Fu¨hrer du Reich et du peuple allemand, Adolf Hitler, commandant supreˆme de la Wehrmacht, et, en soldat coura-

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geux, suis preˆt a` sacrifier ma vie a` la fide´lite´ a` ce serment. » Pour des raisons morales et a` cause de traditions religieuses et militaires, les officiers et les soldats allemands se sentaient engage´s par ce serment. Les juristes et les the´ologiens de l’e´poque ne firent entendre aucune voix contraire. Juridiquement, cet engagement sur l’honneur ne pouvait eˆtre contraignant que s’il e´tait conforme au droit. En fait, il n’e´tait le´gal tout au plus qu’en apparence. Mate´riellement, le serment de fide´lite´ a` la personne meˆme du Fu¨hrer, e´tait contraire au droit. La prestation de serment eut lieu dans le contexte de la « Loi sur le chef du Deutsches Reich ». Adopte´e la veille par le gouvernement, le 1er aouˆt 1934, cette loi re´unissait d’une part la fonction de Pre´sident du Reich et de commandant supreˆme de la Wehrmacht, d’autre part celle de Fu¨hrer et de chancelier du Reich, re´alisant ainsi le Fu¨hrerstaat, c’est-a`-dire la concentration de tous les pouvoirs dans les mains d’un seul. Cette fusion des pouvoirs contredisait, entre autres, l’article 2 de la « Loi de pleins pouvoirs » du 24 mars 1933, qui pre´voyait au moins un minimum de partage des fonctions et des organes d’E´tat. Avec ce cumul, les ordres du Fu¨hrer, non soumis aux conditions de forme et sans re´fe´rence a` aucune source juridique supe´rieure, devinrent les instruments de´cisifs du pouvoir, utilise´s par une main despotique. Le tyrannicide et le coup d’E´tat (ou bien la de´faite militaire du Reich) e´taient, dans ce syste`me de non-droit, la seule possibilite´ de re´cupe´rer l’E´tat de droit, y compris la se´paration et le controˆle des pouvoirs, ainsi que la protection des droits fondamentaux. Sous un re´gime de nondroit, la re´sistance, qui a pour but le re´tablissement du droit, n’est pas ille´gale. Qu’une de´mocratie caracte´rise´e par le roˆle de´cisif des partis politiques, par le re´gime parlementaire et par le pluralisme et le libe´ralisme de la socie´te´, n’ait pas e´te´ le but auquel les conjure´s tenaient le plus, ne change rien a` la chose. Ce qui e´tait le plus cher au cœur de Stauffenberg et de ses camarades dans la Re´sistance, c’e´tait de restaurer l’E´tat de droit dans leur patrie. A` la promesse du soldat qui preˆtait serment, ne correspondait aucune garantie de fide´lite´ et d’assistance de la part du Fu¨hrer qui imposait le serment. Celui-ci recevait en quelque sorte un che`que en blanc. Il y manquait l’essentiel du serment, c’est-a`-dire la syme´trie et la structure synallagmatique des promesses, autrement dit la re´ciprocite´ des promesses : promesse d’obe´issance comme conse´quence de promesse de fide´lite´ et d’assistance. « L’obe´issance absolue », par contre – a` bon droit encore jamais exige´e –, donne tout pouvoir a` celui a` qui le serment est preˆte´. Cette promesse uni-

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late´rale et inconditionnelle est nulle. Elle n’engage celui qui exige le serment a` rien du tout. Par contre, elle engage celui qui preˆte serment, pour le meilleur et pour le pire, a` une obe´issance entie`re et aveugle, a` une obligation immorale et illicite : celle d’obe´ir aux ordres comme un automate. En outre, le serment de 1934 avait e´te´ preˆte´ au chef de l’E´tat en tant que gardien du droit et de la Constitution. En tant que chef d’une bande de criminels, Hitler a rompu le serment. Stauffenberg pouvait donc se libe´rer d’un serment nul sans commettre d’infraction ni contre le droit ni contre la morale. La voie e´tait libre. Pour l’attentat et le coup d’E´tat, le serment ne constituait aucune barrie`re. La plupart des officiers de la Wehrmacht, qui reconnurent plus tard que Hitler avait utilise´ le serment comme un simple instrument de soumission, eurent quand meˆme beaucoup de mal a` se libe´rer de la force contraignante du serment, qui avait une longue tradition, d’autant plus que le re´gime l’avait utilise´ a` des fins de propagande. Le fait de lier le serment a` l’obe´issance, la fide´lite´ et la saintete´ laissait supposer que l’ide´ologie nazie e´tait l’he´ritie`re de ces valeurs. A` noter aussi l’invocation a` Dieu. Apre`s avoir, pendant des sie`cles, donne´ une dimension fortement religieuse au serment de fide´lite´ au drapeau, la Constitution de Weimar, en 1919, avait introduit une formule de serment de´gage´e de toute connotation religieuse. Pour les national-socialistes, hostiles a` l’e´glise, et pour les chefs politise´s de la Wehrmacht, l’enjeu n’e´tait naturellement pas, en 1934, une renaissance de l’influence de l’e´glise. Avant tout, il y avait l’ide´e qu’un serment « sacre´ » invoquant « Dieu » engageait tout spe´cialement. La re´fe´rence a` Dieu et a` la saintete´ devait aussi de´le´gitimer toute re´sistance. Ceux qui, comme Bussche, Gersdorff, Oster, Stauffenberg et Tresckow, avaient e´te´ tre`s toˆt lucides, se libe´re`rent plus facilement et plus radicalement du lien que constituait un serment pseudo religieux et, en fin de compte, antichre´tien. Pour se libe´rer de ce lien « sacre », il e´tait ne´cessaire de faire une analyse de fond de l’essentiel du re´gime de non-droit. L’E´tat SS e´tait un re´seau serre´ de camps de concentration, un re´gime caracte´rise´ par la perse´cution brutale des Juifs, par les meurtres commis en Europe de l’est et par la mort de centaines de milliers de prisonniers de l’Arme´e Rouge, tous morts de faim. Les conjure´s discute`rent, au de´but de la Deuxie`me guerre mondiale, de la question des « limites du serment du soldat », a` la lumie`re des the`mes plus vastes du « droit a` la re´sistance » et de la « justification du tyrannicide et du coup d’E´tat ». Il convient maintenant d’examiner ces proble`mes dans une perspective d’abord morale et the´ologique, puis juridique.

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B. En automne 1951, le the´ologien catholique Rupert Angermair de´clarait que « le 20 juillet 1944 », du fait que le re´gime nazi avait compromis l’inte´reˆt ge´ne´ral tel que Dieu l’avait voulu, avait e´te´ un acte de le´gitime de´fense. Que, d’un point de vue the´ologique, un tyrannicide pouvait eˆtre le´gitime lorsqu’il s’agissait d’un acte de de´fense pour le bien de la communaute´ entie`re. Que, de´passant l’inte´reˆt individuel, un tel acte de de´fense e´tait licite, « quand la situation de crise arrive a` un tel point critique que la substance meˆme du peuple semble eˆtre ve´ritablement menace´e de destruction. Sous de multiples aspects, en 1944, l’ultima ratio e´tait fournie ; il ne restait plus que cette toute dernie`re possibilite´ (le tyrannicide), si l’on voulait encore sauver le peuple. » A` la meˆme e´poque, les the´ologiens protestants donnaient de semblables re´ponses a` la question du tyrannicide. Meˆme Luther, disaient-ils, bien connu pour son obe´issance envers les Princes et pour son refus cate´gorique de toute re´sistance violente, avait conside´re´ que le tyrannicide e´tait un acte qui, dans certains cas extreˆmes, e´tait le´gitime : « lorsque le Prince devient fou ». Le protestant Bussche avait de´ja`, dans l’entretien avec le catholique Stauffenberg, que nous avons mentionne´ au de´but, e´voque´ ce cas d’exception. Selon les spe´cialistes du protestantisme, il serait meˆme question, chez certains re´formateurs, du devoir « d’utiliser tous les moyens pour maintenir au moins un reste de le´galite´ et d’ordre public dans le monde ». Leur argumentation est la suivante : en cas de hold-up, par exemple, le citoyen chre´tien intervient en tant que membre de la communaute´ temporelle fonde´e sur le droit ; en cas d’empeˆchement ou de faillite de la part de ceux dont cela aurait duˆ eˆtre la taˆche, le citoyen chre´tien assume, a` leur place, leurs fonctions ; de meˆme, dans le IIIe Reich, un ge´ne´ral, parvenu a` la conviction que les repre´sentants bellicistes de l’E´tat e´taient une bande de criminels, « aurait sagement agi », disent-ils, « s’il les avait e´limine´s et ainsi empeˆche´ la guerre ». D’apre`s l’argumentation luthe´rienne, une autorite´ publique qui tente de faire e´chec a` l’obe´issance a` Dieu, devient un tyran sans aucune autorite´ publique. Face a` un tel criminel, comme face a` un brigand de grands chemins, la re´sistance est le´gitime. Si l’E´tat devient une beˆte sauvage, les de´tenteurs de l’autorite´ publique, par exemple les cadres militaires supe´rieurs – c’e´tait aussi la conviction de Stauffenberg, maintes fois exprime´e –, ont le « devoir de maintenir l’E´tat, tel que Dieu l’a voulu, et ainsi de sauver leur peuple mis en pe´ril par la perversion de l’E´tat ». Ces « ephores » doivent

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« e´liminer cette beˆte fe´roce et recre´er une situation digne de l’homme, respectueuse des principes ge´ne´raux du droit. » Du point de vue the´ologique et moral, les repre´sentants des deux confessions chre´tiennes confirment donc, dans les anne´es 50, la position de Stauffenberg au de´but de l’hiver 1943, selon laquelle la tentative de tyrannicide, dans ce contexte de situation critique extreˆme, e´tait justifie´e, probablement meˆme s’imposait. Pour les conjure´s, l’enjeu e´tait exclusivement le droit, l’E´tat de droit, et non la satisfaction d’ambitions personnelles. En violant le commandement, « Tu ne tueras point », Stauffenberg agissait avec l’intention et la certitude de servir l’inte´reˆt ge´ne´ral. Il pouvait eˆtre assure que son action e´tait conforme a` l’e´thique et donc le´gitime. Mais qu’en est-il du point de vue juridique ? Meˆme si, pour une grande part, celui-ci recoupe le point de vue the´ologique et moral, la question de la le´galite´ me´rite d’eˆtre examine´e a` part.

C. Dans la longue histoire du droit a` la re´sistance, riche de points de vue divers, on peut de´gager quatre crite`res permettant de justifier la re´sistance a` un syste`me despotique. Le droit a` la re´sistance doit, premie`rement, eˆtre un droit de le´gitime de´fense au service de la communaute´ entie`re, et e´galement des minorite´s menace´es d’e´limination, face a` une autorite´ criminelle dont l’exercice du pouvoir met en pe´ril l’existence meˆme du peuple. La re´sistance par la violence suppose, pour eˆtre le´gale – deuxie`me condition –, qu’il y ait un manifeste et intole´rable abus de pouvoir de la part de l’autorite´ de l’E´tat. La politique mene´e par cette autorite´ doit eˆtre une atteinte e´vidente porte´e a` l’inte´reˆt ge´ne´ral et, par la`, aux droits fondamentaux et aux droits de l’hornme les plus essentiels. Troisie`mement, il est ne´cessaire, comme toujours en droit, de respecter le principe de proportionnalite´. Les moyens utilise´s doivent eˆtre dans une relation ade´quate avec le but le´gitime que l’on veut atteindre. La quatrie`me condition est qu’il faut eˆtre muˆ par une croyance solide en la re´ussite de son action. Les actions qui, de`s le de´but, ne sont pas porte´es par un espoir re´el d’ame´liorer les situations, ne sont – dans la mesure ou` elles aggravent le mal – pas permises. C’est pourquoi, les re´sistants doivent avoir la capacite´ d’analyser et d’appre´cier les situations et de faire les jugements qui s’imposent. Ce crite`re, spe´cialement conteste´, devrait re´duire le cercle de ceux qui sont autorise´s a` re´sister aux personnalite´s dote´es des ne´cessaires qualite´s de discernement et qui, de par leur position dans la so-

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cie´te´ et leurs activite´s professionnelles, disposent d’informations essentielles. Du point de vue juridique, la tentative d’assassinat et de coup d’E´tat du 20 juillet – ces conditions de le´galite´ sont conteste´es globalement et dans le de´tail –, e´tait justifie´e. Prepare´e depuis des anne´es par de nombreuses personnes et de nombreux cercles bien informe´s, objet de multiples re´flexions et discussions critiques, e´galement de plusieurs tentatives concre`tes (entre autres, de Gersdorff, Kleist et surtout de Tresckow), cette action e´tait un acte de le´gitime de´fense et, en tant que tel, le´gale. Les conjure´s agissaient dans la ferme intention, bien fonde´e, de libe´rer les Allemands et les autres peuples et de servir le bien du Reich. La justification de la re´sistance concerne e´galement l’acte de haute trahison. Dans la lutte contre un E´tat perverti de non-droit, cet acte est le´gal. On ne peut trahir un traıˆtre. Le IIIe Reich ne pouvait pas eˆtre objet de haute trahison. Le tribunal de Brunswick, en 1952, conside´ra, au proce`s contre Remer, officier nazi et, a` l’e´poque, propagandiste d’une ide´ologie ne´o-nazie, la Re´sistance du 20 juillet comme justifie´e. Contrairement aux droits a` la le´gitime de´fense, qui excluent l’ille´galite´, la situation de pe´ril extreˆme exclut seulement la culpabilite´. L’e´tat de ne´cessite´, qui le´gitime – concept e´tabli par Hegel contre Kant –, n’a pas son origine dans la loi positive. Certes, pour Kant e´galement, il e´tait naturel qu’on « devance un agresseur qui attente a` notre vie », en lui oˆtant la sienne. Du point de vue du droit, Stauffenberg pouvait s’opposer au despote et a` son re´gime inhumain. L’acte de le´gitime de´fense et, se rapportant a` l’assassinat des Juifs et des prisonniers de guerre russes, l’acte de le´gitime de´fense d’un tiers, e´taient mate´riellement le´gaux et pouvaient franchir toutes les barrie`res d’une le´galite´ formelle. Pour reme´dier a` la situation de´sespe´re´e, il n’y n’avait pas d’autre possibilite´ que de violer le cinquie`me commandement. Pour Stauffenberg, il ne s’agissait pas de quelques ille´galite´s ponctuelles du re´gime. Au contraire, son action e´tait dirige´e contre un ordre dans lequel, comme le formula la Cour constitutionnelle fe´de´rale a` la fin des anne´es 50, « les organes d’E´tat, pour cause de violation de la loi et du droit, portent gravement atteinte au peuple et a` l’E´tat tout entier ». Un tel « ordre » ne peut pre´tendre a` la protection et a` une existence le´gitime.

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D. Le de´veloppement actuel du droit international public apporte d’autres points de vue sur le tyrannicide et le coup d’E´tat. La qualification de « re´gime criminel », par exemple, que l’on attribue au IIIe Reich, s’appuie, entre autres, sur la violation, par ce dernier, du droit international. Celui-ci contient, malgre´ sa formalisation encore vague, un certain nombre de normes civilisatrices inalie´nables, surtout sous forme de droits de l’homme e´le´mentaires. Leur violation peut eˆtre prise comme crite`re objectif pour qualifier un re´gime de « re´gime criminel », et ainsi comme base, sous forme de droit a` la le´gitime de´fense – droit en grande partie non fixe´ par e´crit –, pour la le´galite´ d’une mise en e´chec d’autres crimes. Dans ce sens, le droit international peut aussi servir – the`se conteste´e – a` le´gitimer des actes de re´sistance individuelle dirige´s contre l’E´tat. Lorsque, apre`s la guerre, les chefs du IIIe Reich qui avaient surve´cu durent se justifier devant le tribunal militaire de Nuremberg, celui-ci, selon la pre´misse, a` premie`re vue innovatrice, jugea que, comme le formule Christian Tomuschat, « il avait une le´galite´ fonde´e sur les valeurs fondamentales de la communaute´ internationale, qui s’imposait, a` l’encontre de toute re´glementation nationale, et qu’il ne fallait pas se demander si l’individu avait agi en accord avec ce droit national, pour lui de´terminant ». Les crimes de guerre et les crimes contre l’humanite´ e´taient, dans tous les E´tats civilise´s, de´ja` avant les principes de Nuremberg, punissables. Ces principes n’e´taient donc pas un droit naturel maquille´ en droit international moderne. Ces normes de droit positif pouvaient servir de crite`res pour juger les crimes du re´gime nazi et de ses dirigeants. C’est pourquoi « personne ne pouvait faire valoir », continue Tomuschat, « qu’on avait pu, en toute bonne foi, croire qu’on se mouvait dans un espace ou` re´gnait l’impunite´. Celui qui, par de graves violations des droits fondamentaux, franchit de façon e´vidente les limites du supportable, ne me´rite aucune protection de la loi ». Meˆme les tireurs du Mur de Berlin pouvaient au moins deviner que, quand on leur demanderait des comptes, leurs coups de feu mortels sur ceux qui fuyaient la RDA, ne pourraient aucunement eˆtre justifie´s. On pouvait e´galement s’attendre, ainsi que le jugea la Cour constitutionnelle fe´de´rale, a` ce que les garanties du principe de non-re´troactivite´ – e´le´ment essentiel d’un E´tat de droit – ne seraient pas un avantage pour les tireurs. Si l’on e´largit cette analyse au contexte historique et a` ce qu’inclut, du point de vue de l’histoire des ide´es, le droit a` la re´sistance, on constate ceci :

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la re´sistance le´gitime a toujours signifie´ en fin de compte une protection des normes civilisatrices fondamentales. La lutte pour le re´tablissement des droits de l’homme, meˆme si, au de´but, cette expression e´tait peu courante, en avait constitue´ le noyau central. C’est dans la violation des droits de l’homme e´le´mentaires que la re´sistance a trouve´ sa plus importante raison d’eˆtre. Sa justification de´cisive est dans la re´alisation des droits de l’homme. Ainsi, la De´claration universelle des droits de l’homme du 10 de´cembre 1948 soulignait, dans son pre´ambule, « qu’il est essentiel que les droits de l’homme soient prote´ge´s par un re´gime de droit pour que l’homme ne soit pas contraint, en supreˆme recours, a` la re´volte contre la tyrannie et l’oppression ». Indirectement, le droit a` la re´sistance (meˆme individuelle) est donc reconnu, et la tyrannie et l’oppression sont sanctionne´es. Les auteurs de la De´claration universelle sont partis de l’existence positive du droit a` la re´sistance. La mention formelle, certes seulement de´clarative, augmentait sa force normative. De plus, l’invasion de la Pologne, de´ja` elle-meˆme un crime, ainsi que les agressions contre les autres pays, violent le pacte BriandKellog de 1928. Le Reich, lui aussi, avait signe´ ce pacte qui mettait la guerre d’agression hors loi. La Deuxie`me guerre mondiale, mene´e avec une brutalite´ de plus en plus grande, e´tait une guerre d’agression et, en tant que telle, contraire au droit. Les atrocite´s commises par les groupes d’intervention rapide a` l’Est et l’assassinat syste´matique des commissaires sovie´tiques – pour ne nommer que ces crimes – e´taient des de´lits internationaux que rien ne pouvait excuser. La violation flagrante, e´clatante, des normes du droit international de la guerre, ne faisait qu’ajouter a` l’ille´galite´ du re´gime nazi. De plus, le droit international permet meˆme, certes sans grandes garanties dogmatiques, de plaider pour un droit individuel a` la re´sistance. Il s’agit, par la`, d’un droit positif, jusqu’alors non fixe´ par e´crit, de´rive´ de la violation syste´matique des droits de l’homme. Un droit individuel a` la re´sistance, ainsi fonde´, recueille des approbations isole´es, ainsi que le souligne Karl Doehring. A` l’individu est garanti le droit de prote´ger lui-meˆme, en cas de ne´cessite´ extreˆme, ses droits de l’homme fondamentaux. Aucun homme n’est oblige´ d’accepter de perdre la vie a` cause d’un ge´nocide. Personne n’est oblige´ de se laisser torturer ou assassiner sans re´sistance. Sinon, en l’absence de coı¨ncidence entre l’objet de l’agression (individu) et l’autorite´ a` qui appartient le droit de protection (patrie, pays tiers ou communaute´ d’E´tats), il y aurait des lacunes de protection. Malgre´ la violation

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du droit international, l’auteur de l’infraction, en l’occurrence l’E´tat, ne de´velopperait aucune conse´quence juridique ; l’individu resterait sans protection. Le concept de droits de l’homme, au contraire, repose justement sur cette base : garantir a` l’individu des droits subjectifs, meˆme et surtout contre son propre E´tat. Chacun peut donc intervenir en cas de crime contre l’humanite´. Chacun peut recourir au droit a` la le´gitime de´fense pour aider un tiers, victime d’une agression. Les concepts (conteste´s) d’intervention humanitaire et de responsibility to protect – ce dernier formule´ pour la premie`re fois en 2001 – attirent l’attention sur le fait que de grave violation des droits de l’homme peuvent engendrer des situations dans lesquelles le droit international limite massivement la souverainete´ de l’E´tat. Ni la souverainete´ ni l’interdiction de l’intervention et de la violence ne sont des boucliers en cas de graves violations des droits de l’homme. Beaucoup des conditions requises pour justifier une intervention humanitaire collective (auto-blocage du Conseil de se´curite´ de l’ONU – presque un abus de droit –, intervention comme ultima ratio, proportionnalite´ des moyens, e´valuation pre´cise des conse´quences, perspectives re´elles de succe`s) ressemblent, d’un point de vue structurel, a` celles qui sont requises pour justifier la re´sistance violente, telles que nous les avons analyse´es pre´ce´demment. La meˆme ressemblance vaut pour les crite`res autorisant la « responsibility to protect ». Certes, cette de´marche qui consiste a` faire de´river du droit international un droit individuel a` la re´sistance, a` cause de la faiblesse avec laquelle se sont de´veloppe´s les droits de l’homme dans la premie`re moitie´ du 20e sie`cle, reste conteste´e. Aussi Stauffenberg e´tait-il un de´fenseur des droits de l’homme avant la lettre. Ne´anmoins, entre-temps, la protection des droits de l’homme et des victimes de guerre a fait de grands progre`s – surtout au plan dogmatique –, et un fait le montre : en cas de violation de ses droits de l’homme e´le´mentaires, l’individu n’est plus sans de´fense juridique ; il peut faire valoir des droits qu’il peut de´fendre activement si on leur porte atteinte. L’individu a le droit de se de´fendre, meˆme avec violence, s’il n’y a aucune autre possibilite´. Pour l’avenir, le droit international pourrait, si ce de´veloppement amorce´ sur la base des droits de l’homme se poursuivait, apporter a` celui qui, comme Stauffenberg, fait valoir un droit a` la le´gitime de´fense contre la violation des droits e´le´mentaires de l’homme commise sur des tiers, un soutien normatif plus solide que ce ne fut le cas le 20 juillet 1944, e´tant donne´ l’ordre juridique de cette e´poque.

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E. Le the`me de la justification du « parjure » de Stauffenberg et de sa tentative de tyrannicide et de renversement du re´gime s’est ave´re´ eˆtre un proble`me d’abord juridique. On peut le re´soudre par les cate´gories de loi et de droit. En outre, en ce qui concerne la qualification du 20 juillet, il est apparu que la morale et le droit coı¨ncidaient plus ou moins. L’action de Stauffenberg, muˆrement re´fle´chie, accomplie dans une situation de ne´cessite´ extreˆme et dicte´e par un sentiment profond de responsabilite´, ne violait pas les limites de la le´gitime de´fense ni pour soi-meˆme ni pour un tiers. Cette action violente ne faisait pas de Stauffenberg un criminel mais un he´ros. Dirige´ contre un despotisme qui violait aussi bien le droit national que le droit international, l’acte du 20 juillet e´tait, d’apre`s les crite`res du droit et de la morale, justifie´. Stauffenberg, qui avait une solide culture historique et litte´raire, utilisait tre`s correctement les cate´gories d’e´tat de ne´cessite´ du Reich, de droit et d’abus de confiance de la part de Hitler a` l’e´gard de la Wehrmacht. L’autorisation de recourir a` la le´gitime de´fense comme dernier moyen pour e´liminer le tyran e´tait donne´e. Meˆme sans cette justification, Stauffenberg serait passe´ a` l’action, comme probablement la plupart des conjure´s, acceptant, au besoin, de passer pour un traıˆtre. C’e´tait un homme de charisme qui enthousiasmait par son mode`le personnel. Il ne se contentait pas de se lamenter sur les failles et les crimes du re´gime, mais voulait arreˆter la course a` l’abıˆme pour sauver l’Allemagne, punir les coupables et pre´server ce qu’il y avait de valable. Dans ce contexte, les entretiens de Claus von Stauffenberg avec ses fre`res et les quelques initie´s du cercle autour du poe`te Stefan George, faisaient partie des pre´paratifs spirituels du 20 juillet. Ils insufflaient la force ne´cessaire au soule`vement, a` la tentative de renouvellement, a` la marche a` travers le feu. Le rappel de ces e´ve´nements dramatiques et tragiques, historiquement et biographiquement toujours proches, est, en meˆme temps, le point de de´part de re´flexions sur la notion de serment et sur les limites de l’obe´issance, du point de vue du droit constitutionnel et du droit international. Tout aussi de´cisif est le rappel des droits et des devoirs des citoyens euxmeˆmes : en tant que personnes preˆtant serment, en tant que personnes engage´es a` l’e´gard de la moralite´ et du droit. Si, aujourd’hui, a` l’e´poque de la mondialisation, nous pensons a` Stauffenberg et a` son combat pour le droit au tyrannicide, nous prenons conscience de l’exceptionnelle carrure de cet homme. La vigilance civique et les re´flexions d’ordre the´ologique et juri-

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dique maintiennent toujours pre´sents a` l’esprit l’importance, voire la ne´cessite´ potentielle de la re´sistance. Le bilan que l’on peut tirer de cette expe´rience historique, celle d’un acte he´roı¨que contre un re´gime criminel, est celui-ci : en fin de compte, ce sont les citoyens eux-meˆmes qui ont la responsabilite´ de leur communaute´ nationale, et e´galement celle de s’engager a` prote´ger les droits e´le´mentaires de tous ceux qui sont victimes d’agressions.

„Schon eure zahl ist frevel“: Stefan George und die Demokratie* In politicis war der Dichter Stefan George ga¨nzlich uneindeutig: keine klare Zielbestimmung, kein tragfa¨higes Engagement, vielmehr wuchtige Unbestimmtheit, Distanz. Auch am 10. Mai 1933 trennt er, jedes Bekenntnis zum „neuen Staat“ verweigernd, zugleich aber „die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung durchaus nicht (ableugnend)“, das Geistige vom Politischen: „Die gesetze des geistigen“ auf der einen Seite und die „des politischen“ auf der anderen seien „gewiss sehr verschieden“, la¨sst er durch seinen ju¨dischen Freund Ernst Morwitz, den die Nationalsozialisten zwei Jahre spa¨ter aus dem Richteramt vertreiben werden, dem neuen preußischen Kultusminister u¨bermitteln. „Wo (diese Gesetze) sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut“, das sei „ein a¨usserst verwickelter vorgang“. Er ko¨nne den Herren der Regierung nicht in den Mund legen, was sie u¨ber sein Werk denken und wie sie dessen Bedeutung einscha¨tzen. Minister Rust, ein fru¨hes NSDAP-Mitglied, hatte George den Ehrenvorsitz der Sektion Dichtkunst in der bereits „gleichgeschalteten“ Preußischen Akademie der Ku¨nste sowie einen Ehrensold angetragen. Im Schutze dieser poetisch-politischen Zwei-Reiche-Lehre – hier Kunst, Dichtung, hoher Geist, dort profane Politik, Herabsteigen, Allgemeingut, jedes Reich mit eigenen Gesetzen – entzieht sich der Dichter dem Werben des Regimes: keine Kooperation zwischen Lyriker und Leviathan, keine Korrumpierung der Kunst. Alle Eindeutigkeit vermeidend erkla¨rt George zugleich, er schiebe seine „geistige mitwirkung (an der neuen nationalen bewegung) nicht beiseite. Was ich dafu¨r tun konnte habe ich getan, die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher meinung … das ma¨rchen vom abseitsstehn hat mich das ganze leben begleitet – es gilt nur fu¨rs unbewaffnete auge.“ Politisches und Geistiges hatte George schon 1892 bei der Gru¨ndung seiner Zeitschrift „Bla¨tter fu¨r die Kunst“ getrennt, alles „staatliche und gesellschaftliche ausscheidend“, die Dichtung vor In* Aus: Sinn und Form. Beitra¨ge zur Literatur 65. Jahr (2013), 2. Heft, Berlin, Akademie der Ku¨nste, S. 189 – 198.

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strumentalisierung schu¨tzend. Und im Spa¨therbst 1920, in „Zeiten der Wirren“, warnte er den stu¨rmischen Walter Elze vor dem Sprung in eine politische vita activa: „Nur Dummko¨pfe, Hochstapler und Betru¨ger gehen jetzt in die Politik.“ Ist „Stefan George und die Demokratie“ also ein unergiebiges, ein falsch gestelltes Thema? Das Gegenteil ist der Fall. Es geht um eine Schlu¨sselfrage der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, zumal der abgru¨ndigen deutschen Vergangenheit. Die Ero¨rterung kann sich auf reiche Quellen stu¨tzen, auf Georges Gedichte und Gesten, auf seine brieflichen und mu¨ndlichen A¨ußerungen, auf Aufzeichnungen und Taten seiner Freunde. Soweit die Quellen aus dem engeren Kreis der George-Ju¨nger und ihrer Erinnerungen stammen, sind sie auch Interpretationen seines Denkens und Wollens. Im Werk des Dichters – der authentischsten Quelle, die freilich nicht u¨berstrapaziert werden darf – finden sich zahlreiche politische Bezu¨ge. Staat und Volk, Stadt, Bund, Reich, Deutschland geho¨ren zu Georges Grundbegriffen. Herrscher und Beherrschte, Macht und Gewalt, Wa¨hrung und Gesetz, ordnen und einigen, Tat, Krieg und Verwandlung sind Elemente seines Kosmos. In ihrer Summe lassen sich die dichterischen Symbole und Gestalten sowie die sonstigen scripta und dicta zu „Stefan Georges Bild der Demokratie“ zusammenfu¨hren – auch wenn es keine Georgesche Staatskonzeption, keine aus seinem Werk deduzierbare Demokratielehre gibt. Vornehmlich zwei Leitgedanken bestimmen seine Haltung gegenu¨ber der Demokratie: sein Vertrauen auf Personen statt auf Institutionen und seine Ablehnung der Idee der Gleichheit. Manche teils kryptischen, teils herrischen A¨ußerungen des Dichters beruhten auf Unkenntnis, einige wurden meines ¨ berspitzung war einem heiteren e´paErachtens missverstanden. Manche U ter le bourgeois geschuldet – im „Kreis“ gab es, Robert Boehringer hat es in fiktiven Dialogen („Ewiger Augenblick“, 1945) eingefangen, nicht nur den heiligen Ernst.

„Jede Staatsform ist so viel oder so wenig wert wie die Menschen, die sie tragen“ Am 4. Dezember 1933 stirbt George, außerhalb der Grenzen NaziDeutschlands, im Kreise der an sein Krankenlager geeilten Freunde, darunter die drei Bru¨der Stauffenberg. Oberleutnant Claus Schenk Graf von Stauffenberg organisiert die Totenwache. Sein Bruder Berthold, ein bedeutender Vo¨lkerrechtler, u¨bernimmt die erste und die letzte Wache. Dieser

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kleine Zirkel ausgewa¨hlter Menschen (Dichter, Ku¨nstler, Gelehrte), das Ritual gemeinsamer Dichterlesungen – das ist George bis zuletzt wichtiger als alles Politische, alles Institutionelle. Der Streit u¨ber Republik und Monarchie etwa, so hatte er sich schon im Weltkrieg gegenu¨ber der Philosophin Edith Landmann gea¨ußert, tra¨fe „die Sache nicht. Es geht irgendwo nebenher. Der Ko¨nig von Italien regiert sein Land genau so wie der Pra¨sident von Frankreich das seine.“ Jede Staatsform sei „so viel oder so wenig wert wie die Menschen, die sie tragen“. Der Dichter differenziert weder zwischen den Staats- und Regierungsformen noch zwischen deren Ausgestaltungen und Normen. Die Grenze zieht er nicht zwischen autorita¨ren Regimen und demokratischen Ordnungen, sondern zwischen „herrschenden ma¨nnern“ (Friedrich Wolters) auf der einen Seite und staatlich-gesellschaftlichen Organisationen und Apparaten auf der anderen. George baut auf Charaktere, nicht auf Organigramme, auf hervorragende Einzelne, nicht auf nu¨chterne Strukturen. Auch hinsichtlich des Schlu¨sselproblems von Staat und Politik, der Verhinderung von Machtmissbrauch, vertraut er nicht „verbriefter ordnung“. Seine Gewa¨hrsleute sind große Fu¨rsten, geistige Fu¨hrer. Auch mit der Sachautorita¨t von parteilosen Experten ha¨tte er sich wohl begnu¨gt, ebenso mit dem Erfahrungsschatz von Verbandspra¨sidenten oder der Weitsicht ko¨niglicher Richter. Neben der personalen Legitimation gibt es ja auch eine der gesellschaftlichen Wirkung: durch nachhaltige Fo¨rderung des Gemeinwohls. Eine Demokratie, die massive Recht- und Arbeitslosigkeit, ja Gewalt und Bu¨rgerkrieg nicht verhindern kann, verliert ihre Rechtfertigung. In der Antike waren beide Ansa¨tze, der institutionelle und der personelle, gleichgewichtig. Im Mittelalter u¨berwog der Personalismus mit seinem optimistischen Menschenbild, in der Neuzeit das Vertrauen in das Zusammenspiel berechenbarer Institutionen. Der Umschlag hin zur institutionellen Herrschaftslegitimation, der letztlich den Weg zum freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat o¨ffnete, erfolgte in der italienischen Renaissance. Sie „na¨hrte sich“, George zufolge, „da die Kirche als geistiges Zentrum nicht mehr ausreichte, aus Natur, Antike und dem großen Kanon Dante“. Das Selbstwertgefu¨hl des Menschen erwachte, und es erfasste alle Bereiche des Lebens. Mit der geistigen Grundlage dieses Wandels, einem diesseitigen, milden Humanismus, mit den antiken Kunstformen und ihrer Wiedergeburt, mit ihren „Dichtern und Helden“ (Friedrich Gundolf) ist George wohlvertraut. Der virtu` della forma, Leitbegriff der

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Florentiner Renaissance, korrespondiert sein Wille zur Form, zum Pra¨gen, Gestalten. Obwohl George einer der fru¨hesten Vertreter der literarischen Moderne in Deutschland ist, setzt er im Politischen, wie die Denker des Mittelalters, auf „richtige“ Ko¨nige, auf „glanzvolle Gestalten wie die Staufer“, auf den principe, den uomo virtuoso. Gegliederten, funktionalen Ordnungen, ausgleichenden, willku¨rverhindernden Einrichtungen, rechtsstaatlich-demokratischen checks and balances traut er weniger zu. Von Charakter und Charisma der „Heilsbringer“ ha¨ngt in Georges Utopie, wie in Platons Staatsideal, alles ab. Im Sommer 1916 verwirft er die republikanisch-demokratische Alternative, ja den institutionellen Ansatz insgesamt: „Die Monarchie (ist) die richtige Staatsform.“ Trotz des realita¨tsblinden „perso¨nlichen Regiments“ des Berliner „bu¨hnenko¨nigs“ – „Caligula und Heliogabal sind mir hundertmal lieber als Wilhelm der Zweite und der Kronprinz“ – beharrt George auf seinem Pala¨o-Personalismus. Bloße „Sicherheitskra¨merei“ sei es, „die Idee der Monarchie abzulehnen aus Furcht, man werde den richtigen Monarchen nicht finden“. Wieviel logischer und natu¨rlicher wa¨re es, „wenn ein Staat gegru¨ndet wird, weil ein Herzog da ist, der ein Volk erwa¨hlt, als wenn ein Volk da ist, das einen Herzog wa¨hlt“. Schon 1908/09 hatte George in den „Bla¨ttern fu¨r die Kunst“ erkla¨rt, das geistige Reich forme sich „nach dem bilde der Herrschaft: diese aber wird erzeugt und getragen durch den Herrscher“. Das Prinzip der Selbstherrschaft des Volkes, die Volkssouvera¨nita¨t, stellt er damit auf den Kopf. Wa¨hrend Max Weber 1917 fu¨r ein Eingliedern der „Masse der Staatsbu¨rger als Mitherren des Staates“ wirbt, ist die Masse fu¨r George, wie er gespra¨chsweise derb formuliert, „ein Ausschlag, den man sich angekratzt hat“. Kein Wunder, dass große Gestalten seine Gedichte dominieren. Ein fru¨hes Beispiel ist der spa¨tro¨mische Kindkaiser Heliogabal (Elagabalus), die unterweltliche Zentralgestalt des 1891 entstandenen, keineswegs rein a¨sthetizistischen „Algabal“-Zyklus. „Leo XIII“ ist ein anderes Beispiel. Die vergeistigte Erscheinung des Papstes verzaubert die „menge“. Die Wenigen („wir“) „verschmelzen“ mit den „scho¨n“ gewordenen Vielen – gedichtet 1901/02, also lange vor Leni Riefenstahls einheitsmythischen Inszenierungen, die Richard Faber in seiner Darstellung der politisch-religio¨sen „Wir-sind-Eins“Ideologien europa¨ischer Faschismen untersucht hat. Ein Gedicht u¨ber Bismarck, „Der Preusse“, 1902 im Salon von Georges Verleger Georg Bondi vorgetragen, blieb unvero¨ffentlicht. Dem auch mit dem 1907 vero¨ffentlichten Zyklus der „Zeitgedichte“ unternommenen Versuch, den Verfalls-

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erscheinungen im Wilhelminischen Deutschland mit einem a¨sthetischweltanschaulichen Gegenbild zu begegnen – mit einer herrscherlichen Geba¨rde, einer geistigen Form, einer dauerhaft einenden Gestalt –, wurde „Der Preusse“ nicht gerecht. Georges vormoderner Personalismus irritiert. Aber auch im postmodernen Institutionalismus u¨bertrifft das Vertrauen in herausragende Einzelne oftmals das in unperso¨nliche Einrichtungen und rationale Verfahren. Sind nicht viele politische Abla¨ufe na¨her am Glauben an Personen als am Vertrauen in Institutionen? Ein Beispiel dafu¨r ist der zentrale demokratische Legitimationsvorgang, die allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl des Deutschen Bundestages, der auf Vorschlag des Bundespra¨sidenten den Bundeskanzler wa¨hlt. Dieser Vorgang ist de iure, trotz „personalisierter“ Verha¨ltniswahl, Ausfluss des Prinzips institutioneller Herrschaft: Der Bundeskanzler geht aus der Mitte des Bundestages hervor. De facto aber, Wilhelm Hennis hat fru¨h darauf hingewiesen, sind seit der Bundestagswahl von 1953 die gesamtstaatlichen Wahlen Kanzlerwahlen. Bundespra¨sident und Bundestag besta¨tigen nur, ich u¨bertreibe, wen die Bu¨rger gewa¨hlt haben. Nicht auf Prozeduren, Parteien, Parlamente – auf den Kanzlerkandidaten kommt es an.

„Keiner ist an Rang dem anderen gleich, jeder hat den seinen“ Nicht nur vom Politischen und Institutionellen ha¨lt sich George, Eindeutigkeit vermeidend, fern, er bestreitet auch die Gleichheit der einzelnen als Menschen und als Bu¨rger und damit eine Schlu¨sselbedingung der Demokratie. Als „Wesenskern und kennzeichnende Tugend“ der demokratischen Staatsform (Peter Badura) steht das Gleichheitsgebot gegen Diskriminierung und Privilegierung. Alle, nicht nur die Besitzenden oder Gebildeten, haben rechtlich gleichen Anteil am o¨ffentlichen Leben. Unmittelbare Konsequenz ist die Mehrheitsregel. „Aber die Majorita¨t“, belehrt George Landmann im Sommer 1916, „ist u¨berhaupt der Willensbildung nicht fa¨hig.“ Die Menge, dichtet er, sei zwar „wert · doch ziellos · schafft kein sinnbild · / Hat kein geda¨chtnis“. Gegen die Versachlichung, Anonymisierung, Rationalisierung der von Max Weber analysierten Moderne setzt George: „keine Zinsen, keine Maschinen, keine Menschenmassen“. Er unterscheidet Große und „Gewimmel“, Menge und „Neuen Adel“, Ma¨nner

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und Frauen, Rauschunfa¨hige und Freunde, Wissende und Uneingeweihte. Sein eigener u¨bernationaler „Staat“ a¨hnelt eher dem mittelalterlichen Heiligen Ro¨mischen Reich als dem sa¨kularisierten zeitgeno¨ssischen Nationalstaat. „Sein Staat“, resu¨miert George gegenu¨ber Landmann im ersten Nachkriegssommer, sei „keine Demokratie und gar mit Frauenstimmrecht“: „Keiner ist an Rang dem anderen gleich, jeder hat den seinen.“ George wahrt, was er von seinen jungen Freunden fordert: Distanz zur Menge. In dem Gedicht „Die tote Stadt“ (1903) erha¨lt die „im u¨berflusse siech(e)“, um Hilfe flehende „menge“ aus der neuen Stadt seitens der wenigen und „verarmt(en)“ Bewohner der „mutterstadt“, die „kein leid“ spu¨rt, die „strenge antwort“: „Euch all trifft tod. Schon eure zahl ist frevel.“ Der leib- und lebensbejahende Mensch, der anmutige Einzelne ist Georges Maß, nicht die allgemeine Beglu¨ckung, nicht pursuit of happiness, nicht die Droits de l’homme und die Lehren von Freiheit, Gleichheit, Bru¨derlichkeit (er verwendet statt dessen den bo¨sen Begriff der „bru¨derei“). „Was dient · sei es auch mehr als frommer wahn · / Gleichheit von allen und ihr breitstes glu¨ck! / Wenn uns die anmut stirbt.“ Die Verse widmet er seinem spa¨teren Ersatz- und Nacherben, dem „anmutigen“ Berthold Stauffenberg. Dieser und sein auch musisch begabter Bruder Claus sowie der Literaturwissenschaftler Rudolf Fahrner verfassen im Juli 1944, wenige Tage vor Attentat und Staatsstreichversuch, einen „Schwur“. Diese „Grund-Sa¨tze des Neuen Lebens“ sind, wie Peter Hoffmann erla¨utert, kein staatspolitisches Dokument. Der Text fasst die eigenen Ideale zusammen, die nach der erwarteten Kriegsniederlage dem Kreis der Freunde Orientierung und Zusammenhalt geben sollten. Der Schlu¨sselsatz lautet: „Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Tra¨gern des Staates macht (= Volkssouvera¨nita¨t) und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbu¨rgt (= Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und unabha¨ngiger Justiz), verachten aber die Gleichheitslu¨ge.“ Handschriftlich korrigierend fu¨gt Claus Stauffenberg hinzu: „und beugen uns vor den naturgegebenen Ra¨ngen“. Damit zielen die Empo¨rer gewiss nicht auf eine Perpetuierung von Standesvorrechten, sie schlagen aber auch keine Bru¨cke zur demokratischen Gleichheit. Ihren Rechtsstaatspatriotismus bezahlen die Bru¨der Stauffenberg mit dem Leben. Glu¨hende Vorka¨mpfer einer parlamentarisch-demokratischen Neuordnung waren sie im Juli 1944 so wenig, wie es ihr Meister im Umbruchsommer 1918 gewesen war. Aber sie opferten sich fu¨r die Beseitigung des „Feindes der Menschheit“ (Henning von Tresckow). Ohne

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Vollstrecker eines „prophetischen Willens“ zu sein, blieben sie George und seinem Verma¨chtnis bis in die Diktion hinein verpflichtet. Und die Losung „Demokratie“ hatte er nun einmal nicht ausgegeben. Auf das System von Weimar mit seinem fortschrittlich-egalita¨ren Wahlrecht hatte er sich nicht eingelassen. Von einer entschiedenen, fru¨hen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus kann ebenfalls keine Rede sein, mag George, der kein Parteiga¨nger Hitlers war, auch den NS-Rassismus abgelehnt haben. Offenbar hatte der Seherdichter die Gefa¨hrlichkeit der Lage, insbesondere fu¨r die Juden, nicht erkannt.

„im geistigen Bereich hat (Demokratie) nichts zu suchen“ La¨sst sich Georges Position im zeitgeno¨ssisch-politischen oder poetischen Horizont erkla¨ren? Entscheidende Bedeutung hatte fu¨r ihn und seinen Zirkel die Antike. „Alles geistig Gute in Deutschland“, konstatierte er im Gespra¨ch, „ist seit der Renaissance an der Antike geschult.“ Und auch die „Deutschen werden einmal Griechen“. Wie also konnte der Dichter des Verses „Hellas ewig unsre liebe“ die in Griechenland erfundene demokratische Staatsform gegenu¨ber Landmann als „Schwindel“, ja „Wahnsinn“ bezeichnen? Die hellenische Demokratie war bis zu ihrer Krise am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein gewaltenmonistisches System. Es herrschte die Menge, konkret: der zahlenma¨ßig kleine, permanent geforderte Landund Stadtadel. Platon lehnte diese Regierungsform ab: „Auch die Demokratie geht an dem unersa¨ttlichen Streben nach Freiheit zugrunde.“ Die Sorge vor Anarchie durchzieht sein Hauptwerk „Der Staat“. Wie Platon befu¨rwortete auch Aristoteles eine gemischte Verfassung. Die „aristokratische“ Ro¨mische Republik wiederum war kein stato misto, erst recht keine Herrschaft des Volkes. Wie spa¨ter in England und zuvor in Athen gab es in Rom „Volksherrschaft“ nur, insoweit das „Volk“ als bevorrechtigte Schicht von Vollbu¨rgern definiert war – Sklaven und Frauen geho¨rten nicht dazu. Die Privilegierten saßen im Rat oder schickten, wie im House of Commons, ihre Vertreter ins Parlament. In Frankreich bedeutete Volksherrschaft dann Instrumentalisierung der Masse fu¨r revolutiona¨re Ziele, schließlich terreur. Wie viele andere hielt George die „politischen Zusta¨nde“ der Weimarer Republik im Januar 1930 fu¨r so „unmo¨glich“, dass „es nur noch la¨cherlich sei, wenn man (wie es etwa Robert Boehringer tat) zu dieser Demokratie

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Staatsdichtung und Staatslehre

halte“. Zwar hatte sie sich wegen des Versagens von Parlament und Parteien bereits in die legale Diktatur des Reichspra¨sidenten verwandelt, die Weimarer Staatsma¨nner waren jedoch, gerade fu¨r „Personalisten“ gut erkennbar, keineswegs durchweg „unmo¨glich“. Politiker wie Ebert, Erzberger, Rathenau oder Stresemann verdienten Achtung fu¨r ihre Identifikation mit Staat und Republik. Schon der Begriff „Demokratie“ aber war vergiftet. Viele verwendeten ihn allein im pejorativen Sinn, manche sahen darin eine „westliche“ Staatsform, ein verfassungspolitisches „Versailles“. Außerdem ist die Funktionsfa¨higkeit der Demokratie von Bedingungen abha¨ngig, zumal von einem Grundkonsens in den politischen und kulturellen Wertvorstellungen. Daran fehlte es in Weimar. Georges politisch unerfahrene Ju¨nger verachteten die Tagespolitik. Sicher, keiner seiner Vertrauten hat auf die erste deutsche Demokratie gespuckt. Aber man wollte auch nichts aus ihr machen. Kurt Tucholsky, Karl Kraus, Alfred Kerr – die linken Autoren und Kritiker waren nicht besser. Intolerant, forciert kritisch machten sie alles la¨cherlich, was die um ihr ¨ berleben ringende Republik als ehrbar, als achtenswert ha¨tte ausweisen U ko¨nnen. Allseits fehlten Bereitschaft und Zeit, die Fu¨lle der Probleme „durch allma¨hlige Anna¨herung des gegenwa¨rtigen Zustandes an den seyn sollenden thatsa¨chlichen“ zu lo¨sen (Fichte). Dabei schu¨tzte erst die Verfassung von 1919 die Freiheit der Kunst, die nicht zu den klassischen Grundrechten geho¨rt. Und zum ersten Mal gab es auf gesamtstaatlicher Ebene einen Katalog der (auch gegenu¨ber einer „Tyrannei der Mehrheit“) geschu¨tzten Individualrechte. Erst Weimar garantierte die Autonomie des „Geistigen“. Freilich setzt die Demokratie politische Vernunft bei den Wa¨hlern voraus. Wo diese, wie gegen Ende der Republik, fehlt, kann die Staatsform nicht helfen. Wichtiger fu¨r Georges Distanz zur Demokratie war freilich etwas anderes: seine Sorge vor einer Nivellierung der Kunst. Hatte Max Weber – mit ihm fu¨hrt George in Heidelberg intensive Gespra¨che in wechselseitigem skeptischen Respekt – unter „Demokratisierung“ noch die Einebnung der sta¨ndischen Gliederung durch den Beamtenstaat verstanden, befu¨rchtet der Dichter, das gleichheitsfo¨rdernde Telos der Demokratie werde auf den geistig-ku¨nstlerischen Bereich u¨bergreifen und nur noch „sekunda¨re Leistungen“ zulassen: „Von mir aus“, erkla¨rt er, „mag es Demokratie auf allen Gebieten geben, nur im geistigen Bereich hat sie nichts zu suchen.“ Zu Kunst und Dichtung passen demokratische Willensbildung und Kontrolle in der Tat so wenig wie zu Sport oder Wirtschaft. Im Sommer 1927

„Schon eure zahl ist frevel“: Stefan George und die Demokratie

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unterstreicht George dies: „Das Dichterische steht dem Religio¨sen entgegen; die Religion ist demokratisch, sie findet fu¨r jeden ein Unterkommen, weist jedem seinen Platz, und dies gibt die Befriedigung, aber eine ku¨nstlerische Natur wu¨rde da ihr Genu¨ge nicht finden.“ Er betont die Selbstgesetzlichkeit der ku¨nstlerischen Ausdrucks- und Lebensform. Religion demgegenu¨ber sei etwas „fu¨r diejenigen, an denen die a¨sthetische Bildung verloren ist“. Also Nivellierung, gar Instrumentalisierung der Kunst durch die Demokratie? Das Gegenteil ist richtig! Neutralita¨t gegenu¨ber der Kunst geho¨rt, bei aller Dehnbarkeit des Rechtsrahmens, zum Wesen des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Die Aufhebung aller Autonomiebereiche durch externe Eingriffe, durch umfassend mobilisierenden, ideologisierenden Zugriff – fru¨hzeitig im „plebiszita¨r legitimierten“ italienischen Faschismus zu beobachten – kennzeichnet den revolutiona¨ren stato totalitario. Am Vorrang der „Volksgemeinschaft“, an einer vo¨lligen Abkehr – man denke an Ernst Forsthoffs „Der totale Staat“ von 1933 – vom Individualismus, Liberalismus und Pluralismus kann dem freiheitsbedu¨rftigen Dichter natu¨rlich nicht gelegen sein. Zeigen sich hier Schattenseiten des Nichtbeachtens dessen, was eine rechtsstaatliche Demokratie darf, soll, kann? Der Gleichheitskern dieser Staatsform bedeutet keineswegs kollektivistische, geistfeindliche Gleichmacherei. Das Gleichheitsprinzip ist ein Willku¨rverbot, kein Nivellierungsgebot. Haben die klugen Juristen im George-Kreis das nicht erkannt? Ha¨tte sich andernfalls – welche Perspektive! – Georges Ablehnung Weimars, ja der Demokratie insgesamt verhindern lassen? Schließlich gab es fu¨r ihn, wie er gegenu¨ber Landmann bekannte, „keine Wahrheit fu¨r immer und u¨berall“. Die Ju¨nger haben jenes Missversta¨ndnis ihres Meisters, das sie (ausgenommen etwa Boehringer, Gundolf, Kempner) offenbar teilten, nicht verhindert. Dabei ist in Kunst und Erziehung die naturgegebene Ungleichheit der Menschen besonders zu respektieren. Bereits das Flo¨tengleichnis des Aristoteles lehrt: Die Gleichheit der Menschen hindert keineswegs daran, dem besten Flo¨tenspieler die beste Flo¨te zu geben. Letztlich verlangt auch George nichts anderes. Seine Zwei-Reiche-Lehre grenzt und schirmt, wie gesagt, das Reich „des geistigen“ von dem „des politischen“, das ganz anderen Gesetzen unterliegt, entschieden ab. Gu¨nstigere Zeiten ha¨tten dem Dichter den demokratischen Gedanken vielleicht na¨herbringen ko¨nnen. So aber blieb es beim Abseitsstehen, auch in der Agonie der verkannten Demokratie.

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Staatsdichtung und Staatslehre

„Verschmolzen mit der tausendko¨pfigen menge“ Das Gedicht „Leo XIII“ handelt von einer kleinen Schar und einer großen Menge in einer orientierungslosen, gefa¨hrdeten Welt aus falschen Majesta¨ten und echten Schranzen. Dem allem steht der „Dreigekro¨nte“ gegenu¨ber, ein vorbildlicher Gelehrter und, wie George, ein bedeutender Nachdichter. In der „wahren majesta¨t“ dieser Jahrhundertfigur wird „das wunder“, eine doppelte Verwandlung, erlebbar: Die Menge erkennt ihr besseres Selbst; mit den „scho¨n“ gewordenen Vielen „verschmelzen“ die wenigen Anderen. Die erste und die letzte Strophe (von insgesamt vier) lauten: Heut da sich schranzen auf den thronen bru¨sten Mit wechslermienen und unedlem klirren: Dreht unser geist begierig nach verehrung Und schauernd vor der wahren majesta¨t Zum ernsten va¨terlichen angesicht Des Dreigekro¨nten wirklichen Gesalbten Der hundertja¨hrig von der ewigen burg Hinabsieht: schatten scho¨n erfu¨llten daseins. Wenn angetan mit allen wu¨rdezeichen Getragen mit dem baldachin – ein vorbild Erhabnen prunks und go¨ttlicher verwaltung – Er eingehu¨llt von weihrauch und von lichtern Dem ganzen erdball seinen segen spendet: So sinken wir als gla¨ubige zu boden Verschmolzen mit der tausendko¨pfigen menge Die scho¨n wird wenn das wunder sie ergreift.

Dieses tempora¨re Einswerden ist gewiss nicht als Hinwendung zur Demokratie zu verstehen. Das Papsttum verko¨rpert ein rangbewusstes, hierarchisches System, indifferent gegenu¨ber jeglicher Staatsform. Die Menge ist ein Kollektiv ohne Individualita¨t. Fu¨r George ist, wie er bekennt, jede nicht „milita¨risch oder festlich geba¨ndigte Massenansammlung“ eine „Scheußlichkeit“. Die Demokratie aber ist kein a¨sthetisches Projekt, der Staat ist menschengemacht. Andererseits: Jener kunstsinnige Papst hatte die Lehre des Thomas von Aquin zu einer Art amtlicher Doktrin erhoben. Mit den Problemen des Industriezeitalters vertraut, entdeckte er die auch fu¨r die staatlich-gesellschaftliche Verfasstheit relevante soziale Frage im kirchlichen Bereich. So entha¨lt das Gedicht auch den Vorschein des „Politischen“: Die pa¨pstliche Erscheinung bildet die empfa¨ngliche Menge und den verehrungsbegierigen „Wir“-Kreis radikal um in eine lebendige

„Schon eure zahl ist frevel“: Stefan George und die Demokratie

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Gemeinde ohne Ra¨nge oder Exklusionen. Dies ist ein poetisches, unpolitisch gezeichnetes und zugleich hochpolitisches, katholisches Bild. In einem geistlich-geistigen Kairos entsteht, voru¨bergehend, ein Gebilde beglu¨ckender Scho¨nheit, Gleichheit und Gemeinsamkeit. So hat noch Stefan George selbst, obwohl kein demokratischer Dichter, einen Blick getan ins gelobte Land der Demokratie.