Von Basel bis zum Kibbuz Lehavot Habaschan: Der Lebensweg eines sozialistischen Zionisten 9783412218553, 9783412223519

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Von Basel bis zum Kibbuz Lehavot Habaschan: Der Lebensweg eines sozialistischen Zionisten
 9783412218553, 9783412223519

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Heini Bornstein

Von Basel bis zum Kibbuz Lehavot Habaschan Der Lebensweg eines sozialistischen Zionisten

Herausgegeben von Heiko Haumann

2015 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, Basel

Umschlagabbildungen : Montage (nach der hebräischen Fassung des Buches): Tagebucheintrag von Theodor Herzl, 3.9.1897; Herzl auf der Terrasse des Basler Hotels „Drei Könige“ 1903; Wegweiser zum und Blick auf den Kibbuz Lehavot Habaschan

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Volker Manz, Leichlingen Korrektorat: Meinrad Böhl, Leipzig Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung : Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22351-9



Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die Geschichte der „blauen Büchse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Fremde und Zugehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Basel – Stadt der Zionistenkongresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Von Lodz bis Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Die Bewegung – ein Lebensweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die Bewegung und ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Zionismus nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Die europäische Konferenz in Fontainebleau . . . . . . . . . . . . . . . 94 Organisation und Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Meir Yaari und Yaakov Chasan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Die zionistische Arbeit im Rahmen des Jüdischen Weltkongresses . . . . 122 Erste Mission nach Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Stürmische Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Alija, Kibbuz, Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Krieg und Verwurzelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Unsere Mission in Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Erneut in Paris – Neuorganisation der Bewegung in Europa . . . . . . . 161 Zurück im Kibbuz – Erziehungsprobleme, Wandel der Einstellung, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir . . . . . . . . . . . . . . . . 175

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Inhalt

Organisation der Verteidigung: 1967 – 1973 – 1982 . . . . . . . . . . . . 185 Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität . . . . . . . 192 Neue politische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen . . . . . . . 213 Ein neuer Zionismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“ . . . . . . . . . . . . . . 228 Chasia und ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Abschließende Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Kurzbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

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Vorwort

Heini Bornstein kenne ich seit Beginn der 1990er-Jahre, als er einen seiner damals noch regelmäßigen Besuche in seiner Heimatstadt Basel machte. Da eines meiner Schwerpunktthemen in Lehre und Forschung die Geschichte und Kultur der jüdischen Bevölkerung im östlichen Europa, aber auch in der Schweiz und in Südwestdeutschland war, lud ich ihn mehrfach in meine Lehrveranstaltungen ein. Dort berichtete er über sein Leben und seine Erfahrungen. Zu einer noch engeren Zusammenarbeit kam es dann anlässlich der Vorbereitungen für das Jubiläum des Ersten Zionistenkongresses, der 1897 in Basel stattgefunden hatte. Ich war damals für die Konzeption und Durchführung einer Ausstellung verantwortlich. Während der Jubiläumsveranstaltungen lernte ich dann auch Heini Bornsteins Frau Chasia kennen. Sie sprach mit mir in Jiddisch und erzählte mir von ihrem Leben in Grodno und Białystok während des Zweiten Weltkrieges, von ihrer Tätigkeit im Untergrund, als Kurierin der Widerstandsbewegung auf der „arischen Seite“, als Partisanin und als Leiterin einer Kindergruppe, die sie nach Kriegsende von Lodz nach Palästina gebracht hatte. Ich ermutigte sie, ihre Erinnerungen niederzuschreiben und zu veröffentlichen – ein Wunsch, den Heini Bornstein schon lange hatte. Seitdem ist unsere Verbindung nicht mehr abgerissen. Heini Bornstein hatte schon 1996 seine Erinnerungen an die Hilfs- und Rettungsaktionen sozialistischzionistischer Jugendorganisationen während des Zweiten Weltkrieges von der Schweiz aus in Israel publiziert, und ich unterstützte seinen Plan, eine deutsche Übersetzung in der Schweiz herauszubringen. Im Jahr 2000 konnte dies dann mit dem Zürcher Chronos Verlag verwirklicht werden. Später war es dann für mich eine große Freude, Chasia Bornstein-Bielickas deutschsprachige Fassung ihrer Erinnerungen betreuen zu dürfen – eines der ergreifendsten Bücher über das Leben während der Schoah, das ich kenne. So kam es nicht überraschend, dass mich Heini Bornstein bat, ihm bei der jetzt vorliegenden Herausgabe seiner 2012 in Israel erschienenen Lebensgeschichte zur Seite zu stehen. Diese wäre in der vorliegenden Form nicht ohne sein früheres Buch Insel Schweiz möglich gewesen, das einen überaus hohen Arbeitsaufwand seitens des Chronos Verlages erfordert hatte, zu dem sogar Archivbesuche in Israel gehörten. Für die intensive langjährige Arbeit mit Heini Bornsteins Erinnerungen und für das persönlich

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Vorwort

gute Einvernehmen möchte ich dem Verlag und namentlich Monika Bucheli herzlich danken. Der Böhlau Verlag in Köln erklärte sich dann bereit, den Druck des Buches zu übernehmen. Heini Bornstein hatte die hebräische Fassung selbst übersetzt und für den deutschsprachigen Leserkreis bearbeitet. Eine große Hilfe war ihm dabei der Historiker Avraham Barkai, der wie Bornstein im Kibbuz Lehavot Habaschan lebt und vor Kurzem auch seine Lebenserinnerungen veröffentlicht hat.1 Der Verlag beauftragte den Lektor Volker Manz mit der – vor allem formalen und sprachlichen – Überarbeitung von Heini Bornsteins Manuskript. Daraufhin habe ich den Text noch einmal durchgesehen sowie erläuternde Fußnoten, einen Anhang mit Kurzbiografien von Personen, die in der Lebensgeschichte vorkommen, und ein Glossar hinzugefügt. Schließlich hat der Verlag alles noch einmal von Meinrad Böhl Korrektur lesen lassen. Der gesamte Überarbeitungsprozess geschah selbstverständlich in steter Absprache mit Heini Bornstein. Im Verlag betreuten Dorothee Rheker-Wunsch, Julia Beenken und Sandra Hartmann die Entstehung des Buches. Die Stiftung Irène Bollag-Herzheimer ermöglichte die Drucklegung durch ihre finanzielle Unterstützung. Ihnen allen sei sehr für ihren großen Einsatz gedankt. Nicht in jedem Fall habe ich nähere Angaben zu Personen oder Vorgängen finden können, die Heini Bornstein erwähnt. Meistens ergeben sich jedoch zumindest Hinweise auf die jeweilige Funktion oder den Zusammenhang aus dem Text. Manchmal habe ich, oft mit Heini Bornsteins Hilfe, noch weiterführende Angaben gefunden, ohne dass dies für eine Kurzbiografie ausreichte oder als Glossarbegriff sinnvoll war. Diese Angaben sind dann in den Fußnoten vermerkt. Glossarbegriffe und Personen, die in den Kurzbiografien aufgeführt sind, werden im Text nicht gekennzeichnet. Die Fotografien hat Heini Bornstein zur Verfügung gestellt. Die Bildqualität ist manchmal nicht optimal, aber wegen ihres Aussagewertes halte ich die Abbildungen für unabdingbar. Bei der Transliteration hebräischer Namen, Wörter und Begriffe habe ich Heini Bornsteins „pragmatische“ Mischung aus englischen, deutschen und schweizerischen Schreibweisen weitgehend beibehalten und keine puristische Vereinheitlichung angestrebt. Die Begriffe Schoah und Holocaust werden synonym gebraucht.

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Avraham Barkai: Erlebtes und Gedachtes. Erinnerungen eines unabhängigen Historikers. Göttingen 2011.

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Vorwort

Bei meinen Erläuterungen habe ich es nicht als meine Aufgabe angesehen, einen ausführlichen geschichtswissenschaftlichen Kommentar zu Heini Bornsteins Erinnerungen zu geben. Sie stehen für sich. Selbstverständlich kann im Lichte weiterer Erinnerungen und gewiss auch archivalischer Quellen einiges mit anderen Augen gesehen werden. Ebenso wissen wir alle, dass unsere Erinnerungen trügen können. Manchmal setzt sich etwas in unserem Gedächtnis fest, das in dieser Form gar nicht stattgefunden hat oder von dem wir nur meinen, dass es so und nicht anders war. Das ist bei persönlichen Erinnerungen zu berücksichtigen. Immer sind es jedoch eigene Wahrheiten, die vermittelt werden. Subjektive Deutungen interpretieren die Wirklichkeit und sind dadurch ebenso Wirklichkeit. Darüber hinaus zeigen die Erinnerungen den Sinn, den der Autor seinem Leben gibt, sein „Leitmotiv“, sein Selbst- und Weltverständnis sowie dessen Entwicklung im Laufe der Zeit. Dieses Selbstzeugnis ist eine mindestens ebenso wichtige historische Quelle wie Urkunden und Akten, Zeitungen, Bilder oder alles andere, das Auskunft über die Vergangenheit gibt. Heini Bornsteins Erzählung enthält im Übrigen zahlreiche „harte Informationen“, die unser Wissen über die geschilderten Vorgänge wesentlich vertiefen. Für die Leserinnen und Leser erschließen sich dadurch Welten. Heini Bornstein erzählt sein bewegtes Leben nicht durchweg chronologisch, sondern orientiert sich an den Einschnitten und Themen seiner Biografie. Dabei kommt es dann auch zu Rück- und Vorausblicken. Wir erfahren, wie er, aus einer polnisch-jüdischen Familie stammend, zum Sozialismus und Zionismus kam, wie er während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgten Juden zu helfen suchte, wie er Chasia Bielicka kennenlernte und mit ihr zusammenlebte, wie er in Israel den Kibbuz Lehavot Habaschan mit aufbaute, wie er in höchste Funktionen der sozialistisch-zionistischen Bewegung aufstieg und wie er bis ins hohe Alter aktiv blieb. Über Interna der Bewegung oder der israelischen Politik berichtet Heini Bornstein nur zurückhaltend. Aber wir erhalten höchst interessante Einblicke in die konkrete praktische Arbeit der sozialistisch-zionistischen Bewegung. Das gilt namentlich für die Jugendorganisation des Haschomer Hazair und die mit ihm verbundenen Gruppierungen, insbesondere Mapam und Merez. Eindrucksvoll schildert Heini Bornstein den – teilweise schmerzhaften – Prozess der Loslösung von Hoffnungen, die der Haschomer Hazair mit der Russischen Revolution von 1917 und der Geschichte der Sowjetunion verband. Faszinierend lesen sich seine Ausführungen zur Idee des Kibbuz und seiner Verwirklichung – bis hin zur Trauer, dass sich die Bewegung nicht so entwickelt hat, wie er es sich 9

Vorwort

erhofft hatte. Dennoch bleibt der Kibbuz für ihn eine wichtige solidarische Institution, die die Zukunft Israels mitbestimmen wird. Hingegen kritisiert er scharf die Politik der gegenwärtigen Regierung Israels und die Entwicklung, die dieser Staat in letzter Zeit genommen hat. Das Buch ist eine erstrangige Quelle für all diese Themen, die auch der zukünftigen Forschung von großem Nutzen sein werden. Zugleich ist es eine fesselnd zu lesende Lebensgeschichte eines geachteten Pioniers des sozialistischen Zionismus. Basel, im Januar 2015

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Heiko Haumann

Einleitung

Dieses Buch schildert die Stationen meiner Entwicklung und meiner Aktivitäten, die in meiner Geburtsstadt Basel beginnen und sich danach in Israel und der jüdischen Diaspora über mehr als 60 Jahre erstrecken. Beschrieben werden die Ereignisse meist aus der subjektiven Sicht meiner Erinnerungen und anhand persönlicher Dokumente. Bereits im Jahre 2000 erschien im Zürcher Chronos Verlag die deutsche Übersetzung meines Buches Insel Schweiz, zu dem Prof. Yehuda Bauer das Vorwort beitrug.1 Es schildert meine Tätigkeit im Rahmen der Hilfs- und Rettungsaktionen sozialistisch-zionistischer Jugendbünde in der Schweiz zwischen 1939 und 1946 bis zu meiner Alija, meiner Auswanderung nach Palästina im Jahre 1947. In diesem Buch nahm ich Stellung zur Politik der Schweiz gegenüber jüdischen Flüchtlingen während des Krieges und zum Verhalten der Schweizer Juden sowie des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Besonders konzentrierte ich mich auf die Zusammenarbeit zwischen unserem Büro in Genf und der Delegation aus Palästina in Istanbul. Die Flüchtlingspolitik der Schweiz und die Haltung der jüdischen Führung in Palästina angesichts der Schoah in Europa sind Themen, die seither gut erforscht wurden; neue Gesichtspunkte, die sich daraus ergaben, berührten auch meine Aktivität während des Krieges in der Schweiz. Ich untersuchte im Jerusalemer Zionistischen Zentralarchiv die Protokolle der Sitzungen der Exekutivinstanzen und anderer Gremien der Führung des Yishuv, der jüdischen Gemeinschaft im damaligen Palästina, um die relative Passivität der zionistischen Instanzen in den schwersten Zeiten der Geschichte der Bewegung besser zu verstehen – eine Passivität, die im Gegensatz zu den heroischen Aktionen der Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung im Allgemeinen und des Haschomer Hazair, einer sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation, im Besonderen stand. Meine autobiografischen Skizzen, die ich jetzt vorlege, zeichnen den Lebensweg eines jungen, in der ruhigen und friedlichen Schweiz aufgewachsenen Juden nach, der die Konsequenzen seiner Weltanschauung durch die persönliche 1

Heini Bornstein: Insel Schweiz. Hilfs- und Rettungsaktionen sozialistisch-zionistischer Jugendorganisationen 1939–1946. Chronos Verlag, Zürich 2000 (hebräische Originalausgabe Tel Aviv 1996).

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Einleitung

Revolution der „Selbstverwirklichung“ im zionistischen Sinne realisierte. Während meines aktiven Lebens betonte ich in der Öffentlichkeit immer wieder die Herausforderung, die sich daraus ergab, und wandte mich insbesondere an die junge jüdische Generation. Mein Weg führte mich zunächst von einem bewusst zionistischen Elternhaus über die Zugehörigkeit zu der Haschomer-HazairBewegung bis in die Basler Schulen und zur Ausbildung in der landwirtschaftlichen Schule mit einem Abschlussdiplom. 1939/40 war ich im aktiven Militärdienst im Basler Grenzbataillon. Dort begann meine umfassende Aktivität während des Zweiten Weltkrieges. 18 Jahre sind verflossen, seit ich mein erstes Buch verfasst habe (die deutsche Version liegt 14 Jahre zurück). Im Unterschied zu diesem beschreibe ich in diesem neuen Buch meinen Lebensweg von meiner Kindheit an. Ich untersuche die Einflüsse, die zu meiner zionistischen und sozialistischen Weltanschauung führten, und konzentriere mich auf mein persönliches gesellschaftliches und politisches Engagement. Des Weiteren schildere ich meine persönliche Haltung seit meiner Alija 1947, meine Integration in den Kibbuz und meine Funktionen in der Kibbuzbewegung. Hierbei spielte die Stadt Basel, in der ich geboren und aufgewachsen bin, eine besondere Rolle: Sie ist die Wiege des modernen politischen Zionismus, in ihr fanden zehn Zionistenkongresse statt, vom ersten 1897 bis zum letzten vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1946. Im Jahre 1937, als der Zionistische Kongress in Zürich zusammenkam, wurde in Basel eine feierliche Veranstaltung anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Ersten Zionistenkongresses abgehalten – im selben Saal des Stadtkasinos wie damals. Ein Extrazug der SBB führte Hunderte von Kongressdelegierten und Gästen von Zürich nach Basel. Die Fahne des Ersten Kongresses, die die ganzen Jahre über im Archiv des Haschomer Hazair in Zürich aufbewahrt worden war, wurde in einer eindrucksvollen Zeremonie durch eine „Ehrenwache“ des Haschomer Hazair dem Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann überreicht. Ich war 17 Jahre alt und nahm an diesem festlichen Akt in der Uniform der „Ehrenwache“ teil. Vom Jahr 1897 bis 1946 fanden in der Schweiz 13 Kongresse statt, außer in Basel in Zürich, Luzern und Genf. Viele grundlegende Beschlüsse über die Wege zur Verwirklichung des „Baseler Programms“ von 1897 wurden hier beschlossen und sind in die Geschichte der zionistischen Bewegung eingegangen. Meine Karriere als Zionist begann ich schon in meinem elften Jahr, als mein Vater mich 1931 zum 17. Kongress in Basel mitnahm. Später war er Ersatzdelegierter der Schweiz auf dem 18. Kongress, der im August 1935 in Luzern stattfand. Meine 12

Einleitung

Mutter, meine Schwester und ich verbrachten einen Tag in Luzern und besuchten den Kongress, der im Kongresshaus abgehalten wurde. Wir machten damals drei Wochen Sommerferien auf dem Bürgenstock in der Nähe von Luzern, ein wunderbarer Ferienort 500 Meter über dem Vierwaldstättersee, wo auch Chaim Weizmann und Nahum Goldmann während des Kongresses in einem Hotel wohnten. So nahm ich seit meinen Jugendjahren an vielen Kongressen teil, bis ich, als Achtzigjähriger, zum Ehrenmitglied der Zionistischen Weltorganisation und ihres Kongresses ernannt wurde. Ab 1946 konnte ich dann die Konsolidierung der zionistischen Politik aus der Nähe beobachten. Ich beteiligte mich aktiv an den politischen Kämpfen, um die Hegemonie des „Arbeitenden Palästinas“ im ersehnten Erez Israel, dem Land Israel, zu sichern. Unser Ziel war es, die Wege des sozialistischen Zionismus als Grundlage einer neuen jüdischen, gerechten Gesellschaftsordnung zu bahnen. Das wichtigste erzieherische Postulat, das Leitmotiv des 1913 gegründeten Haschomer Hazair war die „Selbstverwirklichung“ des zionistischen Ideals durch die Alija. Dessen Anhänger waren nicht die Ersten, die dies in die Tat umzusetzen suchten. Bereits Jahre davor entstand 1882 in der Ukraine die Bewegung Bilu, die sich vor allem aus Studentinnen und Studenten zusammensetzte, zur Auswanderung nach Palästina aufforderte und ihre Anhänger zu Pionieren des zionistischen Aufbaus erzog. Im Grunde war sie die erste sozialistischzionistische Bewegung. Die Geschichte dieser ersten Einwanderungswellen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelt nicht nur vom historischen Experiment der „Eroberung des Bodens“, also der landwirtschaftlichen Ansiedlung. Vor allem waren dies die ersten Jugendlichen, die einen gefestigten gesellschaftlichen Rahmen entwarfen, der sowohl einen „Wert an sich“ als auch ein „Instrument zur Verwirklichung des Zionismus“ darstellte. Doch zurück zu unserer Bewegung. Noch vor der Gründung des Landesverbandes der Kibbuzim des Haschomer Hazair, Kibbuz Arzi genannt, beschlossen die verschiedenen Landesorganisationen, an den Zionistenkongressen teilzunehmen. Auf dem 14. Zionistenkongress im Jahre 1925 in Wien, auf dem die polnische Bewegung vertreten war, wurde der Haschomer Hazair als eine selbstständige „Pionierbewegung“ im Rahmen der Dachorganisation des Hechaluz anerkannt, der die „Pioniere“ auf ein Arbeitsleben in Palästina vorbereitete. Der Beschluss ermöglichte es, von der Zionistischen Weltorganisation Zuschüsse für seine besonderen Zwecke zu erhalten. Wichtig war aber auch, dass der Haschomer Hazair infolge dieser Anerkennung seine eigene Liste mit Anwärtern für die „Zertifikate“ – die Einreisebewilligungen nach Palästina – einreichen konnte. 13

Einleitung

Darüber hinaus trat der Haschomer Hazair von da an als selbstständige Fraktion während der Zionistenkongresse auf. Bevor ich auf die Kongresse eingehe, an denen ich persönlich teilgenommen habe, muss ich darauf verweisen, dass es bereits auf früheren Kongressen eine kontinuierliche Entwicklung in der ideologischen Stellungnahme des Haschomer Hazair gab. Wir in der Schweiz verfolgten die Debatten ja ganz aus der Nähe. Tatsächlich wuchsen und reiften wir Schweizer Zionisten zusammen mit den Kongressen. Ich werde daher in den nächsten Abschnitten einige Bemerkungen auch zu denjenigen machen, die bis zum Jahre 1937 stattfanden, als ich zum ersten Mal an einem Kongress teilnahm. Von da an arbeitete ich aktiv in der Fraktion des Haschomer Hazair mit und beteiligte mich an all den Debatten dieser Zusammenkünfte. Parallel zu dieser Entwicklung konsolidierte der Haschomer Hazair seine politische Struktur. Seine Zentrale befand sich bis 1939 in Warschau. Im Jahre 1927 wurde der Landesverband der Kibbuzim des Haschomer Hazair in Palästina gegründet. An der Gründungskonferenz nahmen vier Kibbuzim teil: Merchavia,2 Mischmar Haemek,3 Ein Shemer4 und Maabarot.5 Deren Leitung nahm – wie auch später in Israel – Merchavia wahr. Zwischen der Kibbuzbewegung und den Landesverbänden herrschte eine völlige Übereinstimmung, und die jeweilige 2

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Dieser Kibbuz liegt in der Jesreelebene im Süden Galiläas und wurde in den 1920er-Jahren von Mitgliedern des Haschomer Hazair gegründet. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war hier eine zionistische Siedlung angelegt worden, das erste jüdische Dorf in der Ebene. 1911 hatte es einen blutigen Zusammenstoß zwischen den Siedlern und Arabern gegeben. Später lebte u. a. Meir Yaari in diesem Kibbuz, auf den noch eingegeangen wird. Auch dieser Kibbuz ist eine Gründung des Haschomer Hazair und liegt in der Jesreelebene. Während des Zweiten Weltkrieges war hier ein Stützpunkt der Hagana und des Palmach. U. a. lebte Yaakov Chazan, über den ebenfalls noch berichtet wird, im Kibbuz Mischmar Haemek. Heute hat er fast 1000 Einwohner und betreibt neben der Landwirtschaft ein bedeutendes Plastikunternehmen sowie eine Informationstechnologiefirma, die für das Datenbanksystem von Yad Vashem zuständig ist. Der Kibbuz Ein Shemer liegt nordöstlich von Hadera und wurde 1927 von Mitgliedern des Haschomer Hazair aus Polen gegründet. Seit 1913 hatte sich dort ein befestigter Wachposten befunden. Die Wirtschaft des Kibbuz stützt sich auf landwirtschaftliche und industrielle Produkte. Der Kibbuz Maabarot wurde von rumänischen Mitgliedern des Haschomer Hazair gegründet (die offizielle Gründung wird auf 1932 datiert). Er liegt in der Scharonebene und hat derzeit etwa 850 Einwohner. Neben landwirtschaftlichen Produkten werden pharmazeutische Waren hergestellt.

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Einleitung

Führerschaft wurde in Personalunion ausgeübt. Insofern war die Kibbuzbewegung ein integraler Teil der Weltbewegung. Mit Blick auf die Zionistische Weltorganisation (World Zionist Organisation, WZO) war jedoch der Einfluss der Jugendbewegung selbst auf die zionistische Aufbauarbeit bedeutender, da sie das Schwergewicht der Arbeit in der Diaspora bildete. Im Vergleich zu anderen zionistischen Verbänden in verschiedenen Ländern, besonders in Ost- und Mitteleuropa, war sie quantitativ und qualitativ bedeutend stärker und hatte einen größeren Einfluss auf das politische Leben der jüdischen Gemeinden als die Kibbuzbewegung des Haschomer Hazair in Palästina, die sich erst noch entwickeln musste. Sie betrachtete sich dabei selbst als Nachwuchstruppe der Kibbuzim in Palästina, und die Kibbuzbewegung hegte damals durchaus realistische Hoffnungen, durch die baldige Ankunft vieler Tausend neuer Mitglieder ihr politisches und gesellschaftliches Gewicht deutlich erhöhen zu können. Diese Bedeutung kam bereits innerhalb der Zionistischen Weltorganisation zum Ausdruck. Mitglied konnte jeder Jude werden, der den Schekel erwarb, also die Mitgliedsgebühr entrichtete und damit die Stimmberechtigung erhielt. Bei den Wahlen zu den Kongressen standen sich politische Parteien mit verschiedenen ideologischen und politischen Auffassungen gegenüber. Die Weltbewegung des Haschomer Hazair war in allen Ländern und damit auch in der Schweiz Mitglied des jeweiligen Zionistenverbandes und nahm an den entsprechenden Auseinandersetzungen und Wahlen aktiven Anteil. Darauf werde ich noch an verschiedenen Stellen meines Buches zurückkommen, war ich doch selbst immer wieder daran beteiligt. Und da die Fraktion des Haschomer Hazair aus dessen Delegierten aus allen Ländern bestand, war der Einfluss der Bewegung auf den Zionistenkongressen im Vergleich zu dem der Kibbuzim in Palästina relativ groß. Persönlich nahm ich an den meisten Zionistischen Kongressen zwischen 1937 in Zürich und dem letzten Kongress 2010 in Jerusalem teil. Insofern können meine autobiografischen Aufzeichnungen als eine Art Zeugenaussage zu den historischen Entwicklungen gesehen werden, die im Jahre 1948 zur Verwirklichung des „Baseler Programms“ führten – zur Gründung einer „Heimstätte“ in Palästina, des „Judenstaates“ Israel, wie ihn Theodor Herzl in seiner gleichnamigen Schrift 1896 gefordert hatte. Ich erlebte die große Begeisterung und Freude ebenso wie die Anspannung im Hinblick darauf, was die Zukunft bringen würde. Später werde ich auch davon berichten, wie wir in den Kibbuzim die nördliche Grenze im Unabhängigkeitskrieg und in den folgenden Kriegen gegen Angriffe der syrischen Truppen verteidigten. 15

Einleitung

Im Januar 1946, anlässlich der ersten europäischen Konferenz des Haschomer Hazair nach dem Krieg in Fontainebleau bei Paris, lernte ich meine zukünftige Ehefrau Chasia Bielicka kennen. Ihre Erlebnisse in den Ghettos Grodno und Białystok während der Schoah und als Erzieherin geretteter jüdischer Kinder in der Nachkriegszeit6 haben als gemeinsames Feld unseres Engagements und unserer Arbeit im und nach dem Zweiten Weltkrieg den ersten Kontakt geschaffen, wie mein Buch noch deutlich machen wird. Nachdem Chasia im September 1947 aus dem Internierungslager für „illegale Einwanderer“ entkommen war, schlossen wir uns dem Kibbuz Lehavot Habaschan an und bauten zusammen unsere Familie auf. Viele Jahre habe ich dort in der Landwirtschaft gearbeitet, war Exportdirektor der Feuerlöscherfabrik des Kibbuz und übte gesellschaftliche Funktionen aus, unter anderem fünf Amtsperioden als Maskir, als Vorsitzender der KibbuzLeitung. Von 1954 bis 2005 war ich in verschiedenen öffentlichen Positionen tätig und wirkte zusammen mit meiner Familie für mehrere Jahre als Delegierter in Auslandsmissionen: als Direktor der Weltbewegung des Haschomer Hazair sowie als Delegierter der Jewish Agency für zionistische Erziehung, die Durchführung der Alija und die Integration in das jüdische Leben. Ich vertrat die Bewegung in nationalen und politischen Organisationen in Israel wie in internationalen jüdischen Gremien. Auch davon wird in diesem Buch die Rede sein. Es war ein langer Weg, der den jüdischen Jungen von seiner Geburtsstadt Basel bis zur Mitgründung eines Kibbuz im Norden von Israel am Fuße der Golanhöhen führte. In ihm spiegelt sich ein entscheidendes Kapitel der jüdischen Geschichte ebenso wider wie die Herausforderungen, die das 20. Jahrhundert für sie bedeutete. Meine Erinnerungen habe ich dabei vor allem für meine Familie niedergeschrieben: meine drei Töchter und meine Schwiegersöhne, meine elf Enkelkinder und meine neun Urenkel. Chasia und mir war es vergönnt, während 64 Jahren vor diesem Hintergrund des Zionismus eine wunderbare und wertvolle Lebensgemeinschaft zu genießen. Ich hoffe, dass weitere Leser an dem hier beschriebenen Lebensweg Interesse finden werden.

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Chasia Bornstein-Bielicka: Mein Weg als Widerstandskämpferin. Aus dem Hebräischen von Orna Keren-Carmel. Hg. von Heiko Haumann. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008 (hebräische Originalausgabe Tel Aviv 2003).

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Die Geschichte der „blauen Büchse“

Die Geschichte der „blauen Büchse“ In unserem Haus in Lehavot Habaschan herrscht ein zionistischer Geist in der Tradition des Haschomer Hazair. Als „Visitenkarte“ fällt sofort am Eingang die blaue Büchse ins Auge. Dies war ein volkstümliches Finanzierungsmittel zum Aufbau Palästinas, das der 1897 beschlossene und bald darauf wirkende Keren Kayemeth LeIsrael (KKL), der Jüdische Nationalfonds, ins Leben gerufen hatte. Eine solche Büchse stand im frühen 20. Jahrhundert in jedem zionistischen jüdischen Haus in der Welt. Die unsrige brachte Chasia von meiner Schwester in Zürich, die sie vom Elternhaus geerbt hatte, zu uns nach Hause. Sie gehörte zu jenen Büchsen, die auf einer zionistischen Veranstaltung in Basel unmittelbar nach der Gründung des Staates Israel an alle jüdischen Haushalte verteilt wurden. Die auf ihr gedruckte Karte zeigt die Grenzen des neuen Staates von 1948 ohne die besetzten Gebiete. Chasia und ich hatten in den Jahren vor der Staatsgründung – sie in ihrer Geburtsstadt Grodno bis 1939 und ich in Basel – die dortigen jüdischen Familien besucht und die Büchsen geleert. Der Haschomer Hazair unterstützte den Keren Kayemeth, und die kleine persönliche Geldspende, die die Mitglieder der Jugendorganisation einsammelten, war ein Ausdruck der zionistischen Identifizierung mit dem Aufbauwerk in Palästina. Einer nostalgischen Ironie entsprach es, als bei der festlichen Veranstaltung im großen Theater von Jerusalem anlässlich des 100-jährigen Bestehens des KKL, zu der ich als Ehrenmitglied des Zionistenkongresses eingeladen war, alle geladenen Gäste eine Miniaturbüchse erhielten – auf der Hinterseite stand „Made in China“. Somit gelangte ein Teil des „zionistischen Geldes“, das Münze für Münze gesammelt worden war, an die Produzenten in China … Es gibt aber noch einen anderen biografischen Zusammenhang mit dem Finanzierungsfonds: Aus Anlass seiner 50-jährigen zionistischen Aktivität wurde mein Vater durch die jüdische Gemeinde in Basel in das Goldene Buch des KKL eingetragen – eine Ehrung, die mit einer besonderen Spendenaktion verbunden ist. Unseren Kindern und Enkeln erzählten wir immer wieder die Geschichte der „blauen Büchse“ – ein erster Schritt in der zionistischen Erziehung.

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Fremde und Zugehörige

Fremde und Zugehörige Geboren wurde ich am 17. September 1920 in der Stadt Basel, die eine wichtige Rolle in der Geschichte des Zionismus und – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – auch in meinem Lebenslauf spielte. Ich wurde sozusagen in eine jüdische Umgebung hineingeboren: In Basel gab es viele jüdische Institutionen, religiöse Örtlichkeiten und eine Synagoge, ein jüdisches Waisenhaus, ein Spital, ein Altersheim und einen Friedhof. Verschiedene soziale Hilfsorgane waren Ausdruck der jüdischen Solidarität. Ich wurde im jüdischen Spital geboren, die Ärzte und auch das Pflegepersonal waren Juden. Mein Vater kam 1889 in Zduńska Wola zur Welt, meine Mutter 1886 in dem etwa 50 Kilometer entfernten Lodz (Łódź). Aufgrund einer Lungenkrankheit meines Vaters beschloss die Familie, Polen zu verlassen. Sie zogen 1912 von Lodz weg und siedelten sich nach einem Versuch, sich in Frankfurt am Main niederzulassen, 1913 in Basel an. Meine Mutter war sehr korpulent, und ihr Gewicht bereitete ihr gesundheitliche Beschwerden; sie starb 1952 im Alter von 62 Jahren. Sie war sehr zufrieden, dass ich in einer „jüdischen Atmosphäre“ aufwuchs und in einem jüdischen Umfeld tätig war. Als Chasia 1946 zwei Tage bei uns wohnte, war meine Mutter überglücklich und sprach mit ihr Jiddisch. Meine Mutter war eine wunderbare Frau und lebte mit meinem Vater in vollkommener Harmonie. Das tiefe Verständnis, das sie füreinander hatten, führte dazu, dass sie in hohem Maße an den öffentlichen Aktivitäten meines Vaters Anteil nahm. Unser Haus war offen, angenehm und gastfreundlich. Dank meiner Mutter war unsere Familie das Zentrum der ganzen Familie Bornstein. Wir, die Kinder, fanden in ihr eine sorgende Mutter. Sie zeigte viel Verständnis auch während unserer Pubertät und der weiteren Entwicklung und unterstützte meine und meiner Schwester Mitgliedschaft im Haschomer Hazair, der zionistisch-sozialistischen Jugendorganisation, die ihre Anhänger zur Auswanderung nach Palästina erzog. In einem späteren persönlichen Gespräch sagte sie mir: „Während der Jahre des Krieges hast du im Geheimen gehandelt. Wir wussten nicht, was du machst. Wir wussten nur, dass du dich um die Juden in Europa gekümmert hast, und waren stolz darauf.“ Natürlich hatte sie die Post bemerkt, die ich an unsere Basler Adresse erhalten hatte, die deutschen Briefmarken mit Hitlers Bild und dem Stempel der Wehrmachtzensur mit dem Hakenkreuz. Sie fragte auch nicht, warum ich mehrere Male mitten in der Nacht einen Telefonanruf bekommen und jeweils sofort den ersten Zug genommen hatte, um am frühen Morgen jemanden zu treffen, der 18

Fremde und Zugehörige

Malka und Bernhard Bornstein, Heini Bornsteins Eltern, 1949 in Engelberg.

für einige Stunden aus Ländern, die die deutsche Armee besetzt hatte, in die Schweiz gekommen war. Meinen Vater begleitete ich 33 Jahre später auf seinem letzten Weg – er starb im Februar 1985 im Alter von 96 Jahren. Bei der Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof hielt ich in Anwesenheit von Hunderten von Menschen der jüdischen Gemeinde folgenden Nachruf: „Wir verabschieden uns heute von unserem Vater. Auch wenn jemand ein hohes Alter erreicht hat und jeder sich mit seiner Vernunft der Naturgesetze bewusst ist, veranlasst der Tod, insbesondere bei einem nahestehenden Familienmitglied, eine tiefe seelische Erschütterung. Die Trauer um unseren Vater, Großvater und Urgroßvater umfasst einen weiten Kreis der Familie und Bekannten. Er führte während vieler Jahre ein Leben voller Inhalt und voller Werte. Ber Bornstein gehört zu der Generation, die im letzten Jahrhundert geboren wurde und das Schicksal des jüdischen Volkes verfolgte. Schon in seinen Jugendjahren nahm er aktiven Anteil am gesellschaftlichen jüdischen Leben und wurde 19

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von revolutionären Gedanken beeinflusst. Er war Zeitgenosse von Ereignissen wie der Russischen Revolution des Jahres 1905, den Pogromen und dem Erwachen der jüdischen Arbeiterbewegung wie auch von der Vorkriegsstimmung im Jahre 1914. Das Lernen in der Jeschiwa – der jüdischen Hochschule – hat ihm ein tiefes Wissen der jüdischen Werte und der Tradition vermittelt und ihn darin verwurzelt. In meiner Mutter, Malka, fand er eine treue Partnerin noch in Polen. Gemeinsam waren sie im gesellschaftlichen und kulturellen jüdischen Leben aktiv. Die Familie wollte jedoch nicht im antisemitischen Polen leben, zu erschüttert war sie angesichts der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Sie gehörte zu den ersten der Familien, die in die Schweiz kamen; ihr folgten die Eltern meines Vaters, seine Brüder und Schwestern mit deren Familien. Sie alle verließen Polen und siedelten sich in Basel an. Die erweiterte Familie Bornstein spielte danach eine aktive Rolle im jüdischen Leben in Basel. Unser Haus wurde zum gesellschaftlichen Zentrum. Mutter nahm sich vieler Sorgen der eigenen Familie, aber auch des weiteren Familienkreises an. So ermöglichte sie es meinem Vater, sich der öffentlichen Tätigkeit zu widmen und den Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen. Mein Vater hatte die Lehre aus den Erfahrungen in Polen gezogen und identifizierte sich mit der zionistischen Weltanschauung. Doch nicht nur aktuelle Ereignisse führten ihn zum Zionismus. Er sah die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk als eine historische Notwendigkeit an. Dabei verband er seine tiefen Kenntnisse der jüdischen Quellen mit einem umfassenden Verständnis der politischen Wirklichkeit. Er schloss sich dem fortschrittlichen Strom des Zionismus an: Für ihn waren Dr. Chaim Weizmann, Dr. Nahum Goldmann und Yitzchak Grünbaum die wahren Interpreten des allgemeinen Zionismus. In der allgemeinen und auch in der jüdischen Lebensauffassung verstand er das Judentum als Religion und Kultur einer Toleranz, die zur Gerechtigkeit strebt. In jedem Meinungsaustausch kam seine meisterliche Beherrschung der historischen und menschlichen Werte des Judentums zum Ausdruck, die er stets mit Quellen zu begründen wusste. Bei verschiedenen Gelegenheiten haben auch die Vertreter der Zionistischen Weltorganisation ihre Anerkennung seiner zionistischen Aktivität hervorgehoben. Die Weltanschauung unseres Vaters wie auch die jüdische Atmosphäre, die unsere Mutter im Haus pflegte, hatten einen Einfluss auf uns Kinder. Meine Schwester, ihre Töchter und Gatten setzten diese Tradition der jüdischen Atmosphäre, Erziehung und gesellschaftlichen Tätigkeit fort. Ich persönlich beschloss, 20

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dass der Zionismus nicht nur eine Weltanschauung ist, sondern ein Lebensweg, und lebe schon 40 Jahre zusammen mit meiner Familie in Israel. Die Besuche des Vaters bei uns im Kibbuz in Israel waren für uns stets ein erfreuliches Erlebnis. Er war mit Israel eng verbunden. Ich nehme von dir Abschied, auch im Namen meiner Frau, mit einem besonderen Gefühl der Liebe und persönlichen Identifizierung. Meine Töchter und meine Enkelkinder verehrten und liebten ihren alten ‚Großvater Dov‘, wie auch viele Mitglieder des Kibbuz es taten. Sie lernten dich während deiner Besuche im Kibbuz kennen, unterhielten sich mit dir und hatten anregende Gespräche; sie werden dich ehrenhaft in Erinnerung behalten. Ich möchte allen guten Menschen danken, die meinem Vater während der Jahre seiner Einsamkeit zur Seite standen, ihn besuchten und ihm Gesellschaft leisteten. Meine volle Anerkennung gilt der Leitung des Altersheim ‚La Charmille‘ und dem ganzen Personal. Hier fand mein Vater in den letzten Jahren ein Heim, in dem er gut versorgt und mit viel Aufmerksamkeit gepflegt wurde. So schließt sich ein Lebenskreis. Mit Bernhard Bornstein starb einer der letzten Menschen der Generation, welche die schweren Ereignisse, die kulturellen, seelischen und physischen Misshandlungen dieses stürmischen Jahrhunderts erlebte. Eine Generation, die alles tat, um das Schicksal des jüdischen Volkes zu ändern – doch noch ist dieses Ziel nicht erreicht.“ ***** Die Juden von Basel lebten im Allgemeinen in einem bestimmten Quartier. Es gab in der Stadt ein „Ghetto“, in dem sich die Juden aus freier und persönlicher Wahl niederließen. Auch meine Eltern wechselten ihre Wohnung – ich kann mich an drei unterschiedliche Straßen erinnern. Als Kind wohnte ich mit der Familie in der Rheinländerstraße, 1933 zogen wir in eine „vornehmere“ Gegend, die Angensteinerstraße, und im Jahr 1937 hatten wir ein neues Quartier in der Türkheimerstraße 5. Später wurde diese Adresse in ganz Europa bekannt, es war die Anschrift für meinen Briefverkehr mit den Mitgliedern des Haschomer Hazair in den verschiedenen Ländern. Insbesondere seit dem Jahre 1939 und während der ganzen Kriegszeit führte ich meine gesamte Korrespondenz über diese Adresse. Auch als ich 1941 beschloss, dass meine tagtägliche Teilnahme an den internationalen Hilfs- und Rettungsaktivitäten der Weltzentrale des Hechaluz und der anderen jüdischen Weltorganisationen meine Übersiedlung nach Genf erforderte, wo diese ihren Sitz hatten, behielt ich die Postadresse in Basel 21

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bei. Dies galt auch für meine Korrespondenzen mit Palästina, London und New York. Ich fuhr mindestens einmal in der Woche nach Basel und Zürich. Im Herbst 1946 kehrte ich schließlich nach Basel zurück, um an den Vorbereitungen zum 22. Zionistenkongress teilzunehmen. Die Adresse Türkheimerstraße 5 behielt damit ihre Gültigkeit bis zum Jahr 1947, als ich nach Palästina auswanderte. In der Schweiz werden meist Wohnungen gemietet. Unsere entsprachen einem mittelständischen Niveau. Nicht immer hatte jedes von uns Kindern ein eigenes Zimmer; erst als wir älter wurden, verfügte jeder von uns beiden über sein eigenes kleines Reich. Mir stand ein Raum zur Verfügung, in dem ich einen Schreibtisch und einen Schrank für meine Dokumente stehen hatte, die Jahre später ins Archiv in Givat Haviva geschickt wurden. Wahrscheinlich war ich einer der Ersten, die eine kombinierte deutsch-hebräische Schreibmaschine der Marke „Hermes Baby“ erwarben. Sie begleitete mich auf all meinen Reisen, mit ihr schrieb ich überall und tippte auf ihr meine Briefe sowohl auf Deutsch als auch auf Hebräisch. Meine Eltern wussten keine Einzelheiten über meine Tätigkeit, waren aber ganz zufrieden damit, dass ich mich mit wichtigen Angelegenheiten des jüdischen Volkes beschäftigte und für „den Staat unterwegs“ engagierte. Sie waren ja Zeugen der vielen Post, die ich aus der ganzen Welt erhielt. Auch meine Telefongespräche mit dem Ausland, die in der Kriegszeit das rege Interesse der Zensur hervorriefen, waren kein Geheimnis für sie. Ebenso waren ihnen meine vielen Reisen bekannt, hinterließ ich ihnen doch stets eine Adresse oder Telefonnummer, unter der ich zu erreichen war. Trotz der „geheimnisvollen“ Tätigkeit und der fast permanenten Abwesenheit von der Familie waren die Beziehungen zwischen mir und den Eltern sehr gut, und wir standen uns nahe. Ich verschrieb mich nicht der Routine einer akademischen oder wirtschaftlichen Karriere, wie es innerhalb der jüdischen Bevölkerung üblich war. Mein Lebensweg insgesamt wie auch die berufliche Ausbildung waren auf ein bestimmtes Ideal gerichtet – die Auswanderung nach dem damaligen Palästina und das Leben in einem Kibbuz. Tatsächlich habe ich nicht allzu viel Energie und Anstrengung auf das Lernen in den Schulen verwandt. Zwar bestand ich alle Prüfungen, mehr aber auch nicht. Ich war völlig der Bewegung ergeben, und das schon vor 1939. Das Lernen war nicht mehr als eine diesem Weg angepasste Notwendigkeit, die es zu erfüllen galt. Ich wählte eine Ausbildung in der Landwirtschaft, wollte ich doch einen „chaluzischen“, einen Pionierberuf, der dem Ziel der Ansiedlung in Palästina am ehesten entsprach. 22

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Dabei gab es keine Schwierigkeiten mit meinen Eltern, obwohl mein ganzer Lebensweg nicht mit den üblichen Erwartungen jüdischer Eltern übereinstimmte. Eine vorübergehende Missstimmung störte freilich einmal die Harmonie. An dieser Stelle muss ich die Chronologie der Darstellung ein wenig außer Acht lassen und erzählen, wie ich nach Palästina auswanderte: Ich verließ das Haus der Eltern, ohne es ihnen mitzuteilen und ohne mich von ihnen zu verabschieden. Nach dem Zionistenkongress im Dezember 1946 wurde mit Einverständnis der Exekutive der Bewegung in Palästina und des Delegierten, der in die Schweiz gekommen war, Josef Shatil, beschlossen, dass ich die Alija absolvieren könne. Doch Ehud Avriel, Leiter der sogenannten „illegalen Alija“ in Europa, bat mich, für zwei Monate nach Paris zu kommen, um mit ihm zu arbeiten. Er brauchte einen Schweizer Bürger, um von Frankreich aus mit den Banken in der Schweiz die finanziellen Geschäfte durchzuführen, die mit dem Kauf von Schiffen für die illegale Einwanderung in Zusammenhang standen. So war ich ab Februar 1947 zwei Monate in Paris tätig und kehrte Anfang April nach Basel zurück. Unterdessen bestätigte das Palästinaamt in Genf mein „Zertifikat“, das heißt die Einwanderungsbewilligung der britischen Mandatsbehörde im Rahmen der beschränkten Quote. Das britische Generalkonsulat in Bern verweigerte dann aber die Ratifizierung meines Einreisevisums mit der Begründung, ich stehe aufgrund meiner gegen die Interessen des britischen Empires gerichteten Aktivitäten – gemeint war meine Tätigkeit für die illegale Einwanderung nach Palästina – auf der Schwarzen Liste. Wir informierten Ehud Avriel in Paris, und er versprach, mir die notwendigen Dokumente zur Einreise nach Palästina zu besorgen. Der Mossad, die geheime Organisation, die die illegale Alija durchführte, hatte in London Verbindungen, um in besonderen Fällen einen offiziellen britischen Pass zu erhalten. Dieser Pass wurde auf den richtigen Namen des „Besitzers“ ausgestellt und ermöglichte die Einwanderung ohne jegliche Probleme, war aber nur für eine beschränkte Zeit gültig. Man nannte diese Art der Einwanderung „VIP-Alija“. Bis alle Dokumente einschließlich der Schiffskarten bereit waren, verging einige Zeit, die ich nutzte, indem ich dabei half, die Auswanderung der in der Schweiz befindlichen Flüchtlinge – meistens Jugendliche – nach Palästina zu organisieren. Ich wohnte erneut bei meinen Eltern und arbeitete in einer Großgärtnerei, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und mir eine Ausrüstung für die Alija anschaffen zu können. Dabei beriet ich mich mit meinem Pariser „Vorgesetzten“ Ehud Avriel, der als Mitglied des Kibbuz Neot Mordechai mein späterer Nachbar werden sollte, darüber, was ich mitnehmen sollte, und erhielt 23

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von ihm eine detaillierte Liste. Als ich ihn fragte: „Soll ich ein Velo mitnehmen?“, antwortete er lachend: „In den Kibbuzim kannst du nirgends mit dem Fahrrad fahren. Du nimmst besser ein Paar Stiefel mit, dann kannst du auf den Sandwegen und im Schlamm besser gehen.“ Anfang Mai 1947 bat Avriel mich, nach Paris zu kommen. Dort gab er mir meinen britischen Pass mit meinen richtigen Personalien unter der Bedingung, niemanden davon wissen zu lassen: „Nicht deine Eltern, keine Freunde! Wenn du eine Freundin hast, kannst du ihr von der Sache erst berichten, wenn du in Palästina angekommen bist. Strenges Geheimnis! Schreibe einen Brief an deine Eltern, unsere Agenten“ – er meinte den Mossad – „werden den Brief von Marseille absenden, sobald du auf dem Schiff bist.“ Der Brief sollte dann der Zensur zum Opfer fallen. Ich hatte keine Wahl und musste die Anordnungen des Mossad respektieren. In aller Stille bereitete ich meine Alija vor. Allerdings war ich dem „Befehl“ des Mossad nicht ganz treu. Ich wusste, dass die Eltern sofort nach meiner Abreise meinen Freund Bruno Lewin in Zürich anrufen würden, um zu erfahren, warum ich plötzlich sang- und klanglos abgereist sei. Ich vereinbarte daher mit Bruno folgende Antwort: „Heini ist in einer geheimen Mission nach Palästina gefahren, und ihm wurde verboten, jemandem davon zu erzählen. Es geht ihm gut. Ihr werdet in den nächsten Tagen einen Brief von ihm erhalten.“ Dies schrieb ich auch meinen Eltern in dem Brief, der ihnen von Marseille aus zugehen sollte. Natürlich waren sie schockiert, als sie diese spärlichen Nachrichten erhielten, aber später erfuhr ich, dass mein Vater allen mit Stolz von der „geheimen Mission“ ihres Sohnes erzählte. So schiffte ich mich auf einem britischen Schiff ein; ich war ein ganz „gewöhnlicher“ englischer Passagier. In Alexandria hatten wir einen Tag Aufenthalt, und ich nahm als Tourist von den Britischen Inseln an einer Sightseeingtour teil. Im Hafen von Haifa erwarteten mich dann die Agenten des Mossad, unter ihnen Arie Gelbard, der letzte Delegierte aus Palästina vor dem Krieg in der Schweiz.7 Einer von ihnen steckte in einer englischen Militäruniform. Er wandte sich an mich, verlangte den englischen Pass zurück und überreichte mir einen regulären palästinensischen Personalausweis auf meinen Namen. Man hatte mir ein Zim7

Arie Gelbard schrieb später als Historiker mehrere Werke zur Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland (kurz „Bund“ genannt), einer wichtigen marxistischen und antizionistischen Bewegung. Diese trat für eine nicht-territoriale, kulturelle Autonomie der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa, für eine soziale Revolution und für die Anerkennung des Jiddischen als Nationalsprache ein.

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Basel – Stadt der Zionistenkongresse

mer im Hotel „Carmelit“ reserviert. Arie leistete mir den ganzen Tag Gesellschaft, und wir aßen im „Arbeiter-Restaurant“. Am nächsten Tag fuhr ich in den Kibbuz Gat.8 Nach meiner Alija und meiner Integration in den Kibbuz Lehavot Habaschan unterhielt ich, wie schon gesagt, nachbarliche Beziehungen mit Ehud Avriel im Kibbuz Neot Mordechai. Nach seiner Rückkehr nach Palästina und der Gründung des Staates Israel spielte er als dessen erster Botschafter in der Tschechoslowakei eine entscheidende Rolle beim Abschluss eines militärischen Abkommens mit Israel. Im Grunde handelte es sich um die Unterstützung durch die Sowjetunion während des Krieges im Jahre 1948, und die Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei waren entscheidend für die Verteidigung des neugeborenen Israel. Ich erinnere mich, wie über unserem Kibbuz Lehavot Habaschan Flugzeuge tschechische Gewehre abwarfen, die es uns erlaubten, den syrischen Angriffen einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Seine letzte Funktion übte Ehud Avriel dann als Präsident des Zionistischen Aktionskomitees aus. In dieser Zeit war ich Mitglied des Präsidiums, und es entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen zwischen uns, waren wir doch beide Mitglieder der Arbeiterfraktion. Des Öfteren fuhr ich in seinem Auto von Jerusalem nach Hause. Dies war jedes Mal eine lange Reise, und wir verstanden uns gut, obwohl wir in manchen Dingen durchaus unterschiedlicher Meinung waren – er gehörte dem rechten Flügel der Israelischen Arbeitspartei an und ich der linken MapamPartei.

Basel – Stadt der Zionistenkongresse Doch kehren wir zurück nach Basel. Es gibt einige spezifische Aspekte der Stadt am Rhein in der modernen jüdischen Geschichte, die auch meine Lebensgeschichte erheblich beeinflusst haben. Ich war und bin auch heute noch sehr an der Geschichte der Juden in Basel interessiert. Es war, wie ich meine, kein Zufall, dass Theodor Herzl diese Stadt als Ort des ersten Zionistenkongresses ausgewählt 8

Der Kibbuz Gat wurde 1934 von Einwanderern aus Polen, Jugoslawien und Österreich gegründet. Er liegt in der Nähe der Stadt Kiryat Gat. Der Name leitet sich von der gleichnamigen Stadt der Philister ab, die zu deren Fünfstädtebund gehörte. Der Kibbuz stellt vor allem Fruchtsäfte und Produkte der Naturmedizin her.

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mer im Hotel „Carmelit“ reserviert. Arie leistete mir den ganzen Tag Gesellschaft, und wir aßen im „Arbeiter-Restaurant“. Am nächsten Tag fuhr ich in den Kibbuz Gat.8 Nach meiner Alija und meiner Integration in den Kibbuz Lehavot Habaschan unterhielt ich, wie schon gesagt, nachbarliche Beziehungen mit Ehud Avriel im Kibbuz Neot Mordechai. Nach seiner Rückkehr nach Palästina und der Gründung des Staates Israel spielte er als dessen erster Botschafter in der Tschechoslowakei eine entscheidende Rolle beim Abschluss eines militärischen Abkommens mit Israel. Im Grunde handelte es sich um die Unterstützung durch die Sowjetunion während des Krieges im Jahre 1948, und die Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei waren entscheidend für die Verteidigung des neugeborenen Israel. Ich erinnere mich, wie über unserem Kibbuz Lehavot Habaschan Flugzeuge tschechische Gewehre abwarfen, die es uns erlaubten, den syrischen Angriffen einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Seine letzte Funktion übte Ehud Avriel dann als Präsident des Zionistischen Aktionskomitees aus. In dieser Zeit war ich Mitglied des Präsidiums, und es entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen zwischen uns, waren wir doch beide Mitglieder der Arbeiterfraktion. Des Öfteren fuhr ich in seinem Auto von Jerusalem nach Hause. Dies war jedes Mal eine lange Reise, und wir verstanden uns gut, obwohl wir in manchen Dingen durchaus unterschiedlicher Meinung waren – er gehörte dem rechten Flügel der Israelischen Arbeitspartei an und ich der linken MapamPartei.

Basel – Stadt der Zionistenkongresse Doch kehren wir zurück nach Basel. Es gibt einige spezifische Aspekte der Stadt am Rhein in der modernen jüdischen Geschichte, die auch meine Lebensgeschichte erheblich beeinflusst haben. Ich war und bin auch heute noch sehr an der Geschichte der Juden in Basel interessiert. Es war, wie ich meine, kein Zufall, dass Theodor Herzl diese Stadt als Ort des ersten Zionistenkongresses ausgewählt 8

Der Kibbuz Gat wurde 1934 von Einwanderern aus Polen, Jugoslawien und Österreich gegründet. Er liegt in der Nähe der Stadt Kiryat Gat. Der Name leitet sich von der gleichnamigen Stadt der Philister ab, die zu deren Fünfstädtebund gehörte. Der Kibbuz stellt vor allem Fruchtsäfte und Produkte der Naturmedizin her.

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hat. Herzl wollte den Kongress zunächst in der Stadt München abhalten, aber die Rabbiner der bayerischen Landeshauptstadt protestierten dagegen, was ihnen in der zionistischen Historiografie die Bezeichnung „Protestrabbiner“ einbrachte. Sie waren grundsätzlich gegen den Zionismus und verneinten diese Bewegung der „Auto-Emanzipation“ als eine rein säkulare, der Religion widersprechende Auffassung. Der humanistische und liberale Charakter von Basel veranlasste daraufhin Theodor Herzl, den Kongress in die Schweiz zu verlegen. Seitdem herrschten enge Beziehungen zwischen dieser Stadt und der zionistischen Bewegung – bis zur Gründung des Staates Israel fanden zehn der 22 bis dahin veranstalteten Zionistenkongresse in Basel statt, und auch danach bot die Stadt den Rahmen vieler internationaler zionistischer Tagungen. Die Geschichte der Stadt Basel spiegelt in gewisser Weise die Beziehungen zu den Juden in Westeuropa während des 19. und 20. Jahrhunderts wider. Wer die Geschichte des Mittelalters erforscht, wird freilich zu dem Schluss kommen, dass es „nichts Neues unter der Sonne“ gibt. Pogrome gegen die Juden waren ein immer wiederkehrendes Ereignis in allen Ländern Europas. Die judenfeindliche Hetze eroberte auch die Schweiz und insbesondere die Umgebung von Basel. Einfluss übten dabei die gesellschaftlichen Entwicklungen in den benachbarten Ländern, besonders in Frankreich, aus. So geschah es, dass im Jahre 1349 die gesamte jüdische Gemeinde in Basel umgebracht wurde: Alle Juden wurden auf einer Insel im Rhein zusammengedrängt und verbrannt. Nach einer erneuten kurzfristigen Wiederansiedlung durften sich ab etwa 1400 in Basel keine Juden mehr niederlassen. Die Geschichte der Juden in Basel zeigt eine Kontinuität der Belästigungen, Angriffe und rechtlichen Einschränkungen. 9 Die religiöse und nationale Diskriminierung fand ihren Ausdruck in kirchlichen Dekreten. Die Juden mussten ihre Treue zum Herrscher in einer beschämenden öffentlichen Zeremonie beschwören. Viele Anschuldigungen – wie die Vergiftung von Brunnen, der Ritualmord an christlichen Kindern oder der Betrug bei der Zinsleihe – wurden auch in dieser Gegend gegen die Juden erhoben. Lange Zeit war es den Juden im Wesentlichen nur erlaubt, in den zwei aargauischen Dörfern Endingen und Lengnau dauerhaft zu wohnen, die man „Judendörfer“ nannte.10 Die Grundlagen des öffentlichen politischen Auftretens und der Orga9

Vgl. zur Geschichte der Juden in Basel (auch im Folgenden): Acht Jahrhunderte Juden in Basel – 200 Jahre Israelitische Gemeinde Basel. Hg. von Heiko Haumann. Basel 2005. 10 Siehe dazu Alexandra Binnenkade: KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau. Köln usw. 2009.

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nisation der Schweizer Juden wurden dann im 19. Jahrhundert gelegt. Jüdische Gemeinden bildeten sich zunächst in den kleinen Ortschaften und Dörfern, erst später in den großen Städten. Der Prozess der Integration in die schweizerische Gesellschaft war dabei dort leichter, wo die Zahl der Juden beschränkt war. Erst später wurde den Juden der unbefristete Aufenthalt in den Städten bewilligt. Es konnte nicht ausbleiben, dass die Stürme der Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts in den benachbarten Ländern auch das politische und juristische System der Schweiz beeinflussten. In paradoxer Weise brachte die Französische Revolution von 1789, welche Freiheit und Menschenrechte versprach, zunächst einmal neue Ausschreitungen gegen die Juden Frankreichs, namentlich im Elsass, die sich auch auf das nahe Basel auswirkten. Viele der Juden im Nachbarland wurden aufgrund ihrer engen Beziehungen zur Adelsschicht mit dem alten System identifiziert. Basel nahm in diesen Jahren rund 700 Flüchtlinge aus dem Elsass auf. 1791 bekamen dann die französischen Juden das Staatsbürgerrecht und damit ihre Gleichstellung. Das wirkte sich auch auf die elsässischen Juden in Basel aus, die ihre französische Staatsbürgerschaft behielten. Der Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft 1798 und die Helvetische Verfassung im selben Jahr, die sich am französischen Vorbild orientierte, brachten für die Juden noch keinen entscheidenden Durchbruch.11 Dennoch begann jetzt ein neues Kapitel in der Geschichte der Juden der Schweiz. Nach 400 Jahren erhielt 1800 zum ersten Mal ein Jude das Niederlassungsrecht in der Stadt Basel. 1805 wurde die jüdische Gemeinde in Basel gegründet, und 1885 bekam sie ihren ersten eigenen Rabbiner. Doch dahinter stand keineswegs eine geradlinige Entwicklung ohne Hindernisse. Dass die Basler Juden auch noch während des 19. Jahrhunderts im Städtchen Hegenheim begraben werden mussten, ist ein Zeichen des beengten Spielraums. Erst 1903 wurde ein Friedhof für die Juden in Basel errichtet. Auf ihm sind meine Eltern begraben, ebenso die ganze weitere Familie. Eigenartig ironisch wirkt, dass die Straße, an der sich dieser Friedhof befindet, nach Theodor Herzl benannt ist, der doch die Parole „Das Jüdische Volk lebt!“ prägte. Am Eingang zum Friedhof wurde eine eindrucksvolle Gedenkstätte in deutscher, französischer und hebräischer Sprache für die Opfer der Schoah errichtet.

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Vgl. Susanne Bennewitz: Basler Juden – französische Bürger. Migration und Alltag einer jüdischen Gemeinde im frühen 19. Jahrhundert. Basel 2008.

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Nach der endgültigen Niederlage Napoleons im Jahre 1815, mit der auch der französische Einfluss auf die Schweiz zurückging, hatte sich die Lage der Basler Juden wie die der Juden in der Schweiz insgesamt von Neuem verschlechtert. Zwar waren die inzwischen in Basel lebenden rund 200 Juden recht gut integriert, und während des Revolutionsjahres 1848 erlebten elsässische Juden, die vor Ausschreitungen flüchteten, wiederum eine große Hilfsbereitschaft der Basler Bevölkerung. Aber rechtlich war ihre Stellung ausgesprochen labil, sodass mehr und mehr jüdische Familien die Stadt wieder verließen. 1848 beschloss die Schweizerische Eidgenossenschaft in ihrer Bundesverfassung die allgemeinen Bürgerrechte – aber nur für die christliche Bevölkerung. Erst 1866 erfolgte, nicht zuletzt auf ausländischen Druck hin, die rechtliche Gleichstellung der Juden und damit ihre Niederlassungs- und Gewerbefreiheit. Die neue Bundesverfassung von 1874 gestand ihnen dann auch die Glaubensfreiheit zu. Zwei Jahre zuvor hatte Basel die ersten Juden in sein Bürgerrecht aufgenommen. Nun gab es einen beachtlichen Aufschwung für die jüdische Bevölkerung Basels, die inzwischen rund 500 Personen umfasste. 1868 wurde das zentrale Gebäude der Basler Synagoge errichtet, und 1892 wurden die zwei großen Kuppeln auf dem Dach gebaut, bis dann 1904 der innere Bau der Synagoge seine Vollendung fand. Seit damals wurden verschiedene Renovationen unternommen, aber bis heute werden im ursprünglichen Bau religiöse Zeremonien – wie Hochzeiten oder die Bar Mizwa – abgehalten. Auch ich erhielt meine Bar Mizwa im Jahre 1933 in dieser großen Synagoge. Einige Jahre später wurde im Hof ein kleines Gebetshaus für den alltäglichen Gottesdienst unter der Woche angebaut, das einer geringen Anzahl von Menschen Raum bietet. Dieser Saal dient auch kulturellen und gesellschaftlichen Anlässen, etwa den Gemeindeversammlungen oder dem Treffen anderer Vereine und Institutionen. Aufgrund der insgesamt, trotz aller Probleme, günstigen Rahmenbedingungen gab es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen ständigen Zustrom jüdischer Einwanderer in wechselndem Umfang. 1910 lebten 2440 Juden in Basel, das waren nicht ganz zwei Prozent der städtischen Einwohner. Seit Ende des 19. Jahrhunderts und besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen auch vermehrt Juden aus Osteuropa nach Basel.12 Die Zahl der Immigranten hängt stets von den gesellschaftlichen, gesetzlichen, wirtschaftlichen und politischen Umständen in den Zielländern ab. In Basel waren die Beziehungen 12 Vgl. Patrick Kury: „Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!“ Ostjudenmigration nach Basel 1880–1930. Basel 1998.

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zu den jüdischen Einwanderern im Zeitverlauf sehr unterschiedlich. Die Juden selbst erörterten innere Probleme, als sie damit beschäftigt waren, die Instanzen der jüdischen Gemeinden zu errichten und zu konsolidieren. Sie wollten gleichberechtigte Bürger der Schweiz sein, aber auch ihre jüdische Identität bewahren, und dies nicht nur auf religiösem Gebiet: Es ging ihnen darum, ein alle Strömungen umfassendes jüdisches Selbstbewusstsein als Leitmotiv ihrer öffentlichen Tätigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei stand die Freiheit des religiösen Kultes nicht einmal im Mittelpunkt. Diese war inzwischen mehr oder weniger unbestritten, wenngleich die Israelitische Gemeinde Basel erst 1973 vom Kanton Basel-Stadt als öffentlich-rechtliche Institution anerkannt wurde. Immerhin war sie damit die erste jüdische Gemeinde der Schweiz, die auf diese Weise denselben juristischen Status erhielt wie die christlichen Landeskirchen – ein Symbol für die Integration der Basler Juden in die Stadt. Während des 19. Jahrhunderts stellte sich die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Basel als eine Mischung aus Wachstum, Konsolidierung des gesellschaftlichen Lebens und Kampf um zivile Rechte angesichts der antijüdischen Gesetze und physischen Übergriffe dar. Diskriminierende Tendenzen blieben auch nach der rechtlichen Gleichstellung wirksam. Ein Beispiel bildet das 1893 in einer Volksabstimmung angenommene Schächtverbot, das im Übrigen als Teil des „Tierschutzgesetzes“ bis heute in Kraft ist. Die orthodoxen Juden Basels beziehen daher ihr Fleisch aus dem benachbarten Frankreich. Weiterhin beeinflusste die Angst vor oder besser gesagt die Obsession einer drohenden „Überfremdung“ die Stellung der Juden, die ja „Immigranten“ waren. Sie galten als ein nicht „authentischer Fremdkörper“, dessen umfassende Integration unmöglich sei. Der Antisemitismus in Basel war in meiner Jugend eine latente Erscheinung, die nicht immer als persönliche Diskriminierung wahrgenommen werden musste. Ich selbst bemerkte keine Einschränkungen in meinem persönlichen Werdegang, weder in der Schule und während meiner landwirtschaftlichen Ausbildung – die meisten meiner Mitschüler waren Bauernsöhne – noch während des Militärdienstes oder bei meinem Auftreten in der Öffentlichkeit. Es bestanden keine ethnischen Beschränkungen an den Universtäten, und es herrschte auch keine besondere Einstellung gegenüber den Juden. Bis zum Ersten Weltkrieg kamen allerdings nur wenige jüdische Jugendliche aus Osteuropa nach Basel, da die dortige Universität erst nach 1918 ausländische Studenten aufnahm, während Zürich und andere Universitäten hier bereits eine liberalere Politik verfolgt hatten. Juden konnten später in der Schweiz die höchsten Positionen erreichen. 29

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So amtierte die Jüdin Ruth Dreifuss von 1993 bis 2002 als Innenministerin und während einer Amtsperiode 1999 als Bundespräsidentin der Schweiz. Ruth Dreifuss gehörte zu den prominenten Führern der sozialdemokratischen Partei. Ich fragte sie einmal, ob sie sich in ihren öffentlichen Ämtern oder in den Parteigremien jemals antisemitischer Angriffe oder geringschätziger Erwähnungen ihrer jüdischen Abstammung habe erwehren müssen. Sie verneinte dies entschieden. Solche Argumente seien nie aufgetreten, obwohl sie eine kontroverse Persönlichkeit im politischen Leben der Schweiz war. Zwischen ihr und mir herrschte eine freundschaftliche Beziehung. Jedes Mal, wenn ich mich in der Schweiz aufhielt, empfing sie mich in ihrem Büro, um sich über die Lage in Israel im Allgemeinen und die politischen Positionen der Friedenskräfte und der Arbeiterparteien im Besonderen zu informieren. Bei einem ihrer Besuche in Israel wurde ihr von der Jerusalemer Universität der Ehrendoktortitel verliehen, und ich nahm an allen Veranstaltungen teil, die ihr zu Ehren gegeben wurden. Mit ihrem Vater Sidney Dreifuss hatte ich während des Krieges bei illegalen Grenzüberschreitungen jüdischer Flüchtlinge aus Österreich in der Umgebung von St. Gallen zusammengearbeitet, wo er Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde gewesen war. Dies war keineswegs selbstverständlich – in verschiedenen, auch jüdischen Kreisen wird bis heute sein Verhalten kritisiert. Ruth war damals Mitglied im zionistischen Jugendbund Brith Habonim. Dennoch wurden und werden die Schweizer Juden nicht immer als „echte Schweizer“ betrachtet. Untergründige antisemitische Strömungen gab es in all diesen Jahren. Dies kam während der Kriegsjahre in aller Deutlichkeit und in tragischer Weise zum Ausdruck. Nur 18.000 Juden wohnten bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz. Ein Drittel von ihnen stammte aus Osteuropa, von dort waren die meisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann erneut in der Zwischenkriegszeit eingewandert. Im Bestreben, das jüdische Bewusstsein zu stärken, entwickelten die jüdischen Gemeinden eine intensive gesellschaftliche, kulturelle, religiöse und wissenschaftliche Aktivität. Auch die zionistische Tätigkeit war äußerst lebhaft. Der Schweizerische Zionistenverband und besonders die zionistischen Frauenorganisationen gaben mit ihren Spendenaktionen für die nationalen Fonds und mit sonstigen Aktivitäten ein beeindruckendes Bild ab. Die Schweizer Delegation zu den Zionistenkongressen setzte sich aus den Anhängern der verschiedenen Gruppierungen in der Zionistischen Weltorganisation gemäß ihren Anteilen zusammen.

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Von Lodz bis Basel

Von Lodz bis Basel Der Übergang von Lodz nach Basel war für meine Eltern nicht nur eine räumliche Veränderung. Bereits in Polen waren sie im öffentlichen Leben aktiv gewesen. Mein Vater und auch meine Mutter gehörten linksorientierten jüdischen Organisationen an. Er war schon in seiner Jugend ein überzeugter Zionist gewesen, sie Mitglied von Frauenvereinen für soziale und kulturelle Zwecke. Mein Vater zählte nicht zu der gehobenen Schicht aus dem Finanzbereich, sondern befasste sich mit dem Detailhandel und dem Vertrieb von Textilien, der in Polen zu einem großen Teil von jüdischen Kleinunternehmern betrieben wurde. Der Lebensstandard der Familie entsprach dem des Mittelstandes, obwohl die Familie meiner Mutter wohlhabender war und ihr Bruder eine gut gehende Textilfabrik in Lodz besaß. Der größte Teil der jüdischen Massenemigration aus Osteuropa ab Ende des 19. Jahrhunderts und zwischen den zwei Weltkriegen erfolgte in die USA, ein geringerer Teil nach Südamerika. Von denen, die in Westeuropa blieben, kamen nur einige Tausend in die Schweiz. Neben Zürich zog die Stadt Basel zunächst jüdische Immigranten aus den benachbarten Ländern an. Den historischen Forschungen zufolge wohnte im Jahr 1880 in Basel nur ein „Ostjude“, 1910 waren es dann schon 454 aus dem russischen Polen und an die 200 Juden aus dem österreichischen Galizien, also etwas mehr als ein Viertel der 2440 Basler Juden. Diese Zahl blieb in den folgenden Jahren im Großen und Ganzen stabil. Meine Mutter und mein Vater waren die Ersten der Familie, die sich in der Schweiz ansiedelten. Unter dem Einfluss ihrer ermunternden Briefe beschlossen alle Verwandten meines Vaters, Polen zu verlassen und in die Schweiz zu emigrieren. Bis 1920 kamen vier seiner Brüder und eine Schwester mit ihren Ehepartnern nach Basel, danach auch seine Eltern, mein Großvater Chaim und meine Großmutter Mirjam. Einige der Kinder der Familie Bornstein wurden noch in Polen geboren, die Mehrheit jedoch in Basel. Dagegen blieben die Verwandten meiner Mutter, die Familie Ber, in Polen, und alle wurden in der Schoah ermordet. Meiner Mutter war es noch vor dem Krieg gelungen, zusammen mit meiner damals zehnjährigen Schwester ihre Familie in Polen zu besuchen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich der Stamm Bornstein zu einer der größten jüdischen Familien in Basel. Die familiären Beziehungen waren sehr eng, und auch die gegenseitige Hilfe reichte sehr weit. Alle kamen ohne einen formellen Schulabschluss nach Basel und hatten auch keinen Beruf. Sie waren wie die Mehrheit der Juden, die aus Osteuropa in die Schweiz zogen, als Hausierer 31

Von Lodz bis Basel

und Reisende im Detailhandel auf den Märkten in den Dörfern tätig. Anfangs war dies auch bei meinem Vater der Fall, doch später gründete er eine Textilwarenfirma, deren rund zehn Handelsreisende die Produkte in den Städtchen und Dörfern zu attraktiven Kaufbedingungen absetzten. All diese jüdischen Zuwanderer gehörten zur Mittelklasse und gerieten von Zeit zu Zeit in finanzielle Schwierigkeiten. Die Immigranten aus Osteuropa bekamen nach vielen Jahren das schweizerische Bürgerrecht, so auch meine Eltern. Die Einbürgerungsgesetze waren jedoch recht strikt, gerade gegenüber den Juden und hier vor allem gegenüber denjenigen aus Osteuropa. Mein Vater war die zentrale Persönlichkeit in der Familie. Die Geschwister sicherten gemeinsam den Lebensunterhalt ihrer Eltern, und mein Vater sorgte für alle persönlichen Bedürfnisse meiner beiden Großeltern. Ein Bruder, Felix, war psychisch krank und die meiste Zeit in einem Pflegeheim untergebracht, doch mein Vater wollte ihn nicht seinem Schicksal in Polen überlassen und sorgte dafür, dass er sich bei der übrigen Familie in Basel einfand, auch wenn seine Heimaufenthalte und die Behandlungen hier sehr teuer waren. Die Sozialhilfe und die Leistungen der Krankenkassen befanden sich noch in ihrem Anfangsstadium und gewährten Einwanderern im Falle von Bedürftigkeit oder Krankheit keine Unterstützung. Entsprechend trugen alle Familienangehörigen die Kosten für die Betreuung des Bruders. Mein Vater war Ansprechpartner für alles, was mit dem kranken Bruder zu tun hatte, einschließlich der finanziellen Verpflichtungen. Die Zusammenkunft der Familie am Sabbatnachmittag in der Wohnung der Großeltern habe ich stets in Erinnerung behalten: Wir, die Kinder, spielten draußen im Garten, und die Erwachsenen unterhielten sich im großen Wohnzimmer. Großmutter Mirjam hatte Kuchen gebacken und Tee vorbereitet. An Feiertagen waren die Großeltern bei einer der Familien, sehr oft bei uns. Der Prozess der Akklimatisierung war nicht einfach. Mein Vater litt an einer Lungenentzündung, deretwegen er im Laufe eines Jahres verschiedene Pflegekuren in Davos machen musste, während ich mit meiner Mutter in Basel blieb. 1922 wurde meine Schwester Lili geboren; mit der Rückkehr meines Vaters nach Basel waren wir nun eine vierköpfige Familie. Noch vor meiner Geburt war ein Junge zur Welt gekommen, jedoch noch als Säugling nach einem Jahr gestorben; er ist auf dem jüdischen Friedhof in Basel begraben. Heute, wenn ich die letzten Korrekturen an meinem Text vornehme, bin ich mit 94 Jahren der Älteste des Familienstammes und stehe als einziger noch Lebender der zweiten Generation

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den Familienwurzeln am nächsten; dabei habe ich selbst bereits eine stattliche Zahl an Enkeln und Urenkeln in meiner Familie. Meine Jugendzeit verbrachte ich in der warmen, freundlichen Atmosphäre einer jüdisch-traditionellen Familie. Der zionistische Geist, der in unserem Haus herrschte, hatte einen dominanten Einfluss. Ich kann durchaus behaupten, von meinen Eltern das jüdische Bewusstsein und insbesondere von meinen Vater die zionistische Weltanschauung geerbt zu haben. Er brachte von Lodz den Drang nach einem öffentlichen Wirken mit. Vor allem aber blieb er seinen Wurzeln treu. Den Lebensstil des polnischen Judentums konnte er freilich nicht nach Basel überführen – er verstand sehr gut, dass die Bedingungen hier ganz andere waren. Der äußerliche Rahmen verlangte eine gewisse Anpassung an den modernen Geist, die gesellschaftlichen Stimmungen und ein wenig auch an die schweizerische Kultur. Er war sich dessen bewusst, dass Hunderte von Familien aus Osteuropa Schwierigkeiten hatten, sich dem gesellschaftlichen Rhythmus der hiesigen jüdischen Gemeinschaft anzupassen, die zumeist aus westeuropäischen Juden bestand, welche aus Deutschland und Frankreich gekommen waren. Die Jungen der zweiten Generation dieser Zuwanderer, die in ihrer Mehrheit schon in der Schweiz geboren waren, durchliefen einen Prozess der Integration als Schweizer Bürger: Sie gingen in die staatlichen Schulen und dienten zum Teil im Militär, und der Einfluss der elterlichen Tradition verlor allmählich an Gewicht. Demgegenüber bewahrten die meisten ostjüdischen Familien den Lebensstil, den sie aus Polen mitgebracht hatten. Nicht wenige sprachen weiter Jiddisch untereinander. Für die frühen Immigranten, die im Alter von 30 bis 40 Jahren nach Basel kamen, war das soziale und persönliche Einleben in die sie umgebende schweizerische Gesellschaft ein oft langer und schwieriger Weg. In dieser Situation waren sie verständlicherweise bestrebt, ein oft idealisiertes ostjüdisches Kultur- und Alltagsmilieu im Familien- und Freundeskreis zu erhalten. Mein Vater war einer der hervorragenden Initiatoren dieser Bemühungen: Zu Hause sprachen die Eltern nur Jiddisch, hatten zwei jiddischsprachige Warschauer Tageszeitungen – Haint und Moment – abonniert und pflegten am Sabbat sowie an den Feiertagen die rituellen und kulinarischen Bräuche, wie sie sie aus dem eigenen Elternhaus gewohnt waren. Im Rahmen der fast alle jüdischen Bürger Basels umfassenden Gemeindeorganisation errichteten die Ostjuden manche religiöse und gesellschaftliche Institution parallel zu denen der Westjuden – der „Jeckes“, wie wir sie etwas abwer-

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tend nannten.13 So entstanden an verschiedenen Orten der Stadt kleine Synagogen, die sogenannten Stüblech, in denen die Einwanderer aus bestimmten Orten oder die Anhänger religiöser Gruppierungen ihren aus der Heimat gewohnten Gottesdienst sowie ihre sozialen Bräuche und Kontakte fortführen konnten. Mein Vater war einer der Gründer eines solchen Betlokals im Schützengraben. Diese relativ kleinen Gemeinden hatten keinen eigenen Rabbiner; religiöse Akte wie Vermählungen oder Beerdigungen, die auch eine zivilrechtliche Anerkennung erforderten, führten die Rabbiner der Gesamtgemeinde durch, soweit die Betreffenden deren Mitglieder waren. Viele zogen es jedoch vor, diese religiösen Zeremonien im benachbarten Frankreich zu vollziehen. Da die Basler Juden einen gemeinsamen Friedhof mit der jüdischen Gemeinde der französischen Stadt Mulhouse hatten, gab es hier keine besonderen Schwierigkeiten. Auch auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens und sogar der zionistischen Bestrebungen wurde die Teilung zwischen West- und Ostjuden aufrechterhalten. Die zionistische Organisation in Basel sonnte sich im Glanz des Nimbus der „Stadt der Kongresse“, und Theodor Herzl trug sich nach dem Ersten Zionistenkongress mit dem Gedanken, hier ein „Kongresshaus“ zu errichten. Unmittelbar nach dem ersten Kongress wurde in Basel die zionistische Ortsgruppe „Jung Zion“ gegründet. Ihre Mitglieder waren vor allem Juden, die aus westeuropäischen Ländern stammten. Mein Vater war mit dieser Zusammensetzung nicht zufrieden und gründete eine parallele zionistische Vereinigung für die Juden aus den osteuropäischen Ländern. Damit entstand der „Verein Zion“, dem er jahrelang vorstand, bis es ihm gelang, beide Organisationen unter dem Namen „Zionistische Vereinigung von Basel“ zusammenzuführen. Dafür wurde er zu deren 50. Jubiläum in das Goldene Buch des Jüdischen Nationalfonds (Keren Kayemeth) eingeschrieben. Dies war ein wichtiger Schritt auf dem Weg, die Trennung zwischen Ost- und Westjuden zu überwinden, die auch in den jüdischen Jugendorganisationen zu 13 Im allgemein üblichen Verständnis ist „Jecke“ (Plural: Jeckes) die umgangssprachliche, spöttische Bezeichnung für jüdische Neuankömmlinge in Palästina aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, wie sie seit den 1930er-Jahren vor allem von aus Osteuropa stammenden Einwanderern verwendet wurde. Damit griff man verbreitete Klischees wie „deutsche“ Gründlichkeit und übertriebene Korrektheit auf, wollte sich aber auch von einer Anpassung der „Westjuden“ an die nicht-jüdische Kultur absetzen. Später übernahmen die Jeckes den Begriff als ironisierende Selbstbezeichnung. Heini Bornsteins Mitteilung ist somit eine interessante und wichtige Erweiterung der Begriffsgeschichte.

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spüren war. 1933 wurde die Gruppierung des Brith Habonim gegründet, die sich 1936 der Weltbewegung des Haschomer Hazair anschloss. Die meisten Mitglieder waren Sprösslinge ostjüdischer Familien. Die Kinder der „Jeckes“ gründeten hingegen eine eigene Bewegung namens „Emunah“. Mit den Jahren ließen sich dann aber keine bedeutenden Unterschiede mehr in den ethnischen Wurzeln der Mitglieder der Jugendbewegungen feststellen. In den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts vereinigten sich alle Stüblech der Ostjuden mit der allgemeinen jüdischen Gemeinde, und die Zionistische Organisation Basel wurde Mitglied des Schweizerischen Zionistenverbandes. Mein Vater setzte seine öffentliche Tätigkeit fort, sowohl in Basel als auch im landesweiten zionistischen Rahmen. Er war Mitglied des Zentralkomitees des Landesverbandes und organisierte unter anderem die „Schekel-Aktion“, in der man die Mitgliedschaft in der Zionistischen Weltorganisation und das Stimmrecht auf den Zionistenkongressen erwarb. Er nahm auch aktiven Anteil an kulturellen und gesellschaftlichen Vereinen, so etwa am „Perez-Verein“ der Ostjuden, der nach dem Schriftsteller Yitzchak-Leib Perez benannt war.14 All diese Unterschiede innerhalb der Juden in Basel verschwanden dann mit dem Aufwachsen der zweiten und dritten Generation – außer auf religiösem Gebiet: In Basel und anderen Städten kam es zur Gründung streng orthodoxer und liberal-reformerischer Gemeinden, die auch in der Folge getrennt blieben. Hielt so anfangs des 20. Jahrhunderts der ostjüdische Lebensstil Einzug in die Schweizer jüdische Gemeinschaft, änderte sich danach die Richtung unter dem Einfluss weltweiter jüdischer Entwicklungen. Der zahlenmäßig begrenzten jüdischen Gemeinschaft der Schweiz, die zudem in wenigstens zwei verschiedene Sprach- und Kulturgebiete aufgeteilt war, fehlte die innere Kraft, eigene Initiativen zu ergreifen. Umso mehr unterlag sie äußeren Einflüssen. Mit den Jahren vertieften sich die Beziehungen mit dem zionistischen Aufbauwerk in Palästina und später mit dem Staat Israel. Religiöse und ideologische Bewegungen, besonders im benachbarten Deutschland und in den USA, eröffneten Ortsgruppen in der Schweiz, so beispielsweise Bnei Brith oder die Frauenorganisationen Hadassah und Wizo. Viele internationale jüdische Organisationen hatten in Genf ihre Büros, die zusätzlich zur Delegation beim Völkerbund und nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Vereinten Nationen bestanden. Basel 14 Yitzchak-Leib Perez (1851–1915) bildete zusammen mit Scholem Alejchem (1859–1916) und Mendele Mojcher Sforim (1836–1917) das Dreigestirn osteuropäisch-jüdischer Dichter, die dem Jiddischen als Literatursprache zum Durchbruch verhalfen.

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beherbergte zahlreiche zionistische Vertretungen – wie das Zentralbüro des Keren Kayemeth LeIsrael, das Palästinaamt oder das Zentralkomitee des Schweizerischen Zionistenverbandes –, die dann mit Ausbruch des Krieges überwiegend nach Zürich und Genf verlegt wurden. Die kleine jüdische Gemeinschaft entwickelte so eine umfangreiche Aktivität. Insofern kann es nicht verwundern, dass die zionistische Atmosphäre auch auf das Leben unserer Familie einwirkte. Schon als Kind nahm ich den zionistischen Geist auf. Die zionistischen Kongresse, die in Basel stattfanden, und die damit verbundene feierliche Stimmung in der Stadt beeinflussten meine geistige Welt. Die Stadt Basel bewahrt immer noch die Erinnerung an die Zionistenkongresse und betrachtet es als ihr großes Privileg, den ersten von ihnen sowie eine Reihe weiterer zionistischer Zusammenkünfte beherbergt zu haben. Als 1937 – 40 Jahre nach dem ersten – der 20. Zionistenkongress in Zürich zusammentrat, wurde das Jubiläum in Gegenwart von Vertretern der föderalen und kantonalen Regierung im Basler Kasino gefeiert, und ein Sonderzug brachte alle Delegierten und Gäste von Zürich nach Basel. Besonders bewegend war der 22. Kongress, der 1946 als erster nach der Schoah zusammentrat und zugleich der letzte im „Ausland“, also außerhalb des Staates Israel, war. Aber die zionistische Tradition Basels war damit nicht vergessen: Unmittelbar nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 trat im Kasino in Basel eine Solidaritätskonvention des jüdischen Volkes mit dem Staat Israel zusammen.15 Ehrengast war der damalige Generalstabschef der Israelischen Armee Yitzchak Rabin. Und im Jahre 1997, 100 Jahre nach dem Ersten Zionistenkongress, fanden in Basel eine Woche lang Jubiläumsveranstaltungen statt. Schon am Bahnhof begrüßte ein großes Transparent die Ankommenden: „Willkommen in Basel zum 100. Jubiläum des Ersten Zionistenkongresses“. Die Feierlichkeiten gipfelten in einer Festveranstaltung unter Teilnahme von mehr als 2.000 Menschen aus der ganzen Welt, die sich im gleichen Saal des Kasinos einfanden, in dem bereits 1897 der erste Kongress zusammengekommen war. Der Stadtpräsident von Basel, Bundesrätin Ruth Dreifuss im Namen der Landesregierung sowie die Präsidentin des Parlaments hielten Ansprachen. Ehrengäste waren fünf Delegierte, die am Kongress von 1946 teilgenommen hatten. Drei von ihnen kamen aus Israel: Yitzchak Ben Aharon, ein Führer der Arbeiterbewegung, Dr. Josef Burg, Präsident der religiösen Partei Misrachi und langjähriger Minister, und ich als Vertreter des Haschomer Hazair. 15 Vgl. zum Sechstagekrieg das Glossar unter dem Stichwort Kriege.

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Einladung zur offiziellen Gedenkfeier am 31. August 1997 aus Anlass des Jubiläums des Ersten Zionistenkongresses von 1897 in Basel.

Chasia und ich nahmen auch an anderen Ereignissen teil, so an drei akademischen Studientagen unter der Schirmherrschaft der Universitäten Jerusalem, Tel Aviv und Basel sowie der Zionistischen Weltorganisation über das Thema „100 Jahre danach – die Lage des jüdischen Volkes und des Zionismus“, zu denen hervorragende Historiker aus Israel und der ganzen Welt kamen.16 Ich hielt in 16 Ein Teil der Vorträge ist abgedruckt in: 100 Jahre Zionismus. Von der Verwirklichung einer Vision. Hg. von Ekkehard W. Stegemann. Stuttgart 2000. Vgl. auch die Publikation, die aus der Ausstellung zum damaligen Jubiläum hervorgegangen ist (und auch Hinweise zu Heini Bornsteins Tätigkeit enthält): Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung. Aktualität. „… in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“ Hg. von Heiko Haumann in Zusammenarbeit mit Peter Haber u. a. Basel usw. 1997. Die beiden Bücher können auch als Einführungen in die Geschichte der zionistischen Bewegung herangezogen werden, ebenso wie Michael Brenner: Geschichte des Zionismus. München 2002.

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diesem Rahmen ein Referat über „Die Juden der Schweiz – damals und heute“. Auch wurden wir zu einem feierlichen Essen eingeladen, bei dem alle geladenen Ehrengäste anwesend waren. Dieses Gala-Essen fand im gleichen Hotel „Drei Könige“ statt, in dem sich schon Theodor Herzl während des ersten Kongresses aufgehalten hatte. Ein bekanntes Foto zeigt Herzl, wie er von der Terrasse im ersten Stock des Hotels aus den Rhein betrachtet. Ich empfand die Veranstaltung und die Ehrung, die mir zuteilwurde, als Anerkennung meiner zionistischen Tätigkeit im Laufe von 60 Jahren.

Die Bewegung – ein Lebensweg Von meiner Kindheit an waren die Familie, das Elternhaus und die Stadt Basel die entscheidenden Faktoren in meinem Entwicklungsprozess; sie prägten meine Persönlichkeit und die Entscheidung über meinen Lebensweg. Nicht weniger ausschlaggebend war jedoch schon in einem frühen Stadium meines Lebens eine weitere Triebkraft, die bis heute bestimmend ist. Der Verlauf meines aktiven Lebens während 75 Jahren basierte auf dem, was mir die „Bewegung“ vermittelte. Bereits im Alter von neun Jahren schloss ich mich der Bnei-Midbar-Gruppe der Jugendbewegung Brith Habonim an. Tatsächlich waren es meine Eltern, die mich an die Bewegung heranführten – sie wollten mir eine jüdische und zionistische Umgebung als gesellschaftliche Rahmenbedingung verschaffen, eine Erziehung ganz im Geiste der Familie. Dabei konnten sie nicht wissen, dass dieser erste Schritt weitgehende Entscheidungen zur Folge haben sollte: die Auswanderung nach Erez Israel – der biblische Name des den Juden versprochenen Landes war auch im vorstaatlichen modernen Hebräisch gebräuchlich – und die Eingliederung in einen Kibbuz. Begonnen hatte es mit Kinderspielen, den Pfadfindern und einem jugendlichen Lebensstil. Im Verlaufe von zehn Jahren festigte sich meine Weltanschauung, die sich nicht auf das rein Intellektuelle und Politische beschränkte. Vielmehr war das Gebot der „Selbstverwirklichung“ das Leitmotiv der Erziehung im Brith Habonim und im Haschomer Hazair. Wenn ich rückblickend den entscheidenden Faktor in meiner Entwicklung zu benennen versuche, lässt sich die „Selbstverwirklichung“ als die dominierende Komponente bezeichnen. Mein Vater war, wie gesagt, ein überzeugter und aktiver Zionist. Damit ich schon in jungen Jahren Hebräisch (Iwrit) lernte, engagierte er einen Studenten 38

Die Bewegung – ein Lebensweg

diesem Rahmen ein Referat über „Die Juden der Schweiz – damals und heute“. Auch wurden wir zu einem feierlichen Essen eingeladen, bei dem alle geladenen Ehrengäste anwesend waren. Dieses Gala-Essen fand im gleichen Hotel „Drei Könige“ statt, in dem sich schon Theodor Herzl während des ersten Kongresses aufgehalten hatte. Ein bekanntes Foto zeigt Herzl, wie er von der Terrasse im ersten Stock des Hotels aus den Rhein betrachtet. Ich empfand die Veranstaltung und die Ehrung, die mir zuteilwurde, als Anerkennung meiner zionistischen Tätigkeit im Laufe von 60 Jahren.

Die Bewegung – ein Lebensweg Von meiner Kindheit an waren die Familie, das Elternhaus und die Stadt Basel die entscheidenden Faktoren in meinem Entwicklungsprozess; sie prägten meine Persönlichkeit und die Entscheidung über meinen Lebensweg. Nicht weniger ausschlaggebend war jedoch schon in einem frühen Stadium meines Lebens eine weitere Triebkraft, die bis heute bestimmend ist. Der Verlauf meines aktiven Lebens während 75 Jahren basierte auf dem, was mir die „Bewegung“ vermittelte. Bereits im Alter von neun Jahren schloss ich mich der Bnei-Midbar-Gruppe der Jugendbewegung Brith Habonim an. Tatsächlich waren es meine Eltern, die mich an die Bewegung heranführten – sie wollten mir eine jüdische und zionistische Umgebung als gesellschaftliche Rahmenbedingung verschaffen, eine Erziehung ganz im Geiste der Familie. Dabei konnten sie nicht wissen, dass dieser erste Schritt weitgehende Entscheidungen zur Folge haben sollte: die Auswanderung nach Erez Israel – der biblische Name des den Juden versprochenen Landes war auch im vorstaatlichen modernen Hebräisch gebräuchlich – und die Eingliederung in einen Kibbuz. Begonnen hatte es mit Kinderspielen, den Pfadfindern und einem jugendlichen Lebensstil. Im Verlaufe von zehn Jahren festigte sich meine Weltanschauung, die sich nicht auf das rein Intellektuelle und Politische beschränkte. Vielmehr war das Gebot der „Selbstverwirklichung“ das Leitmotiv der Erziehung im Brith Habonim und im Haschomer Hazair. Wenn ich rückblickend den entscheidenden Faktor in meiner Entwicklung zu benennen versuche, lässt sich die „Selbstverwirklichung“ als die dominierende Komponente bezeichnen. Mein Vater war, wie gesagt, ein überzeugter und aktiver Zionist. Damit ich schon in jungen Jahren Hebräisch (Iwrit) lernte, engagierte er einen Studenten 38

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aus Palästina, der an der Universität in Basel studierte, als meinen Privatlehrer. Sein Name war Abraham Gimpelowitz. Alle nannten ihn „Gimpel“, da er niedrig gewachsen war. Später wohnte er als Dr. Zifroni in Zfat und war Arzt des Palmach, der ständig mobilisierten Elitetruppe der Hagana und damit der militärischen Organisation des jüdischen Yishuv vor der Staatsgründung, die den Grundstock für die spätere israelische Armee bildete. Ich erinnere mich auch an einen Studenten namens Eli Peiser, der an der Universität Basel studierte und später die neurochirurgische Abteilung des Rambam-Spitals in Haifa leitete. Diese beiden waren bei uns zu Hause oft willkommene Gäste zum Freitagabendmal, das auf Jiddisch „Kest“-Essen genannt wurde.17 Damit herrschte bei uns nicht nur eine Sabbatstimmung, sondern eine Erez-Israel-Atmosphäre. Wir sangen Lieder auf Hebräisch, und auch die Unterhaltung wurde zumindest teilweise in dieser Sprache geführt. Später sollten meine Frau und ich in Israel mit Eli Peiser und dessen Frau, die in Basel Mitglied des Haschomer Hazair gewesen war, freundschaftliche Beziehungen unterhalten; sie besuchten uns öfters in unserem Kibbuz. Zwei Mal operierte Prof. Peiser unsere Tochter am Rückgrat und behandelte auch Chasia, als sie an schweren Rückenschmerzen litt. Mein Vater sprach Hebräisch, das er im Lodzer Cheder, der jüdischen Grundschule, gelernt hatte. Die Eltern kauften mir Kinderbücher auf Hebräisch, darunter das Buch An den Vogel des „Nationaldichters“ Chajim Nachman Bialik. In dem Gedicht begrüßt er einen Vogel, der aus dem „heißen Land an mein Fenster zurückkehrt“ und ihm von dessen Bergen und den von jüdischen Pionieren bebauten Feldern berichtet. Damals zwölf Jahre alt, hielt ich im Brith Iwrit, dem Hebräisch-Bund Basels, ein Referat über Bialiks „Vogel“, das großen Anklang fand. Später, während der Kriegsjahre, war meine Kenntnis der hebräischen Sprache von großer Bedeutung. Ein Teil der Briefe, die ich aus den besetzten Ländern erhielt, waren auf Hebräisch geschrieben und wurden von mir auch in dieser Sprache beantwortet. Ebenso erfolgte die Korrespondenz mit den Institutionen in Palästina und mit Menachem Bader, dem Vertreter des Haschomer Hazair im israelischen Verbindungsbüro in Istanbul, zumeist auf Hebräisch. Meine Sprachkenntnisse erleichterten dann auch meine Integration in Israel und im Kibbuz. Sie ermöglichten es mir, schon bald öffentliche Aktivitäten 17 Mit „Kest“ wurde ursprünglich der Unterhalt bezeichnet, den nach der Hochzeit die Eltern der Frau dem jungvermählten Paar gewährten, damit der Mann ungestört seinen religiösen Studien nachgehen konnte.

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aufzunehmen. In den Jahren 1945 bis 1947, als ich noch in der Schweiz war, schrieb ich als „Heini Bornstein, unser Korrespondent in der Schweiz“ für die Tageszeitung des Haschomer Hazair Mischmar Artikel und Berichte über die Ereignisse in der jüdischen Welt, in denen ich die politischen Entwicklungen in Europa und in der Schweiz analysierte. Mein Journalistenausweis verschaffte mir dabei Zutritt zu verschiedenen Konferenzen und Institutionen. Neben der Sorge um die hebräischen Sprachkenntnisse förderten meine Eltern aber generell meine Zugehörigkeit zu der Jugendbewegung. Bis heute weiß ich nicht, ob sie ahnten und in Kauf nahmen, dass ich mich später in hohem Maße mit der zionistischen Auffassung identifizieren, das Ideal der „Selbstverwirklichung“ realisieren und nach Erez Israel auswandern würde. Zumindest gaben sie mir auf diesem Weg stets ihren Segen und ermunterten mich. Tatsächlich wurde der Haschomer Hazair zunehmend zum Mittelpunkt meines Lebens. Vor dem Hintergrund des positiven jüdischen und zionistischen Bewusstseins in der Familie wurde das Gefühl der Gemeinschaft im „jugendbewegten“ Milieu der „Heimabende“ und in den Wanderlagern in der Natur zum dominanten Erlebnis meiner Jugendjahre. Die Ortsgruppe in Basel vergrößerte sich und gründete zusammen mit denen in Zürich und Genf einen Landesverband. Mit den Jahren, als ich dann zunehmend zu den älteren Mitgliedern zählte, vertiefte ich mich mit wachsendem Interesse in die intellektuellen und politischen Fragen der Ideologie der Bewegung. Überzeugende Anleitung dazu gab uns eine Frau namens Ruth – ihren Familiennamen habe ich leider vergessen –, die mit dem Tram oder dem Velo aus einem benachbarten Ort in Deutschland anreiste – hier machte sich wie in vielen anderen Dingen die Grenznähe der Stadt Basel bemerkbar. Wie jedes Kind ging auch ich in die Schule. Nach Abschluss der sechs Klassen der Primarschule besuchte ich die Mittelschule, an deren Ende im Grunde die erste Entscheidung über meinen Lebensweg fiel. Hier wirkte sich der Einfluss der Bewegung nachdrücklich aus: Zwei Jahre lang besuchte ich die regionale landwirtschaftliche Schule in der Stadt Liestal, die nicht weit von Basel entfernt liegt. Unser Praktikum im Bereich der landwirtschaftlichen Arbeit absolvierten wir auf einem großen und vielseitigen Gut in Münsingen bei Bern, einem Internat, in dem einige Hundert Schüler lernten und arbeiteten; daneben war ich einige Monate privat bei einem Bauern tätig. Der Studiengang, welcher der Vorbereitung auf mein zukünftiges Leben in Erez Israel und im Kibbuz diente, war eine entscheidende Etappe meiner persönlichen Entwicklung im Rahmen der Bewegung. 40

Die Bewegung und ich

Die Bewegung und ich Zwischen der Entwicklung der Bewegung und der Ausformung meiner Persönlichkeit in den Jahren von 1933 bis zu meiner Auswanderung 1947, also im Zeitraum von 15 Jahren, glaube ich, gewisse Parallelen zu erkennen. Es ist gewiss keine Übertreibung, wenn ich sage, dass meine Persönlichkeit von den ideologischen Grundlagen und normativen menschlichen Werten des Haschomer Hazair entscheidend geprägt wurde. Dies betrifft nicht nur die Weltanschauung und die Umgangsformen des alltäglichen Zusammenlebens und Verhaltens, sondern auch und gerade die Konsequenzen, welche die Wahl meines Lebensweges für mich hatte. Ich kann wohl behaupten, mein Leben von damals bis heute innerhalb der Bewegung geführt zu haben. Hier liegen auch die Wurzeln meines Drangs zum öffentlichen Wirken und zur gesellschaftlichen Aktivität, den ich wahrscheinlich von meinem Vater geerbt habe. Dabei stellt sich zunächst einmal die Frage, wie ich, ein Junge in der ruhigen, friedlichen Schweiz, überhaupt zu einer „radikalen“ zionistischen Weltanschauung kam. Was brachte mich dazu, meine Eltern zu verlassen und keine berufliche Karriere einzuschlagen, kurz: auf die „Fleischtöpfe“ eines geordneten Lebens ohne gesellschaftliche und politische Erschütterungen zu verzichten? So etwas wie „zionistischer Druck“ wurde nicht auf mich ausgeübt. Zwar gab es einen latenten Antisemitismus, aber ich fühlte mich persönlich kaum betroffen. Bei aller Bescheidenheit darf ich annehmen, dass ich auch in der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz eine aktive Position hätte einnehmen können. Ich hätte dabei sogar ein „guter Zionist“ sein und eine ehrenvolle Stellung als Delegierter auf den Zionistenkongressen genießen können, und vielleicht hätte ich Funktionen in den Gremien der schweizerischen jüdischen Gemeinschaft ausgeübt. Stattdessen wählte ich den zionistischen Weg der Selbstverwirklichung: nach Erez Israel, also dem damaligen Palästina auszuwandern, ein Chaluz, ein Pionier, zu sein. Für mich war der Zionismus eine persönliche Revolution im wahrsten Sinne des Wortes. Dies war jedoch nur ein Aspekt meiner Weltanschauung. Bei der Entwicklung meines Denkens wurde eine weitere Komponente maßgebend: Ich wurde mir zunehmend der mich umgebenden Welt bewusst. Tatsächlich wuchs ich ja in einer Zeit auf, in der es zu stürmischen Umwälzungen kam, die in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts Europa und die Welt erschütterten. Ein aufgeweckter Jugendlicher konnte angesichts dieser politischen Entwicklungen nicht gleichgültig bleiben. Dies traf auch und gerade auf die Schweiz mit ihren 41

Die Bewegung und ich

Nachbarländern Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich zu. Das Echo der „zehn Tage, die die Welt erschütterten“,18 erweckte bei uns den Glauben an den „Aufbau einer Neuen Welt“ in der Sowjetunion. Ihn teilten wir damals mit vielen Europäern, besonders der jüngeren Generation. Die Jugendbewegung Brith Habonim wurde 1930 von Mitgliedern der Habonim-Bewegung aus Deutschland gegründet, die als Flüchtlinge in die Schweiz gekommen waren. Bis 1933 praktizierte die Schweiz eine liberale Politik gegenüber den Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich. Wem es gelang, die Grenzen illegal zu überschreiten, der wurde zwar zunächst in einem Arbeitslager interniert, doch nicht wenige bekamen schon bald eine Aufenthaltsbewilligung und eine Arbeitserlaubnis in den Städten. Gerade Basel war ein Ort, an dem die Flüchtlinge in die Schweiz kamen und sich auch bevorzugt niederließen. Der Übergang war relativ leicht, und die Behörden von Basel zeigten Verständnis für die Not der Menschen, die Asyl in der Stadt wünschten. Mit dem Strom von Flüchtlingen kamen auch Mitglieder des Haschomer Hazair nach Basel, die zum Teil schon vor Hitlers Machtübernahme 1933 an gemeinsamen Seminaren sowie Sommer- und Winterlagern mit unserer Habonim-Bewegung in der Schweiz teilgenommen hatten und sich ihr nun anschlossen. Eine Zusammenarbeit wurde auch mit dem deutsch-jüdischen Bund „Werkleute“ gepflegt. In Deutschland waren die jüdischen Jugendorganisationen, insbesondere die zionistischen, ideologisch konsolidiert. Jede Bewegung hatte eine erklärte politische Orientierung und war mit ihrer Kibbuz-„Mutter-Bewegung“ in Palästina verbunden. Bis zum Jahre 1936 befanden sich in Deutschland Abgesandte aus Palästina: Georg Josephstal war vom Kibbuz Hameuchad, der zu der von David Ben-Gurion geführten mehrheitlichen Mapai-Arbeiterpartei gehörte, zur Führung der deutschen Habonim-Jugendbewegung delegiert worden, Mordechai Oren, von dem noch die Rede sein wird, vom Kibbuz Arzi des Haschomer Hazair, um dessen gleichnamige Jugendbewegung in Deutschland zu leiten.

18 Der Augenzeugenbericht des US-amerikanischen Journalisten John Reed (1887–1920) über die Oktoberrevolution in Russland 1917, der 1919 erstmals in den USA und 1927 in deutscher Übersetzung erschien, prägte seinerzeit bei vielen Menschen das Bild der Vorgänge und ist bis heute ein wichtiges Dokument der damaligen Ereignisse geblieben. Reed gründete 1919 die Communist Labor Party. Vom Obersten Gerichtshof der USA deshalb des Hochverrats angeklagt, flüchtete er nach Sowjetrussland. Dort starb er 1920 an Typhus.

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In diesen Jahren traf ich zum ersten Mal die Gesandten des Haschomer Hazair aus Palästina, Menachem Bader und Mordechai Shenhabi. Sie kamen häufig auf der Durchreise in die Schweiz, um eine wichtige nationale Mission zu erfüllen: den Transfer – Haavara – finanzieller Mittel jüdischer Institutionen und Privatleute nach Palästina.19 Zwischen 1939 und 1946 sollte Bader dann für mich zu einer zentralen Person werden, wie ich an späterer Stelle noch weiter ausführen werde. Vor dem Krieg vermittelten sie und die Kameraden aus Deutschland uns die Botschaft eines klaren erzieherischen Ziels. Im Mittelpunkt dieser Anschauung stand Erez Israel als persönlicher Anspruch an jeden Kameraden der älteren Schicht. Der erzieherische Weg basierte auf dem Prinzip der Selbstverwirklichung im Zuge der persönlichen Entscheidung jedes Kameraden am Ende seiner Laufbahn in der Jugendbewegung. Die Forderungen der Alija und der Verwirklichung im Kibbuz hatten natürlich in Deutschland eine andere Dimension als bei uns in der Schweiz. Schließlich herrschte in Deutschland erheblicher politischer Druck im Hinblick auf eine Auswanderung, den es so – trotz des Bewusstseins der Ereignisse in Deutschland – in der Schweiz nicht gab. Solange man nicht deutlich und spürbar zum Verlassen der Heimat gedrängt wird, ist man bereit, sich der Illusion hinzugeben, dass einem selbst ja nichts passieren könne. Diese Einstellung war in all den Jahren – auch während des Krieges – in vielen jüdischen Gemeinden der Schweiz vorherrschend, dachten doch viele, das, was in Deutschland geschah, sei hier undenkbar. Wir in der Jugendbewegung wurden hingegen von den Ereignissen stark beeinflusst. Schon im Alter von 15 Jahren identifizierte ich mich mit dem Radikalismus, den uns die Kameraden des Haschomer Hazair aus Deutschland vermittelten. Die räumliche Nähe zu Deutschland und die politische Entwicklung eröffneten meiner geistigen Welt eine weitere Dimension. Zudem charakterisierte eine tief gehende ideologische Gärung die Diskussionen der älteren Mitglieder der Bewegung. Mehr und mehr wurde eine Klarstellung der ideologischen und erzieherischen Linie gefordert. Wir begannen, uns nicht nur in den Zionismus zu vertiefen, sondern auch mit der „Änderung der Welt“ zu befassen. Wir waren sehr kritisch, was die gesellschaftliche und soziale Situation in Europa 19 Mordechai Shenhabi (1900–1983) regte nach 1945 an, die nicht-jüdischen Retter jüdischen Lebens während der Schoah als „Gerechte unter den Völkern“ auszuzeichnen, und sah dies als eine Aufgabe der Gedenkstätte Yad Vashem an. – Zum Haavara-Abkommen vgl. die Kurzbiografie von Chaim Arlosoroff (S. 248).

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betraf. Ich werde nie den Abend vergessen, als ich am 1. Februar 1933 Hitlers erste Rede nach seiner Ernennung zum Reichskanzler im Radio hörte.20 Angesichts der faschistischen Regime in Italien und Deutschland sowie später in Spanien erschien uns die Sowjetunion als einzige kraftvolle Alternative zur Machtergreifung des Faschismus in Europa. 1933, als Hitler an die Macht kam, war ich erst 13 Jahre alt, jedoch reif genug, um zu begreifen, dass ein großes Unglück drohte – nicht nur für die Juden, sondern für die ganze Menschheit. Von da an bis zum 1. September 1939 festigte sich meine Weltanschauung, und ich wusste, wo ich zu stehen hatte. Wir waren in diesen Jahren Zeugen dramatischer Umwälzungen: des „Anschlusses“ Österreichs an das Dritte Reich, des Münchner Abkommens und des deutschen Einmarsches in die Tschechoslowakei. Wir hatten gar keine Möglichkeit, gleichgültig zu bleiben. Die Ereignisse in den benachbarten Ländern hatten einen großen Einfluss auf mich. Die Flüchtlinge, die nach Basel kamen, erzählten von ihren Erfahrungen, und wir hörten und verstanden die Geschehnisse und die Realität der Judenverfolgung unter dem Naziregime. In Basel wurde wie in Zürich ein Beth Chaluz, ein Haus der Pioniere, gegründet. Die Flüchtlinge, Kameraden der zionistischen Jugendbewegungen aus Deutschland, bildeten eine kollektive Wohngemeinschaft, die auf gesellschaftlichen und ideologischen Prinzipien beruhte – sie bereiteten sich auf ihre Auswanderung nach Palästina und ihr zukünftiges Leben im Kibbuz vor. Ich war öfters dort, und wir alle pflegten gute Beziehungen zu den Kameraden in diesem Haus. Sie waren zum Teil auch die Leiter und Erzieher in unserem Jugendbund. In unserem Bund wurden damals viele ideologische Diskussionen darüber geführt, welcher zionistischen Welt- und welcher Kibbuzorganisation wir uns anschließen sollten. Neben den Bewohnern des Beth Chaluz bemühten sich auch die Delegierten der Kibbuzbewegung, die zu den Kongressen in die Schweiz delegiert waren, sehr darum, uns davon zu überzeugen, sich dieser oder jener Weltorganisation anzuschließen. Inzwischen hatten wir einen inneren Konsolidierungsprozess durchgemacht. Die älteren Kameraden beschlossen, alles zu 20 Hitler sprach darin von der „Mission“ seiner Regierung, Deutschland zu retten. Allen Gegnern sagte er einen „unbarmherzigen Krieg“ an, damit Deutschland nicht „im anarchistischen Kommunismus“ versinke. „14 Jahre Marxismus“ – gemeint war die Weimarer Republik mit dem verhältnismäßig großen Einfluss der Sozialdemokratie – „haben Deutschland ruiniert. Ein Jahr Bolschewismus würde Deutschland vernichten.“ Vgl. z. B. Ian Kershaw: Hitler. 1889–1936. Stuttgart 1998, S. 558–559.

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unternehmen, um unsere bisher „nicht deklarierte“ Bewegung in der Schweiz der Weltbewegung des Haschomer Hazair anzugliedern. Mosche Gur, der aus Zürich stammte, früher Moritz Grünspan geheißen hatte und nach seiner Alija Mitglied des Kibbuz Dalia wurde,21 fuhr zur Zentralleitung der Weltbewegung des Haschomer Hazair nach Warschau und forderte einen fest angestellten Schaliach, einen Gesandten, für die Schweiz. Daraufhin wurde Abraham Perelowozki, ein führendes Mitglied der Ortsgruppe Warschau, in die Schweiz gesandt, wo er bis zum Kriegsausbruch im Haschomer Hazair tätig war. Er emigrierte schließlich nach Palästina und schloss sich dem Kibbuz Ein Shemer an. Uns, der jüngeren Generation, erschien die ideologische Synthese des Haschomer Hazair aus Zionismus und Sozialismus sehr überzeugend. Im Jahre 1937, als der zionistische Kongress in Zürich stattfand, nahmen die älteren Mitglieder unseres Bundes an einem ideologischen Seminar im Dorf Amden teil. An zwei Tagen waren auch zwei Delegierte des Haschomer Hazair aus Palästina anwesend: Mosche Silbertal und Zwi Lurie. In einer unserer Unterhaltungen fragte ich Lurie: „Warum ist es euch so wichtig, dass in der Schweiz eine Sektion der Weltbewegung des Haschomer Hazair aktiv ist? Hier lebt ja nur eine kleine jüdische Gemeinde mit begrenztem Einfluss innerhalb des weltweiten Judentums. Auch die Bewegung selbst wird hier nur relativ klein sein. Gemessen am Charakter und an der Zusammensetzung des Schweizer Judentums wäre doch eher eine allgemeine zionistische Jugendorganisation angebracht. Solche allgemeinen Organisationen existieren bereits in den Städten Zürich und Basel. Zudem gibt es hier kein großes Potenzial an Einwanderern nach Palästina.“ Seine Antwort überraschte mich: „Wir betrachten jede jüdische Gemeinde als wichtig, und wir wollen in allen wirksam sein. Wir schätzen die Position der Schweiz im Zentrum von Europa, das sich zurzeit in politischen Umwälzungen befindet. Es ist anzunehmen, dass die Schweiz eine besondere Position in diesen Entwicklungen einnehmen wird. Es dürfte kein Zufall sein, dass ein großer Teil der internationalen Organisationen in der Schweiz ihren Sitz hat, und die Stadt Genf beherbergt viele jüdische Einrichtungen. Die Schweiz ist die Wiege des 21 Der Kibbuz Dalia liegt südöstlich von Haifa an den Ausläufern des Karmelgebirges. Er ging 1939 aus zwei anderen Kibbuzim hervor, die 1933 von Mitgliedern des Haschomer Hazair vor allem aus Rumänien und Deutschland gebildet worden waren. Im Kibbuz werden Seifen und Reinigungsmittel hergestellt, andere Industriefirmen sind hinzugekommen. Durch Bohrungen wurden hier große Wasservorkommen entdeckt. 1995 lebten 870 Menschen im Kibbuz.

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modernen Zionismus. Insofern ist es sicherlich von Bedeutung, dass der Haschomer Hazair in diesem Land vertreten ist.“ Tatsächlich verflossen nicht mehr als zwei Jahre, bis es so weit war, und ich persönlich stand bei den entsprechenden Aktivitäten in Genf mittendrin. Nach einigen Jahren traf ich Zwi Lurie erneut im Rahmen unserer öffentlichen Tätigkeit. Er amtierte als Vertreter des Haschomer Hazair und der Mapam in der Exekutive der Zionistischen Weltorganisation, ich als Vorsitzender der Weltleitung des Haschomer Hazair. Wir begegneten uns bei den Sitzungen der zionistischen Gremien in Israel wie auf den Konferenzen unserer Bewegung und bei den Zionistenkongressen in Basel oder in anderen Städten der Schweiz sowie weiterer Länder. Wir beide erinnerten uns an unsere Treffen, und ich zitierte aus dem Gedächtnis unser erstes Gespräch von damals, das mich so beeindruckt hatte. Abgeordnete verschiedener zionistischer Jugendbünde aus Deutschland versuchten, unsere Entscheidung als Schweizer Zionisten zu beeinflussen. Im Jahr 1938 fand eine Konferenz statt, auf der sich zwei Repräsentanten aus Deutschland bemühten, uns durch ihre Argumente zu überzeugen. Sie führten zudem persönliche Gespräche mit den älteren Kameraden und auch mit uns, der Gruppe mittleren Alters. Ich war damals 18 Jahre alt und las intensiv grundlegende Schriften über den Zionismus aus der reichhaltigen Bibliothek meines Vaters. Darunter waren auch drei dicke Bände der Tagebücher Theodor Herzls, und erst jetzt wurde mir diese faszinierende Persönlichkeit so richtig bewusst. Ich vertiefte mich in die Bücher Autoemanzipation von Leon Pinsker, Rom und Jerusalem von Moses Hess, in Theodor Herzls Der Judenstaat und Altneuland sowie in die Schriften von Max Nordau.22 Damit festigte ich meine zionistische Weltanschauung schon im jugendlichen Alter, und mir wurde klar, dass es ver22 Zu den Schriften von Leon Pinsker, Moses Hess und Max Nordau siehe die entsprechenden Kurzbiografien im Anhang. Herzls Buch „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“ erschien 1896. Darin ging er unter dem Eindruck eines sich verschärfenden Antisemitismus davon aus, dass trotz aller Emanzipationsbemühungen die Judenfeindschaft nicht verschwinden werde. Die einzige Lösung für die Juden bestehe darin, im Zeitalter des Nationalismus „normal“ zu werden, eine nationale Bewegung zu gründen und einen eigenen Staat zu bilden. Herzl legte sich noch nicht fest, wo der Staat entstehen könne, obwohl er bekannte, dass Palästina eine „unvergessliche historische Heimat“ sei. Dort könne man für Europa „ein Stück des Walles gegen Asien“ errichten, „wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen“. Den Christen würden ihre heiligen Stätten garantiert werden. Alle Andersgläubigen sollten tolerant

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schiedene Richtungen gab, um den „Staat unterwegs“ zu realisieren und um das „Endziel“ zu definieren. Nicht nur die Ideologie des Zionismus zog mich an. Die Wurzeln der Jugendbewegung – der Jugendbewegung im Allgemeinen und der jüdischen im Besonderen – erstrecken sich nicht nur auf das Gebiet der rationalen Einsicht. Wir jungen Menschen, die in der bürgerlichen Gesellschaft aufwuchsen, identifizierten uns vielmehr auch mit dem psychologischen „Aufstand der Jugend“ und der Suche nach einem selbstbestimmten Weg. Ich erhielt in meinem Elternhaus alles, was ich wollte, und meine Eltern ermunterten mich sogar, der Jugendbewegung beizutreten. Persönlich hatte ich deshalb keinen Grund, mich dieser generationenbedingten Widerstandshaltung anzuschließen, die sich in der Jugendbewegung entwickelte. Der Antagonismus gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft bildete sich besonders in Deutschland heraus. In der Weimarer Republik hatte sich die bürgerliche Mentalität ausgebreitet, und bei der Jugend dominierte der Drang, „Karriere“ zu machen. Ein Teil der Jugend war jedoch nicht bereit, sich die entsprechenden Routinen zu eigen zu machen. In Osteuropa wiederum war der „Widerstand des Sohnes“ für die jüdische Jugend ein Aufstand gegen die beengende Atmosphäre des Schtetls, der sich abschließenden jüdischen Gemeinschaft in den Kleinstädten. Das Streben nach Natur und persönlicher Freiheit zog die jüdische Jugend an. Und obwohl es seine ideologischen und gesellschaftlichen Wurzeln in Osteuropa hatte, machte das Erwachen der jüdischen Jugend sich auch im Westen bemerkbar. Die jüdische Jugendbewegung, besonders die zionistische, wurde dabei vom „Weltschmerz“ genährt, während in Osteuropa diesem Gefühl eine andere Motivation zugrunde lag: Hier war die Bedeutung konkret, verankert im Lebensstil der jüdischen Gemeinschaft. Der Begriff „Jugendkultur“ bei Gustav Wyneken, dem Ideologen der deutschen Jugendbewegung, dessen Einfluss in der Frühphase des Haschomer Hazair unverkennbar ist, verweist auf das Streben nach Integration in die bürgerliche Gesellschaft, um dieser neue moralische Inhalte und Grundlagen zu geben. Der Weg, den die Jugend dazu einschlagen wollte, bestand in der Erziehung zu humanistischen Werten. Diese galt es während der unterschiedlichen Etappen in der Entwicklung der Jugendlichen zu fördern, damit sie als „erwachsene Menschen“ das Bestreben nach einer Gesellschaft in sich trugen, die geistiger und humanistischer als die bestehende sein sollte. behandelt werden und Rechtsgleichheit genießen. In „Altneuland“ führte Herzl seine Utopie näher aus. Darauf wird noch eingegangen (Anm. 102).

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Im Leben der Juden in der Schweiz gab es einige wenige Elemente, die den Hintergrund für dieses persönliche Erlebnis gesellschaftlicher Kritik bildeten. Das Leben im Schtetl war uns fremd. Eine Identifizierung mit dem Lebensstil und dem traditionellen jüdischen Leben erfolgte erst allmählich durch Erzählungen, Lesen und Lieder. Aber wir waren von diesen geistigen Strömungen beeinflusst und machten sie uns auf rationalem Wege zu eigen. Wir akzeptierten auch die Werte, die auf eine „Weltverbesserung“ zielten. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass diese Forderungen nur zum Teil befriedigend waren. Ich befand mich bereits in einem Stadium, in dem ich mich als Sohn des jüdischen Volkes betrachtete. Die Bewegung, mein Elternhaus und auch die Ereignisse in der Schweiz vertieften und bereicherten mein Bewusstsein. Die allgemeine „Weltverbesserung“ bekam bei mir eine Bedeutung, die sich auf die besondere, „unnormale“ Lage des jüdischen Volkes bezog. Die zionistische Ideologie wurde zu einem integralen Teil meines Lebenswegs, und mir war schon bald klar, dass diese Entscheidung nicht von der Zustimmung oder Ablehnung meiner Eltern abhängen konnte. Ich musste selbst und eigenständig darüber entscheiden. Die Bewegung wurde so immer mehr zu dem Rahmen, in dem sich mein Leben eine dauerhafte Bahn schuf. Wurde der Zionismus als eine nationale Revolution betrachtet, so übersetzte ich diese Ideologie für mich als eine Verpflichtung zur persönlichen Revolution. Der „Aufstand des Sohnes“, eines der frühen „Stichworte“ des Haschomer Hazair, war für mich nicht nur die Verneinung der „bürgerlichen“ Gesellschaft (auch der jüdischen). In dieser Beziehung ähnelte meine und meiner Kameraden Motivation derjenigen, die Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Gründung des Haschomer Hazair und anderer jüdischer Jugendbünde in Wien vorgeherrscht hatte. Wichtig war, dass gerade in Wien, also mitten in Europa, die Grundlagen der jüdischen Jugendbewegung und besonders des Haschomer Hazair gelegt worden waren. Ja, es lässt sich sogar sagen, dass der zionistische Gedanke sich politisch in Westeuropa konsolidierte: Theodor Herzl begann seinen Weg in Wien, formulierte seine zionistische Weltanschauung in Frankreich und berief den Ersten Zionistenkongress in Basel ein. In der Bewegung wurden wir im Sinne eines Liedes des Schriftstellers David Shimoni erzogen, und wir gaben dies ebenso an die Jüngeren weiter. Dieses Lied rief zum „Aufstand“ gegen die Eltern auf. Wir sangen es im hebräischen Original, und es lautete frei übersetzt:

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Die Bewegung und ich „Höre nicht die Moral des Vaters Und erhöre nicht die Lehre der Mutter. In der kalten Nacht des Herbstes Im Inneren der Mutter, in den Tiefen des Vaters Hörst du den Wind das Lied des Sohnes singen, Das Lied der Freude und des Kampfes. In der kalten Nacht, in der Nacht des Herbstes Hört den Frühling singen!“

Ich suchte nicht nur die ideologische Identität. Nicht weniger wichtig war mein Wille, in einer „anderen“ Gesellschaft zu leben, in der ich in meinem persönlichen Alltag meine gesellschaftlichen Vorstellungen verwirklichen konnte. Dies alles fand ich im Ideal des Kibbuz. Ich kannte damals noch nicht die Bedeutung des Lebens in einer kollektiven Gesellschaft, sah in ihr jedoch die Realisierung meiner Weltanschauung. So schloss sich bei mir der Kreis zwischen drei Elementen: Zionismus, Sozialismus, Kibbuz. Diese Komponenten waren auch der Inhalt der Erziehung, die wir in unserem Bund erhielten, der neben dem Erlebnis der Gemeinschaft hauptsächlich die Ideologie festigte. Sie erzog zu einem bestimmten Lebensweg. Sie zielte nicht nur auf die Jugendbewegung, sondern wollte sie im ganzen Leben verwirklichen. Der Kibbuz in Erez Israel wurde vor der Gründung des Staates Israel als Instrument des zionistischen Aufbauwerks betrachtet. Er war und ist jedoch mehr als das. Er wurde von den Schlichim, den Gesandten aus Palästina (und später aus Israel) als ein „Wert an sich“ dargestellt, als eine Gemeinschaft, die tagtäglich im Geist der Verwirklichung ihrer Ideale und Verhaltensnormen lebt. So verwies die gegenseitige Hilfe in der Gruppe auf einen „chaluzischen“, einen pioniergemäßen und damit bescheidenen Lebensstil – eine Antithese zur bürgerlichen „Etikette“. Ich trug entsprechend keine Krawatte, die Mädchen durften keine Seidenstrümpfe anziehen, wir hatten eine gemeinsame Kasse, und die „Zehn Gebote“ des Haschomer Hazair waren für uns das Leitmotiv für unser persönliches Verhalten. Auch was die Beziehungen zwischen den Geschlechtern betraf, gab es Beschränkungen. Man verlangte von uns „sexuelle Reinheit“, das heißt sexuelle Abstinenz in den Jahren der Pubertät. Die konkrete Übersetzung des „zehnten Gebots“ verlangte den Aufschub des Geschlechtsverkehrs bis zur Alija nach Erez Israel. Doch das Leben ist stärker als alle Regeln. Alle Argumente der „Sublimation“ verloren ihren Wert und ihre Bedeutung für diejenigen Kameraden, die schon Familien gründeten oder in Partnerschaften lebten. In Ost- und Mitteleuropa 49

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waren Anhänger gezwungen, lange Jahre in den kollektiven Gemeinschaften der Hachschara, der Ausbildung für das Leben im Kibbuz, zu verbringen, bis sie ein „Zertifikat“, also die Einreiseerlaubnis der britischen Regierung nach Palästina, erhielten. Als die Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich auch in der Schweiz kollektive Hachschara-Wohngemeinschaften bildeten, hatte dieses „zehnte Gebot“ keine Bedeutung mehr, da die meisten ohne einen formellen oder religiösen Akt der Heirat bereits in „Familien“ lebten. Auch ich konnte erst im Alter von 27 Jahren nach Palästina auswandern. Chasia Bielicka, meine zukünftige Gemahlin, traf ich zum ersten Mal im Januar 1946. Unser Familienleben begann dann im September 1947 im Kibbuz Lehavot Habaschan. Davor hatte ich in den Jahren meines Lebens in der Schweiz bereits Freundinnen. Eine fünf Jahre dauernde und bedeutungsvolle Freundschaft war die mit Rösli Pewsner. Sie war ein Jahr jünger als ich und stand mir sehr nahe. Eine gewisse Zeit war sie auch Bundeskameradin in der Gruppe mit meiner Schwester. Letztendlich trennten sich jedoch unsere Wege – sie war nicht bereit, ihre Familie zu verlassen und nach Palästina auszuwandern. Der Lebensstil und die „puritanischen“ Gesetze der Bewegung sagten ihr nicht zu; sie kleidete sich im „bürgerlichen“ Stil nach der letzten Mode und zog seidene Strümpfe an. Trotzdem unterstützte sie mich während der Kriegsjahre in meiner Tätigkeit. Sie war eine der wenigen, die wussten, was ich tat, und sie wusste mehr als meine Schwester oder die Eltern. Ich war viel auf Reisen, und sie hatte stets Kenntnis davon, wo ich mich befand. Auch die Kameraden der Bewegung waren nicht immer auf dem Laufenden, besonders wenn ich in „geheimen“ Beziehungen mit verschiedenen Menschen verbunden war oder Verhandlungen über Rettungsaktionen führte. Rösli, die heute Varda Berenstein heißt, hatte noch eine Schwester und zwei Brüder. Die Geschichte ihrer Familie ist etwas ungewöhnlich. Ihre Mutter wurde im weißrussischen Vitebsk geboren und ihr Vater in der Ukraine; beide Orte gehörten damals zum Zarenreich. Die Mobilisierung des Vaters verhinderte die Mutter durch den Erwerb eines gefälschten Passes, mit dem er Russland verlassen und Köln erreichen konnte. Die Familie beschloss, nach Argentinien auszuwandern, und fuhr in einem internationalen Zug zum Hafen. Unterwegs machte der Zug in Basel halt. Dort überzeugte man Moische Pewsner und seine Familie, den Zug zu verlassen. Er war ein gelernter Handwerker, und ein russischer Flüchtling schlug ihm vor, für ihn zu arbeiten. So blieben sie in der Schweiz. Röslis Vater war einer der wenigen Juden Basels, die einen handwerklichen Beruf ausübten, und die Familie brachte es zu einigem Wohlstand. Unsere „Jugend50

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liebe“ nahm dann ein Ende, als Rösli klar wurde, dass ich fest entschlossen war, nach Palästina auszuwandern und mich einem Kibbuz anzuschließen. Sie war nicht bereit, diesen Schritt mit mir zu tun, und so trennten sich unsere Wege. Erst nach vielen Jahren nahmen wir wieder Kontakt zueinander auf. Sie heiratete und emigrierte nach Toronto in Kanada. Varda, wie sie sich nun nannte, besuchte uns einige Male im Kibbuz, und wir waren bei ihr zu Gast in Toronto. Wir pflegten gute Beziehungen zu ihr und ihren Kindern, und zwischen Varda und Chasia entwickelte sich eine enge Freundschaft. Mein Leben richtete sich wie auch das meiner Kameraden mehr und mehr auf die gesellschaftlichen Ereignisse, auf „weltweite“ politische Probleme und die Entwicklungen in der Bewegung. Ich hatte tatsächlich keine Freunde außerhalb unseres Bundes, weder in der Schule noch während meiner Militärzeit oder in der Nachbarschaft. Mein ganzes Leben spielte sich in der Bewegung ab. Andere Bundeskameraden unterhielten und bewahren bis heute persönliche Beziehungen zu Schulkameraden oder zu Freunden aus der Zeit des gemeinsamen Studiums an der Universität und sogar aus dem gemeinsamen Dienst in der Schweizer Armee. Meine sozialen Bedürfnisse und meine Ziele ließen sich hingegen vollauf im Rahmen der Bewegung zufriedenstellen. Andere Verbindungen und Verpflichtungen traten dahinter zurück. Ich las viele Bücher. Die deutsche Sprache vermittelte uns nicht nur die klassische Literatur großer deutscher Schriftsteller und Dichter wie Goethe, Schiller, Thomas Mann und manch anderer. Viele Werke wurden aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt, so zum Beispiel Romain Rolland, Upton Sinclair oder Henrik Ibsen. Darüber hinaus war ich sehr daran interessiert, Bücher von zeitgenössischen Autoren zu lesen, die eine fortschrittliche Weltanschauung vertraten und Gegner des Nationalsozialismus waren. Arnold Zweig, Stefan Zweig, Ernst Toller und Kurt Tucholsky waren wie zahlreiche andere geradezu „Pflichtlektüre“ für die Mitglieder der Bewegung. Viele von ihnen lieferten das Thema für Sitzungen eines „Literarischen Gerichts“, zum Beispiel über Ibsens Volksfeind oder Tollers Maschinenstürmer.23 Eine spannende Diskussion entspann 23 In Henrik Ibsens (1828–1906) Schauspiel „Ein Volksfeind“ (1882) geht es um den Konflikt zwischen einem Arzt, der erkennt, dass das städtische Wasser gesundheitsgefährdend ist, und der Bürokratie sowie der Stadtverwaltung, jedoch auch der Bürgerschaft und der liberalen Presse. Das Stück ist eine scharfe Abrechnung mit der bürgerlichen Welt. Ernst Tollers (1893–1939) Drama „Die Maschinenstürmer“ (1920/21) spielt in England um 1815 und hat den Aufstand entwürdigter, aber aufgehetzter Arbeiter zum Gegenstand. Der

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sich über Ignazio Silones Fontamara.24 Warum blieb dieses Buch so tief in meinem Gedächtnis haften? Silone war ein aktives Mitglied der Kommunistischen Partei in Italien und ihr Vertreter in der Kommunistischen Internationale, der Komintern. Im Jahre 1927 nahm er an einer Sitzung in Moskau teil und kam als entschiedener Gegner Stalins zurück. 1930 trat er aus der Kommunistischen Partei aus, verließ Italien und ließ sich in der Schweiz nieder. In unserer Gruppe lernten wir die Persönlichkeit von Silone kennen und lasen sein Buch. Wir konnten somit den moralischen Zusammenbruch von zwei Regimen verfolgen. Nicht nur die Literatur interessierte mich. Ich war ein heranreifender Junge in der Lebensperiode, in der sich die Persönlichkeit eines jungen Menschen zu festigen pflegt. Zum ideologischen Gepäck des Haschomer Hazair gehörte der Drang, die fast täglichen politischen Wendungen wahrzunehmen und zu analysieren. Europa brannte. Die Umwälzungen im benachbarten Deutschland erschütterten meine intellektuelle und emotionale Welt. Der Bürgerkrieg in Spanien von 1936 bis 1939 war Ausdruck des Verfalls der moralischen Grundlagen der Gesellschaft nicht nur in Spanien, sonders in ganz Europa. Die Parole ¡No pasarán!, die die antifaschistische Kämpferin Dolores Ibárruri, genannt La Pasionaria, prägte, als die Milizen Francos vor den Toren Madrids standen, wurde zur Kampfparole der Gegner des Faschismus in ganz Europa. Auch in der Schweiz wurden Demonstrationen gegen den Faschismus organisiert, an denen ich oft teilnahm. Überhaupt verfolgte ich aufmerksam alle Ereignisse in Europa. Jede Woche kaufte ich Zeitungen sozialistischer Gruppierungen, die in Europa erschienen. Der Bürgerkrieg in Spanien war ein deutliches Alarmzeichen, dass der Faschismus die Absicht hegte, ganz Europa zu erobern. Der Haschomer Hazair mischte sich aktiv in die internationalen Beziehungen ein. Mordechai Oren war der „Außenminister“ der Bewegung. Er besuchte häufig die Schweiz, wo ich ihn bei verschiedenen Gelegenheiten traf, und bemühte sich um die Herstellung internationaler Verbindungen. Die Zweite Internationale der Sozialdemokraten war nicht „links“, das heißt nicht marxistisch genug,

Maschinensturm erscheint als der falsche Weg, das Los der Arbeiter zu verbessern. Dagegen steht der langfristige, mühselige Kampf, der in der gesellschaftlichen Revolution gipfeln werde. 24 Ignazio Silone (1900–1978) stellt in seinem Roman „Fontamara“ (1929/30) die Cafoni, die verschuldeten Kleinbauern und Taglöhner, in einem Abruzzendorf in den Mittelpunkt. Ihr Kampf gegen die Faschisten, der von der Untergrundbewegung unterstützt wird, scheitert. Es bleibt nur die Hoffnung auf einen zukünftigen Sozialismus.

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die Dritte Internationale, die Komintern, war antizionistisch eingestellt. So suchte man einen „Mittelweg“. Tatsächlich existierten in verschiedenen Ländern ähnliche Organisationen, mit denen Oren in Kontakt stand. Ich informierte mich über sie anhand der jeweiligen Veröffentlichungen; darunter fand sich auch eine Zeitung der Linksorganisation in Spanien. In Basel gab es ein Geschäft, das Zeitungen und Publikationen der Linken in Europa verkaufte und in dem ich ein ständiger Kunde war.25 Im Rückblick lässt sich sagen, dass die Jahre von 1930 bis 1940 meine Weltanschauung insgesamt geprägt haben. Zwar wuchs ich in einem Land auf, das scheinbar abseits der Ereignisse stand, die die Lebensverhältnisse in den benachbarten Ländern und ganz Europa umwälzten. Dennoch war ich mir bewusst, dass der Krieg sich näherte und eine gewaltige Katastrophe des jüdischen Lebens in Europa bevorstand. Die Gefahr der letztlich auch physischen Vernichtung des europäischen Judentums konnte sich jedoch kein noch so aufmerksamer Beobachter jener Jahre vorstellen.

Die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs Unterdessen schloss ich die Mittelschule ab. Im Jahr 1938 begann ich den Militärdienst. Der Wehrdienst ist allgemein und für jeden Schweizer obligatorisch, doch kann man sich relativ leicht durch Zahlung der Militärsteuer davon befreien. Ich absolvierte drei Monate lang die Rekrutenschule und wurde Ende August 1939 ohne zeitliche Beschränkung zum Aktivdienst mobilisiert. Die Schweiz stellte sich auf einen Krieg ein und bereitete sich auf einen deutschen Angriff vor. Wir konnten uns nicht erklären, warum sich alle Nachbarländer der Schweiz der Achse Berlin – Rom anschlossen oder von der deutschen Armee erobert wurden. Am Anfang breitete sich eine gewisse Panik in der Bevölkerung aus, vor allem in der deutschsprachigen Schweiz, die an Deutschland grenzt – ver25 Das Antiquariat der Brüder Fritz und Heiner Koechlin in Basel war eine Anlaufstelle der Linken und eine Fundgrube für sozialistische und anarchistische Literatur. Die Koechlins engagierten sich während des Spanischen Bürgerkrieges zugunsten der Republik und leisteten auch während des Zweiten Weltkrieges Fluchthilfe für bedrohte Menschen.

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die Dritte Internationale, die Komintern, war antizionistisch eingestellt. So suchte man einen „Mittelweg“. Tatsächlich existierten in verschiedenen Ländern ähnliche Organisationen, mit denen Oren in Kontakt stand. Ich informierte mich über sie anhand der jeweiligen Veröffentlichungen; darunter fand sich auch eine Zeitung der Linksorganisation in Spanien. In Basel gab es ein Geschäft, das Zeitungen und Publikationen der Linken in Europa verkaufte und in dem ich ein ständiger Kunde war.25 Im Rückblick lässt sich sagen, dass die Jahre von 1930 bis 1940 meine Weltanschauung insgesamt geprägt haben. Zwar wuchs ich in einem Land auf, das scheinbar abseits der Ereignisse stand, die die Lebensverhältnisse in den benachbarten Ländern und ganz Europa umwälzten. Dennoch war ich mir bewusst, dass der Krieg sich näherte und eine gewaltige Katastrophe des jüdischen Lebens in Europa bevorstand. Die Gefahr der letztlich auch physischen Vernichtung des europäischen Judentums konnte sich jedoch kein noch so aufmerksamer Beobachter jener Jahre vorstellen.

Die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs Unterdessen schloss ich die Mittelschule ab. Im Jahr 1938 begann ich den Militärdienst. Der Wehrdienst ist allgemein und für jeden Schweizer obligatorisch, doch kann man sich relativ leicht durch Zahlung der Militärsteuer davon befreien. Ich absolvierte drei Monate lang die Rekrutenschule und wurde Ende August 1939 ohne zeitliche Beschränkung zum Aktivdienst mobilisiert. Die Schweiz stellte sich auf einen Krieg ein und bereitete sich auf einen deutschen Angriff vor. Wir konnten uns nicht erklären, warum sich alle Nachbarländer der Schweiz der Achse Berlin – Rom anschlossen oder von der deutschen Armee erobert wurden. Am Anfang breitete sich eine gewisse Panik in der Bevölkerung aus, vor allem in der deutschsprachigen Schweiz, die an Deutschland grenzt – ver25 Das Antiquariat der Brüder Fritz und Heiner Koechlin in Basel war eine Anlaufstelle der Linken und eine Fundgrube für sozialistische und anarchistische Literatur. Die Koechlins engagierten sich während des Spanischen Bürgerkrieges zugunsten der Republik und leisteten auch während des Zweiten Weltkrieges Fluchthilfe für bedrohte Menschen.

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ständlicherweise waren die Bewohner von Basel und in der Nähe des Rheins besonders besorgt. Beide Länder waren nur durch den Fluss voneinander getrennt. In einigen Fällen verlief die Grenzlinie mitten auf der Brücke, und die Grenzwachen und Soldaten beider Länder trafen sich dort. Mein erster Aktivdienst fand auf einer solchen Brücke bei dem Städtchen Rheinfelden statt, doch nach einigen Monaten wurde ich zu einer anderen, weitaus interessanteren Tätigkeit versetzt. Da ich einige Sprachen beherrschte, wurde ich der Informationseinheit zugeteilt. Es war meine Aufgabe, Radiosendungen abzuhören, darunter solche der BBC, von Radio France und des Deutschen Rundfunks, aber auch andere, so etwa die Sendungen der Résistance in Frankreich, diejenigen General de Gaulles aus London und Berichte aus anderen Teilen des besetzten Europas. Ich musste die Nachrichten und Meldungen ins Deutsche übersetzen und dreimal am Tag dem Korpskommandanten ein Bulletin übergeben. Die Arbeit war interessant, und ich hatte meine Freiheiten. Unser Kommando befand sich in der Stadt Liestal, eine halbe Stunde Fahrt von Basel entfernt. So konnte ich an den Abenden, an denen ich keinen Dienst hatte, nach Basel fahren. Mich frei bewegen zu können, kam mir sehr gelegen. So konnte ich gleichzeitig Kontakt mit meinen Bundeskameraden halten, Briefe schreiben, Telefongespräche mit dem In- und Ausland führen. Das Wichtigste war, meine Adresse in der Türkheimerstraße in Basel aufrechtzuerhalten, denn sie ermöglichte den Kontakt mit meinen Kameraden in den besetzten Gebieten in Europa. Nach dem Zionistenkongress in Genf im August 1939, unmittelbar vor meiner Mobilisierung, begann ich, mich aktiv an der Rettung von Flüchtlingen und der Sorge für ihr Wohlergehen zu beteiligen. Ich wandte mich an Georges Brunschvig, der ein Vorstandsmitglied des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und ein hoher Offizier in der Militärjustiz war, und bat ihn darum, meine Befreiung vom Dienst zu beantragen. Er begründete das Anliegen mit meiner Rettungs- und Hilfstätigkeit, die von den jüdischen Organisationen, wie er versicherte, als außerordentlich wichtig angesehen wurde. Die entsprechenden Instanzen bestätigten dann tatsächlich „bis auf Weiteres“ meine Befreiung vom Militärdienst. So konnte ich mich von 1940 bis zu meiner Auswanderung nach Palästina vollständig dieser Aufgabe widmen. In den letzten Jahren wurden viele Forschungsarbeiten über die Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges durchgeführt. In den meisten europäischen Staaten fanden Tagungen, aber auch Gerichtsverhandlungen statt. Dabei ergaben sich auch neue Erkenntnisse zu der Politik der Schweizer Regierung und 54

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ihrer Behandlung jüdischer Flüchtlinge. Meine persönlichen Zeitzeugen-Erinnerungen aus Insel Schweiz erwiesen sich als zutreffend. Verschiedene Historiker nahmen auf sie Bezug, und sie scheinen auch heute noch belangvoll zu sein und jeder historischen Prüfung standzuhalten.26 Die Forschung in der Schweiz beschäftigt sich zudem mit der Einstellung und dem Vorgehen des SIG. Eine besondere geschichtliche Arbeit ist der Biografie Saly Mayers gewidmet.27 Dieser war damals Präsident des SIG und Vertreter des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) in der Schweiz. Während des Krieges war er in ganz Europa tätig. Diese historischen Studien bestätigen weitgehend meine Erfahrungen im Hinblick auf die damaligen Aktivitäten in der Schweiz. Mein Buch rief entsprechend ein starkes Echo hervor. Es erschien in den 1990erJahren, als es eine heftige Kontroverse zwischen der Schweiz und den internationalen jüdischen Organisationen gab. Ich beschrieb die Position der Schweiz während der Kriegszeit, ihre allgemeine Politik und besonders das Verhältnis zu den Juden. Die Mitglieder der Bewegung reagierten mit großem Interesse, denn bis dahin war unsere Tätigkeit während der Schoah dem weiteren Publikum und auch vielen meiner Bundeskameraden nicht bekannt gewesen. Ende 1996 ernannte der Schweizer Bundesrat die Mitglieder der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“, um das umstrittene Verhältnis der Schweiz zum nationalsozialistischen Deutschland während der Kriegszeit zu klären. Ihr Vorsitzender war der bekannte Wirtschaftshistoriker Prof. Jean-François Bergier. 2002 legte die Kommission ihre Ergebnisse zusammenfassend im „Bergier-Bericht“ vor.28 Daneben erschienen 25 Einzelstudien – eine einmalige Aufarbeitung der Geschichte. Als Bergier in Israel war, um in der Gedenkstätte Yad Vashem Personen zu interviewen und Dokumente einzusehen, lud er auch mich ein und befragte mich. Ihn interessierten besonders unsere Rettungsaktionen von Kindern und Jugendlichen in die Schweiz und ihre Betreuung im zionistischen Geist, um sie auf die Auswanderung nach Palästina und ihr zukünftiges Leben in ihrer „neuen Heimat“ vorzubereiten.

26 Vgl. einige Bemerkungen zu möglicherweise nicht völlig zutreffenden Erinnerungen bei Stefan Mächler: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933–1945. Zürich 2005, S. 519, Anm. 53. 27 Hanna Zweig-Strauss: Saly Mayer (1882–1950). Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust. Köln usw. 2007. Siehe auch Mächler: Hilfe und Ohnmacht. 28 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Zürich 2002.

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Bergier war der Meinung, dass diese „illegalen“ Grenzüberschreitungen nicht ausreichend dokumentiert seien. Auch sprachen wir über die Kontakte mit den jüdischen Untergrundbewegungen in den von Deutschland besetzten Gebieten, die ich für die Haschomer-Hazair-Bewegung organisiert hatte, und die koordinierten Aktionen mit dem Büro des Hechaluz in Genf. Noch vor dem Erscheinen meines Buches auf Hebräisch wurde ich zusammen mit Nathan Schwalb, dem Leiter dieses Genfer Büros, zu einem Kolloquium im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich eingeladen. Die Tagung fand am 6. Juli 1964 unter großer Beteiligung in der Aula der Eidgenössischen Hochschule statt und drehte sich um Rettungsaktionen während der Kriegsjahre. Ich sprach über „Die Rettung in die Schweiz und die Hilfe für die besetzten Gebiete aus der Schweiz“. Nathan Schwalb konzentrierte sich auf die internationalen Verhandlungen zu verschiedenen Rettungsprojekten von Juden besonders in den letzten beiden Kriegsjahren, die zum großen Teil in der Schweiz geführt wurden. Mein Auftreten erweckte Interesse und Aufmerksamkeit. Ich war „einer von uns“, verschonte jedoch meine Zuhörer nicht mit einer Kritik der antisemitischen Einstellung von Schweizer Behörden, die in dieser verhängnisvollen Zeit die Grenzen für die jüdischen Flüchtlinge geschlossen hatten. Meine Darlegungen wurden von Prof. Klaus Urner, dem Direktor des Archivs für Zeitgeschichte, mit einem verständnisinnigen Verweis auf den damaligen „jungen Mann, der dem Ruf der menschlichen Moral folgte“, kommentiert. Nach dem Erscheinen meines Buches fand im Tel Aviver Beth Hatefuzot ein Studientag statt.29 Der große Saal war sehr gut besetzt, denn die Themen waren aktuell. Es nahmen hochrangige Persönlichkeiten an der Tagung teil, unter anderen der Botschafter der Schweiz in Israel Pierre Monod, Abraham Burg, Vorsitzender der Jewish Agency, der die Verhandlungen der jüdischen internationalen Organisationen mit der Schweiz führte, und Prof. Yehuda Bauer. Mosche Pil, Mitglied des Haschomer Hazair und einer der früheren Führer der jüdischen Untergrundbewegung in Ungarn, unterstrich die Wichtigkeit der Verbindung mit der Schweiz während der Kriegszeit: „Dank Heini war die Schweiz keine Insel, sondern eine wichtige Drehscheibe von Hilfe und Rettung.“ Eine weitere Tagung fand am 20. März 1997 im großen Saal von Yad Vashem statt. Das Thema lautete „Reaktion und Rettungsversuche der ‚Freien Welt‘“. Ich hielt ein Referat über „Die neutrale Schweiz und ihr Verhältnis zum 29 Beth Hatefuzot, das „Diaspora-Haus“, ist das Nahum-Goldmann-Museum des Jüdischen Volkes auf dem Gelände der Universität von Tel Aviv und wurde 1978 eröffnet.

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Heini Bornstein 1996 vor dem Beth Hatefuzot, dem Haus der jüdischen Gemeinden in der Welt, anlässlich des Erscheinens der hebräischen Ausgabe seines Buches Insel Schweiz.

Holocaust“. Prof. Aharonsohn analysierte die Stellung Amerikas zur Schoah. Besonders interessant war für mich Rajah Cohens Vorstellung ihrer Dissertation über Die Jüdischen Vertretungen in Genf während des Weltkrieges. Ich war mit ihr persönlich bekannt, war sie doch in meinem Kibbuz geboren, und ihre Eltern waren gute Freunde von uns. Am 30. Dezember 1996 gab ich ein einstündiges Interview, das von der BCC ausgestrahlt wurde und auch im schweizerischen Fernsehen und im DRS lief. Die Korrespondenten kamen zusammen mit dem technischen Personal zu uns in den Kibbuz und machten die Aufnahmen in unserer Wohnung. Am 11. Juli 1997 teilte mir der Generalsekretär der „Anti-Defamation League“ (ADL) telefonisch aus Los Angeles mit, auf der Tagesordnung der in der folgenden Woche stattfindenden Landeskonferenz der Organisation sei ein Referat über „Hilfsund Rettungsaktionen neutraler Länder während des Holocaust“ angesetzt. Ein Professor an der Universität von Los Angeles habe mein Buch gelesen und als wichtiges Dokument empfohlen. Sie hatten beschlossen, das Buch jedem Delegierten in sein Dokumentendossier zu legen. Ich übergab das Buch dem Ver57

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treter des ADL in Israel, Harry Wall. Er engagierte vier Übersetzerinnen, und nach nur vier Tagen wurde die englische Version per Luftpost nach Los Angeles gesandt; ein Exemplar blieb bei mir. Aus dem Bericht über die Tagung konnte ich später ersehen, dass das Buch bei den Hunderten Delegierten großes Interesse gefunden hatte. Einige Male wurde ich zu Vorträgen nach Freudental bei Stuttgart eingeladen. In diesem Dorf wohnten 1933 etwa 50 jüdische Einwohner in guter Nachbarschaft mit den lokalen Bewohnern, meist Bauern. Während der folgenden Jahre ging die Zahl immer mehr zurück. In der „Kristallnacht“, hier begann sie am Nachmittag des 10. November 1938, wurde die Synagoge von den Nazis demoliert, und die Kultgegenstände wurden auf dem Sportplatz verbrannt. Die hier noch lebenden Jüdinnen und Juden mussten schwere Misshandlungen über sich ergehen lassen. Teilweise wurden die Männer in ein Lager deportiert. Viele wurden zur Emigration gezwungen, die Übriggebliebenen später ermordet.30 Nach 1979 wurde die Synagoge zwar restauriert, es waren jedoch keine Juden mehr im Dorf. So wurde die „Ehemalige Synagoge“ in ein „Pädagogisch-Kulturelles Centrum“ (PKC) zur jüdisch-christlichen Verständigung umgewandelt, das, von der Landesregierung Baden-Württembergs subventioniert, intensive Aktivitäten für die ganze Umgebung leistet. Ein Freundschaftsbündnis zwischen dem Zentrum und unserem regionalen Gemeinderat (Municipal Regional Council) wird durch gegenseitige Besuche von Erwachsenen, Studenten, Schülern und Lehrern gefördert, die einen persönlichen Dialog ermöglichen und ein Verständnis für die Problematik der deutsch-israelischen und deutsch-jüdischen Beziehungen 70 Jahre nach der Schoah schaffen. Zum ersten Mal wurde ich am 25. Mai 1997 zu einer Reihe von Treffen eingeladen. Ich hielt Vorträge über „Die Schweiz im Schatten von Deutschland“ und „Rettungs- und Hilfsaktionen Schweizer Juden“. Der größte Teil des Publikums bestand aus älteren Personen, die erklärten, sie würden zum ersten Mal von diesen Geschehnissen hören. Es wurden viele Fragen gestellt, die weit über das formulierte Thema hinausgingen und den Hintergrund eines Dialogs über 30 Das Pädagogisch-Kulturelle Centrum Freudental hat die Vorgänge inzwischen detailliert aufgearbeitet. Zu nennen ist insbesondere ein Projekt, die individuelle Geschichte und das Schicksal aller Juden anhand eines Dorfrundganges von Haus zu Haus darzustellen: Steffen Pross: Später erhielt ich noch zwei Karten aus Theresienstadt. Freudentaler Adressbuch 1935. Band 1. Freudental 2011; ders.: Eines Tages ist die Frau Stein plötzlich nicht mehr da gewesen. Freudentaler Adressbuch 1935. Band 2. Freudental 2013.

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die Schoah im Allgemeinen bildeten. Sehr bewegend war ein dreitägiges Treffen mit Schülern der höheren Klassen aus der ganzen Gegend. Sie kamen mit Autobussen, jedes Mal 60 bis 80 Schülerinnen und Schüler, begleitet von 15 Lehrern und Schuldirektoren. Das Thema lautete „Die jüdischen Jugendbewegungen im Kampf gegen die Nazis“. Der Dialog mit den Jugendlichen war spannend. Sie hörten zum ersten Mal die Geschichte des jüdischen Widerstandes. Meine Schilderung der Tätigkeit der jüdischen Widerstandskämpfer änderte bei vielen das Bild, das sie gewöhnlich von den Juden hatten. Bisher stand für die meisten die Schoah vor allem für Leiden und Vernichtung. Instinktiv wollten sie sich nicht an ihre Großväter erinnern oder sich mit ihnen identifizieren: Sie brachten ihre Hochachtung für die jüdischen Kämpfer und deren ehrenhaften Widerstand gegen die „Nazis“ zum Ausdruck; immer wieder benutzten sie diesen Begriff und vermieden es, von „Deutschen“ zu sprechen. Am Abend hatte ich eine Zusammenkunft mit den Lehrern, meistens Geschichtslehrern, und den anderen Begleitern, um eine Einschätzung dieser „Lerntage“ vorzunehmen. Sie unterstrichen die Wichtigkeit eines solchen Zusammentreffens mit den Schülern, warfen aber auch einige Fragen zur Einstellung der deutschen Jugend gegenüber der Schoah auf. Es wurde darauf verwiesen, dass dies die dritte Generation nach dem Krieg sei, die man daher nicht für die Taten ihrer Großeltern verantwortlich machen könne, zumal die Kriegsgeneration ihnen nie erzählt habe, was sie in diesen Jahren getan hatte. Im Juli 2008 wurde ich zu einer weiteren Reihe von Vorträgen in das PKC Freudental eingeladen. Im Gegensatz zu früheren Programmen, bei denen die Treffen mit Jugendlichen im Mittelpunkt standen, wurden diesmal Vorträge vor verschiedenen Gremien aller Alterststufen angesetzt. Diese Treffen waren besonders interessant und bedeutungsvoll, und ich schrieb darüber einen ausführlichen Artikel in der Zeitschrift Yalkut Moreshet, die vom Moreshet Memorial Institute des Haschomer Hazair und der Tel Aviver Universität auf Hebräisch und Englisch herausgegeben wird.31 Am ersten Tag traf ich mich mit rund 100 Schülern der höheren Klassen aus der Umgebung, am zweiten fuhr ich in das zentrale 31 1961 gründeten Überlebende der Schoah – darunter ehemalige Ghettokämpfer und Par� tisanen wie Ruschka Korczak –, die der Bewegung Haschomer Hazair nahestanden, „Moreshet“, das „Mordechai Anielevich Memorial Holocaust Study and Research Center“. Dieses Institut verfügt über ein wichtiges Archiv und organisiert Forschungen zur Geschichte der Schoah. Angeschlossen ist ein Verlag, das Moreshet Publishing House, in dem auch die Werke von Chasia Bornstein-Bielicka und Heini Bornstein erschienen sind.

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Gymnasium, das etwa eine Fahrstunde von Freudental entfernt liegt, um mit 120 Schülern zu sprechen, alles Abiturienten und zukünftige Studenten, von denen man annehmen konnte, dass sie teilweise zur heranwachsenden Führungsschicht gehörten. Die jungen Leute waren sehr gut vorbereitet und wussten viel über die Verfolgung und Vernichtung der Juden. Damit hatte ich gute Voraussetzung für meine Darstellung der Widerstandsbewegung und des Kampfes der jüdischen Jugend gegen die deutschen Nazis und deren Helfer. An der sich daran anknüpfenden interessanten Diskussion beteiligten sich auch die Lehrer. Ursprünglich waren zwei Stunden für dieses Treffen geplant, doch die Teilnahme und Aufmerksamkeit der Schüler wie der Lehrer war so intensiv, dass der Direktor des Gymnasiums beschloss, das Treffen um eine weitere Stunde auszudehnen. Am Schluss lud er mich zu einem Gespräch ein und erklärte mir das Lehrprogramm zur Schoah und das Spektrum der Erziehung gegen den Rassenhass und zur Völkerverständigung. Interessant war auch das Treffen mit den Arbeitern und Angestellten der Siemens-Werke. Es kamen 80 Mitarbeiter, die meisten stammten aus der Türkei sowie aus ost- und südeuropäischen Staaten. Siemens war während des Weltkrieges eines derjenigen Unternehmen, die den größten Teil der Zwangsarbeiter beschäftigten. Ihre Produktion war für Deutschlands Kriegspotenzial von ausschlaggebender Wichtigkeit. Die Direktion des Werks, das sich in der Nähe von Stuttgart befindet, organisierte jeden Monat einen Studientag für die Gastarbeiter und wählte diesmal meinen Vortrag „Das jüdische Volk als Minderheit unter den Völkern“. Ich erwähnte darin, dass in den 1990er-Jahren nach dem Zusammenbruch des Aufstandes der Kurden unsere Kibbuzim viele Flüchtlinge, unter ihnen mehrere führende Personen der kurdischen Minderheit, aufgenommen hatten. Es entwickelte sich eine interessante Debatte über die gegenwärtigen Probleme der Integration der türkischen Gastarbeiter und der Muslime in Deutschland und Europa. Das dramatischste Ereignis war aber zweifellos das Treffen mit deutschen Pensionären am letzten Tag meines Aufenthaltes in Freudental. Dazu wurde ein Interview mit mir in den beiden Wochenzeitungen der Kibbuzbewegung publiziert. Ich zitiere hier einen Auszug aus der Zeitung Daf Yarok: „Heini Bornstein (88, Lehavot Habaschan) traf Leute in seinem Alter in Deutschland. Er wusste, dass sie sich ihrer Lügen bewusst waren. Ein traumatisches Treffen, das einen interessanten Einblick in die gesellschaftliche Atmosphäre des heutigen Deutschlands vermittelt, wo jetzt die Urenkel Fragen an ihre Urgroßeltern stellen. Am letzten Tag kam Bornstein mit einer Gruppe von 60

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40 Pensionären im Alter von 80 bis 90 Jahren zusammen. Er stand ihnen gegenüber, als ob ein Dorn in seinem Auge stecke, ordnete seine Brille, schaute auf die Leute, die rund um ihn saßen, und erstarrte, möglicherweise begann er sogar zu schwitzen […] Das Publikum, das ihm gegenübersaß, bestand mehrheitlich aus Pensionären des ‚Dritten Reiches‘. Rasch wurde er sich darüber im Klaren, dass sie während der Zeit der Schoah im guten Fall Jugendliche und im schlechten Erwachsene gewesen sein mussten. In einer Gewissensprüfung, die er in einer Minute, nachdem er sich wieder besonnen hatte, innerlich vollzog, versuchte Heini zu verstehen, wie man überhaupt mit Leuten, die ohne Zweifel an Aktionen gegen Juden teilgenommen hatten, zu einem Dialog kommen konnte. Er beobachtete die versammelten Menschen, die gespannt, in einer inneren Selbstbeherrschung, die für ‚Deutsche‘ typisch ist, seine Worte erwarteten. Er beschloss, dass es der beste Ausweg sei, das Gespräch mit einer optimistischen Einleitung zu beginnen. So schilderte er ihnen die Geschichte von ‚guten Deutschen‘, die während der Schoah den Juden zur Seite gestanden hatten. Heini begann über die ‚deutsche Zelle‘ im Ghetto Białystok zu sprechen, die seine spätere Gemahlin Chasia Bornstein-Bielicka sowie Chaika Grossman noch zur Zeit des Ghettos zur Zusammenarbeit mit der jüdischen Widerstandsbewegung zu mobilisieren vermochten. Nach der Liquidierung des Ghettos arbeiteten sie mit den russischen Partisanen zusammen. Er unterstrich, dass das jüdische Volk den Mut dieser Deutschen zu schätzen wisse, die nicht nur den Juden halfen, wo sie konnten, sondern auch unter permanenter Lebensgefahr mit dem jüdischen Widerstand kooperierten. In Anerkennung all dieser Aktivitäten wurde zwei Deutschen dieser ‚Zelle‘ die Auszeichnung ‚Gerechte unter den Völkern‘ der staatlichen israelischen Gedenkstätte Yad Vashem verliehen. […] Je mehr Heini seine Darlegungen erweiterte, desto stärker öffneten sich die älteren Leute. Langsam begannen einige von ihnen zuzugeben, dass sie in der ‚Hitlerjugend‘ gewesen waren. Die Frauen erzählten, dass sie dem ‚Bund deutscher Mädel‘ angehört hatten. Auf seine Frage, warum sie in diesen Organisationen gewesen seien, antworteten sie, in der Schule seien alle Schüler Mitglieder dieser Organisationen gewesen und eine Mitgliedschaft sei gar nicht infrage gestellt worden. Heinis positive Einleitung des Gesprächs schuf so eine Atmosphäre des Vertrauens, und er konnte ihnen die Frage aller Fragen stellen: ‚Habt ihr damals gewusst, was man den Juden antat?‘ ‚Wir wussten nichts‘, antworteten sie unmittelbar. ‚Habt ihr euren Kindern über die Schoah erzählt?‘ ‚Fast nichts‘, erwiderte das betagte Publikum. ‚Sie haben uns auch ganz wenig 61

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Otto Busse und seine Frau 1961 zu Besuch in Lehavot Habaschan. Er war Deutscher, der im Białystoker Ghetto Aufbauarbeiten durchgeführt und mit der jüdischen Unter­grund­ bewegung zusammengearbeitet hatte.

über dieses Thema gefragt‘, fügten sie hinzu. ‚Wer uns heute Fragen stellt, sind unsere Urenkel, die heute eine andere Erziehung erhalten als in der Kriegszeit.‘ Heini wird den dramatischen Teil dieses Treffens nicht vergessen, der begann, als er die Frauen fragte: ‚Haben eure Männer während des Krieges Militärdienst geleistet?‘ ‚Jawohl, selbstverständlich haben sie im Militär gedient, in der Wehrmacht.‘ ‚Wo?‘ Eine nannte Stalingrad, die andere die Front vor Moskau. ‚Was haben sie euch erzählt nach der Rückkehr von der Front oder aus der Kriegsgefangenschaft? Von den Vernichtungslagern oder den anderen Vernichtungs- und Mordaktionen gegen die Juden?‘ ‚Sie haben nichts gesehen und nichts gehört. Sie waren ja in der Wehrmacht, die mit diesen Aktionen nichts zu tun hatte.‘ Hier unterbrach Heini sie und wies darauf hin, dass doch Forschungsberichte die Teilnahme von Einheiten der Wehrmacht an dem Morden und den Erschießungskommandos bewiesen und manche in von der Wehrmacht eroberten Gebieten sogar die Initiative zur Vernichtung der Juden ergriffen hätten. Ein besonderes Museum in Berlin dokumentiere diese historischen Tatsachen. So wurde Heini bewusst, dass wahre Aufrichtigkeit im Dialog mit Menschen, die den größten Teil des 20. Jahrhunderts in Deutschland gelebt und selbst am Aufkommen des Nationalsozialismus, am Krieg und an der Schoah mitgewirkt 62

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hatten, begrenzt ist. Es scheint, dass man von ihnen nicht erwarten kann, sich zur moralischen Höhe der Erkenntnis ihrer persönlichen Verantwortung zu erheben, und dass sie sich nur in seltenen Fällen verpflichtet fühlen, alles zu tun, damit sich ein solches Kapitel in der deutschen Geschichte nicht wiederholen wird. Dies bleibt die Herausforderung der zweiten und dritten Generation in Deutschland nach dem Krieg.“ Ein besonderes Erlebnis war für mich die Einladung, als Referent an der „Educational Holocaust Week“ teilzunehmen, welche die Jewish Federation of Canada in Toronto organisiert hatte. Während einer Woche fanden jeden Abend in einem anderen Quartier Veranstaltungen über die Schoah statt. So hielt ich jeden Abend einen Vortrag auf Englisch, bei einer Zusammenkunft mit den Veteranen des jüdischen Arbeiterverbandes Poalei Zion auch auf Jiddisch. Am Freitagabend lud man mich in die zentrale Synagoge der Reformgemeinde zur Shabbat Ceremony ein. Diese ist schon an und für sich ein besonders interessantes Erlebnis. Nach dem Sabbatessen hielt ich einen Vortrag. Von Anfang an herrschte eine wunderbare Atmosphäre, und man brachte mir Wohlwollen entgegen. Ich stellte mich als Mitglied der Leitung der Merez-Weltbewegung vor, die mit der Reformbewegung kooperiert. Während meines Vortrages hatte ich ein besonders bewegendes Erlebnis. Ich erzählte unter anderem, dass ich aus der Schweiz Lebensmittelpakete in die Konzentrationslager gesandt hatte, so zum Beispiel nach Bergen-Belsen. Plötzlich näherte sich eine Frau dem Rednerpodium, mit Tränen in den Augen umarmte sie mich und sagte: „Ich bekam ein Paket von dir aus der Schweiz, und es bewahrte mich vor dem Hunger.“ Das zahlreiche Publikum applaudierte begeistert. Ich hatte solche Pakete an die Adressen verschickt, die ich von unseren Kameraden aus den verschiedenen Ländern durch Vermittlung des Roten Kreuzes und durch Firmen erhalten hatte, die aus der Schweiz und Portugal derartige Lieferungen in die besetzten Gebiete vornahmen. Bei diesem Aufenthalt in Kanada kam es auch noch zu einem gemeinsamen Abend der älteren Mitglieder der beiden zionistischen Jugendbünde in Toronto, Habonim und Haschomer Hazair, an dem einige Hundert Mitglieder teilnahmen. In meinem Referat konzentrierte ich mich auf die zentrale Rolle der zionistischen Jugendbewegungen während der Schoah im Kampf gegen die Nazis und während der Nachkriegsjahre beim Wiederaufbau der erzieherischen Tätigkeit. In dieser Zeit hielt ich am 6. Juli 1997 zwei Referate in Paris im Kulturhaus „Zavta“– eines auf Französisch für ein breiteres Publikum und das andere auf Jiddisch für die Veteranen und die Freunde der Mapam. Selbstverständlich trat 63

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ich auch in der Schweiz auf. Außer dem bereits erwähnten Vortrag an der Feier zum 100-jährigen Jubiläum des Ersten Zionistenkongresses sprach ich im großen Saal des jüdischen Gemeindehauses in Zürich vor den „Logenbrüdern“ des Bnei Brith. Dabei ging ich besonders auf Ereignisse ein, die die Schweiz und die dortigen Juden betrafen, und auf die Verhandlungen, die in der Schweiz geführt wurden, um Juden aus Ungarn zu retten. Ich analysierte das Verhalten der Juden und ihrer Führung während der Kriegszeit. Dabei berichtete ich über unsere Beziehungen zu Saly Mayer, der die Verhandlungen mit den Vertretern der SS über den Vorschlag von Rezső (Rudolf ) Kasztner geführt hatte, „Waren gegen Juden“ auszutauschen. Verständlicherweise warfen meine Darlegungen viele Frage auf. Der größte Teil der Zuhörer blieb bis spät in die Nacht, was in der Schweiz nicht üblich ist, stellte Fragen und beteiligte sich an der regen Diskussion über verschiedene Probleme, die mit dem Verhalten der Schweiz und der Schweizer Juden während des Krieges zusammenhängen. Nach dem Erscheinen von Insel Schweiz gab es in der Presse der Schweiz viele Buchbesprechungen. Die jüdischen Zeitungen brachten ausführliche Interviews, besonders die Wochenzeitung Tachles, die im ganzen deutschsprachigen Europa verbreitet ist. Überhaupt zeigte die schweizerische – die jüdische und die nichtjüdische – Öffentlichkeit ein großes Interesse, vernahm sie doch zum ersten Mal eine persönliche, authentische Zeugenaussage über unsere Hilfs- und Rettungsaktionen. Besonders die Kontakte mit der jüdischen Widerstandsbewegung in den von Deutschland besetzten Ländern wurden hervorgehoben. Meine kritische Stellungnahme zur Politik der Schweiz gegenüber den jüdischen Flüchtlingen und zu den internationalen Verhandlungen über die Rettung von Juden erregte in den Medien einiges Aufsehen. Einige Schweizer Korrespondenten kamen für Interviews zu mir in den Kibbuz. Ich referierte in zahlreichen Kibbuzim und vor der Fakultät für Geschichte im regionalen akademischen College Tel Chai. Die Universität Tel Aviv veranstaltete einen Studientag zum Andenken an Jan Karski, dessen Denkmal im Januar 2010 dort eingeweiht wurde. Karski war ein polnischer Diplomat und Offizier, der als ständiger Kurier der Untergrundbewegung zwischen dem besetzten Warschau und der polnischen Exilregierung in London tätig gewesen war.32 An dieser Tagung nahmen auch Historiker aus Polen teil, unter ihnen Prof. Feliks Tych, der damalige Leiter des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Das Thema der Tagung lautete „Comme32 Vgl. Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. Hg. von Céline Gervais-Francelle. München 2011.

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morating Jan Karski – The Transmission of Information on the Holocaust from Poland to the West“, das Eröffnungsreferat hielt Prof. Israel Gutman, der bedeutende israelische, aus Polen gebürtige Historiker. Die Organisatoren wollten das Thema erweiterten, und ich wurde eingeladen, einen Vortrag über „Switzerland – Focus of Information, Liaison and Rescue during the Holocaust“ zu halten. Die meisten der Fakten, über die ich berichtete, waren für die Zuhörer aus Polen neu. Der polnische Gesandte in Israel bat um ein Gespräch mit mir. Er war sehr daran interessiert, mehr über meine Kontakte zu hören, die ich aus der Schweiz mit dem jüdischen Widerstand in Polen und besonders mit dem dortigen Führer des Haschomer Hazair unterhalten hatte. Auch bat er um Informationen über die Hilfs- und Rettungsaktivität der Hechaluz-Zentrale in Genf und die allgemeinen jüdischen Organisationen in der Schweiz. An diesem Gespräch war wiederum Israel Gutmann beteiligt. Die Beschuldigungen gegen Kasztner und die darauf folgenden Prozesse erschütterten zwischen 1952 und 1958 die jüdische Öffentlichkeit in Israel und in der ganzen Welt. Rezső Kasztner, davon bin ich überzeugt, führte die Verhandlungen mit den deutschen SS-Vertretern im Projekt „Waren gegen Juden“ mit aufrichtiger Sorge um das Schicksal der Juden Ungarns. Diese Verhandlungen fanden 1944 in der Schweiz statt. Die jüdische Delegation unter der Führung von Saly Mayer schlug vor, Deutschland Waren oder Geld von den Juden in der Welt zukommen zu lassen und als Gegenleistung die Deportationen der Juden Ungarns sofort abzubrechen. Ich bezog mich dabei auf alle Einzelheiten, so auf die heftige Kontroverse mit den Alliierten, die jede materielle Stärkung Deutschlands strikt ablehnten – es müsse alles unternommen werden, um den Zusammenbruch Deutschlands rasch und entschieden voranzubringen; das werde auch die Juden retten. Die Westmächte wollten nicht anerkennen, dass die Deportationen der Juden sofort abgebrochen werden mussten, wenn noch ein Teil vor der Vernichtung gerettet werden sollte. Aber auch jüdische politische Kreise, vor allem die rechten Gruppierungen im Umkreis von Menachem Begin, verurteilten die Verhandlungen mit der SS. In einem ersten Gerichtsurteil, das das Oberste Gericht später aufhob, wurde Kasztner beschuldigt, er habe „seine Seele dem Teufel verkauft“. Schließlich ermordeten ihn in den Straßen Tel Avivs zwei jüdische Extremisten.33

33 Zum „Kasztner-Transport“ siehe Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezső Kasztner. Bericht eines Überlebenden. Wien usw. 2010.

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Kasztner verhandelte über die Rettung von etwa 250.000 Juden aus Budapest, nachdem die Juden aus der Provinz bereits innerhalb von zwei Monaten in Auschwitz ermordet worden waren. Die Alliierten zeigten keine Bereitschaft, gezielte Aktionen zur Rettung von Juden einzuleiten, und lehnten letztlich auch die Bombardierung von Auschwitz ab. Die Führung der Juden Ungarns hingegen billigte die Verhandlungen Kasztners, und unsere Kameraden in Budapest kooperierten mit ihm. Auch unser Delegierter in Istanbul, Menachem Bader, war eng in die Verhandlungen eingebunden. Er und die ganze überparteiliche Delegation sahen in diesem Vorschlag eine Möglichkeit, Tausende von Juden zu retten. Für meine eigene Haltung in dieser Angelegenheit erhielt ich in vielen Gesprächen mit den zentralen Personen der ungarischen Bewegung Zuspruch, als mit dem „Kasztner-Zug“ Ende 1944 knapp 1700 Juden aus Budapest – sozusagen als Beweis für die Ernsthaftigkeit der Verhandlungen – in die Schweiz kamen. Ich kannte Kasztner persönlich und nahm gemeinsam mit Nathan Schwalb an zwei Sitzungen mit ihm Genf teil. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass jede Anstrengung, Juden zu retten, moralisch und menschlich gerechtfertigt war. Kasztner war fest davon überzeugt, dass seine Verhandlungen mit den Nazis die reelle Chance boten, die Deportationen der Juden aus Budapest zu verhindern. Nach meiner Alija traf ich in Israel zwei Führer der jüdischen Widerstandsbewegung in Ungarn, Rafi Ben Schalom und Mosche Pil, die an der Spitze vieler Rettungsaktionen gestanden hatten. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass diese komplizierten Verhandlungen mit den Nazis in der Endphase des Krieges vielleicht das Ende des brutalen Massenmords hätten anbahnen können. Leider gibt es bisher keine ernsthafte Studie über die Aktivitäten der Weltzentrale des Hechaluz in Genf und die Persönlichkeit und Tätigkeit von Nathan Schwalb. Nur Schabtai Tevet hat in einer Artikelserie in der Zeitung Haaretz Schwalbs Bemühungen und seine Verbindungen mit der jüdischen Führung in der Slowakei und in Ungarn im Rahmen der Kasztner-Affäre analysiert. Die Beziehungen zwischen mir und Schwalb waren nicht einfach. Ich kritisierte seine Benachteiligung der Mitglieder des Haschomer Hazair bei allen Hilfsaktionen des Hechaluz, die mich dazu bewegte, selbstständige Hilfs- und Rettungsaktionen für unsere Bundeskameraden in den besetzten Ländern zu organisieren. Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten bedaure ich, dass die Leistung von Nathan Schwalb in der historischen Erinnerung nahezu in Vergessenheit

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geraten ist.34 Die Vertreter der jüdischen Organisationen in Genf distanzierten sich von ihm und sahen in meinen Aktivitäten eine gewisse Alternative zu Schwalb. Hier kamen politische Gesichtspunkte zum Ausdruck: Die führende politische Partei Mapai besetzte alle zentralen Positionen der Juden in Palästina und der zionistischen Bewegung. Dies beeinflusste sogar in der Kriegszeit die Organisation des Widerstandes und der Hilfsaktionen – selbst die Tätigkeit der „überparteilichen“ Delegation in Istanbul. Diese Delegation kam erst Anfang Januar 1943 nach Istanbul, als der größte Teil der Juden Polens und auch anderer Länder Osteuropas bereits ermordet war. Die Delegation konzentrierte sich daher vor allem auf die Verbindungen mit den Balkanländern und die Möglichkeiten zur Rettung von Juden aus Zentraleuropa. Über ihre Aktivität in Istanbul wurden viele Bücher veröffentlicht. Das wichtigste ist das Werk Zomet Kuschta von Prof. Zeev Hadari, der sich damals Venia Pomerantz (auch: Wenja Pomeranz) nannte. Venia war der Vertreter der Mehrheitskibbuzbewegung Kibbuz Hameuchad, die großen Einfluss auf die zionistische Arbeiterbewegung hatte.35 Da sie in Genf keinen Repräsentanten hatte – auch unter den Flüchtlingen, die in die Schweiz kamen, war kein führendes Mitglied –, vertrat ich die Interessen des Kibbuz Hameuchad und stand in regem Kontakt mit Pomerantz. Wer aber war ich zu diesem Zeitpunkt? Ein junger „Kamerad“, knapp 20 Jahre alt, den offiziellen jüdischen Vertretern in Genf unbekannt. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und des jüdischen Establishments in der Schweiz kannte man mich immerhin als Vorsteher der jüdischen Jugendbewegung Haschomer Hazair. Ich unterhielt zudem Kontakte mit nicht-jüdischen politischen Persönlichkeiten und Organisationen. Auch im Schweizerischen Zionistenverband und im SIG war ich aktiv und bekannt. Alle diese Kontakte bewährten sich während der Kriegszeit und waren sehr wichtig. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges schufen wir in der Bundesleitung des Haschomer Hazair eine „Abteilung für die Weltbewegung“. Ausgangspunkt war für uns, alles zu tun, um unseren Chaverim, den Bundeskameraden in der Bewegung, in den benachbarten Ländern behilflich zu sein.

34 Zur Bedeutung Schwalbs für die Rettungstätigkeit ab 1940 vgl. Mächler: Hilfe und Ohnmacht, S. 274–275 (sowie an vielen weiteren Stellen, siehe Register). 35 Diese Bewegung stand der Mapam nahe, während sich davon die Bewegung Ichud abspaltete, die sich an der Mapai orientierte.

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Wenn ich heute, 70 Jahre später, diese Periode in meinem Leben beschreibe, frage ich mich nach den Gründen meiner damaligen Bereitschaft und meines Mutes, diese Mission als persönliche Verpflichtung auf mich zu nehmen. Ich handelte nahezu allein, musste mich auf mein eigenes Urteil verlassen. Erst allmählich wurde mir bewusst, dass ich eine große Verantwortung übernommen hatte, galt ich doch nun in vielen Fällen als „Sprecher der Bewegung“. Jeder Beschluss, jeder Brief, den ich schrieb, jede Besprechung forderte von mir eine gründliche Überlegung. Von meinem 19. bis zum 27. Lebensjahr musste ich komplizierte Aufgaben erfüllen und schwierige Verbindungen eingehen. Was mir das moralische Recht und auch die praktische Autorität dazu verlieh, war die Gewissheit, dass die Kameraden in Europa meine Funktion als Kontaktstelle mit der Außenwelt sowie meine Hilfs- und Rettungsinitiativen schätzten. So wurde ich zum Ansprechpartner vor allem für die Mitglieder der zionistischen Jugendbünde im besetzten Europa, aber auch für Führungspersonen der jüdischen Institutionen in der Schweiz. Die leitenden Kameraden in den besetzten Ländern glaubten anfangs, ich sei ein Gesandter aus Palästina, und respektierten meine Autorität. Tatsächlich bestanden viele prinzipielle Meinungsverschiedenheiten, die ich entscheiden musste. Dies dauerte bis zum Januar 1943. Dann stieß Menachem Bader aus Palästina als Delegierter des Haschomer Hazair zu dem in Istanbul etablierten überparteilichen „Rettungskomitee“, an dem nicht nur die zionistische Jewish Agency, sondern alle in Palästina politisch vertretenen jüdischen Organisationen beteiligt waren. Es entwickelte sich eine enge und intensive Zusammenarbeit. Der erste Brief, den ich von Bader erhielt, war ganz im Stil eines Familienbriefs, von Hand geschrieben und mit allen in der Bewegung bekannten Codewörtern verfasst. Ich war nun nicht mehr allein und bekam von Bader weitgehende Vollmachten und Unterstützung. Er schickte mir Geld, sowohl um unsere eigenen Kosten zu decken als auch zur Überweisung in die verschiedenen Länder. Dabei stand uns nicht immer ausreichend Zeit für Beratungen zur Verfügung. Wir sprachen oft am Telefon miteinander – die Telefonverbindung zwischen den beiden „neutralen“ Ländern funktionierte während der ganzen Kriegszeit – und nutzten auch telegrafische und Postverbindungen.36 Die Verbindungsleute in der Untergrundbewegung bezogen sich auf meine Briefe – auf die Wege und Mittel, Kontakt mit den besetzten Gebieten aufzunehmen und zu halten, werde 36 Die Türkei war während des Zweiten Weltkrieges neutral. Im Februar 1945 erklärte sie Deutschland und Japan den Krieg, griff aber nicht mehr mit eigenen Truppen ein.

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ich noch zurückkommen – und auf meine Stellungnahmen, als wären es offizielle Weisungen der Bewegung. Auf diesem Weg nahm ich unter schwierigen und wechselhaften Bedingungen an den Beratungen der Anführer des Kampfes gegen die Deutschen teil. Was waren die Quellen meiner Informationen? Wie erwähnt, konnte die Postverbindung zwischen Palästina – bis 1948 unter britischer Mandatsverwaltung – und der neutralen Schweiz mehr oder weniger aufrechterhalten werden. Die Post unterlag der Zensur in London und kam deshalb erst nach längerer Zeit in gesammelten Paketen über England in die Schweiz. Ihr Inhalt war meistens nicht mehr aktuell. Ich erhielt die Tageszeitung Davar und das wöchentliche Wochenbulletin des Haschomer Hazair. Wichtig waren ferner die Protokolle von den Tagungen der Exekutive und der monatlichen Delegiertenversammlung sowie anderer Institutionen der Kibbuzbewegung. Ab Januar 1943, als Menachem Bader seine Tätigkeit in Istanbul begann, bekam ich auch von ihm Informationen. Diese war wertvoll, denn er reiste alle paar Monate von Istanbul nach Palästina. Menachem war der Verbindungsmann zwischen der Delegation in Istanbul und den Exekutivorganen der jüdischen Gemeinschaft in Palästina – man nannte sie die „jüdische Regierung“. Ich fotografierte das Material und Auszüge aus der Presse und sandte sie auf verschiedenen Wegen, meistens durch Kuriere, bis diese nicht mehr bereit waren, auf Hebräisch verfasstes Material mitzunehmen. Von da an übersetzte ich die Texte ins Deutsche und redigierte einen Rundbrief, den ich an all meine Kontaktadressen schickte. Diese Informationen versuchten nicht nur, die Verhältnisse in Palästina darzustellen, sondern auch meiner persönlichen Meinung zu den Problemen Ausdruck zu geben, die in den Debatten der Führung der Bewegung und in den Zentralen der Widerstandsorganisation diskutiert wurden. Natürlich wurden die Beschlüsse an Ort und Stelle gefasst, doch die Nachrichten aus der „freien Welt“ sowie die Berichte aus Palästina und von den Delegierten in Amerika und England wurden sehr geschätzt. Wenn ich heute die Briefe an die Kameraden in den besetzten Ländern aus den Jahren von 1942 bis 1946 im Rückblick betrachte, wundere ich mich, woher ich den Mut nahm und die Verantwortungsbereitschaft zeigte, mich zu ihren schicksalsschweren Entscheidungen zu äußern. Später, als ich Kameraden traf, die die Schoah überlebt hatten, konnte ich mich davon überzeugen, dass meinen Briefen eine gewisse Relevanz zugesprochen wurde. In Istanbul saßen zwar Delegierte aus Palästina; sie stammten aus allen politischen Parteien, von den Revisionisten bis zum Haschomer Hazair, und hielten Kontakt mit verschiedenen Ländern. Doch sie kamen erst Ende des 69

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Jahres 1942 nach Istanbul, als die Vernichtung der Juden in Osteuropa bereits weit fortgeschritten war. Dagegen hatten wir mit unseren Aktivitäten unmittelbar nach Ausbruch des Krieges begonnen, ich persönlich im Jahre 1940. Die Verbindung mit Polen wurde hergestellt, noch bevor die großen Deportationen und Massenmorde begannen, vor dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und dem organisierten Widerstand in Białystok und anderen Städten. Ich war damals für die Kameraden des Haschomer Hazair in Polen das einzige Verbindungsglied mit der Außenwelt. Auch mit Blick auf andere Länder in Ost- und Mitteleuropa versuchten wir, Möglichkeiten legaler wie illegaler Hilfe zu finden, wobei die Kooperation mit dem Roten Kreuz von großem Wert war. Als sich herausstellte, dass die Hechaluz-Zentrale, also Nathan Schwalb, bei der Verwendung der Hilfsmittel die Leute seiner Bewegung Gordonia bevorzugte, ermöglichte es mir meine Anwesenheit in Genf, sicherzustellen, dass der Haschomer Hazair den ihm gebührenden Teil der Subventionen des Gewerkschaftsbundes Histadrut aus Palästina erhielt. Ich wusste, dass die „Mutterbewegungen“ in Palästina den ihnen zugehörigen Bewegungen in den verschiedenen Ländern finanzielle Mittel zukommen ließen. Erst als Bader mir Geld aus Istanbul überwies, konnte ich dies im Namen von Meir Yaari, dem Führer des Haschomer Hazair, auf verschiedenen Wegen an unsere Bundeskameraden in den besetzten Ländern weiterleiten. Ich wartete aber nicht bis zu diesem Augenblick, sondern begann, aus eigener Initiative Geld in der Schweiz zu mobilisieren, um Mittel an die Haschomer Hazair zu senden. Ich wandte mich besonders an Flüchtlinge, die sich in die Schweiz gerettet und ihr Vermögen, ob nun gering oder von größerem Umfang, noch vor dem Krieg bei Schweizer Banken angelegt hatten. Sie alle warteten auf ihre Weiterreise nach Palästina. Ich bat sie, mir das Geld anzuvertrauen, und versicherte ihnen, dass ihnen nach ihrer Ankunft in Palästina die entsprechenden Summen vergütet würden. Wiederum wundere ich mich, wenn ich mir diese Transaktionen in Erinnerung rufe, wie ich es verantworten konnte, ihnen zu garantieren, dass das Geld tatsächlich zurückbezahlt werde – ich hatte ja keine Zusicherung und keine Vollmacht, eine solche Verpflichtung im Namen der Bewegung in Palästina einzugehen. Um das Bild vollständig zu machen, möchte ich zwei Ereignisse erwähnen. Ich bekam damals eine Rüge von Meir Yaari. Er schrieb mir persönlich: „Wir sind nicht der ‚Joint‘“ – er meinte die amerikanische jüdische Hilfsorganisation. Auch Abraham Lipsker, der damalige Vorsitzende der Weltbewegung des Haschomer Hazair, beklagte sich in einem Brief an Mosche Furmanski, damals Vertre-

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ter der Bewegung in den USA: „Heini gibt Geld aus ohne Deckung.“37 All dies änderte sich, als Menachem Bader alle meine Verpflichtungen in der Schweiz übernahm und garantierte, dass „sie bis auf den letzten Rappen“ gewährleistet seien. Mehr noch: Er ermunterte mich, keine Gelegenheit zu verpassen, Geld in die besetzten Gebiete in Europa zu senden. Als ich mich mit den überlebenden Kameraden nach dem Krieg bei den Konferenzen in Fontainebleau und Bratislava traf, bekam ich ein sehr positives Feedback. Sie unterstrichen die Wichtigkeit der Gelder, die wir ihnen aus der Schweiz gesandt und die meistens dem Erwerb von Waffen gedient hatten. Sie erzählten, dass sie selbst Lebensmittelpakete aus der Schweiz und Portugal auf dem Schwarzmarkt verkauft hatten, um Waffen zu erwerben. Ich wandte mich an jüdische und nicht-jüdische Organisationen, um Unterstützung zu erhalten. In den USA gelang es unserem Delegierten Mosche Furmanski, von verschiedenen Fonds und Organisationen, wie zum Beispiel dem Jewish Labour Committee, monatliche Beiträge zugesichert zu bekommen, die er mir „ganz offiziell“ durch die Bank zukommen ließ. Dagegen erklärte mir Meir Yaari nach dem Krieg beim Treffen in Bratislava die schwierige ökonomische Lage der Kibbuzim in diesen Jahren. Dies sei der Grund gewesen, sagte er, warum er mir den ablehnenden Brief geschrieben habe. Nachträglich aber hieß er meine Handlungen rundweg gut. Ich war tief davon überzeugt, dass alles, was ich tat, letztlich in keinem Verhältnis zu der unglaublichen Katastrophe des Judenmords stand. Viele meiner Kameraden, die an der Front den Kampf gegen die Mordmaschine der Nazis auf sich nahmen, waren nicht älter als ich. Sie riskierten ihr Leben, sahen sich einem nahezu sicheren Tod gegenüber. Mir dagegen drohte keine Gefahr: Wie alle Einwohner der Schweiz konnte ich, abgesehen von einigen Beschränkungen wie der wöchentlichen Rationierung von Fleisch und anderen Lebensmitteln, mein normales Alltagsleben unbehelligt fortsetzen. Am illegalen Grenzübertritt der Flüchtlinge, besonders von Kindern und Jugendlichen, waren auch nicht-jüdische Schweizer Bürger und Organisationen beteiligt. Der öffentliche Kampf gegen die antisemitische Politik der Schweizer Regierung gegenüber jüdischen Flüchtlingen wurde auf dem politischen Feld geführt. Dass ich mich intensiv an diesen Maßnahmen beteiligte, ergab sich aus meiner Erziehung in der Bewegung. Ich war ein Glied in der Kette der jüdischen Organisationen. Der Umfang und die Intensität meiner Tätigkeit zwischen 1939 und 1946 wuchsen mit den 37 Abraham Lipsker lebte im Kibbuz Merchavia, Mosche Furmanski (geb. 1906 in Warschau) im Kibbuz Mischmar Haemek.

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Herausforderungen, die sich in der Schweiz ergaben. Die Verbindungen mit den Kameraden in Mittel- und Osteuropa, die Hilfs- und Rettungsaktionen und besonders die Vertretung der Interessen des Haschomer Hazair in der Weltzentrale des Hechaluz und in allen anderen jüdischen und zionistischen Instanzen entsprangen meiner umfassenden Identifikation mit der Bewegung. Mir wurde zunehmend klar, dass sich in der Schweiz viele wichtige Kanäle eröffneten, die es erlaubten, den Kameraden in ihrem Kampf um das Leben der jüdischen Gemeinden und im Widerstand gegen die Nazis Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Indem meine Adresse in Basel mehr und mehr Leuten in den abgeriegelten besetzten Gebieten in Europa bekannt wurde, ermöglichte es dieser Kontakt, wichtige Hilfsmaßnahmen anzukurbeln: die Beschaffung von falschen Pässen, die Koordinierung von „Rettungsausflügen“ von Polen nach Ungarn und von dort über Rumänien bis zur illegalen Einschiffung nach Palästina oder die Ausstellung von Einreisezertifikaten nach Palästina. Die Neutralität der Schweiz erlaubte solche weitreichenden Rettungsaktionen. In Ungarn konnten schweizerische Identitätspapiere Tausende von Juden, darunter viele unserer Bundeskameraden, retten. Ich war von 1940 bis 1946 völlig von diesen Aufgaben eingenommen. Die Sorge um die Flüchtlinge in der Schweiz überließ ich zumeist anderen Kameraden der Schweizer Bundesleitung, vor allem meinem Freund Bruno Lewin. Selbstverständlich war ich weiterhin an allen Aktivitäten der Hechaluz-Zentrale beteiligt, Tag und Nacht war ich damit beschäftigt. Dies erforderte ein hohes Maß an Flexibilität und die Bereitschaft, zu jeder Zeit, zu jeder Stunde einmal gefasste Pläne zu ändern. Des Öfteren musste ich einen Nachtzug nehmen, um früh am Morgen irgendwo bestimmte Menschen zu treffen. Solange ich bei meinen Eltern in Basel wohnte, waren sie immer wieder überrascht, mich nicht in meinem Bett zu finden, ebenso, wenn ich zu später Nachtstunde von einer Reise zurückkehrte und sie dabei aufweckte. Erst ab 1943, als ich nach Genf übersiedelte und dort ein ordentliches Büro einrichtete, stand ich nicht mehr unter der „Obhut“ und Sorge der Eltern. So oder so hatten sie kein leichtes Leben mit mir. Das Telefon in der Wohnung läutete oft zu für den penibel geordneten Lebensrhythmus der Schweiz ungewöhnlichen Stunden. Viele in Europa kannten nur diese Nummer, um sich mit mir in Verbindung zu setzen. Besonders kompliziert waren die Kontakte mit den Kurieren, die von der Schweiz nach Polen, in die Slowakei, nach Ungarn, Rumänien und in andere Länder fuhren. Häufig waren dies Geschäftsleute, denn auch in Kriegszeiten – oder gerade dann – entwickelten sich intensive 72

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wirtschaftliche und Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und den europäischen Ländern ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Systeme. Es gab Menschen, die sich mit Schmuggel beschäftigten, und „professionelle“ Kuriere. Immer wieder überraschten sie uns mit kurzfristigen Terminen und gaben uns nur wenige Stunden oder eine Nacht Zeit, das entsprechende Material oder die vorgesehene Summe Geld bereitzustellen. Die meisten Kuriere arbeiteten für alle Bewegungen im Rahmen der Hechaluz-Zentrale in Genf. Der oft spontane Kontakt mit ihnen war einer der Gründe, nach Genf zu ziehen. So konnte ich besser in der jeweils zur Verfügung stehenden Zeit die Sendungen von Material und Geld für die Kameraden des Haschomer Hazair mit Nathan Schwalb koordinieren. Nicht weniger wichtig war es, einen unmittelbaren Überblick über alle Budgets zu behalten, die vom Gewerkschaftsbund in Palästina, dem Histadrut, für die Bewegungen des Hechaluz-Dachverbands in die Schweiz gesandt wurden, um sie „auf allen Wegen“ in die besetzten Länder zu überweisen. Durch meine tägliche und auch nächtliche Anwesenheit konnte ich eine gerechte Verteilung der Unterstützungsleistungen sicherstellen und darauf achten, dass der Haschomer Hazair nicht benachteiligt wurde. Eine wichtige Verbindung bestand zu einem polnischen „Emigranten“ namens Schwarzbaum. Er wohnte in Lausanne, unterhielt Geschäfte mit Polen und verfügte über vertrauensvolle Kuriere nach und von Polen. Seine Dienste waren für uns unersetzlich. Unsere Verbindungsleute in den verschiedenen Ländern „entdeckten“ dank der zentralen Positionen der Kameraden des Haschomer Hazair in der Widerstandsbewegung ihrerseits Kuriere, besonders in Ungarn, der Slowakei und Rumänien. Diese Kuriere erhielten meine Adresse, manchmal nur meine Telefonnummer. Hin und wieder wurde der Kontakt mit Polen von dritter Seite hergestellt, da zwischen den besetzten Ländern ein ständiger Kontakt bestand. Abgesehen von einem Fall hatten wir keine Probleme mit den Kurieren, und es kam zu keinen Unglücksfällen. Außergewöhnliche Umstände erforderten besondere Anstrengungen, als es galt, einen Schweizer Pass für Tosia Altman, eine Führerin des Warschauer Ghettoaufstandes, zu besorgen. Sie hatte sich nach dessen Ende im Mai 1943 auf der „arischen“ Seite versteckt. Schon im März 1943 hatte sich Bader aus Istanbul mit der Bitte an mich gewandt, die bestehenden Möglichkeiten zu prüfen. Ich beschloss, Heinrich Rothmund, den Chef der Fremdenpolizei, zu kontaktieren, und berichtete ihm in aller Offenheit von dem Fall. Er war einverstanden, und so wurde ein Pass auf ihren Namen, gültig für einen Monat,

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ausgestellt.38 Ich sandte ihn mit einem besonderen Kurier an unsere Warschauer Deckadresse. Er erreichte Warschau zwischen dem 26. und 27. Mai, doch die Empfängerin war dort nicht zu finden. Tosia war bereits nicht mehr am Leben – kurz bevor der Kurier ankam, war sie gestorben, nachdem in ihrem Versteck ein Feuer ausgebrochen war. Hier kam die Rettung zu spät. Dies lag auch an äußerst unglücklichen Umständen: Wir hatten aus Palästina ein Passfoto und alle genauen Personalien erhalten sollen, doch diese erreichten uns nur mit großer Verzögerung. Menachem Bader hatte noch am 17. April 1943 an Abraham Lipsker geschrieben, der dafür verantwortlich war: „Ich bedaure, dass ich bis heute keine Antwort […] mit dem Geburtsdatum von Tosia und den Personalien ihrer Eltern erhielt. Du musst verstehen, wie dringend diese Angelegenheit ist. Es ist unvorstellbar, dass man dies in den Kibbuzim nicht abklären kann.“ Eines der schwierigsten Probleme war die kurzfristige Mobilisierung finanzieller Mittel. Ich war zwar immer besorgt, eine gewisse Reserve auf meinem Bankkonto bereitzuhaben. Als Bader nach Istanbul kam, verbesserte sich die Lage deutlich, denn er überwies mir regelmäßig Beträge. Wichtig war auch, dass er mich stets informierte, wenn Subventionen aus verschiedenen Quellen in Palästina, insbesondere von den Gewerkschaften, an die Hechaluz-Zentrale in Genf gesandt wurden. Nathan Schwalb wusste dies. Von da an pflegte er mit mir eine enge Zusammenarbeit im Hinblick auf alle finanziellen Transaktionen und Informationen über die Kuriere. So konnte ich unsere Verbindungsleute in den Ländern rechtzeitig benachrichtigen. Wir hatten nun „hier wie dort“ eine Kontrolle über die Verteilung der Unterstützungsleistungen gemäß dem Schlüssel, der in jedem Land zwischen den Bewegungen festgelegt wurde, denn auch während des Krieges und der engen Zusammenarbeit im Widerstand bewahrten die einzelnen Gruppierungen ihre organisatorische und ideologische Selbstständigkeit. Im Ghetto wurden zwar Koordinationskomitees und gemeinsame Kommandos gebildet, doch auch dabei orientierte man sich an den politischen Richtungen. Dies kam sogar während des Ghettoaufstandes in Warschau zum Ausdruck: Neben den Kampfeinheiten der zionistisch-sozialistischen Jugendbünde unter dem Kommando von Mordechai Anielewicz waren auch einzelne Einheiten der rechten Betar-Bewe38 Zur umstrittenen Persönlichkeit des damaligen Leiters der Eidgenössischen Fremdenpolizei und zu seiner Politik vgl. Heinz Roschewski: Rothmund und die Juden. Eine historische Fallstudie des Antisemitismus in der schweizerischen Flüchtlingspolitik 1933–1957. Basel, Frankfurt a. M. 1997.

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Die Rettungs- und Hilfskommission des Weltverbandes Hechaluz in Genf 1940 (von links nach rechts): Heini Bornstein (Haschomer Hazair), Nathan Schwalb (Gordonia), Akiba Lewinsky (Habonim).

gung aktiv.39 Diese organisatorische Fragmentierung hing mit der ideologischen und politischen Differenzierung in Palästina zusammen: Die Bewegungen in der ganzen jüdischen Welt waren ideologisch und erzieherisch auf ihre „Mutterbewegungen“ in Palästina hin orientiert. Diese sahen ihrerseits in ihnen das menschliche Reservoir für die Zukunft des zionistischen Aufbauwerks. Im Zuge meiner Arbeit musste ich mich mit vielen Zweifeln und staunenswerten Dingen auseinandersetzten. Mein Vertrauen in die Bewegung hingegen war unerschütterlich und bedingungslos. Ich war überzeugt, die Führung der Bewegung in Palästina werde alles tun, um den Kameraden, die in der Diaspora um ihr Leben kämpften, Hilfe und Unterstützung zu leisten. Ich glaubte, dass für sie diese Herausforderung oberste Priorität einnehmen werde. Hier ging es 39 Mit weiterer Literatur: Israel Gutman: The Jews of Warsaw 1939–1943. Ghetto, Underground, Revolt. Bloomington 1982; Markus Roth, Andrea Löw: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013.

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um Leben und Tod! Ich persönlich war ganz in meine Anstrengungen vertieft, alles zu tun, um zu retten und zu helfen. Manchmal hatte ich jedoch das Gefühl, dass ich und die Kameraden in Palästina nicht die gleiche Sicht auf die Situation teilten. Ich war noch nicht in Palästina gewesen, ich kannte die Lage nur aus persönlichen Gesprächen mit Abgeordneten auf Kongressen und aus der Lektüre von Publikationen und Zeitungen, die mir aus Palästina zugesandt wurden. Ich hatte keine Erklärung für mein Gefühl, dass bei der Führung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina eine gewisse Apathie herrschte, obwohl es „nur“ um Hilfs- und Rettungsaktionen ging, die wir in Genf und auch in Istanbul allenfalls als einen Tropfen auf den heißen Stein betrachteten. Wir waren ja Zeitzeugen der tödlichen Situation, in der sich die jüdischen Gemeinden in Europa befanden – dies zu übersehen, war unmöglich, auch wenn unsere besondere Aufmerksamkeit vor allem den zionistischen Jugendorganisationen in deren Kampf galt.40

Zionismus nach dem Krieg Die jüdische Führung in den Vereinigten Staaten wusste als Erste die Wahrheit über die Schoah in Europa. Das Problem, wie sie darauf reagierte, beschäftigt Historiker und Publizisten seit Ende des Krieges bis zum heutigen Tag. Das Dilemma und die Frustration verstärkten sich, als jüdische Soldaten und Militärrabbiner, die zu den Befreiern von Konzentrations- und Todeslagern gehörten, erschütternde Berichte und Zeugenaussagen übermittelten. Was sie gesehen hatten, wurde auch in ihren Gemeinden in den Vereinigten Staaten bekannt, da sich das gesellschaftliche Leben der Juden meistens in den Synagogen – den in Amerika sogenannten Congregations – abspielt. Die Berichte der Rabbiner hinterließen einen spürbaren Eindruck.

40 Neben bereits genannten Arbeiten und Heini Bornsteins eigenen Erinnerungen (vgl. sein Buch Insel Schweiz) informieren über seine damalige Tätigkeit: Orte der Erinnerung. Menschen und Schauplätze in der Grenzregion Basel 1933–1945. Hg. von Heiko Haumann, Erik Petry und Julia Richers. 2. Aufl. Basel 2008 (bes. S. 99–102); Noëmi Sibold: Bewegte Zeiten. Zur Geschichte der Juden in Basel von den 1930er Jahren bis in die 1950er Jahre. Zürich 2010.

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um Leben und Tod! Ich persönlich war ganz in meine Anstrengungen vertieft, alles zu tun, um zu retten und zu helfen. Manchmal hatte ich jedoch das Gefühl, dass ich und die Kameraden in Palästina nicht die gleiche Sicht auf die Situation teilten. Ich war noch nicht in Palästina gewesen, ich kannte die Lage nur aus persönlichen Gesprächen mit Abgeordneten auf Kongressen und aus der Lektüre von Publikationen und Zeitungen, die mir aus Palästina zugesandt wurden. Ich hatte keine Erklärung für mein Gefühl, dass bei der Führung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina eine gewisse Apathie herrschte, obwohl es „nur“ um Hilfs- und Rettungsaktionen ging, die wir in Genf und auch in Istanbul allenfalls als einen Tropfen auf den heißen Stein betrachteten. Wir waren ja Zeitzeugen der tödlichen Situation, in der sich die jüdischen Gemeinden in Europa befanden – dies zu übersehen, war unmöglich, auch wenn unsere besondere Aufmerksamkeit vor allem den zionistischen Jugendorganisationen in deren Kampf galt.40

Zionismus nach dem Krieg Die jüdische Führung in den Vereinigten Staaten wusste als Erste die Wahrheit über die Schoah in Europa. Das Problem, wie sie darauf reagierte, beschäftigt Historiker und Publizisten seit Ende des Krieges bis zum heutigen Tag. Das Dilemma und die Frustration verstärkten sich, als jüdische Soldaten und Militärrabbiner, die zu den Befreiern von Konzentrations- und Todeslagern gehörten, erschütternde Berichte und Zeugenaussagen übermittelten. Was sie gesehen hatten, wurde auch in ihren Gemeinden in den Vereinigten Staaten bekannt, da sich das gesellschaftliche Leben der Juden meistens in den Synagogen – den in Amerika sogenannten Congregations – abspielt. Die Berichte der Rabbiner hinterließen einen spürbaren Eindruck.

40 Neben bereits genannten Arbeiten und Heini Bornsteins eigenen Erinnerungen (vgl. sein Buch Insel Schweiz) informieren über seine damalige Tätigkeit: Orte der Erinnerung. Menschen und Schauplätze in der Grenzregion Basel 1933–1945. Hg. von Heiko Haumann, Erik Petry und Julia Richers. 2. Aufl. Basel 2008 (bes. S. 99–102); Noëmi Sibold: Bewegte Zeiten. Zur Geschichte der Juden in Basel von den 1930er Jahren bis in die 1950er Jahre. Zürich 2010.

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Diese Problematik interessierte mich nach dem Krieg sehr, und ich las zahlreiche Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Auch heute noch lese und lerne ich viel über die Stellungnahme der Juden in Amerika während des Krieges. Im April 2007 schrieb ich in der historischen Zeitschrift Yalkut Moreschet eine Rezension über das Buch Amerika, die Juden und der Aufstieg der Nazis mit dem Titel „Das Goldene Land“ (jiddisch: „A goldene Medine“; Emigranten aus Polen in den USA schrieben an ihre Bekannten zurück: „Wir sind in einem goldenen Staat“). Die zionistische Weltanschauung, die damals in Palästina und auch unter den Zionisten in Amerika dominierte, bestand in der Überzeugung, vor allem den weiteren Aufbau des jüdischen Staats garantieren zu müssen. Erst nach dem Krieg verstand ich die grundlegende Problematik, der sich die Führung der jüdischen Gemeinschaft gegenübersah. Ohne die Stärkung des zionistischen Aufbauwerks hatte das jüdische Volk keine Zukunft. Nach meiner Alija und der Verwurzelung im Kibbuz und in Palästina führten meine Erfahrungen in der Kriegszeit dazu, dass ich meinen weiteren beruflichen Werdegang der zionistischen Aktivität widmete. Das verpflichtete mich dazu, engen Kontakt mit vielen jüdischen Gemeinden in der Diaspora zu halten. Zudem widmete ich mich der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Palästina während der Kriegszeit. Ich nahm an vielen wissenschaftlichen Tagungen teil und unterhielt mich mit zahlreichen führenden Persönlichkeiten der damaligen Zeit. Auch als ich viele Jahre später mein Buch Insel Schweiz schrieb, studierte ich zahlreiche Dokumente und traf mich mit Holocaust-Forschern, besonders mit den Professoren Yehuda Bauer, Israel Gutmann und Dina Porat. Trotz dieser Bemühungen kann ich mich bis zum heutigen Tage nicht des Eindrucks erwehren, dass während der ersten Kriegsjahre nicht rechtzeitig alles Notwendige und noch Mögliche getan wurde, um den Juden in Europa zu helfen und sie zu retten. Bis heute habe ich in dieser Hinsicht eine Rechnung mit meiner Bewegung offen. Das ungute Gefühl verstärkte sich schon früh, nachdem ich die Briefe gelesen hatte, die Menachem Bader von Istanbul aus an die Führung in Palästina geschrieben hatte, und nach meiner ersten Begegnung mit Chaika Grossman im September 1945 in Brüssel. Chaika war auf dem Rückweg von einer zionistischen Konferenz in London, auf die ich noch eingehen werde. Dort hatte sie die beiden Führer der Bewegung, Meir Yaari und Yaakov Chasan, getroffen und dabei ebenfalls den Eindruck gewonnen, dass der Führung die Katastrophe des Judentums in Europa nicht in ihrem ganzen Ausmaß bewusst geworden war.

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Hier macht es Sinn, einen genaueren Blick auf die Bewegung, der ich angehörte, zu werfen. Der Haschomer Hazair war zunächst nur als anerkannte „Pionier-Jugendbewegung“ im Rahmen des Hechaluz auf den Zionistenkongressen vertreten. Erst 1925, auf dem 14. Kongress, wurde ihm der Status einer politischen Fraktion mit eigenem Programm und einer proportionalen Repräsentation in der Exekutive und den Kommissionen gewährt. Die Weltanschauung des Haschomer Hazair umfasste vier Komponenten: 1. Der zionistische Aspekt machte den Aufbau des Landes Palästina – Erez Israel – zur persönlichen Verpflichtung. 2. Der binationale Charakter des Staates galt als Grundlage der Beziehungen zwischen Juden und Arabern in dem von imperialistischer Herrschaft befreiten Palästina und bei der Verwirklichung der nationalen Bestrebungen beider Völker. 3. Der Klassenkampf zur Verwirklichung des Zionismus auf einer sozialistischen gesellschaftlichen Grundlage sollte in Stadt und Dorf geführt werden. 4. Es galt, Solidarität mit dem Judentum in der Diaspora zu zeigen, da dieses die Verwirklichung des Zionismus durch einen ständigen Bevölkerungsund Kapitalzuwachs ermöglichte; dabei lag der Schwerpunkt beim jüdischen Aufbauwerk in Palästina. Während all der Jahre, als die Zionistische Weltorganisation der Schauplatz der politischen Auseinandersetzungen und das Instrument der Verwirklichung des Zionismus war, gaben die Kongresse der Demokratie des „Staates unterwegs“ Ausdruck. Auch der Haschomer Hazair betrachtete dieses Forum seit 1925 als zentrale Bühne des politischen Kampfes. Die Grundsätze des Kibbuz-ArziLandesverbands wurden auf dessen Gründungskonferenz 1927 formuliert: „Die WZO vereinigt alle Kräfte im jüdischen Volk, die für den Aufbau des Landes und die nationale Renaissance wirken. Dies ist der Grund unserer Zugehörigkeit zur Zionistischen Organisation und unserer Teilnahme an deren Kongressen. Die Zionistische Organisation wird ihre Mission beenden, sobald in Erez Israel die wirtschaftliche, kulturelle und politische Selbstständigkeit geschaffen ist und es nicht mehr von den freiwilligen nationalen Fonds abhängt. Die jeweilige zionistische Politik hängt von den Zeitumständen ab.“ Später zeigte sich, dass die Erwartung eines Endes der „freiwilligen“ zionistischen Unterstützungsleistungen und Fonds unrealistisch war: Diese Solidarität ist bis heute unentbehrlich. Als Ben-Gurion im Jahre 1948 nach der Gründung des Staates Israel erklärte: „Man muss das Gerüst abbrechen“, meinte er die Zionistische Weltorganisation. Auf dem 23. Kongress im Jahre 1951, dem ersten nach der Gründung von Israel in Jerusalem, an dem auch ich teilnahm, fand sich die Fraktion des Haschomer Hazair unter den Gegnern dieser Erklärung. 78

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Es wurde im Gegenteil die Stärkung der zionistischen Bewegung gefordert. Natürlich ließ sich die Etappe, bei welcher „der Staat sich selbst trägt und keine nationalen Fonds und freiwilligen Aktionen“ mehr nötig hat, auf verschiedene Art interpretieren. Aber nur mithilfe der von der WZO geschaffenen Jewish Agency konnte der Prozess des Kibbuz Hagalujot, der Sammlung der Zerstreuten, immer wieder aufs Neue in Angriff genommen werden: etwa die großen Einwanderungswellen aus Nordafrika, aus der Sowjetunion und aus den Ländern des ehemaligen sogenannten Ostblocks – vor und besonders nach 1990 – oder die organisierte Einwanderung aus Äthiopien. Die politischen Entscheidungen treffen letztlich die israelische Regierung und ihre konstitutionellen Organe. Die Verbindung zwischen dem jüdischen Staat und den jüdischen Organisationen und Gemeinden in anderen Ländern wird von den staatlichen Institutionen Israels in Zusammenarbeit mit dem Apparat der WZO aufrechterhalten. Die Solidarität des Weltjudentums sowie dessen politische und finanzielle Unterstützung waren und sind zweifellos wichtig für den Staat Israel. Persönlich nahm ich regen Anteil an der Förderung dieser Verbindung des Weltjudentums mit der nationalen Renaissance in Israel. In meinen verschiedenen Funktionen war ich in den Gremien der WZO, der Jewish Agency und auch im Jüdischen Weltkongress aktiv. Über meine Tätigkeit im Rahmen der Verhandlungen, Beratungen und Entscheidungen nach der Gründung des Staates Israel bis zu meinem Rücktritt 2006 im Alter von 85 Jahren werde ich in den folgenden Kapiteln noch berichten. Wenn ich dies heute schreibe, scheint es mir, dass wir an einem Wendepunkt in den Beziehungen zwischen dem Weltjudentum und dem Staat Israel stehen. Überall werden neue Wege beschritten, wenn es um die Entscheidungen in den weltweiten jüdischen Organisationen und die Reorganisation ihres organisatorischen Rahmens geht. 1950 schrieb Meir Yaari in einem Artikel in der Zeitschrift Hefte des Marxismus über die Grundprinzipien einer beschränkten Funktion der WZO. Der Haschomer Hazair hatte jedoch politische und organisatorische Schritte unternommen, um seine Position in der zionistischen Organisation zu stärken. Während des Kongresses im Jahre 1946 – auch er fand in Basel statt – war der Weltverband des Haschomer Hazair gegründet worden. Dies bestätigte, dass der Haschomer Hazair nicht nur als Jugendbewegung, sondern auch als politische Partei im öffentlichen jüdischen Leben präsent war, und dies in allen europäischen Ländern, in Nord- und Südamerika und in Australien. Überall fanden Wahlen zu den zionistischen Kongressen statt, auch in der Schweiz. Dr. Veit Wyler, einer der vier Schweizer Delegierten, wurde über die Liste des Pro79

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gressiven Zionismus (Haschomer Hazair) gewählt. Der erste Generalsekretär des Verbandes war Israel Barsilai, der nach der Staatsgründung der erste Botschafter Israels in Polen und später unter anderem Gesundheitsminister in der israelischen Regierung wurde; nach ihm ist ein Spital in Askalon benannt. 1946 hätte ich es mir nicht träumen lassen, selbst 1985 zum Generalsekretär gewählt zu werden. Als dieser erste Kongress nach der Schoah abgehalten wurde, befand sich der Haschomer Hazair in Europa im Stadium des Wiederaufbaus. Insbesondere in Ost- und Zentraleuropa wurde er ein wirksamer politischer Faktor nicht nur in der zionistischen Organisation, sondern darüber hinaus im allgemeinen politischen Leben. Dies war eine Folge seiner Position in Palästina, da die Bewegung von einer eigenständigen Gruppe von Kibbuzim innerhalb der Kibbuzbewegung zu einer politischen Partei geworden war, die auch außerhalb der Kibbuzim Anhänger und Wähler hatte: 1936 hatte sich diese als „Liga Sozialistit“ organisiert, die dann zehn Jahre später gemeinsam mit dem Kibbuz Arzi als Haschomer-Hazair-Partei auftrat. Diese Partei war dann auch außerhalb Palästinas in internationalen linken Organisationen aktiv, etwa den internationalen Friedens- und Jugendbewegungen, die während und nach dem Krieg als quasi unabhängige „Fassaden“ die Politik des Ostblocks unterstützten. In der politischen Arena Palästinas trat die Partei bis zur Staatsgründung für einen binationalen Staat ein. Eine Gruppe unter dem Vorsitz von Mordechai Ben Tov (Bentov) hatte ein detailliertes Programm für das künftige Staatswesen formuliert, das 1936 der englischen Kommission unter Lord William Peel im Namen der Haschomer-Hazair-Partei vorgelegt worden war und dort großes Interesse gefunden hatte. Der 1937 vorgelegte „Peel-Plan“ griff diese Idee allerdings nicht auf, sondern sprach sich erstmals für eine Teilung Palästinas aus und schlug ein englisches Mandat für die Oberhoheit über beide Staaten im Namen des Völkerbunds vor.41 Ben Tov selbst hatte 1948 maßgeblichen Einfluss auf den 41 Die Kommission unter der Leitung Peels (1867–1937) wurde nach dem arabischen Aufstand von 1936 eingesetzt. Neben den beiden Staaten sah sie einen Korridor von Tel Aviv bis Jerusalem vor, der von der britischen Mandatsverwaltung kontrolliert werden sollte. Die jüdische Seite stimmte dem Plan nach einigem Zögern zu, während ihn die arabische Seite ablehnte. 1939 rückte die britische Regierung von dem Teilungsplan wieder ab und kündigte eine weitere Beschränkung der jüdischen Einwanderung sowie die schrittweise Zulassung eines Staates unter arabischer Führung an; nur ein kleines Gebiet um Tel Aviv sollte in jüdische Hände kommen. Dieser Plan stieß auf die Ablehnung beider Seiten und verschärfte die Spannungen (wie überhaupt die unausgewogene britische Schaukelpolitik

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Beschluss des Haschomer Hazair, das Programm eines binationalen Staates als unrealisierbar fallen zu lassen. Zu Ben Tov unterhielt ich enge Beziehungen. Er war Delegierter auf verschiedenen Kongressen, die in der Schweiz stattfanden. Ich gehörte dem Team an, das die Broschüre Der binationale Staat – Ein Lösungsvorschlag für Palästina an die Peel-Kommission ins Deutsche übersetzte. Ein Jahr davor, im August 1936, hatte in Zürich eine Sitzung des Zionistischen Aktionskomitees stattgefunden. Auf der Tagesordnung stand die Fortsetzung der Verhandlungen mit der britischen Regierung. Chaim Weizmann beabsichtigte, als Präsident der Zionistischen Weltorganisation zurückzutreten. Vier Mitglieder des Aktionskomitees des Haschomer Hazair – Yaari, Bader, Ben Tov, Shenhabi – kamen mit Weizmann zu einer ausführlichen Besprechung zusammen. Nach dieser Sitzung traf ich sie im Zimmer der Fraktion – ich war 16 Jahre alt und erfüllte technische Aufgaben. Ben Tov verfasste ein Protokoll über die Unterredung; im Mittelpunkt standen die Beziehungen zu den Arabern. Weizman hatte erklärt, dass nur eine territoriale Teilung die „legitimen Rechte der Araber“ garantieren könne. Schon in dieser Besprechung kam das Dilemma des Haschomer Hazair zum Ausdruck: Einerseits wollte man „ganz Erez Israel“, eine Haltung, die damals „großer Zionismus“ genannt wurde und sich somit gegen die Teilung aussprach. Andererseits unternahm man Anstrengungen, Weizmann davon zu überzeugen, weiter seine Funktion im Präsidium wahrzunehmen. Bader und Shenhabi stimmten bei diesem Treffen mit Weizmann überein, dass dem jüdischen Volk eine Katastrophe drohte. Shenhabi kam öfters in die Schweiz, und wir trafen uns oft „zwischen zwei Zügen“. Er fuhr nach Deutschland und in andere Länder, war tief erschrocken über die mächtigen antijüdischen Propagandaaktionen und wusste schon einiges über die Konzentrationslager. Gemeinsam mit Bader suchte er vor Ausbruch des Krieges nach jeder Möglichkeit, Juden zu retten. Ben Tov, Bader und Shenhabi hatten eine herausragende Stellung in der politischen und intellektuellen Führung im Kibbuz Arzi und in der Partei. Im öffentlichen Gedankenaustausch übten sie einen großen Einfluss aus. Ich traf mich mit ihnen vor allem in der Zeit vor meiner Alija. Die Schweiz war ein Transitland und ein wichtiger internationaler Treffpunkt, den sie politisch und ökonomisch für ihre Aufgaben nutzen konnten. Hier empfing ich sie, stand ihnen in allen Angelegenheiten zur Verfügung und nahm auch an verschiedenen seit dem Ersten Weltkrieg zur wachsenden Konfrontation zwischen Juden und Arabern beitrug).

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Besprechungen teil, die sie meistens in Zürich führten. In den frühen Jahren der Ortsgruppe in Warschau war Shenhabi einer der hervorragenden Chaverim, so auch am Anfang der Entwicklung des Kibbuz Arzi. Später zog er sich innerhalb der Organisation eher zurück und wirkte mehr in der breiteren Öffentlichkeit. Er ergriff unter anderem die Initiative zur Errichtung der Gedenkstätte Yad Vashem. Menachem Bader hatte während des Krieges eine zentrale Position in der überparteilichen jüdischen Hilfsdelegation in Istanbul inne. Nach dem Krieg baute er die wirtschaftliche Organisation des Kibbuz Arzi in Israel und deren Verbindungen im Ausland aus und gründete die zentrale Einkaufsgesellschaft „Kibbuzei Haschomer Hazair“. In der Schweiz trafen wir uns zur wirtschaftlichen Arbeit für die Bewegung wieder, vor allem bei der Mobilisierung von Investitionskapital für die Industrieunternehmen der Kibbuzim. Er gründete zu diesem Zweck die „Beate AG“, deren Transaktionen Dr. Veit Wyler von seinem Anwaltsbüro aus leitete. Ich war der Verbindungsmann zwischen Wyler und den Instanzen in Israel. Bevor ich die Alija vollzog, war ich in die Bewegung integriert und erfüllte dort verschiedene Aufgaben. Vom 20. Kongress im Jahre 1937 bis zum 22. im Jahre 1946 übte ich technische Funktionen in der Fraktion des Haschomer Hazair aus. Ich kümmerte mich auch um manche Angelegenheiten der Delegierten und hatte so mit den meisten von ihnen persönlichen Kontakt. Dabei lernte ich die Einstellungen und Umgangsformen der führenden Personen in der Bewegung kennen und erhielt manchmal auch Einblick in ihre Überlegungen vor den jeweiligen Beschlüssen. Diese Bekanntschaften haben viel zu meinem Verständnis der Beziehungen innerhalb der Elite der Bewegung und zur Einschätzung des „subjektiven Faktors“ beigetragen. In den Debatten in den verschiedenen Kongressen von 1925 bis zum letzten Kongress 2006, an dem ich als „Ehrenmitglied“ teilnahm, blieb der Haschomer Hazair seiner zionistisch-sozialistischen Auffassung treu. Dies schloss eine „konstruktive“ Rolle in der „nationalen Kooperation“ beim Aufbau des Landes mit ein. Der Haschomer Hazair war der Auffassung, dass die Zusammenarbeit aller Klassen und Strömungen innerhalb des jüdischen Volkes eine Grundbedingung für die Verwirklichung von dessen „nationaler Befreiung“ war. Es wurde eine „Theorie der Etappen“ ausgearbeitet, die „bis zum Erreichen des Endziels“ diese Zusammenarbeit als unverzichtbar ansah und den „Klassenkampf“ auf die „zweite Etappe“ verschob. Doch die „nationale Kooperation“ wurde bereits von inneren Diskussionen begleitet, über die Wege der Verwirklichung des Zionismus ebenso wie über das „endgültige Ziel“. Dieser Prozess 82

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schuf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Probleme und führte zu Auseinandersetzungen innerhalb der sich im Aufbau befindenden neuen Gesellschaft. Immerhin ging es um „jeden Stein und jede Furche“ in der Erde, um „jeden Dunam42 und jede Ziege“, wie die Parole des jüdischen Nationalfonds Keren Kayemeth LeIsrael proklamierte. Schon mit Blick auf den 16. Kongress 1929 in Zürich kam es innerhalb der Fraktion des Haschomer Hazair zu einer prinzipiellen Debatte über dessen Stellung in der WZO. Auf dem Kongress wollte Chaim Weizmann den Vorschlag präsentieren, die Jewish Agency durch den Beitritt nicht-zionistischer Persönlichkeiten, die das Aufbauwerk in Palästina unterstützten, zu erweitern. Der Haschomer Hazair war nur mit einer kleinen Fraktion von fünf Delegierten vertreten. Die Führer der Bewegung befürchteten einen immer stärker werdenden Einfluss der „Reichen und Kapitalisten des amerikanischen Judentums“, die die gemeinsame Organisation beherrschen würden. Der Haschomer Hazair war damals Teil der gemeinsamen Arbeiterfraktion, diskutierte aber intern, welche Haltung er in dieser Frage einnehmen solle. Dies bezeugt ein Rundschreiben des Sekretariats des Kibbuz Arzi an die Delegierten des Haschomer Hazair: „Mit Blick auf den bevorstehenden Zionistenkongress und die Konferenz der vereinigten Fraktion des ‚Arbeitenden Palästina‘ müssen wir unser weiteres Vorgehen angesichts der Schaffung der Jewish Agency gründlich prüfen. Wir müssen die Konsequenzen aus der entsprechenden Taktik ziehen.“ Und weiter: „Es ist eine Tatsache, dass die Aufgaben, welche die Arbeiterbewegung zu erfüllen hat, eine Zusammenarbeit auf den Kongressen rechtfertigen. Infolge unterschiedlicher Einschätzungen und Prognosen wird diese Gemeinschaft bei bestimmten Aufgaben der zionistischen Bewegung möglicherweise nicht immer gegeben sein.“ Es wurde beschlossen, an der Jewish Agency teilzunehmen, und diese Teilnahme hält bis zum heutigen Tag an. Am 17. Kongress 1931 in Basel nahmen sieben Delegierte des Haschomer Hazair teil. Die dortige Kontroverse über das „Endziel“, eine Diskussion über die Taktik und die Strategie des Zionismus, führte zu einer Spaltung innerhalb der WZO. Im Vorfeld einiger Abstimmungen zeigte sich innerhalb der Fraktion des Haschomer Hazair das der „Etappen-Theorie“ innewohnende Dilemma. Was die Strategie betraf, bestanden eigentlich keine Meinungsverschiedenheiten. Die Revisionisten verlangten eine Erklärung dahin gehend, dass das End42 Ein Dunam entspricht 1000 Quadratmetern. Ursprünglich bezeichnete es im Osmanischen Reich diejenige Fläche, die ein Mann an einem Tag pflügen konnte.

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ziel des Zionismus die Schaffung eines „jüdischen Staates“ sei, doch die Mehrheit des Kongresses war dagegen. Der Haschomer Hazair und Brith Schalom, eine von Martin Buber gegründete kulturzionistische Gruppe hervorragender Intellektueller, traten für einen binationalen Staat ein. Weizman zeigte sich zwar entrüstet über das britische „Weißbuch“ von 1930, das den Grunderwerb seitens der Juden und auch die Einwanderung beschränkt hatte, doch war er ebenfalls gegen die Deklaration eines Judenstaates als „Endziel“. Die geeignete Antwort auf das Weißbuch sah er in der Fortsetzung des zionistischen Aufbauwerks in Palästina und der jüdischen Einwanderung. Der Haschomer Hazair drängte ihn, weiter als Präsident der Zionistischen Weltorganisation zu amtieren, aber Weizman entschied sich dafür, zurückzutreten. Das war zum einen eine Reaktion auf die Beschuldigung, er sei angesichts seiner Verhandlungen mit den Engländern ein Verräter, zum anderen aber auch ein Protest gegen die britische Politik. Der Haschomer Hazair stellte sich 1931 auf dem Kongress in Basel in der Debatte über die Position der nationalen Fonds und des nationalen Eigentums des Bodens an die Seite von Weizmann. Weizmann unterstrich die Bedeutung der zionistischen Fonds für die Entwicklungspolitik, für eine Planwirtschaft in der Landwirtschaft und für den Aufbau des Landes. Die Revisionisten hingegen waren „gegen das Monopol der nationalen finanziellen Instrumente“. Bei dieser Diskussion kam der Zusammenstoß zwischen dem Primat des nationalen Aufbaus und den privaten Interessen sowie den kapitalistischen Realitäten in der Wirtschaft und in der Gesellschaft deutlich zum Ausdruck. In historischer Perspektive ging es um den sozioökonomischen Charakter des kommenden jüdischen Staates. Diese Diskussionen und Entwicklungen scheinen ein Beleg für die Theorie unterschiedlicher aufeinanderfolgender „Etappen“ einer komplizierten zionistischen Wirklichkeit des „Staates unterwegs“ zu sein. Meir Yaari äußerte sich in dieser Debatte folgendermaßen: „Die revisionistische Bewegung und ein Teil des amerikanischen Judentums wollen die Stellung der nationalen Fonds nicht infrage stellen, sondern sie interpretieren das ‚Baseler Programm‘ als Endziel des jüdischen Staates im Sinne von ‚ganz Palästina‘“, also auf beiden Seiten des Jordan. Die Diskussion hatte im Grunde schon auf dem Kongress 1927 in Basel begonnen und fand erst auf dem Kongress von 1946, der wiederum in Basel zusammentrat, ein Ende. Die substanziellen Entscheidungen über die Verwirklichung des Zionismus und den Charakter des zukünftigen jüdischen Staates scheinen damit bereits auf den letzten Kongressen vor der Gründung Israels gefallen zu sein. 84

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Hier darf nicht vergessen werden, dass ein ganz neuer, schwerwiegender Gesichtspunkt bei den Beratungen, den Zweifeln und letztlich auch den Entscheidungen hinzutrat: das Jahr 1933, in dem Hitler an die Macht gelangte – mit all seinen Folgen. In diesem Jahr tagte der Kongress in Prag unter dem Eindruck von drei Ereignissen: Zum einen begannen die Verfolgungen, Pogrome und Gesetze gegen die Juden in Deutschland vor dem Hintergrund von Hitlers Beschwörung der großen Gefahr, die seitens der Juden für die „arische Rasse“ bestehe. Andererseits gab es eine schwere wirtschaftliche Krise in Palästina, die eine Inflation nach sich zog. Der dritte Umstand war der Mord an Chaim Arlosoroff, dem Führer der Mapai und einem bedeutenden zionistischen Politiker in der Jewish Agency. Diese Entwicklungen machten es erforderlich, auf dem Kongress konkrete Beschlüsse über den weiteren Weg zu fällen. Die Fraktion des Haschomer Hazair, die damals 15 Delegierte zählte, musste die drei Ereignisse und ihre Konsequenzen als umfassendes Problem diskutieren, konsolidierten sich doch in der neuen Situation die Lager und spitzte sich der Kampf um die Führerschaft zu. Die Revisionisten hatten bereits 1931, auf dem 17. Kongress, ihre Arbeit in der WZO eingestellt und ihre „Neue Zionistische Organisation“ gegründet. Das stärkte zwar die Position des Haschomer Hazair innerhalb des „Arbeitenden Erez Israels“, doch die Ereignisse in Palästina vergrößerten zugleich die Kluft zwischen dem Haschomer Hazair und der Mapai. Die Jahre von 1937 bis zur Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 1948, die tragischste und entscheidendste Phase in der modernen Geschichte des jüdischen Volkes, waren auch für die Entwicklung des Haschomer Hazair eine dramatische Zeit. Sie erforderten klare Entscheidungen über seine politische Einstellung. Dass die Bewegung in ihren Positionen schließlich eine gewisse Wendung vollzog, wirft die Frage auf, ob ihre bisherige Grundauffassung falsch war. Als jemand, der die Ereignisse und Debatten persönlich und aus der Nähe verfolgen konnte, bin ich der Überzeugung, dass die Führung der Bewegung es verstand, im entscheidenden Stadium die richtige Richtung einzuschlagen, die Teilung von Palästina gutzuheißen und im ausschlaggebenden Moment für den Vorschlag zu stimmen, einen jüdischen Staat in einem Teil von Palästina zu schaffen. Um diese Entwicklung innerhalb des Haschomer Hazair richtig zu bewerten, müssen die ideologischen Wurzeln näher betrachtet werden. Sie kamen in der Anerkennung der legitimen Rechte der Araber auf nationale Selbstständigkeit zum Ausdruck. Der Vorschlag eines binationalen Staates unterschätzte allerdings die Erwartungen und Absichten der nationalen Bewegung der Araber. Meiner 85

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Meinung nach bewertete man deren Bestreben nach politischer Selbstständigkeit nicht richtig. Der Gedanke eines binationalen Staates unter internationaler Kontrolle basierte auf dem zionistischen Recht der freien Einwanderung, die die Majorität der Juden im gemeinsamen Staat sichern würde. Unter dieser Bedingung sollte ein wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell einheitlicher Standard beider Völker gewährleistet sein. Das Programm der Teilung des Landes in zwei unabhängige Staaten konzentrierte sich hingegen auf die Rechte der Juden, die ihr in den Ausgangsländern akkumuliertes Kapital und das dort erworbene Können mit sich brachten; den Arabern sollte es selbst überlassen sein, für sich zu sorgen. Demgegenüber zielte der Vorschlag eines binationalen Staates auf eine Anerkennung der Gleichberechtigung der Völker. Ich erinnere mich an die historische Diskussion über den Teilungsplan der Peel-Kommission auf dem 20. Zionistenkongress im Jahre 1937. Menachem Ussischkin sprach im Namen der Gegner – im Kongressjargon „Neinsager“ –, Chaim Weizmann, 1935 zum Präsidenten wiedergewählt, im Namen der Befürworter. Ben-Gurion beendete die Debatte, und in der Abstimmung schlossen sich seine Fraktion der Mapai und deren Anhänger außerhalb Palästinas Weizmann an. Der Beschluss lehnte zwar die im Peel-Bericht vorgezeichneten Grenzen ab, jedoch nicht das Konzept der Teilung Palästinas. Der Haschomer Hazair war gegen den Teilungsplan und befand sich damit zusammen mit den Rechtsparteien im Lager der „Neinsager“ unter der Führung von Ussischkin. Zur Rechtfertigung veröffentlichte die Fraktion eine Broschüre in deutscher Sprache mit dem Titel Gegen die Teilung – es wurde also angenommen, dass die Delegierten die deutsche Sprache verstanden. Tatsächlich sprachen die meisten „Kongressdeutsch“ – eine Mischung aus Deutsch und Jiddisch. In der Debatte begründete Yaakov Chasan die Stellungnahme des Haschomer Hazair. Hier zeigte sich die grundlegende Schwierigkeit, mit der sich die Fraktion auseinandersetzen musste: Die Abstimmung war ein Vertrauensvotum für die Exekutive, war also eine Abstimmung über die Fortsetzung der Politik von Chaim Weizmann. Er sollte die Vollmacht erhalten, mit der britischen Regierung über die Umsetzung der Vorschläge der Peel-Kommission zu verhandeln. In der Fraktion waren die meisten der Auffassung, mit der Gruppe der Gegner stimmen zu müssen. Zwei Gründe führten schließlich zu der Entscheidung, sich doch der Stimme zu enthalten. Einerseits war es schwierig, mit den Rechtsparteien zu stimmen, weil der Haschomer Hazair aus völlig anderen Gründen als diese die Teilung ablehnte. Andererseits spielten die Beziehungen zu Weizmann immer noch eine Rolle. Ihn wollte man nach wie vor unterstützen. Dieses grundlegende 86

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Dilemma blieb weiterhin bestehen und sollte den Haschomer Hazair bis zum 22. Kongress 1946 in Basel begleiten. Die Fraktion zählte auf jenem Kongress in Zürich 16 Delegierte. Yaakov Chasan war nicht nur einer der großen Redner auf dem Kongress, er genoss auch einen ausgezeichneten Ruf und hohes Ansehen. Dabei entwickelte er enge Beziehungen zu Weizmann und auch zu Nahum Goldmann, während Meir Yaari persönlich eher Ben-Gurion nahestand. Dies führte oft zu tief gehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden angesehenen und formell gleichgewichtigen Größen der „historischen Führung“ des Haschomer Hazair. Die Beschlüsse der Fraktion waren in diesem Falle das Resultat eines Kompromisses zwischen Yaari und Chasan. Die Position von Chasan kam auch in den Kongressen nach dem Krieg zum Ausdruck, als die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Diaspora im Zentrum der Diskussionen standen. 1937 erklärte nun Chasan in seiner Rede: „Mit tiefem Bedauern haben wir uns dieses Mal der Stimme enthalten – zum ersten Mal bei den Wahlen des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation. Wir sind dem Weg Chaim Weizmans treu geblieben, als viele ihn verließen.“ Trotz der Stimmenthaltung der Delegierten des Haschomer Hazair wurde Weizmann wiedergewählt – auf diesem Kongress war die Abstinenz des Haschomer Hazair insofern nicht kritisch. Doch 1946, als auf dem 22. Kongress die Frage der Teilung des Landes konkret zur Diskussion stand, führte diese Haltung, Zustimmung und Ablehnung mittels Enthaltung auszugleichen, dazu, dass die Wiederwahl Weizmanns scheiterte. Bei diesem Kongress, der im Dezember 1946 in Basel zusammentrat, verfügte ich bereits über eine ganz andere Stellung als bei den früheren Kongressen. Die Delegierten der Bewegung, insbesondere diejenigen aus Europa, kannten und schätzten meine Tätigkeit in der Schweiz während des Krieges. Die meisten hatte ich auf den Konferenzen getroffen, die 1946 in Fontainebleau und Bratislava stattfanden. Auch die Führer der Bewegung, Meir Yaari, Israel Barsilai und selbstverständlich Menachem Bader, hatte ich bereits persönlich kennengelernt und eingehende Gespräche mit ihnen geführt. Der Kongress war für mich die erste, mir persönlich besonders wichtige Gelegenheit, eine Bilanz der zurückliegenden Jahre zu ziehen, in denen ich mit Bader zusammengearbeitet hatte – zwar räumlich getrennt, aber aus der gleichen Motivation heraus und in voller Kooperation. In diesen Gesprächen erörterten wir prüfend die historischen Ereignisse und bewerteten die verschiedenen Unternehmungen, die von Istanbul und Genf aus geführt worden waren. Interessanterweise waren wir beide der 87

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gleichen Meinung über das Verhalten der Führung der Bewegung in Palästina während der Schoah. Für mich persönlich waren die Gespräche mit Bader besonders wichtig, denn ich hatte meine Arbeit begonnen und bis zur Ankunft Baders in Istanbul fortgeführt, ohne den Hintergrund und die komplexe Realität der politischen Verhältnisse wirklich zu kennen. Der Kongress von 1946 stand unter dem bedrückenden Eindruck der Schoah und der drastischen Veränderungen in der Existenz des jüdischen Volkes. Er war einberufen worden, um eine prinzipielle politische Debatte mit weitreichenden Folgen zu führen. Auf der Tagesordnung stand die Stellungnahme zum Bericht der Royal Commission und zu deren Vorschlag einer Teilung Palästinas. Der Kongress musste über zwei Punkte abstimmen: Erstens ging es darum, den Vorschlag im Ganzen zu akzeptieren. Hierzu gab es keine Meinungsverschiedenheiten in der Fraktion – die Delegierten des Haschomer Hazair stimmten alle gegen den Vorschlag der Teilung. Zweitens bestand erneut das Dilemma, wie man sich angesichts der Forderung Weizmanns verhalten sollte, ihm Vollmachten für die Verhandlungen mit der britischen Regierung zu erteilen. Weizmann sah in der Abstimmung ein Vertrauensvotum für oder gegen ihn als amtierenden Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation. Die Fraktion des Haschomer Hazair wurde zu einer Sondersitzung einberufen, um sich in dieser Frage festzulegen. Ben-Gurion war dagegen, Weizmann solche Vollmachten zu geben: „Verhandlungen bedeuten, den (Teilungs-)Vorschlag anzunehmen.“ Das aber kam einer Ablehnung Weizmanns als Präsident gleich. Auch in der führenden Arbeiterpartei Mapai gab es Meinungsverschiedenheiten. Der gemäßigte Flügel unter Führung von Josef Sprinzak, der später der erste Präsident der israelischen Knesset, des Parlaments, werden sollte, plädierte für die Position Weizmanns. Die Kräfteverhältnisse waren ausgewogen und die Abstimmung der Delegierten des Haschomer Hazair entscheidend. Eine Delegation der Arbeiterpartei, zu der auch Sprinzak gehörte, besuchte die Fraktion des Haschomer Hazair, um dessen Delegierte davon zu überzeugen, für Weizmann zu stimmen. Ich erinnere mich an die große Spannung, die innerhalb der Fraktion herrschte. Manche neigten zu der Auffassung, Weizmann müsse unterstützt werden; dabei handelte es sich vor allem um Kameraden aus Europa, Überlebende der Schoah. Sie befürworteten Verhandlungen über die Schaffung eines jüdischen Staates, auch wenn dieser nur einen Teil Palästinas umfassen sollte. Chasan tendierte zu der Position Ben-Gurions, doch nicht nur ich hatte den Eindruck, dass er gleichzeitig Weizmann als Präsidenten halten wollte – er zögerte sehr, für den Vorschlag von Ben-Gurion zu stimmen. Demgegenüber war Meir 88

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Yaari konsequent in seiner Unterstützung von Ben-Gurion und vertrat die Meinung, dass die Teilung des Landes das Ende des Plans eines binationalen Staates bedeuten würde. Letztendlich beschloss die Fraktion, sich der Stimme zu enthalten. Zur gleichen Zeit entschied sich die Mapai-Fraktion, für Ben-Gurion zu stimmen. Die Stimmenthaltung der 25 Delegierten des Haschomer Hazair gab dann im Plenum des Kongresses den Ausschlag für Ben-Gurion. Nahum Goldmann wurde zum Präsidenten des Kongresses ernannt, es wurde aber kein neuer Präsident der WZO gewählt. Als wir den Kongresssaal verließen, äußerten mehrere Delegierte ihr Bedauern über unseren Beschluss, der von weitreichender Bedeutung war: Er bahnte Ben-Gurion den Weg, die WZO zu beherrschen. Dennoch stellte Weizmann seine politische Aktivität keineswegs ein, sondern leistete einen außergewöhnlichen Beitrag bei den Bemühungen, die Vereinigten Staaten dazu zu bewegen, in der UNO-Generalversammlung für die Schaffung des Staates Israel zu stimmen. Mit dem Kongress von 1946 begann im Haschomer Hazair ein Prozess der Revision und der Neueinschätzung der Konzeption eines binationalen Staates. Es verging kein Jahr, bis seine Vertreter in der Sitzung des Zionistischen Aktionskomitees im August 1947 in Zürich für einen jüdischen Staat in nur einem Teil von Palästina stimmten. In gewisser Weise hatte der Haschomer Hazair Schwierigkeiten, grundlegende politische Prinzipien in die konkrete Wirklichkeit zu übersetzen. In den hier betrachteten Jahren wichtiger Entscheidungen auf den Zionistenkongressen und in den Sitzungen des Zionistischen Aktionskomitees, die in der Schweiz stattfanden, war ich noch jung und konnte die Bedeutung der inneren Verhältnisse in den Parteien, sicherlich auch in der eigenen Bewegung, nicht umfassend verstehen. Mit der Zeit wurden mir dann die ideologischen und menschlichen Spannungen klarer. Der Haschomer Hazair war eine trotz allem noch unerfahrene politische Organisation, die aus einer Jugendbewegung hervorgegangen war und in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung die Mentalität einer geschlossenen „Gruppe“ beibehalten hatte. Entsprechend schwierig war es, Parteistrukturen anzunehmen und eine operative Hierarchie aufzubauen. Es dauerte auch bei mir einige Zeit, bis ich mich in diesen Organismus integriert hatte. Auf diesen Weg möchte ich noch einmal zurückblicken. Interessante Eindrücke hatte ich bereits auf dem Zionistenkongress in Genf gewonnen. Dieser Kongress fand im August 1939 statt, zwei Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Informationen, die uns in der Schweiz 89

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erreichten, ließen keinen Zweifel darüber, dass der Krieg unmittelbar bevorstand. In diesem Zusammenhang komme ich wieder auf die Persönlichkeit von Chaim Weizmann zurück. In seiner Position als Präsident der WZO wurde er von der britischen Regierung und auch von der amerikanischen Administration als der höchste Vertreter des jüdischen Volkes angesehen. Angesichts der Kriegsgefahr wurde beschlossen, den Kongress abzubrechen. In der Nacht des 24. August begann die Schlusssitzung, und ich spüre noch heute die damalige Erregung. Wahrscheinlich dürfte ich einer der wenigen noch Lebenden sein, die an dieser Sitzung beteiligt waren. Gerade auch angesichts des Bekanntwerdens des deutschsowjetischen Nichtangriffspakts herrschte ein Gefühl der Machtlosigkeit vor. Der Krieg war nicht mehr aufzuhalten. Und was würde mit den Juden in Europa geschehen? Ebenso erinnere ich mich noch genau an die Sitzung der Fraktion des Haschomer Hazair unmittelbar nach dem offiziellen Abschluss des Kongresses. Bis zum heutigen Tage wird eine öffentliche Diskussion über die Beschlüsse dieser Sitzung geführt – ähnlich wie in anderen Bewegungen und Parteien und in der Exekutive der nationalen Institutionen. Ein Sitzungsprotokoll ließ sich in den Archiven nicht finden, später wurden jedoch verschiedene Einschätzungen veröffentlicht, und die Teilnehmer prüften rückblickend, ob ihre Entscheidungen damals richtig und vernünftig gewesen waren. Es gab den Beschluss, alle Emissäre aus Palästina, die in erzieherischer, kultureller und politischer Mission in alle Länder Europas gesandt worden waren, umgehend zurückzuschicken. Anwesend waren nicht nur die Delegierten, sondern auch die Führerschaft der Bewegungen in den verschiedenen Ländern, sie nahmen an den Debatten teil und hatten volles Stimmrecht. Das traf auch auf mich zu, trotz meines jungen Alters. Ich hielt diesen Beschluss für gerechtfertigt und die Entscheidung für vernünftig. Zwei Exekutivmitglieder, Yaakov Riftin und Abramek Lipsker, sollten nach Polen fahren und sich mit dem Führungspersonal der polnischen Bewegung treffen, die in einem nationalen Seminar in dem Städtchen Oleksówki versammelt war. Auch Chasia Bielicka nahm als Vertreterin der Ortsgruppe Grodno daran teil. Sie informierten Hunderte Teilnehmer aus ganz Polen über den Genfer Beschluss, die Missionen aller Emissäre abzubrechen und sie alle unverzüglich nach Palästina zurückzuschicken. Nach den Beratungen über die erforderliche Reorganisierung verließen die beiden Exekutivmitglieder umgehend Polen und machten sich auf den Weg nach Palästina. In einer gemeinsamen Sitzung mit der Arbeiterfraktion wurde der Beschluss gefasst, in Genf ein Büro der Weltorganisation Hechaluz parallel zu anderen 90

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internationalen jüdischen Institutionen, die schon längere Zeit hier ihre Vertretungen hatten, zu eröffnen. Darüber war ich sehr zufrieden. Mordechai Oren, Mitglied des Kibbuz Misra, blieb in Genf, um den Haschomer Hazair in der dortigen Zentrale des Hechaluz zu vertreten.43 Doch meine Enttäuschung war groß, als er beschloss, im Mai 1940 die Schweiz zu verlassen und nach Palästina zurückzukehren. Die Leitung der Bewegung gab ihre Zustimmung, obwohl diese Entscheidung im Lichte der historischen Situation keineswegs gerechtfertigt werden kann: Die Schweiz war ein neutrales Land – die Gründe, die die Rückkehr der Emissäre aus den Nachbarländern, denen die deutsche Besatzung drohte, erforderlich machten, trafen auf die Schweiz nicht zu. Ich konnte mich mit dem Abbruch unserer Vertretung in Genf nicht abfinden, wusste ich doch genau, dass in der Schweiz und vor allem in Genf vielseitige Möglichkeiten bestanden, unmittelbare Rettungsmaßnahmen, wichtige Kontakte und sonstige Hilfe zu organisieren. Dies bewiesen 1940 die ersten Schritte, welche die Weltzentrale des Hechaluz und andere Institutionen unternahmen. Ich betrachtete es daher als meine persönliche Aufgabe, diese Lücke zu schließen, und ergriff – ohne jegliche Aufforderung oder Ermunterung seitens der leitenden Gremien der Bewegung – die Initiative; darüber habe ich bereits berichtet. Das bestimmte meinen weiteren Lebensweg bis zu meiner Emigration nach Palästina, im Grunde aber mein ganzes Leben. Dank meiner Verbindungen in die verschiedenen Länder konnte ich feststellen, dass sich bereits im Jahr 1940 kein Einziger der Emissäre aus Palästina mehr in den von den Deutschen besetzten Ländern Europas aufhielt. Erst im Juli 1944 konnten in Palästina mobilisierte jüdische Fallschirmkämpfer in Ungarn, Jugoslawien und der Slowakei landen, denen es aber nur zum Teil gelang, mit Resten des jüdischen Widerstandes Kontakt aufzunehmen. Knapp ein Jahr später vermochten es die Soldaten der Jüdischen Brigade – einer Militärformation im Rahmen der britischen Armee, die in Palästina durch die jüdische Gemeinschaft auf freiwilliger Basis mobilisiert wurde –, als Teil der Besatzungstruppen im besiegten Deutschland und seinen Satelliten den befreiten Resten der jüdischen Gemeinschaft effektive Hilfe zu leisten und die bis 1948 immer noch „illegale“ 43 Der Kibbuz Misra liegt in der Jesreelebene und wurde 1923 gegründet, überwiegend von Mitgliedern des Haschomer Hazair. Während des Zweiten Weltkrieges war hier vorübergehend das Hauptquartier des Palmach. Wirtschaftlich konzentriert er sich auf Fleischverarbeitung, hat aber auch andere Industrieunternehmen. Derzeit leben etwa 700 Einwohner im Kibbuz.

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Alija nach Palästina zu organisieren. Viele von ihnen waren begabte „Kibbuzniks“, die sich in der Sorge um den „geretteten Rest“ des europäischen Judentums freiwillig oder im Auftrag der Kibbuzbewegung für diese Mission zum Militärdienst in der Jüdischen Brigade bereit erklärt hatten. Sie wirkten praktisch als die ersten Boten aus Palästina und leisteten nach der Besetzung Deutschlands eine erstaunliche soziale und pädagogische Arbeit, als es um den Transport der jüdischen Flüchtlinge in die besonders im amerikanischen Sektor errichteten Lager für die „Displaced Persons“ (DP) ging. Sie organisierten mithilfe der nach Polen, Ungarn, in die Tschechoslowakei, nach Rumänien und Bulgarien und selbstverständlich auch nach Deutschland und Italien delegierten Emissäre das jüdische Gemeinschaftsleben in und außerhalb der DP-Camps und bald auch die illegalen Schiffstransporte nach Palästina. Während all dieser Jahre gewann ich die Überzeugung, dass die Leitung des Haschomer Hazair in Palästina kein großes konstruktives Können bewies, als es darum ging, sich nach dem Krieg der Herausforderung zu stellen, ihrer ums Überleben kämpfenden Bewegung die nötige Hilfe zukommen zu lassen und sie moralisch zu unterstützen. Es wurden nicht alle Möglichkeiten geprüft, so zum Beispiel in Portugal, wo das Zentrum des amerikanischen Joint Distribution Committee tätig war. Ich stellte von Genf aus einen Kontakt zu Kameraden in Lissabon her; wir organisierten gemeinsam die Sendung von Lebensmittelpaketen aus Portugal in die Ghettos und Konzentrationslager und arbeiteten auch auf anderen Gebieten zusammen, zum Beispiel bei der Beschaffung von gefälschten Pässen. Mit meinem Eindruck von der unzureichenden Haltung der Führung in Palästina stand ich nicht allein. Auch Menachem Bader schrieb im gleichen Sinne in seinen Briefen aus Istanbul und brachte bei seinen Besuchen in Palästina seine Meinung zum Ausdruck. Er wusste ohnehin, dass wir im Grunde zu spät kamen und das Schicksal des europäischen Judentums längst entschieden war. Dennoch erhielt ich einige Anerkennung für die Geldüberweisungen, die ich tätigen konnte, und all die anderen Maßnahmen, die ich von Genf aus ergriff. Ich wusste, dass alle anderen Bewegungen in der Zentrale des Hechaluz von ihren Mutterbewegungen in Palästina eigene Unterstützungsleistungen erhielten, und konnte mich nicht damit abfinden, dass gerade die Kameraden des Haschomer Hazair im Vergleich dazu „Waisenkinder“ blieben. Wir bekamen den uns zustehenden Anteil an den Subventionen der Hechaluz-Zentrale, die diese allen ihr angeschlossenen Bewegungen zusprach. Bader hatte volles Vertrauen in mein Vorgehen, und er bestätigte nachträglich meine Verpflichtungen, die ich im Namen des Landesverbandes Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair auf mich genommen hatte. 92

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Die Jahre von 1946 bis 1948 waren, wie ich glaube, die kritischsten in der Geschichte der zionistischen Bewegung und des Haschomer Hazair. Die Situation, in der sich das jüdische Volk nach der Schoah befand, hatte nicht nur zu einer tiefen seelischen Erschütterung innerhalb der WZO geführt, sondern erforderte auch eine grundlegende Prüfung des politischen Weges, den man in Zukunft einschlagen wollte. Sie stand vor der Herausforderung, überhaupt erst einmal eine konkrete Perspektive für die Lösung der „Judenfrage“ zu finden. Dabei war nicht nur das jüdische Volk gezwungen, die aktuelle Situation einer grundlegenden Analyse zu unterziehen. Die Völker der Welt konnten die tragischen Ereignisse der Schoah und die Not der Überlebenden nicht ignorieren und sich einer konkreten Antwort auf die menschlichen und nationalen Forderungen des jüdischen Volkes nicht entziehen. Die erste internationale zionistische Tagung nach dem Krieg fand im August 1945 in London statt. Dort trafen sich Meir Yaari und Yaakov Chasan mit Chaika Grossman und Rafi Ben Schalom. Auch ich sollte an diesem Treffen als einer der drei Delegierten des Schweizerischen Zionistenverbandes teilnehmen. Doch der britische Konsul in Bern verweigerte mir das Einreisevisum und begründete dies mit der Feststellung, ich hätte gegen die Interessen Großbritanniens gehandelt. Das Treffen war wichtig, um einen Dialog zwischen der Führung der Bewegung und den Überlebenden der Schoah herzustellen. Besonders wichtig war das Gespräch zwischen den zu ihrer Bewegung gehörenden Kämpfern und Anführern des Widerstandes sowie den Vertretern der jungen Generation, die nach dem Krieg heranreifte. Den Führern des Haschomer Hazair – wie auch anderer Bewegungen – war das Ausmaß der Schoah spätestens mit den Zeugenaussagen von Ruschka Korczak und Chaika Klinger, die im Jahre 1944 nach Palästina gekommen waren, eindrucksvoll vor Augen geführt worden. Der Leitung des amerikanischen Judentums waren schon früher authentische Berichte zur Kenntnis gelangt. Im Januar 1945 hatte eine besondere Landeskonferenz der Kibbuzbewegung stattgefunden. Dort hatte Ruschka Korczak, eine führende Persönlichkeit des Ghettowiderstandes und der jüdischen Partisaneneinheiten, einen ausführlichen Bericht über die Schoah, den Widerstandskampf der zionistischen Pionierbewegungen und den Haschomer Hazair vorgelegt.44 Wie 44 Różka Korczak veröffentlichte ihre Autobiographie „Flames in Ashes“ 1965 in hebräischer Sprache. Vgl. dies.: Jüdische Partisanen in den Wäldern von Narocz/Litauen. In: Arno Lustiger: Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933–1945. Köln 1994, S. 269–283; dies.: Jüdische Kämpfer in den Wäldern von Rudniki/Litauen.

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Die europäische Konferenz in Fontainebleau

sollte es nun nach diesem Schock und dieser unendlichen Trauer über die Vernichtung des europäischen Judentums weitergehen?

Die europäische Konferenz in Fontainebleau Die Idee, eine europäische Konferenz des Haschomer Hazair zu organisieren, nahm ich sofort nach Kriegsende in Angriff – im Grunde genommen schon unmittelbar nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944. In meiner Naivität dachte ich, die Schweiz sei der am besten geeignete Ort hierfür, hatte sie doch auch während des Krieges in allen Länder konsularische Vertretungen, was, wie ich glaubte, die Frage der Visavergabe erheblich erleichtern würde. Auch die Transportverbindungen schienen mir hier besonders günstig. Doch schon in den ersten Besprechungen wurde mir klar, dass in der Schweiz weiterhin eine Politik gegen Fremde vorherrschte, die während des Kriegs gerade für jüdische Flüchtlinge schwere Folgen gehabt hatte. Es bestand keine Bereitschaft, entsprechende Visa zu gewähren, und die Schweizer Behörden befürchteten, die Juden, meist Holocaust-Überlebende und staatenlos, würden, erst einmal ins Land gelangt, alle Tricks anwenden, um in der Schweiz bleiben zu können. So führte mich die erste Reise, die ich nach dem Krieg unternahm, nach Paris, Brüssel und London und war der Vorbereitung der europäischen Konferenz, die dann später in Fontainebleau stattfinden sollte, gewidmet. Zwei Monate nach der Befreiung von Paris fuhr ich in die französische Hauptstadt, um die ersten Schritte zu einer Erneuerung der Aktivität unserer Bewegung in Westeuropa zu prüfen. Das Verkehrsnetz war noch nicht intakt, weshalb ich von Genf aus in einem Güterzug fuhr; etwas Bestechungsgeld erlaubte es mir, in der Personalkabine mitzufahren. Die Zollbeamten kontrollierten insbesondere die Waggons, überprüften aber auch mich. Sie fanden bei mir eine große Summe Geld, das für die Bewegung bestimmt war. In dieser Zeit bestand zwischen der Schweiz und Frankreich eine weitgehende Begrenzung des Währungsverkehrs, um den Markt für gefälschte Banknoten, der damals recht groß war, zu unterdrücken. Ich erklärte, das Geld sei für soeben geschaffene Waisenkinderheime Ebd., S. 284–306. Siehe übergreifend zum Widerstand zionistischer Jugendgruppen: Zionist Youth Movements during the Shoah. Hg. von Asher Cohen und Yehoyakim Cochavi. New York usw. 1995.

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Die europäische Konferenz in Fontainebleau

sollte es nun nach diesem Schock und dieser unendlichen Trauer über die Vernichtung des europäischen Judentums weitergehen?

Die europäische Konferenz in Fontainebleau Die Idee, eine europäische Konferenz des Haschomer Hazair zu organisieren, nahm ich sofort nach Kriegsende in Angriff – im Grunde genommen schon unmittelbar nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944. In meiner Naivität dachte ich, die Schweiz sei der am besten geeignete Ort hierfür, hatte sie doch auch während des Krieges in allen Länder konsularische Vertretungen, was, wie ich glaubte, die Frage der Visavergabe erheblich erleichtern würde. Auch die Transportverbindungen schienen mir hier besonders günstig. Doch schon in den ersten Besprechungen wurde mir klar, dass in der Schweiz weiterhin eine Politik gegen Fremde vorherrschte, die während des Kriegs gerade für jüdische Flüchtlinge schwere Folgen gehabt hatte. Es bestand keine Bereitschaft, entsprechende Visa zu gewähren, und die Schweizer Behörden befürchteten, die Juden, meist Holocaust-Überlebende und staatenlos, würden, erst einmal ins Land gelangt, alle Tricks anwenden, um in der Schweiz bleiben zu können. So führte mich die erste Reise, die ich nach dem Krieg unternahm, nach Paris, Brüssel und London und war der Vorbereitung der europäischen Konferenz, die dann später in Fontainebleau stattfinden sollte, gewidmet. Zwei Monate nach der Befreiung von Paris fuhr ich in die französische Hauptstadt, um die ersten Schritte zu einer Erneuerung der Aktivität unserer Bewegung in Westeuropa zu prüfen. Das Verkehrsnetz war noch nicht intakt, weshalb ich von Genf aus in einem Güterzug fuhr; etwas Bestechungsgeld erlaubte es mir, in der Personalkabine mitzufahren. Die Zollbeamten kontrollierten insbesondere die Waggons, überprüften aber auch mich. Sie fanden bei mir eine große Summe Geld, das für die Bewegung bestimmt war. In dieser Zeit bestand zwischen der Schweiz und Frankreich eine weitgehende Begrenzung des Währungsverkehrs, um den Markt für gefälschte Banknoten, der damals recht groß war, zu unterdrücken. Ich erklärte, das Geld sei für soeben geschaffene Waisenkinderheime Ebd., S. 284–306. Siehe übergreifend zum Widerstand zionistischer Jugendgruppen: Zionist Youth Movements during the Shoah. Hg. von Asher Cohen und Yehoyakim Cochavi. New York usw. 1995.

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bestimmt. Sie waren beeindruckt, besonders als ich ihnen erzählte, dass ich während der deutschen Besatzung von der Schweiz aus in Verbindung mit der Résistance gestanden hatte. Als sie nach Namen fragten, nannte ich den Ehemann von Lea Weintraub, Yaakov, einen der Führer des Widerstands in Marseille, der dort hingerichtet worden war. Sie kannten den Namen nicht, doch meine Erzählung schien ihnen glaubhaft – sie erlaubten mir nicht nur, das Geld mitzunehmen, sondern gaben mir auch ihre besten Wünsche mit auf den Weg. Lea Weintraub war eine der leitenden Persönlichkeiten des Haschomer Hazair in Frankreich. Glücklicherweise unterhielten sie und Henry Bulawko, unsere Kameraden, Überlebende der Schoah – wir hatten Lea zusammen mit ihrem Säugling in die Schweiz gebracht, Henry wurde in Auschwitz befreit –, sehr gute Beziehungen zur französischen Regierung, die sofort nach der Befreiung gebildet worden war. Vier Minister waren Mitglieder des Kommandos der französischen Widerstandsbewegung gewesen. Zusammen mit Lea und Henry traf ich den neuen französischen Innenminister. Er und einige andere anwesende Franzosen drückten ihre Anerkennung und Hochachtung für die jüdische Untergrundbewegung – die „armée juive“ – aus, mit der sie im Widerstand zusammengearbeitet hatten. Ich erklärte unseren Plan, eine „Conference Européenne de la Jeunesse Juive Combattante les Nazis“, also eine Konferenz der gegen die Nazis kämpfenden jüdischen Jugend in Frankreich abzuhalten. Meine Gesprächspartner waren von dem Namen, unter dem sie stattfinden sollte, tief beeindruckt. Ich erwähnte, dass Widerstandskämpfer aus Polen, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Überlebende der Schoah aus verschiedenen Ländern an der Konferenz teilnehmen würden. Es sei eine große Ehre für uns und ein Ausdruck der Hochschätzung der jüdischen Jugend für den Kampf der Résistance in Frankreich. Tatsächlich stimmten die Franzosen zu und beschlossen, uns mit allen notwendigen Mitteln bei der Organisation dieser Konferenz behilflich zu sein. Der Krieg war damals immer noch im Gange. Erst im Mai 1945, als er in Europa endete, konnte man sich um die Lage der Bewegung kümmern. Im September 1945 fuhr ich nach England, wo ich die Abgesandten unserer Bewegung aus Palästina, Menachem Gerson und Simcha Flapan, traf. Ich präsentierte ihnen meinen Vorschlag, eine europäische Konferenz zu organisieren. Sie glaubten nicht, dass diese Idee in dem zerstörten Europa realisierbar sei, in dem es noch keine geordneten Verkehrsverbindungen gab. Von London fuhr ich nach Belgien, wo die Einheiten der Jüdischen Brigade stationiert waren. In Brüssel hatte ich ein Treffen mit Yehuda Tubin und Mosche Zilbertal, den beiden zen95

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tralen Vertretern des Kibbuz Arzi bzw. des Haschomer Hazair in der Brigade, sowie mit Chaika Grossman, die auf dem Rückweg von der zionistischen Konferenz in London war. Ich unterhielt mich mit Chaika stundenlang. So hörte ich zum ersten Mal von den „fünf Mädchen“ in Białystok und besonders von ihrer engen Freundin Chasia Bielicka, mit denen zusammen sie als „arische“ polnische Mädchen getarnt im Białystoker Widerstand gekämpft hatte.45 Ich hatte damals nicht die leiseste Ahnung, dass ich nur einige Monate später Chasia selbst treffen und dies der Beginn einer wunderbaren Lebensgemeinschaft sein sollte, die bis zu ihrem Tod 2012 anhielt. Im Laufe von zwei Tagen erörterten wir, Yehuda, Mosche, Chaika und ich, die Lage der Bewegung in Europa, die Herausforderung, ihre Tätigkeit wieder in Gang zu bringen, die organisatorischen Probleme und die politischen Fragen, mit denen die Bewegung nach der Befreiung konfrontiert war. Alle unterstützten meinen Vorschlag, so früh wie möglich eine europäische Konferenz abzuhalten. Wir vereinbarten einen Entwurf der Tagesordnung und legten den Januar 1946 als Zeitpunkt fest, den wir anstreben wollten. Ich kehrte dann in die Schweiz zurück und fuhr anschließend noch einmal nach Paris, um die Konferenz weiter vorzubereiten. In Paris gab es nur beschränkt elektrischen Strom, die Lebensmittel waren rationiert. Aus diesem Grund wurde uns Fontainebleau, die Sommerresidenz der französischen Monarchen, zur Verfügung gestellt, und zwar in ihrem ganzen Umfang, um die Konferenz einschließlich der Übernachtung und Verpflegung für die geplanten zwei Tage zu arrangieren, alles ohne Bezahlung. Auch anfallende Dienste und Personal wurden uns zugesichert. Besonders wichtig war die Anweisung an alle konsularischen Vertretungen Frankreichs, jedem, der eine offizielle Einladung zur Konferenz vorweisen konnte, ein Visum auszustellen. Für uns war dabei auch von Bedeutung, dass es eine französische Besatzungszone im von den Alliierten besetzten Deutschland gab. Dadurch bestand die Aussicht, dass Kameraden des Haschomer Hazair aus den DP-Lagern in Deutschland an der Konferenz teilnehmen konnten. Um dies zu ermöglichen, veranlasste der Innenminister das Militärkommando in der französischen Zone, Delegierten zur Konferenz einen für zwei Wochen gültigen Passierschein auszustellen. Lea stand weiterhin in Kontakt mit Vertretern des Innenministeriums, um alle tech45 Neben Chasia Bornsteins Erinnerungen berichten über diese Widerstandsaktionen: Chaika Grossman: Die Untergrundarmee. Der jüdische Widerstand in Białystok. Ein autobiographischer Bericht. Frankfurt a. M. 1993; Ingrid Strobl: Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939–1945. Frankfurt a. M. 1998.

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Die Europäische Konferenz des Haschomer Hazair in Fountainebleau im Januar 1946.

nischen Einzelheiten für die Vorbereitung der Konferenz abzuklären. Dank ihrer Bemühungen konnten wir gerade einmal ein halbes Jahr nach Kriegsende die Konferenz unter optimalen Bedingungen abhalten. Sie fand am 2. und 3. Januar 1946 statt. Das Zusammentreffen war ungemein bewegend, auch für mich persönlich. Ich traf Kameraden, die ich nicht persönlich gekannt, mit denen ich aber während des Krieges in enger Verbindung gestanden hatte. Die Resonanz überstieg alle unsere Erwartungen. Ich wusste mehr oder weniger, woher und welche Leute kommen würden, ließ ich mir doch die Teilnahme per Telegramm oder telefonisch bestätigen. Ich wusste auch, wer „legal“ reisen konnte, also mit Pass und einem französischen Visum. In Europa war jedoch Ende 1945 die Infrastruktur in weiten Teilen zerstört, und viele Kameraden kamen auf „illegalem“ Weg. Wir waren überrascht, als Soldaten der amerikanischen und britischen Armee erschienen – Mitglieder des Haschomer Hazair, die in Deutschland stationiert waren. Sie dienten in den Truppen, welche die Todes- und Konzentrationslager befreit hatten, und waren unter den Ersten gewesen, die, abgesehen von den Betroffenen und den Tätern selbst, den Horror des von den Nazis und ihren Helfern betriebenen Massen97

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mords und der Vernichtung in seinem ganzen Ausmaß mit eigenen Augen gesehen hatten. Darüber hinaus nahmen Soldaten der Jüdischen Brigade teil. Die Nachricht von der anstehenden Konferenz hatte auch Ägypten erreicht. Dort arbeitete die Bewegung in der Illegalität, sodass keine Ausreisebewilligung zu bekommen war. Ihre Vertreter sandten aber einen ausführlichen Bericht über ihre Aktivitäten. Später traf ich einige der ägyptischen Kameraden in den Kibbuzim in Israel, die während und nach dem Krieg teilweise illegal nach Palästina ausgewandert oder dann legal nach Israel gekommen waren. Aus Tunis kam der neue Abgesandte, Yitzchak Louson.46 Insgesamt war die Bewegung während der Kriegszeit in Nordafrika in den Ländern, in denen jüdische Gemeinden existierten, im Untergrund aktiv gewesen – in Marokko, Tunis, Ägypten, Algerien. Dabei standen sie unter der Obhut der jüdischen Geheimorganisation Mossad. Zwar hatten schon einige zionistische und jüdische Tagungen nach Kriegsende stattgefunden, doch unsere Konferenz war die erste Zusammenkunft einer jüdischen Jugendbewegung nach der Schoah. Lea Weintraub und Henry Bulawko bemühten sich, der Konferenz eine breite öffentliche Wahrnehmung zu sichern. Am Eröffnungsabend waren dann auch tatsächlich Minister der französischen Regierung anwesend, ebenso Vertreter der Agence Juive in Paris. Ohne näher auf die Einzelheiten der Konferenz einzugehen, möchte ich doch auf einige Aspekte verweisen, die für die bis heute anhaltende historische Prüfung und Bewertung der zionistischen Aktivitäten kurz nach Kriegsende wichtig sein könnten. Als wir die Zusammensetzung der Teilnehmer sahen, versammelten wir am Vortag der Eröffnung die Emissäre der Bewegung in den verschiedenen Ländern. Wir fragten uns, wie wir einen Dialog zwischen Menschen, welche die Schoah durchlitten hatten, und den Abgesandten aus Palästina in Gang bringen sollten. Zunächst beschlossen wir, dass zwei Vorsitzende jede Sitzung leiten sollten. Es wurde ferner vereinbart, den ersten Tag den Berichten der Kameraden über „die Bewegung im Kampf“ in den verschiedenen Ländern zu widmen. Diese Überblicke bewegten uns tief, insbesondere als an Kameraden erinnert wurde, die in der Widerstandsbewegung gefallen oder in den Todesund Zwangsarbeitslagern ermordet worden waren. Beim Treffen mit der Delegation aus Polen, die aus Chasia Bielicka, Israel Szklarc und Josef Mendelowicz bestand, kamen die tiefe Trauer, aber auch die Erregung und die Gefühle von

46 Yitzchak Louson lebte im Kibbuz Dan (siehe dazu Anm. 98).

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An der Konferenz in Fontainebleau im Januar 1946 (von links nach rechts): Heini Born­ stein, Israel Szklarc, Chasia Bielicka, Josef Schatil (erster Gesandter des Haschomer Hazair in der Schweiz nach dem Krieg).

Würde und Stolz am stärksten zum Ausdruck.47 Dabei handelte es sich um meine erste Begegnung mit Chasia – und zugleich um den Beginn der persönlichen Beziehungen zwischen uns. Von besonderem Interesse war der Dialog zwischen Rafi Ben Schalom aus Ungarn und den Delegierten aus Polen, namentlich Israel Szklarc und Chasia. Rafi unterstrich die Rettungsbemühungen, während Israel und Chasia den bewaffneten Kampf hervorhoben. An dieser Debatte nahm auch Mordechai Rosmann teil, der die persönlichen Erlebnisse und das schwere Leben von Hunderten von Mitgliedern der Bewegung beschrieb, die in die Sowjetunion hatten flüchten können. Viele von ihnen hatten unter schwersten physischen Bedingungen in asiatischen Gegenden dahinvegetiert. Sie waren der rücksichtslosen, ja brutalen Überprüfung ihrer zionistischen Tätigkeit seitens der sowjetischen Geheimpolizei (NKWD) ausgesetzt gewesen und in Zwangsarbeitslagern in Sibirien inter47 Israel Szklarc war einer der Führer des Haschomer Hazair in Polen, Josef Mendelowicz hatte im Warschauer Ghettoaufstand 1943 mitgekämpft. Vgl. Chasia Bornstein-Bielickas Erinnerungen Mein Weg als Widerstandskämpferin.

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niert worden. Nach dem Krieg kehrten sie im Rahmen der Repatriierungsaktion nach Polen zurück, wo sie sofort mit der Erneuerung des Haschomer Hazair begannen. Rosmann befand sich bereits in einem DP-Lager bei München und war die leitende Persönlichkeit der interimistisch geschaffenen Bewegung des „Haschomer Hazair der Überlebenden in Deutschland und Italien auf dem Weg nach Palästina“. 1947 sollte er im Zusammenhang mit den Vorgängen um das Flüchtlingsschiff „Exodus“, das Juden illegal nach Palästina bringen wollte, und um die Internierung der Flüchtlinge in Lagern nahe Lübeck bekannt werden. Leon Uri brachte in seinem 1958 erschienenen Buch Exodus die Tragödie der jüdischen Flüchtlinge einer breiten Öffentlichkeit weltweit zur Kenntnis.48 In Fontainebleau gab ich selbst einen Bericht über die Hilfs- und Rettungsaktionen in und aus der Schweiz sowie eine Zusammenfassung der Aktivitäten der Delegation in Istanbul. Viele der Anwesenden kommentierten und betonten die Wichtigkeit unserer Tätigkeit, die Bedeutung der Hilfe, sei es finanziell, mit Lebensmittelpaketen, Geburtsscheinen oder den Versuchen, an Pässe zu kom48 Das Schiff „Exodus“ war 1927 als Vergnügungsdampfer „President Warfield“ gebaut worden. Ende 1946 wurde es von Agenten der Hagana und des Mossad gekauft und umgebaut. Anfang Juli 1947 nahm die „Exodus“ in der Nähe von Marseille 4515 jüdische Flüchtlinge auf, darunter zahlreiche Kinder. Der britische Geheimdienst überwachte das Schiff bereits, weil die Regierung möglichst keine Einwanderung nach Palästina mehr zulassen wollte. Dem Kapitän Ike Aronowicz und dem Kommandanten Jossi Harel gelang es jedoch, in das Mittelmeer zu entkommen. Dort folgten der „Exodus“ mehrere britische Kriegsschiffe. Kurz vor der Küste Palästinas wurde die „Exodus“ gestoppt und trotz heftiger Gegenwehr geentert. Neben vielen Verletzten waren vier Tote zu beklagen: ein britischer Soldat und drei jüdische Passagiere. Als die Briten Schusswaffen einsetzten, ordnete der Kommandant die Einstellung des Widerstandes an. Im Hafen von Haifa konnten die Verletzten in ein Krankenhaus gebracht werden. Die übrigen Passagiere kamen auf drei Deportationsschiffe, die sie – gemäß der „Operation Oasis“ – an ihren Herkunftsort Frankreich zurückbrachten. Aufgrund passiven Widerstandes der meisten Passagiere fuhren die Schiffe weiter und setzten jene Anfang September 1947 in Hamburg an Land. Von dort wurden sie gewaltsam in die Lager „Pöppendorf“ und „Am Stau“ in der Nähe Lübecks gebracht. Die Verhältnisse ähnelten den Bedingungen in Konzentrationslagern. Mordechai Rosmann (Rozman) leitete das jüdische Lagerkomitee. Er sorgte für Protestdemonstrationen, aber auch für ein funktionierendes Lagerleben. Aufgrund internationaler Proteste mussten die Passagiere schließlich freigelassen werden. Eine Anzahl schlug sich dann doch noch nach Palästina durch. Andere folgten nach der Staatsgründung Israels. Die Vorgänge um die „Exodus“ und deren Folgen trugen dazu bei, dass die britische Regierung beschleunigt ihr Mandat über Palästina aufgab und die Vereinten Nationen im Mai 1948 die Teilung des Landes in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen.

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men. Dabei wurden auch die direkten Rettungsaktionen in die Schweiz gewürdigt. Interessant war, dass nach Aussage einiger Delegierter gerade meine Briefe und die Informationen über die Geschehnisse in Palästina, die ich aus der Schweiz verschickt hatte, von erstrangiger Bedeutung gewesen waren. Nicht zuletzt hatten sie der Aufrechterhaltung der Moral in diesen schweren Stunden gedient. Obwohl ich damals noch nie in Palästina gewesen war, hatte ich, wie mir hier klar wurde, eine Brücke zwischen der Bewegung in Palästina und der belagerten Diaspora geschlagen. Gerade dieser Teil der Konferenz bewies, dass es nicht möglich und auch nicht gerechtfertigt war, die unterschiedlichen Aktivitäten während der Schoah und die Richtungen, die dabei eingeschlagen worden waren, antagonistisch einander gegenüberzustellen: Rettung oder Widerstand, Zurückbleiben bei den jüdischen Gemeinschaften oder Auswanderung nach Palästina, Kooperation mit anderen Organisationen oder ideologische und organisatorische Unabhängigkeit der Bewegung. Die Kameraden, die soeben aus der Hölle befreit worden waren, vertraten die Meinung, dass die Bedingungen so kompliziert und vielseitig waren, so verschieden von Land zu Land, sehr oft von Ort zu Ort in ein und demselben Land, dass es keinen Sinn machte, hier etwas zu verallgemeinern. Die Chaverim, die Kameraden, aus Polen erzählten, dass in jedem Ghetto besondere Bedingungen geherrscht hatten, sodass jeweils eine Anpassung der Aktivitäten erforderlich gewesen war. Die Anweisung, welche die Abgesandten aus Palästina nach dem Krieg mitbrachten, war eindeutig: Erneuerung der selbstständigen Organisation der Bewegung des Haschomer Hazair. Auch die Begründung dieser Richtlinie war klar: Solange keine Vereinigung der Kibbuzbewegungen und der Arbeiterparteien in Palästina erfolgte, war die Integration in den Kibbuzim von der Identifikation mit den jeweiligen erzieherischen Normen und der spezifischen Weltanschauung bestimmt. Tatsächlich hatten die verschiedenen Landesorganisationen schon vor der Konferenz diese Linie verfolgt. Aus den Berichten der Kameraden wurde deutlich, dass auch während des Krieges die Eigenständigkeit der einzelnen Bewegungen weitgehend aufrechterhalten worden war, trotz der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Kampfes in der Widerstandsbewegung. In meinen Briefen in die verschiedenen Länder hatte ich mich bereits zu dieser Problematik geäußert. Meine Verbindungen aus der Schweiz hatten vorrangig den Chaverim des Haschomer Hazair gegolten. Für sie waren die von mir initiierten und durchgeführten Rettungsaktionen bestimmt, so zum Beispiel die Flucht aller älteren Mitglieder der Bewegung aus Belgien in die Schweiz oder die Ret101

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tung des Kinderheims „Villa Emma“ aus Nonantola in Italien unter der Führung von Joschko Indig.49 Mit ihm stand ich während des ganzen Weges der Kinder aus dem eroberten Jugoslawien über die Villa Emma bis in die Schweiz in ständigem Kontakt. Des Weiteren waren für Adressen von Mitgliedern des Haschomer Hazair aus Polen fremde Pässe besorgt worden. Selbstverständlich hatte ich mich aktiv an all den Bemühungen schweizerischer und jüdischer Hilfsorganisationen, insbesondere in Genf, beteiligt. Als Mitglied der Rettungs- und Hilfskommission der Weltorganisation des Hechaluz hatte ich mich, wie bereits erwähnt, intensiv darum gekümmert, dass der Haschomer Hazair bei all den Initiativen und Hilfsmaßnahmen für die Pionierbewegungen in Europa nicht benachteiligt wurde. Ich hatte auch in engem Kontakt mit den Büros zionistischer Weltorganisationen in Genf gestanden und mit ihnen kooperiert. Dabei hatte ich oft selbst die Initiative ergriffen, nachdem mir bekannt geworden war, dass in den verschiedenen Ländern die Gelder, die von Istanbul und Genf überwiesen wurden, nach einem proportionalen „Schlüssel“ unter den Gruppen und Parteien verteilt wurden. Sogar bei den Kinderheimen für die Geretteten in der Schweiz war auf die Zugehörigkeit zur jeweiligen Bewegung Rücksicht genommen worden: In dem Dorf Bex gab es ein Heim des Haschomer Hazair, in Versoix hingegen für die Kinder aus der Dror- und Gordonia-Bewegung. 500 Mitglieder der Pionier-Jugendbewegungen, die mit dem Kasztner-Zug aus Ungarn in die Schweiz gekommen waren, wurden entsprechend zugeteilt. Nach dem Krieg nahmen die Bewegungen ihre Aktivitäten wieder auf. In Polen bildete die „Zionistische Koordination der Rettung jüdischer Kinder“, die 1946 gegrün49 In der „Villa Emma“ wurden 1942/43 73 Kinder sowie 13 Betreuerinnen und Betreuer untergebracht. Die Kinder kamen aus Deutschland, Österreich, Polen und Jugoslawien. Die Rettung dieser Kinder ging auf die Initiative Recha Freiers (1892–1984) im Rahmen der Jugend-Alija zurück. Der junge Zionist Joško (Joschko) Indig (später Josef Itai), Leiter des Haschomer Hazair in Zagreb, hatte die Einreisegenehmigung nach Italien erwirkt und organisierte dann auch zusammen mit anderen, dass die Kinder versteckt wurden und schließlich in die Schweiz fliehen konnten, als im September 1943 ihre Verhaftung durch die Deutschen drohte. Einer der Helfer, Goffredo Pacifici (geb. 1900), kehrte aus der Schweiz nach Italien zurück, um weitere Flüchtlingstransporte zu organisieren. Bei einem wurde er im Dezember 1943 verhaftet und in Auschwitz umgebracht. Indig wanderte mit den meisten geretteten Kindern 1945 nach Palästina aus. Später veröffentlichte er darüber ein Buch, das auch ins Deutsche übersetzt wurde: Josef Indig: Joškos Kinder. Flucht und Alija durch Europa. 1940–1943. Josef Indigs Bericht. Hg. von Klaus Voigt. Berlin 2006.

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det worden war, die Dachorganisation aller Bewegungen, die Erzieher und Begleiter wurden jedoch von den jeweiligen Bewegungen bestimmt. So wählte der Haschomer Hazair Chasia Bielicka zur Leiterin des ersten Kinderheims in Lodz. Unsere europäische Konferenz, die nur wenige Monate nach dem Krieg stattfand, war ein Beweis für die Lebenskraft der Bewegung und ein Zeugnis für die Fortsetzung ihrer Tätigkeit. Den Erklärungen der Mapai, die eine „Einheit“ aller Bewegungen forderte, lagen klare politische Bestrebungen zugrunde, den Haschomer Hazair aufzulösen. Sogar in der militärischen Formation der Jüdischen Brigade wurde eine „Zentrale für die ‚überlebende Diaspora‘“ gebildet, deren Leitung aus Vertretern der verschiedenen Kibbuzorganisationen bestand. Einige Teilnehmer der Konferenz in Fontainebleau und Mitglieder der lokalen Gruppen der Bewegung schlugen vor, die Pionierbewegungen zu vereinigen, und wollten die ersten Schritte dazu gerade in der Diaspora unternehmen. An ihrer Spitze stand Abba Kovner, der Anführer der jüdischen Widerstands- und Partisaneneinheiten. Dies führte zu einer Kontroverse mit der Führung der Bewegung in Palästina. Die Angelegenheit war kompliziert und delikat. In Fontainebleau eröffnete Simcha Flapan, einer der wenigen zentralen Funktionäre des Kibbuz Arzi, die Debatte. Bisher nicht mit den Problemen der Haschomer-Hazair-Jugendbewegung im Ausland bekannt, konnte er keine spezifischen Antworten auf die Anklagen der Kameraden aus den europäischen Ländern geben. Hauptsächlich wurde der Vorwurf erhoben, die Führung habe das umfassende Unglück nicht verstanden und auch nicht rechtzeitig Mittel und Wege gesucht, um der im Untergrund kämpfenden Bewegung Hilfe zu leisten. Sofern solche gekommen sei, sei es zu spät gewesen. Flapan versuchte, dies mit der Lage der jüdischen Gemeinschaft in Palästina zu erklären, die sich bis Ende 1942 der realen Gefahr einer Eroberung Palästinas durch die deutsche Armee gegenübergesehen habe. Er verwies auf das Verhalten der britischen Regierung, die bis zu den letzten Kriegsjahren Vorschläge der Jewish Agency und der Hagana, militärische Einheiten des jüdischen Yishuv in Palästina für den aktiven Kriegsdienst zu bilden, immer wieder zurückgestellt habe. Der beschränkte Einsatz palästinensischjüdischer Agenten, die mit dem Fallschirm, teilweise auch auf dem Land- oder Seeweg in einige der besetzten Gebiete geschickt worden seien, habe im Herbst 1943 begonnen, und erst im Juli 1944 sei die Jüdische Brigade mobilisiert worden. In den politischen zionistischen Institutionen habe zudem die führende Mapai-Partei versucht, die Aktivitäten des Haschomer Hazair einzuschränken. 103

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So habe Menachem Bader erst im Januar 1943 seine Mission in Istanbul beginnen können. Zu dieser Zeit sei das polnische Judentum bereits mit seiner umfassenden Vernichtung konfrontiert und die Bewegung im Untergrund mit den Vorbereitungen der Ghettoaufstände beschäftigt gewesen. Die Delegation in Istanbul habe daher nicht mehr viel für die Juden in Polen und den anderen osteuropäischen Ländern unternehmen können. Doch die Kameraden konnten diese Argumente nicht akzeptieren. Sie hatten sich „innerhalb der Mauern“ ihrem Schicksal überlassen gefühlt. Einige Monate nach der Befreiung und dem „Heraustreten aus den Bunkern“ waren die schrecklichen Erlebnisse noch lebhaft in ihrem Bewusstsein, sodass die rationalisierenden Begründungen Flapans sie nicht überzeugen und die Gefühle eines „historischen Debakels“, wie es in dieser Debatte zum Ausdruck kam, zerstreuen konnten. Trotz dieser Unmöglichkeit, hier ansatzweise zu einer Übereinstimmung zu kommen, waren dieser Meinungsaustausch und das unmittelbare Treffen mit den Abgesandten aus Palästina äußerst wichtig. Persönlich war ich sehr bewegt, als die Kameraden aus unterschiedlichen Ländern unterstrichen, dass der Kontakt mit uns in der Schweiz für sie die Brücke zu der Bewegung gewesen war. Tatsächlich hatte ich meine Briefe, Meldungen und auch die Lebensmittelpakete oft mit „Yaari“ – der Name des Führers der Bewegung diente als Deckname in der Illegalität – gezeichnet, sodass die Empfänger mich sofort mit der Bewegung identifizieren konnten. In den Tagen der Konferenz waren die Kameraden aus den verschiedenen Ländern damit beschäftigt, ihre Aktivitäten auf allen erzieherischen, gesellschaftlichen und politischen Gebieten zu erneuern. Die dringendste Aufgabe war die Alija nach Palästina. Es hatte sich gezeigt, dass die Losung „Einmal Schomer – immer Schomer“50 die schmerzhaften Gefühle der Erinnerungen und Erfahrungen der Vergangenheit überwog. Die Wirklichkeit forderte Antworten, hier und jetzt, im Lichte der Vision, der die Anhänger der Bewegung trotz aller durchlittenen Gefahren und Ängste treu geblieben waren. Alle Sprecher in der Schlusssitzung der Konferenz bezeichneten sie als eine historische Station des Neubeginns, die – so kurze Zeit nach der Katastrophe – die Wiederauferstehung der Bewegung und die Fortsetzung ihres Weges markiere.

50 Eine Anspielung auf den Namen der Organisation Haschomer Hazair: „Der Junge Wächter“.

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Organisation und Erneuerung Mordechai Ben Tov spielte in der Bewegung eine besondere Rolle. Ich habe schon seinen wichtigen Beitrag an der Spitze der Redaktion beschrieben, die das Konzept des binationalen Staates verfasste, das 1936 der Peel-Kommission vorgelegt wurde. Ben Tovs Einfluss war besonders zwischen 1946 und 1948 herausragend, als der Haschomer Hazair sich mit den neuen Bedingungen auseinandersetzen musste und die internationale Gemeinschaft gezwungen war, eine konkrete Lösung für die Zukunft Palästinas zu beschließen. Am 31. August 1947 präsentierte die „Sonderkommission der Vereinten Nationen für Palästina“ (UNSCOP) einen Bericht, der den Vorschlag einer Teilung Palästinas in zwei unabhängige Staaten enthielt. Ben Tov vertrat den Haschomer Hazair in der Sonderkommission der Jewish Agency, die in New York zusammenkam, um ihre Stellungnahme zu den Vorschlägen der Generalversammlung der UNO zu formulieren. An seiner Seite stand Aharon Zisling von der Partei Achdut Haawoda, die nach dem Austritt der linken Opposition aus der Mapai gegründet worden war. Es wurde beschlossen, zwei Subkommissionen zu bilden. Dabei machte es bereits keinen Sinn mehr, den Vorschlag eines binationalen Staates vorzubringen. Die Vertreter der Jewish Agency in New York besprachen mögliche Änderungen innerhalb des Vorschlags der UNO. Es gelang Ben Tov, ein Kapitel „Wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Staaten“ dem Entwurf der UNO-Kommission beizufügen. Auch Zisling war mit diesem Schritt einverstanden. In diesem Stadium bemühten sich die Vertreter der Jewish Agency und die Führung des amerikanischen Judentums massiv, so viele Staaten wie möglich davon zu überzeugen, für den Vorschlag der UNO-Kommission und die Schaffung eines jüdischen Staates zu stimmen. Damit war klar, dass sich der Kampf im Grunde genommen ausschließlich um eine jüdische Staatsgründung drehte. Ben Tov legte der Führung nachdrücklich dar, dass unter den politischen Verhältnissen in New York keine Möglichkeit bestand, eine Alternative zum Teilungsplan zu erzwingen. Alle Anstrengungen zielten darauf ab, eine Zweidrittelmehrheit zur Schaffung eines jüdischen Staates in einem Teil von Palästina zusammenzubekommen.51 51 Als einführende Werke in die Geschichte Palästinas und Israels seien hier nur genannt (mit weiteren Literaturhinweisen): Peretz Merchav: Die israelische Linke. Zionismus und Arbeiterbewegung in der Geschichte Israels. Frankfurt a. M. 1972; Moshe Zimmermann: Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion. Berlin 1996; Helmut Mejcher: Sinai, 5.

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Zum damaligen Zeitpunkt war ich bereits in Palästina und nahm an den Tagungen des Aktionskomitees der Kibbuz-Arzi – Haschomer-Hazair-Bewegung teil. Mehr und mehr wurde uns bewusst, dass wir uns an der allgemeinen politischen Kampagne in den Vereinigten Staaten und in den Hauptstädten der Welt beteiligen mussten, um eine Mehrheit in der Generalversammlung der UNO zu gewinnen. Diese Ansicht vertrat auch Yaakov Riftin, der zum Mitglied der Delegation der Jewish Agency bei der Generalversammlung gewählt wurde. Er konzentrierte sich in seinen Bemühungen besonders auf die Staaten des sowjetischen Machtbereichs und suchte sie davon zu überzeugen, für die Schaffung eines jüdischen Staates zu stimmen. Dabei konnte er die Kontakte des Haschomer Hazair zu sozialistischen und kommunistischen Parteien nutzen. Das Hauptaugenmerk lag hier auf der Stellungnahme der Sowjetunion. Im April 1946 war eine Delegation des Haschomer Hazair in die Schweiz gereist, um den Anführer der Partei der Arbeit, der Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei der Schweiz, Edgar Woog davon zu überzeugen, in Moskau für unseren Standpunkt einzutreten. Ich bereitete diese Zusammenkunft vor, an der Yaakov Riftin, Mordechai Oren, Israel Barsilai und ich teilnahmen. Der Kern unserer Argumentation bestand darin, dass das Ende des britischen Mandats in Palästina den politischen Interessen der Sowjetunion entspreche. Zudem müsse deren Führung die Schoah in ihrer Stellungnahme berücksichtigen. Tatsächlich wurden diese Grundsätze später in der offiziellen Erklärung des sowjetischen Botschafters Gromyko in der Generalversammlung der UNO erwähnt, die für die israelische Staatsgründung entscheidend war. Yaakov Riftins Anstrengungen, eine Zweidrittelmehrheit in der Abstimmung der Generalversammlung zu erzielen, mag dazu beigetragen haben. Auf jeden Fall waren diese Bemühungen des Haschomer Hazair ein deutlicher Beweis für seinen Richtungswechsel. Die politischen Entscheidungen des Yishuv über die Verwirklichung des jüdischen Staates wurden in der nach Proporz besetzten Minhelet Haam, der „Volksleitung“ als der vorstaatlichen Interimsregierung des zukünftigen Staates, diskutiert. Sie bestand aus 13 Abgeordneten aller zionistischen Parteien, darunter Mordechai Ben Tov und Aharon Zisling als Vertreter der im Januar 1948 durch den Zusammenschluss des Haschomer Hazair und des Achdut Haawoda gegründeten Mapam, der Vereinigten Arbeiterpartei. Am 13. Mai 1948 beschloss Juni 1967. Krisenherd Naher und Mittlerer Osten. 2. Aufl. München 1999; Dietmar Herz, Julia Steets: Palästina. Gaza und Westbank. Geschichte, Politik, Kultur. 3. Aufl. München 2002; Carsten Schliwski: Geschichte des Staates Israel. Stuttgart 2012.

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die Volksleitung die Gründung des jüdischen Staates. Der 15. Mai 1948 wurde als der Tag festgelegt, an dem das britische Mandat enden und der Rückzug der britischen Truppen beginnen sollte. Der Beschluss wurde mit einer Mehrheit von sechs zu vier Stimmen angenommen. Dabei waren die zwei Stimmen der Mapam entscheidend für die Gründung des Staates Israel – zum zweiten Mal waren die Stimmen des Haschomer Hazair bzw. jetzt der Mapam für eine zukunftsweisende Entscheidung ausschlaggebend, die ihrem früheren Grundsatz eines binationalen Staates widersprach. Diese „Inkonsequenz“ in der Realisierung der Weltanschauung war nicht die einzige in der Geschichte des Haschomer Hazair und seiner Kibbuzbewegung. Sie wiederholte sich in den Beziehungen zur Sowjetunion, zu Stalin und der „Welt von morgen“. Man kann hier auch den Übergang zur „Privatisierung“, also zur Differenzierung der Einkommen in den sich „erneuernden“ Kibbuzim hinzufügen – spätere Entwicklungen, auf die ich noch zurückkommen werde. Die Entscheidung, die Schaffung eines jüdischen Staates zu unterstützen, bedeutete jedoch keine Änderung der grundlegenden Einstellung zum „arabischen Problem“, kein Abrücken von der Anerkennung der legitimen nationalen Rechte der Araber. Noch während der Wahlkampagne zum 22. Zionistenkongress, der im Dezember 1946 in Basel zusammentrat, hatte ich in Vorträgen und Artikeln nachdrücklich mit der politischen und gesellschaftlichen Logik eines binationalen Staates argumentiert. 1948 rechtfertigte ich dann angesichts der politischen Realität die Entscheidung unserer Partei. In den Jahren davor hatten viele Tagungen und Sitzungen ihrer Gremien in Europa und mehrfach in Basel oder anderen Städten der Schweiz stattgefunden, entsprechend hatte ich die Entwicklungen aus der Nähe verfolgen und meine Einstellung festigen können. Ich war und bin der Meinung, dass die Führung der Bewegung in ihrer Zustimmung für einen selbstständigen jüdischen Staat Mut und Verantwortung bewiesen hat. In meiner Korrespondenz mit den Kameraden im besetzten Europa hatte ich sie besonders gegen Ende des Krieges über die Diskussionen in der WZO und die Stellungnahmen des Haschomer Hazair informiert. Darunter hatte sich auch ein umfassender Bericht über eine Landeskonferenz der amerikanischen Zionisten befunden, die im Mai 1942 im Hotel „Biltmore“ in New York zusammengetreten war. David Ben-Gurion, damals Vorsitzender der Jewish Agency, stellte hier zum ersten Mal sein Programm zur Bildung eines selbstständigen „Jewish Commonwealth“ als das aktuelle politische Ziel der WZO zur Diskussion. Trotz der mit Absicht gewählten unklaren Terminologie war deutlich, dass 107

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in Wirklichkeit die Gründung eines jüdischen Staates in einem Teil Palästinas gemeint war. Nachdem die amerikanische Landeskonferenz das „BiltmoreProgramm“ angenommen hatte, wurde es im November 1942 dem Zionistischen Aktionskomitee zur Diskussion vorgelegt. Obwohl eine Minderheit, darunter der durch Yaakov Chasan vertretene Haschomer Hazair, dagegen stimmte, wurde Ben-Gurions Programm satzungsgemäß zum politischen Ziel der WZO erklärt. Zu dieser Zeit standen unsere Kameraden im besetzten Europa im Kampf ums Überleben, aber mit dem Vormarsch der Roten Armee und der Invasion der Alliierten in der Normandie zeigte sich ein Licht am Horizont. Überlegungen über „den Tag danach“ gewannen an Aktualität. Wahrscheinlich gab es in dieser Atmosphäre wenig Verständnis für die theoretische Diskussion über einen binationalen Staat. Nach Kriegsende galt dann alle öffentliche Aufmerksamkeit dem Schicksal der geretteten Überlebenden, von denen viele Zehntausend in den DP-Lagern der UNRRA und UNO in Deutschland und Italien um ihre Zukunft bangten. Die Hoffnung, die Länder der Welt würden den Massen von Juden, die durch ganz Europa wanderten, ihre Tore öffnen, erfüllte sich nur in äußerst beschränktem Maße. Auch die Tore Palästinas waren weitgehend verschlossen. Das „Weißbuch“ der britischen Regierung von 1939 hatte die Einwanderungsquote auf 75.000 Juden innerhalb von fünf Jahren begrenzt. So stand auf der Konferenz der WZO 1945 in London und auf dem Zionistenkongress 1946 in Basel der Kampf gegen das „Weißbuch“ im Mittelpunkt der Beratungen. In persönlichen Gesprächen mit unseren Delegierten zum Kongress gewann ich den Eindruck, dass ihrer Meinung nach nur ein selbstständiger jüdischer Staat in der Lage sei, „hier und jetzt“ eine Antwort auf die Nöte der Schoah-Überlebenden zu geben. Für die schwierige Suche nach einer langfristigen Lösung fehle jetzt die Zeit. Sie forderten vielmehr, alle Anstrengungen zu unternehmen, um eine unmittelbare internationale Entscheidung für die „Unabhängigkeit“ zu erreichen. Ich bin überzeugt, dass diese Einstellung einen großen Einfluss auf die Führung der Haschomer-Hazair-Bewegung ausübte, sich bei der „Deklaration der Unabhängigkeit“ sowie in der Frage der Emigration nach Palästina auf die Seite Ben-Gurions zu stellen. Im August 1946 reiste ich nach München. In Deutschland lebten Zehntausende von Flüchtlingen in den UNRRA-DP-Lagern, unter ihnen Hunderte von Kameraden des Haschomer Hazair, Überlebende der Schoah. Die Bewegung entwickelte eine intensive erzieherische Tätigkeit. Mordechai Rosmann empfing mich, und zusammen besuchten wir verschiedene Lager. Die bereits erwähnte Organisation „Haschomer Hazair der Überlebenden“ führte in den DP-Lagern 108

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erzieherische und soziale Maßnahmen sowie organisatorische Vorbereitungen für die Auswanderung nach Palästina durch. Dabei spielte sich zwischen den verschiedenen Bewegungen ein Kampf um die sogenannten Zertifikate ab. Die Vertreter der Mapai taten alles, um ihren Mitgliedern diese Einreisebewilligung zu verschaffen, und benachteiligten die Kandidaten des Haschomer Hazair. Ich versprach diesen, die Verteilung der Zertifikate im Palästinaamt in Genf zu überprüfen. Mein Plan war, von Deutschland nach Prag und von dort nach Bratislava zu fahren, um an einer osteuropäischen Konferenz des Haschomer Hazair teilzunehmen, und bat die Kameraden, mich auf den Wegen der Bricha, der Fluchtorganisation, nach Prag zu bringen – ich wollte den illegalen Fluchtwegen folgen, auf denen Tausende von Juden von Polen über die Tschechoslowakei nach Deutschland und von dort zu einem Mittelmeerhafen in Frankreich oder Italien zogen, um auf einem – meistens ebenfalls illegalen – Schiff die Küste Palästinas zu erreichen. So ging ich stundenlang in Begleitung von zwei Kameraden, die mich führten, bis wir zur Grenze kamen. Die Grenze überschritt ich ganz offiziell, denn ich wollte einen Einreisestempel in meinem Pass, wobei sich mein Rot-Kreuz-Ausweis als nützlich erwies. Bald erreichte ich Stettin, wo ich den Zug nach Prag nahm und von dort nach Bratislava weiterreiste. Am 28. August 1946 begann die Konferenz in Bratislava. Dies war eine bedeutungsvolle Zusammenkunft. Die Konferenz im Januar 1946 in Frankreich hatte unter den dunklen Schatten der Schoah gestanden und war die erste Tagung der Führerschaft der Bewegung gewesen, die aus den Trümmern Europas wiederauferstanden war. Im August 1946 galt es nun schon, sich auf die Restauration der Diaspora zu beziehen und die Stellung der Bewegung in den überlebenden jüdischen Gemeinden zu klären. Meine Teilnahme an dieser Konferenz war insofern von Belang, als ich der einzige Delegierte aus Westeuropa war und somit eine Art „Brücke zur offenen Welt“ darstellte. Die Anwesenheit von Meir Yaari verlieh der Konferenz darüber hinaus eine grundlegende Autorität. Ich hatte eine persönliche Unterredung mit Yaari. Er erinnerte sich dunkel an mich von den Kongressen vor dem Krieg, und wir sprachen über meine Tätigkeit während der Schoah. Ich verschwieg keineswegs meine tiefe Frustration darüber, wie sich die Führung der Bewegung in Palästina in dieser Situation verhalten hatte, beschrieb ihm vor allem die Lage in der Schweiz nach dem Kongress von 1939 und nannte es einen schweren Fehler der Bewegung, die Hechaluz-Weltzentrale in Genf einseitig dem Emissär der zur Mapai gehörenden Jugend-Kibbuzbewegung Gordonia Nathan Schwalb überlassen zu haben. Ich 109

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erinnerte ihn an seinen Brief, an seine Reaktion auf die Anleihen, die ich ohne Vollmacht im Namen des Kibbuz Arzi in der Schweiz aufgenommen hatte, um Geld an unsere Kameraden in den besetzten Ländern zu senden. Damals hatte er nach Genf geschrieben: „Wir sind nicht der ‚Joint‘“, womit er auf das vereinigte jüdisch-amerikanische Hilfskomitee angespielt hatte. Auch sonst berichtete ich ihm über die Hilfs- und Rettungsmaßnahmen, die ich durchgeführt hatte oder an denen ich beteiligt gewesen war, und er fand nun im Rückblick lobende Worte für meine Initiative. Meine Argumente waren nicht neu für ihn. Menachem Bader hatte Yaari bei seinen Routinebesuchen in Palästina zwischen 1943 und 1945 über die Tätigkeit in der Schweiz informiert. Ich hatte auch Kopien meiner Korrespondenz mit den führenden Kameraden in den besetzen Länder an Bader geschickt, und dieser hatte sie mitgenommen, um sie Yaari und den entsprechenden Verantwortlichen in der Leitung der Bewegung zu übergeben. Darüber hinaus hatten sie auch Kenntnis von meinen Besprechungen mit den Soldaten der Jüdischen Brigade, dem Treffen in London und allen Vorbereitungen zur Konferenz in Fontainebleau Anfang 1946 gehabt. Jetzt fand Yaari nur Worte der Anerkennung für meine Position und meine Aktivitäten während der Kriegsjahre: „Ich konnte aus dem Material, das wir in der Zentralleitung erhielten, erkennen, dass du aus eigener Initiative und mit eigener Intuition an einem wesentlichen Brennpunkt der ums Überleben kämpfenden Bewegung zur Seite standest.“ Er war bewegt, als ich ihm erzählte, dass ich häufig Briefe, die ich mit Kurieren von der Schweiz in die verschiedenen Länder sandte, mit dem Namen „Yaari“ unterzeichnet hatte – als ein Zeichen, dass die Bewegung sie nicht verlassen hatte. Bader schrieb mir nach einem Besuch in Palästina, Yaari habe ihn gefragt, ob die Kameraden in den Ghettos und im Untergrund gewusst hätten, dass es Bader und mich gegeben habe und wir im Namen der Bewegung gehandelt hätten. Yaari sagte mir, dass Mordechai Oren aufgrund seiner persönlichen Bitte Genf 1940 verlassen hatte. Meines Wissens hatte die Leitung in Palästina seiner Abreise zugestimmt. Im Verlauf dieser Besprechung, an der zeitweise auch Israel Barsilai teilnahm, erklärte Yaari, dass die Handlungsmöglichkeiten für die Führung der jüdischen Instanzen begrenzt gewesen seien, da alles von der Bestätigung und Kooperation der alliierten Regierungen abgehangen habe. Dadurch hätten sich die Bildung der Jüdischen Brigade und auch die Operation der jüdischen Fallschirmspringer hinter den Frontlinien in den besetzten Gebieten verzögert. Hilfs- und Rettungsinitiativen, etwa der Juden in Ungarn, hätten infolge des Vetos der Alliierten nicht ausgeführt werden können. Zudem hätten innere Schwierigkeiten 110

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die Positionen der Bewegung erschwert. Die Mapai-Mehrheitspartei habe alles unternommen, den Einfluss des Haschomer Hazair so gering wie möglich zu halten. So habe sie lange Zeit die Bestätigung der Mission Baders in Istanbul verhindert, und so sei er wirklich zu spät gekommen. Yaari unterstrich, dass wir an allen Aktionen der jüdischen Gemeinschaft teilgenommen hatten, an jeder Mission und jeder Aufgabe, so auch an der Delegation nach Teheran, wohin Hunderte von Flüchtlingen und Kindern gerettet worden waren. Er betonte, dass die Bewegung während dieser schicksalsschweren Jahre in der Geschichte des jüdischen Volkes in ganz Europa ein heroisches und ehrenvolles Kapitel geschrieben habe, und sah in diesem Verhalten der Kameraden den historischen Beweis, dass der Weg des Haschomer Hazair – die Förderung humanistischer Werte von jungen Jahren an – sich bewährt habe. Seine Kameraden hätten eine harte Prüfung in dem ums Überleben kämpfenden Judentum in Europa bestanden. Alle seien sie noch jung gewesen, als sie vor schwerwiegenden Entscheidungen an der Spitze der Widerstandsbewegung oder im Zuge von Hilfsaktionen gestanden hätten. Später habe ich in meinem Buch Insel Schweiz das Verhalten der Führung der Bewegung während der Schoah scharf kritisiert, und auch jetzt, nachdem viele Forschungsarbeiten über dieses Thema veröffentlicht worden sind, ändere ich meine Meinung nicht. Allerdings scheint es, dass die Probleme tiefer lagen und komplizierter waren, als man es damals erkennen und berücksichtigen konnte. Menachem Bader seinerseits teilte meine Einschätzung, und auch er gab seiner tiefen Frustration öffentlichen Ausdruck. Trotzdem ist es heute angebracht, der grundlegenden These zuzustimmen, dass die jüdische Gemeinschaft in Palästina der Vernichtung des europäischen Judentums machtlos gegenüberstand. Die Alliierten waren der Auffassung, dass die brutalen Maßnahmen der Deutschen nur mit einer bedingungslosen Niederlage der deutschen Truppen und dem totalen Zusammenbruch des Nazi-Systems in Europa zu einem Ende kämen, und die Versuche der zionistischen Führung, an dieser Einstellung mit Verweis auf die Konsequenzen etwas zu ändern, hatten geringen Erfolg. Die erforderlichen Hilfs- und Rettungsaktionen größeren Umfangs hätten nur mit Zustimmung und Unterstützung der alliierten Regierungen ausgeführt werden können.52 Die Verhandlungen mit Kasztner oder die Bombardierung von Ausch52 Vgl. hierzu etwa David S. Wyman: Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt a. M. 2000. Siehe auch die Erinnerungen von Jan Karski (Anm. 32).

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witz fanden diese Zustimmung nicht. Heute kann man natürlich die zionistische Politik vor und während der Schoah in einem weiteren Zusammenhang prüfen, doch ich beschränkte mich in meinen Einschätzungen auf die Beschreibung der Lage, wie sie sich in Genf in diesen Jahren widergespiegelt hatte. Auf der Konferenz in Bratislava im August 1946 referierte ich über die Hilfsund Rettungsaktionen in Europa während der Kriegszeit. Da Menachem Bader nicht zu der Konferenz kommen konnte, erweiterte ich meinen Bericht auch auf die Tätigkeit der Delegation in Istanbul. Ich konzentrierte mich besonders auf die Aktivitäten des Haschomer Hazair. Bei der Konferenz waren auch Kameraden zugegen, die während des Krieges meine Kontaktpersonen in den besetzten Ländern gewesen waren, andere hatten die Schoah in der Sowjetunion überlebt. Sie alle waren sich des Umfangs und der Vielfalt der Hilfsaktionen, die von Genf und Istanbul aus durchgeführt worden waren, nicht bewusst. Der zweite Teil der Konferenz war politischen Fragen gewidmet, etwa der Organisation des Haschomer Hazair als zionistische Bewegung unter den kommunistischen Regimen. Der Schwerpunkt lag auf der Debatte über die Richtlinien der Aktivitäten angesichts der Bedingungen, die derzeit in Europa existierten. Einerseits gab es Zehntausende von Flüchtlingen in den DP-Lagern – alle, die es wollten, wurden zu den Mittelmeerhäfen geführt mit dem Ziel, illegal nach Palästina einzuwandern. Anderseits überlebte eine nicht geringe Zahl von Juden die Schoah in Lagern sowie in ihren früheren Wohnländern oder sie kehrten dorthin zurück, so auch Juden, die sich in die Sowjetunion hatten retten können. Die Aktivisten der Bewegung waren in erzieherischer Arbeit im Rahmen der Restauration jüdischen Lebens tätig. Die Konferenz formulierte entsprechend die Richtlinien der Bewegung: den Anspruch, die Ersten bei den „Gehenden“ – also denen, die nach Palästina gingen – und die Letzten bei den „Bleibenden“ zu sein – also denjenigen, die die Diaspora nicht verließen. An der Konferenz beteiligte sich auch Israel Barsilai, der damals in besonderer Mission in Polen weilte. Er analysierte die politische Situation in Polen nach der Befreiung und ging auf die Prinzipien der Haltung des Haschomer Hazair gegenüber dem neuen kommunistischen Regime ein. Nach Abschluss der Konferenz fuhr ich nach Prag und von dort im Zug nach Warschau. Ich war im Besitz eines Ausweises des Roten Kreuz, was mir die Reisevorbereitungen erleichterte. So wurde mir ein Platz in der ersten Klasse reserviert; in den anderen Klassen herrschte starkes Gedränge, und es fuhren dort auch nicht selten zweifelhafte Elemente mit, Antisemiten. Man machte mich darauf aufmerksam, dass im Nachkriegspolen weiter eine antisemitische Atmo112

Organisation und Erneuerung

Heini Bornstein 1946 in den Trümmern des Warschauer Ghettos.

sphäre herrsche. „Wie bist du am Leben geblieben?“, fragte man Juden, insbesondere in der ländlichen Provinz. In Warschau empfingen mich Israel Szklarc und Chaika Grossman, und Israel begleitete mich während meines ganzen Aufenthaltes in Warschau. Ich besuchte die Überreste des letzten Bunkers der Widerstandskämpfer während des Ghettoaufstandes in der Miła-Straße 18, wo Mordechai Anielewicz und seine Kameraden den Tod gefunden hatten; heute steht dort eine Gedenkstätte. In Warschau schlief ich in der Wohnung der „Kommune“ der Leitung des Haschomer Hazair in der Narutowicz-Straße. Hier schloss sich ein Kreis, denn während des Krieges hatte ich an diese Adresse Lebensmittelpakete gesandt. Ich hatte viele persönliche Bekannte unter den Kameraden in den verschiedenen Ländern, die den Krieg und die Schoah überlebt hatten, und stand mit ihnen in Verbindung. Das traf auch auf Warschau zu, und ebenso auf die Delegierten aus Palästina, die Ende 1945 und während des Jahres 1946 nach Europa gekommen waren, nach Polen, Ungarn, in die Tschechoslowakei und in andere Länder. Von Warschau fuhr ich mit einigen führenden Kameraden zur Tagung der Exekutivversammlung der polnischen Bewegung, die auf einem Bauernhof in der Nähe der Stadt Będzin in Oberschlesien stattfand, die zwischen 1939 und 1945 Bendsburg geheißen hatte. Ich kehrte danach für weitere zwei Tage nach Warschau zurück. Chaika arrangierte einige Treffen für mich, besonders mit den Vertretern des Joint, die über meine Beziehung zu Saly Mayer, dem Vertre113

Meir Yaari und Yaakov Chasan

ter des Joint in der Schweiz, informiert waren und mich baten, ihn persönlich über meine Eindrücke von Polen zu informieren. Ich betonte bei den Treffen die Probleme der neu eröffneten Waisenheime für jüdische Kinder und die Vorbereitung junger Menschen für ihre Auswanderung nach Palästina. Später hatte ich nach meiner Rückkehr in die Schweiz eine ausführliche Besprechung mit Saly Mayer in dessen Büro in St. Gallen. Er stand meiner Bitte positiv gegenüber und überwies eine hohe Summe nach Polen für erzieherische Ziele und „produktive“ Maßnahmen. Dank meines Rot-Kreuz-Ausweises konnte ich in einem Flugzeug des Roten Kreuzes von Warschau nach Genf fliegen. Ende August ging ich zurück nach Basel und wohnte wiederum in der Wohnung meiner Eltern – bis zu meiner Auswanderung nach Palästina im Mai 1947. Von Ende August 1946 an war ich mit den Vorbereitungen verschiedener Veranstaltungen der Haschomer-HazairFraktion für den im Dezember stattfindenden Zionistenkongress beschäftigt. Außerdem hatte ich viel mit der Organisation der Auswanderung von Kinderheimen und sonstigen Jugendlichen nach Palästina zu tun.

Meir Yaari und Yaakov Chasan An dieser Stelle wende ich mich einem sehr spezifischen Phänomen in der Geschichte des Haschomer Hazair zu. Ich beschränke mich dabei auf meine persönlichen Eindrücke. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass diese in hohem Maße auf die Struktur, die Mentalität und die operativen Aktivitäten der Bewegung rückschließen lassen. Vielleicht sagen sie deshalb einiges allgemein über die Rolle der führenden Persönlichkeiten und ihre Beziehungen untereinander aus. Die Bewegung des Haschomer Hazair wurde jahrzehntelang von einem „Duo“ aus zwei hervorragenden Persönlichkeiten geführt, das gleichzeitig die erzieherischen und ideologisch-politischen Aufgaben sowie das öffentliche Auftreten der Bewegung bestimmte: Meir Yaari und Yaakov Chasan. Formell hatten sie verschiedene Positionen inne, jedoch nach Prestige und Autorität galten sie als gleichwertig. Von den ersten Jahren der Jugendbewegung, der Gründung der gesonderten Kibbuzbewegung Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair an bis zu deren Heranwachsen zu einer öffentlich anerkannten und viel diskutierten ideologischen Strömung innerhalb der WZO und einer politischen Partei in Palästina 114

Meir Yaari und Yaakov Chasan

ter des Joint in der Schweiz, informiert waren und mich baten, ihn persönlich über meine Eindrücke von Polen zu informieren. Ich betonte bei den Treffen die Probleme der neu eröffneten Waisenheime für jüdische Kinder und die Vorbereitung junger Menschen für ihre Auswanderung nach Palästina. Später hatte ich nach meiner Rückkehr in die Schweiz eine ausführliche Besprechung mit Saly Mayer in dessen Büro in St. Gallen. Er stand meiner Bitte positiv gegenüber und überwies eine hohe Summe nach Polen für erzieherische Ziele und „produktive“ Maßnahmen. Dank meines Rot-Kreuz-Ausweises konnte ich in einem Flugzeug des Roten Kreuzes von Warschau nach Genf fliegen. Ende August ging ich zurück nach Basel und wohnte wiederum in der Wohnung meiner Eltern – bis zu meiner Auswanderung nach Palästina im Mai 1947. Von Ende August 1946 an war ich mit den Vorbereitungen verschiedener Veranstaltungen der Haschomer-HazairFraktion für den im Dezember stattfindenden Zionistenkongress beschäftigt. Außerdem hatte ich viel mit der Organisation der Auswanderung von Kinderheimen und sonstigen Jugendlichen nach Palästina zu tun.

Meir Yaari und Yaakov Chasan An dieser Stelle wende ich mich einem sehr spezifischen Phänomen in der Geschichte des Haschomer Hazair zu. Ich beschränke mich dabei auf meine persönlichen Eindrücke. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass diese in hohem Maße auf die Struktur, die Mentalität und die operativen Aktivitäten der Bewegung rückschließen lassen. Vielleicht sagen sie deshalb einiges allgemein über die Rolle der führenden Persönlichkeiten und ihre Beziehungen untereinander aus. Die Bewegung des Haschomer Hazair wurde jahrzehntelang von einem „Duo“ aus zwei hervorragenden Persönlichkeiten geführt, das gleichzeitig die erzieherischen und ideologisch-politischen Aufgaben sowie das öffentliche Auftreten der Bewegung bestimmte: Meir Yaari und Yaakov Chasan. Formell hatten sie verschiedene Positionen inne, jedoch nach Prestige und Autorität galten sie als gleichwertig. Von den ersten Jahren der Jugendbewegung, der Gründung der gesonderten Kibbuzbewegung Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair an bis zu deren Heranwachsen zu einer öffentlich anerkannten und viel diskutierten ideologischen Strömung innerhalb der WZO und einer politischen Partei in Palästina 114

Meir Yaari und Yaakov Chasan

und Israel bildeten beide die „historische Führung“ der Bewegung. Dieses zweiköpfige Team stand an der Spitze einer kollektiven Führung, doch sie waren mehr als die „Ersten unter Gleichen“. Sie waren in jeder Hinsicht tonangebend, erwiesen sich bei den kritischen Beschlüssen in der Geschichte der Bewegung sehr oft als entscheidend und bestimmten jahrzehntelang deren interne Entwicklung und politisches Auftreten. Meir Yaari wurde öfters „Guru aus Merchavia“ genannt; Merchavia war der Kibbuz, in dem er und seine Familie lebten. Dort stand lange Jahre auch das „Haus der Bewegung“, in dem die wöchentlichen Sitzungen ihres Sekretariats stattfanden. Die meisten administrativen Büros und die Redaktionen der Publikationen des Haschomer Hazair hatten hier ihre Räumlichkeiten. Erst Ende der 1930er-Jahre zogen sie mit der Erweiterung der Bewegung und ihrer Tätigkeiten nacheinander nach Tel Aviv, zuletzt auch das Büro des Sekretariats. Yaakov Chasan war in gewissem Maße der Interpret der Weltanschauung und sorgte für deren Anpassung an die sich ändernde Wirklichkeit. Politische Gegner nannten die beiden „die Rabbiner des Haschomer Hazair“. Yaari und Chasan gingen gemeinsam diesen Weg, bis sie sich angesichts ihres fortgeschrittenen Alters von der öffentlichen Bühne zurückzogen. Trotz dieser Gemeinschaft waren sie verschieden in Charakter, Temperament, menschlichen Beziehungen und sehr oft auch in der Analyse bestimmter Ereignisse. Sie fanden jedoch immer eine gemeinsame Perspektive und einheitliche Richtlinien der Aktivität. Ich erinnere mich an eine interessante Episode: Im August 1936 kam Meir Yaari anlässlich einer Tagung des Zionistischen Aktionskomitees nach Zürich, die infolge der Publikation des „Peel-Berichts“ und der arabischen Angriffe auf jüdische Siedlungen in Palästina einberufen worden war. Yaari litt an einer Augenkrankheit und hatte einen Termin bei Prof. Goldmann in Bern, zu dem ich ihn begleitete. Zu Beginn der Besprechung fragte der Professor: „Was ist Ihr Beruf?“ Yaari, der die deutsche Sprache beherrschte, antwortete: „Ich habe keinen Beruf – ich habe eine Berufung.“ Prof. Goldmann war im ersten Augenblick erstaunt über diese „messianische“ Antwort. Jahre später besuchte Goldmann auf Yaaris Einladung Israel. Yaari bat mich, mit ihm eine Exkursion in das Grenzgebiet der Golanhöhen zu machen und ihm die strategische Situation unseres Kibbuz als „Grenzsiedlung“ zu erklären. Er sandte mir seinen Chauffeur, und wir verbrachten zusammen einige interessante und angenehme Stunden. Zurück im Kibbuz, saßen wir zum Mittagessen im Gemeinschaftsspeisesaal. Hier bat ich Prof. Goldmann, zwei Kibbuz-Kinder, die seit ihrer Geburt an

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Meir Yaari und Yaakov Chasan

schweren Augenkrankheiten litten, zu untersuchen. Er tat es gründlich und gab den hiesigen Ärzten schriftliche Empfehlungen für die weitere Behandlung. Seit dem Zionistenkongress 1937 in Zürich stand ich mit Yaari und Chasan in engerer Verbindung. Immer wieder erledigte ich damals bei Anlässen in der Schweiz persönliche Dinge für sie und lernte sie auch in alltäglichen Fragen und in ihren Lebensgewohnheiten kennen. Nur wenige Jahre nach meiner Einwanderung und Integration in Palästina traf ich mich erneut mit Yaari und Chasan sowie mit anderen wichtigen Personen der Bewegung; bei einigen war dies eine Erneuerung früherer Bekanntschaften. Die Kontinuität meiner öffentlichen Tätigkeit schuf persönliche Beziehungen zu der Führerschaft der Bewegung, wenn auch die Verhältnisse recht unterschiedlich waren. Die Kritik, dass Meir Yaari keine junge Generation gefördert und nicht für ausreichenden Nachwuchs in der Führung gesorgt habe, ist nicht berechtigt. Tatsächlich wuchs eine ernsthafte Gruppe der zweiten Generation heran, die eigentlich alle operativen Aufgaben erfüllte. Es war ein intellektuelles, politisches Kollektiv, das auch Autorität in den Exekutivinstanzen der Kibbuzbewegung und der politischen Partei genoss. Doch es herrschte nicht immer Einstimmigkeit in der Führungsschicht. Es gab eine linke Gruppe, der wichtige Personen wie Mordechai Oren, Yaakov Riftin und Israel Barsilai angehörten. Auch organisierten sich einige der „jungen Generation“. Man nannte sie die „Gruppe der 17“, die nach führenden Posten strebte und sich als Erbe der bestehenden Leitung betrachtete. Diese 17 Nachwuchskräfte, die auf den Generationenwechsel warteten, standen in Opposition zur Politik von Yaari und Chasan. Das Kernproblem war die Fusion der linken Mapam-Partei (welcher der Kibbuz-Arzi – Haschomer-Hazair-Landesverband angehörte) mit der führenden allgemeinen Arbeiterpartei Mapai in einem Wahlblock, der bis 1977 an der Spitze aller Regierungen stand. Die Konzeption von Yaari und Chasan war es, eine vereinigte Front gegen den rechten Likud-Block zu schaffen. Die „Gruppe der 17“ wolle die Unabhängigkeit der Mapam als „Avantgarde“ der israelischen Arbeiterbewegung bewahren. Doch die Mehrheit der Partei folgte Yaari und Chasan, bis auch sie zu der Ansicht gelangte, dass diese Zusammenarbeit mit der Mapai zu einem Niedergang der politischen sozialistischen Ideale führen würde. Ich persönlich pflegte gute Beziehungen zu Yaari wie zu Chasan. Da das Gebiet meiner Aktivitäten, die Weltbewegung des Haschomer Hazair bzw. der Mapam, vor allem im Bereich der WZO und der Jewish Agency lag, sah ich meine Aufgaben nicht in der israelischen Parteipolitik und hatte auch keine Absichten, Posten in der organisatorischen „Hierarchie“ der Partei anzustreben. 116

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Als ich in die Exekutive der Kibbuzbewegung des Haschomer Hazair gewählt wurde, hatte ich schon zwei längere Auslandsmissionen hinter mir und genoss keinen schlechten Ruf. Obwohl Chasan und Yaari grundsätzlich eine Einheit bildeten, war ihr Verhältnis wegen ihrer unterschiedlichen Charaktere nicht immer einfach. Ich erhielt in all den Jahren Einsicht in einige Begebenheiten, doch nicht immer widmete ich dem komplizierten Gewebe der Beziehungen zwischen den beiden Führungspersonen ausreichend Aufmerksamkeit. Die „historische Führung Yaari – Chasan“ rief auch noch nach deren Tod eine mitunter heftige Kontroverse in der Bewegung hervor. Man warf ihnen vor, ihre Analyse der globalen Ereignisse sei dogmatisch gewesen, besonders auf zwei Gebieten: der Konzeption des binationalen Staates und der Beziehungen zur Sowjetunion. Viele der zweiten und dritten Generation kritisierten auch die absolute „Hierarchie“ innerhalb der Bewegung. Ich selbst hatte eine ausgewogene Einstellung zu den politischen Entscheidungen in der Phase vor der Gründung Israels und den politischen Entwicklungen danach. In der Bewegung gab es aber immer wieder Meinungsverschiedenheiten zum Umgang mit der Sowjetunion und den kommunistischen Staaten in Osteuropa. Aber die jüdische Solidarität im Haschomer Hazair bestand die Prüfung angesichts der antisemitischen und antizionistischen Schritte der kommunistischen Parteien in den verschiedenen Ländern und in der Sowjetunion selbst. Persönlich glaube ich, dass zwischen taktischen Entscheidungen und der grundlegenden ideologischen Weltanschauung unterschieden werden muss. Die zionistisch-sozialistische Auffassung des Haschomer Hazair wurde auch im Sturm der politischen Umwälzungen in der Welt und besonders in Europa nicht erschüttert. Sie war die Richtlinie, an der ich mich in all meinen Funktionen orientierte und der ich folgte. Dies zeigte sich auch in den Jahren des „Kalten Krieges“ in Südamerika, als es Organisationen wie die „Junge Sektion Mordechai Anielewicz“ gab, benannt nach dem Kommandanten des Ghettoaufstandes in Warschau 1943, der Mitglied des Haschomer Hazair gewesen war. Dieser Sektion gehörten vor allem Studenten an. Ihre ideologische Grundlage war ein sozialistischer Zionismus mit der klaren Bestrebung, nach Israel auszuwandern und die „Selbstverwirklichung“ im Kibbuz zu finden. Solche Vereinigungen gab es besonders in Argentinien, aber auch in Uruguay, Brasilien, Venezuela und Kolumbien. Außerhalb Südamerikas entstanden vergleichbare Gruppierungen in den Vereinigten Staaten, in Kanada und England, und auch in Frankreich entwickelte sich eine starke jüdische Studentenorganisation mit ähnlicher Ideologie und 117

Meir Yaari und Yaakov Chasan

festen Verbindungen zum Haschomer Hazair. Alle diese Gruppen bildeten ein wichtiges menschliches Reservoir für die Kibbuzim der Bewegung. Sie identifizierten sich mit dem politischen Programm der Mapam-Partei, besonders mit ihrem linken Flügel. Man kann sagen, dass in Südamerika diese Sektionen das Rückgrat der umfangreichen Tätigkeit unserer Bewegung darstellten. In den Vereinigten Staaten waren sie zwar auch wichtig, doch hier bildete die Alija keinen zentralen Faktor bei den Aktivitäten der Mitglieder. Gegenüber der israelischen Politik herrschte bei den meisten Sektionen eine radikale ideologische Einstellung vor, besonders nach 1967 und der Ansiedlung in den besetzten Gebieten. Die Tätigkeit der „Jungen Sektion“ hatte nicht nur einen großen Einfluss auf das öffentliche jüdische Leben in den verschiedenen Ländern. Ebenso wirkte sie sich entscheidend auf die Wahlen zu den zionistischen Kongressen aus und stärkte wesentlich die Fraktion des Haschomer Hazair und der gemeinsamen Arbeiterparteien. Ihre Stellungnahme fand deutlichen Ausdruck in der politischen und gesellschaftlichen Struktur des organisierten Judentums in der Vereinigung „Unsere Vereinigten Staaten“, einer zionistischen Organisation, die sich als „Forum der Präsidenten aller jüdischen Organisationen“, der Friedensbewegung und anderer Gruppierungen sah. In den meisten Ländern der Welt bestanden jüdische politische Organisationen mit zionistisch-sozialistischer Weltanschauung, die mit dem Weltverband der Mapam-(später Merez-)Partei verbunden waren. Besonders wichtig war in den USA die Organisation Americans for Progressive Israel. Allgemein bestehen nach wie vor in den USA und Kanada Vertretungen aller religiösen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Richtungen Israels, ebenso in Frankreich, wo ein Cercle Bernard Lazare, benannt nach dem ersten Kämpfer gegen den Antisemitismus im Umfeld des Dreyfus-Prozesses, im Leben der jüdischen Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielt. Als Vorsitzender der Weltexekutive des Haschomer Hazair und später als Generalsekretär des Weltverbandes der zionistisch-sozialistischen Merez-Parteien führte und koordinierte ich die erzieherische und politische Aktivität der Landesorganisationen. Dies war ein permanenter Dialog zwischen der politischen Realität in Israel und den spezifischen Bedingungen in jedem Land. Unsere oder uns nahestehende Organisationen, die unter verschiedenen Namen und Altersgruppen auftraten, sind ein Teil des progressiven politischen Lagers in den jüdischen Gemeinden, eine Gegenbewegung zu dem in religiöser und politischer Hinsicht konservativen Establishment, das in den meisten Ländern die rechten Kreise in Israel unterstützt. 118

Meir Yaari und Yaakov Chasan

In meiner Amtszeit waren mehr als 50 Abgesandte der Kibbuz-Arzi – Haschomer-Hazair-Bewegung aus Israel innerhalb der jüdischen Gemeinden tätig. Sie arbeiteten in der Jugendbewegung, in der politischen Arena, vertraten die ökonomischen Interessen der Kibbuzbewegung und förderten die Alija nach Israel und die Aufnahme in die Kibbuzim. In meinen schriftlichen Anleitungen und bei meinen Besuchen in den verschiedenen Ländern vertrat ich eine „synthetische“ Auffassung unserer Mission in den jüdischen Gemeinden. Einerseits unterstrich ich unsere Aufgabe, als integraler Teil der jüdischen Gemeinschaft deren politische und kulturelle Aktivitäten zu fördern und nach Möglichkeit im Sinne unserer Auffassungen zu beeinflussen. Anderseits war (und ist) unser Primat die Erziehung zur Alija nach Israel. Die persönliche Identifizierung mit Israel ist heute das hervorragende Element des jüdischen Bewusstseins und der Verwirklichung des zionistischen Ideals. Die praktische Konsequenz dieser Weltanschauung war die Entwicklung einer aktiven fortschrittlichen Alternative zur Orthodoxie in der Auffassung des Judentums. In zwei Städten – Buenos Aires und Paris – wurden vom Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair mithilfe von lokalen Gruppen und lokalen Sponsoren Häuser erworben und Zentren des „Progressiven Judaismus“ eingerichtet. Diese Zentren bestehen noch heute, und Hunderte von Menschen, junge und alte, nehmen wöchentlich an den verschiedenen erzieherischen, kulturellen, politischen und auch „alternativen religiösen“ Veranstaltungen teil. Die Jugendbewegung Haschomer Hazair sowie die „Sektionen der jungen Generation“ haben in diesen Häusern ihre Heime. Auf diese Weise dienen wir praktisch und ideologisch den Bedürfnissen eines beträchtlichen Teils der jüdischen Gesellschaft in der Diaspora. Es handelt sich um den Versuch einer Renaissance jüdischer Werte nach der Erschütterung der Schoah durch eine aktualisierte Anpassung der erzieherischen und politischen Grundsätze des Haschomer Hazair. Tatsächlich war es nach der Schoah nicht leicht, an einstmalige Gewissheiten anzuknüpfen. Unmittelbar nach dem Krieg herrschte in der Bewegung ein Gefühl der Unsicherheit über ihren zukünftigen Weg. Ich war schon damals der Meinung, dass Zionismus keine „Verneinung der Diaspora“ bedeute. Solange Juden über alle Erdteile verstreut leben, müssen die jüdischen Gemeinschaften wiederaufgebaut und muss das nationale jüdische Bewusstsein konsolidiert werden. Theodor Herzls Diktum, die „Judenfrage“ könne nur durch die „Sammlung der Verstreuten“ in ihrer historischen Heimat gelöst werden, ist eine Zukunftsvision, die uns nicht von der Pflicht zionistischer Gegenwartsarbeit außerhalb des Staates Israel befreit. Diese Einstellung habe ich bei allen Bespre119

Meir Yaari und Yaakov Chasan

chungen mit unseren Emissären dargelegt. Noch in Genf gab ich meiner Meinung Ausdruck, dass die Aufnahme der Aktivitäten in erneuerter Form die zentrale Aufgabe der Bewegung sei. Wir sollten parallel zum Wiederentstehen der jüdischen Gemeinden in der veränderten Situation der Nachkriegszeit unseren spezifischen Platz einnehmen. Im August 1945 besprach ich die Probleme der „Erneuerung der Weltbewegung 1945–1946“ mit den ersten Abgesandten, die aus Palästina nach London kamen, ebenso bei unserem Treffen in Brüssel mit den Soldaten der Jüdischen Brigade und Chaika Grossman. Natürlich war es in den Jahren nach der Schoah unsere wichtigste Aufgabe, die Auswanderung der Überlebenden nach Palästina auf allen Wegen, ob legal oder illegal, zu organisieren. Doch mit der Gründung des Staates Israel einerseits und der Stabilisierung des jüdischen Lebens anderseits standen wir vor neuen Herausforderungen. Der Existenzkampf des Staates Israel sowie die politischen und gesellschaftlichen Prozesse in der israelischen Gesellschaft beeinflussten das Leben der jüdischen Gemeinden weltweit. Die wechselnden und unterschiedlichen politischen Verhältnisse der Nachkriegsjahre in den Staaten des West- oder Ostblocks wirkten nicht nur auf die Beziehungen zu dem jungen Staat Israel ein, sondern auch auf die Situation der jüdischen Gemeinschaften weltweit. Viele der neuen Regierungen mussten sich mit judenfeindlichen Strömungen auseinandersetzen. In Israel selbst erfüllten die Kibbuzbewegungen der verschiedenen Richtungen, darunter auch der Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair, wichtige konstruktive und politische Aufgaben beim Aufbau des neuen Staates. Trotz Versuchen, ihren Einfluss einzuschränken, erweiterte sich ihr Aktionsbereich. Parallel zur erzieherischen Funktion in der Jugendbewegung der Diaspora wirkten politische und ökonomische Emissäre in den wichtigsten jüdischen Zentren. Ich habe bereits die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern erwähnt, die eine organisatorische Umbildung erforderten. So wurde ich zum Verantwortlichen für die koordinierten Beziehungen zur jüdischen Diaspora bestimmt. Als solcher war ich der Vertreter der Bewegung in den Exekutivorganen der Zionistischen Weltorganisation, des Board of Deputies der Jewish Agency, des Jüdischen Weltkongresses und der Gremien der gemeinsamen Fraktion der zionistischen Arbeiterbewegung. Ich habe diese Zeilen Anfang 2012 geschrieben und Ende 2014 noch einmal durchgesehen. Die zionistische Linke befindet sich heute in einer politischen, organisatorischen und ideologischen Krise. Die Generation der Gründer der Arbeiterbewegung hat die Grundlagen des sozialistischen Zionismus im Aufbau 120

Meir Yaari und Yaakov Chasan

des Staates Israel verwirklichen wollen. Tatsächlich weist die Geschichte der ersten Etappe Israels erkennbar Züge eines Wohlfahrtsstaates nach sozialistischkollektiven Richtlinien auf. An der Spitze der politischen und wirtschaftlichen Führung standen Vertreter der Arbeiterpartei und der Gewerkschaften, die ihre Wurzeln in Osteuropa hatten. Doch die Masse der Einwanderer kam in den Nachkriegsjahren aus anderen Ländern – das menschliche Reservoir in Osteuropa existierte nicht mehr. Damit änderten sich auch die menschliche Struktur der israelischen Gesellschaft, ihre Mentalität und Kultur, ihr Lebensstil und die Bandbreite ihrer politischen Auffassungen. Die aus den arabischen Ländern kommenden Juden hatten eine ambivalente Beziehung zu den Arabern, die zunehmend bei vielen von ihnen in eine aggressiv-nationalistische Auffassung ausartete. Anderseits hatten viele der Juden, die aus den Ländern des sowjetischen Machtbereichs kamen und deren Zahl heute eine Million überschritten hat, eine negative Einstellung gegenüber jeder sozialistischen Ideologie. Leider brachte die Arbeiterbewegung wenig Verständnis für diese grundlegende demografische Umschichtung der bislang recht homogenen israelischen Gesellschaft sowie für den damit verbundenen kulturellen und mentalen Wandel auf. So verlor sie ab 1977 die politische Mehrheit, und seither herrscht in Israel, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, eine Regierungskoalition der rechten, nationalistischen und religiösen Parteien. Israel ist heute ein kapitalistischer Staat, wobei die politische Linke noch immer auf der Suche nach einer wahlpolitisch wirksamen Antwort auf diese Entwicklungen ist. Diese ideologische Krise hält an und verschärft sich angesichts der geopolitischen Lage im Mittleren Osten, der Zunahme des gewaltsamen Konflikts in den besetzten Gebieten und der Blockade in den Friedensverhandlungen. Die zionistische Linke muss den Zusammenhang zwischen der Situation des Judentums in der Welt und dem neuen Charakter des sich verschärfenden Antisemitismus in ihrem weiteren Vorgehen und ihrer Ausrichtung berücksichtigen. Eine vertiefte Analyse dieser Entwicklung seitens der sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien in den betroffenen Ländern ist ebenso notwendig wie eine zuverlässige Deutung. Die Linke in Israel ist zwar in einer besonderen Situation, doch auch sie sucht eine Antwort auf die weltweite Renaissance der Judenfeindschaft in kapitalistischen wie auch in sozialistischen Parteien. Im März 2003 schrieb ich in diesem Zusammenhang einen „Rundbrief“ an „Gesinnungsgenossen“ der Linken in Europa mit dem Titel „Die Herausforderung der zionistischen Linken“. Auf ihn werde ich später noch genauer eingehen.

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Die zionistische Arbeit im Rahmen des Jüdischen Weltkongresses

Die zionistische Arbeit im Rahmen des Jüdischen Weltkongresses Der Jüdische Weltkongress (JWC) wurde 1936 in Genf gegründet. Er ist eine Dachorganisation aller jüdischen Gemeinden in der Welt. Seine Aufgabe ist es, die Interessen der in alle Erdteile verstreuten jüdischen Gemeinschaften koordiniert gegenüber den internationalen Organisationen zu vertreten. Dazu wurde eine politische Delegation des Kongresses in Genf eröffnet, wo damals die Zentrale des Völkerbundes stationiert war. Büros des JWC wurden auch in New York, London, Buenos Aires und Jerusalem eingerichtet. Der Kongress führte in den Vorkriegsjahren einen intensiven Kampf gegen die zunehmenden antisemitischen Aktionen besonders in Europa. Er war eine Parallelorganisation zur Zionistischen Weltorganisation (WZO) und auch zur Jewish Agency, die vornehmlich der Förderung des zionistischen Aufbauwerkes in Palästina dienten. Die Führung des JWC lag in den Händen der Vorsteher der größeren jüdischen Landesverbände, doch die meisten Spitzenfunktionäre waren amerikanische Juden. Als Nahum Goldmann von 1949 bis 1977 Präsident des JWC war, regte er zusammen mit anderen die Verhandlungen mit der deutschen Regierung an, die zum Wiedergutmachungsabkommen führten. Goldmann, der in Personalunion auch führende Positionen in der WZO innehatte, legte Wert auf die Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und den arabischen Staaten. Er machte während seiner Amtsperiode den JWC zum weltweiten Vertreter des jüdischen Volkes. Seine Auffassung einer internationalen Politik verfolgte er unabhängig und jenseits der Kontroversen um den Staat Israel. 1970 plante Goldmann, eine Besprechung mit dem damaligen Präsidenten Ägyptens Anwar as-Sadat zu organisieren, und hatte die Absicht, diesem einen Friedensplan für die Zeit nach dem Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten vorzulegen. Dies entsprach der damals offiziell deklarierten israelischen Politik. Aber das Treffen fand nie statt: Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir lehnte alle Verhandlungen ab, die nicht von der Regierung geführt wurden. Wir unterstützten Goldmanns Initiative im Rahmen der damals breite Kreise umfassenden israelischen Friedensbewegung. Die Vertretung des JWC in Genf hatte während der Kriegsjahre und der Schoah eine besondere Bedeutung gehabt. Ich unterhielt enge Beziehungen mit Dr. Gerhard Riegner, dem Leiter des Büros. Mit ihm konnte ich sehr gut koope122

Die zionistische Arbeit im Rahmen des Jüdischen Weltkongresses

rieren. Er bevorzugte mich als Kontaktperson zur Hechaluz-Zentrale, weil er eine kritische Einstellung zu den parteipolitischen Prioritäten von Nathan Schwalb in verschiedenen Hilfsaktionen hatte. Riegner verfügte über gute Verbindungen zu den diplomatischen Delegationen beim Völkerbund sowie zu den Vertretern des Vatikans. Er informierte mich öfters über seine Kontakte, und ich gab ihm die Briefe zu lesen, die ich von den Chaverim aus den von Deutschland beherrschten Gebieten erhielt.53 1938 fand eine Weltkonferenz des JWC in Montreux statt, an der auch Vertreter des Haschomer Hazair teilnahmen: Mordechai Ben Tov und Zwi Lurie sowie weitere Delegierte der Bewegung im Rahmen der verschiedenen Landesorganisationen. Nach der Gründung des Staates Israel tagten dort die meisten Konferenzen, der Exekutivausschuss trat hingegen jedes Mal in einem anderen Land zusammen. Es stellte sich heraus, dass es unmöglich war, eine „Judenpolitik“ unabhängig von einer „Israelpolitik“ zu betreiben. Entsprechend wurde ein „Koordinationskomitee“ zwischen der israelischen Regierung und der Führung des JWC geschaffen. Die Bedeutung einer weltweiten Organisation der jüdischen Gemeinschaften wurde nie infrage gestellt. Wie bereits erwähnt, folgten auch der Haschomer Hazair und die politische Partei Mapam unmittelbar nach der Schoah der klaren Richtlinie, sich für die Restauration des organisierten jüdischen Lebens zu engagieren. Chaika Grossman war sehr aktiv und pflegte gute persönliche Beziehungen zur Führung des JWC. Unsere Bewegung sah die Tüchtigkeit des JWC als sehr wichtig an. Wir waren in allen regionalen Exekutiven vertreten, in den USA, in Europa und Südamerika und selbstverständlich in Israel. Ich war Mitglied der Exekutive für Israel, die entsprechend den Proportionen in der Knesset, dem israelischen Parlament, besetzt wurde. In Israel hatte der Weltkongress eine besondere Bedeutung: Er war die offizielle Vertretung des jüdischen Volkes gegenüber den israelischen Institutionen und bildete die Brücke zwischen der „Gegenwartsarbeit“ in der Diaspora und der Verwirklichung der zionistischen Vision. Eine herausragende Rolle

53 Siehe Gerhart M. Riegner: Niemals verzweifeln. Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte. Gerlingen 2001. Riegner erinnert sich in diesem Buch auch an seine zahlreichen Aktivitäten, geht allerdings nicht näher auf die Kontakte zur Hechaluz-Zentrale ein. Im August 1942 versuchte er, die Regierungen in den USA und in Großbritannien sowie die dortigen Spitzen der jüdischen Organisationen über die geplante vollständige Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich zu informieren – mit letztlich enttäuschenden Reaktionen seitens der Regierungen (S. 59–100).

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spielte er vor allem bei zwei politischen Ereignissen: dem Beschluss der UNOGeneralversammlung, den Zionismus zu einer rassistischen Bewegung zu erklären, und den Verhandlungen mit der deutschen Regierung über die Wiedergutmachung. Der JWC erfüllte eine wichtige Funktion in den Jahren des „Kalten Krieges“, als in vielen Ländern der Antisemitismus erheblich zunahm und sich in Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Institutionen sowie gegen israelische Konsulate und diplomatische Vertretungen entlud. In Osteuropa fand die erste Zusammenkunft des erweiterten Exekutivkomitees des JWC nach der Schoah 1982 in Budapest statt, als noch die Kommunistische Partei an der Regierung war. Es war die erste Tagung einer internationalen jüdischen Organisation in einem kommunistischen Land. Das war zweifellos ein außergewöhnliches Ereignis: Da das kommunistische Ungarn unter starkem sowjetischem Einfluss stand, war anzunehmen, dass die Führung der Sowjetunion ihre Zustimmung zu dieser internationalen jüdischen Konferenz gegeben hatte. Dabei war sie sich wohl bewusst, dass der Einfluss des amerikanischen Judentums in der Führung des JWC dominierte. Aus Israel nahmen an dieser Konferenz sieben Exekutivmitglieder teil. Sie waren Vertreter der verschiedenen Parteien, darunter ich im Namen der Mapam. Zur Bestätigung der Visa in Tel Aviv mussten wir einen Lebenslauf vorlegen. Ich wurde als „Generalsekretär des Weltverbandes der Mapam-Parteien“ bezeichnet. Offenbar machte dies großen Eindruck auf die kommunistischen Funktionäre. Schon als wir am Flughafen in Budapest ankamen, sammelten die Beamten die Pässe aller Mitglieder der israelischen Delegation ein und unterzogen sie einer Überprüfung. Zu meinem Erstaunen wurde ich per Lautsprecher aufgerufen. In der Delegation war man überrascht, und unser Sicherheitsoffizier begann, unruhig zu reagieren. Ein Mann in schwarzem Anzug trat auf mich zu und stellte sich als Vertreter der Internationalen Abteilung der Kommunistischen Partei vor. Er fragte mich, ob ich Heini Bornstein sei, Delegierter der „United Workers Party“ – so die englische Übersetzung von Mapam. „Es freut mich, Sie als Ehrengast der Kommunistischen Partei begrüßen zu dürfen.“ Er führte mich, meinen Pass in seinen Händen, durch alle Kontrollen zu einer schwarzen Limousine und begleitete mich bis ins Hotel, während alle anderen Delegierten eine persönliche Kontrolle über sich ergehen lassen mussten und in einem gut gesicherten Autobus unter starker Bewachung von Sicherheitskräften in unsere Unterkunft gebracht wurden. Im Hotel wartete eine Überraschung: „Es wurde für Sie ein besonderes Zimmer mit allem Komfort und Blumen reserviert“, 124

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empfing man mich an der Rezeption. Mir war klar: So empfängt die kommunistische Führung willkommene Gäste. Am nächsten Tag wurde ich in das Zentralbüro der Partei zu einer Besprechung mit dem Chef der Internationalen Abteilung eingeladen. Ein besonderes Erlebnis waren die Hindernisse, die es zu überwinden galt, bis man zu ihm gelangte: Es kamen zwei Limousinen mit Begleitung, die mich im Hotel abholten und bis zum fünfstöckigen Gebäude des Zentralbüros begleiteten. Ich musste einige Gänge entlanggehen; jeder einzelne war mit schweren Türen verschlossen und wurde von einem Sicherheitsbeamten bewacht. Dann erst war ich an Ort und Stelle und wurde in sein Büro geführt. Die Sekretärin informierte mich, die Besprechung werde 20 Minuten dauern. In ihr ging es dann um die Situation im Nahen Osten. Der Chef der Internationalen Abteilung kannte die Position der Mapam gut: Sie trat für Verhandlungen mit Arafat über eine Zwei-Staaten-Lösung ein. Ich verstand, dass dies auf geopolitischem Hintergrund den Interessen der Sowjetunion entsprach. Aus den 20 Minuten wurden zwei Stunden. Am nächsten Tag erschien in den Zeitungen eine Meldung im Namen der Kommunistischen Partei, die über unser Gespräch berichtete: „Der Leiter der Internationalen Abteilung der Kommunistischen Partei empfing Heini Bornstein, den Vertreter der sozialistischen Partei Mapam in der israelischen Delegation zur Konferenz des Jüdischen Weltkongresses. Beide stimmten darüber ein, dass Verhandlungen mit Vertretern der ‚palästinensischen Freiheitsbewegung‘ zu führen seien, um eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Grundlage von zwei selbstständigen Staaten zu finden.“ Die Mitteilung wurde auch in der israelischen Presse publiziert, und ich berichtete dem israelischen Botschafter in Budapest, der großes Interesse an der Unterredung zeigte. Tatsächlich war dieses Treffen für mich ein besonderes Erlebnis, und ich lernte die Atmosphäre in einem kommunistischen Regime kennen. Die Konferenz fand in einem Luxushotel im Zentrum Budapests statt. Jeder Transport der Delegierten erfolgte in einem schwer gesicherten Autobus, der von Polizisten auf Motorrädern begleitet wurde – alles entsprach den Richtlinien der Sowjetunion. Die Bereitschaft, Gastgeber einer internationalen jüdischen Konferenz zu sein, war kein Zufall – es war eine Geste gegenüber dem amerikanischen Judentum und der amerikanischen Regierung. Doch dieser Besuch hatte auch eine jüdische Dimension. Ich war besonders bewegt, den Ort zu besuchen, wo das „Glashaus“ stand. Dort waren während der deutschen Besatzung Tausende von Juden mit schweizerischen „Schutzbriefen“ zusammengefasst worden. Der 125

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Schweizer Konsul in Budapest, Carl Lutz, hatte damals derartige Papiere ausgestellt, um Juden das Überleben zu sichern.54 Parallel dazu hatte ich aus der Schweiz unseren Kameraden Kopien von Geburtsscheinen und anderen schweizerischen Ausweisen zugeschickt, um ihnen selbstständige Rettungsaktionen zu ermöglichen. Ich erinnere mich auch an ein anderes Erlebnis einige Jahre später. 1985 trat das Exekutivkomitee der WZO in Washington zusammen. Abraham Schenker und ich waren Delegierte der Mapam aus Israel.55 Zwar war dies nicht mein erster Besuch in den Vereinigten Staaten, doch lernte ich jetzt die Macht und Methoden der amerikanischen Administration kennen. Schenker, ein geborener Amerikaner und erfahrener zionistischer Funktionär, fühlte sich wie ein Fisch im Wasser. Das Thema der Tagung war „Die jüdische Gemeinschaft in den USA und ihr Verhältnis zum Judentum in historischer Betrachtung“. Es wurden auch Treffen mit dem politischen Establishment organisiert. Eine Delegation der Tagung wurde vom damaligen Präsidenten Ronald Reagan empfangen. Die Zahl der Teilnehmer war auf 20 beschränkt, und das Präsidium der Konferenz wählte unter anderen auch mich dafür aus. Nach der Begrüßungsansprache des Präsidenten stellten Israel Singer und Edgar Bronfman die Anwesenden vor, darunter mich als „deputy of a leftwing Zionist Party and member of a Kibbutz – the pioneering communal settlement in Israel“. Interessanter war ein Rundgang im amerikanischen Kongress. Wir konnten von der Tribüne für geladene Gäste aus eine Stunde den Debatten der Abgeordneten folgen. Zum Abschluss hatten wir ein Treffen mit dem Senator Eduard Kennedy in dessen Büro. Viele Menschen gingen ein und aus, es wimmelte wie in einem Bienenstock. Mehr als 20 Berater saßen an den Tischen, prüften und studierten Dokumente und Unterlagen. Der Senator erklärte uns, er arbeite an der Vorbereitung eines Gesundheitsgesetzes (das dann erst über 20 Jahre später Barack Obama durchsetzen konnte). Kennedy erwähnte auch das Problem der Juden in der Sowjetunion und unterstrich seine Teilnahme an der internationalen Kampagne „Let my people go“. Wir schlenderten durch alle Gänge, sahen in allen Zimmern viele Menschen und waren Zeugen einer beeindruckenden 54 Vgl. dazu die beiden von Helena Kanyar Becker herausgegebenen Publikationen: Gertrud Lutz-Fankhauser. Diplomatin und Humanistin. Basel 2006; Verdrängung, Verklärung, Verantwortung. Schweizerische Flüchtlingspolitik in der Kriegs- und Nachkriegszeit 1940–2007. Basel 2007. 55 Abraham Schenker gehörte auch der Exekutive der Jewish Agency an.

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Die zionistische Arbeit im Rahmen des Jüdischen Weltkongresses

Betriebsamkeit – ich hatte den Eindruck, man dirigiere hier die Welt. Und mir fällt auf, dass ich diese Zeilen erstmals am 16. August 2009, dem Todestag von Ted Kennedy, geschrieben habe: In allen Zeitungen stand, dass eine historische Episode zu Ende gehe, und ich erinnere mich an diese kurze und zufällige Begegnung mit ihm. Die Tagung selbst fand im Haus der Loge Bnei Brith statt. Dort trafen wir uns mit einem Querschnitt des amerikanischen Judentums. Die Kraft dieser jüdischen Gemeinschaft kam nicht nur in den Ansprachen und formellen Unterhaltungen mit den Delegierten zum Ausdruck. Interessant waren auch die Gespräche mit „einfachen Menschen“ während unseres Aufenthalts in Washington. Im Rahmen der Generaldebatte hielt ich ein Referat über „Die Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora vom Standpunkt eines sozialistischen Zionisten“. Meine Ausführungen fanden reges Interesse, sogar der „historische“ Führer der religiösen Partei Misrachi, Dr. Josef Burg, kam zu mir und lobte mich. Ein ähnliches Erlebnis hatte ich zwei Jahre später, als ich erneut in den USA war und an der Konferenz der Zionistischen Organisation der USA teilnahm. Hier, bei den Zionisten, hatte ich einen anderen Eindruck als bei meinen Unterhaltungen mit den Leuten vom Bnei Brith. Ich bemerkte bei ihnen ein ideologisches und persönliches Dilemma infolge des Bewusstseins, gleichzeitig „Amerikaner“ und „Zionisten“ zu sein – eine Problematik, auf die ich noch zurückkommen werde. Eine weitere Zusammenkunft des Exekutivkomitees des JWC fand 1987 in Wien statt. An dieser Tagung waren Arie Yaffe, damals Delegierter der Partei für Europa,56 und ich Vertreter der Mapam. Auf der Tagesordnung stand die Auseinandersetzung mit einer neuen Situation: Es trafen sich Vertreter jüdischer Gemeinden in Osteuropa, die wieder öffentlich arbeiten durften, mit Delegierten aus westeuropäischen Gemeinden. Die Erneuerung des jüdischen Gemeindelebens und die Sorge um die Überlebenden der Schoah waren wichtige Faktoren nach der Befreiung gewesen, wie sich in den Gesprächen zeigte. Der Dialog zwischen „Ost“ und „West“ war spannend und interessant. Dabei machte sich der unterschiedliche historische Hintergrund deutlich bemerkbar. In Deutschland selbst konzentrierten sich Tausende von Juden, vor allem Juden, die sich während des Krieges in die Sowjetunion retten konnten, und in verschiedenen Städten bildeten sich wieder die alten oder nun neue jüdische Gemeinden. 56 Arie Yaffe leitete zeitweilig auch die Politische Abteilung der Mapam.

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Erste Mission nach Paris

Arie und ich nahmen regen Anteil an den Diskussionen. Bei dieser Zusammenkunft wurden die Grundlagen der Position des Jüdischen Weltkongresses in Europa nach dem Kalten Krieg geschaffen. Unsere Stellung auf dieser Konferenz war gut. Der Haschomer Hazair wie auch die anderen zionistischen Bewegungen erneuerten unmittelbar nach der Befreiung ihre Tätigkeit unter den neuen Bedingungen. Es wurde bereits eine systematische erzieherische Arbeit geleistet. Wir konnten auf dieser Konferenz in Wien unsere Richtlinien der öffentlichen und erzieherischen Mission darlegen, die 1946 auf unseren Konferenzen in Fontainebleau und Bratislava beschlossen worden waren: die Synthese zwischen der „Gegenwartsarbeit“ und der Erziehung zur Alija. Um Kontinuität zu garantieren, blieb ich auf Bitten der Führung des JWC weiter Mitglied seiner israelischen Exekutive, nachdem ich aus dem Amt des Generalsekretärs des Weltverbandes der Mapam im Jahre 1988 ausgeschieden war. Da nach den Statuten jede Partei das Recht auf einen Vertreter in dieser Exekutive hat, wurde ich „ad personam“ bestätigt, zusammen mit meinem Nachfolger, Avri Fischer.57 So nahm ich an allen Sitzungen und internationalen Konferenzen teil. Ich hatte ein persönliches Interesse an dieser Position, da ich in den Jahren als Vorsitzender der Weltleitung des Haschomer Hazair und als Generalsekretär des Weltverbandes der Mapam intensiv mit den Geschehnissen in der jüdischen Welt verbunden gewesen war und deren politische und gesellschaftliche Entwicklungen weiterhin verfolgte.

Erste Mission nach Paris Meine erste Mission nach Paris 1951/52 gibt ein anschauliches Beispiel für die Mentalität und Atmosphäre in den Kibbuzim. Der Kibbuz war in diesen Jahren eine geschlossene Gesellschaft mit kollektiver Ideologie, und es herrschte auch eine innere Disziplin, das heißt, die Beschlüsse des Kollektivs waren auch in vielen persönlichen Beziehungen maßgebend. Für das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum war das Interesse der Gemeinschaft entscheidend. Die höchste Instanz war die Generalversammlung aller Kibbuzmitglieder. Die Disziplin war recht umfassend. Der Kibbuz und seine Mitglieder waren insgesamt 57 Avri Fischer lebte im Kibbuz Kfar Masaryk (siehe Anm. 89). Zeitweilig war er auch Emissär in den USA.

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Erste Mission nach Paris

Arie und ich nahmen regen Anteil an den Diskussionen. Bei dieser Zusammenkunft wurden die Grundlagen der Position des Jüdischen Weltkongresses in Europa nach dem Kalten Krieg geschaffen. Unsere Stellung auf dieser Konferenz war gut. Der Haschomer Hazair wie auch die anderen zionistischen Bewegungen erneuerten unmittelbar nach der Befreiung ihre Tätigkeit unter den neuen Bedingungen. Es wurde bereits eine systematische erzieherische Arbeit geleistet. Wir konnten auf dieser Konferenz in Wien unsere Richtlinien der öffentlichen und erzieherischen Mission darlegen, die 1946 auf unseren Konferenzen in Fontainebleau und Bratislava beschlossen worden waren: die Synthese zwischen der „Gegenwartsarbeit“ und der Erziehung zur Alija. Um Kontinuität zu garantieren, blieb ich auf Bitten der Führung des JWC weiter Mitglied seiner israelischen Exekutive, nachdem ich aus dem Amt des Generalsekretärs des Weltverbandes der Mapam im Jahre 1988 ausgeschieden war. Da nach den Statuten jede Partei das Recht auf einen Vertreter in dieser Exekutive hat, wurde ich „ad personam“ bestätigt, zusammen mit meinem Nachfolger, Avri Fischer.57 So nahm ich an allen Sitzungen und internationalen Konferenzen teil. Ich hatte ein persönliches Interesse an dieser Position, da ich in den Jahren als Vorsitzender der Weltleitung des Haschomer Hazair und als Generalsekretär des Weltverbandes der Mapam intensiv mit den Geschehnissen in der jüdischen Welt verbunden gewesen war und deren politische und gesellschaftliche Entwicklungen weiterhin verfolgte.

Erste Mission nach Paris Meine erste Mission nach Paris 1951/52 gibt ein anschauliches Beispiel für die Mentalität und Atmosphäre in den Kibbuzim. Der Kibbuz war in diesen Jahren eine geschlossene Gesellschaft mit kollektiver Ideologie, und es herrschte auch eine innere Disziplin, das heißt, die Beschlüsse des Kollektivs waren auch in vielen persönlichen Beziehungen maßgebend. Für das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum war das Interesse der Gemeinschaft entscheidend. Die höchste Instanz war die Generalversammlung aller Kibbuzmitglieder. Die Disziplin war recht umfassend. Der Kibbuz und seine Mitglieder waren insgesamt 57 Avri Fischer lebte im Kibbuz Kfar Masaryk (siehe Anm. 89). Zeitweilig war er auch Emissär in den USA.

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Erste Mission nach Paris

der Bewegung unterstellt und organisierten sich in deren Rahmen. Entscheidungen der Bewegung verpflichteten den einzelnen Kibbuz und sehr oft auch einzelne Kibbuzmitglieder, die ja aus freiem Willen diese Lebensform gewählt hatten. Der Ausgangspunkt war ideologisch: Wir betrachteten uns als Vortrupp des Aufbaus und der Verteidigung des neugeborenen Staates Israel auf sozialistischer Basis. „Der Sozialismus muss zu Hause beginnen, als Kern einer neuen Gesellschaft“ – dies war unsere Losung. Seither hat sich all dies geändert. Die zweite und besonders die dritte Generation kehrte die gesellschaftliche Rangordnung um. Heute sind die „privatisierten“ Kibbuzim eine individualistische Gesellschaft, in der ungleiche Löhne einen oft großen Unterschied im Lebensstandard der Mitglieder bestimmen. Eines Donnerstagabends im Jahr 1951 kam der Verantwortliche für „Personal“ – heute würde man ihn als „Manpower Manager“ bezeichnen – in der Exekutive des Kibbuz Arzi, der Vereinigung aller Kibbuzim des Haschomer Hazair, zu mir. In einer persönlichen Unterredung informierte er mich, dass beschlossen worden sei, mich umgehend nach Paris zu schicken. Man brauche dort dringend einen Menschen mit einem Schweizer Pass. Er sprach von einem Aufenthalt von etwa zwei Monaten in Paris und in Zürich. Die Mission müsse streng geheim gehalten werden, auch vor den Mitgliedern des Kibbuz. Chasia und ich standen vor einem Dilemma. Sie hatte vor zwei Wochen unter recht schwierigen Umständen unsere zweite Tochter zur Welt gebracht. Es war eine schwerwiegende Entscheidung, sie nun, während sie sich allmählich wieder erholte, mit der zwei Wochen alten Racheli und unserer zweijährigen Tochter Yehudit allein zu lassen. Doch wir waren beide ergebene und treue Mitglieder der Bewegung, die uns alles bedeutete. Entsprechend konnten wir der drängenden Aufforderung nicht widersprechen und gaben unsere Zustimmung. Der Personalchef traf sich mit dem Sekretär des Kibbuz und erklärte ihm alle Einzelheiten der Mission. Der Sekretär war tief beeindruckt und versicherte ihm, dass der Kibbuz, der jede Auslandsmission eines Mitglieds in der Generalversammlung bestätigen musste, in diesem Falle einverstanden sein werde. Dies geschah tatsächlich noch am selben Donnerstagabend. Der Sekretär eröffnete die Versammlung und erklärte, die Abstimmung sei ein persönliches Vertrauensvotum, da er die ihm vertraulich mitgeteilten Einzelheiten dieser Mission nicht nennen könne. Ich meinerseits erklärte, dass Chasia und ich trotz aller persönlichen Schwierigkeiten unsere Bereitschaft, dem Anliegen nachzukommen, zugesagt hatten. So war ich am nächsten Sonntag schon in Paris.

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Stürmische Zeiten

Unsere Zustimmung damals war übrigens nichts Außergewöhnliches – wir sahen uns alle als Mitglieder einer mobilisierten Truppe. Nach einigen Wochen war ich aus persönlichen Gründen gezwungen, meine Mission abzubrechen. Ich bekam ein Telegramm des Kibbuz, sofort zurückzukehren, da Chasia infolge der komplizierten Geburt eine schwere Operation bevorstand. Ich nahm das erste Flugzeug nach Israel; zunächst war kein Platz frei, doch nach Intervention der Israelischen Gesandtschaft in Paris fand sich doch noch eine Möglichkeit, in der Maschine nach Hause zu fliegen. Ich traf Chasia in einem relativ guten Zustand der Genesung an, und unsere kleine Tochter Racheli war auch frisch und munter. Davon abgesehen hatte ich Paris aber durchaus mit gutem Gewissen verlassen können, da ich bereits einen Mitarbeiter französischer Staatsangehörigkeit in die dortigen Aufgaben eingeführt hatte. Heute, inzwischen Vater und Großvater von Kindern, Enkeln und Urenkeln, stelle ich mir zuweilen die Frage, ob es wirklich gerechtfertigt war, die Bewegung über alles zu stellen und die persönlichen Bedürfnisse und Ansichten in den Hintergrund zu drängen. „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“ – die Zeiten ändern sich, und wir mit ihnen. Die Delegierten für langfristige Auslandsmissionen fahren inzwischen alle mit ihren Familien. Als wir 1954 nach Südafrika delegiert wurden, war es schon selbstverständlich, dass man mit der ganzen Familie ins Ausland übersiedelte. 1964 wurden wir erneut nach Paris entsandt, und während fast drei Jahren waren unsere drei Töchter mit uns. Als ich einige Jahre später, als Leiter der Weltzentrale der Haschomer-HazairJugendbünde, für die Delegation von israelischen Abgesandten verantwortlich war, weilten über 50 von ihnen für diese Aufgaben mit ihren Familien im Ausland. Dies war natürlich eine schwere finanzielle Belastung für die Kibbuzim, da nur ein Teil dieser Erzieher von der WZO unterhalten wurde. Die ultimative Forderung nach „Disziplin der Bewegung“ schwand dann allmählich im verpflichtenden Verhaltenscode der Mitglieder des Kibbuz, als das Prinzip der „kollektiven Ideologie“ mehr und mehr der Privatisierung Platz machte.

Stürmische Zeiten Als ich 1951 in Paris weilte, war ich Zeuge des Beginns einer stürmischen Affäre, welche die Bewegung innerlich erschütterte und sich nachhaltig auf die israelische Arbeiterbewegung auswirkte. In jenen Tagen lebten die Kibbuz-Auslands130

Stürmische Zeiten

Unsere Zustimmung damals war übrigens nichts Außergewöhnliches – wir sahen uns alle als Mitglieder einer mobilisierten Truppe. Nach einigen Wochen war ich aus persönlichen Gründen gezwungen, meine Mission abzubrechen. Ich bekam ein Telegramm des Kibbuz, sofort zurückzukehren, da Chasia infolge der komplizierten Geburt eine schwere Operation bevorstand. Ich nahm das erste Flugzeug nach Israel; zunächst war kein Platz frei, doch nach Intervention der Israelischen Gesandtschaft in Paris fand sich doch noch eine Möglichkeit, in der Maschine nach Hause zu fliegen. Ich traf Chasia in einem relativ guten Zustand der Genesung an, und unsere kleine Tochter Racheli war auch frisch und munter. Davon abgesehen hatte ich Paris aber durchaus mit gutem Gewissen verlassen können, da ich bereits einen Mitarbeiter französischer Staatsangehörigkeit in die dortigen Aufgaben eingeführt hatte. Heute, inzwischen Vater und Großvater von Kindern, Enkeln und Urenkeln, stelle ich mir zuweilen die Frage, ob es wirklich gerechtfertigt war, die Bewegung über alles zu stellen und die persönlichen Bedürfnisse und Ansichten in den Hintergrund zu drängen. „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“ – die Zeiten ändern sich, und wir mit ihnen. Die Delegierten für langfristige Auslandsmissionen fahren inzwischen alle mit ihren Familien. Als wir 1954 nach Südafrika delegiert wurden, war es schon selbstverständlich, dass man mit der ganzen Familie ins Ausland übersiedelte. 1964 wurden wir erneut nach Paris entsandt, und während fast drei Jahren waren unsere drei Töchter mit uns. Als ich einige Jahre später, als Leiter der Weltzentrale der Haschomer-HazairJugendbünde, für die Delegation von israelischen Abgesandten verantwortlich war, weilten über 50 von ihnen für diese Aufgaben mit ihren Familien im Ausland. Dies war natürlich eine schwere finanzielle Belastung für die Kibbuzim, da nur ein Teil dieser Erzieher von der WZO unterhalten wurde. Die ultimative Forderung nach „Disziplin der Bewegung“ schwand dann allmählich im verpflichtenden Verhaltenscode der Mitglieder des Kibbuz, als das Prinzip der „kollektiven Ideologie“ mehr und mehr der Privatisierung Platz machte.

Stürmische Zeiten Als ich 1951 in Paris weilte, war ich Zeuge des Beginns einer stürmischen Affäre, welche die Bewegung innerlich erschütterte und sich nachhaltig auf die israelische Arbeiterbewegung auswirkte. In jenen Tagen lebten die Kibbuz-Auslands130

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delegierten in den größeren Städten – wie hier in Paris – in einer Kollektivwohnung, das heißt, es wohnten mehrere Personen oder auch Familien zusammen. Für mich als vorübergehend Alleinstehenden war dies sehr günstig: Ich bekam ein Zimmer in der „Kommune“, in deren Rahmen für meine täglichen Bedürfnisse wie Mahlzeiten oder Wäsche gesorgt wurde. Dort wohnte damals auch die Tochter unseres „Bewegungsführers“ Meir Yaari mit ihrem Mann und einem kleinen Sohn als Delegierte für die Jugendarbeit in Frankreich. Im Juli 1951 kam Yaari zu einem „privaten“ Besuch zu seiner Familie in Paris, und auch er wohnte in der „Kommune“. Er war damals Mitglied des Präsidiums der „Israelischen Friedensbewegung“, einer internationalen Satellitenorganisation des Ostblocks während des Kalten Krieges, und auf dem Heimweg von deren Weltkonferenz, die kurz zuvor in Berlin stattgefunden hatte. Ich wurde gebeten, ihm mein Zimmer zur Verfügung zu stellen, und schlief auf der Couch im Esszimmer. Eines Abends begleitete ich Yaari auf einem Spaziergang durch die Pariser Boulevards, von dem wir ziemlich spät zurückkamen. Plötzlich läutete das Telefon. Mordechai Oren, Verbindungsmann der Mapam zu ausländischen Parteien, war am Apparat. Er berichtete, ich glaube aus Zürich, dass er zur Landeskonferenz des tschechoslowakischen Gewerkschaftsbundes nach Prag eingeladen sei, und fragte Yaari um seine Meinung dazu. Yaari empfahl ihm, nicht nach Prag zu fahren, und forderte ihn auf, nach Hause zu kommen – in voller Aufregung sprach er Jiddisch: „Kum a heim, Matchek“ (so nannte man Oren im polnischen Haschomer Hazair). Yaari hatte ein gut entwickeltes politisches Gespür, und schon auf der Konferenz in Berlin hatte er den Eindruck einer politischen Unsicherheit bei den Delegationen aus den osteuropäischen Ländern gewonnen. Diese standen seinerzeit völlig unter sowjetrussischem Einfluss und der Herrschaft der kommunistischen Parteien ihrer Länder. Kurz zuvor war es bereits zu antisemitischen Vorgängen in Moskau gekommen.58 Oren wollte die 58 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schwenkte die sowjetische Führung um Stalin auf einen judenfeindlichen Kurs um, nicht zuletzt, um von eigenen Fehlern und innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken sowie die eigene Machtposition zu stärken. 1948 wurde das 1942 gegründete „Antifaschistische Jüdische Komitee“ aufgelöst, das während des Krieges eine wichtige Rolle gespielt hatte. Viele jüdische Funktionäre, aber auch Schriftsteller und andere Intellektuelle wurden verhaftet und einer antisowjetischen Tätigkeit angeklagt. Es kam zu zahlreichen Hinrichtungen und Deportationen in Straflager. Eine Kampagne gegen „Kosmopolitismus und Zionismus“ gab den ideologischen Hintergrund ab, um nun überall jüdische „Verschwörungen“ zu entdecken. Nur Stalins Tod am 5. März 1953 verhinderte, dass die Anfang 1953 „entdeckte“ „Verschwörung“ hochge-

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Einladung dennoch annehmen und war der Meinung, dass sein Treffen mit Delegierten aus der Sowjetunion zu einem positiven Dialog führen könne. Er argumentierte auch, dass die Tschechoslowakei ein gutes Verhältnis zu Israel habe. Daher ignorierte er die Warnungen von Yaari und fuhr nach Prag. Auf der Tagung wurde er zwar gastfreundlich empfangen, aber auf der Rückreise von Prag im Zug an der Grenze verhaftet. Nachträglich stellte sich heraus, dass ihm seine guten Beziehungen zum Generalsekretär Rudolf Slánský und zu anderen führenden Personen der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei zum Verhängnis geworden waren.59 Slánský und 13 weitere leitende Funktionäre waren bereits seit Monaten in Haft und wurden im November 1952 in einem öffentlichen Schauprozess zum Tode verurteilt. Sie wurden des Verrats am Sozialismus und der Zusammenarbeit mit dem westlichen Imperialismus beschuldigt. Oren wurde als „Zeuge“ befragt und selbst einer zionistischen Verschwörung und der Spionage für Amerika angeklagt. Im November 1952 war ich wieder in Israel. Die Gerichtsverhandlungen wurden im Radio gesendet. Alle Angeklagten erklärten sich schuldig und priesen „das sozialistische Gericht“. Ich verfolgte die Übertragung des Prozesses in der BBC mit einer simultanen Übersetzung. Oren sprach polnisch. Hier erlebte ich eine Überraschung, als der Ankläger ihn fragte: „Was hast du während des Krieges in Genf gemacht?“ „Ich spionierte für die USA, für die die zionistische Bewegung arbeitet.“ Ich war sicher, dass dieses „Geständnis“ nur das Resultat schwerer Folter und brutaler Verhöre sein konnte. Ich wusste ja, was Oren in Genf getan hatte, wo im gleichen Zimmer mein Arbeitstisch gestanden hatte. Alle Briefe, die er aus verschiedenen Ländern, darunter den USA, erhalten hatte, aber auch die, die er, oft nach gemeinsamer Beratung, verschickt hatte, waren mir bekannt, bis zu dem Zeitpunkt, als er Ende 1939 Genf verlassen hatte. Meine erste Begegnung mit Oren hatte 1933 stattgefunden. Er war damals Abgesandter des Haschomer Hazair in Berlin. In diesen Jahren konnten die zionistischen Bewegungen in Deutschland noch arbeiten – die zionistischen

stellter Ärzte, darunter viele Juden, diese das Leben kostete. Ihnen hatte man vorgeworfen, die Ermordung leitender Politiker und Militärs geplant oder sogar schon durchgeführt zu haben. Heftige antijüdische Ausschreitungen waren die Folge gewesen. Heini Bornstein kommt auf die „Ärzteverschwörung“ noch zurück. 59 Nach Angabe von George Hermann Hodos wurde Oren Ende Dezember 1951 in Prag verhaftet (Hodos: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–1954. Berlin 2001, S. 186). Dies wird in Nachschlagewerken bestätigt.

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„Pionier-Erziehungsbewegungen“, die die Auswanderung junger Juden nach Palästina vorbereiteten und durchführten, waren auch nach der Machtübernahme der Nazis erlaubt. So wurden in der Schweiz ein Sommerlager und ein ideologisches Seminar organisiert, auf denen die älteren Mitglieder unserer Schweizer Bewegung die Kibbuzbewegung wählen wollten, der sie sich nach der Alija anschließen würden. Oren wurde eingeladen, über den Haschomer Hazair zu referieren. Georg Joseftal, später ein bekannter Minister der israelischen Regierung, legte die Ideologie des Habonim, der Jugendbewegung der führenden politischen Partei Mapai, dar. Einige Jahre später wurde Oren zum Verbindungsmann zu den sozialistischen Parteien besonders in den westeuropäischen Ländern ernannt. Er kam öfters in die Schweiz, und ich begleitete ihn zu seinen Treffen mit verschiedenen Persönlichkeiten. Als ich nun die Aussage von Oren im Radio hörte, rief ich sofort nach der Übertragung Meir Yaari an und schilderte ihm meine Eindrücke von dem Prozessverlauf. Alle Angeklagten, auch Slánský selbst, erklärten sich schuldig und bedankten sich auch noch für die „sozialistische Gerechtigkeit“. Alle 14 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und einige Tage danach hingerichtet. Oren erhielt fünfzehn Jahre Gefängnis, wurde dann aber im Jahr 1956 begnadigt. Das „Gericht von Prag“ löste in weiten Kreisen der israelischen Öffentlichkeit und besonders in der Mapam-Partei und der Haschomer-Hazair-Kibbuzbewegung tiefe Betroffenheit aus. Es handelte sich im Grunde um die Beschuldigung der zionistischen Bewegung, Spionage für Amerika und gegen die Sowjetunion zu betreiben. Diese ausgesprochen antisemitische Tendenz trat Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre in den Moskauer „Schauprozessen“ gegen jüdische Schriftsteller und Intellektuelle klar hervor. Auch in den osteuropäischen Satellitenstaaten herrschte eine antisemitische Atmosphäre. In der Mapam begann eine heftige Diskussion über die Frage nach der „Gerechtigkeit im sozialistischen Gericht“. Mosche Sneh, der Anführer des linken Flügels der Mapam, versuchte, zwischen dem Urteil gegen Slánský und dessen Kameraden, das er rechtfertigte, und dem gegen Oren zu unterscheiden. Doch deuteten er und andere zentrale Persönlichkeiten in der Führung der Bewegung Zweifel gegenüber dem Zionismus an. In verschiedenen Kibbuzim organisierten sich Zellen einer linksorientierten Opposition. In manchen von ihnen erschütterte dies die gesellschaftliche Atmosphäre durch eine tiefe ideologische Zäsur. Es fanden mehrere Konferenzen der Kibbuzbewegung statt, und ein außerordentlicher Kongress der Partei wurde einberufen. Ich nahm an all diesen Zusammenkünften teil, und bei verschiedenen Gelegenheiten berichtete ich über meine Beziehungen zu Oren in Genf. 133

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Die Führung der Bewegung konnte diese politische und gesellschaftliche Krise in ihren eigenen Reihen nicht dulden, stellte sie doch eine der ideologischen Grundlagen infrage: die Integrität des Zionismus. Es wurde beschlossen, ein politisches Bekenntnis zu formulieren, über das in allen Kibbuzim im Plenum offen abgestimmt werden sollte. Wer dagegen stimmte oder sich der Stimme enthielt, wurde aus dem Kibbuz ausgeschlossen. Dies entsprach den Statuten der Haschomer-Hazair-Kibbuzim: Im Unterschied zur größeren Bewegung der der Mapai angeschlossenen Kibbuzbewegung enthielten sie die Bedingung einer ideologischen und politischen „Kollektivität“. Theoretisch bedeutete dies im Grunde, dass sämtliche Mitglieder automatisch der Mapam angehörten und deren Beschlüsse nach der Diskussion in allen Kibbuzim sowie der Entscheidung auf dem Parteikongress akzeptieren mussten. Praktisch bestand diese „Kollektivität“ darin, dass die Kibbuzim für alle ihre Mitglieder pauschal Mitgliedsbeiträge an die Partei entrichteten. In fast allen Kibbuzim lebten jedoch Mitglieder oder Sympathisanten anderer zionistischer Parteien, und nur in Einzelfällen wurden aktive Mitglieder der Kommunistischen Partei, die versuchten, im Kibbuz „illegale Zellen“ zu gründen, ausgeschlossen. In der durch die Prager Vorgänge ausgelösten Krise wurde nun das Prinzip der „ideologischen Kollektivität“ rigoros – aus heutiger Sicht sogar widersinnig – durchgesetzt. In jedem Kibbuz fanden bis spät in die Nacht heftige Diskussionen in der Generalversammlung statt. Dort legten prominente Vertreter der Leitung der Bewegung dar, wie wichtig die Klärung der politischen Auffassung und der Parteizugehörigkeit für das weitere Leben im Kibbuz-Kollektiv sei. Auch in meinem Kibbuz, Lehavot Habaschan, wurden intensive Diskussionen geführt, und es wurde sogar eine konspirative Gruppe des linken Flügels gegründet. Ich persönlich identifizierte mich, wie die meisten Kameraden, mit der Führung der Bewegung. In der entscheidenden Abstimmung stimmte die große Mehrheit für die von ihr vorgelegte Ablehnung der „sozialistischen Gerichtsbarkeit“ in Prag. Nur elf Kameraden verweigerten ihre Stimme. Nach längeren vergeblichen Versuchen, sie von ihrer extrem linken Position abzubringen und ihnen die Konsequenzen für sie und ihre Familien aufzuzeigen, wurde ihr Ausschluss aus dem Kibbuz in der Generalversammlung mehrheitlich bestätigt. Die Versammlung begann um acht Uhr abends in Anwesenheit von Yaakov Chasan, der sein ganzes rhetorisches Gewicht und seine Autorität in die Waagschale werfen musste, bis um drei Uhr morgens der dramatische Beschluss fiel, der das weitere normale Leben des Kibbuz ohne politische Spannungen garantieren sollte. 134

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Etwa ein Jahr nach seiner Freilassung besuchte ich Mordechai Oren in seinem Kibbuz Misra. Wir saßen stundenlang zusammen, er erzählte und erzählte. Ich hatte einen vor allem politisch geschlagenen Menschen vor mit. Er hatte viele Jahre dem linken Flügel innerhalb der Kibbuzbewegung und der Partei angehört, hatte an „die Welt von morgen“ geglaubt und die Partei in internationalen sozialistischen Gremien repräsentiert. Plötzlich musste er einige Jahre lang in einer isolierten Gefängniszelle den wirklichen Charakter des „sozialistischen Systems“ erleben und sah sich brutalen Verhören ausgeliefert. Er hätte es sich nicht träumen lassen, Opfer einer weltweiten, von der Sowjetunion gestarteten und antisemitisch gefärbten Kampagne gegen „imperialistisch-zionistische Spione“ und „Volksfeinde“ zu werden. Er war auch gesundheitlich schwer getroffen. Im Gefängnis wurde er zuckerkrank, und nach einigen Jahren musste eines seiner Beine amputiert werden. Nach seiner Rückkehr vermochte er seinen Platz in der Bewegung nicht wiederzufinden. Die Führung gab ihm wohl Rückendeckung, doch eine gewisse Distanzierung blieb spürbar. Alle waren sich der Meinungsverschiedenheiten noch vor seiner unglücklichen Verstrickung in die stalinistischen „Verschwörungskonstrukte“ bewusst. Die Führer des Haschomer Hazair hatten seine extreme Linksorientierung oft kritisiert. Yaari erinnerte daran, dass er ihn vor der Reise nach Prag gewarnt hatte. Oren seinerseits erklärte, dass trotz allem, was er durchgemacht habe, sein Glaube an den Sozialismus nicht erschüttert worden sei. In einer Debatte im Zentralkomitee der Mapam distanzierte er sich von dem seinerzeit geplanten „Schauprozess“ in Moskau, bei dem – wie die im Dezember 1952 und Januar 1953 veröffentlichten Anschuldigungen hatten erwarten lassen – jüdische Ärzte des Mordes und Mordversuchs an sowjetischen Führern und Generälen angeklagt werden sollten; nur der Tod Stalins im März desselben Jahres hatte ihre Verurteilung verhindert. Oren wies auch die Behauptung zurück, der Zionismus sei „kapitalistisch und rassistisch“. Nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1956 wandte er sich natürlich gegen alle Verbrechen, die Stalin begangen hatte. Und doch glaubte er weiter an den sozialistischen Weg der Sowjetunion. Er war und blieb ein linksextremer Außenseiter, der seine frühere Rolle in den zentralen Gremien der Partei nicht mehr wahrnehmen konnte. Obwohl er bei der Tageszeitung der Partei eine Anstellung fand, blieb er bis zu seinem Lebensende 1985 politisch und auch gesellschaftlich weitgehend isoliert. Als ich auf seiner Beerdigung im Kibbuz Misra war, stimmte es mich traurig zu sehen, dass nur wenige ihn auf seinem letzten Weg begleiteten. 135

Alija, Kibbuz, Familie

Alija, Kibbuz, Familie Nach dem Krieg war ich der Erste aus meiner Altersklasse im Haschomer Hazair der Schweiz, der im Mai 1947 „auf Alija ging“. In Haifa verbrachte ich die erste Nacht im Hotel. Zum Abendessen bummelte ich in das „Arbeiterrestaurant“ im Zentrum der Stadt. Haifa war damals „rot“, die Arbeiterpartei beherrschte alle politischen und städtischen Verwaltungsämter. Ich spazierte die Hauptstraße entlang und sah alles mit den Augen eines Neueinwanderers, aber auch eines alten Zionisten. Überall traf ich die „neuen Juden“, Frauen und Männer, Kellner, Gepäckträger, Polizisten, Chauffeure, Bankbeamte oder Hausfrauen, die zusammen mit Arabern die Straße bevölkerten. Wir in der Bewegung hörten meistens nur von Unruhen und der Ermordung von Juden durch Araber. Aber im Haschomer Hazair glaubten wir an die Völkerverständigung, an die Möglichkeit der Koexistenz von Juden und Arabern in Palästina als deren gemeinsamer Heimat. Ich schlenderte herum und machte mir Gedanken darüber, was denn nun die Wirklichkeit war im Vergleich zu dem, was wir uns in unserem Idealismus vorstellten. Es vergingen noch einige Monate, bis ich die komplizierten nationalen Probleme zu verstehen glaubte. Am Morgen nach meiner Ankunft fuhr ich mit dem Autobus in den Kibbuz Gat im Süden des Landes, meine erste Station in Palästina. Dort lebte eine Anzahl von Kameraden, insbesondere aus Jugoslawien, die ich während des Krieges als Flüchtlinge in der Schweiz kennengelernt hatte. Mit einigen war ich gut befreundet. Von einem, Joschko Indig (später Josef Itai), habe ich im Zusammenhang mit der Rettung der Kinder der Villa Emma berichtet. Auch traf ich im Kibbuz Zehava Finzi, eine der Geretteten des „Kasztner-Zuges“, der im August 1944 in Basel angekommen war. Wir waren vom ersten Treffen an Freunde geworden. Im Dezember 1945 war sie zusammen mit der ersten Gruppe des „Kasztner-Zuges“ nach Palästina gefahren. Im Kibbuz Gat wartete ich auf Chasia, damit wir gemeinsam unsere Zukunft beschließen konnten – wir hatten vor unserem Treffen in Palästina keine Möglichkeit gehabt, dies miteinander zu besprechen. Chasia kam aber erst im August 1947 nach Palästina. Die Aufnahme in Gat war sehr gut. Meine Freunde richteten alles schön vor, ich bekam ein gutes Zimmer mit allem, was nötig war. Sie hatten auch die KibbuzMitglieder auf mein Kommen vorbereitet, indem sie ihnen verschiedene Dinge aus meinem bisherigen Leben erzählten. So wurde ich sehr freundlich empfangen. Der Kibbuz Gat liegt im Süden des Landes. Dies war ein ödes, zum Teil unbewohntes Gebiet gewesen, bis der Kibbuz sich im Jahre 1942 angesiedelt hatte. Als 136

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ich ankam, standen dort einige Häuser, und es gab sogar einen Speisesaal. Ich begann gleich zu arbeiten: Man gab mir einen Blecheimer und einen Stock. Meine Aufgabe war es, mit dem Stock auf das Blech zu schlagen und so die Vögel von den neu gepflanzten Gemüsesprösslingen zu verjagen. Der Arbeitstag hatte neun lange Stunden. Um mir den Einstieg zu erleichtern und mich langsam an die Hitze zu gewöhnen, wurde er mir vorläufig um drei Stunden gekürzt. Im Gemüsegarten arbeiteten zumeist Frauen, außer bei der Bewässerung. Nach einigen Wochen bekam ich eine „ehrenvollere“ Arbeit: Ich wurde dem „Bewässerungsteam“ zugeteilt. Wir begannen um sechs Uhr früh und arbeiteten zunächst bis um acht Uhr, dann kehrten wir zum Frühstück in den Speisesaal zurück. Da hier das „Gemüseteam“ zusammensaß, war dies eine günstige Gelegenheit, gesellschaftliche Beziehungen untereinander zu knüpfen und zu pflegen. Ich persönlich fand hier einen sozialen Raum der Integration. Ich lernte bald, dass die Arbeit Grundlage für jede Position im Kibbuz war, denn alles wurde aus der Perspektive des konstruktiven Aufbaus bewertet. Arbeit war auch Teil der sozialistischen Ideologie. Im Kibbuz wusste man zudem, dass sich in der Schweiz eine Gruppe von Mitgliedern des Haschomer Hazair auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Ich war für sie die „erste Schwalbe“, deren Erfahrung die Entscheidung dieser Gruppe beeinflussen würde. An einem Freitagabend wurde ich eingeladen, über meine Tätigkeit in der Schweiz während des Krieges zu erzählen. Der Speisesaal war voll besetzt. Ich berichtete vor allem über die Verbindungen mit der Bewegung in Jugoslawien und die Rettungsaktion des Kinderheims von Joschko Indig, wie sie sich aus unserer Sicht in der Schweiz dargestellt hatte. Die Leute saßen und lauschten gespannt bis tief in die Nacht hinein. Anfang September 1947 arbeitete ich wie gewöhnlich im Gemüsegarten. Als wir vom Feld in den Kibbuz zum Mittagessen zurückkamen, wurde ich durch den Lautsprecher zu einem Telefonat aus Merchavia gerufen. Da damals in dem dortigen Kibbuz von Meir Yaari das Büro der Zentralleitung des Haschomer Hazair amtierte, musste es etwas besonders Dringendes sein. Am Mittagstisch fragten mich deshalb alle, ob ich den Grund für diesen überraschenden Anruf wisse. Ich ging ins Sekretariat und wartete auf das Telefonat. Der Apparat läutete, ich nahm ab und man erzählte mir, dass Chasia sich im Lager in Atlit befinde. Man könne sie nicht besuchen, doch ein Treffen am Stacheldrahtzaun sei möglich. Chasia hatte sich im April mit 2500 „illegalen Einwanderern“, darunter 500 Kinder unter ihrer Aufsicht, auf dem Schiff „Theodor Herzl“ befunden, das von 137

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der englischen Küstenwache gekapert worden war. Im Hafen von Haifa wurden sie gegen heftigen Widerstand, der drei Todesopfer und viele Verwundete kostete, auf andere Schiffe „umgeladen“ und nach Zypern gebracht. Im dortigen Flüchtlingslager hinter Stacheldraht sorgte Chasia wie schon vorher im DP-Lager in Deutschland für die Kinder und deren Unterricht, bis sie mit „ihren“ Kindern in das von den Engländern bewachte Aufnahmelager in Atlit bei Haifa „verlegt“ wurde. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Autobus nach Atlit – eine Tagesreise. Unsere Aufregung war groß, als wir uns am Stacheldrahtzaun trafen. Sie sagte mir, dass sie nach etwa einem halben Jahr freikomme, die Bewegung versuche jedoch, Wege zu einer früheren Freilassung zu finden. Tatsächlich gelang es mit verschiedenen Tricks, dass Chasia am 14. September – am Vorabend des jüdischen Neujahrsfestes – das Internierungslager verlassen konnte. Sie fuhr nach Gan Schmuel, einem der ersten Kibbuzim im Lande.60 Dort war einige Monate früher die Kindergruppe aufgenommen worden, die Chasia im DP-Lager betreut hatte. Hunderte von Kibbuzmitgliedern und ihre Gäste saßen feierlich gekleidet an den Tischen, und als Chasia in den Saal kam, standen alle 70 Kinder spontan auf, rannten an den Eingang und umarmten sie jubelnd, viele mit Tränen in den Augen. Der ganze Saal war außer sich – so etwas hatte man in Gan Schmuel noch nie gesehen. Chasia erzählte mir später von diesem einzigartigen Ereignis. Am nächsten Tag fand auch ich mich in Gan Schmuel ein. Das Treffen mit Chasia war tief bewegend und rührte uns im Innersten. Die Kinder hingegen waren zurückhaltend – für sie war ich ein „Volksfeind“, denn ich kam ja, um ihnen ihre Chasia wegzunehmen, die hier ein neues Leben beginnen und eine neue Zukunft aufbauen wollte. Nach zwei Monaten verließ sie dann auch Gan Schmuel, und wir standen vor der Frage, wo wir unser zukünftiges Heim errichten sollten. Chasia und ich fuhren in den Kibbuz Gat. Sie war beeindruckt von der Aktivität, die dort vorherrschte. Gat hatte dabei etwas ganz Charakteristisches: Alle zentralen Funktionen wurden von Frauen wahrgenommen, von der

60 Gan Schmuel („Schmuels Garten“) ist nach Rabbi Schmuel Mohilever (1824–1899) benannt, dem Führer des religiösen Flügels der Chowewe Zion („Zionsliebende“) und Rabbiner von Białystok. 1897 pflanzten die Gründer der Stadt Hadera einen Etrog-Hain – eine Zitrusfrucht – und nannten ihn Gan Schmuel. 1913 begannen dort Pioniere, zu arbeiten und zu leben. Diese Gruppe wurde 1921 als Kibbuz anerkannt. Heute spielt er eine wesentliche Rolle in Israels Lebensmittelindustrie. – Zu Atlit siehe den Hinweis im Glossar unter dem Stichwort Bricha.

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Kibbuzsekretärin über die Finanzverwaltung bis zur Wirtschaftsleiterin und zur Leitung vieler weiterer wichtiger Funktionen des Kibbuzlebens. Obwohl Chasia keine Feministin war, gefiel ihr dies sehr. Der Kibbuz Gat befand sich schon in einem fortgeschrittenen Stadium beim Aufbau der Infrastruktur und war gesellschaftlich konsolidiert. Bei Chasia stellten sich hier Zweifel ein: Nach all dem, was sie durchgemacht hatte, wollte sie alles von Neuem beginnen. Sich einem bestehenden Kibbuz anzuschließen, bedeutete hingegen Fortsetzung von etwas bereits Bestehendem. Sie hatte das Gefühl, dass nur ein Neubeginn es ihr ermöglichen würde, sich in der Realität der neuen Heimat einzuleben und hier Wurzeln zu schlagen. Ich fühlte mich wohl in Gat, doch Chasia beharrte darauf, dass dies nicht der Ort sei, um neu zu beginnen. Trotz der freundlichen Aufnahme und unseres Eindrucks von einer angenehmen und harmonischen Gesellschaft verließen wir Gat nach zwei Tagen. Von Gat fuhren wir zum Kibbuz Ein Haschofet.61 Dies war ein ebenfalls bereits fest etablierter Kibbuz auf der Karmelhöhe, wo ein wunderbares Klima herrschte. Wir kannten zwei Kibbuzmitglieder, die als die ersten Emissäre der Bewegung sofort nach der Befreiung von der deutschen Besatzung nach Polen gekommen waren. Chasia war müde, auch körperlich erschöpft und schwach, und die zwei Kameraden versuchten sie davon zu überzeugen, dass ihre physische Kraft dem primitiven Leben in einem neu angesiedelten Kibbuz nicht gewachsen sei. Natürlich sprachen sie auch mit mir, und ich hätte gerne in Ein Haschofet gelebt. Auch von anderer Richtung wurden Versuche gemacht, uns zu beeinflussen. Israel Barsilai aus dem Kibbuz Negba,62 von dem schon die Rede war, hatte Chasia als Leiterin des von ihr geschaffenen ersten jüdischen Kinderheims 61 Der Kibbuz Ein Haschofet („Quelle des Richters“, so benannt zu Ehren des US-amerikanischen Richters und Zionisten Louis D. Brandeis, 1856–1941) liegt rund 30 km von Haifa entfernt und wurde 1937 von Siedlern gegründet, die sich aus einer polnischen und einer amerikanischen Haschomer-Hazair-Gruppe zusammengeschlossen hatten. Während des arabischen Aufstandes von 1936 bis 1939 nahm er militärische Aufgaben wahr. Der Kibbuz war zunächst landwirtschaftlich geprägt, inzwischen sind Industriewerke hinzugekommen. Heute leben rund 800 Menschen dort. 62 Der Kibbuz Negba liegt im südlichen Teil Zentralisraels in der Nähe von Askalon und wurde 1939 von Mitgliedern des Haschomer Hazair aus Polen gegründet. Damals war es die südlichste jüdische Siedlung im Mandatsgebiet Palästina. Im Unabhängigkeitskrieg wurde der Kibbuz 1948 drei Monate lang von der ägyptischen Armee belagert, konnte jedoch gehalten werden. Neben der Landwirtschaft hat sich hier ein Unternehmen der Verpackungsindustrie angesiedelt. Derzeit leben etwa 600 Einwohner im Kibbuz.

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in Lodz getroffen und kannte ihre Leistungen als Widerstandskämpferin während der Kriegszeit. Auch er war der Meinung, dass Chasia ihr neues Leben in diesem Land unter etwas geordneteren Bedingungen beginnen sollte, dies werde ihre Integration erleichtern. Nach drei Tagen verließen wir Ein Haschofet, ohne eine endgültige Entscheidung getroffen zu haben. Chasia fuhr noch in einige Kibbuzim, um Kameraden zu treffen, darunter Benjamin Cohen, den wir beide kannten. Nach Kriegsende war er aus der britischen Armee desertiert, um den Schoah-Überlebenden in den DP-Camps Hilfe zu leisten, in denen auch Chasia mit ihrer Kindergruppe gelebt hatte. Dov Zakin hatte Chasia in Zypern kennengelernt, als sie dort mit ihrer Kindergruppe im Lager für „illegale“ Einwanderer interniert gewesen war. Zakin gehörte damals zur Jewish-Agency-Delegation und arbeitete mit Chasia zusammen. Beide traf Chasia bei ihrem Besuch im Kibbuz Lehavot Habaschan, der sie sehr beeindruckte: Alles war noch am Anfang – nur ein paar Zelte, keine Bäume, überall Steine auf der Erde. Im Oktober 1947 kehrte Chasia nochmals nach Gan Schmuel zurück. Dort trafen wir uns und fuhren nach Lehavot Habaschan. Es gab noch keine Landstraße zu dem Kibbuz, und man holte uns vom benachbarten Kibbuz Schamir, der Endstation des Autobusses, ab.63 Von dort führte ein leidlich begehbarer Pfad zwischen den Steinen nach Lehavot Habaschan, wo für uns ein Zelt vorbereitet war. Wir wurden herzlich willkommen geheißen, und später fand zu unseren Ehren ein Tanzabend im Speisesaal – einer kleinen hölzernen Baracke mit Küche, einfachen Tischen und langen Bänken – statt. Nachdem wir uns mit den Kibbuzfunktionären und untereinander besprochen hatten, kristallisierte sich der Beschluss heraus, diesem Kibbuz beizutreten. Es wurde uns ein „Familienzelt“ zugeteilt, nur für uns allein. Das war eine besondere Rücksichtnahme, war es doch infolge des Mangels an Unterkunftsmöglichkeiten sonst üblich, jedem „Familienzelt“ einen Junggesellen oder eine alleinstehende Frau zuzuteilen, eine Person, die man „Primus“ nannte.

63 Der Kibbuz Schamir liegt unterhalb der Golanhöhen und wurde 1944 von einer Gruppe hauptsächlich rumänischer Einwanderer gegründet, die dem Haschomer Hazair angehörten. Die 1948 festgelegte Grenze zwischen Israel und Syrien verlief ganz in der Nähe. 1974 wurde der Kibbuz Ort eines Terrorangriffs, dem drei Frauen zum Opfer fielen; auch die vier Terroristen wurden getötet. Heute ist der Kibbuz einer der reichsten des Landes. Er produziert Honig, Körperpflegemittel und spezialisierte optische Geräte. Darüber hinaus ist er ein beliebtes touristisches Ziel. 2006 lebten dort rund 600 Menschen.

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Aber war unser Beschluss, alles von Grund auf neu zu beginnen, wirklich richtig und vernünftig? Entscheidungen fällt man in einer spezifischen Situation, und nicht immer halten sie einer nachträglichen Prüfung stand. Es hat wenig Sinn, darüber nachzudenken, wie unser Lebensweg verlaufen wäre, wenn wir beschlossen hätten, uns einem bereits fest etablierten Kibbuz anzuschließen, dennoch machten wir uns natürlich von Zeit zu Zeit solche Gedanken. In einem Kibbuz, der sich im Stadium des Aufbaus durch eine sich überhaupt erst einmal formierende Gemeinschaft befindet, muss man sich mit Entscheidungen abfinden, mit denen man nicht unbedingt einverstanden ist. Es gilt, die „Autorität der Gemeinschaft“ zu akzeptieren. In einem Kibbuz, der in unbebautem Grenzgebiet mit äußeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat, herrscht unwillkürlich auch im Leben der Gemeinschaft eine gewisse, oft große Anspannung. Neben der „Autorität der Gemeinschaft“ war für Chasia und mich die „Autorität der Bewegung“ höchstes Gebot. Dies war der psychologische Hintergrund unserer Anpassung als „Neulinge“. Wir beide hatten in der Vergangenheit zentrale Funktionen ausgeübt, die von uns persönliche Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen erfordert hatten. Mit unserem Anschluss an eine neue Gemeinschaft in einem neuen Kibbuz standen wir, jeder für sich, vor der Herausforderung, ganz neu zu beginnen. Die Kibbuzkameraden kannten zwar unsere „Vergangenheit“, aber im Kibbuz spielten im täglichen Leben andere Kriterien eine Rolle. Lange Zeit hatten wir nicht den Mut, uns öffentlich zu Fragen, die auf der Tagesordnung standen, zu äußern. Wir, deren persönliche Meinung und deren Entscheidungen in der Vergangenheit eine gewisse Bedeutung gehabt hatten, mussten uns an eine andere Werteskala anpassen. Dies galt vor allem für den Wert der Arbeit. Körperliche Arbeit war für uns die erste Prüfung, und dies unter ganz neuen klimatischen Bedingungen. Wir waren schlicht und ergreifend nicht an die große Hitze gewöhnt. Ich muss gestehen, dass es mir nicht leichtfiel, mich nach meiner umfassenden Tätigkeit als aktiver Zeitzeuge dramatischer Ereignisse an das tägliche Leben in einem Kibbuz im Pionierstatus zu gewöhnen. Die persönlichen Anforderungen ergaben sich unter ganz neuen Bedingungen. Für Chasia war dieser Übergang noch schwerer. Hinter ihr lagen stürmische Jahre des Kampfes zwischen Leben und Tod, Situationen, die geistesgegenwärtige Entscheidungen erfordert hatten, zudem der Verlust all ihrer Lieben – all dies hatte sie aus Treue zur Bewegung und zu deren Mission auf sich genommen. Mit der Zeit waren wir immer besser imstande, uns zu integrieren und uns auf unser neues Umfeld einzustellen. Die Mitglieder des Kibbuz begannen 141

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ihrerseits, die Werte zu schätzen, die wir aus der Erfahrung unseres persönlichen Lebens in der Bewegung mitbrachten. Manchmal fragte ich mich, ob wir wirklich gut daran taten, dass Chasia in ein Land und in eine Gemeinschaft kam, die erneut von Spannungen und Kriegshandlungen gezeichnet war und in der die Kinder wieder in den Unterständen weilten. Mir wurde jedoch bewusst, dass sie auch hier eine außergewöhnliche Widerstandskraft bewies und imstande war, verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Wir besprachen dies häufig, und sie war sehr zufrieden damit, dass sie sich aktiv an der Verteidigung des soeben entstandenen Staates Israel beteiligen konnte – im Grunde war dies die Fortsetzung des dynamischen Strebens, das ihre bisherigen Jahre geprägt hatte, und die Vollendung ihres Lebenskreises. So begannen wir im Oktober 1947 unser Leben im Kibbuz Lehavot Habaschan. Damals war es üblich, dass der Gründungskern eines neuen Kibbuz seine ersten Schritte und Erfahrungen in einem provisorischen Lager in ländlicher Umgebung machte. In den ersten Jahren, von 1940 bis 1945, hatten sich die Gründer unseres Kibbuz in der Nähe von Karkur gesammelt. Sie arbeiteten als Lohnarbeiter in der Gegend, meistens in den Orangenplantagen. 1945 war die erste Gruppe von 25 Mitgliedern, meist Männer, aber auch einige Frauen, in das uns zugewiesene Gebiet im Norden übergesiedelt. Es lag am Fuße der Golanhöhen direkt an der damaligen syrischen Grenze.64 Das erste Wohnlager wurde im Laufe eines Tages auf einem Hügel errichtet und umzäunt. Der Grund dafür waren die Bestimmungen der britischen Mandatsregierung, die alle jüdischen Neusiedlungen verboten hatte. Da im damaligen Palästina jedoch noch teilweise das osmanische Recht galt, war ein umzäuntes und bebautes Stück Land unantastbar.65

64 Die Golanhöhen heißen auch Baschanberge, sodass sich der Name des Kibbuz – „Flammen des Baschan“ – auch auf die Landschaft bezieht. Die Gründer des Kibbuz setzten sich aus Mitgliedern des Haschomer Hazair zusammen, die teilweise schon länger in Palästina lebten oder im Rahmen der Jugend-Alija aus Polen, Litauen und Deutschland hierher gekommen waren. Heute wohnen rund 650 Menschen, darunter 200 Kinder, in Lehavot Habaschan. 65 In Zusammenhang mit der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und der Bildung der Türkischen Republik 1923 kam Palästina 1922 als Mandat des Völkerbundes unter britische Verwaltung, die faktisch schon seit der Eroberung des Landes 1917 eingerichtet worden war. Da es sich aber um keinen neuen Staat handelte, galt in vielen Bereichen das bisherige osmanische Recht weiter.

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Alija, Kibbuz, Familie

Vom Tag der „Ansiedlung“ auf einem Hügel in der Nähe des arabischen Dorfes Chiam-el-walid im November 1945 bis zum Sommer 1949 lebten die Mitglieder des Kibbuz getrennt: Die Kinder und die Mehrzahl der Frauen blieben „unten“ in Karkur, während zumeist männliche Gruppen im Wechsel „oben in Chiam“ den Boden für die künftige Landwirtschaft vorbereiteten. Erst im September 1947 verlegten etwa 50 Kibbuzmitglieder das Lager vom Hügel in das westlich gelegene Flachland, wo die ersten Bauten für die ständige Ansiedlung errichtet wurden. Noch immer war der Kibbuz geteilt: „Oben“ in Chiam gab es nur wenige feste Häuser, und diese Region an der syrischen Grenze war ständig der Gefahr ausgesetzt, beschossen und angegriffen zu werden. Jeder, der Mitglied des Kibbuz werden wollte, musste dort in der Regel ein Jahr als „Kandidat“ leben, bevor er in der Generalversammlung in offener Abstimmung als festes Mitglied bestätigt oder abgelehnt wurde. Solange unser Kibbuz geteilt lebte, wurde über alle Beschlüsse „unten“ wie „oben“ abgestimmt. Die Ergebnisse mussten dann zusammengezählt werden. In unserem Fall beschloss der „untere“ Teil des Kibbuz, Chasia und mich ohne jegliche Kandidatur als volle Mitglieder aufzunehmen, während „oben“ die Mehrheit der Stimmen auf dem Kandidaturjahr gemäß den Statuten bestand. Am Schluss einigte man sich auf ein halbes Jahr. Eine Bedingung für die Mitgliedschaft in einem Kibbuz des Haschomer Hazair war die Zugehörigkeit zur Mapam. Mit den Jahren wurde dieser Paragraf geändert: Nun hieß es, man müsse Mitglied einer „zionistisch-sozialistischen Partei“ sein, und später war nur noch von einer „zionistischen Partei“ die Rede. Diese Verpflichtung entsprach dem Grundsatz des „ideologischen Kollektivismus“, der im Haschomer Hazair, nicht aber in anderen Kibbuzbewegungen gepflegt wurde. Er war ein Wert für sich und ein Instrument im politischen Kampf. Ganz ähnlich, wahrscheinlich noch mehr in den religiösen Kibbuzim, waren die Speise- und sonstigen Regeln des Kultus und des alltäglichen Verhaltens einzuhalten, die gläubige Juden verpflichten. Seither wurde diese ideologische Anschauung weitgehend „privatisiert“. Nicht nur in den „erneuerten“, sondern auch in der Minderheit der nicht „privatisierten“ Kibbuzim gibt es heute keine ideologische und politische Einheit mehr. In der Knesset, dem israelischen Parlament, hat sich dem Zeitgeist entsprechend die Zahl der Kibbuzmitglieder von Wahlgang zu Wahlgang verringert, und sie amtieren zudem als Abgeordnete der verschiedensten Parteien von links bis rechts. Die Gesellschaft im Kibbuz Lehavot Habaschan war und ist nach Herkunft und Bildungsniveau sehr gemischt. Die Gründergruppe des Kibbuz waren 143

Alija, Kibbuz, Familie

Gymnasiasten aus Polen und aus Deutschland, die 1940 ihre Ausbildung im Kinderdorf Ben Shemen und im Internat der Haschomer-Hazair-Kibbuzim abgeschlossen hatten.66 Beide Institute arbeiteten nach ähnlichen fortschrittlichen psychologischen und didaktischen Methoden, die durch die deutsche Jugendbewegung beeinflusst waren. Der emotional untereinander verbundenen Gruppe wurde in Kooperation mit dem Lehrkörper eine weitgehende Mitbestimmung des Unterrichtsplans und der Erziehung eingeräumt. In den fünf Jahren der Vorbereitung in Karkur wuchs die Mitgliederzahl des Kibbuz infolge des Beitritts einer Gruppe in Deutschland geborener Jugendlicher, die im Zuge der Alija bis zum Kriegsausbruch eingewandert waren und in verschiedenen Kibbuzim des Haschomer Hazair ihre Schulausbildung beendet hatten. Hinzu kamen nach Kriegsende Gruppen und einzelne Mitglieder der Bewegung, die den Krieg in den deutschen Konzentrations- und Arbeitslagern oder als Flüchtlinge in der Sowjetunion überlebt hatten. Als Ergebnis dieser Sammlung entstand in Karkur eine sehr heterogene Gemeinschaft. Die meisten hatten in Palästina oder in Deutschland, Polen oder Litauen dem Haschomer Hazair angehört. Gemeinsam waren ihnen dieses Jugenderlebnis und die Ideologie der Bewegung, aber dennoch waren ihre Erinnerungen an die körperlichen und seelischen Belastungen in den Jahren der Schoah völlig unterschiedlich. Es brauchte einige Zeit, bis dieses Trennende in den individuellen und gesellschaftlichen Beziehungen durchbrochen werden konnte. Aber Chasia und mir erleichterte es das Einleben im Kibbuz. Wir kamen beide aus dem Nachkriegseuropa, wenngleich mit sehr unterschiedlichen Erinnerungen und Bekanntschaften aus der Vergangenheit. Sie bahnten uns den Weg zu den ersten Verbindungen mit Mitgliedern des Kibbuz, die den Krieg unter unvergleichbaren Bedingungen überlebt hatten. So wurden wir nach einem halben Jahr einstimmig als Mitglieder aufgenommen. Es wurde jedoch unterstrichen, dass unser Fall nicht als Präzedenzfall zu betrachten sei.

66 Das Kinder- und Jugenddorf Ben Shemen wurde 1927 auf einem Fabrikgelände gegründet, das Siegfried Lehmann (1892–1958) gehörte, einem aus Berlin stammenden Arzt. Ziel war es, den Kindern und Jugendlichen Kenntnisse in landwirtschaftlicher Arbeit und zugleich die Werte zionistischer Ethik zu vermitteln. Die ersten Schüler kamen aus Kaunas in Litauen; dort hatte Lehmann 1919 eine Einrichtung für jüdische Kriegswaisen geschaffen. Auch Jugendliche, die im Rahmen der Jüdischen Jugendhilfe, der Vorläuferin der JugendAlija, nach Palästina gekommen waren, fanden hier Platz. Heute lernen hier rund 1000 Schüler, von denen etwa 400 auch im Dorf leben.

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Krieg und Verwurzelung

Der Kibbuz hatte anfangs noch keine festen Häuser, und man begann gerade, die ersten Holzbaracken zu erstellen. Chasia schmückte unser Zelt, und wir fühlten uns ganz wohl. Es gab noch keinen elektrischen Anschluss, allein eine Karbidlampe schenkte uns ein wenig Licht. Wir beide wurden zur Arbeit in der Baumpflanzung rings um den Kibbuz eingeteilt. Diese Bäume waren aus zwei Gründen wichtig: Nach einigen Jahren umgaben sie den Kibbuz und seine Häuser innerhalb der Umzäunung und spendeten Schatten vor der brennenden Sonne, und gleichzeitig dienten sie als Tarnung gegen die feindliche Beobachtung durch die benachbarten Araber und die syrischen Soldaten auf den Golanhöhen. Es dauerte freilich einige Zeit, bis die Bäume wuchsen.

Krieg und Verwurzelung Am 29. November 1947, einen Monat nach unserer Ankunft im „oberen“ Teil des Kibbuz Lehavot Habaschan, fasste die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Beschluss zur Schaffung eines jüdischen Staates im geteilten Palästina. Der Kibbuz musste nun sowohl beim kurzfristigen Bau als auch in der langfristigen Planung unbedingt Sicherheitsfragen berücksichtigen. Es gab keine Schutzanlagen, keine Unterstände, keine kugelsicheren Wohnungen, nicht einmal einen nennenswerten Zaun rund um den Kibbuz, der Angreifer hätte abwehren können. Die Zelte und Baracken, in denen wir wohnten, hielten kaum dem stürmischen Südostwind statt, den unsere arabischen Nachbarn „Scharkija“ nannten. Als wir eines Tages von der Arbeit auf den Pflanzungen zurückkamen, war unser Zelt verschwunden – die heftigen Windstöße hatten es weggeblasen. Unsere geringe Habe hatten gute Kameraden zum Glück in einer erst im Bau befindlichen Holzbaracke verstaut. Dort blieben wir wohnen, mit Wellblech, Wolldecken und Kisten eher dürftig ausgestattet. Damit waren wir Neulinge die erste Familie, die in einer Holzbaracke ein Dach über dem Kopf hatte. Nachdem die Männer zuvor einige Zeit im Wald gearbeitet hatten, wurden sie jetzt zum Graben von Verteidigungslinien eingeteilt. In Kürze hatten wir das ganze Wohngebiet mit einem Netz von Laufgräben und Stellungen durchfurcht – nun gab es wenigstens einen gewissen Schutz vor den Kugeln möglicher Angreifer. Gleichzeitig wurden die ersten Schritte unternommen, um auf den dafür vorgesehenen Feldern landwirtschaftliche Kulturen zu schaffen. In diesem Stadium fand dies noch in eher beschränktem Umfang statt und diente insbeson145

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Der Kibbuz hatte anfangs noch keine festen Häuser, und man begann gerade, die ersten Holzbaracken zu erstellen. Chasia schmückte unser Zelt, und wir fühlten uns ganz wohl. Es gab noch keinen elektrischen Anschluss, allein eine Karbidlampe schenkte uns ein wenig Licht. Wir beide wurden zur Arbeit in der Baumpflanzung rings um den Kibbuz eingeteilt. Diese Bäume waren aus zwei Gründen wichtig: Nach einigen Jahren umgaben sie den Kibbuz und seine Häuser innerhalb der Umzäunung und spendeten Schatten vor der brennenden Sonne, und gleichzeitig dienten sie als Tarnung gegen die feindliche Beobachtung durch die benachbarten Araber und die syrischen Soldaten auf den Golanhöhen. Es dauerte freilich einige Zeit, bis die Bäume wuchsen.

Krieg und Verwurzelung Am 29. November 1947, einen Monat nach unserer Ankunft im „oberen“ Teil des Kibbuz Lehavot Habaschan, fasste die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Beschluss zur Schaffung eines jüdischen Staates im geteilten Palästina. Der Kibbuz musste nun sowohl beim kurzfristigen Bau als auch in der langfristigen Planung unbedingt Sicherheitsfragen berücksichtigen. Es gab keine Schutzanlagen, keine Unterstände, keine kugelsicheren Wohnungen, nicht einmal einen nennenswerten Zaun rund um den Kibbuz, der Angreifer hätte abwehren können. Die Zelte und Baracken, in denen wir wohnten, hielten kaum dem stürmischen Südostwind statt, den unsere arabischen Nachbarn „Scharkija“ nannten. Als wir eines Tages von der Arbeit auf den Pflanzungen zurückkamen, war unser Zelt verschwunden – die heftigen Windstöße hatten es weggeblasen. Unsere geringe Habe hatten gute Kameraden zum Glück in einer erst im Bau befindlichen Holzbaracke verstaut. Dort blieben wir wohnen, mit Wellblech, Wolldecken und Kisten eher dürftig ausgestattet. Damit waren wir Neulinge die erste Familie, die in einer Holzbaracke ein Dach über dem Kopf hatte. Nachdem die Männer zuvor einige Zeit im Wald gearbeitet hatten, wurden sie jetzt zum Graben von Verteidigungslinien eingeteilt. In Kürze hatten wir das ganze Wohngebiet mit einem Netz von Laufgräben und Stellungen durchfurcht – nun gab es wenigstens einen gewissen Schutz vor den Kugeln möglicher Angreifer. Gleichzeitig wurden die ersten Schritte unternommen, um auf den dafür vorgesehenen Feldern landwirtschaftliche Kulturen zu schaffen. In diesem Stadium fand dies noch in eher beschränktem Umfang statt und diente insbeson145

Krieg und Verwurzelung

dere der Selbstversorgung. Mit der Zeit wurde ich zur Arbeit im Gemüsegarten eingeteilt. Ich bekam die Verantwortung für den Anbau von Kartoffeln, und ich muss gestehen, dass ich damit nicht gerade sehr erfolgreich war. Wir pflanzten die Kartoffeln in einem harten Boden an, und das Feld wurde vom Regenwasser überschwemmt. Zudem konnte man nicht immer zu den Feldern gelangen: Die Syrer schossen immer wieder auf arbeitende Siedler, und wir mussten die Arbeit unterbrechen und vom offenen Feld flüchten. Chasia bekam die Verantwortung für die Erste Hilfe übertragen, während ich zu einem Instruktionskurs des Regionalkommandos der Hagana zur Bedienung von Granatwerfern geschickt wurde. Die Hagana war die Militärorganisation des jüdischen Yishuv vor der Staatsgründung und der Kern der zukünftigen Armee Israels. Es waren stürmische Tage. Jede Nacht hielten acht Männer Wache. Auch tagsüber wurde die Wache an den Arbeitsplätzen verstärkt. Von 16 Uhr an hatten wir im Turnus einer „organisierten Freiwilligkeit“ einen zweistündigen Zivilwachdienst zu leisten. Ich bekam meine erste „öffentliche“ Funktion im Kibbuz: nämlich die Leute für diesen Wachdienst – nach acht bis neun Stunden Arbeit – einzuteilen. Manchmal musste ich mit den Kameraden verhandeln, um den Wachdienst sicherzustellen, aber dafür gab mir diese Aufgabe die Gelegenheit, mit vielen Kibbuzmitgliedern Kontakt aufzunehmen und sie persönlich kennenzulernen. Im „oberen“ Kibbuz waren nur acht Frauen, unter ihnen Chasia; die meisten weiblichen Kibbuzmitglieder blieben mit ihren Kindern „unten“ in Karkur. Auch einige Männer mussten „unten“ bleiben, um in der Schlosserei Büromöbel aus Metall zu fertigen. Diese Schlosserei war der Vorläufer der Feuerlöscherfabrik, die später im Kibbuz Lehavot Habaschan aufgebaut wurde. Die verheirateten Männer im „oberen“ Kibbuz konnten alle sechs Wochen für eine Woche „unten“ mit ihren Familien zusammen sein. Die Spannungen nahmen zu, als sich Anfang April 1948 die ganze Kette der Kibbuzim entlang der syrischen Grenze fast täglich dem Beschuss durch syrische Granatwerfer ausgesetzt sah. Wir suchten Schutz in den Sicherheitsgräben, da es noch keine festen Bunker und Unterstände gab. Ich wurde in die vordere Stellung eines Granatwerfers kommandiert. Wir befanden uns zwar im Alarmzustand, hatten aber den Befehl, nicht selbst das Feuer zu eröffnen. Am 7. April 1948 begann der entscheidende Kampf um unsere Ansiedlung nahe dem Dorf Chiam-el-walid. Schon Tage zuvor fühlten wir, dass „etwas in der Luft lag“. Unsere Beobachter meldeten, dass die Hirten des Dorfes Herden von Büffeln, deren Aufzucht und Verkauf die vorrangige Einnahmequelle der Dorfbewohner war, den Berg hinauf zu den Golanhöhen trieben. Früh am nächsten Morgen 146

Krieg und Verwurzelung

herrschte eine beängstigende Ruhe, und wir vermissten den Rauch der Kochstellen im Dorf. Eine Menschenmenge sammelte sich einige Hundert Meter westlich von unserem Zaun; die Handwagen und Lasttiere, die sie mitgebracht hatten, ließen uns vermuten, dass sie sich darauf vorbereiteten, das Dorf zu verlassen. Als wir diese allgemeine Flucht entdeckten, alarmierten wir sofort den Kommandanten unseres Kibbuz. Er wusste bereits, dass alle arabischen Dörfer entlang der Grenzlinie von ihren Einwohnern verlassen wurden, und ließ den Alarmzustand ausrufen. Bis dahin hatte der Bau der Verteidigungslinien gute Fortschritte gemacht, und ein erster Unterstand für das Kommando war bereits fertig. Ich rannte schnell in meine Stellung, als ein schwerer Angriff begann. Die Holzbaracke, die als Speisesaal diente, wurde bombardiert und völlig zerstört. Auch andere Objekte wurden getroffen und beschädigt, und die uns umzingelnden Angreifer näherten sich dem Sicherheitszaum des Kibbuz. Zu allem Unglück mussten wir mit Munition sparsam umgehen, da sie allmählich zu Ende ging. Erst nach drei Tagen gelang es einer Einheit des Palmach, aus dem rund zwanzig Kilometer entfernten Kibbuz Kfar Giladi zu Fuß über die Berge zu uns durchzubrechen und die Angreifer zu vertreiben.67 Wir hatten zwei Gefallene zu beklagen. Der eine war Yaakov Kahane, ein frühes Mitglied des Kibbuz. Er wurde am zweiten Tag des Angriffes auf seinem Beobachterposten am Rande des Kibbuz erschossen. Seine Frau Mirjam war eine gute Freundin von Chasia aus der gemeinsamen Jugendzeit in der Ortsgruppe des Haschomer Hazair in Grodno. Da sie schwanger war und in Karkur weilte, erreichte sie die Hiobsbotschaft erst Stunden später über den Kurzwellensender der Hagana. Es gab zwar einen geheim gehaltenen drahtlosen Kontakt zwischen Karkur und dem Kibbuz „an der Front“, aber auf ihm konnte nur zu gewissen Stunden gesendet werden. Später fiel einer der jungen Soldaten der Palmach-Einheit, die uns zu Hilfe kam und die Umzingelung aufhob. Er wurde im Kampf schwer verletzt und starb unter Chasias Händen. Sein Name war Dov Schaitowitz, und er gehörte einer Gruppe gleichaltriger junger Frauen und Männer an, die sich auf die Gründung eines neuen Kibbuz vorbereitet hatten. Da auch nach dem Durchbruch des Palmach eine Beerdigung der beiden Gefallenen auf dem außerhalb des östlichen Zaunes gelegenen Friedhof unmöglich 67 Der Kibbuz Kfar Giladi liegt in Obergaliläa an der Grenze zum Libanon. Er wurde 1916 von Mitgliedern des Haschomer, einer Vorläuferorganisation des Haschomer Hazair, gegründet und war immer wieder in militärische Auseinandersetzungen verwickelt.

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war, wurden beide nebeneinander – „provisorisch“, wie wir zunächst meinten – am Fuße des aus Beton gebauten nördlichen Wachturms begraben. Nachdem später beschlossen wurde, dort eine dauerhafte Gedenkstätte für die Kriegsgefallenen des Kibbuz zu bauen, bildeten die Gräber im Einvernehmen mit den Familien einen integralen Bestandteil der Gedenkstätte. Hinterbliebene von Dov Schaitowitz beteiligen sich oft an der jährlich am Vorabend des nationalen Staatsgründungstages, dem Yom Haatzmaut, stattfindenden Trauerfeier für Kriegsgefallene, dem Yom Hazikaron. Von 1948 bis 1954 arbeitete ich in der Landwirtschaft, im Gemüsegarten und in den Obstpflanzungen. Die wirtschaftliche Situation des Kibbuz war in dieser Zeit prekär. Deshalb wurde 1952 beschlossen, ich solle in der Schweiz Spenden sammeln oder eine günstige Anleihe für den Kibbuz finden. Tatsächlich bekam ich 35.000 Schweizer Franken zusammen – eigentlich keine große Summe, da ein Teil des Geldes das Erbe von Bruno Lewins Vater war. Damals waren Avraham (Abi) und Schuschke Barkai Abgesandte der Bewegung in der Schweiz. Zusammen mit Schuschke machte ich Einkäufe im Warenhaus Löb in Bern, das uns einen besonderen Rabatt gewährte. Wir bekamen vom Kibbuz eine Liste der notwendigen Sachen und kauften unter anderem 30 Milchkannen aus Aluminium für den Kuhstall. In jenen Tagen molk man die Kühe noch von Hand, und die Milch wurde in schweren 20-Liter-Metallkannen zur regionalen Molkerei gebracht. Die Aluminiumkannen waren hier eine Erleichterung für die Melker und die Nachtwächter, die die schweren Kannen auf ihren Schultern in die Küche tragen und die für den Markt bestimmten Kannen auf Lastwagen laden mussten. Der Besuch in der Schweiz ermöglichte mir es auch, meine Eltern wiederzusehen, die ich fünf Jahre vorher verlassen hatte. Sie weilten damals zur Kur in Flims, wo ich zwei Tage mit ihnen in dem behaglichen Hotel „Waldhaus“ verbrachte. Es war meine letzte Zusammenkunft mit meiner Mutter, die einige Monate später an einem Herzinfarkt verstarb. Eineinhalb Jahre arbeiteten wir im „oberen“ Kibbuz, um die landwirtschaftlichen Flächen zu bewirtschaften und Unterstände, Wachtürme sowie die ersten Betonhäuser zu errichten. Ende 1948 änderte sich das Leben unserer Familie: Chasia wurde schwanger. Meist blieben schwangere Frauen nicht im „oberen“ Kibbuz, wo die Sicherheitslage angespannt und der Weg ins nächste Spital weit und schwer befahrbar war, während es vom Ort Karkur aus nur zehn Minuten Fahrt zu der Entbindungsanstalt im benachbarten Hadera waren. Chasia fühlte sich jedoch wohl, und ihr wurde erlaubt, noch einige Zeit mit mir zusammen „oben“ zu bleiben. Ende Februar 1949 zog sie dann nach Karkur um. 148

Krieg und Verwurzelung

Ich sollte, wie es üblich war, in Galiläa bleiben, denn die Männer waren für die Organisierung der Verteidigung unseres Kibbuz unverzichtbar, konnte aber bald Chasia aus einem willkommenen Anlass nach Karkur folgen: Der Haschomer Hazair organisierte in einer landwirtschaftlichen Schule nahe Hadera ein europäisches Erzieherseminar, an dem auch Chaverim aus der Schweiz teilnahmen, und mir wurde vorgeschlagen, dieses Seminar zu leiten. Der Kibbuz bestätigte meine Freistellung für drei Wochen, um meine Aufgabe im Rahmen des „Funktionärsturnus“ auszuüben: Dieser verpflichtete jeden Kibbuz, einen gewissen Prozentsatz seiner Mitglieder abwechselnd der Bewegung für deren diverse Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen. So konnte ich während dieser Zeit mit Chasia zusammen sein – jeden Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad von Karkur nach Hadera und am Abend wieder zurück. Wir waren erst drei Jahre im Kibbuz, und es war nicht üblich, die Bewohner nach so kurzer Zeit der Mitgliedschaft für Aktivitäten in der Bewegung freizustellen. Für mich war es der erste Schritt meiner lebenslangen Tätigkeit als Funktionär der Bewegung in verschiedenen politischen und erzieherischen Bereichen. Am 7. April 1949 wurde unsere erste Tochter geboren. Wir gaben ihr den Namen Yehudit, hatte doch Chasias ermordeter Vater Yehuda geheißen. Für Chasia war die Geburt unserer Tochter von ganz besonderer Bedeutung: Sie gab Leben nach all den Jahren der Auseinandersetzung mit dem Tod. Zwar betreute sie nach dem Krieg viele Kinder, mit denen sie bis zu ihrem Tod in enger Verbindung stand und die sich bis heute als „Chasias Kinder“ vorstellen und auch so fühlen. Da ein Teil von ihnen in dem Kibbuz lebte, in den sie nach der Befreiung aus dem Internierungslager auf Zypern als Schüler und Schülerinnen aufgenommen worden waren, gab es viele Gelegenheiten zu Zusammenkünften. Insofern war Chasia schon eine „Mutter“. Aber diese Geburt und die Erweiterung der eigenen Familie nahm sie als ein Wiederaufleben der Wärme und Geborgenheit ihrer Kindheit und Jugendzeit wahr, die sie durch die Ermordung ihrer Eltern und Geschwister verloren hatte. Wir beide waren glücklich. Ich schreibe über unsere Integration in den Kibbuz, mehr als 65 Jahre, nachdem wir uns diesem angeschlossen haben. Seit damals hat er verschiedene Etappen in seiner Entwicklung durchgemacht. In all diesen Jahren verfolgten viele Chaverim die ideologischen Debatten in der Bewegung und die politischen Entwicklungen im Staat. Die meisten von ihnen nahmen linksradikale Positionen ein. Dies kam an den zumeist gut besuchten Diskussionsabenden zum Ausdruck, bei denen die Stellungnahme des Kibbuz zu ideologischen und politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Haschomer-Hazair-Partei, später 149

Unsere Mission in Südafrika

der Mapam, entschieden wurde. Die in offener Abstimmung festgelegte Entscheidung galt als Richtlinie für die Delegierten zu den Parteikongressen. Dieses hohe Interesse ist vielleicht einer der Gründe für die Vielzahl von Funktionären, die der Kibbuz für die Arbeit in der Kibbuzbewegung und der Partei zur Verfügung stellte. Die Initiative oder Bereitschaft dazu kam natürlich von den daran interessierten Chaverim selbst, aber jede dieser Freistellungen musste in der Generalversammlung in offener Abstimmung bestätigt werden. Grundsätzlich sollten diese „auswärtigen Stellen“ auf zwei bis drei Jahre beschränkt sein, nach denen der oder die „Abgesandte“ auf ihren Arbeitsplatz im Kibbuz zurückkehren musste. Das wurde zumeist auch eingehalten. Aber da im Kibbuz alles gleich „verteilt“ war, nur nicht die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, bildeten sich bald Gruppen berufsmäßiger Funktionäre, die abwechselnd mit kürzeren oder längeren Unterbrechungen führende Stellungen im und außerhalb des Kibbuz einnahmen. Dadurch kam es, dass zeitweilig Chaverim von Lehavot Habaschan zentrale Funktionen im organisatorischen Apparat der Bewegung ausübten. Einmal waren gar drei bis vier unserer Mitglieder in das zehn bis zwölf Personen zählende Exekutivsekretariat des Kibbuz-Landesverbandes gewählt worden – unter ihnen auch ich. Einer aus unserer Gruppe der „Berufsfunktionäre“ war viele Jahre Abgeordneter der Mapam im israelischen Parlament, der Knesset. In Wahlkämpfen wurden entsprechend viele Kameraden vom Kibbuz in die Städte gesandt, um die Kampagne unserer Partei zu stärken.

Unsere Mission in Südafrika Anfang Januar 1954 wandte sich der damalige Leiter der Haschomer-HazairWeltbewegung an uns und schlug uns vor, eine mehrjährige Mission im Rahmen des Haschomer Hazair und der Jewish Agency in Südafrika durchzuführen. Chasia und ich lebten erst seit sieben Jahren im Kibbuz, und bis zu diesem Tag war keine Familie nach so kurzer Zeit für eine langjährige Auslandsmission befreit worden. Auch für uns war dies ein gewagter Auftrag – für mich persönlich und für die ganze Familie. Nach eingehenden Überlegungen gaben Chasia und ich unser Einverständnis. Die Forderung der Bewegung ging zur Stellungnahme an den Kibbuz. Vertreter der Exekutive kamen zur Generalversammlung des Kibbuz und begründeten ihr Anliegen. In der Debatte nahmen verschiedene Kameraden eine ablehnende Haltung ein, unterschiedliche Argumente wurden 150

Unsere Mission in Südafrika

der Mapam, entschieden wurde. Die in offener Abstimmung festgelegte Entscheidung galt als Richtlinie für die Delegierten zu den Parteikongressen. Dieses hohe Interesse ist vielleicht einer der Gründe für die Vielzahl von Funktionären, die der Kibbuz für die Arbeit in der Kibbuzbewegung und der Partei zur Verfügung stellte. Die Initiative oder Bereitschaft dazu kam natürlich von den daran interessierten Chaverim selbst, aber jede dieser Freistellungen musste in der Generalversammlung in offener Abstimmung bestätigt werden. Grundsätzlich sollten diese „auswärtigen Stellen“ auf zwei bis drei Jahre beschränkt sein, nach denen der oder die „Abgesandte“ auf ihren Arbeitsplatz im Kibbuz zurückkehren musste. Das wurde zumeist auch eingehalten. Aber da im Kibbuz alles gleich „verteilt“ war, nur nicht die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, bildeten sich bald Gruppen berufsmäßiger Funktionäre, die abwechselnd mit kürzeren oder längeren Unterbrechungen führende Stellungen im und außerhalb des Kibbuz einnahmen. Dadurch kam es, dass zeitweilig Chaverim von Lehavot Habaschan zentrale Funktionen im organisatorischen Apparat der Bewegung ausübten. Einmal waren gar drei bis vier unserer Mitglieder in das zehn bis zwölf Personen zählende Exekutivsekretariat des Kibbuz-Landesverbandes gewählt worden – unter ihnen auch ich. Einer aus unserer Gruppe der „Berufsfunktionäre“ war viele Jahre Abgeordneter der Mapam im israelischen Parlament, der Knesset. In Wahlkämpfen wurden entsprechend viele Kameraden vom Kibbuz in die Städte gesandt, um die Kampagne unserer Partei zu stärken.

Unsere Mission in Südafrika Anfang Januar 1954 wandte sich der damalige Leiter der Haschomer-HazairWeltbewegung an uns und schlug uns vor, eine mehrjährige Mission im Rahmen des Haschomer Hazair und der Jewish Agency in Südafrika durchzuführen. Chasia und ich lebten erst seit sieben Jahren im Kibbuz, und bis zu diesem Tag war keine Familie nach so kurzer Zeit für eine langjährige Auslandsmission befreit worden. Auch für uns war dies ein gewagter Auftrag – für mich persönlich und für die ganze Familie. Nach eingehenden Überlegungen gaben Chasia und ich unser Einverständnis. Die Forderung der Bewegung ging zur Stellungnahme an den Kibbuz. Vertreter der Exekutive kamen zur Generalversammlung des Kibbuz und begründeten ihr Anliegen. In der Debatte nahmen verschiedene Kameraden eine ablehnende Haltung ein, unterschiedliche Argumente wurden 150

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vorgebracht: Wir seien erst kurze Zeit im Kibbuz und noch nicht in dessen Wirtschaft verwurzelt, auch sei ein solcher Auslandsaufenthalt nicht gut für die Kinder, zudem habe der Kibbuz unsere Mitarbeit nötig. Die Mitglieder zögerten entsprechend, die Empfehlung der Kibbuzleitung und die Forderung der Bewegung in der Abstimmung zu akzeptieren. Demgegenüber unterstrichen die Sprecher der Exekutive, dass es sich sowohl vom allgemeinen Standpunkt aus als auch aus Sicht der Bewegung um eine wichtige jüdische Gemeinschaft handle, der die Mission gelte. Die Position der Bewegung wurde letztlich mit großer Mehrheit bestätigt. 1954 gab es in Südafrika eine große jüdische Gemeinde, die lebendig und aktiv war, intensiv in der Öffentlichkeit wirkte sowie in wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht große Erfolge aufweisen konnte. Die wichtigsten Konzentrationen jüdischer Bevölkerung fanden sich in den drei großen Städten Johannesburg, Kapstadt und Durban. Der Beginn der jüdischen Ansiedlung geht auf das 17. Jahrhundert zurück, als sich die ersten jüdischen Emigranten an dem Ort niederließen, wo später Kapstadt entstehen sollte. Der Strom von Emigranten schwoll im 19. und 20. Jahrhundert gewaltig an, als die Juden in Osteuropa mörderischen Pogromen ausgesetzt waren. Bis in die 1930er-Jahre nahm die Emigration der Juden erhebliche Ausmaße an, ganze jüdische Gemeinden wanderten aus Litauen und Lettland nach Südafrika aus. Diese Gemeinden brachten alle Facetten des jüdischen Gemeindelebens mit sich. Mitte des 20. Jahrhunderts zählte die jüdische Gemeinschaft in Südafrika mehr als 120.000 Menschen. Alle zionistischen Parteien organisierten sich ähnlich wie in Osteuropa im Rahmen der Zionist Federation, deren Zentrum ein großes Gebäude bildete. Ihr Generalsekretär war der hervorragende Repräsentant des Judentums in Südafrika mit weitgehenden Vollmachten. Parallel zur Zionist Federation gab es den Verband aller jüdischen Gemeinden, der sich Board of Deputies nannte und sich für die Interessen der jüdischen Bevölkerung gegenüber den Behörden einsetzte. Die meisten jüdischen Kinder lernten in dem gut entwickelten jüdischen Erziehungsnetz, und das Board of Deputies war die von den nationalen Organen und den religiösen Institutionen anerkannte Vertretung der jüdischen Gemeinschaft. In Südafrika herrschte in jenen Jahren ein System der absoluten Apartheid. Die gesellschaftlichen Kämpfe wurden vor allem zwischen der schwarzen Mehrheit und der weißen Minderheit geführt. Die Unterdrückung der Schwarzen war auf allen Gebieten sehr hart. Alles war getrennt – die öffentlichen Parks, Autobusse, Schulen, Spitäler, Restaurants und Wohnbezirke. Den Schwarzen 151

Unsere Mission in Südafrika

war es nicht erlaubt, in der Stadt zu wohnen, sofern sie nicht Dienstpersonal der Weißen waren, aber auch dann durften sie nicht in den Wohnungen ihrer weißen „Herrschaften“ wohnen, sondern mussten an besonderen Plätzen ein Wohn-, meist ein bloßes Nachtasyl finden – sehr oft unter primitivsten, äußerst armseligen Bedingungen. Die südafrikanischen Unternehmen und die öffentlichen Dienste waren dessen ungeachtet von den Schwarzen völlig abhängig. Die Weißen hatten die wirtschaftliche Entwicklung angekurbelt, vor allem im Bereich der Industrie und dabei besonders in den Gold- und Diamantenminen. Ohne die Arbeitskraft der Schwarzen war die Produktion jedoch nicht aufrechtzuerhalten. Zu Ehren der jüdischen Gemeinschaft muss gesagt werden, dass viele Juden den Kampf um die Gleichberechtigung der Schwarzen unterstützten und in denjenigen gesellschaftlichen Organisationen aktiv waren, die für diese Vision kämpften. Wie erwähnt, waren alle zionistischen Parteien in den jüdischen Gemeinden aktiv. Im Unterschied zu anderen Ländern und zu den Mehrheitsverhältnissen in der Zionistischen Weltorganisation war in Südafrika die zionistisch-revisionistische Partei führend, die sonst in der Opposition stand. Besonders die Emigranten aus Litauen brachten diese Parteizugehörigkeit mit. Als ich die Kämpfe gegen die Apartheid verfolgte, bemerkte ich eine gewisse Analogie zwischen dem Streben der schwarzen Bevölkerung nach Gleichberechtigung sowie nationaler Selbstbestimmung und der Vorstellung von zwei unabhängigen Staaten – Israel und Palästina – als Lösung des Konflikts im Mittleren Osten. Auch die Jugendbewegungen, die in Südafrika aktiv waren, identifizierten sich ideologisch mit ihren „Mutterparteien“ in Litauen. Es gab drei hervorragende Jugendbewegungen: die größte war Habonim, gefolgt von Haschomer Hazair und Bnei Akiba. Sie waren mit den Pionierbewegungen der Kibbuzlandesverbände in Israel verbunden. Wir waren Emissäre des Haschomer Hazair, doch ich hatte auch eine Funktion im Auftrag der Jugendabteilung der Zionistischen Weltorganisation inne. Diese Funktion verlieh mir eine führende Position unter allen Abgesandten aus Israel. Bei der Einreise ergab sich die Schwierigkeit, dass die südafrikanische Regierung kein Visum für einen Emissär des Haschomer Hazair ausstellen wollte – die Sicherheitsbehörden wussten ganz genau, wofür die Bewegung stand. Sie waren sehr wachsam, was die Beziehungen zwischen Israel und Südafrika betraf. Sie bekamen auch Zeitungsauszüge von allen Berichten und Veröffentlichungen der israelischen Presse über Südafrika. Insofern hatten sie gewiss auch Kenntnis von einem Artikel, der in der Tageszeitung der Mapam Al Hamischmar – „Auf der Wacht“ – gegen die Apartheidpolitik erschie152

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nen war. Da ich jedoch immer noch einen Schweizer Pass besaß, konnte das Problem gelöst werden – Inhaber von Schweizer Pässen benötigten kein Visum. Es wurde beschlossen, dass ich mit der ganzen Familie über Basel nach Johannesburg fliegen sollte. Wir sollten uns in der Schweiz aufhalten und in Basel einen neuen Pass ausstellen lassen, der keinen israelischen Stempel enthielt. Das war ein Präzedenzfall, denn die Jewish Agency sandte im Prinzip nur israelische Bürger in ihrem Auftrag in die jüdischen Gemeinden. Am Schluss wurde ein Kompromiss erzielt: Wir machten auf der Durchreise einen Aufenthalt in Tel Aviv, gingen in Lod mit dem israelischen Pass (und israelischem Stempel) durch die Kontrolle und landeten in Johannesburg mit unseren Schweizer Pässen. So bekamen wir keine Probleme, passierten die Kontrollen der südafrikanischen Zollbehörden und wurden von Vertretern der Zionist Federation und der Haschomer-Hazair-Leitung am Flughafen von Johannesburg empfangen. Dies war eine andere Welt. Für uns war es schwierig, uns an die neue Umgebung zu gewöhnen. Die Mehrzahl der Menschen hier waren Schwarze, man sah sehr wenig Weiße in den Straßen, die meist nur in ihren Autos fuhren. Dennoch passten wir uns verhältnismäßig schnell an die neuen Bedingungen an. Man hatte eine Wohnung für uns vorbereitet und schon einen Kindergartenplatz für Racheli sowie einen Schulplatz für Yehudit besorgt – jeweils jüdische Einrichtungen. Als wir in unsere neue Wohnung eintraten, erlebten wir eine Überraschung: Auf den Treppenstufen erwartete uns eine schwarze Frau, die sagte, sie „gehöre zur Wohnung“. Es war unsere Haushaltsgehilfin. Im Treppenhaus trafen wir auch einen schwarzen Mann, der uns erklärte, dass er für die Sauberkeit im Haus verantwortlich sei. Zudem kam ein „europäischer“ Mann – „europäisch“ nannten sich die Menschen mit weißer Hautfarbe – zu uns und stellte sich als der Verantwortliche für das ganze Haus vor. Er machte uns die Regeln und Gesetze klar: Die Haushaltsgehilfin durfte nicht in unserer Wohnung schlafen, im Garten gab es einen Schuppen, wo die Bediensteten des Hauses nächtigten. Es war ihnen verboten, mit uns am gleichen Tisch zu essen. Sie durften die Kinder pflegen und behüten, mit ihnen in den öffentlichen Parks spazieren gehen und spielen, jedoch nicht selbst auf den Ruhebänken sitzen, die „für Europäer“ reserviert waren. Die Männer mussten jeden Abend in ihr Dorf zurückfahren, das etwa zehn Kilometer entfernt lag, sie durften nicht in der Stadt schlafen. In der Gruppe von Emissären wurden wir gut aufgenommen: Abgesandte von allen möglichen Bewegungen, Organisationen und den nationalen Fonds, viele israelische Geschäftsleute, Angehörige des israelischen Sicherheitsministeriums sowie weitere Personen – alle halfen uns bei unseren ersten Schritten in 153

Unsere Mission in Südafrika

dieser komplizierten gesellschaftlichen Umgebung und der gespannten ethnischen Atmosphäre. In Johannesburg befand sich ein großes israelisches Konsulat, das eine umfangreiche Tätigkeit entwickelt hatte. Die israelische Botschaft selbst war in Pretoria, der Hauptstadt von Südafrika, angesiedelt. Vom ersten Augenblick an entwickelten sich gute persönliche Beziehungen sowohl mit dem israelischen Generalkonsul und seiner Familie als auch mit Botschafter Babely und seiner Frau. Die in Südafrika eingewanderte jüdische Bevölkerung zeigte noch eine große emotionale Verbundenheit mit Osteuropa, sprach oft Jiddisch und mischte ihr Englisch kräftig mit jiddischen Worten. Die zweite Generation, die in Südafrika geboren war, erwies sich hingegen schon völlig an den englischen Lebensstil assimiliert; sie bildete die Führungsschicht des organisierten öffentlichen jüdischen Lebens. Es gelang mir, relativ schnell in den inneren Aufbau der jüdischen Gesellschaft einzudringen, und ich lernte viele Juden kennen, die in der Bewegung gegen die Apartheid aktiv waren. Meine Zugehörigkeit zur zionistischen Linken war eine gute Basis, um mit diesem Teil des lokalen Judentums in Kontakt zu kommen und gute Beziehungen aufzubauen. Ich musste jedoch vorsichtig sein, denn die Sicherheitsbehörden richteten ihre wachsamen Augen und Ohren auf jeden, der mit den Anti-Apartheid-Bewegungen in Berührung kam. Nachdem 1992 in Israel eine neue Regierung unter dem Vorsitz von Yitzchak Rabin gewählt worden war und die Mehrheit der Minister aus der Arbeiterbewegung kam, wurde 1994 ein Mitglied der Merez-Partei, Elieser Granot, zum israelischen Botschafter in Südafrika ernannt. Die Regierung von Pretoria kannte nicht nur den politischen Hintergrund des neuen Gesandten, sondern wusste auch über die ideologische Weltanschauung der Partei Bescheid, die in Israel für die Gleichberechtigung der arabischen Bevölkerung eintrat. Wir beide waren miteinander befreundet. Vor seiner Abreise nach Südafrika saßen wir zusammen, und ich informierte ihn über meine Erfahrungen in dem Land während der Apartheid und gab ihm meine allgemeine Einschätzung. Die Spannung zwischen den Rassen brachte die Juden damals in eine komplizierte Situation. Später hatten die internationalen Sanktionen schwerwiegende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Juden, und in den 1970er- und 1980er-Jahren beschlossen viele, Südafrika zu verlassen; man schätzt die Zahl der jüdischen Auswanderer auf rund 50.000. Nach der Stabilisierung der Lage suchten dann aber nicht wenige Israelis ihr Glück in Südafrika, und heute zählt die jüdische Gemeinschaft wieder etwa 75.000 Menschen. Die innere gesellschaftliche Gärung und der internationale Druck führten dann 1994 zu allgemeinen Wahlen und zur Abschaf154

Unsere Mission in Südafrika

fung des Apartheidsystems. Die schwarze Mehrheit übernahm die Macht im Land, und die Juden befanden sich wiederum in einer Sackgasse. Sie wurden wie die Engländer und die „Afrikaander“, wie bis heute die „weißen“ Nachfahren der ersten Ansiedler aus Holland – die Buren – genannt werden, zur Minderheit in einem „schwarzen“ Land. Die „Afrikaander“ waren ihrerseits zum großen Teil Antisemiten und hatten während des Zweiten Weltkriegs die deutschen Nazis unterstützt. Heute ist der Antisemitismus fast nicht mehr erkennbar, und die Position der Juden gleicht der aller „Weißen“, von einer Sackgasse kann keine Rede mehr sein. Die neuen schwarzen Machthaber legten Wert auf eine friedliche Koexistenz der Rassen, und Südafrika wurde eine international anerkannte, angesehene Gesellschaft. Zudem hatte die Regierung Südafrikas – gegen heftigen Widerstand vieler Buren – während des Zweiten Weltkriegs die Alliierten unterstützt und die Schaffung eines jüdischen Staates begrüßt. Die engen Verbindungen zwischen den beiden Staaten wurden auch in dem neuen, dem Post-Apartheid-Staat fortgesetzt. Dies ist nicht zuletzt der allgemeinen Unterstützung zuzuschreiben, welche die meisten Juden den Schwarzen im Kampf gegen die Apartheid geleistet haben. Zu Beginn unserer Mission 1954 integrierten wir uns als ein Teil des jüdischen und zionistischen Establishments schnell in die Zusammenarbeit mit breiten Kreisen der Bevölkerung und mit den Institutionen Südafrikas. Die HaschomerHazair-Bewegung in Südafrika war 1935 gegründet worden. Mit dem Strom jüdischer Einwanderer aus Litauen und Lettland kamen auch Kameraden des Haschomer Hazair, die die zwei Ortsgruppen in Kapstadt und Johannesburg gründeten. Die Bewegung entwickelte sich sehr eindrucksvoll. Die älteren Kameraden vertraten eine radikale ideologische Weltanschauung, und die erzieherische Vision war die Selbstverwirklichung im Kibbuz in Israel. Die erste Gruppe emigrierte 1944, eine zweite im Jahr 1945, und eine weitere Anzahl an Zionisten folgte ihnen als „Pionier-Einwanderer“ bis zum Jahr 1955. Sie wurden in verschiedene Kibbuzim aufgenommen und trugen, in verschiedenen Berufen ausgebildet, viel zu deren wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Aufbau bei. Auch während unserer Zeit in Südafrika emigrierte eine größere Gruppe in den Kibbuz Nachschon.68 68 Der Kibbuz Nachschon liegt in Zentralisrael und wurde 1950 von eingewanderten Mitgliedern des Haschomer Hazair gegründet. Der Name bezieht sich auf die „Operation Nachschon“, mit der im Unabhängigkeitskrieg 1948 die Straße nach Jerusalem frei gekämpft wurde.

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Unsere Mission in Südafrika

Politisch orientierte sich die Bewegung in Südafrika am „radikalen Sozialismus“ und pflegte eine gewisse Neigung zum Trotzkismus. Sie identifizierte sich, wie eine beträchtliche Anzahl weißer „Europäer“ auch, mit der Menschenrechtsbewegung. Mit den Jahren intensivierte sich der Druck des zionistischen und jüdischen Establishments auf die Leitung des Haschomer Hazair, jede solche Aktivität zu unterlassen. Es wurden auch einzelne Mitglieder der Bewegung deutlich dazu aufgefordert, sich jeder Verlautbarung in Wort und Schrift zum Rassenkonflikt in Südafrika zu enthalten. Manche Eltern verbaten ihren Kindern, an den Aktivitäten des Haschomer Hazair teilzunehmen. Sie zogen die „apolitische“ zionistische Alternative vor, die versuchte, sich so weit wie möglich von jeder politischen Stellungnahme zum südafrikanischen Apartheidkonflikt fernzuhalten. Dieser Haltung kam der Habonim entgegen, der bereits 1930 gegründet worden war. Es handelte sich bei ihm um eine zionistische Jugendbewegung, deren Tätigkeit sich auf die jüdische und zionistische Erziehung konzentrierte und die sich jeder Stellungnahme zu den inneren Problemen der südafrikanischen Politik enthielt. Dies sicherte ihr die Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft und der zuständigen Regierungskreise. Sie erzog, wie wir es ja auch taten, zu den Werten der zionistischen Arbeiterbewegung und zur Emigration nach Israel und verfocht das Primat der Verwirklichung im Kibbuz. Jedenfalls hatte sie keine Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit, und die Eltern konnten beruhigt ihre Kinder in die Erziehungsgruppen des Habonim schicken. Ich wurde öfters zu Vorträgen für die älteren Mitgliederschichten eingeladen. Was die zionistische und jüdische Politik betraf, vertraten die meisten von ihnen einen linken Standpunkt. Als wir 1954 nach Südafrika kamen, fanden wir eine aktive und lebhafte Tätigkeit des Haschomer Hazair vor. Es gab in Johannesburg zwei Heime der Bewegung mit zusammen 200 Mitgliedern. Sie hatte hier offiziell keinen politischen Charakter, die Probleme mit der politischen Identität kamen von außen. Ich fragte mich des Öfteren, ob die Bewegung in dieser gesellschaftlichen Atmosphäre eine Zukunft hatte. Wir selbst fühlten uns durchaus wohl und hatten gute gesellschaftliche Beziehungen zu vielen Leuten. Anfangs leitete Chasia erzieherische Studiengruppen in der Bewegung, doch nach einem Jahr bekam unsere dreijährige Tochter Racheli eine seltene Krankheit und musste anderthalb Jahre mit Gewichten am Bein im Spital liegen. Chasia fiel damit die Aufgabe zu, sich rund um die Uhr um sie zu kümmern. In diesem Krankenhaus – auch hier wieder „for Europeans only“ – war die Behandlung sehr gut; das medizi156

Unsere Mission in Südafrika

nische Personal, die Ärzte und Schwestern waren alle „Weiße“, das Hilfs- und Reinigungspersonal hingegen allesamt „schwarz“. Da damals in Südafrika eine Kinderlähmungsepidemie ausbrach, wurde Racheli auf einer Isolierstation untergebracht. Wir erwogen, unsere Mission in Südafrika abzubrechen, beschlossen aber nach einigem Nachdenken und Beratschlagen, unsere Arbeit in Südafrika fortzusetzen – was sich nachträglich als völlig richtig erweisen sollte: Die ärztliche Behandlung war ausgezeichnet, der Standard im Spital sehr hoch, und wir erhielten viel Hilfe und Unterstützung von den Familien der israelischen Emissäre und den älteren Mitgliedern der Bewegung samt ihren Familien. Chasia besuchte Racheli jeden Tag, und auch ich bemühte mich, am frühen Nachmittag für den Krankenbesuch freizubekommen. Das war nicht einfach: In den Kommissionen der Zionist Federation und anderen jüdischen Gremien war es üblich, sogenannte „Lunch Time Meetings“ abzuhalten, da viele Juden es vorzogen, am Abend zu Hause zu bleiben. Abendveranstaltungen wurden zwischen 19 und 21 Uhr abgehalten. Wie alle „Europäer“ wohnten die Juden in gut gesicherten Häusern, und sie trauten den „Schwarzen“ in nichts außer in der Kinderpflege – die meisten jüdischen Kinder hatten eine schwarze „Nanny“. In dieser Situation musste ich allein, zumeist in Begleitung unserer älteren Tochter Yehudit, Seminare und Ferienlager durchführen, während Chasia in Johannesburg blieb. Ein glücklicher Zufall war meine Bekanntschaft mit Becki Bernstein, einer Leiterin der zionistischen Frauenbewegung, die zu einem engen Kontakt unserer Familien führte. Die Bernsteins wohnten in einem Elitequartier in einem luxuriösen Haus mit eigenem Schwimmbad. Fast jedes Wochenende waren wir ihre Gäste. Besonders beeindruckt waren Becki und ihr Mann von Chasias Erzählungen über ihre Lebensgeschichte während der Schoah. Nachdem Racheli erkrankt war, brachte Becki mit ihrem Auto jeden Tag Chasia ins Spital und am Ende des Besuchs wieder nach Hause, und als Yehudit und ich drei Wochen im Sommerlager waren, wohnte Chasia bei der Familie Bernstein. Nach dem Tod ihres Mannes kaufte Becki eine Wohnung in unserem Kibbuz und weilte das halbe Jahr in Johannesburg, das andere in Lehavot Habaschan. Die guten persönlichen Beziehungen zu dieser und anderen jüdischen Familien standen im Gegensatz zu den Problemen und Bedenken, mit denen ich mich während meiner Mission in Südafrika auseinandersetzen musste. Eine Jugendbewegung kann nur existieren und sich entwickeln, wenn sie in ihrer Umgebung öffentliche Unterstützung findet. Unter den spezifischen Bedingungen in Südafrika war auch die Hilfe der Eltern notwendig. Das Primat der Sicherheit erforderte es, dass die Kinder zu den Aktivitäten der Bewegung am 157

Unsere Mission in Südafrika

Abend mit einem Wagen ins Jugendheim und danach wieder nach Hause gebracht wurden. Häufig waren es die schwarzen Chauffeure der Familien, die die Kinder ins Heim brachten und draußen warteten, bis das Treffen zu Ende war. Als ich die Reihe der Limousinen vor dem Heim sah, kam es mir vor, als würde eine Regierungssitzung abgehalten. Der Haschomer Hazair war in einer besonders misslichen Lage. Wir konnten im Gegensatz zu allen anderen jüdischen Jugendbünden fast keine ideologische Erziehung im Sinne unserer sozialistischen Grundsätze durchführen. Selbst Eltern, die persönlich eine progressive Einstellung hatten, wollten nicht riskieren, ihre Kinder in eine Bewegung zu schicken, die mit der Regierung in Konflikt kommen könnte. Eine politische „Neutralität“ wiederum hätte eine selbstständige Existenz der Bewegung nicht gerechtfertigt – für die rein zionistische Erziehung gab es die blühende Bewegung Habonim. Ich beschloss, die Arbeit des Haschomer Hazair fortzusetzen. Auch die ältere Führungsschicht schloss sich meiner Meinung an, dass die von uns betonten Forderungen der persönlichen Verwirklichung in Israel und im Kibbuz sowie eine mögliche Erweiterung der Bewegung es verlangten, eine gewisse Begrenzung unserer ideologischen Arbeit in Kauf zu nehmen. Wir hatten eine sehr fähige und aktive Führungsgruppe, und die Gründung einer neuen Alija-Gruppe für den Kibbuz war bereits weit fortgeschritten. Dann eröffnete sich eine „zweite Front“, die meinen Aufenthalt in Südafrika infrage stellte und die Existenz der Bewegung insgesamt gefährdete. Die Zensur und die Sicherheitsabteilung der Polizei wussten, dass in Israel eine Gegnerschaft zur Apartheid bestand. In unserer Tageszeitung Al Hamischmar, die mir wöchentlich per Luftpost zugeschickt wurde, erschienen immer wieder besonders kritische Artikel über die Diskriminierung der schwarzen Mehrheit in Südafrika. Ich selbst war zwar vorsichtig und schrieb nur Artikel über die Lage der jüdischen Gemeinschaft, aber die Geheimpolizei stellte fest, dass ich regelmäßig diese Zeitung erhielt, und beorderte mich zu einem Verhör. Ein hoher Offizier fragte mich, welche Beziehungen ich zu der Zeitung und zur Mapam-Partei hätte. Die Mapam war Mitglied der Sozialistischen Internationale, die einen weltweiten wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Boykott Südafrikas forderte. Ich erklärte, dass ich mich nicht in die innere Politik Südafrikas einmischen wolle, meine Aufgabe sei es, die jüdische und zionistische Erziehung zu fördern und die Auswanderung nach Israel zu organisieren. Als Emissär bei der zionistischen Landesgruppe in Südafrika würde ich von dieser entlohnt, und für meine Dienstreisen stünden mir deren Wagen mit Chauffeur zur Verführung. Sie zeigten mir 158

Unsere Mission in Südafrika

ein umfangreiches Dossier mit Dokumenten und Publikationen früherer Jahre, um mir deutlich zu machen, dass sie mich im Auge hatten. In diesem Stadium akzeptierten sie meine Erklärungen, doch einige Jahre später wurde das ganze Problem erneut aktuell. Wir setzten unsere Mission fort, doch ich bat, mir die Zeitung nicht mehr zu schicken. Die Position unserer Bewegung wurde auch in der Zionist Federation behandelt, zunächst im Youth Council und später in der Sitzung der Exekutive. Alle Redner erkannten zwar die Legitimität des Haschomer Hazair als zionistische Jugendbewegung an, forderten jedoch, alle Kontakte mit Gruppen oder Individuen abzubrechen, die dem Apartheidregime feindlich gesinnt waren. Die schwierige Situation war auch den Eltern der jüngeren Mitglieder unserer Bewegung bekannt, von denen einige an diesen Debatten teilnahmen. Da unsere erzieherische Arbeit einen guten Ruf besaß, gab es nicht viele Eltern, die ihre Kinder aus der Bewegung zogen, aber von einer Erweiterung konnte damals nicht mehr die Rede sein. Nachdem Ägypten den Suezkanal verstaatlicht hatte, brach im Oktober 1956, als wir noch in Johannesburg waren, der Sinai-Krieg aus. Die Regierung in Pretoria unterstützte die englisch-französisch-israelische Koalition. Natürlich war die jüdische Bevölkerung in Südafrika mobilisiert und organisierte umfangreiche moralische und finanzielle Hilfe. Es wurde ein Komitee gewählt, um die entsprechenden Aktionen zu organisieren. Wir beschlossen unter anderem, die Ausreise aller Alija-Kandidaten zu beschleunigen. Der damalige israelische Finanzminister Pinchas Sapir unterbrach für einige Stunden seine Amerikareise und bat die Leiter der nationalen Fonds sowie alle israelischen Emissäre und Diplomaten zu einem Treffen auf den Flughafen. Er gab uns eine Übersicht über die politische Lage und bekam schon dort beträchtliche Spenden für die „Rettungsaktion“ zugesagt. Das bestürzende Fiasko der beiden europäischen Staaten und Israels zeichnete sich bereits am 5./6. November ab, als Israel nach vereinigtem Druck der USA und der Sowjetunion die eroberten Teile der Sinaihalbinsel räumen musste.69 Wir beendeten unsere Mission im Jahr 1957. 1970 sollten sich meine pessimistischen Vorahnungen über die Zukunft unserer Bewegung in Südafrika bestätigen. Ich leitete damals die Weltbewegung des Haschomer Hazair. In Südafrika erreichten die ethnischen Spannungen ihren Höhepunkt, und die weißen Machthaber beschlossen, mit allen Mitteln gegen jede Organisation 69 Vgl. zum Sinai-Krieg das Glossar unter dem Stichwort Kriege.

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Unsere Mission in Südafrika

vorzugehen, die gegen die Apartheid Stellung bezog. Die Leiter der Zionist Federation forderten die Auflösung des Haschomer Hazair, und der damalige Abgesandte bat um eine Entscheidung der zentralen Organe der Bewegung in Israel. Ich brachte das Problem in der Exekutive der Haschomer-Hazair-Weltleitung zur Sprache und schlug vor, dass sich die Bewegung in Südafrika offiziell auflösen und der Habonim-Bewegung anschließen solle, unter der Bedingung, dass jedes Mitglied nach der Alija frei entscheiden könne, welcher Kibbuzbewegung in Israel es sich anschließen wolle. Die Exekutive unterstützte diesen Plan und beschloss, mich nach Südafrika zu schicken, um der dortigen Führung des Habonim und der Zionist Federation diesen Vorschlag zu unterbreiten. Es gab damals in Israel zwei Kibbuzbewegungen, die eine, Ichud, war an der MapaiArbeiterpartei orientiert, die andere war Kibbuz Arzi, die Kibbuzbewegung des Haschomer Hazair. Bevor ich nach Johannesbug fuhr, traf ich mich mit der Weltleitung des Habonim und mit dem Generalsekretär der Ichud-Kibbuzbewegung. Beide fanden meinen Vorschlag akzeptabel, überließen jedoch die Entscheidung der Bundesleitung in Südafrika. Ich fuhr nach Südafrika und begann, mit der Leitung des Habonim zu verhandeln. Diese lehnte jedoch meinen Vorschlag und jede Kooperation mit dem Haschomer Hazair ab. Da die Zionist Federation keine Möglichkeit sah, einen Kompromiss zu erreichen, musste ich erkennen, dass die Schließung der Bewegung unvermeidlich war – eine für mich persönlich sehr dramatische Entscheidung: Der Haschomer Hazair, der den Nazis Widerstand geleistet hatte, musste sich nun den drakonischen Apartheidgesetzen beugen. Ich flog zurück nach Israel und informierte schweren Herzens die Exekutive der Weltbewegung. Sie nahm mit Bedauern davon Kenntnis und bestätigte meine Entscheidung. Bei unserer Mission in Südafrika in den 1950er-Jahren waren wir Zeugen einer dramatischen gesellschaftlichen Entwicklung mit globalen Einflüssen gewesen, eines Prozesses der Gärung unter der schwarzen Mehrheit gegen die rassistische Unterdrückung sowie die weitreichende wirtschaftliche und soziale Diskriminierung. Die Probleme der Haschomer-Hazair-Bewegung im Land der Apartheid, die schließlich zur Auflösung unserer südafrikanischen Landesorganisation führte, war Teil des schweren Dilemmas der 120.000 dort lebenden Juden. Als ich viele Jahre später Leiter der Exportabteilung der Feuerlöscherfabrik unseres Kibbuz war, besuchte ich Südafrika als Mitglied einer Delegation zur Erweiterung der Handelsbeziehungen. Zwei Tage führten wir Verhandlungen in Kapstadt und Johannesburg, und meine Kontakte aus der Zeit meiner Mission in Südafrika waren noch immer hilfreich. 160

Erneut in Paris – Neuorganisation der Bewegung in Europa

Erneut in Paris – Neuorganisation der Bewegung in Europa Als wir 1957 in unseren Kibbuz zurückkehrten, begann ich wieder in der Landwirtschaft zu arbeiten, zunächst im Gemüsegarten und dann in der Apfelplantage. Obwohl ich diese Arbeit genoss, bezweifelte ich, dass sie mich auf Dauer befriedigen könne. Offenbar waren auch die Kibbuzmitglieder überzeugt, dass ich mich eher für organisatorische Aufgaben eignete. Schon Ende des Jahres wurde ich in der Generalversammlung zum Kibbuzsekretär gewählt. Dies war nur eine halbtägige Beschäftigung, doch hatte der Sekretär weitgehende Aufgaben und Vollmachten. Er war Vorsitzender des Sekretariats und der Generalversammlung der Kibbuzmitglieder, die alle wichtigen Fragen diskutierte und über sie abstimmte. 1962, fünf Jahre nach Ende unserer Mission in Südafrika, bestätigte die Generalversammlung den Vorschlag des Generalsekretärs, der mich für die Arbeit im Personaldepartement der Bewegung vorsah. Die damit verbundene Aufgabe war es, den Funktionärsapparat der Bewegung ständig zu erneuern. Er sollte prinzipiell im zwei- bis dreimonatlichen Turnus ausgewechselt werden. Zu diesem Zweck war jeder Kibbuz verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz seiner Mitglieder zur Arbeit in die verschiedenen Referate des Landesverbandes zu delegieren. Das Zentralbüro des Landesverbandes befand sich in Tel Aviv. Die Funktionäre aus den weiter entfernt liegenden Kibbuzim wohnten die Woche über in der Stadt und verbrachten zumeist nur das Wochenende mit ihren Familien. Trotz dieser Bedingungen erklärte ich mich – natürlich in Übereinstimmung mit Chasia – dazu bereit, die mir vorgeschlagene Arbeit zu übernehmen, nachdem mir der Anschluss eines Telefons in unserer Wohnung zugesichert worden war, um regelmäßigen Kontakt mit meiner Familie halten zu können. Es dauerte noch Jahre, bis alle Kibbuzmitglieder diesen „Luxus“ genießen konnten. Das Personalreferat bestand aus zwei Funktionären – ich war die Nummer zwei. Wir mussten wöchentlich einige Kibbuzim besuchen, um bei deren Sekretariaten, oft aber auch abends in der Generalversammlung, die Bestätigung von Kandidaten durchzusetzen. Der Haschomer Hazair war nicht nur eine Kibbuzbewegung, sondern auch eine politische Partei – eben die Mapam – und unterhielt in vielen Ländern eine Jugendbewegung. Die Mehrheit der Funktionäre dieser Organisationen, vom Parlamentsmitglied bis zum Pkw-Fahrer, waren Kibbuzmitglieder, die unser Referat ausgewählt hatte. Für mich war dies eine 161

Erneut in Paris – Neuorganisation der Bewegung in Europa

interessante Arbeit. Einerseits lernte ich den ganzen Aufbau und Umfang der Aktivitäten der Bewegung kennen, andererseits kam ich mit vielen Kameraden in den Kibbuzim in persönlichen Kontakt. Ich habe bereits einiges über die Führung geschrieben. Die Spitzenfunktionen, besonders bei Parteipositionen, mussten mit den leitenden Personen koordiniert werden. Hier fielen subjektive Gesichtspunkte ebenso wie die politischen Auffassungen der Kandidaten ins Gewicht. Sie mussten im Großen und Ganzen mit der Parteilinie übereinstimmen. So konnte ich auch diesen Aspekt der Dynamik des öffentlichen Lebens näher beobachten und verstehen, und ich traf mich wöchentlich mit Meir Yaari und Yaakov Chasan, um diese Fragen zu besprechen. Die Tätigkeit in der Personalabteilung war lehrreich und für meinen zukünftigen Lebensweg sehr wichtig. Ich lernte viele Menschen kennen und erlangte eine gewisse Bekanntheit in weiten Kreisen des öffentlichen Lebens. Dabei widmete ich mich weniger der inneren Politik Israels, mein Interesse konzentrierte sich vielmehr auf die Situation des jüdischen Volkes, die Verwirklichung des Zionismus und die erzieherischen Herausforderungen des Haschomer Hazair. Während meiner Tätigkeit in der Personalabteilung kristallisierte sich bereits heraus, was Priorität in meinem zukünftigen öffentlichen Leben haben sollte. Dabei dauerte diese Zeit nicht lange. Nach anderthalb Jahren wurde ich zu einer Besprechung in die Exekutive der Bewegung eingeladen. Man schlug mir vor, die Funktion der zentralen Leitung des Haschomer Hazair in Europa zu übernehmen, zusammen mit meiner Familie für mindestens zwei Jahre in Paris zu wohnen und dort das Hauptbüro zu führen. Dies war die zweitwichtigste Position in den Auslandsmissionen der Bewegung – nach der Leitung der Mission in den USA und Kanada. Der Vorschlag bedeutete, dass sich die Dauer meiner Dienste um weitere zwei bis drei Jahre verlängern würde, was einer kontinuierlichen Abwesenheit von mehr als fünf Jahren von meinem Kibbuz entsprach. Dies stellte mich vor eine schwerwiegende Entscheidung über meinen zukünftigen Lebensinhalt. In der Tat hatte sie einen großen Einfluss auf meine Stellung und Position im Kibbuz. Ich war damals 44 Jahre alt, am Ende der Mission würde ich 47 sein. Ich war bereits auf Auslandsmission in Südafrika gewesen, hatte zwei Monate in einer dringlichen Angelegenheit in Paris verbracht und wurde auch bei Wahlkampagnen mobilisiert. Zugleich hatte ich einen dreiwöchigen Kurs im landwirtschaftlichen Institut „Ruppin“ in Gemüseanbau absolviert. Der Wechsel zwischen öffentlicher Tätigkeit und landwirtschaftlicher Arbeit war von mir und auch im Kibbuz bislang akzeptiert worden. Als die Bewegung nun aber die neue 162

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Forderung an mich stellte, war ich mir bewusst, dass ich hier an einem Scheideweg stand. Nahm ich an, zeigte ich deutlich, dass ich die öffentliche Tätigkeit bevorzugte, und es konnte dann nicht mehr die Rede von einer beruflichen Verwurzelung im Kibbuz sein. Selbst wenn das Prinzip der Rotation weiterhin aufrechterhalten und ich zwischen den öffentlichen Missionen in den Kibbuz zurückkehren würde, wäre meine physische Arbeit, ob nun im landwirtschaftlichen oder in einem anderen Bereich, immer nur vorübergehend. Auch im Kibbuz wurde ich bereits als „Funktionär“ eingeschätzt. Ich erwog diese Fragen gründlich, und nach Beratungen mit Chasia beschlossen wir, den Vorschlag anzunehmen. Aber nicht nur ich musste die verschiedenen Aspekte abwägen, in dieser Zeit bestimmte der Kibbuz weitgehend das Schicksal der Mitglieder. Hier traf die Forderung der Bewegung auf Ablehnung. In meinen Unterhaltungen mit Mitgliedern des Sekretariats und mit verschiedenen Kameraden unterstrichen sie stets, dass der Kibbuz nicht auf uns verzichten könne und die stärkere Verwurzelung in der Wirtschaft und in der lokalen Gemeinschaft unsere gesellschaftliche Position begünstigen werde. Die Diskussion erinnert mich an ein anderes Geschehnis in der Geschichte der Bewegung, wenngleich dessen Bedeutung und Gewicht ungleich größer waren. Im Jahr 1944 beschloss das Kommando der jüdischen Widerstandsbewegung in Polen, Ruschka Korczak, eine Anführerin der Partisanen- und Widerstandsorganisation in Wilna, nach Palästina zu schicken, um zu klären, welche Wege und Mittel es gebe, Überlebende der Schoah nach der Befreiung aus Polen nach dort zu führen; dies sollte im Rahmen der Bricha, der organisierten Rettung von Holocaustüberlebenden, geschehen. Ruschka wurde nach Rumänien geschmuggelt. Dort entschieden die verantwortlichen Kameraden, ihre Mission zu ändern: Sie sollte nun umgehend weiter nach Palästina reisen, um der jüdischen Gemeinschaft und insbesondere der Führung des jüdischen Volkes das Schicksal der Juden zu schildern und zu berichten, was in Europa geschehen sei. Man brachte Ruschka auf illegalen Wegen über die Grenzen und nach Palästina. Ihr Auftreten im Aktionskomitee der Kibbuzbewegung und ihr Bericht auf der Landeskonferenz der Histadrut erschütterte nicht nur die Anwesenden, sondern das ganze Land. Zwar wusste man schon zuvor, was in Europa vor sich ging – die Presse hatte ausführlich über die Massenvernichtung und den Ghettoaufstand in Warschau berichtet. Die persönliche Zeugenaussage von Ruschka berührte jedoch besonders tief. Im Februar 1945 lud Chaim Weizmann, der Präsident der Zionistischen Weltorganisation, Ruschka zu einem Gespräch unter vier Augen ein. Sie unterhielten sich mehrere Stunden. Weizmann wusste natür163

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lich um die erschreckenden Geschehnisse, stand er doch während der Kriegsjahre an der Spitze der Weltorganisation des jüdischen Volkes. Dennoch war er tief beeindruckt von allem, was Ruschka ihm erzählte. Er wandte sich an Yaakov Chasan, über den ich schon geschrieben habe. Zwischen Chasan und Chaim Weizmann herrschten freundschaftliche Beziehungen. Weizmann bat Chasan, dafür zu sorgen, dass Ruschka Korczak unverzüglich von ihrer Mission befreit werde. Er wollte sie nach Amerika senden, um der dortigen jüdischen Gemeinschaft einen authentischen Zeitzeugenbericht über die Schoah des europäischen Judentums, den jüdischen Widerstand, den Aufstand und den Kampf der Partisanen zu verschaffen. Ruschka war zu dieser Zeit Mitglied des Kibbuz Ein Hachoresch und arbeitete in der Küche.70 Chasan informierte das Exekutivkomitee der Haschomer-Hazair-Kibbuzbewegung über die Besprechung mit Weizmann und die Bitte, Ruschka für diese außerordentliche Mission nach Amerika freizustellen. Eine entsprechende Anfrage wurde auch an den Kibbuz Ein Hachoresch direkt gestellt. Beide Instanzen, die Exekutive und das Sekretariat des Kibbuz, weigerten sich jedoch mit der Begründung, sie sei noch nicht ausreichend im Kibbuz verwurzelt. Die Mission erfüllte dann Chaika Grossman ein Jahr später, 1946 – nach Kriegsende und damit in einer ganz anderen Situation. Selbstverständlich ist die Ablehnung der Mission von Ruschka nicht mit der Einstellung des Kibbuz Lehavot Habaschan zu meiner neuen Aufgabe in Paris im Jahr 1964 zu vergleichen – die Relevanz war im Fall Ruschkas ungleich größer. Die Geschichte macht jedoch den Stellenwert deutlich, den die „Verwurzelung“ der einzelnen Mitglieder im Kibbuz einnahm. Dies sollte bereits meine zweite längere Auslandsmission zusammen mit meiner Familie sein, und das war im Kibbuz außergewöhnlich. Mein Standpunkt war hingegen, dass eine Erfüllung dieser Aufgabe mit der Weltanschauung des Haschomer Hazair und deren Kibbuzbewegung Kibbuz Arzi wie auch dem prinzipiellen Anliegen unserer politischen Partei übereinstimmte, an der Verwirklichung des Zionismus und des Klassenkampfes der Arbeiterbewegung im Staat Israel öffentlich teilzunehmen. 1945 war die Reaktion des Kibbuz auf die geplante Mission von Ruschka insofern verständlich gewesen, als sich noch alles in der Phase der ideologischen 70 Der Kibbuz Ein Hachoresch liegt südlich von Hadera. Er wurde 1931 von Zuwanderern aus Osteuropa, die Mitglied des Haschomer Hazair waren, gegründet und nicht zuletzt von überlebenden jüdischen Widerstandskämpfern gegen die nationalsozialistische Herrschaft wie Ruschka Korczak, Vitke Kempner und Abba Kovner bewohnt. Der Kibbuz erzeugt vor allem landwirtschaftliche, daneben aber auch industrielle Produkte.

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Konsolidierung befand und die dringendste Aufgabe der Aufbau des Landes im Allgemeinen und des Kibbuz im Besonderen war. Aber auch 1964 war man offensichtlich sehr besorgt um das Einleben neuer Mitglieder und die „Verwurzelung“ in einem Arbeitssektor sowie in der Gemeinschaft. Jedenfalls wandte sich der Kibbuz Lehavot Habaschan in meinem Fall an das „Gericht der Bewegung“, das Konflikte zwischen einem Kibbuz und der Bewegung, auch und gerade in personellen Fragen, behandelte. Der Kibbuz begründete seinen Unwillen, uns für diese Mission nach Paris gehen zu lassen, und lehnte die Forderung der Bewegung deutlich ab: „Man kann diese zwei Menschen nicht freistellen, sie sind notwendig im Kibbuz.“ Die Siedlung befand sich damals immer noch in einer frühen gesellschaftlichen Entwicklung. Das Gericht folgte der Stellungnahme der Vertreter des Kibbuz und entschied sich gegen unsere Freistellung. Doch die Exekutive der Bewegung blieb hartnäckig und legte gegen diesen Beschluss Berufung ein. In einer zweiten Sitzung beschloss das Gericht in erweiterter Zusammensetzung und nach Anhörung des Generalsekretärs der Bewegung einstimmig, die Forderung der Exekutive anzunehmen. Auch wir waren einverstanden. In der Generalversammlung des Kibbuz wurde dann die Angelegenheit erneut zur Abstimmung gebracht. Die Debatte begann mit einem Bericht über die Verhandlungen und den Beschluss des Gerichts. Ich erklärte meine persönliche Ansicht zu der Diskussion zwischen dem Kibbuz und der Bewegung und legte dabei meine prinzipiellen Anschauungen dar: „Mein ideologischer Lebensinhalt war und ist die Bewegung. Verwirklicht habe ich dies, indem ich nach Israel ausgewandert bin und mich in diesem Kibbuz niedergelassen habe. Ich habe noch nie einen Gegensatz zwischen dem Kibbuz und der Bewegung gesehen und sehe ihn auch heute nicht. Ich habe stets alle Anstrengungen unternommen, mich hier einzuleben und in unsere Arbeit einzubringen. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass der Kibbuz eine ideologische, politische und gesellschaftliche Funktion im öffentlichen Leben erfüllen muss. Ohne diese Vision hat er keine Existenzberechtigung. Ich habe mich angesichts dieser Herausforderung immer als einen Pionier gesehen. Schon als ich 19 Jahre alt war, übernahm ich eine wichtige Funktion für die Bewegung, die in den Kriegsjahren nicht ohne Bedeutung war. Niemand hatte mich darum gebeten, ich handelte intuitiv und aus eigener Initiative. Ich bin Zionist seit meiner Geburt und sehe die Aktivität der Bewegung in der jüdischen Diaspora, in der zionistischen Erziehung der jüdischen Jugend als meine zentrale Aufgabe. Darum findet sich in meinem Leben beides: das Wirken im Kibbuz und die öffentliche Mission.“ 165

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Meine Erklärungen machten einen tiefen Eindruck auf die ganze Versammlung, und mit großer Mehrheit wurde die Forderung der Bewegung bestätigt. Chasia und ich waren berührt, als viele Kameraden, die das Wort ergriffen, uns bei unserer neuen Aufgabe viel Erfolg wünschten, und wir bekamen das Gefühl, nicht nur Abgesandte der Bewegung, sondern auch des Kibbuz zu sein. In diesen jungen Jahren des Staates Israel betrachtete man offensichtlich auch im Kibbuz, der beim Aufbau der israelischen Gesellschaft und bei der Verteidigung des Landes in vorderster Reihe stand, die zionistische Vision als eine zentrale Herausforderung – und dies war ganz in meinem Sinne. Anfang 1964 reisten Chasia sowie unsere drei Töchter Yehudit, Racheli und Dorit, die damals vier Jahre alt war, mit mir nach Paris. Wir fuhren auf dem israelischen Schiff „Theodor Herzl“ von Haifa nach Marseille. Welch historische Analogie! 1947 hatte sich Chasia auf einem illegalen Schiff gleichen Namens mit 2200 Überlebenden der Schoah, darunter 500 Kinder, für die sie verantwortlich gewesen war, befunden. Jetzt, 1964, reiste sie in nationaler Mission nach Frankreich, wieder auf einem Schiff, das nach dem Vater des modernen Zionismus benannt war. Unsere große Tochter fragte uns, ob dies alles Juden seien – der Kapitän, die Matrosen, die Kellner. Immerhin fuhren wir unter israelischer Flagge – dem Symbol des Staates Israel. Dass die beiden Schiffe, das eine vor 17 Jahren, das andere heute, den gleichen Namen hatten, war für uns ein Ausdruck der historischen Entwicklung des jüdischen Volkes und der Kontinuität unseres Lebenswegs. Davon abgesehen wurden wir jedoch alle seekrank. Mir ging es immerhin bald wieder besser – so war ich der Einzige von uns, der die Mahlzeiten im Speisesaal einnahm. Von Marseille fuhren wir im Zug nach Paris. Dort erwarteten uns alle in Paris befindlichen Emissäre der Bewegung. Man hatte uns zwei Zimmer im Hotel „La Fayette“ reserviert, in dem alle Funktionäre der Bewegung während ihres Aufenthalts in Paris oder bei der Durchreise wohnten. Das Hotel lag in der Nähe der Zentrale des Haschomer Hazair in Paris, Rue de la Victoire 17; bereits bei meiner früheren kurzen Mission nach Paris hatte ich in diesem Hotel gewohnt. Es war bescheiden, aber gut. Wir verbrachten dort einige Wochen, bis wir eine geeignete Wohnung fanden, die sich in einem neu gebauten Haus in dem Vorort Gentilly befand – wir wollten nicht im Zentrum der Stadt Paris wohnen. Auch in diesem Vorort gab es eine Straße namens Champs-Élysées, und als unsere Kameraden vernahmen, wo wir wohnten, waren sie zunächst erstaunt, wie nobel wir uns angeblich hatten arrangieren können. Bald erkannten sie ihren Irrtum – Gentilly gehörte zu den proletarischen Vororten von Paris, dem soge166

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nannten „Ceinture rouge“ – dem „roten Gürtel“ –, hatte doch die Kommunistische Partei dort die Mehrheit. Wir waren zufrieden, sowohl mit der Wohnung als auch mit der unmittelbaren Umgebung, obwohl die Fahrt mit der Metro bis zum Stadtzentrum und zum Haus der Bewegung damals recht lange dauerte (heute besteht eine Expresslinie). In Paris lebte eine große Kolonie von Israelis: eine starke Vertretung des israelischen Sicherheitsministeriums – damals herrschte eine enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Israel auf militärischem Gebiet –, eine große und bedeutende israelische Botschaft sowie zahlreiche Repräsentanten israelischer Bewegungen und Institute wie auch weltweiter jüdischer Organisationen, etwa der Jewish Agency und ihrer verschiedenen Abteilungen. So verwundert es nicht, dass es für die Kinder der Delegierten eine israelische Schule gab, die außerhalb der Stadt, in Sèvres, lag. Autobusse sammelten die israelischen Kinder an verschiedenen Stationen ein, und der Schulweg dauerte gut eineinhalb Stunden. Unsere Töchter Racheli und Dorit gingen dort zur Schule beziehungsweise in den Kindergarten. Doch Chasia erschien es übertrieben, unsere Jüngste, die ja erst vier Jahre alt war, jeden Tag den Strapazen der insgesamt dreistündigen Reise in Autobus und Metro auszusetzen. Gegenüber unserem Haus in Gentilly befand sich ein großer französischer Kindergarten. Chasia beschloss, auf die „nationale“ Erziehung zu verzichten und Dorit in den französischen Kindergarten zu schicken. Unser Kind atmete auf. Yehudit stand in diesem Jahr vor der Matura. Wir meldeten sie an einer internationalen Schule namens „École Alsacienne“ an, in der Hebräisch als dritte Sprache anerkannt wurde. Dort lernte sie Französisch; sie beherrscht diese Sprache bis heute. Mit der Zeit nahm auch Chasia in dieser Schule an einem Kurs teil und erwarb sich Kenntnisse in der Landessprache. Meine Aufgabe war es, den europäischen Rahmen des Haschomer Hazair in Westeuropa aufzubauen. Die Bewegung arbeitete damals in Frankreich, England, Belgien, Holland, der Schweiz und Italien. Der illegale Haschomer Hazair in Nordafrika – in Tunis und Marokko – stand ebenfalls in Kontakt mit unserer Zentrale in Paris. Wie bereits erwähnt, befanden sich in Paris die wichtigsten Vertretungen israelischer und weltweiter jüdischer Organisationen. Ich war der Delegierte des Haschomer Hazair in all diesen Vertretungen und in den zentralen Institutionen des französischen Judentums. Zudem unterhielt ich auch gute Verbindungen mit der israelischen Botschaft. In all den genannten Ländern waren ein oder mehrere Abgesandte des Haschomer Hazair tätig; es handelte sich insgesamt um etwa 20 Familien, die von ihren Kibbuzim für die erzieherische zionistische Aktivität in Europa freigestellt worden waren. 167

Erneut in Paris – Neuorganisation der Bewegung in Europa

Um ein vollständiges Bild von der Entwicklung und dem Umfang unserer Aktivität in den Nachkriegsjahren zu geben, muss ich noch einmal kurz in die letzten Kriegsjahre zurückkehren. 1944 verfolgte ich von Genf aus den Vormarsch der alliierten Streitkräfte. Unmittelbar nach der Befreiung verschiedener Hauptstädte in Westeuropa sandten wir Aktivisten der Bewegung, die in der Schweiz während des Krieges Asyl gefunden hatten – die meisten waren von uns illegal über die Grenzen geschmuggelt worden –, in ihre Herkunftsländer Frankreich, Belgien und Holland zurück, um dort die Bewegung neu aufzubauen. Von 1939 bis Anfang 1947 war ich die zentrale Adresse des Haschomer Hazair in Europa. Die Bewegungen in Osteuropa begannen ihren Prozess der Erneuerung im Jahre 1945, als die Überlebenden der Schoah aus den Trümmern krochen, ihre Verstecke verließen oder aus den weiten Gebieten der Sowjetunion, die sie gerettet hatten, zurückkamen. Das Zentrum lag zunächst in Polen, doch auch andere Länder wie Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei waren wichtig. 1948 wurde in Prag ein weiteres Zentralbüro der Bewegung eröffnet mit der Aufgabe, die Arbeit in Osteuropa zu koordinieren. So war die Bewegung in vielen Ländern aktiv. Abgesehen von Frankreich handelte es sich jedoch um relativ kleine jüdische Bevölkerungsgruppen. Gerade deshalb war die Rolle der zionistischen Jugendbewegung und des „Arbeitenden Israel“ als erzieherischer Inhalt in den jüdischen Gemeinden von Bedeutung, bildeten sie doch eine Gegenbewegung zu der Assimilation der jüdischen Jugend in den jeweiligen Ländern. Ich betrachtete es als meine erste Aufgabe, die ganze Delegation des Haschomer Hazair in Europa zentral zusammenzufassen, um in enger Kooperation und nach einem gemeinsamen Plan zu arbeiten. Die Arbeit der Bewegung gründete sich dabei vor allem auf die Emissäre aus Israel. Nachdem wir uns einen Monat lang in Paris eingelebt hatten und ich mit der Organisation des Zentralbüros für Europa begonnen hatte, machte ich eine Exkursion in alle Länder, in denen die Bewegung existierte und Abgesandte tätig waren. Europa war mir nicht fremd. Während und nach meiner ersten Freistellung für Paris hatte ich grundlegende Schritte zum Wiederaufbau der Bewegung nach dem Krieg unternommen. Persönlich war ich immer an Europa interessiert gewesen, begleiteten mich doch die europäischen Ereignisse von Jugend an und beeinflussten meine Weltanschauung grundlegend. Die Funktion des europäischen Leiters war insofern ein Glied in der Kette meiner Aktivitäten, die in der Schweiz mit meinem 13. Lebensjahr als Gruppenleiter der Ortsgruppe Basel begonnen hatten – eine Kette, die nun über 80 Jahre hält.

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Zwei Monate nach meiner Ankunft berief ich alle Emissäre zu einer Konferenz ein. Ich präsentierte ihnen meinen Vorschlag, einen stabilen Rahmen der Bewegung in Europa zu schaffen. Damit sollten gerade auch die kleineren Bewegungen einbezogen werden. Zunächst konzentrierten wir uns auf zwei Komponenten: zum einen auf gemeinsame erzieherische Arbeitspläne für die Jugendleiter der Bewegung, zum anderen auf die Organisation einer zentralen europäischen kollektiven Gruppe, welche die Auswanderung nach Israel und die Eingliederung in die Kibbuzim vorbereiten würde. Dieser „Kerngruppe“ sollten die potenziellen Auswanderer des Haschomer Hazair aus allen Ländern außer Frankreich angehören; die französische Bewegung war groß genug, um selbstständig solche Gruppen bilden und eigene Erziehungsprojekte ausführen zu können. Diese Projekte inspirierten die lokalen Bewegungen offensichtlich, sie brachten Schwung und führten zu einer intensiven Aktivität. So fand im Sommer 1965 ein zentrales Seminar für die mittlere und ältere Mitgliederschicht in Brigels in den Schweizer Alpen statt. Wir mieteten für zwei Wochen ein Militärlager. Es nahmen 250 Kameraden des Haschomer Hazair teil, und ein ausgewähltes Team von erfahrenen Jugendleitern kam zu diesem Anlass aus Israel. Ich erinnere mich auch an einen „Tag der Eltern“: Aus ganz Europa strömten Eltern und Geschwister herbei, um die Kinder zu besuchen. Weiterhin fand ein „offizieller Akt“ statt, der israelische Botschafter, Repräsentanten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, eine Delegation des Schweizerischen Pfadfinderbundes, der europäische Vertreter der Jewish Agency aus Paris und einige andere waren Ehrengäste. Im gleichen Jahr trafen sich in Brighton, England, auf einer landwirtschaftlichen Vorbereitungsfarm für „Pioniereinwanderer“ die ersten Gruppen des europäischen „Einwandererkerns“, an dem 30 Kameraden, darunter auch zehn aus der Schweiz, teilnahmen. Diese emigrierten 1966 nach Israel und traten dem Kibbuz Magen bei.71 Ich war mit der Leitung des Seminars beschäftigt. Chasia und unsere drei Töchter waren mit dabei, und Yehudit und Rachel schlossen sich den entsprechenden Altersgruppen an. Auch die anderen Israelis kamen mit ihren Familien, und es wurde ein Kindergarten eröffnet, in dem sich Dorit wohlfühlte. Familienmitglieder der Emissäre, die nicht mit der Führung beschäftigt waren, übernahmen abwechselnd die Rolle als Kindergärtner, und Chasia leitete verschiedene Studien- und Arbeitsgruppen. 71 Der Kibbuz Magen (deutsch: Schild) liegt im Nordwesten der Wüste Negev und wurde 1949 von rumänischen Einwanderern gegründet. 2006 hatte er 480 Einwohner.

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In Fragen der Erziehung legte ich den Emissären einige prinzipielle Erwägungen vor. Ich sah in unseren Richtlinien eine Kombination aus Erziehung zur Selbstverwirklichung in einem der Kibbuzim in Israel und einer Integration in das Leben der lokalen jüdischen Gemeinden. Frankreich erforderte von mir besondere Aufmerksamkeit. Das Land befand sich im Zustand einer sozialen und gesellschaftlichen Gärung, die sich nicht auf die inneren Verhältnisse in Frankreich beschränkte. Die Beziehungen mit Israel bestanden nicht nur auf militärischem Gebiet, und Frankreich hatte immer ein besonderes Interesse an der Mittelmeerregion. Die jüdische Gemeinschaft wiederum durchlief einen Prozess der tief greifenden demografischen und sozialen Umwälzung, und Zehntausende von Juden kamen aus Algier nach Frankreich.72 Wir hatten Abgesandte im ganzen Land: zwei in Paris, in Lyon, Marseille und Straßburg. Im französischen Judentum war das politische Bewusstsein sehr ausgeprägt. Man kann sagen, dass die Juden seit dem Dreyfus-Prozess um die Gleichberechtigung und gegen den Antisemitismus kämpften. All diese Erscheinungen in der modernen Geschichte Frankreichs übten auch auf unsere Tätigkeit Einfluss aus. Als zentraler Repräsentant des Haschomer Hazair nahm ich auch die politische Vertretung des Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair und der Partei Mapam wahr. 1954 war in Paris der Cercle Bernard Lazare gegründet worden, eine Organisation von jüdischen und nicht-jüdischen fortschrittlichen Intellektuellen. Der Cercle hatte eine humanistische Einstellung, war mit Israel solidarisch, unterstützte die Friedenskräfte und hatte sich dem Weltverband der Mapam – heute Merez – angeschlossen. Er fand im jüdischen Establishment und in den linken Kreisen in Paris ziemliche Beachtung und hatte mehrere 72 Frankreich stand zu dieser Zeit unter den unmittelbaren Auswirkungen des Algerienkrieges. Seit 1954 hatte es blutige Kämpfe um die Unabhängigkeit der damaligen französischen Kolonie gegeben. Versuche zur Befriedung Algeriens führten nicht nur zu inneren Konflikten in der algerischen Befreiungsbewegung, sondern auch zu Auseinandersetzungen der französischen Regierung mit französischen Siedlern in der Kolonie und dem dort stationierten Militär, das mehrfach putschte. 1962 gelang es dann, sich auf einen Waffenstillstand und ein Referendum zu einigen, das die Unabhängigkeit Algeriens zum Ergebnis hatte. Der Krieg ist durch zahlreiche Massaker und Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. So wurden sogar bei einem gewaltlosen Protestmarsch von rund 30.000 Algeriern in Paris etwa 200 Demonstranten getötet und 11.000 deportiert. All diese Vorgänge werden erst seit kurzem aufgearbeitet und öffentlich diskutiert. Als Folge des Krieges wanderten viele Bewohner Algeriens, darunter eine große Anzahl Juden, nach Frankreich aus.

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Hundert aktive Mitglieder. Ich arbeitete mit dem Cercle zusammen und werde später noch auf unsere politische Tätigkeit in Frankreich zurückkommen. In den nordafrikanischen Ländern war die Bewegung schon lange in Tunis, Marokko und Ägypten aktiv. Doch die Illegalität bekam hier nach dem Weltkrieg einen anderen Charakter. Infolge der Gründung des Staates Israel konzentrierten sich die Tätigkeiten auf die Organisation der illegalen Auswanderung nach Israel. Obwohl zionistische Aktivitäten verboten waren, wurde die Förderung der Auswanderung von den Behörden insgeheim toleriert. Von Paris aus fuhr ich zweimal nach Marokko. Mit meinem Schweizer Pass hatte ich keine Probleme; ich bewegte mich im Land als Tourist, und Touristen waren willkommen. Allerdings galt es, einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, als ich mit den Agenten des Mossad zusammentraf, um Probleme bei der Auswanderung der Mitglieder der illegalen Jugendorganisationen zu besprechen. Diese Missionen führte ich im Auftrag aller Pionierjugendbewegungen im Rahmen der Zionis-

Heini Bornstein bei einem (illegalen) Besuch in Marokko 1965 mit einem Hofgardisten des Königs.

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tischen Weltorganisation durch. Damals gab es einen Strom von Auswanderern nach Frankreich und von dort nach Israel. Meine mehr als zweijährige Tätigkeit in Europa lässt sich als Konsolidierung der kontinentaleuropäischen Bewegung und Vertiefung der Erziehung auf einem höheren Niveau beschreiben. Es galt, sich über gemeinsame Erfahrungen auszutauschen sowie die Methoden unserer Arbeit zu erweitern und zu verbessern. Parallel wurde die ideologische und praktische Vorbereitung auf das zukünftige Leben im Kibbuz in Israel als persönliche Herausforderung zur Verwirklichung konkretisiert. Die Ortsgruppen integrierten sich in die Atmosphäre der jüdischen Gemeinden. Damit bekam die Bewegung eine klare Linie im Inneren und fand Anerkennung von außen, ohne den Charakter des Haschomer Hazair als Pionierbewegung des Zionismus zu verlieren. In den 1960er-Jahren mussten wir uns aber auch mit besonderen Problemen auseinandersetzen. Ein großer Teil der älteren jüdischen Jugend wollte eine Hochschule besuchen. Wir mussten uns mit der Frage der akademischen Studien beschäftigen. Die Forderungen der Bewegung an ältere Kameraden waren eindeutig: Nach Abschluss der Mittelschule galt es, eine gewisse Zeit auf einer „Vorbereitungsfarm“ zu verbringen und dann nach Israel auszuwandern und sich einem Kibbuz anzuschließen. Solche Schulungsfarmen gab es auch in Europa: in England, in Frankreich und eine gewisse Zeit lang auch in der Schweiz (am Institut Ascher);73 zudem bestand eine große Farm in Amerika. Wir gingen so weit, acht Mitglieder des Haschomer Hazair in Belgien auszuschließen, weil sie sich für ein Studium an der Universität eingeschrieben hatten. Ich versammelte alle Emissäre und die nationalen Bundesleitungen zu einer Beratung über unsere Haltung in dieser Frage. Natürlich konnte die Entwicklung nach dem Krieg im Bereich der Bildung nicht ignoriert werden, eine strikte Ablehnung des Studiums war mit der neuen Wirklichkeit nicht zu vereinbaren, in Europa so wenig wie in Nord- und Südamerika. Der Bildungsweg vieler junger Menschen führte über die Hochschule, und dies war bei der jüdischen Jugend nicht anders. Wir suchten deshalb einen neuen Weg für die älteren Mitglieder der Bewegung und schufen einen Rahmen, der geeignet erschien: den „Kern der Kandidaten für die Auswanderung“. Ein Mitglied, das sich diesem Kern anschloss, verpflichtete sich, im Rahmen der allgemeinen Planung des Kerns in einen 73 Das Institut Ascher, vermutlich 1925 von Maurice Ascher gegründet, bestand in Bex-LesBains bis 1978. 1982 übernahm das Rote Kreuz das Gebäude und richtete in ihm ein Heim für Asylbewerber ein.

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Kibbuz auszuwandern. In der Zeit seiner Studien musste der Kamerad sich entscheiden, ob er diesem Kern angehören wollte. Gleichzeitig beschlossen wir, eine Organisation für den studentischen Bereich zu gründen. Die Beratungen in der europäischen Führung über die akademischen Studien von Mitgliedern der Bewegung waren der Beginn einer grundlegenden Änderung, die in der Weltbewegung vor sich ging. Wir mussten einen organisatorischen Rahmen finden, um einen großen Teil der jüdischen Jugend in den Universitäten zu erfassen. Auch die Haltung zur Auswanderung war in diesem Zusammenhang neu zu betrachten, vor allem der Zeitpunkt der Emigration. Dies hatte zur Folge, dass wir den ganzen erzieherischen Verlauf für die ältere Mitgliederschicht in der Bewegung den neuen Bedingungen anpassen mussten. Wir hatten nun mit Kameraden zu tun, die eine akademische Ausbildung durchliefen. Ihnen konnte der Kibbuz in diesem Stadium seiner Entwicklung keine zufriedenstellende Tätigkeit bieten, denn noch galt das Primat der physischen Arbeit – der Slogan verlangte: „Vor allem Hände.“ Deshalb verlor die ultimative Priorität des Kibbuz in Israel für die Jugend an Relevanz. Eine individuelle Einordnung in Israel war nun für viele das Ziel. Dennoch gaben wir die Ausrichtung als Pionierbewegung nicht auf. Im Gegenteil, mit der Zeit und im Zuge des sozioökonomischen Prozesses in den Kibbuzim entwickelten wir eine Synthese zwischen akademischer Ausbildung und der praktischen Integration in den Kibbuz. Es entstanden Studentenorganisationen, die einen spürbaren Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung ausübten. In den zwei Jahren unserer Arbeit in Europa empfingen wir auch Besuche von führenden Persönlichkeiten der Haschomer-Hazair-Kibbuzbewegung. So kamen die beiden historischen Theoretiker und Anführer der Bewegung, Meir Yaari und Yaakov Chasan, einige Male nach Paris, meistens auf der Durchreise zu Konferenzen. In all den Jahren hatten sie von Beginn an die Doktrin der zionistisch-sozialistischen Weltanschauung als ideologische und politische Grundlage des Haschomer Hazair entwickelt und im Kibbuz die Avantgarde der neuen israelischen Gesellschaft gesehen. Anlässlich ihrer Besuche organisierten wir Konferenzen mit allen europäischen Emissären und besprachen mit ihnen die neue Konzeption des Erziehungsverlaufs für die ältere Schicht der Bewegung. Insbesondere Chasan zeigte viel Verständnis für diese Änderungen, Yaari hatte dagegen größere Schwierigkeiten, sich aus den Wurzeln der Vergangenheit zu befreien und mit der Zeit zu gehen. Auch der damalige Weltleiter der Haschomer-Hazair-Jugendbewegung, Scheike Weiner, kam in die Schweiz, besuchte alle Länder und informierte sich über die Probleme, mit denen wir uns beschäf173

Erneut in Paris – Neuorganisation der Bewegung in Europa

tigten.74 Ich beschrieb unsere Bestrebungen als den Anfang eines Prozesses, der eine ernsthafte Bearbeitung erforderte. Es war unmöglich, gegen globale Strömungen zu wirken, besonders im Umfeld der jüdischen Jugend und bei den Erwartungen der Eltern. Eine akademische Bildung war inzwischen zu einer Bedingung für bestimmte berufliche Positionen und die entsprechenden Karrieren geworden. Zu Beginn des zionistischen Werkes war dies noch ganz anders gewesen, Juden in der Diaspora waren vor allem in Handel und Finanzen, aber auch in freien Berufen oder als kleine Handwerker und im Detailhandel beschäftigt gewesen. Um ein Land aufzubauen, musste man die sozioökonomische Pyramide auf den Kopf stellen, wie einer der ersten Führer und Theoretiker des sozialistischen Zionismus, Ber Borochov, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesagt hatte. Die Grundlage der wirtschaftlichen Aktivität müssten die Landwirtschaft und die Schaffung einer wirtschaftlichen Infrastruktur sein. Der Aufbau des jüdischen Staates hing von „der Eroberung der Arbeit“ ab, wie damals die Parole lautete. Auch wir in der Bewegung legten in diesem Stadium keinen Wert auf eine spezifische Berufsausbildung, unser „Beruf“ war der eines „Kibbuzniks“ und bestand in der Fähigkeit und Bereitschaft, alle notwendigen Arbeiten auszuführen. Doch dies änderte sich mit der Zeit, und wir wurden uns bewusst, dass sich diese Auffassung dem modernen Fortschritt stellen musste. Die Landwirtschaft, wie alle anderen Gebiete auch, musste ein höheres Niveau erreichen, ihre Qualität und Leistungsfähigkeit der globalen Entwicklung anpassen und auch verbessern, um konkurrieren zu können. So wurden und werden auch heute noch Mitglieder der Kibbuzim auf Universitäten und in professionelle Ausbildungsinstitute geschickt. Heute, im 21. Jahrhundert, ist die Landwirtschaft in Israel eine der fortschrittlichsten in der ganzen Welt. Das Land ist führend im Bereich der Hightech und in den wissenschaftlichen Forschungen, und die israelische Medizin ist für ihren hohen Standard weltbekannt. Ebenso hat die Kibbuzbewegung eine fortgeschrittene Industrie hervorgebracht, welche die wirtschaftliche Basis der meisten Kibbuzim bildet. Obwohl die Kibbuzbewohner nur etwa zwei Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, ist ihr Anteil am Export landwirtschaftlicher und industrieller Produkte deutlich größer. Mit Befriedigung blicke ich auf diese Periode meiner Arbeit in Paris zurück, in der die Bewegung einen Prozess der Modernisierung begonnen hat. Der Haschomer Hazair ist eine „historische“ Bewegung, doch war er in seiner fast 74 Scheike Weiner lebte im Kibbuz Ein Haschofet (siehe Anm. 61). 1945 war er der erste Emissär der Bewegung in Warschau nach Kriegsende gewesen.

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hundertjährigen Geschichte nie dogmatisch. Wir wurden von den globalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Änderungen und deren Konsequenzen für die jüdische Gemeinschaft, besonders für die jüdische Jugend, beeinflusst. Die ersten Beschlüsse einer Anpassung unserer erzieherischen Wege waren der Beginn einer tiefer gehenden Umwälzung, die sich einige Jahre später vollzog. Nach meiner Rückkehr nach Israel betrachtete ich es als meine persönliche Aufgabe, meine Erfahrungen während der Mission in Europa den verschiedenen führenden Gremien der Bewegung zur Verfügung zu stellen.

Zurück im Kibbuz – Erziehungsprobleme, Wandel der Einstellung, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir Als ich die öffentliche Tätigkeit in der Bewegung als primären Lebensweg wählte, akzeptierte ich das Prinzip, zwischen zwei Funktionen mindestens drei Jahre im Kibbuz zu leben und zu arbeiten. In dieser Zeit arbeitete ich meistens in der Landwirtschaft, einige Jahre aber auch in unserer Feuerlöscherfabrik. Diese 1950 gegründete Firma, auf diesem Gebiet führend in Israel, ist die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz unseres Kibbuz. Wir beliefern zivile Einrichtungen – etwa für Autobusse und Eisenbahnen –, aber auch israelische Sicherheitsorgane. Darüber hinaus haben wir einen hohen Exportanteil. Hier war ich von 1975 bis 1980 Direktor der Verkaufsabteilung und Verantwortlicher für den Export. Doch der Kibbuz legte Wert darauf, dass ich gesellschaftliche Funktionen ausübte. Die Rotation bewährte sich, und heute kann ich behaupten, dass trotz meines fortgeschrittenen Alters meine Position im Kibbuz immer noch Beachtung findet. Ich nehme schriftlich und mündlich Stellung zu inneren Fragen, und bis vor Kurzem war ich Mitglied im gewählten Aktionskomitee. Bei wichtigen Kontroversen werde ich informell um Rat gefragt. In der Zeitspanne von 1954 bis 2000 war ich während fünf Amtsperioden Sekretär des Kibbuz. 1995 wurde ich zum Vorsitzenden der Gesundheitskommission und damit in eine nicht gerade einfache Stellung gewählt. Wenn ich die inneren gesellschaftlichen Probleme des Kibbuz Lehavot Habaschan analysiere, treten hier ähnliche Prozesse hervor, wie sie die Kibbuzbewegung im Allgemeinen durchlaufen hat und noch durchläuft. In meinen Funk175

zurück im Kibbuz

hundertjährigen Geschichte nie dogmatisch. Wir wurden von den globalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Änderungen und deren Konsequenzen für die jüdische Gemeinschaft, besonders für die jüdische Jugend, beeinflusst. Die ersten Beschlüsse einer Anpassung unserer erzieherischen Wege waren der Beginn einer tiefer gehenden Umwälzung, die sich einige Jahre später vollzog. Nach meiner Rückkehr nach Israel betrachtete ich es als meine persönliche Aufgabe, meine Erfahrungen während der Mission in Europa den verschiedenen führenden Gremien der Bewegung zur Verfügung zu stellen.

Zurück im Kibbuz – Erziehungsprobleme, Wandel der Einstellung, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir Als ich die öffentliche Tätigkeit in der Bewegung als primären Lebensweg wählte, akzeptierte ich das Prinzip, zwischen zwei Funktionen mindestens drei Jahre im Kibbuz zu leben und zu arbeiten. In dieser Zeit arbeitete ich meistens in der Landwirtschaft, einige Jahre aber auch in unserer Feuerlöscherfabrik. Diese 1950 gegründete Firma, auf diesem Gebiet führend in Israel, ist die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz unseres Kibbuz. Wir beliefern zivile Einrichtungen – etwa für Autobusse und Eisenbahnen –, aber auch israelische Sicherheitsorgane. Darüber hinaus haben wir einen hohen Exportanteil. Hier war ich von 1975 bis 1980 Direktor der Verkaufsabteilung und Verantwortlicher für den Export. Doch der Kibbuz legte Wert darauf, dass ich gesellschaftliche Funktionen ausübte. Die Rotation bewährte sich, und heute kann ich behaupten, dass trotz meines fortgeschrittenen Alters meine Position im Kibbuz immer noch Beachtung findet. Ich nehme schriftlich und mündlich Stellung zu inneren Fragen, und bis vor Kurzem war ich Mitglied im gewählten Aktionskomitee. Bei wichtigen Kontroversen werde ich informell um Rat gefragt. In der Zeitspanne von 1954 bis 2000 war ich während fünf Amtsperioden Sekretär des Kibbuz. 1995 wurde ich zum Vorsitzenden der Gesundheitskommission und damit in eine nicht gerade einfache Stellung gewählt. Wenn ich die inneren gesellschaftlichen Probleme des Kibbuz Lehavot Habaschan analysiere, treten hier ähnliche Prozesse hervor, wie sie die Kibbuzbewegung im Allgemeinen durchlaufen hat und noch durchläuft. In meinen Funk175

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tionen in der Weltbewegung und in der Mapam-Partei war ich für zwei Perioden Mitglied des Exekutivsekretariats der Haschomer-Hazair-Kibbuzbewegung. Ich nahm an wichtigen Debatten und Beschlüssen der höchsten Exekutivinstanz und des Aktionskomitees teil, das grundlegende Richtlinien festlegte. Ich gehörte dabei nicht zu den orthodoxen „Wächtern auf den Mauern“ und vertrat eine offene Haltung gegenüber den Prozessen in der Kibbuzbewegung. Dabei schenkte ich den Äußerungen der jungen Generation große Aufmerksamkeit. Mir wurde bewusst, dass einige Grundlagen der „kollektiven Ideologie“ zerrüttet waren – nicht nur auf politischem Gebiet, sondern auch im Lebensstil im Kibbuz selbst. Risse in der monolithischen politischen Einstellung zeigten sich ja bereits infolge der Prager Prozesse in den Fünfzigerjahren. Dies betraf nicht nur die HaschomerHazair-Kibbuzbewegung, auch in der „Schwester-Kibbuzbewegung“ gab es Spaltungen aufgrund von politischen Meinungsverschiedenheiten. 1969 kam es zu einem Bündnis zwischen der allgemeinen Arbeiterpartei Mapai und der Mapam, der Partei des Haschomer Hazair, die sich als Alternative zu der rechten Koalition zusammenschlossen. Das erste Anzeichen dafür, dass die Vorstellung einer gemeinsamen gesellschaftlichen Verantwortung erschüttert war, stellten die Einwände gegen die Schlafsäle in den Kinderhäusern dar. Seit Beginn der Sechzigerjahre äußerten mehr und mehr Mütter ihre Unzufriedenheit mit den Methoden der kollektiven Erziehung. Zwei Kibbuzim, die offiziell die familiäre Erziehung einführten, wurden formell – die wirtschaftliche Betreuung war davon ausgenommen – aus der Kibbuzbewegung des Haschomer Hazair, dem Kibbuz Arzi, ausgeschlossen. In den damaligen Sitzungen der Exekutive gab es einige Diskussionen, wie man dieser Entwicklung entgegenwirken könne. Ich persönlich stimmte gegen diese Sanktionen und vertrat die Meinung, dass administrative Maßnahmen keine geeignete Antwort auf die Stimmung in vielen Kibbuzim seien. Zu diesem Zeitpunkt fand eine Landeskonferenz der Haschomer-Hazair-Kibbuzbewegung statt, und mit großer Mehrheit wurden die Beschlüsse der Exekutive bestätigt. Der Prozess der Veränderungen im Erziehungssystem konnte dennoch nicht aufgehalten werden. Nach etwa 20 Jahren hatte in allen Kibbuzim die familiäre Erziehung Einzug gehalten. Der Kibbuz Lehavot Habaschan war einer der letzten, der diesen Schritt vollzog. Insgesamt waren wir ein konservativer Kibbuz, der Bewegung gegenüber stets linientreu. Die öffentliche Meinung war eindeutig – und stand nicht selten im Widerspruch zur Haltung verschiedener Kameraden, die sich mit dieser Änderung nicht abfinden wollten.

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In dieser Frage macht es gewiss Sinn, wenn ich das Verhalten meiner drei Töchter beschreibe. Sie wurden im kollektiven System erzogen, und alle drei erinnern sich sehr positiv an ihre Kindheit und Jugend in der kollektiven Erziehung. Als sie sich verheirateten und selbst Kinder hatten, wollten sie diese hingegen nicht im kollektiven System erzogen sehen. Racheli und Yehudit verließen den Kibbuz Lehavot Habaschan und schlossen sich anderen Kibbuzim an, in denen die „familiäre Erziehung“ bereits eingeführt worden war. Dorit erzog demgegenüber ihre Kinder in Lehavot Habaschan, und sie und ihre Kinder waren sehr zufrieden. Ich bedauerte natürlich, dass zwei meiner Töchter den Kibbuz verließen. Sie entschieden sich zu Beginn eines Prozesses, der sich dann mit den Jahren auf die ganze Kibbuzbewegung ausdehnte, auch wenn die Änderungen in Lehavot Habaschan noch einige Jahre auf sich warten ließen. Ich persönlich stimmte mit dieser Entwicklung überein, war ich doch überzeugt, dass man der jungen Generation nicht im Wege stehen kann. Aber widersprach damit im Rückblick das kollektive Erziehungssystem der menschlichen Natur? Heute veröffentlichen damalige „Opfer“ der „kollektiven Erziehung“ ihre Erinnerungen und erzählen von ihren belastenden Erlebnissen, insbesondere während der Nacht. Es ist richtig, dass die Eltern damals die Kinder zu Bett brachten und anschließend nach Hause gingen, während die Kinder alleine blieben; die Nachtwache übernahmen im wöchentlichen Wechsel Eltern, manchmal auch Männer. So verrichtete auch ich einige Male diesen Nachtdienst und saß manchmal neben einem weinenden oder durch einen bösen Traum aufgeschreckten Kind. Meist erzählte ich ihnen Geschichten, bei kranken Kindern oder bei ununterbrochenem Weinen riefen wir die Eltern. Die kollektive Erziehung war eine integrale Komponente der kollektiven Ideologie. Nach dieser Auffassung erzogen wir „unsere“ Kinder gemeinsam. Die Erzieher, Lehrer und Kindergärtnerinnen bekamen ihre Ausbildung im KibbuzSeminar; es gab zwei solche Seminare, und dort lernte man die „Kibbuzideologie“. Auch ich gehörte zu den „Treuen der Bewegung“ und war überzeugt, dass wir eine Generation erziehen müssten, die das Werk ihrer Väter fortsetzen werde. Die Gründer des Kibbuz vermieden jeden äußerlichen Einfluss, und auch ich war überzeugt, dass ein geschlossener organisatorischer Rahmen gemäß der erzieherischen Ideologie der Kibbuzbewegung eine stabile Abfolge der Generationen garantieren werde. Bald mussten wir uns jedoch mit einem eigentümlichen Widerspruch auseinandersetzen: Auf dem Gebiet der Wirtschaft stellte sich mehr und mehr heraus, dass nur eine Integration in die kapitalistischen Strukturen außerhalb der Kibbuzim die Grundlage für eine Kibbuzindustrie, 177

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die sich entwickeln und erweitern sollte, zu schaffen vermochte. Als die Diskussion über das Erziehungssystem zunehmend auf der Tagesordnung der Bewegung stand, wurde mir klar, dass die junge Generation die emotionalen Verbindungen mit ihren Kindern vertiefen wollte, insbesondere im frühkindlichen Alter. Ich sagte mir, dass ja ihr die Zukunft gehöre und sie ein Erziehungssystem entsprechend ihrem Willen und ihrer Anschauung aufbauen solle. Zugleich begann ich zu verstehen, dass es sich um einen tiefer gehenden Prozess handelte und die Diskussion über Familie und Erziehung nur die „erste Schwalbe“ umfassenderer Bestrebungen war, den Lebensstil von Grund auf zu ändern. Die Frauen der ersten, der zweiten und sogar der dritten Generation seit der Gründung der Kibbuzbewegung verlangten vollständige Gleichberechtigung mit den Männern und Anteil an allen Arbeiten in der Wirtschaft. Sie strebten gleichzeitig danach, vollumfänglich Mutter zu sein, und das bedeutete, Tag und Nacht mit ihren Kindern zusammen zu sein und diese auf jeder Stufe ihrer Entwicklung zu begleiten. Auf der anderen Seite begannen Erzieher und Pädagogen aus der ganzen Welt, an der kollektiven Erziehung Interesse zu finden. Auch bei uns im Kibbuz führte ein Team von Erziehern aus Amerika während einer Woche Forschungsarbeiten durch. Sie wohnten bei uns, befragten Eltern und Kinder, brachten die Nächte in den Kinderhäusern zu. Auch verglichen sie die Erziehung im Kibbuz mit derjenigen in der Stadt. In der Schlusssitzung im Speisesaal bewerteten sie die Vorzüge des Kollektivsystems, bezogen sich dabei aber auf den Hintergrund der umfassenden wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu diesem Zeitpunkt. Nicht alle Eltern waren damit einverstanden. Nach zehn Jahren war dieser Prozess abgeschlossen und das kollektive Erziehungssystem abgeschafft. Dieses Ringen um die weitere Entwicklung in Familie und Gesellschaft gibt Anlass, ausführlich über den Besuch von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir zu berichten. Wir kehrten von unserer Mission in Paris Ende 1966 zurück, und Anfang 1967 wurde ich zum Sekretär des Kibbuz gewählt. Die Lage entlang der Grenze war angespannt. Im April und Mai besuchten Sartre und de Beauvoir Israel. Er war auf dem Rückweg von einem Besuch in China und Ägypten. Sartre galt als „Guru“ der Intellektuellen und linksgerichteter Kreise in Europa, wenn nicht der ganzen Welt, und war einer der geistigen Väter der Studentenunruhen. In Israel war er der persönliche Gast von Meir Yaari; sie kannten sich von den internationalen Kongressen der Friedensbewegung. Er besuchte den Kibbuz Merchavia, das Heim von Meir Yaari, und es wurde beschlossen, dass er noch einen Kibbuz besuchen solle, der an der syrischen Grenze lag. Da ich 178

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während meines Aufenthalts in Paris einige Male bei Veranstaltungen des Cercle Bernard Lazare mit Sartre zusammengekommen war, wandte man sich an mich und bat, Sartre in unserem Kibbuz zu empfangen. Tatsächlich war dies ein sehr interessanter Besuch. Entsprechend der Bitte der Organisatoren bereiteten wir zwei Zimmer vor. Die erste Begegnung fand in unserer Wohnung statt: Chasia und ich mit JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir. Es war das erste Mal, dass Chasia mit beiden zusammentraf. Auch ich begegnete Simone de Beauvoir zum ersten Mal, und es war eine Erneuerung meiner Beziehungen zu Sartre. Ich gab ihnen eine kurze Einführung in den Kibbuz, und sie interessierten sich sehr für unsere persönlichen Biografien. Es dauerte nicht lange, bis sie die „interessante“ Zusammensetzung unserer Familie erkannten: Chasia stammte aus Grodno in Polen und hatte die Schoah überlebt, ich kam aus Basel und damit aus der Schweiz, einem Land, das außerhalb der unmittelbaren Kriegsereignisse gestanden hatte. Sie fragten uns, was außer der Liebe von Mann und Frau das Gemeinsame zwischen uns sei. Ich nahm an, dass Sartre erstaunt war aufgrund der Erfahrungen seiner Partnerschaft mit Simone de Beauvoir. Wir erzählten ihnen von unserem gemeinsamen Hintergrund, der sich auch auf die Zeit erstreckte, bevor wir uns persönlich kannten: Die Quelle des Gemeinsamen war und ist unser Aufwachsen im Haschomer Hazair, unser Leben in ein und derselben Bewegung. Motivation und Ziel waren bei uns beiden dieselben: das Leben im Kibbuz. Sie wollten mehr wissen über unsere Erfahrungen und unser Handeln während der Schoah. Diese erste Unterhaltung führte dazu, dass nach der öffentlichen Veranstaltung im Kibbuz Jean-Paul Sartre mit mir in unserer Wohnung und Simone de Beauvoir mit Chasia in einer anderen Wohnung saß. Sartre sprach mit mir über den Kibbuz, Simone wollte von Chasia mehr über ihre Erlebnisse während der Schoah hören. Als ich später Simones Buch Das zweite Geschlecht las, entdeckte ich dort Spuren ihres Gesprächs mit Chasia, ohne dass sie ihren Namen erwähnte. Am Abend fand eine Versammlung des Kibbuz im Klubsaal statt. Menschen aus unterschiedlichen Kibbuzim kamen zu diesem Treffen. Ich übersetzte Sartre vom Französischen ins Hebräische, eine Kameradin tat dies bei de Beauvoir. Er erzählte, dass sie nach einem Besuch in China und Ägypten nach Israel gekommen seien. In China habe er sich insbesondere für die Entwicklung des kommunistischen Regierungssystems interessiert, in Ägypten und Israel wolle er die politische und militärische Situation angesichts der Spannungen an den Grenzen im Norden und Süden kennenlernen. Er betonte, dass er das sozioökono179

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Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit Heini Bornstein in Lehavot Habaschan, Mai 1967.

mische Experiment des Kibbuz verstehen wolle. Im Kibbuz Merchavia hatte er außer Meir Yaari keine Mitglieder des Kibbuz getroffen. Bei uns war es für Jean-Paul und Simone nicht zuletzt deshalb interessant, weil es in Lehavot Habaschan viele Kameraden aus Europa gab und ein großer Teil Französisch verstand. Sartre berichtete von seinen Eindrücken aus China und bewertete den Prozess des Übergangs von der Kollektivierung zur Privatisierung, zur kapitalistischen Wirtschaft und zur individualisierten Gesellschaft.75 Zum Kibbuz wollte er sich in diesem Stadium noch nicht äußern und beschränkte sich auf einige Hinweise zu der globalen Entwicklung und den Diskussionen in der Sowjetunion und China über den Charakter der Wirtschaft und der Gesellschaft. Er hatte durchaus Kenntnis von den Bestrebungen innerhalb der Kibbuzbewe75 Zu dieser Zeit konnte in China allerdings von Privatisierung, Individualisierung und Kapitalismus in breitem Maßstab noch keine Rede sein. Von 1966 bis 1969 dauerte die Phase der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“, mit der Mao Zedong (1893–1976) und seine Anhänger bürokratische Strukturen aufbrechen, kapitalistische Tendenzen bekämpfen und eine kulturelle Umformung erreichen wollten. In verschiedenen Bereichen wurde diese Politik noch länger durchgeführt.

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gung, aber vor den Hunderten von Mitgliedern verschiedener Kibbuzim sprach er an diesem Abend vor allem über die Lage in der Welt. Interessant ist im Rückblick, dass er damals, also Anfang Mai 1967, keine Kriegsstimmung in Ägypten feststellen konnte. Eindrücklich waren auch die Worte Simone de Beauvoirs. Sie sprach über die Stellung der Frau in China und Ägypten. Besonders intensiv ging sie auf die starken Tendenzen zur Befreiung der Frau und den Kämpfen für die Gleichberechtigung der Frau in China, aber auch in Ägypten ein, wo sie nicht zuletzt Kindergärten besucht hatte. In der Unterhaltung nach der Veranstaltung in unserer Wohnung, die einige Stunden dauerte, konzentrierte sie sich auf das Thema Kibbuz. Diese Gespräche waren sehr aufschlussreich – vor allem, wenn man die Einschätzungen Sartres mit der Entwicklung der Kibbuzbewegung Jahre später vergleicht. Er fragte mich: „Was ist deine Funktion im Kibbuz?“ Ich antwortete, ich sei der Sekretär des Kibbuz, und er kommentierte: „Das heißt Spitze der lokalen Administration?“ Ich korrigierte ihn: „Vorsitzender der Kibbuz-Gemeinschaft.“ „Was hast du davon? Materielle oder gesellschaftliche Vergünstigungen?“ Ich antwortete: „Weder das eine noch das andere.“ Er forschte weiter: „Was ist also die Gegenleistung, die du bekommst? Eine angesehene Stellung? Eine besonders ehrenhafte Behandlung?“ Ich erwiderte: „Ich mache dies aus persönlicher Identifikation mit der Gemeinschaft. Alles basiert auf diesem Prinzip, in der Arbeit, in den wirtschaftlichen Branchen und auch in den sozialen Institutionen und Diensten. Es gibt keine persönliche Gegenleistung. Der ‚Lohn‘ für die Leistung findet seinen Ausdruck in der Qualität und im Niveau des gemeinsamen Lebensstandards. Im Gegenzug ist die Gemeinschaft für den ganzen Lebenslauf jedes Einzelnen von der Geburt bis zum Tod verantwortlich. Dies ist der Grundsatz der kollektiven Gemeinschaft mit solidarischer Lebensqualität.“ Ich nannte ihm einige Beispiele, und er fragte. „Wie passt das mit der kapitalistischen Umgebung zusammen, in der Prinzipien herrschen, die weit von euren Grundsätzen entfernt sind? Seid ihr von eurer Umwelt isoliert?“ Es war schon spät, er bat mich, ihn um sechs Uhr morgens zu wecken; er wollte die Kameraden treffen und ihnen einige Fragen stellen. Tatsächlich stand er am Morgen am Tor der Fabrik: „Warum kommt ihr so früh in die Fabrik? Bekommt ihr einen Lohn?“ Die Kameraden, es waren die Produktionsarbeiter, antworteten: „Das ist unser Werk. Wenn wir mehr herstellen, verbessert sich auch unsere persönliche Lage.“ Wir schauten in die Büros und sahen, dass alle Verantwortlichen schon an der Arbeit waren. Sartre stellte dem Direktor der 181

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Fabrik, selbst Mitglied des Kibbuz, die gleichen Fragen wie vorher den „Arbeitern“, und er bekam dieselben Antworten. Dann gingen wir mit Jean-Paul und Simone in den Speisesaal zum Frühstück. Sie wollten sich wie Kibbuzmitglieder verhalten, reinigten den Tisch und brachten das Geschirr selber zum Abwaschen. Wir kehrten in unsere Wohnung zurück, und Sartre fasste seine Eindrücke zusammen: „Ich bin beeindruckt von der Identität des Individuums mit dem Kollektiv und auch vom Gefühl der Solidarität. Ich möchte euch aber darauf aufmerksam machen, dass man Ideologie nicht vererben kann. Jede Generation hat eine andere Motivation und eine andere geistige Welt. Der Lebensstil ändert sich. Ich nehme an, dass die heutige Einstellung in der Kibbuzbewegung ein oder zwei Generationen andauern wird, länger nicht. Wenn ihr keine materiellen Gegenleistungen oder moralischen Gratifikationen für Engagement oder Verantwortung anerkennt, werden euch die fähigen Leute verlassen, und ihr bleibt eine durchschnittliche Gesellschaft.“ Man muss bedenken, dass Sartre seine Einschätzung im Jahre 1967 äußerte. Simone de Beauvoir war besonders von der kollektiven Erziehung beeindruckt. Sie besuchte die Kinderhäuser und den Kindergarten. Dabei bat sie die Kinder, ihr ein Bild zu zeichnen. Es war eine Zeit, in der die Sicherheitslage höchst angespannt war, und die Kinder zeichneten die Friedenstaube oder Araber und Juden, die sich die Hände reichten. Simone zeigte uns die Bilder, welche die Kinder in Ägypten für sie gezeichnet hatten. Auf ihnen war der „israelische Feind“, waren Flugzeuge und Panzer zu sehen. Sie fügte hinzu: „Es wird wahrscheinlich Generationen dauern, bis wir zu einem richtigen Frieden zwischen Arabern und Juden kommen werden.“ Als Weltleiter des Haschomer Hazair kam ich 1975 wiederum nach Paris. Damals war mein guter Freund Eli Ben Gal – ein wichtiger Historiker – aus dem benachbarten Kibbuz Bar Am Abgesandter der Bewegung für die Studenten.76 Er war der verantwortliche Begleiter von Sartre und de Beauvoir bei deren Besuch 1967 in Israel gewesen. Am Abend meines Aufenthaltes in Paris war er

76 Der Kibbuz Bar Am („Sohn des Volkes“) liegt nahe der Grenze mit dem Libanon. Er wurde 1949 von demobilisierten Soldaten des Palmach als Siedlung des Haschomer Hazair gegründet. Die nicht-jüdische Bevölkerung wurde aus dieser Gegend vertrieben, um die Grenze besser sichern zu können. Wirtschaftlich ist der Kibbuz landwirtschaftlich geprägt, hat aber auch eine Fabrik, die Produkte für medizinische Zwecke herstellt. In der Nähe befinden sich die Ruinen einer der ältesten jüdischen Synagogen, die wahrscheinlich aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammt.

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Rundgang mit Chasia und anderen Kibbuzmitgliedern, begleitet von Kindern, Mai 1967.

zum Nachtessen bei Jean-Paul und Simone eingeladen. Er fragte mich, ob ich zu diesem Nachtessen mitkommen wolle. Ich hatte zufällig einen freien Abend und war natürlich einverstanden. Eli rief Sartre an, fragte ihn, ob er sich an „Heini Bornstein vom Kibbuz Lehavot Habaschan“ erinnere und ob dieser heute Abend mitkommen dürfe. Sartre lud mich herzlich ein. Er empfing mich an der Tür: „Et bien? Ich erinnere mich sehr gut an diesen Besuch in Lehavot Habaschan. Wie ist die Situation heute?“ Ich bestätigte ihm, dass in der Kibbuzbewegung tatsächlich die ersten Schritte erkennbar seien, die darauf hinausliefen, einige Prinzipien des Lebensstils zu ändern. Dies beginne mit der Revision des kollektiven Erziehungssystems, und die Diskussion sei in vollem Gange. In den Industriewerken arbeite eine immer größere Anzahl von Lohnarbeitern, und die Direktoren kämen meist aus den benachbarten Entwicklungssiedlungen der neuen Einwanderer. Eine Hierarchie in den Funktionen und ein ungleicher Lohn seien eingeführt worden, und es gebe schon Anzeichen, dass ein ganz neues System angestrebt werde: anstelle des umfassenden Kollektivs Individualisierung der Bedürfnisse und ein persönliches Ensemble an Werten. Sie hörten aufmerksam zu. Sartre schlug mir vor, diese Entwicklung als unvermeidlich zu betrachten und nicht einem unkontrollierbaren Prozess zu überlassen, sondern die Initiative zu ergreifen und reflektiert den Änderungen eine Richtung zu 183

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geben. Eli und ich antworteten, wir könnten uns dieser Voraussage so nicht anschließen. Wir beruhigten uns mit dem Gedanken, dies seien die Auffassungen eines Philosophen, die interessant seien, aber nicht auf die Wirklichkeit des Kibbuz zuträfen. Inzwischen haben schon rund 220 von insgesamt 272 Kibbuzim die umfassende Privatisierung und ungleiche Löhne eingeführt; weitere befinden sich im Übergangsstadium. Gleichzeitig wurde den Ruheständlern eine budgetierte persönliche Pension mit einem Sicherheitsnetz garantiert. Insofern ist zuzugeben, dass Sartre recht hatte. Er hatte hier wohl doch recht klar gesehen und dem Kibbuz die gleiche Entwicklung prophezeit, wie sie in der sozialistischen Gesellschaft und Ökonomie zu beobachten war. Auch in meinem Kibbuz leben wir schon seit 2004 im „neuen“ System. Vom Beginn der Debatten über diese Veränderungen an unterstützte ich den Übergang in die Privatisierung. In meinen befürwortenden Darlegungen in Lehavot Habaschan und in anderen Kibbuzim zitierte ich die Voraussage Sartres von 1967. Die Gespräche mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir hatten seinerzeit auch die Lage im Mittleren Osten zum Gegenstand gehabt. Sartre interessierte sich nicht zuletzt für die Stimmung in der jungen Generation in Israel. Er verbarg nicht seine ambivalente Einstellung zum Zionismus. In den damaligen Jahren sah der Haschomer Hazair die Lösung des israelisch-arabischen Konflikts immer noch in einem binationalen Staat in Palästina, obwohl wir – wie ich dargestellt habe – der Gründung des Staates Israel zugestimmt hatten. Eine Broschüre mit der ausführlichen und grundlegenden Erklärung unseres politischen Programms war von der Delegation des Haschomer Hazair 1947 der UNUntersuchungskommission vorgelegt worden (die französische Ausgabe basierte auf der deutschen Version). Sartre besaß diese Broschüre, sodass er informiert war. Insgesamt war der Besuch von Sartre und de Beauvoir sehr anregend und ein äußerst interessantes Erlebnis. Meine Tätigkeit als Sekretär des Kibbuz stand unter dem Eindruck von Sicherheitsbedrohungen. Die Lage des israelischen Staates bestimmte in dieser Zeit auch unser Leben im Kibbuz entscheidend. Wir mussten unsere innere Organisation an den übergeordneten Erfordernissen ausrichten, welche die Krisenzeit mit sich brachte. Konkret bedeutete dies, den Kibbuz und seine Gemeinschaft auf mögliche kriegerische Auseinandersetzungen vorzubereiten. Es wurde ein „Notstandskomitee“ gewählt, und ich war Vorsitzender dieser Adhoc-Leitung.

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Organisation der Verteidigung: 1967 – 1973 – 1982 Anfang Juni 1967 war die Lage an der Grenze äußerst angespannt.77 Wir waren im Kibbuz damit beschäftigt, die Verteidigung der Siedlung vorzubereiten. Die Situation verschlimmerte sich, als wir Informationen bekamen, dass die Syrer an der Grenze Truppen konzentrierten. Die Syrer beherrschten damals noch die Golanhöhen, und die ganze Kette von Kibbuzim entlang der Grenzlinie war den Drohungen eines syrischen Angriffs ausgesetzt. Als Sekretär nahm ich an der umfassenden Organisation unserer Verteidigungsbereitschaft teil. Die syrische Propaganda ließ ihrerseits in der ganzen Welt verbreiten, Israel ziehe sein Heer an der Grenze zusammen. Wir wussten zwar, dass dies nicht stimmte, doch das israelische Außenministerium war besorgt, dass diese Propaganda in den westlichen Staaten und in der Sowjetunion ein Echo finden werde. Entsprechend veranlasste es eine Exkursion der Botschafter großer Staaten an die nördliche Grenzlinie. Zwei Kibbuzim wurden als Ausgangspunkte ausgewählt: Kfar Szold und Lehavot Habaschan.78 Wir öffneten alle Unterstände und bestimmten ein Team für jeden Botschafter. Der Besuch des amerikanischen Repräsentanten dauerte besonders lang. Er war sehr skeptisch und behauptete, der Krieg stehe unmittelbar bevor. Wie die anderen Botschafter konnte er aber überzeugt werden, dass die syrischen Behauptungen grundlos waren. Ich begleitete alle Botschafter, als sie sich mit der nahe bei unserem Kibbuz gelegenen Grenze vertraut machten. Als politischer Aktivist und einer der Anführer der Siedlungsgemeinschaft gab ich den Gästen einen umfassenden Überblick. Da ich drei Sprachen beherrschte – Französisch, Deutsch und Englisch –, verliefen die Unterhaltungen recht fließend. Besonderes Interesse hatten die Vertreter des israelischen Außenministeriums am Besuch des sowjetrussischen Botschafters. Die engen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Syrien 77 Zum Sechstagekrieg 1967 vgl. das Glossar unter dem Stichwort Kriege. Zu den Ereignissen siehe auch die in Anm. 51 zitierten Werke. 78 Der Kibbuz Kfar Szold wurde Anfang der 1940er-Jahre von Einwanderern aus Ungarn, Österreich und Deutschland gegründet. Benannt ist er nach Henrietta Szold (1860–1945), der Begründerin von Hadassah, der zionistischen Frauenorganisation. Während des Zweiten Weltkrieges trug sie zur Rettung zahlreicher jüdischer Kinder bei. Der Kibbuz liegt unterhalb der Golanhöhen und war deshalb von syrischer Artillerie bedroht. Wirtschaftlich wird er vor allem von der Landwirtschaft bestimmt, hat aber auch Industriebetriebe.

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Besuch des amerikanischen Botschafters in den Bunkern von Lehavot Habaschan am Vortag des Sechstagekrieges im Juni 1967.

waren bekannt, und man sprach über sowjetische Piloten, die Kampfflugzeuge steuerten. Der sowjetische Botschafter war für die Nachmittagsstunden angekündigt, und ich mobilisierte Kibbuzmitglieder, die Russisch sprachen. Zwei Stunden vor der erwarteten Ankunft bekamen wir einen Anruf, der Botschafter werde nicht kommen, da er über die Wahrheit unterrichtet sei und einen Besuch an Ort und Stelle nicht nötig habe. Die Leute des Ministeriums, die zu dieser Zeit im Kibbuz weilten, sahen dies als ein schlechtes Zeichen an und glaubten, dass damit die Gefahr eines Krieges näher gerückt sei. So war es. Am 5. Juni 1967 morgens begann der Angriff der israelischen Armee im Süden, um einer ägyptischen Offensive zuvorzukommen. Am 8. Juni wurde in der Nacht das Waffenstillstandsabkommen zwischen Ägypten und Israel unterzeichnet. Die syrische Armee war kriegsbereit und konnte jeden Moment einen Angriff starten. Die israelische Regierung beschloss, keine zweite Front zur Eroberung des Golan zu eröffnen, bestand doch die begründete Gefahr einer sowjetischen Intervention. Die Kibbuzim im Oberen Galiläa beschlossen, sich zu organisieren. Man hatte das Gefühl, es bestehe keine Möglichkeit eines Waffenstillstandsabkommens, ohne die ständige syrische Bedrohung der Sicherheit im Norden von Israel zu beenden. Entsprechend wurde Druck auf die israelische Regierung 186

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ausgeübt. Am 8. Juni 1967 fand eine außerordentliche Sitzung der Kommission für Äußeres und Sicherheit und im Anschluss eine der israelischen Regierung statt. Eine Delegation der Kibbuzim wurde nach Tel Aviv gesandt, wo diese zu Sitzungen im Zentralbüro des Gewerkschaftsbundes zusammenkamen. Der Auftrag war, der Regierung die Haltung der nördlichen Kibbuzim und Siedlungen darzulegen und die Eroberung der Golanhöhen zu fordern. Die Delegation bestand aus den Sekretären von vier Kibbuzim, darunter auch mir. Wir verließen unsere Gegend um drei Uhr morgens und kamen um neun Uhr in Tel Aviv an. Die Reise war mit vielen Hindernissen verbunden. Das Militär war bereit, jederzeit mit der Offensive zu beginnen, und alle Straßen waren besetzt – immer wieder mussten wir uns ausweisen. Die Panzer und Panzerwagen im Land fuhren alle nordwärts. Auf den Treppen des Gewerkschaftsgebäudes traf ich Yaakov Chasan. Ich sagte ihm, dass wir an der Sitzung der Regierung teilnehmen und begründen wollten, warum wir den gegenwärtigen Zustand mit all seinen Gefahren für nicht weiter tragbar hielten. Chasan erwiderte, unsere Intervention sei überflüssig, die Regierung beschließe soeben, einen Angriff auf die Golanhöhen zu starten. Am 9. Juni um vier Uhr morgens beobachteten wir erste Anzeichen, dass wir unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges standen. Im Kibbuz wurde der Alarmzustand ausgerufen. Die ganze zivile Bevölkerung, auch die Kinder, wurde in die Unterstände und Sicherheitsanlagen verbracht, und die bewaffneten Kibbuzmitglieder nahmen ihre Verteidigungsposten ein. Die Tore wurden geschlossen und Wächter entlang des Sicherheitszaunes postiert. Um sechs Uhr morgens begannen die Schüsse und Bombardierungen der Kibbuzim entlang der Grenzlinie. Obwohl ich Sekretär des Kibbuz war, wurde ich in einer Stellung mit einem Mörser stationiert, von Zeit zu Zeit dann aber zu Beratungen abberufen. Wir publizierten täglich ein „Informationsbulletin“, in dem wir allen Mitgliedern des Kibbuz Nachrichten übermittelten. Damals gab es keine Radios in den Unterständen und Bunkern, nur im Kommando-Bunker bestanden Funkund Radioverbindungen. Dringende Meldungen oder Instruktionen wurden durch Läufer übergeben. Chasia war einem Kinder-Unterstand zugeordnet, um sie zu pflegen und zu beschäftigen. Alle Dienste operierten ausgezeichnet. Frauen, aber auch Männer arbeiteten in der Küche, Essen wurde an alle Sicherheitsposten und Stellungen verteilt. Der Angriff auf die Golanhöhen begann am 9. Juni um 9:30 Uhr morgens. Am 10. Juni endeten die schweren Kämpfe – die ganzen Golanhöhen waren in israelischer Hand. Am Tag darauf stiegen die Mitglieder des Kibbuz Lehavot 187

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Habaschan auf den Golan. Wir versammelten uns in einer syrischen Festung, hissten die israelische Flagge und machten Fotos. Die Syrer waren in Panik geflohen und hatten die ganze Ausrüstung zurückgelassen. Unter anderem fanden wir ein Tagebuch des Beobachterpostens mit genauen Aufzeichnungen über jede Bewegung in unserem Kibbuz. Jedes Auto, das ein- oder ausgefahren war, war genau notiert, jeder Lastwagen mit Bezeichnung der entsprechenden Waren verzeichnet worden, insbesondere natürlich alle Transport- und Kampfmittel des Militärs. Nach dem Ende der Kämpfe kehrte das Alltagsleben zurück. Zu Beginn der Woche bekam ich einen Anruf vom Generalsekretär des Kibbuz-Landesverbandes des Haschomer Hazair, der Dachorganisation aller Zweige der HaschomerHazair-Aktivitäten in Israel und der Welt. Er wollte in Lehavot Habaschan eine Sondersitzung des Aktionskomitees – der demokratischen Vertretung aller Kibbuzim – abhalten. Die Bewegung habe dafür bewusst einen Kibbuz in der Nähe der Golanhöhen gewählt – aus Gründen der politischen und symbolischen Bedeutung. Die Sitzungen dieses Forums – etwa 200 gewählte Mitglieder, Spitzenfunktionäre und Delegierte der Kibbuzim – dauerten stets zwei Tage und wurden jedes Mal in einem anderen Kibbuz abgehalten. Wir gaben unsere Zustimmung und trafen alle Vorkehrungen für die Übernachtungen und die Verpflegung. Ein Teil der Delegierten wurde in benachbarten Kibbuzim untergebracht. Dieses Mal war es eine politische Sitzung. Schimon Avidan, ein hoher Offizier der Armee – er war mit einer Schweizerin aus Zürich, Chava Weldler, verheiratet –, referierte über die geo-politische Lage Israels nach dem Krieg. Kameraden verlangten schon damals, ein politisches Programm festzulegen mit dem klaren Ziel, einen umfassenden Frieden zu erreichen. Insbesondere wurde gefordert, die Golanhöhen als Faustpfand für die Verhandlungen mit Syrien zu betrachten. Am Abend informierte mich das Mapam-Exekutivbüro, eine Delegation der Sozialistischen Partei Frankreichs befinde sich in Israel. Wir schlugen vor, dass diese Delegation Lehavot Habaschan besuchen und während der Sitzung des Aktionskomitees das Wort ergreifen könne. Nach Beratungen wurde vereinbart, dass wir die Delegation empfangen würden und Meir Talmi auf die Fragen antworten werde. Ich bereitete eine Begrüßungsansprache auf Französisch vor. Die Sozialisten spielten damals im politischen Leben Frankreichs eine wichtige Rolle und hatten erheblichen Einfluss in der Sozialistischen Internationale. Sie kamen nach einem Besuch in Syrien nach Israel. Als sie in den Speisesaal traten, in dem die Schäden durch die Bombardierung noch nicht beseitigt wor188

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den waren, rief dies bei allen Anwesenden großes Interesse hervor; es war ein eindrucksvolles Ereignis. Sie forderten, sofort mit Syrien Verhandlungen aufzunehmen, und verlangten eine Erklärung, dass der Staat Israel bereit sei, die Golanhöhen freizugeben. Nach der Sitzung fand eine Besprechung der Delegation mit der Führung der Partei statt, in der die Politik der Mapam und die Beziehungen zur Sozialistischen Partei Frankreichs zur Sprache kamen. Ich nahm an diesem Treffen teil. In der Bewegung begann eine Diskussion über den Golan. Die Jewish Agency schlug vor, sofort mit der Besiedlung einiger Kibbuzim auf den Golanhöhen zu beginnen. Die Schwesterbewegung zum Haschomer-Hazair-Kibbuzverband, der Kibbuz Hameuchad – er gehörte zu den Aktivisten in der Siedlungspolitik –, war sofort einverstanden. In unserer Bewegung kam es jedoch zu großen Meinungsverschiedenheiten. Ein Teil der Führung unterstützte den Vorschlag, andere sahen in der geforderten Ansiedlung den Anfang eines größeren Siedlungsprojekts, das eher ein Hindernis für den künftigen Friedensprozess sein würde. Es wurde beschlossen, eine Landeskonferenz der Haschomer-Hazair-Kibbuzim einzuberufen. In jedem Kibbuz sollte eine Abstimmung durchgeführt werden, und den Delegierten sollten entsprechende Direktiven mit auf den Weg gegeben werden. Auch in Lehavot Habaschan fand eine Mitgliederversammlung statt. Mit großer Mehrheit wurde beschlossen, den Vorschlag einer Ansiedlung von Kibbuzim auf den Golanhöhen abzulehnen. Auch ich war dagegen. Auf der Landeskonferenz schlug dann die Exekutive vor, zwei Kibbuzim anzusiedeln, und argumentierte: „Es kann nicht sein, dass wir an dieser Ansiedlung nicht teilnehmen, denn sie ist eine Garantie der Sicherheit für die Kibbuzim im Oberen Galiläa und an der Nordgrenze von Israel.“ Weiter betonte die Exekutive: „Diese Ansiedlung ist zeitbedingt und wird kein Hindernis zum Frieden sein.“ Der Vorschlag bekam die Mehrheit der Konferenz – ich befand mich unter denen, die dagegen stimmten. Es wurden zwei Kibbuzim des Haschomer Hazair – Snir und Gschur – für die Ansiedlung festgelegt.79 Tatsächlich begann eine intensive Siedlungstätigkeit auf dem Golan. Es sollte nicht lange dauern, bis sich herausstellte, dass diese Maßnahme nicht nur ein Hindernis für den Frieden war, sondern die Ansiedlungen zudem die Verteidigungsoperationen der israelischen Armee erschwerten. Im Oktober 1973 startete die syrische Armee einen Angriff mit dem Ziel, den Golan zurückzuerobern. 79 Der Kibbuz Snir liegt im Hulatal im Oberen Galiläa, der Kibbuz Gschur auf den Golanhöhen. Beide befinden sich in einem Gebiet, das im Sechstagekrieg erobert worden war.

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Die Kinder wurden evakuiert, doch die Siedlungen entwickelten keine Abwehrkraft, sie erschwerten vielmehr die Manöver und behinderten den Kampf der israelischen Panzer. Die syrischen Streitkräfte näherten sich der israelischen Grenze, schwere Kämpfe fanden statt und die israelische Armee musste viele Opfer beklagen. Das Ergebnis des sogenannten Yom-Kippur-Krieges ist bekannt: Die syrische Armee wurde zurückgeschlagen, der Golan blieb in israelischer Hand.80 Zu dieser Zeit übte ich die Funktion des Vorsitzenden der Weltleitung der Haschomer-Hazair-Bewegung und des Verantwortlichen für die ganze Auslandsvertretung des Kibbuz-Arzi – Haschomer-Hazair-Landesverbandes in Israel aus. Ich amtierte in der Regel im Zentrum in Tel Aviv. Während des Krieges von 1973 war ich im Kibbuz für den militärischen Einsatz mobilisiert. Am zweiten Tag nach Ausbruch des Krieges rief Schimon Avidan, damals Generalsekretär der Bewegung, den Sekretär des Kibbuz an und äußerte den dringenden Wunsch, mich umgehend freizustellen: Ich solle unbedingt nach Tel Aviv kommen. Ich sprach mit ihm am Telefon, und er sagte mir, dass es sehr wichtig sei, einen permanenten Kontakt mit allen Emissären der Bewegung im Ausland – nicht nur mit denen der Jugendbewegung, sondern auch mit denen aller wirtschaftlichen, politischen und allgemeinen jüdischen Organisationen – herzustellen. Überall in der Welt wurden Nachrichten des syrischen Propagandaapparates verbreitet, wonach die ägyptischen und syrischen Streitkräfte Fortschritte machten und die israelische Armee zusammenzubrechen drohe. Im Süden sei die Lage einiger Kibbuzim äußerst ernst und im Norden mache die „Eroberung Galiläas“ Fortschritte. Ich sollte einen Apparat der Aufklärung aufbauen. Umgehend fuhr ich nach Tel Aviv. Avidan hatte enge Beziehungen zum Oberkommando der israelischen Armee und wurde laufend über die Lage an den Fronten informiert. Diese Informationen übermittelte er mir. Es fanden schwere Kämpfe statt, doch vom „Zusammenbruch“ der israelischen Streitkräfte oder von einer „Eroberung Galiläas“ konnte keine Rede sein. Ich schrieb jeden Tag ein „Informationsbulletin“, das ich den Emissären in aller Welt per Telefon vorlas oder als Funkfernschreiben zusandte – schließlich gab es damals noch kein Internet. Dadurch konnte ich diese beruhigen und mit aktuellen Informationen versorgen. Man berichtete mir, dass sogar in den israelischen Botschaften meine Informationen an die Emissäre des Haschomer Hazair großes Interesse weckten. Nachträglich hat sich herausgestellt, dass diese Kontakte sehr effektiv 80 Zum Yom-Kippur-Krieg vgl. das Glossar unter dem Stichwort Kriege.

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waren, den Standpunkt unserer Abgesandten und der zentralen lokalen Führerschaft zu stärken. Sie hatten das Gefühl, dass die Bewegung sie in der Kriegszeit, fern der Heimat und in Sorge um ihre Kibbuzim, nicht alleinließ. Am 23. Oktober 1973 wurde das Waffenstillstandsabkommen mit Ägypten unterzeichnet. Von da an entwickelte sich eine intensive Ansiedlungstätigkeit. Heute, 40 Jahre später, ist die Lage weitgehend unverändert: Der Waffenstillstand wird von Syrien strikt eingehalten, und der Galil Eljon, das Obere Galiläa, ist ruhig und kann sich gut entwickeln. Allerdings fanden an der Grenze mit dem Libanon Kriegsaktionen statt. Im Grunde lebte und lebt der Kibbuz wie der ganze Norden des Landes unter dem Druck einer ständigen Bedrohung der Sicherheit. Und es war klar, dass die Syrer Einfluss auf diese feindlichen Aktivitäten nahmen und die ganze politische Atmosphäre im Libanon koordinierten. Zwei Kriege mit dem Libanon fanden seit dem Yom-Kippur-Krieg statt, beide auf Initiative Israels als Reaktion auf den Beschuss der Stadt Kiryat Schmone und von Kibbuzim an der Grenze zum Libanon, der auch die Felder von Lehavot Habaschan betraf.81 Im Juni 1982 unternahm die israelische Armee einen Angriff auf libanesisches Staatsgebiet. Wieder wurde der ganze Kibbuz mobilisiert und der Alarmzustand ausgerufen. Die syrische Grenze blieb jedoch still. Der Krieg führte in Israel zu heftigen Diskussionen, und viele Kreise aus der Politik hatten Zweifel, ob dieser politisch vernünftig war. Eines ist sicher, Frieden brachte er nicht. 14 Jahre später, im Juli 2006, wurde der Zweite Libanonkrieg begonnen. Erneut war es eine Reaktion auf den Beschuss der Stadt Kiryat Schmone und die Grenzsiedlungen mit Haubitzen und Katjuscha-Raketen. Ein weiteres Mal befand sich der Kibbuz im Alarmzustand, auch wenn die Bomben nicht bei uns fielen. Seit dieser Operation herrscht im Norden zwar Ruhe, doch der Krieg forderte viele Opfer in der israelischen Armee. Die Friedensorganisationen und die linken Parteien organisierten eine Massendemonstration in Tel Aviv, die zu sofortigen Friedensverhandlungen aufrief. Auch ich war der Meinung, dass die immer wiederkehrenden Kriege die Grenze im Norden auf lange Sicht nicht zu sichern vermögen, und ich hatte das Gefühl, in ständiger Kriegsgefahr zu leben. Vom Kibbuz fuhren zwei Autobusse nach Tel Aviv, um an der Demonstration teilzunehmen, und ich stand zusammen mit der Parteiführung in der vordersten Reihe. Auch meine drei Töchter beteiligten sich an der Kundgebung. Die Stimmung wird auch daran deutlich, dass in einer Meinungsumfrage die Mehrheit 81 Zu den beiden Libanonkriegen vgl. das Glossar unter dem Stichwort Kriege.

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Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

der Mitglieder der Kibbuzim an der nördlichen Grenze sich bereit erklärten, den Golan oder zumindest den größten Teil des besetzten Gebiets im Zuge eines Friedensabkommens an Syrien zurückzugeben. Trotz dieser grundlegenden Unsicherheit nutzten die Kibbuzim in Galiläa und auch alle anderen Siedlungen die Phasen, in denen die militärische Bedrohung wieder etwas in die Ferne gerückt war, zur wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlich-demografischen Erweiterung. So war es auch im Kibbuz Lehavot Habaschan, der schwere Zeiten durchmachte, sich nun aber in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität Im Jahre 1970 wandten sich die Kogeneralsekretäre der Exekutive des Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair an mich und unterbreiteten mir den Vorschlag, die Weltleitung der Haschomer-Hazair-Bewegung zu übernehmen. Genauer gesagt gab es zwei Vorschläge: die Führung der ideologischen Abteilung oder die Weltleitung. Die ideologische Abteilung hatte zu diesem Zeitpunkt eine besondere Bedeutung: Die Grundlagen der „kollektiven Ideologie“ befanden sich in einem Prozess der Prüfung. Ich bat um zwei Tage Bedenkzeit und beratschlagte mich mit Chasia und Kameraden. Schließlich beschloss ich, die Funktion der Weltleitung anzunehmen. Parallel dazu wurde mir auch die Weltleitung der Mapam übertragen. Dies war eine Entscheidung, die den Lauf meiner öffentlichen Aktivitäten in den kommenden Jahren bestimmte, und es war die logische Konsequenz meines bisherigen Wirkens im Rahmen der Bewegung. Seit dem 18. Zionistenkongress 1937 in Zürich hatte ich der Bewegung in verschiedenen Funktionen gedient. Diese neue Aufgabe stellte mich nun vor verschiedene Herausforderungen. Zunächst handelte es sich darum, ein umfangreiches, im Grunde globales Erziehungsprogramm für die Jugendbewegung des Haschomer Hazair zu erarbeiten. Die Bewegung war zu dieser Zeit auf nahezu allen Kontinenten präsent: Europa, Nordamerika, Südamerika und Australien. Die größte Konzentration von Juden in Osteuropa befand sich in der Sowjetunion, doch auch in anderen Ländern wie Ungarn oder Bulgarien erwachte das jüdische Leben nach der Schoah zu 192

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

der Mitglieder der Kibbuzim an der nördlichen Grenze sich bereit erklärten, den Golan oder zumindest den größten Teil des besetzten Gebiets im Zuge eines Friedensabkommens an Syrien zurückzugeben. Trotz dieser grundlegenden Unsicherheit nutzten die Kibbuzim in Galiläa und auch alle anderen Siedlungen die Phasen, in denen die militärische Bedrohung wieder etwas in die Ferne gerückt war, zur wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlich-demografischen Erweiterung. So war es auch im Kibbuz Lehavot Habaschan, der schwere Zeiten durchmachte, sich nun aber in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität Im Jahre 1970 wandten sich die Kogeneralsekretäre der Exekutive des Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair an mich und unterbreiteten mir den Vorschlag, die Weltleitung der Haschomer-Hazair-Bewegung zu übernehmen. Genauer gesagt gab es zwei Vorschläge: die Führung der ideologischen Abteilung oder die Weltleitung. Die ideologische Abteilung hatte zu diesem Zeitpunkt eine besondere Bedeutung: Die Grundlagen der „kollektiven Ideologie“ befanden sich in einem Prozess der Prüfung. Ich bat um zwei Tage Bedenkzeit und beratschlagte mich mit Chasia und Kameraden. Schließlich beschloss ich, die Funktion der Weltleitung anzunehmen. Parallel dazu wurde mir auch die Weltleitung der Mapam übertragen. Dies war eine Entscheidung, die den Lauf meiner öffentlichen Aktivitäten in den kommenden Jahren bestimmte, und es war die logische Konsequenz meines bisherigen Wirkens im Rahmen der Bewegung. Seit dem 18. Zionistenkongress 1937 in Zürich hatte ich der Bewegung in verschiedenen Funktionen gedient. Diese neue Aufgabe stellte mich nun vor verschiedene Herausforderungen. Zunächst handelte es sich darum, ein umfangreiches, im Grunde globales Erziehungsprogramm für die Jugendbewegung des Haschomer Hazair zu erarbeiten. Die Bewegung war zu dieser Zeit auf nahezu allen Kontinenten präsent: Europa, Nordamerika, Südamerika und Australien. Die größte Konzentration von Juden in Osteuropa befand sich in der Sowjetunion, doch auch in anderen Ländern wie Ungarn oder Bulgarien erwachte das jüdische Leben nach der Schoah zu 192

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

neuem Leben. Es ist klar, dass das Judentum tief gehende Prozesse durchmachte, die besonders die Jugend stark beeinflussten. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 rief eine begeisterte persönliche Solidarität der jüdischen Jugend in der Welt mit dem um seine Existenz kämpfenden jungen Staat hervor. Der heldenhafte Kampf der jüdischen Jugend in Israel, doch auch das intensive Siedlungswerk und der Schwung des Aufbaus strahlten auf die jüdische Jugend in der Welt aus. Dieses Erwachen zeigte sich – wenngleich in unterschiedlichen Formen – in Süd- und Nordamerika ebenso wie in der Sowjetunion. Die Entwicklung in diesen drei Gebieten mit einer bedeutenden jüdischen Bevölkerung verpflichtete mich, Stellung zu beziehen. Wir mussten uns mit diesem Prozess auseinandersetzen und die jeweiligen Strömungen in produktive Kanäle lenken. Unser Ziel war es, die Alija zu intensivieren oder wenigstens einen freiwilligen temporären Aufenthalt in Israel zu erreichen. Wir strebten nach der richtigen Synthese zwischen der Erziehung zur Alija und der neuen Wirklichkeit in den jüdischen Gemeinschaften. Großes Interesse hatte ich an der Erneuerung der Bewegung in Osteuropa und in der Sowjetunion. Ich sah in diesem erzieherischen Standpunkt Anfang der 1970er-Jahre eine Fortsetzung der Richtung, die unmittelbar nach der Schoah eingeschlagen worden war. 1946 war die entsprechende Richtlinie auf der Tagung in Bratislava, von der ich schon berichtet habe, angenommen worden. Ich hatte aktiven Anteil an der Realisierung der Losung „Die Bewegung ist ein Teil des Volkes und nimmt Stellung zu der Klärung einer neuen Definition der jüdischen Identität, der Erneuerung des Gemeindelebens und der gleichzeitigen Förderung der Auswanderung nach Israel“. In den 1980er-Jahren veränderten sich dann die Bedingungen. Zusammen mit den Emissären aus Israel erarbeitete ich eine Richtlinie, um jenen Grundsatz in ein praktisches Arbeitsprogramm für die jüdischen Gemeinschaften zu übersetzen. In all den Jahren meiner Aktivität, eigentlich bis zum Jahr 2005, beschäftigte ich mich damit, allgemeine Grundlagen für das Vorgehen der Bewegung angesichts der permanenten Änderungen, denen die Juden in den verschiedenen Ländern ausgesetzt waren, abzufassen. Natürlich war dies nicht einfach. Wir mussten eine ideologische, erzieherische und politische Grundlage schaffen, allgemein und umfassend. Dabei sollte die Orientierung auf eine persönliche Verwirklichung durch die Auswanderung nach Israel als Ausgangspunkt dienen und im Zentrum jedes Programms stehen. Wir waren uns dabei der Verschiedenheit der Situationen auf den einzelnen Kontinenten und oft auch von Stadt zu Stadt bewusst. Bei meinen zwei Auslandsmissionen hatte ich die Vielfalt des jüdischen Lebens kennengelernt. Südamerika 193

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

glich in dieser Hinsicht nicht England, das Leben der Juden Englands unterschied sich vom Lebensstil der Juden in Frankreich, gar nicht zu reden von den ganz anderen Bedingungen in Osteuropa und insbesondere in der Sowjetunion. Um mir und allen führenden Kameraden sowie den Abgesandten aus Israel eine klare Einstellung zu den neuen Bedingungen in den jüdischen Gemeinden zu sichern, fanden regionale und kontinentale Konferenzen statt. Innerhalb einiger Monate nach Beginn meiner neuen Tätigkeit lernte ich die spezifischen Verhältnisse in jedem Land kennen. Ich nahm Kontakt mit verschiedenen anderen jüdischen Organisationen auf, mit denen wir in unserer Tätigkeit verbunden waren, etwa mit der Jugendabteilung der Zionistischen Weltorganisation, verschiedenen Gemeindeinstitutionen oder Studentenvereinigungen. In den 1970er-Jahren war die Verwirklichung im Kibbuz zwingend, das heißt, die Auswanderung nach Israel bedeutete für Mitglieder der Bewegung ein Leben im Kibbuz. Diese Forderung galt nicht nur für die älteren Mitglieder der Bewegung, sondern auch für die Studentenorganisation und die Erwachsenen-Pionierorganisation Hechaluz. In meiner vorherigen Funktion als Leiter der europäischen Bewegung hatte ich mich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen begonnen. Wir nahmen schon damals Rücksicht auf die Bewegungen im Studentenmilieu, namentlich nach den Studentenunruhen in Frankreich. Doch im Rahmen der Weltorganisation gaben wir dieser Entwicklung auch einen klaren organisatorischen Ausdruck. Wir erweiterten den Rahmen unserer Aktivitäten in den Gebieten mit großen jüdischen Gemeinschaften und sandten Emissäre aus Israel für die spezifische Arbeit mit Studenten sowie für die politische Aufklärung im Sinne der zionistisch-sozialistischen Weltanschauung nach New York, Paris und Buenos Aires. Besonders interessant war die Entwicklung in Südamerika. In Argentinien, Uruguay, Kolumbien und Brasilien entstanden „Sektionen der jungen Generation“, die in ihrem Namen an Mordechai Anielewicz, den Kommandanten des Ghettoaufstandes in Warschau 1943, anknüpften; ich habe schon darüber berichtet. Diese Organisationen bestanden aus Studenten und Intellektuellen mit klarer ideologisch-politischer Orientierung auf drei Grundlagen: erstens der Einwanderung nach Israel mit Selbstverwirklichung im Kibbuz, zweitens der politischen Aktivität im Rahmen der Mapam, drittens einer progressiven Einstellung zum jüdischen Leben in den lokalen Gemeinden. Auch in den Vereinigten Staaten wurde eine solche „Sektion der jungen Generation“ gegründet, auch dort hieß sie „Mordechai Anielewicz“. Doch in den USA und Kanada war die Forderung nach der Alija und der Zugehörigkeit zu einem Kibbuz keine 194

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

Bedingung. Es wurde mehr Wert auf die innere Aktivität im Rahmen des organisierten Judentums, an den Universitäten und in den jüdischen Studentenorganisationen, insbesondere auch in den „Hillel“-Institutionen, gelegt.82 Diese Sektion der jungen Generation war der politischen Organisation Americans for Progressive Israel angeschlossen, die wiederum Mitglied des Weltverbandes der Mapam-Parteien, heute Merez-Parteien, war. Eine ähnliche Organisation gab es auch in Frankreich: der bereits genannte Cercle Bernard Lazare. Es wurde eine Gruppe der jungen Generation mit dem Namen „Mischmar“ – „Die Wacht“ – geschaffen. In Paris war eine zionistisch-sozialistische Studentenorganisation von besonderer Bedeutung: Sie hatte einen wichtigen Einfluss während der stürmischen Aktivitäten der französischen Studentenschaft. Alle diese Sektionen der jungen Generation waren mit der Weltleitung des Haschomer Hazair verbunden, nachdem die Exekutive des Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair und die Zentrale der Partei in Israel mich zum Verantwortlichen der umfangreichen Aktivitäten im Ausland ernannt hatten. Außer den ständigen Emissären für die Arbeit in diesen Sektionen sandten wir auch Delegierte zu verschiedenen Konferenzen politischer Parteien, und ich selbst nahm an der politischen Aufklärung im Hinblick auf die Positionen der Partei im Ausland teil – darüber aber mehr in einem eigenen Abschnitt. Die Kibbuzbewegung genoss in diesen Jahren eine besondere Anziehungskraft. Viele Kerngruppen, Kandidaten der Alija und der darauffolgenden Aufnahme in die Kibbuzim, gingen früher als geplant nach Israel. Eine Koordination der verschiedenen zionistischen Pionierbewegungen war dringend erforderlich. In Israel wurde ein „Forum der Weltleiter der Bewegungen“ geschaffen, in dem natürlich die Kibbuzbewegungen eine hervorragende Rolle spielten. Es wurden gemeinsame Emissäre im Namen der Kibbuzbewegung nach Amerika entsandt. Ein Büro mit der Bezeichnung „Tisch der Kibbuzbewegung“ behandelte die Anmeldung für einen Volontärdienst, also einen freiwilligen und zeitlich befristeten Aufenthalt in den Kibbuzim. Hier waren es vor allem jüdische Jugendliche, in den nordeuropäischen Staaten und in der Schweiz übernahmen christliche Gesellschaften die Initiative und organisierten den Volontärdienst. 82 Die Hillel-Organisation, benannt nach dem bedeutenden Schriftgelehrten Hillel (um 110 v. u. Z. – um 7 n. u. Z.), wurde 1923 an der Universität von Illinois gegründet und ging aus dem Verband Bnei Brith hervor. Sie soll jüdischen Studierenden und Hochschulangehörigen vertiefte Kenntnisse des Judentums vermitteln und organisiert entsprechende Veranstaltungen.

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Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

Doch grundsätzlich mussten wir die erzieherische Arbeit den neuen Bedingungen anpassen. An der Spitze des Jugend- und Hechaluz-Departements der Zionistischen Weltorganisation stand damals Mordechai Bar-On. In seiner Jugend war er Mitglied des Haschomer Hazair in Israel gewesen. Er entwickelte eine offene, umfassende Einstellung gegenüber der Arbeit mit der jüdischen Jugend in der Diaspora. Sein Ausgangspunkt war eine linksorientierte Weltanschauung. In späteren Jahren war er Mitglied der Knesset in der Merez-Fraktion. Bar-On und ich fanden zu einer ergiebigen Arbeitsgemeinschaft, die sich zu einer persönlichen Freundschaft entwickelte. Öfters lud er mich zum Nachtessen mit seiner Familie in deren Wohnung in Jerusalem ein, und nach der guten Mahlzeit wurde dies regelmäßig ein intensives Arbeitstreffen bis in die späten Stunden hinein. Er glaubte, dass ich nicht nur den Haschomer Hazair und die mit diesem verbundenen Organisationen stärken wollte. Tatsächlich war ich sehr oft auch mit allgemeinen Projekten des Jugenddepartements beschäftigt. Meine Beziehungen zur Zionistischen Weltorganisation dauerten an, und ich pflegte gute Beziehungen zu den Präsidenten und anderen führenden Persönlichkeiten der Jewish Agency. Aus den genannten Gründen war es unmöglich, ein gemeinsames Arbeitsprogramm für alle Kontinente zu entwerfen. In Südamerika bestand eine starke Jugendbewegung des Haschomer Hazair, die für eine lange Zeit gezielt zur Verwirklichung in den Kibbuzim erzog. Die Vorbereitung auf den Kibbuz war in diesen Ländern stark verwurzelt und galt auch als persönlicher Lebensweg der älteren Kameraden der Bewegung. Die ökonomische und gesellschaftliche Situation der Juden in Südamerika war sehr unsicher. Die Studentenorganisationen hatten ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein. Die Sektionen der jungen Generation besaßen in gesellschaftlicher Hinsicht eine sozialistische Weltanschauung. Die Verbindungen mit dem Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair waren insofern eine direkte Folge ihrer Beziehungen zum Zionismus und der künftigen Verwirklichung im Kibbuz. In den Kibbuzim wurden nicht nur Kerngruppen des Haschomer Hazair aufgenommen, sondern auch kollektive Gruppen der Sektion der jungen Generation konnten hier ihre Ideale verwirklichen. Der Charakter der jüdischen Gemeinschaften in Südamerika insgesamt und besonders in Argentinien und Uruguay bestimmte die Position und die Richtlinien der Aktivität dieser Organisationen. In verschiedenen Ländern gab es auch eine politische Formation für erwachsene Juden, die „Freunde der Mapam“, die im Gemeindeleben eine progressiv-liberale Tendenz verteidigten. Man kann sagen, dass die „Familie des Haschomer Hazair“ eine angesehene Rolle in den 196

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

Gemeinden spielte. Es handelte sich um Menschen der zweiten und dritten Generation, die von Emigranten aus Osteuropa abstammten, die den gesellschaftlichen Aufbau und den Lebensstil, wie er dort gepflegt worden war, mitgebracht hatten. Um das Geschehen zu verstehen und mir eine auf unmittelbarer Kenntnis gründende Meinung zu bilden, beschloss ich, eine Studienreise in die größeren Zentren des jüdischen Lebens in Südamerika zu unternehmen. Dies ermöglichte es mir, viele Meinungen von Kameraden und Aktivisten in den Gemeinden aufzunehmen. Ich besuchte Argentinien, Uruguay, Brasilien, Kolumbien, Chile und Venezuela, und wir hielten regionale Tagungen ab. In dieser Zeit sandten wir Leiter und Lehrer aus Israel in die jüdischen Schulen. Es arbeiteten auch Delegierte aus unseren Kibbuzim in kulturellen Funktionen in den allgemeinen jüdischen Organisationen verschiedener Länder. Alle diese Emissäre organisierten wir in einer kontinentalen Dachorganisation des Kibbuz-Arzi – HaschomerHazair mit Zentrale in Buenos Aires. Die jüdischen Gemeinschaften litten in verschiedenen Ländern mehrfach unter den teils revolutionären gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie wurden Opfer rechtsextremer Regime, als Militärjuntas an der Macht waren. Dies war besonders in Argentinien und Chile der Fall. Viele der jüdischen Studenten waren in den Linksorganisationen aktiv, die gegen die jeweilige Militärdiktatur kämpften. Diese wiederum waren meistens auch antisemitisch eingestellt. Die Bewegung des Haschomer Hazair war als ein linker Faktor in der jüdischen Gemeinde bekannt. Unsere Abgesandten wurden einige Male verhört, so etwa in Chile, wo Pinochet ein brutales Regime errichtet hatte, das linksgerichtete Personen und Oppositionsgruppen massiv verfolgte. Wir bekamen Informationen, dass unser Emissär wegen einer Erster-Mai-Feier im Heim des Haschomer Hazair auf der Schwarzen Liste stand. Ich mobilisierte umgehend meine Beziehungen und wandte mich an das israelische Außenministerium. Wir erhielten das Einverständnis, den Betroffenen im israelischen Konsulat unterzubringen. Einen Tag, nachdem er nach Argentinien geflogen war, kam die Geheimpolizei Pinochets in seine Wohnung und durchsuchte auch das Heim des Haschomer Hazair. Der Präsident der jüdischen Gemeinde forderte angesichts dieser Entwicklung, das Heim zu schließen und die Aktivitäten der Bewegung einzustellen. Zwar wurde das Heim tatsächlich geschlossen, jedoch umgehend wieder eröffnet, sobald es die Bedingungen erlaubten. Komplizierter war die Lage in Argentinien. Die Macht der Junta war umfassend, das Vorgehen gegen Regimegegner brutal. Viele Juden sahen in den Mili197

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

tärmachthabern auch Feinde des Judentums, und die jüdische Gemeinde lebte im Gefühl der Unsicherheit. In Argentinien existierte ein Netz von jüdischen Schulen, die auch auf Hebräisch unterrichteten und Gefahr liefen, von den Behörden geschlossen zu werden. Die Gemeinde wurde gut geführt, es waren alle politischen Strömungen aktiv. Die erste Generation hatte aus den jüdischen Zentren in Osteuropa die ganze politische Bandbreite, die dort geherrscht hatte, mitgebracht. So wurde auch der Haschomer Hazair von Polen nach Argentinien importiert. Nicht nur die Jugendbewegung war stark verwurzelt, auch das entsprechende politische Bewusstsein machte sich bemerkbar. Eine Organisation namens „Freunde der Mapam in Israel“ war und ist auch heute noch im Gemeindeleben in Buenos Aires und in anderen größeren jüdischen Gemeinden einflussreich. In Argentinien ergriff die Geheimpolizei zwar keine direkten Maßnahmen gegen jüdische Institutionen, unter den Verhafteten waren jedoch viele Juden. Die Führung der Gemeinde sah es als ihre Pflicht an, den Familien zur Seite zu stehen, deren Söhne, Töchter, Männer und Frauen Opfer von Verschleppungen und Verhaftungen wurden. Tausende verschwanden, ohne dass über ihren Aufenthaltsort etwas bekannt wurde, und sahen sich Folter und brutalen Verhören ausgesetzt. Zahlreiche Menschen wurden ermordet und an unbekannten Orten begraben, ohne dass die Angehörigen eine Ahnung hatten, wo, wann und wie der oder die Betreffende den Tod gefunden hatte. Die Bewegung und ihre Sektionen intensivierten ihre Arbeit. Wir verstärkten unsere Delegation aus Israel, und ich war sehr von der stürmischen Dynamik des öffentlichen Lebens beeindruckt. Diese allgemeine politische Atmosphäre war günstig für unsere umfassende Arbeit auf erzieherischem, politischem und gesellschaftlichem Gebiet. Wir erschienen als säkulare, fortschrittliche Alternative – Ausdruck des sozialistischen Zionismus. Bei den Wahlen zum Zionistenkongress bekam unsere Liste Progressiver Zionismus – Haschomer Hazair vier Mandate und war die erste Partei in der Delegation aus Argentinien. Auch in den Wahlen zum Gemeindedachverband Amia hatte die Liste der Mapam einen beachtenswerten Erfolg. Im benachbarten Uruguay war die Lage ruhiger. Die jüdische Bevölkerung war dort viel kleiner, die Bewegung dennoch auch in diesem Land verwurzelt. Es gab eine Sektion der jungen Generation. Obwohl die Probleme der Juden in Uruguay weniger zugespitzt waren, hatten eine sozialistisch-zionistische Auffassung und eine säkulare jüdische Einstellung in der Öffentlichkeit einen guten Stand. Es bestand eine produktive Zusammenarbeit mit den parallelen Organisationen in Argentinien. Auch aus Uruguay kamen „Kerngruppen“ in die Kibbuzim in Israel. 198

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

Wir organisierten eine regionale Konferenz in Montevideo, genauer gesagt in der Colonia Suiza, einem wunderbaren Touristenzentrum mit allem Komfort. Es nahmen nicht nur die Abgesandten aus Israel an der Tagung teil, auch die führenden Kräfte der lokalen Leitungen waren anwesend. Während zweier Tage besprachen wir die Lage des Judentums in Südamerika und kamen zu dem Schluss, dass die gesellschaftliche Gärung in der Umgebung einen entscheidenden Einfluss auf die Stellung der Juden hatte. Sehr oft nahmen die politischen Ereignisse einen antisemitischen Charakter an. Öfters kam es zu aggressiven Übergriffen, antijüdische Gesetze wurden erlassen. Infolge des sozioökonomischen Aufbaus der jüdischen Gemeinden waren diese gegenüber solchen störenden Einflüssen sehr empfindlich. In diktatorisch regierten Ländern wie Argentinien, Uruguay und Chile war zudem ein großer Teil der jüdischen Gemeinden, besonders die junge Generation, aktiv in die politischen Kämpfe gegen die militärische Junta verwickelt. In stärker demokratischen Staaten wie Brasilien, Kolumbien und Venezuela gehörten die Juden zu den Verteidigern der Regierung, sie waren auch da und dort Funktionäre in der Administration. Trotz dieser Unterschiede fand ich es wichtig, eine gemeinsame Richtung unserer Aktivitäten festzulegen. Zu der Tagung in Montevideo hatten wir zwei Professoren, Spezialisten und Historiker, eingeladen, die Eingangsreferate zu unseren praktischen Debatten zu halten. Der erste analysierte die gesellschaftlichen und politischen Probleme in den südamerikanischen Ländern, der zweite gab einen Überblick über die Lage der jüdischen Gemeinden in den verschiedenen Staaten. Die Schlussfolgerung aus diesen Referaten war, dass sich das Judentum in Südamerika zwar in einem Status der Unsicherheit befinde. Jedoch sei nicht anzunehmen, dass diese Situation zu einer Gefahr für die physische Existenz der jüdischen Gemeinschaften führen werde. Ich war meinerseits beeindruckt von der gesellschaftlichen und öffentlichen Lebendigkeit der Gemeinden. Es handelte sich nicht um Ghettos, wenngleich die gesellschaftliche und kulturelle Integration in die Umgebung beschränkt war – die Juden lebten überwiegend im Rahmen ihrer eigenen Gemeinden. Auch bemerkte ich, dass die Mischehen in der jungen Generation anders als in den Vereinigten Staaten keineswegs überwogen. Welche Position mussten wir angesichts dieser Analyse in diesen Gemeinden beziehen? Welche erzieherische, gesellschaftliche und kulturelle Botschaft sollten wir ihnen bringen? Welche Bedeutung hatte unsere zionistische Auffassung für die Jugend, sowohl für die zweite Generation als auch für die ältere Schicht der Bewegung? Letztere lebte immerhin noch im Geist der Schtetl in Osteuropa. 199

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

In meinem Referat legte ich den Anwesenden meine Konzeption für unsere Arbeit in Südamerika dar. Mit allem Respekt gegenüber dem zionistischen Primat, das heißt der Erziehung zur Alija nach Israel und zur Eingliederung in einen Kibbuz, unterstrich ich, dass wir ein integraler Teil des aktiven Lebens in den hiesigen Gemeinden sein müssten. Ich arbeitete an dem Projekt, in Buenos Aires ein Zentrum des weltlichen kulturellen Judentums als Alternative zu den religiösen Gemeindezentren zu errichten. In diesem Haus, Tzava (Gemeinschaft, analog zu dem Kulturzentrum gleichen Namens in Tel Aviv) genannt, sollten Veranstaltungen der progressiven jüdischen Kultur stattfinden. Gleichzeitig sollte es auch ein politisches Zentrum sein, ein Treffpunkt des sozialistischen Zionismus, des Haschomer Hazair und der Mapam sowie aller ihr angeschlossenen Organisationen. In diesem Haus sollte somit die ganze „Familie des Haschomer Hazair“ ihr Heim finden, sollten alle erzieherischen Gruppen der Jugendbewegung ihre Aktivitäten ausführen. Die prinzipielle Einstellung sollte auch auf die Praxis in den Gemeinden ausstrahlen. Gedacht war an alternative Bar-Mizwa-Feiern, Hochzeiten oder Feste an jüdischen Feiertagen, wie zum Beispiel dem Pessachfest, das im Geiste der Kibbuzim in Israel gefeiert werden sollte. Auf der Tagung fand dieser Vorschlag, den ich zusammen mit einigen Kameraden im Detail ausgearbeitet hatte, die Zustimmung aller Teilnehmer. Es wurde beschlossen, mit lokalen jüdischen Institutionen, Freunden, Eltern und Intellektuellen das Projekt zu besprechen, um die praktischen Möglichkeiten einer Durchführung zu prüfen. Es mussten die Aussichten einer Finanzierung vor Ort abgewogen werden. Meinerseits wollte ich das Projekt den Gremien des Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair vorlegen. Nach meiner Rückkehr nach Buenos Aires begann ich, zusammen mit der lokalen Leitung Besprechungen mit den Gemeindeführern und anderen jüdischen Instanzen durchzuführen. Wie schon erwähnt, hatten unsere Kameraden eine starke Position in der Gemeinde. Dies war auch bei meinen Besuchen in den verschiedenen Ländern spürbar. So wurden für mich Treffen mit der kontinentalen Vertretung des amerikanischen Joint, der regionalen Leitung des Jüdischen Weltkongresses und in jedem Ort mit der Führung der Gemeinden organisiert. Ich wurde ehrenvoll aufgenommen, und in jeder dieser Besprechungen konnte ich unser Ziel darlegen, die Jugend im Judentum zu halten oder sogar in den Rahmen des Judentums zurückzuführen. Unsere weltlich-kulturelle Auffassung war für viele Jugendliche anziehend. Auch war bewegend, dass die Mehrzahl der Personen oder Institutionen, mit denen ich zusammenkam, sich umgehend bereit erklärte, uns bei dem Projekt des Tzava-Zentrums in Buenos 200

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

Aires behilflich zu sein und es zu unterstützen. Sie äußerten ihre Wertschätzung für unsere Bewegung und sahen in dieser einen wichtigen Faktor innerhalb der vielfältigen jüdischen Gemeinde. Auch in den Kreisen der Bewegung in Israel sah man in dem Projekt einen wichtigen Schritt vorwärts für unsere Arbeit in Südamerika. Es dauerte weniger als ein Jahr, bis ein Gebäude erworben werden konnte, in dem sich eine intensive Aktivität auf allen Gebieten entwickelte. Auch heute strahlt dieses Zentrum eine erhebliche Anziehungskraft aus und bildet eine unverkennbare Alternative zu den anderen jüdischen Gemeindeeinrichtungen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Dachorganisation des Haschomer Hazair in Südamerika eine periodische Zeitschrift herausgibt: Nueva Sion. Sie ist eine Plattform des sozialistischen Zionismus und wird in allen Ländern des Kontinents verbreitet. Diese Publikation nimmt Stellung zu den innenpolitischen Fragen und deren Einfluss auf das Leben der Juden. Sie ist auch ein Ausdrucksmittel der intellektuellen linken Kreise und vertritt die säkular-liberale Auffassung des Judentums. Auf meinem Rückweg machte ich in den Vereinigten Staaten halt, um in New York an einer weiteren Tagung aller Abgesandten aus Israel und der Führung der Bewegung mitzuwirken. In den 1980er-Jahren befand sich in Amerika eine große Delegation des Kibbuz Arzi – Haschomer Hazair, nicht nur Emissäre der Jugendbewegung, sondern auch Delegierte der Wirtschaftsorgane der Kibbuzbewegung, politische Funktionäre der Mapam (später Merez) und nicht wenige Vertreter von Industriewerken einzelner Kibbuzim. Wir unterhielten damals Emissäre in New York, Boston, Los Angeles sowie Chicago, und in Kanada hatten wir eine Delegation, die aus Erziehungsbeauftragten in Toronto und Montreal und einem politischen Vertreter bestand. Alle diese „Israelis“ nahmen an dieser Tagung teil. Die Struktur des nordamerikanischen Judentums unterscheidet sich weitgehend von dem in Südamerika. Wir mussten deshalb unsere Arbeitsmethode den Lebensbedingungen und der Organisation des großen amerikanischen Judentums anpassen. Zunächst war ich beeindruckt von der vielfältigen und pluralistischen Organisation des öffentlichen Lebens. Es existierten verschiedene religiöse Strömungen, auch Synagogen, Gemeindezentren, Sport- und Spielanlagen, akademische und Forschungsinstitute sowie eine organisatorische Differenzierung, die Parallelen zu den politischen Parteien in Israel aufwies. Die Haschomer-Hazair-Bewegung arbeitet in Amerika schon einige Generationen. Ihre Wurzeln gehen hier auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, 201

Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

als eine große Welle von Emigranten aus Osteuropa einwanderte, die sich in den großen Städten niederließen. Viele ihrer Kinder waren in ihren Herkunftsorten Mitglieder des Haschomer Hazair gewesen, und sie gründeten in ihrer neuen Heimat die Bewegung so, wie sie es aus ihrer Erfahrung kannten. Zugleich war die Anpassung an die neuen Bedingungen mit persönlichen und allgemeinen Schwierigkeiten verbunden. Sie waren radikal in ihren erzieherischen Werten und vor allem in der ultimativen Forderung nach einer Verwirklichung des Einzelnen im Kibbuz. Es gab auch eine relativ große landwirtschaftliche Schulungsfarm, die auf das Leben im Kibbuz vorbereiten sollte. Für die Mitglieder bedeutete dies, von dem üblichen Lebensweg, der darin bestand, nach der Mittelschule ein College zu absolvieren und dann ein Studium an der Universität aufzunehmen, abzuweichen – was für die Betroffenen nicht leicht war. Über die Jahre hinweg hatte die amerikanische Bewegung blühende Kibbuzim in Israel aufgebaut, so zum Beispiel den Kibbuz Ein Haschofet, benannt nach dem amerikanischen Oberrichter Louis Brandeis, oder den Kibbuz Kfar Menachem, benannt nach einem der Väter des jüdischen Nationalfonds Keren Kayemeth.83 Mit der Zeit war jedoch diese Laufbahn nicht mehr relevant und die Farm wurde geschlossen. Auch auf politischem Gebiet war die Bewegung sehr aktiv. Die politischen Bedingungen unterschieden sich natürlich deutlich von denen der Herkunftsländer. Die gesellschaftliche Gärung war viel allgemeiner und umfasste alle Gebiete des Lebens. Die politische Organisation, die mit dem Weltverband der Merez-Parteien verbunden war, hieß Americans for Progressive Israel, vertrat in allen jüdischen Organisationen die Strömung der israelischen Merez-Partei und war Teil der Dachorganisation des Haschomer Hazair in Nordamerika. Die Bezeichnung „Americans“ verweist auf den Schwerpunkt der amerikanischen Identität. Auch in der politischen Arena in Amerika war es wichtig, die Stellungnahme der Friedenskräfte in Israel zu vertreten. So unterhielten unsere zentralen Emissäre Kontakte zu politischen Persönlichkeiten und Gruppierungen nicht nur im Rahmen des öffentlichen jüdischen Lebens, sondern auch zu Abgeordneten des Kongresses und zu Senatoren. Bei meinen Besuchen in Ame83 Dieser Kibbuz wurde 1935 zunächst als Moschaw – also als Siedlung, die auf genossenschaftlicher Basis arbeitet, aber aus individuellen Betrieben besteht – gegründet, benannt nach Menachem Osischkin. Während des arabischen Aufstandes verließen ihn die Siedler 1936 und er wurde zerstört. 1939 kam es zur Neugründung unter dem Namen „Kfar Menachem“. Zu Ein Haschofet vgl. Anm. 61.

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Die jüdische Diaspora – Herausforderung meiner Aktivität

rika nahm ich bei verschiedenen Gelegenheiten an kontroversen Debatten teil. Ich hielt Vorträge, beteiligte mich an Podiumsgesprächen an Universitäten und erklärte die Position des linken Flügels in Israel. Als Weltleiter des Haschomer Hazair und später als Generalsekretär des Weltverbandes der Merez-Parteien legte ich besonderes Gewicht auf die Auswahl der Abgesandten. Infolge der Vielseitigkeit unserer Mission wurden „zentrale“ Delegierte nach Amerika gesandt. Neben den Erziehungsbeauftragten für die Jugendbewegung wurden Menschen mit politischer Erfahrung nach Amerika geschickt, frühere oder zukünftige Abgeordnete der Knesset, Regierungsmitglieder oder Spitzenfunktionäre der Kibbuzbewegung und der Partei. Die Tatsache, dass die Juden ein wichtiger Faktor im öffentlichen Leben der USA waren – sie sind es auch heute noch – und einen großen Einfluss auf die US-Regierung hatten, veranlasste die jüdischen Körperschaften dazu, eine klare und effektive Organisation auszuarbeiten. Die „Konferenz der Präsidenten jüdischer Organisationen“ ist der Rahmen für die jüdische Übereinstimmung nach innen und nach außen. Sowohl Vertreter der „Frieden-jetzt“-Bewegung als auch der Americans for Progressive Israel sind Mitglieder dieses Forum. Ich schreibe diese Zeilen Mitte 2012. In den letzten Jahren hat sich die Haltung der amerikanischen Juden deutlich herauskristallisiert. Die politischen Meinungsverschiedenheiten in Israel fanden ihr Spiegelbild in den Vereinigten Staaten – man kann im Grunde nicht mehr von einem „Consensus“ sprechen. Auch die Identifizierung mit dem Staat Israel ist heute für weite Kreise, insbesondere für die junge Generation, keineswegs mehr selbstverständlich und bedingungslos. Viele unterscheiden zwischen der Solidarität mit Israel und der Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Lange Zeit hatte die einflussreiche jüdische Lobbyorganisation „American Israel Public Affairs Committee“ (AIPAC) das Monopol der jüdischen Vertretung in der amerikanischen Administration, im Kongress und im Senat inne.84 Sie verteidigte das Vorgehen gleich welcher israelischen Regierung auch gegenüber der jüdischen Öffentlichkeit. In den letzten Jahren entstand eine alternative Organisation namens „J Street“, welche ebenfalls die grundsätzlichen Interessen der Existenz des Staates Israel verteidigt, doch die politische Taktik und die Mittel und Maßnahmen der 84 Das AIPAC wurde 1953 als zunächst zionistische Organisation gegründet und später erweitert. Sie gilt als der mächtigste pro-israelische Lobbyverband und als einer der mächtigsten in den USA überhaupt. Zahlreiche bedeutende – auch nicht-jüdische – US-Politiker gehören ihm an.

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Neue politische Aufgaben

gegenwärtigen rechtsextremen und ultrareligiösen Koalition in Israel ablehnt.85 Sie entspricht der Einstellung eines großen Teils des amerikanischen Judentums, der eine liberale und fortschrittliche Weltanschauung hat. Unsere Kreise, die mit der Dachorganisation des Haschomer Hazair verbunden sind, nehmen regen Anteil an der Aktivität der J-Street-Organisation.

Neue politische Aufgaben Im Jahr 1988 beendete ich meine 1970 begonnene Funktion als Generalsekretär des Weltverbandes der Mapam-Parteien, legte auch mein Amt als Weltleiter der Haschomer-Hazair-Bewegung nieder und kam zurück in den Kibbuz. Dort arbeitete ich erneut in der Landwirtschaft und übernahm Küchendienste, zudem wurde ich für eine weitere Amtszeit zum Sekretär des Kibbuz gewählt. Meine öffentliche Tätigkeit wurde jedoch nicht allzu lange unterbrochen. Der Kampf um die Möglichkeiten einer Auswanderung aus der Sowjetunion hatte seit 1966 neuen Schwung bekommen. Nur eine beschränkte Anzahl von Juden erhielt damals die Erlaubnis, das Land zu verlassen.86 1971 verstärkte sich unter der Losung „Let my people go“ der internationale Druck auf die sowjetische Führung, die Tore zur Auswanderung der Juden zu öffnen. In den westeuropäischen Ländern führten jüdische Organisationen, aber nicht nur diese, eine intensive öffentliche Aufklärungskampagne; Massendemonstrationen wurden organisiert, wobei Studentenverbände und Jugendbewegungen im Zentrum 85 J Street wurde 2008 gegründet und setzt sich dafür ein, dass die USA eine friedliche Lösung des Nahost-Konfliktes im Rahmen des Zwei-Staaten-Modells unterstützen. Die Organisation hat enge Verbindungen zur israelischen Friedensbewegung. Der Name bezieht sich darauf, dass die in der Nähe des Kapitols verlaufende K Street der Sitz bedeutender Lobbyverbände ist, auch des proisraelischen AIPAC. Das „J“, das für „Jewish“ steht, soll symbolisch darauf hinweisen, dass eine solche Lobbybewegung bisher gefehlt hat und sich nun Einfluss verschaffen will, so wie auch eine „J Street“ nicht als wirkliche Straße existiert, aber sinnvoll wäre. 2010 bildete sich unter dem Namen „J Call“ eine entsprechende Bewegung für Europa, die vor allem die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik kritisiert. 86 Diese Beschränkungen stehen im Zusammenhang mit einer verschärften innenpolitischen Gangart in der Sowjetunion, die sich nicht zuletzt gegen „Dissidenten“, gegen „Andersdenkende“, richtete. Sie führte nicht nur zu weltweiten Protesten, sondern auch zur Bildung von Oppositionsgruppen im Land selbst.

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gegenwärtigen rechtsextremen und ultrareligiösen Koalition in Israel ablehnt.85 Sie entspricht der Einstellung eines großen Teils des amerikanischen Judentums, der eine liberale und fortschrittliche Weltanschauung hat. Unsere Kreise, die mit der Dachorganisation des Haschomer Hazair verbunden sind, nehmen regen Anteil an der Aktivität der J-Street-Organisation.

Neue politische Aufgaben Im Jahr 1988 beendete ich meine 1970 begonnene Funktion als Generalsekretär des Weltverbandes der Mapam-Parteien, legte auch mein Amt als Weltleiter der Haschomer-Hazair-Bewegung nieder und kam zurück in den Kibbuz. Dort arbeitete ich erneut in der Landwirtschaft und übernahm Küchendienste, zudem wurde ich für eine weitere Amtszeit zum Sekretär des Kibbuz gewählt. Meine öffentliche Tätigkeit wurde jedoch nicht allzu lange unterbrochen. Der Kampf um die Möglichkeiten einer Auswanderung aus der Sowjetunion hatte seit 1966 neuen Schwung bekommen. Nur eine beschränkte Anzahl von Juden erhielt damals die Erlaubnis, das Land zu verlassen.86 1971 verstärkte sich unter der Losung „Let my people go“ der internationale Druck auf die sowjetische Führung, die Tore zur Auswanderung der Juden zu öffnen. In den westeuropäischen Ländern führten jüdische Organisationen, aber nicht nur diese, eine intensive öffentliche Aufklärungskampagne; Massendemonstrationen wurden organisiert, wobei Studentenverbände und Jugendbewegungen im Zentrum 85 J Street wurde 2008 gegründet und setzt sich dafür ein, dass die USA eine friedliche Lösung des Nahost-Konfliktes im Rahmen des Zwei-Staaten-Modells unterstützen. Die Organisation hat enge Verbindungen zur israelischen Friedensbewegung. Der Name bezieht sich darauf, dass die in der Nähe des Kapitols verlaufende K Street der Sitz bedeutender Lobbyverbände ist, auch des proisraelischen AIPAC. Das „J“, das für „Jewish“ steht, soll symbolisch darauf hinweisen, dass eine solche Lobbybewegung bisher gefehlt hat und sich nun Einfluss verschaffen will, so wie auch eine „J Street“ nicht als wirkliche Straße existiert, aber sinnvoll wäre. 2010 bildete sich unter dem Namen „J Call“ eine entsprechende Bewegung für Europa, die vor allem die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik kritisiert. 86 Diese Beschränkungen stehen im Zusammenhang mit einer verschärften innenpolitischen Gangart in der Sowjetunion, die sich nicht zuletzt gegen „Dissidenten“, gegen „Andersdenkende“, richtete. Sie führte nicht nur zu weltweiten Protesten, sondern auch zur Bildung von Oppositionsgruppen im Land selbst.

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dieser Unternehmungen standen. Zwischen 1971 und 1973 verließen 80.000 Juden die Sowjetunion, und die große Mehrheit ging nach Israel. Meiner Ansicht nach ist der Anteil der zionistischen Jugendbewegung an dieser weltweiten Kampagne für eine freie Auswanderung der Juden nicht ausreichend hervorgehoben worden. Überall, wo es größere jüdische Bevölkerungsanteile gab, in den USA, England, Frankreich, Australien und den südamerikanischen Ländern, wurden Aktionskomitees der jüdischen Jugend und jüdischer Studenten gebildet, und sie fanden sich teils auch in Ländern mit kleineren jüdischen Gemeinden, wie zum Beispiel in der Schweiz. In allen Städten, in denen es Ortsgruppen des Haschomer Hazair gab, waren diese sehr aktiv, und wir verstärkten die Zusammenarbeit mit der World Union of Jewish Students (WUJS). Ich war damals Vorsitzender des Koordinationskomitees der zionistischen Weltjugendbewegungen in Jerusalem. Als 1971 eine internationale Konferenz der WUJS in London stattfand, um die Aktionen der verschiedenen angeschlossenen Studentenorganisationen und der Jugendbewegungen zu koordinieren, nahm ich als Vertreter aller zionistischen Jugendbewegungen daran teil. Eine dramatische Änderung der Situation erfolgte im Jahr 1985 nach der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Es kam zu einer Liberalisierung, und seit dem Jahr 1985 nahm die Auswanderung deutlich zu. Zehntausende emigrierten jedes Jahr nach Israel. Nach der Auflösung der Sowjetunion in unabhängige nationale Republiken und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in den 1990er-Jahren vergrößerte sich der Umfang der Auswanderung bis auf 700.000 Personen. Die soziale Zusammensetzung dieser Einwanderungswelle stellte die liberalen und linken Parteien in Israel vor schwierige Aufgaben, verschaffte ihnen aber auch ganz neue Aussichten, vor allem der Mapam-Partei, war doch der Anteil an Intellektuellen, Akademikern, Beamten der früheren Administration und freien Berufen besonders groß. Nach der Wahl Gorbatschows und dem von ihm eingeleiteten Politikwechsel beherrschte die Kommunistische Partei nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor den Regierungsapparat und das ganze öffentliche Leben. Unter den Emigranten, die nach Israel zogen, waren viele frühere Parteifunktionäre. Die Mapam sah in diesen neuen israelischen Bürgern eine Herausforderung. 1991 bekam ich vom Vorsitzenden der Partei eine Einladung zu einer Besprechung. Man schlug mir vor, die Abteilung zu leiten, die sich mit der Anwerbung und Aufnahme von neuen Mitgliedern in die Partei befasste: Ich sollte den Kontakt zwischen der Partei und den neuen Einwanderern aus Russland herstellen. Ich wandte ein, dass ich kein Russisch spreche und deshalb 205

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ein Dialog mit den Immigranten eher schwierig sein werde. Doch die Parteileitung war der Meinung, dies sei eine technische Frage und ein Dolmetscher werde mich ständig begleiten. Meine Erfahrung in der politischen Aufklärung sei maßgebend, und hier handle es sich um eine grundlegende ideologische und politische „Erziehung“ im Sinne eines Übergangs vom sowjetischen Kommunismus zur sozialistisch-zionistischen Weltanschauung der Mapam. Nicht weniger wichtig sei die Schaffung eines gesellschaftlichen Rahmens, um den Einwanderern bei Schwierigkeiten ihrer Integration in die israelische Gesellschaft zur Seite zu stehen. Ich bat um zwei Tage Bedenkzeit, beriet mich, wie ich es bei solchen Entscheidungen immer tat, mit Chasia und war mit ihr der Meinung, dass hier eine interessante und spannende Aufgabe auf mich warte. Auch der Kibbuz erhob keine Einwände, als es um die Frage einer neuerlichen Freistellung ging, und man wünschte mir viel Erfolg in dieser neuen Funktion. Zu dieser Zeit entwickelte eine andere Partei rege Aktivitäten unter den Neueinwanderern aus Russland: die Ratz (später, 1992, sollte sie als Teil der Mapam in der vereinigten linken politischen Partei Merez aufgehen). Sie hatte eine liberale Einstellung und kämpfte für die Menschenrechte. Viele der ehemaligen sowjetischen Kommunisten fanden eine neue politische Heimat in dieser Partei – eine Reaktion ihrer Enttäuschung über den Sozialismus und ein Ausdruck der Selbstkritik ihres früher oft blinden Dienstes am kommunistischen Regime. Selbstverständlich wurde auch die Israelische Arbeitspartei aktiv. Bei der ersten Generation der Einwanderer aus der Sowjetunion waren die rechten Parteien nicht besonders populär, sie orientierte sich überwiegend links oder linksliberal. Doch später schlug die zweite Generation der Einwanderer zunehmend einen anderen Weg ein. Sie war bereits in der israelischen Wirklichkeit aufgewachsen, und ihre Ablehnung des kommunistischen Regimes führte dazu, dass die extreme Rechtspartei zur beherrschenden Kraft wurde. Sie ist heute in der Koalition unter Ministerpräsident Bibi Netanyahu zusammen mit dem rechten Likud und den radikal-religiösen Parteien ein einflussreicher Faktor. Ich begann, eine Organisation der Neueinwanderer in allen Ortsgruppen der Mapam vorzunehmen. In diesen Jahren unterhielten die Ortsgruppen Parteiheime, vor allem in Ortschaften, in denen es große Konzentrationen russischer Einwanderer gab, etwa in Haifa, Karmiel, Beer Sheva, Jerusalem, Kiryat Schmone und anderen, aber auch in Tel Aviv im zentralen Parteihaus. Dies war sehr wichtig, denn die Immigranten brauchten einen gesellschaftlichen, kulturellen und inhaltlichen Rahmen. Die Parteiheime wurden zu einem Treffpunkt von ehemaligen „Russen“, die sich mit den gleichen Problemen auseinanderzusetzen 206

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hatten, und boten ihre Dienste an, um den Neueinwanderern mit Rat und Tat bei deren Schwierigkeiten in der neuen Heimat behilflich zu sein. Die Jewish Agency schuf ein Netz von „Ulpanim“ genannten Hebräischsprachkursen in allen wichtigen Orten, und dank meiner Beziehungen zu unterschiedlichen Organen der Jewish Agency wurden solche Kurse auch in unseren MapamHeimen abgehalten.87 Wir legten dabei das Schwergericht auf die ideologischpolitische Aufklärung im Sinne des sozialistischen Zionismus. Dazu entwickelten wir eine publizistische Kampagne, schrieben Artikel in verschiedenen Zeitungen und veröffentlichten einmal monatlich in der weitverbreiteten russischen Zeitung Westi – „Nachrichten“ – ein ganzseitiges Inserat, in dem wir aus Sicht der russischen Neueinwanderer grundlegend zu aktuellen Ereignissen Stellung bezogen. In allen Heimen wurden zudem Referate und politische Podiumsdiskussionen abgehalten. Die schriftlichen Publikationen waren besonders attraktiv, denn die Einwanderer brachten von Russland eine hohe Wertschätzung des geschriebenen Wortes mit. Wir wandten uns besonders an die ehemaligen Mitglieder der Kommunistischen Partei, um ihnen die Mapam als neue politische Heimat näherzubringen, und gründeten ein „Aktionskomitee der progressiven russischen Einwanderer“, das sich aus Delegierten der verschiedenen Ortsgruppen zusammensetzte. Es bestand aus etwa 50 Mitgliedern, welche die Auffassungen der Mapam in weiten Kreisen propagierten. Im Jahre 1992 fanden Wahlen zur Knesset statt. Die Mapam bildete zusammen mit den beiden ihr nahestehenden Parteien Ratz und Schinui eine gemeinsame Liste unter dem Namen Merez. Jede dieser Parteien führte eine besondere Wahlkampagne für die gemeinsame Liste. Diese zeigte nicht nur unter der russischen Bevölkerung Wirkung, sondern bei der israelischen Wählerschaft insgesamt – Merez wurde von vielen als parlamentarische Alternative angesehen. Tatsächlich waren die Wahlergebnisse positiv, und auch der Anteil der russischen Wähler, die für die Arbeitspartei und die Merez stimmten, war beträchtlich. Eine neue Regierung wurde unter Yitzchak Rabin als Ministerpräsident gebildet. Das Parteibündnis Merez besetzte drei Ministerien und Yair Zaban wurde zum Integrationsminister ernannt. Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen mir und Zaban. Er unterstützte unsere Tätigkeit, genoss das Vertrauen 87 Der Ulpan (hebräisch für „Unterricht“, „Anweisung“) vermittelt in einem Intensivkurs Sprachkenntnisse und zusätzlich eine Einführung in Geschichte, Landeskunde und Kultur Israels. Die Ulpanim sind somit seit ihrer Institutionalisierung 1949 ein wichtiges Mittel zur Integration der Einwanderer.

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und die Hochachtung der russischen Einwanderer und hatte viel Verständnis für den komplizierten Prozess der Integration in die neue Heimat. 1997 wurde aus dem Wahlbündnis Merez offiziell eine Partei; ich selbst hatte bereits 1996 meine Funktion als Leiter der Integrationsabteilung der Mapam aufgegeben. In diesem Jahr fanden – nach der Ermordung Rabins – erneut Wahlen zur Knesset statt und Merez verlor an Stärke: Anstatt aus zwölf bestand ihre Fraktion nun nur noch aus neun Abgeordneten. Eine neue Regierung wurde gebildet, und der Führer der Rechtspartei, Benjamin Netanyahu, wurde Ministerpräsident. An dieser Stelle kann ich keine eingehende Analyse der Gründe für diese Schwächung vornehmen, im Rückblick glaube ich aber, dass bei den russischen Einwanderern ein innerer Prozess begonnen hatte. Die ältere Generation war nicht mehr dominant, und die zweite Generation machte sich vor allem Sorgen um ihren Platz in der israelischen Gesellschaft. Dadurch kam es zu einer Entfremdung von den früheren Einstellungen. Die neue Generation distanzierte sich von Minderheitsparteien wie der Merez und wandte sich den Rechtsparteien zu – ein Prozess, der bis heute anhält. Meine Funktion als Generalsekretär des Weltverbandes der Mapam hatte dazu geführt, dass ich weiterhin in deren allgemeine politische Aktivitäten, später dann in die der Merez, eingebunden blieb. Schwerpunkt war nach wie vor meine Funktion in den ausländischen jüdischen Gemeinschaften und den internationalen jüdischen Organisationen. Es ergab sich gleichsam von selbst, dass ich mich mit den internationalen politischen Zusammenhängen befasste. Ohne Zweifel wurden die jüdischen Gemeinschaften in den unterschiedlichen Ländern gerade zwischen 1980 und 1990 von den Ereignissen in Israel beeinflusst. Die israelische Außenpolitik, die Beziehungen zu den arabischen Staaten im Allgemeinen und zu den Palästinensern im Besonderen – all diese Probleme beschäftigten und beschäftigen die weltweite Öffentlichkeit. So stand ich in meinen Funktionen in diesem Jahrzehnt vor der Herausforderung, in den jüdischen Gemeinden und vor allem in der jüdischen Jugend die Vision einer Verwirklichung des zionistischen, durch sozialistische Werte vertieften Pioniergeistes zu präsentieren. Dies war unsere Motivation für unsere jüdische und zionistische Aktivität. In der politischen Aufklärungsarbeit der Mapam, später der Merez, auf internationaler Ebene waren wir vor allem damit beschäftigt, den linken Kreisen in Europa die Haltung der Partei als Wortführer des sozialistischen Zionismus zu erklären. Die Tatsache, dass die Mapam Mitglied der Sozialistischen Internationale war (und in Form der Merez weiterhin ist), bahnte uns den Weg zu einem 208

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breiten Dialog. Auf den Tagungen der Internationale waren es die Vorsitzenden der Mapam, die die Partei vertraten, in der Zeit meiner Amtstätigkeit Yossi Sarid (später Erziehungsminister), Elieser Granot (später Botschafter in Südafrika) und Yossi Beilin (später Vizeaußenminister). Sie amtierten in der Regierung unter Ministerpräsident Yitzchak Rabin, und Yossi Beilin war der Initiator der „Genfer Initiative“ 2003 von israelischen und palästinensischen Politikern, die ein mögliches Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern im Sinne der Zwei-Staaten-Lösung entwarfen. Dort, wo ich langjährige Missionen erfüllt hatte, pflegte ich gute Kontakte zu den sozialistischen Organisationen, hielt Referate und beteiligte mich an Diskussionsrunden, besonders in Europa, als ich in Paris für die europäische Bewegung verantwortlich war. Dabei entwickelte ich gute Beziehungen zu führenden Persönlichkeiten. Selbstverständlich erfüllten unsere Emissäre in den verschiedenen Ländern auch politische Aufgaben. Nicht ohne Einfluss war, dass sich in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren die nationale arabische Bewegung konsolidierte und zu einer militanten politischen Organisation unter der Führung Arafats entwickelte. In Israel herrschte von 1977 bis 1983 eine „nationale Einheitsregierung“ unter Menachem Begin als Ministerpräsident und mit Ariel Scharon als Landwirtschafts- und Verteidigungsminister. Die Mapam, die in der Opposition war, erkannte schon damals das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und einen eigenen unabhängigen Staat an; sie sah daher in den Verhandlungen mit der PLO einen legitimen politischen Schritt. Diese Auffassung begründeten wir in allen unseren internationalen Beziehungen und vor allem in den Debatten mit sozialistischen Parteien in Europa. An diesen Anstrengungen hatte auch ich Anteil. Im Juni 1981 besuchte ich Wien und wurde vom Österreichischen Gewerkschaftsbund zu einem politischen Seminar über die Lage im Nahen Osten eingeladen. Die zweitägige Veranstaltung fand in einem Ferienzentrum der Gewerkschaften in der Nähe von Wien statt. An der Eröffnungssitzung nahm ein palästinensischer Professor teil, der an der Universität Wien lehrte. Ich war erstaunt, wie tief und gründlich er die Geschichte des Zionismus kannte. Er begann mit den Beziehungen Herzls zur österreichischen Hauptstadt, analysierte dessen Vision und zitierte aus seinen Büchern, besonders aus Altneuland, in dem Herzl seine Anschauungen dargelegt hat. Herzl beschreibt darin seine Beziehungen zu den Arabern und die Sicherstellung der nationalen Rechte im entstehenden jüdischen Staat.88 In der poli88 Vgl. Anm. 102.

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tischen und historischen Übersicht erweiterte der Professor die Perspektive und bezog sich auf die Gründe, die zur Formierung der modernen nationalen arabischen Bewegung geführt hatten. Ich erinnerte meinerseits daran, dass der Haschomer Hazair in Wien die ersten Schritte unternommen hatte. Das erwähnte ich nicht zuletzt deshalb, weil es in Wien eine starke Ortsgruppe der Bewegung gab, die enge Beziehungen zur Jugend der sozialistischen Partei pflegte. Weiterhin erklärte ich die grundlegenden Auffassungen des Haschomer Hazair und der Mapam in Bezug auf das palästinensische Volk. Dabei unterstrich ich, dass unsere Bewegung von Beginn an die Verwirklichung des Zionismus als das historische Recht des jüdischen Volkes betrachtet hat. Die Debatte konzentrierte sich im Anschluss vor allem auf die gegenwärtige Politik der israelischen Regierung, und ich erklärte die Position der israelischen Opposition, die von dem großen Publikum zustimmend anerkannt wurde. Das „offizielle“ Israel wurde hingegen scharf kritisiert – nicht nur in außenpolitischen Fragen, sondern auch im Hinblick auf das Vorgehen der israelischen Regierung gegenüber der arabischen Minderheit in Israel. Die öffentliche Meinung Österreichs kannte schon seit einigen Jahren die Haltung der Mapam. In den Siebzigerjahren war Yitzchak Patisch, ein Mitglied des Kibbuz Kfar Masaryk, israelischer Botschafter in Wien gewesen.89 Der ehemalige politische Sekretär der Mapam hatte in dieser Funktion die offizielle Position der israelischen Regierung vertreten müssen. Er unterhielt gute Verbindungen mit der Sozialistischen (später Sozialdemokratischen) Partei Österreichs (SPÖ), die damals an der Regierung war.90 Man sprach allgemein von einem „roten Wien“. Kanzler Bruno Kreisky stand allerdings mit der israelischen Regierung nicht auf gutem Fuß. Entsprechend delikat war die Funktion des Botschafters. Dennoch gelang es ihm, auch die Position der Opposition in Israel zu vermitteln. Neben seinen diplomatischen Funktionen setzte er sich dafür ein, dass im früheren Todeslager Mauthausen ein Denkmal für die hier ermordeten Juden errichtet wurde. Der Bau der Gedenkstätte wurde erst einige Jahre 89 Patisch war von 1971 bis 1974 Botschafter in Österreich. Der Kibbuz Kfar Masaryk wurde – nach verschiedenen Vorläufersiedlungen – 1940 hauptsächlich von Zuwanderern aus der Tschechoslowakei und aus Litauen gegründet. Sein Name erinnert an Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), der von 1918 bis 1935 erster Staatspräsident der Tschechoslowakei war und sich dabei für ein einträchtiges Miteinander von Tschechen, Slowaken und Juden einsetzte. Die Verfassung räumte die Möglichkeit ein, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen, und garantierte wesentliche Minderheitenrechte. 90 Die SPÖ hieß von 1945 bis 1991 Sozialistische Partei Österreichs.

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später vollendet. 1973 besuchte ich zusammen mit einer europäischen Delegation des Haschomer Hazair das Lager Mauthausen. Dort waren Zehntausende sowjetischer Soldaten und Offiziere erschossen, Tausende von Juden ermordet und verbrannt worden.91 Wien war in diesen Jahren ein wichtiger Transitort zwischen dem Osten und dem Westen. Im April 1982 vertrat ich die Mapam auf einem Delegiertentag der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS). Ich überbrachte die Grüße der Mapam und erwähnte auch hier den Haschomer Hazair, war doch die Bewegung als sozialistisch-zionistische Jugendbewegung mit klarer politischer Weltanschauung bekannt. Persönlich war dieses Treffen für mich besonders interessant – ich hatte mit manchen Delegierten bis zu einem gewissen Punkt in der Vergangenheit viel gemeinsam. In diesen Monaten war die Spannung zwischen Israel und den arabischen Staaten äußerst zugespitzt, und wenige Monate später brach der Erste Libanonkrieg – in Israel wurde er „Frieden für Galiläa“ genannt – aus.92 Die Schweiz hatte kein direktes Interesse an den Ereignissen im Mittleren Osten, die SP nahm jedoch Stellung. Entsprechend fanden meine Erklärungen im Hinblick auf die PLO ein positives Echo. Besonderes Interesse weckte auch meine Teilnahme an der Diskussionsrunde zu dem Thema „Die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges – Historische Konsequenzen“. Hier ergab sich die Gelegenheit, der Schweizer Sozialdemokratie meine Anerkennung auszudrücken, hatte sie doch während der Kriegszeit eine öffentliche und parlamentarische Kampagne gegen die restriktive Flüchtlingspolitik der Regierung geführt. Auch sonst traf ich mich während meiner verschiedenen Besuche in der Schweiz immer wieder mit führenden Persönlichkeiten. Von besonderem Interesse war für mich die Teilnahme an der Delegiertentagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) im Jahr 1984 in Essen. Die Mapam bekam eine offizielle Einladung, einen Beobachter als Gast der Zentralleitung zu entsenden. Ich war gerade in Paris, und so bat mich das Sekretariat der Mapam in Tel Aviv, die Partei in Essen zu vertreten. 50 Vertreter 91 Mauthausen, in der Nähe von Linz gelegen, war das größte Konzentrationslager auf österreichischem Boden und bestand von 1938 bis 1945. Insgesamt wurden hier rund 100.000 Menschen ermordet. Seit 1947 ist das Lager eine Mahn- und Gedenkstätte der Republik Österreich, die 1949 offiziell eröffnet wurde. Mehrere Opfergruppen, aber auch verschiedene Staaten haben auf dem Gelände Denkmäler und Gedenktafeln eingeweiht. So gibt es auch ein Mahnmal Israels, das einer Menora nachempfunden ist, und eine Gedenktafel der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. 92 Vgl. das Glossar unter dem Stichwort Kriege.

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Heini Bornstein im Mai 1984 als Delegierter der Mapam beim Parteitag der SPD in Essen.

von sozialistischen Parteien aus der ganzen Welt waren Gast bei der SPD. Am ersten Tag wurden zwei Repräsentanten der Auslandsgäste gebeten, kurze Begrüßungsansprachen zu halten, und einer von ihnen war ich. An der Tagung, die in unterschiedliche Foren eingeteilt war, nahmen 2000 Delegierte teil. Ein Forum bezog sich auf das Thema Außenpolitik, und hier war eine Diskussion der Lage im Mittleren Osten gewidmet. Natürlich war auch ein Vertreter der PLO anwesend, und obwohl ich die Stellung der Mapam darlegte, machte er keinen Unterschied zwischen der offiziellen israelischen Politik und unserer Anschauung. Eine scharfe Diskussion wurde geführt, und der Vorsitzende des Forums, an dem 300 Personen teilnahmen, suchte nach einem Kompromiss. Meine Darlegung wurde gut aufgenommen, und die meisten Teilnehmer unterstützten die Einstellung der Mapam. Schon damals war eine Distanzierung von der Israelischen Arbeitspartei bemerkbar, von der ebenfalls eine Delegation zu der Tagung gekommen war. Die Arbeitspartei war zu jener 212

Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen

Zeit in der Regierung vertreten und Schimon Peres Ministerpräsident. Entsprechend verteidigten ihre Vertreter in Essen die Politik der Regierung. Sie betonten zwar, dass in sozialen Fragen die Partei unabhängig handle, ich begründete aber die Entscheidung der Mapam, der „nationalen Einheitsregierung“ nicht beizutreten. Auch in Italien gab es offizielle Kontakte. Die Sozialistische Partei Italiens, genauer gesagt deren norditalienische Sektion, hatte die Mapam zu einem freundschaftlichen Studienaufenthalt eingeladen. Mailand war der zentrale Ort dieser Exkursion. Unsere Delegation bestand aus drei Mitgliedern, und wir besuchten die verschiedenen lokalen Gruppen, besichtigten die sozialen Einrichtungen der Partei und hatten ein Gespräch in der Redaktion der Zeitung Avanti. Diese politischen Aktivitäten, dies sei hier noch einmal hervorgehoben, fanden wie auch die eben beschriebenen Delegationen zu Parteiveranstaltungen zu einer Zeit statt, als die Mapam in Israel in der Opposition war. Trotz dieser Oppositionsrolle war sie ein wichtiger Faktor in den außerparlamentarischen Beziehungen und in der Friedensbewegung. Nach der großen Demonstration mit mehr als 400.000 Personen am 25. September 1982 im Zusammenhang mit dem Libanonkrieg wurde diese Tätigkeit noch intensiviert. Entsprechend groß war das Interesse an einer Zusammenkunft mit einer Delegation einer linken Partei. Bei unserem Besuch gewannen wir den Eindruck, dass die Partei in Italien sich auf soziale Unternehmungen stützte, wie etwa öffentliche Küchen, Jugendheime mit Lernhilfestunden, nahezu tägliche gesellschaftliche Veranstaltungen, intensive Hausbesuche, persönliche Verteilung der Zeitung besonders am Wochenende, Aktivitäten in den Schulen oder Abendkurse.

Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen In allen meinen Begegnungen mit linken Persönlichkeiten und bei meinen Besuchen an den Universitäten in Amerika legte ich unsere Haltung als Oppositionspartei gegenüber der offiziellen Politik Israels dar. Dabei war ich mir der schmalen Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und einer antisemitisch grundierten kategorischen Ablehnung der israelischen Politik bewusst. Die Gleichsetzung von „Israel“ und „Juden“ schuf für verschiedene Kreise – auch 213

Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen

Zeit in der Regierung vertreten und Schimon Peres Ministerpräsident. Entsprechend verteidigten ihre Vertreter in Essen die Politik der Regierung. Sie betonten zwar, dass in sozialen Fragen die Partei unabhängig handle, ich begründete aber die Entscheidung der Mapam, der „nationalen Einheitsregierung“ nicht beizutreten. Auch in Italien gab es offizielle Kontakte. Die Sozialistische Partei Italiens, genauer gesagt deren norditalienische Sektion, hatte die Mapam zu einem freundschaftlichen Studienaufenthalt eingeladen. Mailand war der zentrale Ort dieser Exkursion. Unsere Delegation bestand aus drei Mitgliedern, und wir besuchten die verschiedenen lokalen Gruppen, besichtigten die sozialen Einrichtungen der Partei und hatten ein Gespräch in der Redaktion der Zeitung Avanti. Diese politischen Aktivitäten, dies sei hier noch einmal hervorgehoben, fanden wie auch die eben beschriebenen Delegationen zu Parteiveranstaltungen zu einer Zeit statt, als die Mapam in Israel in der Opposition war. Trotz dieser Oppositionsrolle war sie ein wichtiger Faktor in den außerparlamentarischen Beziehungen und in der Friedensbewegung. Nach der großen Demonstration mit mehr als 400.000 Personen am 25. September 1982 im Zusammenhang mit dem Libanonkrieg wurde diese Tätigkeit noch intensiviert. Entsprechend groß war das Interesse an einer Zusammenkunft mit einer Delegation einer linken Partei. Bei unserem Besuch gewannen wir den Eindruck, dass die Partei in Italien sich auf soziale Unternehmungen stützte, wie etwa öffentliche Küchen, Jugendheime mit Lernhilfestunden, nahezu tägliche gesellschaftliche Veranstaltungen, intensive Hausbesuche, persönliche Verteilung der Zeitung besonders am Wochenende, Aktivitäten in den Schulen oder Abendkurse.

Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen In allen meinen Begegnungen mit linken Persönlichkeiten und bei meinen Besuchen an den Universitäten in Amerika legte ich unsere Haltung als Oppositionspartei gegenüber der offiziellen Politik Israels dar. Dabei war ich mir der schmalen Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und einer antisemitisch grundierten kategorischen Ablehnung der israelischen Politik bewusst. Die Gleichsetzung von „Israel“ und „Juden“ schuf für verschiedene Kreise – auch 213

Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen

im linken Lager – eine gewisse Grundlage für Verallgemeinerungen und rassistische Argumente. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit dem israelischen Konsul in Mailand. Er meinte, dass unsere Kritik an der israelischen Politik vor nicht-jüdischen Zuhörern nicht nur die Aufklärung über den israelischen Standpunkt schwäche, sondern auch dahingehend problematisch sei, dass es antisemitische Strömungen innerhalb der lokalen Bevölkerung und insbesondere bei der radikalen Linken gebe. Ich wehrte mich in meiner Tätigkeit im Rahmen der internationalen Kontakte selbstverständlich gegen jede antisemitische Einstellung und forderte stets von meinen Partnern, selbst Sozialisten, jede Verbindung von Kritik an Israel mit antisemitischen Strömungen zu bekämpfen. Entsprechend antwortete ich dem Konsul und gab meinem Erstaunen angesichts dieser Mahnung Ausdruck, vertraten wir doch eine Weltanschauung, für die das Streben nach Frieden und nach einer Koexistenz von Juden und Arabern sowie die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes in einem unabhängigen Staat an der Seite Israels zentral war. Gerade diese Einstellung schien uns den Kreis der Unterstützer Israels in der öffentlichen Meinung erweitern zu können. Wir unterhielten ständige Organisationen in der Welt, etwa die „Freunde des Friedens jetzt“ oder die „Freunde von Givat Haviva“ wie auch viele andere Gruppen, die organisatorisch mit der Mapam verbunden waren und es auch heute noch mit der Merez sind. Gerade in den USA wurden wir in den letzten Jahren Zeugen einer tief greifenden Entwicklung. Ich erwähnte bereits die Organisation J Street, die mit der Auffassung der linken Kreise und der Friedensbewegung in Israel übereinstimmt. Die Prinzipien der „Genfer Initiative“ vom Oktober 2003 sind die Richtlinien der politischen Auffassung von J Street. Auch in Europa gibt es bereits ähnliche Gruppierungen, und der amerikanische Präsident Obama und seine Administration richten die US-Außenpolitik gegenüber dem Mittleren Osten an diesen Grundsätzen aus. Diese Entwicklung ist ein weiterer Beweis, dass kein Gegensatz zwischen der Kritik an der Politik der Regierung und der Identifizierung mit den lebenswichtigen Interessen des Staates Israel besteht. Doch das politische Establishment in Jerusalem versteht diesen Zusammenhang nicht. Richtig ist, dass die Kritik an Israel öfters in antisemitischen Demonstrationen Ausdruck findet und damals schon fand. Ich betrachtete es aber stets als meine Aufgabe, eine klare Grenze zwischen der Kritik an Israel and Verleumdungen gegen das jüdische Volk zu ziehen. Dies war auch ein klarer Auftrag an unsere Emissäre in den unterschiedlichen Ländern. Gerade dort spielten die jeweilige lokale jüdische Führung und die spezifische Lage der jüdischen Minderheit eine wich214

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tige Rolle. Oft wurde der Zionismus als legitime Bewegung der nationalen Befreiung verleugnet. Meine guten Beziehungen zu vielen Persönlichkeiten hielt ich auch nach der Beendigung meiner aktiven politischen Tätigkeit aufrecht. Die bekannten politischen Probleme bekamen neue Dimensionen. Die palästinensischen Organisationen begannen mit geplanten Terroraktionen, in Israel kam es zu wütenden Feindseligkeiten, Entführungen, Überfällen auf Privatautos und Autobusse, Bombenanschlägen auf Schulen und Restaurants sowie Angriffen auf Grenzsiedlungen. Am 3. Mai 2003 sandte ich einen offenen „Rundbrief“ an verschiedene Persönlichkeiten der sozialistischen Parteien in Europa, mit denen ich infolge meines Amtes in Verbindung stand. Viele Jahre sind vergangen, seit ich ihn geschrieben habe. Im November 1995 wurde Yitzchak Rabin ermordet, im Oktober 1981 war der ägyptische Präsident Sadat einem Attentat zum Opfer gefallen. Der Brief spiegelt, wie ich meine, die historischen Ereignisse wider, die dazu geführt haben, dass sich die Beziehungen zwischen den Palästinensern und Israel in einer Sackgasse befinden. Ich möchte ihn daher in Auszügen wiedergeben: „Sehr geehrte Gesinnungsgenossen! […] Ich bin mir bewusst, dass Sie die Ereignisse in Israel mit großer Besorgnis verfolgen. Durch unsere persönlichen Verbindungen und unsere Zusammenarbeit weiß ich, dass Sie eine positive Einstellung gegenüber Israel und dem zionistischen Aufbauwerk haben. Infolge meiner Tätigkeit und der Veröffentlichung meines Buch Insel Schweiz führten wir viele Gespräche über das Schicksal des jüdischen Volkes in der Vergangenheit und analysierten die Situation im Mittleren Osten. Insbesondere nach dem Holocaust hat die ganze Welt das Recht des jüdischen Volkes auf eine eigene Heimat in Palästina anerkannt. Sie kennen meine Biografie. Seit meinen Jugendjahren gehörte ich der Haschomer-Hazair-Bewegung an. Innerhalb der zionistischen Bewegung standen wir von jeher für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern in Palästina, und dies aufgrund der gegenseitigen Anerkennung der legitimen Rechte beider nationalen Bewegungen – des Zionismus und des palästinensischen Volkes. Ein langer Weg führte über fünf Kriege und blutige Auseinandersetzungen zwischen Israel, Ägypten und Jordanien zum Oslo-Abkommen im Jahr 1993. Wir in der Friedensbewegung unterhielten rege 215

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Beziehungen zu Arafat und verschiedenen Organisationen der Palästinenser. Doch hier beginnt eine prekäre Lage. Die weitgehenden Vorschläge der damaligen Mitte-links-Regierung für eine friedliche Lösung mit fast hundertprozentiger Rückgabe der besetzten Gebiete wurden von Arafat zurückgewiesen. Stattdessen begannen blutige Terroraktionen gegen die israelische Zivilbevölkerung. Die Friedenskräfte in Israel wurden vor eine unmögliche Situation gestellt. Niemand kann solche Terroraktionen dulden. Arafat hat durch seine Ablehnung jedes Kompromisses und seine Unterstützung des Terrorismus dazu beigetragen, dass innerhalb der jüdischen Bevölkerung bei den letzten Wahlen ein Rechtskurs unter der Führung von Scharon überhandnahm und eine große Mehrheit erhielt. Diese neue Regierung ist nicht bereit, auf die Forderungen nach einer Rückgabe der besetzten Gebiete einzugehen. Sie machte Arafat zum Hauptverantwortlichen des Terrorismus und ist zu keinen politischen Gesprächen bereit, ‚solange es Terroraktionen gibt‘. Die linke ‚Merez‘-Partei und die Arbeitspartei haben sich nicht der ‚nationalen Einheitskoalition‘ angeschlossen. Trotz der Terroraktionen waren die Friedenskräfte der Meinung, die Verhandlungen weiterführen zu müssen. Doch innerhalb des israelischen Publikums ist das Vertrauen in Arafat weitgehend geschwunden. Wie ich bereits erwähnte: Nur ein politisches Abkommen kann die Motivation zum Terror wesentlich einschränken. Keine Regierung in irgendeinem Land kann Mord in den Straßen, Cafés, Autobussen, Geschäften und öffentlichen Plätzen dulden. Dies ist ein Teufelskreis, der nicht mit Gewalt durchbrochen werden kann. […] Wie alle linksorientierten Menschen in Israel verfolge auch ich mit einer gewissen Besorgnis die antiisraelische Atmosphäre und die antiisraelischen Demonstrationen in Europa. Bei aller berechtigten Kritik an der Politik der israelischen Regierung muss man sich vor einer einseitigen Stellungnahme hüten, und dies vor allem, weil die antiisraelische Stimmung sehr leicht einen antisemitischen Klang annehmen kann. Ich hätte gerade von sozialistischen Kreisen erwartet, hier in ihren Stellungnahmen sich um eine entsprechende Ausgewogenheit zu bemühen. (Bekanntlich sind die Israelische Arbeitspartei und die Merez-Partei Mitglieder der Sozialistischen Internationale.) Die letzten Meinungsumfragen bezeugen, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung bereit ist, den größten Teil der besetzten Gebieten zurückzugeben – allerdings unter der Bedingung eines Friedensabkommens. Ohne

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Zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Strömungen

diese politische Perspektive wird der Konflikt keine Lösung finden und der Teufelskreis wird nicht durchbrochen werden. In dieser komplizierten äußeren und inneren Lage, die auch für die Friedenskräfte nicht einfach ist, ist eine konstruktive und abgewogene Haltung unserer Freunde unter den politischen Kräften in Europa von großer Wichtigkeit. Darum schreibe ich Ihnen diesen Brief. Mit freundschaftlichen Grüßen Heini Bornstein“ Mit den Jahren verschärfte sich die Einstellung linker Politiker gegenüber Israel. Ende 2008 fand ein weiterer Krieg im Gazastreifen statt – in Israel nannte man ihn „Gegossenes Blei“ –, der starke antiisraelische Reaktionen hervorrief.93 Man kann sagen, dass diese militärische Aktion der israelischen Truppen in der Welt weitgehend als ungerechtfertigt angesehen wurde. Auch in Israel gab es auf der Linken viele Distanzierungen von diesem militärischen Vorgehen. Die Einstellung war ambivalent und nicht eindeutig, und im Grunde ist die Diskussion darüber bis heute nicht abgeschlossen. Die Israelische Arbeitspartei unterstützte die Aktion, während die Merez die erste Etappe als Reaktion auf den Beschuss ziviler Siedlungen, darunter viele Kibbuzim, befürwortete, sich aber gegen jede Ausweitung des Einsatzes aussprach. Ich persönlich war damals 85 Jahre alt, hatte mich vom politischen Leben zurückgezogen und nahm an keinen Sitzungen mehr teil. Bei den Wahlen im Jahr 2010 erlitten die beiden linken Parteien eine schwere Niederlage. Die Merez-Partei erhielt nur drei Mandate, und ihre parlamentarische Stimme hat keinen großen Einfluss mehr. Damit steht sie vor schwerwiegenden Fragen, was die Zukunft der Partei betrifft. Die politischen Kräfteverhältnisse unterstehen einem ständigen Wandel, sodass jede Einschätzung nur von einer konkreten Situation ausgehen kann. Die Entwicklung ist dynamisch, und es würde den Rahmen dieser Autobiografie überschreiten, in eine tiefere Analyse der Position der zionistischen Arbeiterbewegung einzusteigen. Israel ist ein Entwicklungsland, das permanent neue Einwanderer aufnimmt. Diese bringen die Mentalität, die Kultur und den Lebensstil ihrer früheren Heimat mit. Der Einfluss politischer Ereignisse und historischer Erfahrungen ist deutlich erkennbar, die geopolitische und die Sicherheitssituation sind für die Bildung der öffentlichen Meinung in Israel von beson93 Vgl. dazu das Glossar unter dem Stichwort Kriege.

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Ein neuer Zionismus?

derer Bedeutung. Aber auch die globalen Entwicklungen und Veränderungen hinterlassen in der israelischen Politik deutliche Spuren. Der kleine Staat Israel hängt in vielen Punkten von dem Gang der internationalen Beziehungen ab. Mein persönliches Interesse gilt dabei weiterhin der Position und der politischen Perspektive der Arbeiterbewegung in Israel. Aus meinem „Ruhestand“ heraus verfolge ich die inneren Diskussionen und die Schwierigkeiten der linken Organisationen, schreibe Artikel und nehme hier und dort Stellung. Auch die internationale Ebene beschäftigt mich immer noch, zumal die sozialistischen Parteien in Europa einen spannenden Prozess bei der Suche nach einer modernen sozialdemokratischen Alternative zum Neoliberalismus, nach einem auf soziale Gerechtigkeit gestützten Kompromiss zwischen der sogenannten „freien Marktwirtschaft“ und einer staatlichen Planwirtschaft durchlaufen. In Israel befinden wir uns zurzeit in einer ähnlichen Auseinandersetzung.

Ein neuer Zionismus? In den letzten Jahren beschäftigte sich die Zionistische Weltorganisation mit der Klarstellung ihrer Position und Mission. Zwei dramatische Ereignisse des 20. Jahrhunderts veränderten die Situation und den Lebensinhalt des jüdischen Volkes: die Schoah und die Gründung des Staates Israel. Die Ermordung von sechs Millionen Juden, davon drei Millionen aus Polen, reduzierte das jüdische Volk in erschreckendem Ausmaß. Die Quellen der jüdischen Existenz trockneten aus und das menschliche Reservoir der zionistischen Bewegung war deutlich beschränkt. Die Gründung Israels verwirklichte die Vision der zionistischen Bewegung, war die Realisierung des „Baseler Programms“: Theodor Herzl hatte nach dem Ersten Zionistenkongress am 3. September 1897 in sein Tagebuch geschrieben: „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“ Tatsächlich gab ihm die Geschichte recht: 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Bildung eines jüdischen Staates, und im Februar 1949 versammelte sich zum ersten Mal das neu gewählte israelische Parlament, die Knesset. Damit verloren die Zionistenkongresse ihre Bedeutung. Seit 1897 hatte der Kongress als das „Parlament des jüdischen Volkes“ gegolten und alle politischen Entscheidungen des „jüdischen Staates unterwegs“ beschlossen. Die Knesset war nun das Parlament des Staates Israel. Damit wurde es notwendig, die Rolle der zionistischen Bewegung und ihres Kongresses neu zu definieren. Doch die Frage umfasste mehr: Welche 218

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derer Bedeutung. Aber auch die globalen Entwicklungen und Veränderungen hinterlassen in der israelischen Politik deutliche Spuren. Der kleine Staat Israel hängt in vielen Punkten von dem Gang der internationalen Beziehungen ab. Mein persönliches Interesse gilt dabei weiterhin der Position und der politischen Perspektive der Arbeiterbewegung in Israel. Aus meinem „Ruhestand“ heraus verfolge ich die inneren Diskussionen und die Schwierigkeiten der linken Organisationen, schreibe Artikel und nehme hier und dort Stellung. Auch die internationale Ebene beschäftigt mich immer noch, zumal die sozialistischen Parteien in Europa einen spannenden Prozess bei der Suche nach einer modernen sozialdemokratischen Alternative zum Neoliberalismus, nach einem auf soziale Gerechtigkeit gestützten Kompromiss zwischen der sogenannten „freien Marktwirtschaft“ und einer staatlichen Planwirtschaft durchlaufen. In Israel befinden wir uns zurzeit in einer ähnlichen Auseinandersetzung.

Ein neuer Zionismus? In den letzten Jahren beschäftigte sich die Zionistische Weltorganisation mit der Klarstellung ihrer Position und Mission. Zwei dramatische Ereignisse des 20. Jahrhunderts veränderten die Situation und den Lebensinhalt des jüdischen Volkes: die Schoah und die Gründung des Staates Israel. Die Ermordung von sechs Millionen Juden, davon drei Millionen aus Polen, reduzierte das jüdische Volk in erschreckendem Ausmaß. Die Quellen der jüdischen Existenz trockneten aus und das menschliche Reservoir der zionistischen Bewegung war deutlich beschränkt. Die Gründung Israels verwirklichte die Vision der zionistischen Bewegung, war die Realisierung des „Baseler Programms“: Theodor Herzl hatte nach dem Ersten Zionistenkongress am 3. September 1897 in sein Tagebuch geschrieben: „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“ Tatsächlich gab ihm die Geschichte recht: 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Bildung eines jüdischen Staates, und im Februar 1949 versammelte sich zum ersten Mal das neu gewählte israelische Parlament, die Knesset. Damit verloren die Zionistenkongresse ihre Bedeutung. Seit 1897 hatte der Kongress als das „Parlament des jüdischen Volkes“ gegolten und alle politischen Entscheidungen des „jüdischen Staates unterwegs“ beschlossen. Die Knesset war nun das Parlament des Staates Israel. Damit wurde es notwendig, die Rolle der zionistischen Bewegung und ihres Kongresses neu zu definieren. Doch die Frage umfasste mehr: Welche 218

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Beziehungen bestanden von nun an zwischen dem Staat Israel und dem jüdischen Volk in der Diaspora? Es lebten damals in der Welt noch zehn Millionen Juden, davon mehr als fünf Millionen in Amerika. In meinen beiden Funktionen – Weltleiter der Haschomer-Hazair-Bewegung und Generalsekretär des Weltverbandes der Merez-Parteien – nahm ich an diesen Beratungen innerhalb der zionistischen Bewegung sowie im Rahmen der Jewish Agency und des Jüdischen Weltkongresses teil. Es ging dabei stets um den Zionismus sowohl als erzieherische Bewegung als auch als politische Strömung. Dabei stellte sich heraus, dass die Entwicklungen in der israelischen Gesellschaft großen Einfluss auf die Juden außerhalb Israels hatten und haben – mit allen Unterschieden hinsichtlich der verschiedenen Länder. Israel und das Weltjudentum bestanden nebeneinander und waren beide wesentlich für das Judentum – entsprechend war ein permanenter Dialog erforderlich. Mir wurde klar, dass auch wir uns mit der neuen Problematik des jüdischen Lebens befassen mussten. Als erzieherische Bewegung hatten wir eine klare ideologisch-politische Weltanschauung, die mit der Gründung der Kibbuz-Arzi-Organisation und der Schaffung der politischen Partei eine weitere Dimension bekam. Der sozialistische Zionismus war im Grunde der Vorgänger der organisierten zionistischen Weltbewegung. Vom Ersten Zionistenkongress bis zum 20., dem ersten Kongress nach der Schoah 1946 – beide fanden in Basel statt –, wurden in der zionistischen Bewegung und in der Jewish Agency Diskussionen über das Wesen des zukünftigen Staates geführt. Seit Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat veröffentlicht hatte, war eine tiefe gesellschaftliche und politische Kluft zwischen der zionistischen Arbeiterbewegung, welcher der Haschomer Hazair angehörte, und der kapitalistischen Bourgeoisie entstanden.94 Zwei Konzeptionen standen sich gegenüber: Aufbau des Landes mit dem Primat der freien Initiative oder eine geplante kollektive Wirtschaft. Ebenso entwickelte sich eine scharfe Kontroverse über die Frage der „Teilung Palästinas“, der Schaffung eines jüdischen Staates in einem Teil von Palästina. Es wurden die verschiedenen Etappen bis zum „Endziel der Verwirklichung des zionistischen Programms“ beschlossen. Die Meinungsverschiedenheiten drehten sich auch um die geistige Identität der jüdischen Gesellschaft, die sich in Israel herausbildete. Die Grundlagen, auf denen der Staat Israel aufgebaut werden sollte, standen mit den prinzipiellen Auseinandersetzungen von gut hundert Jahren in Verbindung. 94 Zu Herzls Buch vgl. Anm. 22.

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Auf dem ersten Zionistenkongress nach der Gründung Israels, der 1951 in Jerusalem stattfand, wurde eine Grundsatzdiskussion geführt, um die Beziehungen zwischen Israel und dem Weltjudentum klarzulegen. Der Kongress setzte sich aus gewählten oder aufgrund von Abkommen zwischen den Parteien entsandten Delegierten zusammen. Die israelischen Delegierten wurden von den Parteien auf der Basis der Wahlen zur ersten Knesset, die 1949 stattgefunden hatte, benannt. Die Mapam hatte damals 19 Abgeordnete in der Knesset und bildete damit die zweitstärkste Fraktion im Parlament. Auf dem Kongress ging sie ein Bündnis mit der Arbeiterpartei ein, die 46 Sitze errungen hatte. Die gemeinsame Fraktion, die mit 65 von 120 Sitzen die Mehrheit im Parlament besaß, trug den Namen „Fraktion des arbeitenden Zionismus“. Ich war einer der Delegierten der Mapam. Der Kongress musste die Ziele und die Vision der zionistischen Bewegung neu definieren, war doch das „Baseler Programm“ – „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ – erfüllt und nicht mehr aktuell. Auf dem Kongress wurde eine „Ideologische Kommission“ gewählt, welche die neuen Aufgaben des Zionismus formulieren sollte. Die vereinigte Arbeiterfraktion entsandte zwei Vertreter in diese Kommission: Mosche Kagan aus den USA und mich aus Israel. Der Kongress beschloss einstimmig das neue Programm, das „Jerusalemer Programm“. Ihm zufolge ging es darum, „den Staat Israel zu stärken, die Zerstreuten im Land Israel zu sammeln und die Einheit des jüdischen Volkes zu gewährleisten“. Dieses Programm wurde jedoch im Laufe der Jahre geändert und bezog sich nicht mehr auf die Beziehungen zwischen Israel und dem Weltjudentum. Die Problematik beschäftigte die Führerschaft des organisierten Judentums und die Regierung Israels. Einige Kongresse und Tagungen des Zionistischen Aktionskomitees sowie der Generalversammlung der Jewish Agency widmeten sich ausdrücklich der Abklärung des ideologischen Inhalts und dem Wesen des Zionismus in der modernen Zeit. An den meisten dieser Tagungen nahm ich teil. Im Rahmen der Mapam und später der Merez wählten wir eine erweiterte Ideologische Kommission, zu der erstrangige Historiker und zionistische Aktivisten als Berater hinzugezogen wurden. Dov Puder und ich waren gemeinsam die Vorsitzenden dieser Kommission. Puder war ein gebürtiger Schweizer, Mitglied des Haschomer Hazair in Genf sowie später Vertreter der Mapam bzw. der Merez in der Weltexekutive der Zionistischen Bewegung und im Board of Deputies der Jewish Agency. Im Prinzip nahmen wir als Ausgangspunkt die Prozesse, die in der jüdischen Welt vor sich gingen, beispielsweise den Antisemitismus, die Frage der Assimilation, die Methoden der Aktivierung in den 220

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Gemeinden oder die jüdische Erziehung. Wir, eine zionistische Jugendbewegung, betrachteten die Eingliederung in das Leben der Gemeinde als integrale Grundlage unserer Einstellung. Die Ereignisse, welche die israelische Gesellschaft formierten, hatten auf die Stellung der Juden in der Welt einen wesentlichen Einfluss. Auch die politischen Bedingungen und Umwälzungen waren von entscheidender Bedeutung für die jüdischen Minderheiten. Organisatorisch mussten klare Richtlinien für den Dialog zwischen der israelischen Regierung und der Führung des Weltjudentums festgelegt werden, um eine gemeinsame Politik zu vereinbaren. Mit der – bis heute anhaltenden – Zunahme antisemitischer Ausschreitungen, insbesondere nach dem letzten Krieg in Gaza, wurde die Notwendigkeit einer koordinierten Taktik noch dringender. In den Jahren, als Yossi Beilin Vorsitzender der Merez-Partei war, arbeitete ich eng mit ihm zusammen. Bereits in der Zeit, als er dieses Amt noch nicht ausübte, hatte er ein besonderes Interesse an den Problemen des jüdischen Volkes, namentlich an den Beziehungen zwischen dem Weltjudentum und dem Staat Israel. Er schrieb Artikel über verschiedene Aspekte dieses Themas und schlug vor, die Zionistische Weltorganisation aufzulösen und ein jüdisches Parlament zu wählen. 1994 hatte er Pläne für ein Projekt namens „Birthright“, das eine umfassende Aktion sein sollte, in deren Rahmen jedem interessierten Jugendlichen ein Besuch in Israel ermöglicht würde, finanziert von den jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten.95 Das zionistische Establishment unterstützte das Projekt nicht, es wurde letztlich aber mit der Hilfe privater Sponsoren verwirklicht. Im letzten Jahrzehnt besuchte fast eine Viertelmillion Jugendlicher Israel. Dies schuf dann die Voraussetzung für viele Gespräche über die Position des progressiven Zionismus. Auch ich schrieb verschiedene Artikel und verfasste in dieser Zeit die Entwürfe für die Beschlüsse, die zunächst im Sekretariat des Weltverbandes behandelt und nach Bestätigung dem Zionistischen Aktionskomitee und dem Zionistenkongress zur Debatte und Ratifikation vorgelegt wurden. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass der ehemalige Präsident der Zionistischen Weltor95 Das Projekt „Birthright“ (auch „Taglit“, also „Entdeckung“) soll es Jugendlichen zwischen 18 und 26 Jahren, die Israel nicht genauer kennen, während eines zehntägigen Aufenthaltes ermöglichen, ihre jüdische Identität zu stärken und sie mit jüdischer Kultur und Geschichte zu verbinden. Überwiegend kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den USA und aus Canada. Inzwischen gibt es aber auch entsprechende Programme speziell für andere Länder der Diaspora.

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ganisation und der Jewish Agency, Abraham Burg, sich der tiefen ideologischen und organisatorischen Krise bewusst war, der sich alle Strömungen des organisierten Judentums, insbesondere in den USA, ausgesetzt sahen. Nach seinem Rückzug aus dem politischen Leben schrieb Burg ein Buch mit dem Titel Hitler besiegen, das viele kontroverse Kommentare in Israel und besonders in Deutschland hervorrief. Er fragte: „Wann wird sich Israel vom Holocaust befreien?“, und kritisierte scharf die in der israelischen Gesellschaft verbreitete Sichtweise und die von militärischem Denken bestimmte Haltung gegenüber dem palästinensischen Volk. Ich las das Buch mit Interesse, stimmte vielen seiner Analysen zu, kam aber in zahlreichen Punkten zu anderen Schlussfolgerungen und bedauerte manchmal seine einseitige Beschreibung der Ereignisse. Das Dilemma der amerikanischen jüdischen Führerschaft wurde mir bewusst, als ich im November 1983 in Atlanta an der General Assembly of Jewish Federations of the USA and Canada teilnahm. Die Versammlung befasste sich hauptsächlich mit der jüdischen Erziehung als Herausforderung gegenüber der weitverbreiteten Assimilation. Wir waren damals Vertreter der Kibbuzbewegung und brachten eine eindrucksvolle Ausstellung mit. Dabei konzentrierten wir die Aufmerksamkeit auf zwei Projekte: „Ein Jahr Dienst im Kibbuz“ und das Ulpan, ein Institut, in dem für ein Jahr lang Hebräisch gelernt wurde bei gleichzeitig halbtägiger Arbeit im Kibbuz. Wir beschrieben diese Projekte als die Möglichkeit eines persönlichen Erlebnisses in Israel und des Lebens im Kibbuz und damit als Vorstufe für die Entscheidung von jungen Juden, wo und wie sie ihre Zukunft bauen wollten. Wir sahen in der Alija nach Israel unseren konstruktiven Beitrag zu den Bemühungen gegen die zunehmenden Tendenzen der Assimilation. Ein Auszug aus einem Brief, den ich aus Atlanta an Chasia schrieb, mag die Atmosphäre, in der wir uns damals befanden, verdeutlichen: „18.11.1983 […] Ich befinde mich in der Generalversammlung der Jüdischen Föderationen der USA und Kanadas. Es sind hier 3000 Vertreter aller jüdischen Gemeinden anwesend. Wir sind sehr aktiv. Amos Oz sprach gestern über ‚Der Kibbuz im Staat Israel‘. Es waren 800 Delegierte anwesend – eine bewegende Veranstaltung. In diesem Rahmen nahm ich an einem Podiumsgespräch über das gleiche Thema teil. Am Abend erschien [der israelische Präsident] Herzog und appellierte in einer guten Ansprache an die Juden,

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‚die Alija zu machen‘. Bis heute bleibt es im Ganzen jedoch nur bei Worten. Wir sind damit beschäftigt, Vertreter vieler Organisationen zu treffen. Morgen fliege ich nach Boston, um an der Konferenz der Liga ‚Freunde von Schalom Achschaw‘ [Peace now – Frieden jetzt] teilzunehmen.96 Am Abend habe ich einen Vortrag vor Studenten an der Universität Harvard. Von dort geht es weiter nach Kanada, wo man mir ein intensives Programm vorbereitet hat. Wir haben dort ein gutes Team an Emissären. Die Bewegung ist jedoch relativ klein. Es scheint, der Haschomer Hazair entspricht nicht der amerikanischen Mentalität. Man zieht hier einen allgemeinen pluralistischen Rahmen vor, in dem verschiedene alternative Ideen und Visionen zur Sprache kommen […].“ 1985 war ich wiederum in den USA. Ich nahm an der nationalen Konferenz der zionistischen Organisation teil. Diese Konferenz diskutierte die Bestimmung und Rolle des amerikanischen Zionismus. In einer Studiengruppe hielt ich ein Referat über „Die humanistischen Werte des progressiven Zionismus und der persönlichen Verwirklichung“, also über die Erziehung zur Alija. Später schrieb ich einen Grundsatztext für einen gemeinsamen Studientag der Merez-Fraktion im Zionistischen Aktionskomitee und des Zentralsekretariats des Weltverbands, der am 20. Juli 2007 in Jerusalem stattfand und an dem auch die KnessetAbgeordneten der Partei teilnahmen. Es war ein Programmentwurf für eine Tagung der gemeinsamen Fraktion des „Arbeitenden Zionismus“ mit führenden Personen der Arbeitspartei. Ich übergab das Dokument auch dem damaligen Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, Abraham Burg. In seiner Eröffnungsansprache zur Versammlung des Zionistischen Aktionskomitees pries er unsere Fraktion als die erste, die ernsthaft und tief gehend über die Aufgaben des modernen Zionismus diskutiere. Ein Auszug aus dem Dokument soll die Thematik, die als äußerst relevant angesehen wurde, deutlich machen:

96 Die Vielfalt innerhalb der Friedensbewegung und deren Probleme analysiert Shelley Berlowitz: Die Erfahrung der Anderen. Konfliktstoff im palästinensisch-israelischen Dialog. Konstanz 2012. Von palästinensischer Seite ist im deutschsprachigen Raum besonders bekannt geworden Sumaya Farhat-Naser: Thymian und Steine. Eine palästinensische Lebensgeschichte. Hg. von Rosmarie Kurz und Chudi Bürgi. 5. Aufl. Basel 1997; dies.: Im Schatten des Feigenbaums. Hg. von Willi Herzig und Chudi Bürgi. Basel 2013.

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„Grundsatztext und Programmentwurf anlässlich der Tagung des Zionistischen Aktionskomitees Das Zionistische Aktionskomitee wird eine Debatte über ‚Ziele, Aufgaben und Aktionen der erneuerten Zionistischen Weltorganisation‘ führen. Dies ist eine Diskussion über das Wesen des Zionismus in der gegenwärtigen Phase, in welcher eine Standortbestimmung der zionistischen Organisationen in der heutigen Atmosphäre in den jüdischen Gemeinden vorzunehmen ist. Diese Debatte entsteht aus dem wohlbegründeten Gefühl, dass nach 60 Jahren der Existenz des Staates Israel die besondere Mission der Zionistischen Weltorganisation nicht klar ist. Merez, die sozialistisch-zionistische Partei und integraler Teil dieser Organisation, muss seine Position festlegen und zu den Vorschlägen in der Debatte im Aktionskomitee Stellung beziehen. Ich unterbreite hiermit einige Punkte zu dieser Debatte: 1. Der historische Hintergrund Die Zionistische Weltorganisation war bis zur Gründung des Staates Israel eine Volksbewegung, in der die zionistische Politik festgelegt wurde. Sie hatte einen politischen Charakter und setzte sich aus verschiedenen Parteien und Strömungen zusammen. Sie repräsentierte ein weitgehendes Spektrum von politischen Auffassungen. Das ‚Zionistische Aktionskomitee‘ war sozusagen das Parlament des jüdischen Volkes. Dies war nicht nur der Rahmen einer politischen Zugehörigkeit, sondern auch einer persönlichen Verpflichtung der Mitglieder. Jeder Jude, der sich mit dem ‚Baseler Programm‘ identifizieren wollte, musste einen ‚Schekel‘ erwerben, also einen gewissen minimalen Beitrag bezahlen. Dies gab ihm auch das Stimmrecht zum Zionistenkongress, der einzigen demokratischen Vertretung des zerstreuten jüdischen Volk. Die Autorität der zionistischen Organisation stammte aus zwei Wurzeln: – dem Lebensinhalt der jüdischen Diaspora, – dem Streben und dem Kampf um die zionistische Verwirklichung und den Charakter des jüdischen Staates. Mit dem Entstehen des jüdischen Staates änderte sich die Herausforderung. Ben-Gurion erklärte infolge der neuen Situation: ‚Das Gerüst muss abgebrochen werden‘ (er meinte die Zionistische Weltorganisation).

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Die zionistische Arbeiterbewegung, welcher der Haschomer Hazair bzw. die Mapam-Partei angehörten, widersetzte sich dieser Auffassung von BenGurion. Wir waren der Meinung, dass die Zionistische Weltorganisation die Solidarität zwischen dem Weltjudentum und dem Staat Israel zum Ausdruck bringt, obwohl die politischen Entscheidungen in der Knesset und in der Regierung fallen. Israel ist der Staat des jüdischen Volkes, deswegen ist es von Wichtigkeit, dass die öffentliche und politische Einstellung der Vertreter der jüdischen Diaspora zum Ausdruck kommt. So wurde der organisatorische Aufbau der Zionistischen Weltorganisation seit damals bis heute aufrechterhalten. 2. Prozesse in der jüdischen Diaspora Seit der Existenz des Staates Israel fragt sich die zionistische Bewegung, was ihr spezifischer Weg angesichts der Prozesse, welche die jüdische Diaspora durchläuft, einerseits und der Beziehung zwischen dem Staat Israel und dem Judentum andererseits ist. Es gab verschiedene Versuche, diesen Prozess zu analysieren und die Rolle der Zionistischen Weltorganisation neu zu definieren. Ich will nicht den ganzen Umfang dieser Bemühungen und der entsprechenden Schlussfolgerungen beschreiben. Ich möchte mich auf die aktuellen Probleme beschränken, mit denen das Aktionskomitee konfrontiert sein wird. Die jüdische Diaspora beschäftigt sich heute mit der jüdischen Identität angesichts der zunehmenden Assimilation. Es besteht in der heutigen Zeit kein Kampf um die gesetzliche Gleichberechtigung als nationale Minderheit. Im Mittelpunkt stehen jetzt erzieherische, wirtschaftliche und kulturelle Herausforderungen, um die Existenz und die Kontinuität zu sichern. Dies ist der Hintergrund für die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und religiösen Strömungen, zwischen der humanistischprogressiven Auffassung des Judentums und dem orthodoxen religiösen Establishment. Es gibt keine Zersplitterung gemäß den Parteiideologien mehr, die in der jüdischen Gesellschaft im ‚Schtetl‘ und auch in den jüdischen Konzentrationen in den Städten im Hinblick auf das Wesen der zionistischen Verwirklichung vor der Gründung des Staates Israel herrschten. Es geht um den Kampf gegen den Antisemitismus als einen Faktor in den globalen Aktionen gegen den Rassismus und um die Solidarität mit dem Staat Israel. 225

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Wir müssen unsere Position in dieser neuen Situation klarstellen. In der Vergangenheit verneinten wir die Losung von Vladimir Jabotinsky, dem Führer der Revisionistischen Partei: ‚Liquidierung der Diaspora‘. Wir waren im Gegenteil der Meinung, dass, solange eine jüdische Gemeinschaft existiert, wir diese innerlich stärken sollten. An der Konferenz von Emissären und Aktivisten im Jahre 1946 [über die ich berichtet habe] erklärte Meir Yaari: ‚Wir sind der Kompass der Gehenden und ein Anker für die Bleibenden.‘ [Zur Erinnerung: 1946 wanderten Zehntausende von Juden durch Europa, um letztendlich in Palästina eine neue Heimat aufzubauen.] Ich bin der Auffassung, dass wir aufgrund des fortschrittlichen Judentums und der zionistischen Erziehung in einem weiten Rahmen der jüdischen Öffentlichkeit die Funktion eines aktiven Kerns erfüllen müssen. 3. Die Beziehungen des Weltjudentums zum Staat Israel Der Staat Israel ist eine wichtige Komponente im jüdischen Bewusstsein der Juden in der Diaspora. Man kann dies an drei Dimensionen erkennen: – am jüdischen Erziehungssystem, – an der persönlichen Identifizierung, wobei unter anderem an die Alija, Besuche, erzieherische Tätigkeiten und finanzielle Leistungen zu denken ist, sowie – an der politischen Verteidigung der lebenswichtigen Interessen des Staates Israel. Auf allen diesen Gebieten besteht ein weitgehender Konsens im Judentum. Jedenfalls ist es ein Primat der Zionistischen Weltorganisation. Unser Platz ist bei all diesen organisierten Aktivitäten. 4. Die zionistische Bewegung – Quo vadis? Zusammenfassend bringt mich diese Analyse zu der Schlussfolgerung, dass die Zionistische Organisation heute nicht besonders relevant ist. Das historische Wahlsystem wird gemäß den Statuten bis heute aufrechterhalten. Hier und dort finden wirkliche Wahlen statt, wie früher auf der Basis des Erwerbs des Schekels. Nur ein kleiner Teil der Juden in den lokalen Gemeinden nimmt daran teil. Die Wahrheit ist, dass das ganze System anachronistisch ist. Es gibt heute in den jüdischen Gemeinden keine Parteiendifferenzierung mehr. Die Wahlen zum Zionistischen Kongress stützen sich jedoch immer 226

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noch auf Parteien, die ihren offiziellen Rahmen aufrechterhalten und sehr oft die Vertretung auf dem Kongress durch ein Abkommen zusammenstellen. Beim Kongress selbst besteht bis heute die politische Einteilung, die der verhältnismäßigen Stärke in der Knesset entspricht. Trotzdem ist die Zusammensetzung des Kongresses und des zionistischen Aktionskomitees ein gewisser Ausdruck der politischen Auffassung der Juden in der Welt. Sie hat jedoch keinen Einfluss auf die politische Arena in Israel.“ Soweit die prinzipielle Darstellung des Dilemmas des modernen Zionismus angesichts der Nachkriegssituation des jüdischen Volkes. Im zweiten Teil des Entwurfs befasste ich mich mit den praktischen Konsequenzen dieser Analyse: „5. Zusammenschluss der Organisationen Heute ist die Zionistische Weltorganisation ein integraler Teil der Jewish Agency. Im Jahre 1929 gründete Chaim Weizmann die Jewish Agency als Organisation, die das zionistische Werk unterstützen sollte.97 Ihre Mitglieder sollten für Israel einstehen und die angeschlossenen Vereine und Institute sollten bei der Schaffung des ‚nationalen Heims‘ behilflich sein. Heute sind jedoch zwei Parallelorganisationen nicht mehr gerechtfertigt, da sozusagen alle jüdischen Organisationen in der Welt ‚pro Israel‘ eingestellt sind. Es besteht eine doppelte Struktur und damit eine funktionelle Unklarheit. Ich schlage vor, diese Trennung aufzuheben und eine große Dachorganisation zu bilden. Die Solidarität mit dem jüdischen Staat ist heute ein Verbindungsglied zwischen der Mehrheit des jüdischen Volkes.“ Dieses Dokument diente zunächst als Grundlage für eine zweitägige Konferenz zum ideologischen Standpunkt der Merez-Partei. Der Vorsitzende der Partei, Yossi Beilin, fasste die Ergebnisse in seiner abschließenden Rede zusammen. Er war mit meiner grundlegenden Auffassung einverstanden und hatte seinerseits einen weiter gehenden Vorschlag: die Errichtung eines Parlaments des jüdischen Volkes. Einzelheiten müssten ausgearbeitet werden, doch die Tendenz sei, dass jeder Jude durch Kauf eines Schekels das Stimmrecht erwerben könne. Die

97 Die Jewish Agency wurde 1922 gegründet, aber 1929 grundlegend umgebildet (vgl. das Glossar).

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Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“

großen Strömungen im jüdischen Volk würden sich in der Abstimmung um eine entsprechende Repräsentation bemühen. Die Bedingungen waren jedoch noch nicht reif für eine Reorganisation der Vertretung des jüdischen Volkes auf demokratischer Basis. Unterdessen einigten sich die Jewish Agency und die Zionistische Weltorganisation auf minimale Korrekturen ihrer Beziehungen und auf eine Änderung der Statuten. Immerhin war das Bewusstsein, dass sich die Lage des jüdischen Volkes nach der Schoah sowie der Gründung des jüdischen Staates wesentlich verändert hatte und dies eine Reaktion erforderte, stärker geworden. Die Führung des Judentums musste sich mit der Festlegung neuer Richtlinien in den Beziehungen zwischen dem Judentum in der Diaspora und Israel beschäftigen. Mit dieser Debatte leistete die Fraktion des sozialistischen Zionismus einen wichtigen Beitrag in die dargelegte Richtung. Ich veröffentlichte dazu einige Artikel in der israelischen Presse. Zwar ist es schwierig, die anerkannte Struktur einer so komplizierten öffentlichen Körperschaft wie der Jewish Agency zu ändern, doch immerhin sind die ersten Schritte unternommen worden.

Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“ In zwei Amtsperioden übte ich Funktionen in der regionalen Schule „Ejnot Hajarden“ – „Quellen des Jordan“ – aus. In der Vergangenheit war dies ein „Erziehungsinstitut des Haschomer Hazair im Galil Eljon“, dem Oberen Galiläa, gewesen. Alle Institute des Kibbuz-Arzi-Landesverbandes trugen seit dem ersten regionalen Institut in Mischmar Haemek den Namen des Haschomer Hazair. Übrigens war eine der ersten Gruppen von Absolventen der Mittelschule in Mischmar Haemek Mitbegründer des Kibbuz Lehavot Habaschan im Jahr 1945. Mit dem Anwachsen der Kibbuzbewegung wurden viele solcher Regionalschulen geschaffen. 1953 gründeten die Kibbuzim Amir, Schamir, Lehavot Habaschen, Dan und später auch Snir das gemeinsame Institut in Amir. 98 Damals 98 Der Kibbuz Amir liegt in der Hulaebene und wurde 1939 während des damaligen arabischen Aufstandes gegründet. Wirtschaftlich stützt er sich vor allem auf den Anbau von Obst und Baumwolle. Derzeit leben dort rund 550 Einwohner. Der Kibbuz Dan liegt

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Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“

großen Strömungen im jüdischen Volk würden sich in der Abstimmung um eine entsprechende Repräsentation bemühen. Die Bedingungen waren jedoch noch nicht reif für eine Reorganisation der Vertretung des jüdischen Volkes auf demokratischer Basis. Unterdessen einigten sich die Jewish Agency und die Zionistische Weltorganisation auf minimale Korrekturen ihrer Beziehungen und auf eine Änderung der Statuten. Immerhin war das Bewusstsein, dass sich die Lage des jüdischen Volkes nach der Schoah sowie der Gründung des jüdischen Staates wesentlich verändert hatte und dies eine Reaktion erforderte, stärker geworden. Die Führung des Judentums musste sich mit der Festlegung neuer Richtlinien in den Beziehungen zwischen dem Judentum in der Diaspora und Israel beschäftigen. Mit dieser Debatte leistete die Fraktion des sozialistischen Zionismus einen wichtigen Beitrag in die dargelegte Richtung. Ich veröffentlichte dazu einige Artikel in der israelischen Presse. Zwar ist es schwierig, die anerkannte Struktur einer so komplizierten öffentlichen Körperschaft wie der Jewish Agency zu ändern, doch immerhin sind die ersten Schritte unternommen worden.

Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“ In zwei Amtsperioden übte ich Funktionen in der regionalen Schule „Ejnot Hajarden“ – „Quellen des Jordan“ – aus. In der Vergangenheit war dies ein „Erziehungsinstitut des Haschomer Hazair im Galil Eljon“, dem Oberen Galiläa, gewesen. Alle Institute des Kibbuz-Arzi-Landesverbandes trugen seit dem ersten regionalen Institut in Mischmar Haemek den Namen des Haschomer Hazair. Übrigens war eine der ersten Gruppen von Absolventen der Mittelschule in Mischmar Haemek Mitbegründer des Kibbuz Lehavot Habaschan im Jahr 1945. Mit dem Anwachsen der Kibbuzbewegung wurden viele solcher Regionalschulen geschaffen. 1953 gründeten die Kibbuzim Amir, Schamir, Lehavot Habaschen, Dan und später auch Snir das gemeinsame Institut in Amir. 98 Damals 98 Der Kibbuz Amir liegt in der Hulaebene und wurde 1939 während des damaligen arabischen Aufstandes gegründet. Wirtschaftlich stützt er sich vor allem auf den Anbau von Obst und Baumwolle. Derzeit leben dort rund 550 Einwohner. Der Kibbuz Dan liegt

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Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“

wurden die Schulen als Internat geführt, das heißt, die Schüler schliefen im Institut, die Lehrer hingegen nicht. Die Schüler verbrachten 22 Stunden täglich in der Schule, in den beiden übrigen Stunden fuhren sie „nach Hause“, also in ihren Kibbuz, und waren mit ihren Familien zusammen. Die Mahlzeiten, auch die Abendessen, nahmen sie im Speisesaal der Schule ein. Zwischen den beteiligten Kibbuzim wechselte im Turnus die Zuständigkeit, wer die Mahlzeiten kochte und wer die Küche sowie den Speisesaal leitete. Als die Reihe an Lehavot Habaschan kam, erfüllte ich die Funktion eines Küchenleiters der Schule. Es gab damals im Kibbuz ein Rotationssystem mit verschiedenen gesellschaftlichen Diensten. Mit mir waren noch zwei Kibbuzkameraden in unserem Team. Wir kochten nicht, sondern wärmten das vorbereitete Essen auf und sorgten für eine geordnete Verteilung der verschiedenen Gänge an die Schüler, die Lehrer und das Personal. Nach dem Ende der Mahlzeit wuschen wir das Geschirr und die Töpfe, wobei die Schüler, die Küchendienst hatten, halfen. Diese Funktion erfüllte ich während anderthalb Jahren. Geraume Zeit später, 1989, wurde ich dann von den Kibbuzim zum Direktor des regionalen Erziehungsinstituts gewählt. Zusammen mit dem pädagogischen Leiter hatte ich die Verantwortung gegenüber dem Erziehungsministerium. Wir mussten uns mit schwerwiegenden Problemen auseinandersetzen. Das Institut in Amir hatte kein spezifisches Lehrprogramm, das sich an den Zielen unserer Organisation orientierte, und es fanden auch keine gesellschaftlichen Aktivitäten im Geiste des Haschomer Hazair statt. In diesen Jahren schränkten die Kibbuzim ihre ideologische Dimension ein. Dies beeinflusste natürlich das erzieherische Werk. Es gab aber noch einen weiteren Grund: In der Nähe befand sich ein anderes gutes Erziehungsinstitut. Diese Schule im Kibbuz Dafne war von den Kibbuzim der zweiten Kibbuzbewegung gegründet worden, die sich ideologisch vom Haschomer Hazair unterschied.99 Mit der Zeit wurden die Unterschiede geringer, bis sich 1999 die zwei Kibbuzbewegungen „Vereinigte ebenfalls in dieser Gegend, nahe der libanesischen Grenze am Fuße der Golanhöhen. Nicht weit entfernt entspringt der Dan, der wichtigste Quellfluss des Jordan. Der Kibbuz ist auch eine Gründung von 1939. Bekannt sind seine Forellenzucht und ein Naturreservat. Zu den Kibbuzim Schamir und Snir siehe Anm. 63 und 79. 99 Der Kibbuz Dafne liegt am Dan im Hulatal im Oberen Galiläa nahe der Grenze zum Libanon. Er wurde 1939 von Einwanderern gegründet, die hauptsächlich aus Polen und Litauen kamen. Im Unabhängigkeitskrieg fanden hier heftige Abwehrkämpfe gegen syrische und libanesische Truppen statt, ebenso in den benachbarten Kibbuzim Dan und Kfar Szold, mit denen Dafne auch weiterhin eng zusammenarbeitete. Dafne ist für seine Schuh­

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Die regionale Mittelschule „Ejnot Hajarden“

Kibbuzim“ und „Kibbuz-Arzi – Haschomer Hazair“ in einer großen allgemeinen Kibbuzbewegung zusammenschlossen. Das Institut in Amir stand vor einem Scheideweg: Die Zahl der Schüler sank. Die Festlegung als „Erziehungsinstitut des Haschomer Hazair“ erlaubte es nicht, neue Schüler zu gewinnen, die sich außerhalb des bestehenden Rahmens befanden. Nicht weniger kritisch war die finanzielle Lage. Die Kibbuzim hatten Schwierigkeiten, die Ausgaben des Instituts mit so wenigen Kindern zu tragen. Darüber hinaus beeinträchtigte die finanzielle Krise das Niveau des Unterrichts, und ich gelangte zu der Einsicht, dass das Institut in dieser Form keine Existenzberechtigung mehr habe. Als Leiter musste ich mich vor allem mit finanziellen und organisatorischen Problemen befassen. Gleichzeitig widmete ich den pädagogischen und erzieherischen Fragen viel Aufmerksamkeit. Es wurde eine Kommission gebildet, um die Zukunft des Instituts zu klären. Natürlich gab es Stimmen, welche die Auflösung forderten und die Kinder an die bestehenden Regionalschulen in Galiläa schicken wollten. Auch das Erziehungsministerium verlangte dies, und die Leitung des Regionalrates im Oberen Galiläa sah keine Zukunft für dieses Institut. Der pädagogische Direktor und ich waren hingegen der Meinung, dass alles unternommen werden müsse, um der Schule eine neue Perspektive zu geben. Wir waren uns der öffentlichen Meinung in den Kibbuzim bewusst und registrierten den Beginn des Prozesses struktureller gesellschaftlicher Veränderungen. Uns wurde klar, dass wir die Richtung ändern, eine neue Konzeption der Schule ausarbeiten und den Rahmen des „Instituts des Haschomer Hazair“ aufbrechen mussten. Nach vielen grundlegenden Diskussionen und zahlreichen Kontakten mit dem Erziehungsministerium und dem Erziehungspersonal wurde beschlossen, eine „Demokratische Schule“ auf der Basis einer humanistischen Erziehung sowie jüdischer und menschlicher Werte zu schaffen, die allen Interessierten offenstand. Die Schüler und die Eltern sollten aktiv an der Führung der Schule teilnehmen. Während mehr als 15 Jahren erwarb sich die Schule tatsächlich einen sehr guten Ruf, und heute lernen dort 380 Kinder aus der ganzen Gegend, von Zfat bis Metulla, sie kommen sogar von den Golanhöhen. Ich persönlich gab meine Funktion in der Schule auf, als der Übergang zum neuen System in vollem Gang war. Im Rückblick war diese Aufgabe der Umgestaltung und der grundlegenden Neuausrichtung schwierig, aber zufrie-

industrie bekannt, daneben für landwirtschaftliche Produkte. Darüber hinaus befindet sich hier ein regionales Schulzentrum für die umliegenden Kibbuzim.

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Chasia und ich

denstellend – zumal es uns gelungen war, der Forderung aus den Kibbuzim, die Schule zu schließen, nicht nachzugeben.

Chasia und ich 66 Jahre kannten wir uns, Chasia und ich, und seit Herbst 1947 lebten wir in einer innigen Gemeinschaft und wunderbaren Partnerschaft zusammen. Dies ist nicht selbstverständlich, denn wir beide kamen, wie es schien, aus ganz verschiedenen Welten. Bis wir uns kennenlernten, hatten wir beide recht unterschiedliche Lebenserfahrungen erworben. Geboren in der Stadt Grodno, war Chasia in jungen Jahren in einer Gemeinde aktiv, die tief in jüdischen Werten verwurzelt war. Die Familie führte das typische Leben der Mittelschicht in einer Atmosphäre jüdischer Tradition, wie es Chasia und Heini Bornstein mit ihren Töchtern 1989 in Treblinka, wo Chasias Familie ermordet wurde.

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denstellend – zumal es uns gelungen war, der Forderung aus den Kibbuzim, die Schule zu schließen, nicht nachzugeben.

Chasia und ich 66 Jahre kannten wir uns, Chasia und ich, und seit Herbst 1947 lebten wir in einer innigen Gemeinschaft und wunderbaren Partnerschaft zusammen. Dies ist nicht selbstverständlich, denn wir beide kamen, wie es schien, aus ganz verschiedenen Welten. Bis wir uns kennenlernten, hatten wir beide recht unterschiedliche Lebenserfahrungen erworben. Geboren in der Stadt Grodno, war Chasia in jungen Jahren in einer Gemeinde aktiv, die tief in jüdischen Werten verwurzelt war. Die Familie führte das typische Leben der Mittelschicht in einer Atmosphäre jüdischer Tradition, wie es Chasia und Heini Bornstein mit ihren Töchtern 1989 in Treblinka, wo Chasias Familie ermordet wurde.

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im Polen des frühen 20. Jahrhunderts üblich war. Während der Schoah erlitt die Familie gemeinsam die brutalen Maßnahmen bis hin zu den Deportationen. Die ganze Familie wurde nach Treblinka gebracht und dort ermordet. Chasia selbst war seit ihrem zwölften Lebensjahr Mitglied des Haschomer Hazair, engagierte sich in der Widerstandsbewegung, kämpfte und überlebte. Ihre Lebensgeschichte hat sie in ihrem Buch geschildert, das bereits in vier Sprachen erschienen ist: Das hebräische Original – Eine von Wenigen  – Der Weg einer Kämpferin und Erzieherin – wurde ins Englische, Deutsche – Mein Weg als Widerstandskämpferin – und Russische übersetzt. Nach dem Krieg und der Befreiung übernahm sie eine weitere Aufgabe: Sie eröffnete in Lodz das erste Heim für Kinder, Holocaustüberlebende und übrig gebliebene Mitglieder jüdischer Familien, meistens Waisenkinder. Ich hingegen bin in der ruhigen Schweiz geboren. Meine Familie hatte die gleichen Wurzeln wie Chasias Familie: ein „polnisches“ Haus, das heißt, sie kam aus Polen. Nahum Goldmann sagte einmal, es gebe in 70 Ländern Juden, und alle kämen aus Polen. Ich habe bereits die jüdische und zionistische Atmosphäre beschrieben, die in unserem Haus herrschte. Man kann also sagen, dass ich in einem ähnlichen Lebensstil aufwuchs wie Chasia. Jedoch erlitt ich die Schoah nicht persönlich: Ich lebte in der Schweiz, geschützt vor den Feindseligkeiten des Zweiten Weltkrieges und den Verfolgungen der Nazis. Die jüdischen Fundamente wurden damals an verschiedenen Orten gelegt, besonders aber in Polen und ganz Osteuropa. Die meinen verdanke ich der Atmosphäre in meinem Elternhaus. Darüber hinaus aber war ich natürlich auch äußerlichen Einflüssen ausgesetzt – der Schule, dem Militärdienst, dem öffentlichen Leben, dem schweizerischen Lebensstil in meiner Umgebung. Die Bücher, die ich las, die Musik, die ich hörte, das Theater, das ich sah – all dies war in der deutschen Kultur verankert. Ich schrieb auf Deutsch, führte meine Gespräche in deutscher Sprache und sprach auch bei meinen öffentlichen Auftritten deutsch. Über Chasia wusste ich schon viel, bevor ich sie persönlich kennenlernte. Ich war beeindruckt von ihrem Engagement und bezaubert von ihrer Persönlichkeit. Während all der Kriegsjahre hatte ich engen Kontakt mit den Freunden und Kampfgenossen Chasias in Polen, so mit Tosia Altmann, Chaika Klinger, Josef Kaplan und vielen anderen, die an der Spitze der jüdischen Widerstandsbewegung standen. Ich bekam ausführliche Berichte über den Widerstand in Białystok. Schon damals bewegte mich besonders die Geschichte der fünf jüdischen Mädchen, welche als Polinnen getarnt auf der arischen Seite des Ghettos aktiv waren, als Kontaktpersonen zu den Ghettokämpfern dienten und nach der Liquidierung 232

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des Ghettos mit den Partisanen zusammenarbeiteten. Ursprünglich waren es 17 Mädchen gewesen, doch nur fünf überlebten den Krieg. Die erste unmittelbare Zeugenaussage hörte ich von Chaika Grossman, der späteren Vizepräsidentin des israelischen Parlaments. Sie traf ich zum ersten Mal im August 1945 in Brüssel, als ich an einer Zusammenkunft der „Zentrale der Jüdischen Brigade für die überlebenden Juden der Schoah“ teilnahm. Sie war eine der „fünf Mädchen in Białystok“. Nachdem der Widerstand in Białystok endgültig gebrochen war, schmuggelte sie sich auf die arische Seite, um sich, ebenfalls als Polin getarnt, der Gruppe der Kontaktmädchen anzuschließen. Sie wohnte von da an fast ein Jahr lang, bis zur Befreiung Białystoks durch die Rote Armee, im Zimmer von Chasia, und die beiden schliefen zusammen in einem schmalen Bett. Im Dezember 1945 bereitete ich die erste Europäische Konferenz des Haschomer Hazair nach der Schoah vor, die dann Anfang Januar 1946 in Fontainebleau bei Paris stattfand. Ich bekam ein Telegramm aus Warschau, unterschrieben von Chaika Grossman – sie gehörte der Zentralleitung der Juden Polens und der Exekutive des wiedererstandenen Haschomer Hazair in Polen an. Es lautete: „Zur Konferenz in Paris werden in der Delegation aus Polen Chasia Bielicka und zwei weitere Kameraden kommen.“ Ich werde den Moment nicht vergessen, als die polnische Delegation in den Saal trat, wo die Konferenz vollständig versammelt war – infolge der immer noch bestehenden Transportschwierigkeiten kamen sie von Warschau über Prag und damit erst einen halben Tag nach Eröffnung der Konferenz. Es war Mittagessenszeit, und in diesem Moment wurde alles still. Chasia setzte sich neben mich. In ihrem Buch schrieb sie später, ich hätte sie nicht essen lassen und mit Fragen bombardiert. Tatsächlich waren ja für mich bei meiner Korrespondenz mit der Untergrundbewegung in Polen während der Kriegszeit, die meist in einer Geheimschrift verfasst war, viele Fragen offengeblieben. Vielleicht übertrieb ich wirklich. Nachdem der Emissär aus Palästina, Simcha Flapan, erklärt hatte, wer ich sei, beruhigte sich Chasia. Vom ersten Moment an faszinierte sie mich. Man spricht oft leichthin von der Liebe auf den ersten Blick, aber so war es wirklich. Dabei weiß ich nicht, was als Erstes meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Grunde begann es mit ihrer äußerlichen Erscheinung: Sie trug einen Rock und eine russische Bluse, geschmückt mit den sowjetischen Medaillen, den Auszeichnungen für ihre Taten während des Krieges, dazu hohe Stiefel. So stellte ich mir in meiner Fantasie Soja Kosmodemjanskaja vor, die berühmte Heldin der Roten Armee, auf die wir Lieder sangen. Am Abend lauschte die ganze Konferenz den Berichten der polnischen Delegation. Auch Chasia erzählte von ihren Erlebnissen aus dem Widerstands233

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kampf. Ihre Darlegungen wurden von Zeit zu Zeit unterbrochen, und sie war ebenso erregt wie die Zuhörer. Nachdem sie geendet hatte, erhob sich die ganze Versammlung und sang spontan die jüdische Nationalhymne „Hatikva“.100 Viele konnten ihre Ergriffenheit nicht verbergen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich begleitete Chasia später zu ihrem Zimmer, wir beide schwiegen. Während der drei Tage näherte ich mich ihr an, und ich hatte das Gefühl, dass auch sie meine Nähe suchte. Bei unserer Verabschiedung in Paris machte ich den Vorschlag, für sie und ihren Delegationskameraden Israel Szklarc Visa für einen zweiwöchigen Besuch in der Schweiz zu besorgen. Beide gingen gerne auf das Angebot ein und hofften, in der Schweiz Urlaub machen zu können. Zunächst fuhren sie nach Belgien und Holland, um die Soldaten der Jüdischen Brigade zu treffen, die dort stationiert waren. Bei ihrer Rückkehr nach Paris erhielten sie die Visa im schweizerischen Konsulat und sandten mir ein Telegramm, dass sie mit dem Zug nach Genf kommen würden. Ich erwartete sie in großer Vorfreude, besonders natürlich wegen Chasia. Am Bahnhof in Genf überraschte ich sie mit meinem Plan: Ich hatte eine Vortragstour in verschiedene Städte vorbereitet, nach Basel, Biel, Genf und Zürich. Sie würden die ersten Zeitzeugen der Schoah des polnischen Judentums und des Widerstands gegen die Nazis sein, die in der Schweiz auftraten. Die Vorträge sollten mit einer Sammelaktion verbunden werden, um etwas Geld für die Waisenhäuser in Lodz und Warschau zusammenzubekommen. Zum Schluss, so versprach ich ihnen, gebe es dann einen Ferienaufenthalt in Davos. Sie waren überrascht, stimmten aber zu. So fuhren wir drei im Zug von Genf nach Basel. Sie wohnten bei mir zu Hause, also in der Wohnung meiner Eltern. Wir hatten ein freies Zimmer, und ich räumte mein Zimmer und schlief im Salon. Wir kamen spätnachmittags in unserer Wohnung an, und meine Mutter bereitete ein feierliches Abendessen vor. Vom ersten Moment an, nachdem wir die Wohnung betreten hatten, herrschte eine freudige und aufgeregte Stimmung. Sie sprachen untereinander ein unverstelltes Jiddisch. Meine Mutter war sehr aufmerksam und verfolgte jeden Gefühlsausdruck – in ihrer Vorstellung sah sie wohl schon, was sich hier entwickeln würde. Sie verbarg nicht ihr Glück, ein „jiddisches Maidl“ in meiner 100 Den Text der Hatikva – „Die Hoffnung“ – dichtete 1877/78 Naphtali Herz Imber (1856– 1909), die Melodie komponierte vermutlich 1888 Samuel Cohen (1870–1940) unter Verwendung von Elementen verbreiteter Volkslieder. Seit 1897 ist das Lied die Hymne der zionistischen Bewegung, seit der Staatsgründung die Nationalhymne Israels.

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Gegenwart zu sehen. Entsprechend herzlich und zugewandt war sie Chasia gegenüber. Mutter und Vater waren sehr daran interessiert, jede Einzelheit über das Schicksal der Juden Polens zu erfahren. Die Familie meines Vaters war gerettet worden, waren doch alle in der Vorkriegszeit in die Schweiz gekommen, die Familie meiner Mutter war hingegen in Polen geblieben und vollständig ausgelöscht worden. Das letzte Treffen der Mutter mit der Familie hatte 1928 stattgefunden, als sie mit meiner damals sechsjährigen Schwester Polen besucht hatte. Die erste Versammlung fand am nächsten Tag in Basel statt, und die gesamte jüdische Gemeinde war anwesend. Während des ganzen Abends herrschte eine gespannte Stille, als Chasia und Israel Szklarc das tödliche Schicksal der drei Millionen polnischen Juden beschrieben und ihre persönlichen Erlebnisse erzählten. Sie sprachen Jiddisch, und auch die „Jeckes“, die Juden aus Deutschland, nahmen teil. So war es auch in den anderen Städten. Unterdessen nahm ich Kontakt mit der Führung des schweizerischen Judentums auf. Alle halfen bei unserer Sammelaktion, tätigten Telefonanrufe. Nach zwei Wochen kam eine beachtliche Summe zusammen – 150.000 Franken. Chasia hat in ihrem Buch ihre Eindrücke und ihren Kommentar zu dem Treffen mit den Schweizer Juden niedergeschrieben. Sie und Israel dankten mir für meine Initiative – immerhin war es eine ordentliche Menge Geld für das damalige Nachkriegspolen, das auf dem Schwarzmarkt noch viel mehr wert war. Sie waren glücklich, eine solche Summe zur Finanzierung ihrer Aktivitäten nach Polen mitnehmen zu können. Wie versprochen fuhren wir für eine Woche zur Erholung nach Davos. Insgesamt vertiefte sich während dieser zwei Wochen die Beziehung zwischen uns. Ich lernte ihre Menschlichkeit kennen, und meine persönliche Identifikation mit Chasia, mit ihrem Weg und ihrem mutigen Handeln wandelte sich in dieser Zeit in der Schweiz zu einem Verhältnis der Freundschaft und letztlich auch der Liebe. Wir verabschiedeten uns beide mit dem klaren Gefühl, dass wir einen gemeinsamen Weg in unserem Leben begonnen hatten. Als Abschiedsgeschenk kaufte ich ihr eine goldene Uhr mit der Inschrift „Für Chasia mit Liebe – dein Heini“. Als wir nach Davos gefahren waren, hatte ich ihr eine Hose von mir gegeben, waren doch ihre ohnehin bescheidenen Kleider nicht für den Winter und den Schnee in der Schweiz geeignet. Sie erzählte später, dies sei die erste Hose gewesen, die sie jemals getragen habe, und sie habe sie nicht ausgezogen, bis sie wieder in Polen gewesen sei. Je mehr wir uns einander annäherten, desto deutlicher wurde uns beiden bewusst, dass wir vieles gemeinsam hatten. Trotz der großen räumlichen Distanz – sie in Grodno und ich in Basel – hatten wir die gleichen Jugendfreuden 235

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erlebt. Wir waren beide von früh an im Haschomer Hazair gewesen. Dies begann schon mit äußerlichen und symbolischen Dingen: Wir hatten die gleichen Uniformhemden getragen, ich in Blau, sie in Grau, da im Vorkriegspolen jede „sozialistische“ Erscheinung verboten gewesen war. Wir hatten die gleichen Symbole auf unseren Hemden gehabt, sogar mit den gleichen Bezeichnungen der erzieherischen Altersklassen. Wir waren mit den gleichen Werten erzogen worden, und später erzogen wir selbst mit diesen Werten. Mit unserem Erwachsenwerden hatten wir die gleiche ideologische Weltanschauung des sozialistischen Zionismus verinnerlicht. Beide waren wir den Zielen der Bewegung treu, wir beabsichtigten, nach Palästina auszuwandern und im Kibbuz zu leben. Die „Zehn Gebote des Haschomer Hazair“ waren unsere moralische Richtlinie – auch das zehnte Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit bis zum Leben im Kibbuz! Die gemeinsame geistige Welt und die persönliche seelische Nähe führten uns beide zu einem neuen, einem gemeinsamen Lebensweg. Chasia hatte Angst davor gehabt, zur Konferenz nach Frankreich zu kommen. Sie war besorgt gewesen, die Kluft zwischen ihr und den Leuten, welche die Schoah nicht mitgemacht hatten, sei unüberbrückbar. Ich glaube, dass die Verbindung mit mir, der ich von den Folgen des Vernichtungskrieges der Nazis erschüttert war und mit Hilfs- und Rettungsaktionen von der Schweiz aus einzugreifen versucht hatte, ihr den Übergang zu ihrem neuen Leben erleichterte. Mein Streben war hauptsächlich auf die Zukunft gerichtet: Ich war optimistisch, erfüllt von dem Glauben, dass wir gemeinsam eine neue Zukunft zu bauen vermochten. Im Grunde hatte Chasia nach dem Krieg den gleichen Willen, alles von Neuem zu beginnen. So eröffnete sie, wie erwähnt, sofort nach der Befreiung das erste Kinderhaus für jüdische Kinder, Überlebende des Holocaust und Waisenkinder. Ich glaube, wir beide fanden in unserer Gemeinschaft die Erfüllung unseres Lebenssinns. Als wir uns nun nach ihrem zweiwöchigen Aufenthalt in der Schweiz voneinander verabschiedeten, glaubten wir, uns bald wiederzusehen. Doch wir wurden enttäuscht: Anderthalb Jahre vergingen, bis wir uns wiedertrafen. In dieser Zeit schrieben wir uns gegenseitig Briefe auf Jiddisch. Von meinem Jiddisch erzählte ich schon, doch wir verstanden uns gegenseitig. Die Wertschätzung, die Bewunderung und die wechselseitige Faszination vereinigten sich zu einem warmen und tiefen Gefühl. Im Dezember 1946 fand der 22. Zionistenkongress in Basel statt. Die Bewegung in Polen wählte Chasia in der nationalen polnischen Vertretung als eine der Delegierten. Ich sandte ihr wie den anderen Delegierten auch alle entspre236

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chenden Dokumente und das Zugticket. Doch sie war nicht bereit, das Kinderheim in Lodz für zehn Tage zu verlassen. Die Kameraden überbrachten mir Briefe von ihr, und Chaika Grossman erzählte mir von Chasias Arbeit. Auch andere Versuche, sie zu treffen, gelangen nicht. Im August 1946 besuchte ich Polen, um an der Landeskonferenz des Haschomer Hazair teilzunehmen. Ich war in Warschau, Lodz und anderen Orten. Doch Chasia war mit ihrem ganzen Kinderheim bereits in den DP-Lagern in Deutschland und befand sich auf dem illegalen Weg nach Palästina. In den Monaten Februar bis April 1947 war ich in Paris. Ich arbeitete zusammen mit Ehud Avriel, der damals für die Organisation der illegalen Einwanderung nach Palästina verantwortlich war. Anfang April rief mich Ehud an und sagte mir, dass sich Chasia in einem kleinen Hafen nahe Marseille befinde, um schon bald auf einem Schiff illegal nach Palästina zu fahren. Mir schien, als wisse ganz Europa von meiner Beziehung mit Chasia. „Ich habe dir für den heutigen Nachtzug einen Liegeplatz nach Marseille gebucht. Dort wird man dich erwarten und in das kleine Städtchen Sète führen, wo sich Chasia befindet“, überraschte mich Ehud. Doch als ich in Marseille ankam, teilte mir der Vertreter des jüdischen Geheimdienstes mit, die „Theodor Herzl“ sei vor zwei Stunden in das Mittelmeer ausgelaufen. Enttäuscht fuhr ich nach Paris zurück. Schließlich wanderte ich im Mai 1947 ebenfalls nach Palästina aus. Den Weg über Zypern, Atlit und Gan-Schmuel bis Lehavot Habaschan habe ich bereits beschrieben. Hier in unserem Kibbuz begann dann endlich unser neues Leben in Harmonie und gegenseitiger Liebe. Unsere gemeinsamen Wurzeln im Haschomer Hazair gestalteten unsere geistige, intellektuelle und politische Welt. Wir gründeten eine wunderbare Familie. Mir war Chasia stets eine sehr wertvolle Ehepartnerin, unseren Töchtern war sie eine fürsorgliche Mutter, und sie hat immer gute Beziehungen zu den Schwiegersöhnen gehabt, denen sie sehr zugetan war. Mit den Jahren war sie darüber hinaus eine umsorgende und reichlich gebende Großmutter für ihre Enkel und deren Familien sowie für unsere Urenkel. Kurz: Sie war stets ein Vorbild für uns alle. Jahrelang schlug ich Chasia vor, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben. Erst nach vielen Jahren war sie einverstanden. Das zunächst auf Hebräisch erschienene Buch ist ein Zeugnis ihrer erstaunlichen Persönlichkeit und zeigt in seiner zurückhaltenden Bescheidenheit ihre Geistesgegenwart und ihren Mut, ihre Ergebenheit und ihr Heldentum in all ihrem Handeln. Mit den schon genannten Übersetzungen konnte ein weltweites Publikum ihre Geschichte aus den dunkelsten Tagen der Menschheit verfolgen. Hier konnten die Leser ein 237

Epilog

junges jüdisches Mädchen kennenlernen, das trotz allem Schrecklichen, das sie erlebt hatte, niemals die Hoffnung verlor und niemals am Wert des Menschen in einer besseren Welt zweifelte. Chasia pflegte zu sagen: „Das neue Leben ist mein großer Sieg.“ Und ich fügte hinzu: „Das gleiche Gefühl habe ich auch.“ Am 15. Juli 2012 ist Chasia gestorben.

Heini Bornstein mit Chasia, undatiert.

Epilog Indem ich diese autobiografischen Aufzeichnungen schreibe, schließt sich ein Kreis von meiner Jugendzeit bis zum heutigen Tag. Mehr als achtzig Jahre führte ich ein aktives Leben. Ich wurde in einer historischen Epoche geboren, die für die Menschheit insgesamt und für das jüdische Volk im Besonderen schicksalsreich war. Ich war mit zwei einschneidenden Ereignissen verbunden, die eine dramatische Zäsur bildeten: der Schoah des jüdischen Volkes und der Gründung des Staates Israel. Ich war Zeuge von gesellschaftlichen Revolutionen, die uns begeisterten. Wir begannen, an eine neue Welt zu glauben: 238

Epilog

junges jüdisches Mädchen kennenlernen, das trotz allem Schrecklichen, das sie erlebt hatte, niemals die Hoffnung verlor und niemals am Wert des Menschen in einer besseren Welt zweifelte. Chasia pflegte zu sagen: „Das neue Leben ist mein großer Sieg.“ Und ich fügte hinzu: „Das gleiche Gefühl habe ich auch.“ Am 15. Juli 2012 ist Chasia gestorben.

Heini Bornstein mit Chasia, undatiert.

Epilog Indem ich diese autobiografischen Aufzeichnungen schreibe, schließt sich ein Kreis von meiner Jugendzeit bis zum heutigen Tag. Mehr als achtzig Jahre führte ich ein aktives Leben. Ich wurde in einer historischen Epoche geboren, die für die Menschheit insgesamt und für das jüdische Volk im Besonderen schicksalsreich war. Ich war mit zwei einschneidenden Ereignissen verbunden, die eine dramatische Zäsur bildeten: der Schoah des jüdischen Volkes und der Gründung des Staates Israel. Ich war Zeuge von gesellschaftlichen Revolutionen, die uns begeisterten. Wir begannen, an eine neue Welt zu glauben: 238

Epilog „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt! Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger Alles zu werden, strömt zuhauf! Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale Erkämpft das Menschenrecht.“

Dieser Auszug aus der „Internationale“ drückt aus, was wir damals empfanden.101 Angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums blieb ich kein passiver Zeuge. Ich sah mich dazu gezwungen, aktiv zu werden, Initiative zu ergreifen und alles Mögliche zu tun, um unsere Kameraden in ihrem Widerstand gegen die nazistischen Mörder zu unterstützen und zu stärken. Aber auch das Grundprinzip der Selbstverwirklichung war eine ausschlaggebende Richtlinie für mein ganzes Leben. Die zionistische Vision war für mich ein unverrückbares Ziel – sie war nicht nur eine „Hoffnung“, wie es in der zionistischen und später israelischen Nationalhymne zum Ausdruck kommt, sondern eine persönliche Herausforderung. Der Kibbuz entsprach meinem gesellschaftlichen Ideal und meinem Bild eines Pioniers in der neuen Heimat des jüdischen Volkes. Während all der Jahre meines aktiven Lebens war mir der zionistische Pioniergeist zentraler Inhalt meiner öffentlichen und erzieherischen Tätigkeit. Meine Erinnerungen niederzuschreiben und die Ereignisse im Zusammenhang zu reflektieren, war mit einer Gewissensprüfung verbunden. Da mein 101 Der Text der „Internationale“ entstand unmittelbar nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 und stammt von Eugène Pottier (1816–1887), einem Beteiligten dieser revolutionären Organisation. Pierre Degeyter (1848–1932) komponierte 1888 die Melodie. Das Lied ist dem proletarischen Internationalismus verpflichtet und wurde die Hymne der 1889 gegründeten II., der Sozialistischen Internationale, dann auch der III., der Kommunistischen und ebenso von 1917 bis 1943 die Nationalhymne der Sowjetunion. Darüber hinaus wurde und wird es bei vielen Anlässen sozialistischer Bewegungen gesungen. Die deutschsprachige Nachdichtung schuf Emil Luckhardt (1880–1914) 1910. Daneben gibt es einige abweichende Versionen.

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Epilog

Lebenslauf eng mit den historischen Entwicklungen zusammenhing, erforderte dies, im Rückblick ernsthaft und aufrichtig die eigenen biografischen Bezüge herzustellen. In meinem fortgeschrittenen Alter, wenn ich mich daran mache, mein Leben zusammenzufassen, ist es angebracht, die Ziele, die ich mir einst gesetzt hatte, mit der heutigen Realität zu vergleichen. Dabei ist es wichtig, die objektiven Ereignisse von meinem persönlichen Lebenslauf zu unterscheiden und diesem gesonderte Betrachtungen zu widmen. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Hoffnungen, zugleich aber auch das der tiefsten Enttäuschungen, ein Zeitalter brutalster Verbrechen. Wir erlebten, nur durch wenige Jahre getrennt, die Schoah und die Gründung des Staates Israel. Ich war Zionist und Sozialist, beides bildete die Grundlagen meiner Weltanschauung. Wie aber sehe ich rückblickend meine Vergangenheit? Mit Zorn? Mit Befriedigung? Mit offenen Augen? Wenn die großen Träume von der Zerstörung der alten Welt verwirklicht werden, erwacht nicht immer eine neue Welt in der Form, wie man sie sich vorgestellt hat. Ich glaube, dieser Antagonismus war charakteristisch für das vergangene Jahrhundert, in dem ich meinen Weg suchte. Der Staat Israel entstand und legte erfolgreich alle Prüfungen seiner Existenz ab. Die israelische Gesellschaft entfernte sich aber zunehmend von der Vision der Väter des Zionismus, wie sie in der Gründungserklärung noch formuliert worden war, und auch das Streben nach einer sozialistischen Ordnung schwächte sich erheblich ab. Heute leben die Juden Israels unter einem rechten, einem reaktionären Regime. Es gibt keine Trennung zwischen Staat und Religion, die Vollmachten des Obersten Gerichts werden infrage gestellt. Wir entwickeln uns immer mehr zu einer Gesellschaft, die ihren Prinzipien untreu wird – denen, die Theodor Herzl in Altneuland noch als Grundlagen der „altneuen“ Heimat der Juden betrachtet hat.102 102 Theodor Herzls utopischer Roman Altneuland erschien erstmals 1902 in Leipzig. In ihm lässt er einen genossenschaftlich organisierten Konzern die Besiedlung und infrastrukturelle Erschließung Palästinas leiten. Wirtschaftlich ist das Land an Privateigentum, Markt und genossenschaftlichen Elementen orientiert. Herzl setzt auf modernste Technik wie Elektrifizierung, Schwebebahnen und Luftverkehr. Politisch leben Juden und Araber friedlich zusammen. In die höchsten Ämter werden die nach ihrer Leistung geeignetsten Persönlichkeiten gewählt, ein freier Wahlkampf findet nicht statt. Hauptsprachen sind Deutsch, Hebräisch und Jiddisch. Die Religion nimmt keine herausragende Rolle ein, Staat und Religion sind getrennt. Herzls Gedankenwelt ist stark von (groß-)bürgerlichen Einflüssen bestimmt. Sein Buch stellte er unter das Motto: „Wenn Ihr wollt, / Ist es kein

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Epilog

Auch der Kibbuz hat seinen Charakter verändert. Von einer kollektiven gleichwertigen Lebensführung gingen die meisten Kibbuzim allmählich zu dem individualistischen Prinzip über, die Arbeit und die jeweiligen Funktionen differenziert einzuschätzen und zu bewerten. Jeder hat sein eigenes Budget und muss alles auf eigene Rechnung bezahlen. Die Leistungen für das Gesundheitswesen, für die soziale Sicherung und für die Rente sind hingegen garantiert. Die Erziehung findet inzwischen privat statt, aber Probleme werden gemeinschaftlich erörtert, das Erziehungswesen allgemein und das kulturelle Leben im Kollektiv organisiert. Den „neuen Kibbuz“ charakterisiert eine Verbindung von Individuum und Gesellschaft. Auf junge Menschen übt diese Entwicklung eine große Anziehungskraft aus. Allmählich lernte ich die Prozesse zu analysieren, verstand ich, wie schwierig und komplex es ist, soziale und gesellschaftliche Revolutionen zu verwirklichen. Ich verfolgte den Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion. Die Ereignisse, die ich miterlebte, haben mir bewiesen, dass eine radikale, extreme Einstellung noch keine „neue Welt“ aufzubauen vermag. Während der Jahre meiner öffentlichen Aktivität arbeitete ich vielfach mit jungen Menschen zusammen. Ich unterstützte den Leitgedanken, dass ein Dialog unter den Generationen aufrechterhalten, ja überhaupt erst einmal gesucht werden muss. Es gilt, mit der Zeit Schritt zu halten und die eigene Weltanschauung den Veränderungen der Wirklichkeit anzupassen. Bewusst wurde mir aber auch, dass der menschliche Faktor in den sozialen Prozessen den Ausschlag gibt. Dies war auch mein Ausgangspunkt in meinen Stellungnahmen zu den Änderungen in der Kibbuzbewegung im Allgemeinen und in meinem Kibbuz im Besonderen. Dieser Prozess war die Initiative der zweiten und dritten Generation. In einem Interview mit dem schweizerischen Fernsehen fragte mich Roger Schawinsky, übrigens ein Verwandter von mir: „Ist der Kibbuz tot?“ Ich antwortete ihm: „Er ist nicht tot, er lebt nur anders.“ Seit den Veränderungen in den Kibbuzim sind wir Zeugen einer äußerst interessanten Erscheinung: Nach einer demografischen – und auch sehr oft ökonomischen – Krise in den 1980er-Jahren zeichnet sich in den letzten Jahren eine starke Bewegung der jungen Generation im „neuen Kibbuz“ ab. Auch viele junge städtische Familien werden inzwischen in ein besonderes Projekt der Märchen.“ Noch 1902 übersetzte es Nahum Sokolow (1859–1936), der von 1931 bis 1935 Präsident der Zionistischen Weltorganisation werden sollte, ins Hebräische und gab ihm den Titel Tel Aviv („Hügel des Frühlings“). Danach wurde dann die 1909 gegründete Stadt benannt.

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Epilog

„munizipalen Erweiterung“ aufgenommen. Seit ihrer Gründung vor mehr als hundert Jahren war die Kibbuzbewegung noch nie so groß wie heute. Ich kann sagen, dass auch nach den strukturellen Umbrüchen der Kibbuz eine erstrangige kollektive und solidarische jüdische Gesellschaft in Israel und der Welt darstellt. In dieser Hinsicht glaube ich, dass der jüdische Philosoph Martin Buber den Kibbuz richtig definierte, als er ihn „ein Experiment, welches nicht enttäuschte“, beschrieben hat – und dies trifft auf die damalige wie auf die heutige Zeit zu. In meiner Jugend glaubte ich tatsächlich, dass sich die Welt in meiner Generation radikal ändern werde. Dies geschah jedoch nicht. Sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus kämpfen heute um eine Neuorientierung ihrer jeweiligen Vision. Dieses Dilemma führte in den letzten Jahrzehnten zu einem „dritten Weg“ – nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in kommunistischen Staaten wie beispielsweise China. In der Regel geht es um die Verbindung von Wohlfahrtsstaat und kapitalistischem System. Aber auch in den linken Kreisen in Israel herrscht Unklarheit über den richtigen Weg zu einer solidarischen Gesellschaft, die Wohlfahrt und zugleich das Ideal des freien Menschen garantiert. Die Parteien orientieren sich weltweit neu. Die Wahl von Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten weckte viele Hoffnungen, aber es genügten die Jahre der ersten Amtsperiode, um sich bewusst zu werden, dass die konservativen und reaktionären Kräfte ihm viele Hindernisse in den Weg legen. Die Parole „Yes, we can“ wurde aggressiv und auf geradezu militante Weise bekämpft. Doch die Welt steht nicht an einem Ort. Ich war jung und wurde älter. Bis heute haben sich die meisten meiner Jugendträume erfüllt. Dies zeigt ein Blick auf meine Umgebung: Ich lebe in einem jüdischen Staat, ich habe mich aktiv am Aufbau eines Kibbuz beteiligt. Trotz – oder vielleicht gerade infolge – der geänderten Lebensprinzipien wächst er noch heute, nimmt viele junge Menschen auf und entwickelt sich weiter. Ich habe selbst eine große Familie, blicke auf vier Generationen. Natürlich weiß ich nicht, was die Zukunft bringen wird. Jedoch glaube ich an positive Entwicklungen, wie schon Galilei vor Hunderten von Jahren, als sagte: „E pur si muove! – Und sie [die Erde] bewegt sich doch!“ Ideologie kann man nicht vererben, auch wenn sich die bisherige Ideologie auf universelle Werte gestützt hat. Jede Generation muss ihre Ideologie und ihre Ziele im Leben selbst ausarbeiten. Die gegenwärtige Situation bereitet mir viele Enttäuschungen, und es haben sich nicht alle meine Erwartungen erfüllt, die ich im Laufe meines Lebens hegte. Ich empfinde jedoch eine gewisse Freude, dass ich mein aktives Leben den Zielen gewidmet habe, an die ich geglaubt 242

Epilog

habe. Ich fühlte mich niemals an überholte Doktrinen gebunden. Ich verstand es auch, die Entwicklungen richtig einzuschätzen. In meinen vielen Funktionen strebte ich nach einer Synthese des Gemeinsamen, ich rundete Ecken, um eine Lösung zu finden. Häufig erreichte ich dies durch einen Kompromiss zwischen verschiedenen Meinungen, blieb jedoch immer meinen grundlegenden Lebensprinzipien treu. Am 13./14. Juli 2010 fand in Jerusalem eine Konferenz der progressiven zionistischen Fraktion statt, an der die sozialistische Merez, die religiöse Reformbewegung, die zionistische Arbeitspartei und eine große Delegation der Weltbewegung des Haschomer Hazair (auch aus der Schweiz) teilnahmen – nur wenige Tage vor dem Zionistenkongress. Diese Konferenz war für mich der Schlussakt meiner offiziellen zionistischen Aktivität, sieht man einmal von verschiedenen Ehrenposten ab. Ich war damals 90 Jahre alt und hatte zehn Jahre zuvor alle meine Funktionen der jungen Generation überlassen. Aus zwei Gründen empfand ich große Befriedigung auf dieser Tagung. Ein großer Teil der Anwesenden war unter 30 Jahre alt, und ich habe mich gefreut, die blauen Blusen der Haschomer-Hazair-Jugend zu sehen. In den ernsthaften Debatten wurde deutlich, dass unsere Kameraden – das hebräische „Chaverim“ könnte man gemäß dem sozialistischen Jargon auch als „Genossen“ übersetzen – im jüdischen Gemeindeleben äußerst aktiv sind. Sie sind aufmerksam gegenüber den Prozessen im Judentum, insbesondere in der jungen Generation. Sie nehmen auch an der Neuorganisation teil, die in vielen Ländern vor sich geht. Die zionistische Linke entwickelt heute eine politische Alternative zu der offiziellen Politik der derzeitigen Regierung in Israel: einerseits Solidarität mit Israel, anderseits Kritik an der Politik der Rechtsregierung. Auf dieser Tagung waren auch Vertreter der J-Street-Organisation aus den Vereinigten Staaten und Kanada vertreten, ebenso der Organisation in Europa, J Call. Die Delegierten aus Russland, Weißrussland, der Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Deutschland, Italien, Frankreich, England, der Schweiz, Australien und den Ländern Südamerikas berichteten über wichtige Aktivitäten des „anderen Israel“. Der zweite Grund für meine Genugtuung war der feierliche Abend, an dem einigen Veteranen der Bewegung aus Israel und aus den Ländern der Diaspora eine Ehrenurkunde für ihr „Lebenswerk der Förderung des Zionismus, des Pluralismus und des Friedens“ verliehen wurde. Alle waren in ihrer Jugendzeit im Haschomer Hazair tätig, während langer Zeit als Vertreter der Mapam und später der Merez in der zionistischen Bewegung aktiv und in den nationalen Gremien seit dem „Staat unterwegs“ bis vor wenigen Jahren beteiligt gewesen. 243

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Sie sahen in diesem Akt eine Anerkennung ihres lebenslangen Engagements. Auch ich war gerührt – nicht nur, weil ich diese Urkunde erhielt, sondern weil die meisten dieser Veteranen mit mir zusammen als Wortführer des sozialistischen Zionismus gearbeitet hatten. Es war ganz besonders ergreifend, als die Hunderten von Anwesenden an diesem Abend, meist junge Menschen, den Veteranen in lang andauernden stehenden Ovationen ihre Hochachtung und ihren Dank zum Ausdruck brachten.

Abschliessende Worte Das letzte Wort will ich meiner Familie widmen. Chasia und meine drei Töchter begleiteten mich den ganzen Weg. In den letzten Jahren kamen Schwiegersöhne dazu, elf Enkel und Enkelinnen, dann auch schon deren Partner und Partnerinnen, und wir erlebten die Geburt von neun Urenkeln – während ich meinen Text für die Veröffentlichung durchsehe, sind es schon zwölf geworden. Wir umarmen eine große Familie. Die Lebensgemeinschaft von Chasia und mir strahlte auch auf unsere junge Generation aus. Mit der Geburt unserer Töchter und der Erweiterung unserer Familie waren wir glücklich, unsere gegenseitige Liebe zu fühlen. Chasia und ich bemühten uns, ihnen wichtige, zentrale Werte zu vermitteln, ihren Lebensinhalt und ihre Erlebnisse zu bereichern. Gleichzeitig schätzten und ehrten wir ihre Unabhängigkeit. Die geistige Welt hat keine physischen Grenzen – obwohl wir nicht mit allen in räumlicher Nähe leben, haben wir bis heute im Großen und Ganzen ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame ideologische Weltanschauung. Wir treffen uns von Zeit zu Zeit bei gesellschaftlichen Veranstaltungen und politischen Demonstrationen. Ihre tiefe Beziehung zu und persönliche Identifizierung mit Chasia und mir kamen bei verschiedenen Anlässen zum Ausdruck, bei denen an unser Wirken erinnert wurde. Auch mit unseren Schwiegersöhnen haben wir stets enge Beziehungen unterhalten. Jeder in unserer Familie hat seine eigene Persönlichkeit, und zusammen sind wir, davon bin ich überzeugt, eine schöne, menschliche und wertvolle Gesellschaft. Wir, die Eltern und Großeltern, haben immer mit großer Zufriedenheit diese unsere vier Generationen gesehen, sie stets gestärkt und ermuntert und ihnen unsere Erfahrungen weitergegeben. Es gibt keine größere Freude, als zu erleben, wie sich die nachfolgenden Generationen entwickeln. Ich umarme alle mit Liebe, 244

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Sie sahen in diesem Akt eine Anerkennung ihres lebenslangen Engagements. Auch ich war gerührt – nicht nur, weil ich diese Urkunde erhielt, sondern weil die meisten dieser Veteranen mit mir zusammen als Wortführer des sozialistischen Zionismus gearbeitet hatten. Es war ganz besonders ergreifend, als die Hunderten von Anwesenden an diesem Abend, meist junge Menschen, den Veteranen in lang andauernden stehenden Ovationen ihre Hochachtung und ihren Dank zum Ausdruck brachten.

Abschliessende Worte Das letzte Wort will ich meiner Familie widmen. Chasia und meine drei Töchter begleiteten mich den ganzen Weg. In den letzten Jahren kamen Schwiegersöhne dazu, elf Enkel und Enkelinnen, dann auch schon deren Partner und Partnerinnen, und wir erlebten die Geburt von neun Urenkeln – während ich meinen Text für die Veröffentlichung durchsehe, sind es schon zwölf geworden. Wir umarmen eine große Familie. Die Lebensgemeinschaft von Chasia und mir strahlte auch auf unsere junge Generation aus. Mit der Geburt unserer Töchter und der Erweiterung unserer Familie waren wir glücklich, unsere gegenseitige Liebe zu fühlen. Chasia und ich bemühten uns, ihnen wichtige, zentrale Werte zu vermitteln, ihren Lebensinhalt und ihre Erlebnisse zu bereichern. Gleichzeitig schätzten und ehrten wir ihre Unabhängigkeit. Die geistige Welt hat keine physischen Grenzen – obwohl wir nicht mit allen in räumlicher Nähe leben, haben wir bis heute im Großen und Ganzen ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame ideologische Weltanschauung. Wir treffen uns von Zeit zu Zeit bei gesellschaftlichen Veranstaltungen und politischen Demonstrationen. Ihre tiefe Beziehung zu und persönliche Identifizierung mit Chasia und mir kamen bei verschiedenen Anlässen zum Ausdruck, bei denen an unser Wirken erinnert wurde. Auch mit unseren Schwiegersöhnen haben wir stets enge Beziehungen unterhalten. Jeder in unserer Familie hat seine eigene Persönlichkeit, und zusammen sind wir, davon bin ich überzeugt, eine schöne, menschliche und wertvolle Gesellschaft. Wir, die Eltern und Großeltern, haben immer mit großer Zufriedenheit diese unsere vier Generationen gesehen, sie stets gestärkt und ermuntert und ihnen unsere Erfahrungen weitergegeben. Es gibt keine größere Freude, als zu erleben, wie sich die nachfolgenden Generationen entwickeln. Ich umarme alle mit Liebe, 244

Einleitung

ich freue mich, dass sie Chasia bis zu ihrem Tod begleitet haben und mich noch heute in meinem hohen Lebensalter begleiten. Ich hoffe, dass der historische Hintergrund meines Lebens sie in ihren Jugenderfahrungen bis zum erwachsenen Alter bereichern wird. Dies ist die Geschichte eines aktiven Lebens, das an einer stürmischen und brutalen Welt, am Krieg und an der Schoah und all ihren Folgen teilhatte, die Geschichte eines persönlichen Engagements. Ich widme ihnen diese meine Erinnerungen in der Hoffnung, dass sich alle ihre Erwartungen erfüllen und sie ein glückliches Leben in einer Welt des Friedens und der Verständigung genießen werden.

Heini Bornstein 2014.

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Kurzbiografien

Tosia ALTMAN (1918–1943) wurde in Lipno (Polen) geboren und wuchs in Włocławek auf. Schon früh schloss sie sich dem Haschomer Hazair an. Nach Kriegsbeginn 1939 ging sie zunächst nach Wilna, auf Anordnung des Haschomer Hazair dann jedoch zurück in das deutsche Besatzungsgebiet, um dort die Bewegung im Untergrund zu organisieren. Später folgten ihr → Mordechai Anielewicz, → Josef Kaplan und andere. Nach der deutschen Besetzung Wilnas schlug sie sich Ende 1941 nach dort durch, um sich mit der Führung abzusprechen. Da deutlich wurde, dass die jüdische Bevölkerung vernichtet werden sollte, beschloss der Haschomer Hazair den bewaffneten Widerstand (→ Kovner). Altman kehrte nach Warschau zurück, um daran mitzuwirken. Im Auftrag der Jüdischen Kampf­ organisation im Warschauer Ghetto (→ Anielewicz) nahm Altman auf der „arischen Seite“ Kontakt zur Heimatarmee (Armia Krajowa) und zu kommunistischen Widerstandsgruppen auf. Es gelang ihr, einige Waffen in das Ghetto zu schmuggeln. Beim ersten bewaffneten Widerstand gegen weitere Deportationen am 18. Januar 1943 wurde Altman gefangen genommen, konnte aber noch einmal gerettet werden. Während des Ghettoaufstandes im April/Mai 1943 gehörte sie zur Kommandozentrale. Als eine der wenigen gelang es ihr, am 8. Mai, nachdem die deutschen Einheiten die Verstecke der Aufstandsleitung entdeckt hatten, durch einen Abwasserkanal zu entkommen. Sie wurde in einer Fabrik untergebracht. Als diese am 24. Mai 1943 durch einen Unfall in Brand geriet, wurde auch Tosia Altman von den Flammen erfasst. Die polnische Polizei lieferte sie den Deutschen aus. Zwei Tage später starb sie. Ein Rettungsversuch, der von Heini Bornstein organisiert worden war, kam zu spät. Mordechai ANIELEWICZ (1919–1943) wurde in der Nähe Warschaus geboren und bald einer der Führer des Haschomer Hazair. Nach dem deutschen Überfall auf Polen versuchte er in verschiedenen Gegenden des Landes, einen bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung zu organisieren und zugleich Wege für die Emigration nach Palästina zu bahnen. Im Sommer 1942 kehrte er in das Warschauer Ghetto zurück und schloss sich der Jüdischen Kampforganisation (Żydowska Organizacja Bojowa, ŻOB) an, deren Kommandeur er im November 1942 wurde. Durch Verbindungen zum polnischen Untergrund konnten einige Waffen in das Ghetto geschmuggelt werden. Am 18. Januar 1943 gelang es zunächst, die Deportation zahlreicher Jüdinnen und Juden zu verhindern. Gegen 247

Kurzbiografien

die deutsche militärische Übermacht hatte der von Anielewicz geleitete Aufstand des Ghettos vom 19. April bis 16. Mai 1943 jedoch keine Chance. Anielewicz selbst starb vermutlich am 8. Mai 1943 in seinem Kommandobunker in der Miła-Straße 18 zusammen mit seinem Stab, darunter seiner Lebensgefährtin Mira Fuchrer. Yassir ARAFAT (1929–2004) leitete die palästinensische Untergrundorganisation Al Fatah und wurde 1969 Vorsitzender der 1964 gegründeten „Organisation zur Befreiung Palästinas“ (Palestine Liberation Organization, PLO). Seit 1989 war er Präsident des von der PLO ein Jahr zuvor proklamierten Staates Palästina, seit 1996 Präsident des palästinensischen Autonomierates. 1993 schloss er mit Israel ein Abkommen über einen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen sowie über eine Teilautonomie dieser Gebiete. Dafür erhielt er 1994 gemeinsam mit Shimon Peres und Yitzchak Rabin den Friedensnobelpreis. Chaim ARLOSOROFF (1899–1933, Vitaly Arlozorov) wurde in Romny im Nordosten der Ukraine geboren, siedelte 1905 mit seiner Familie nach Deutschland über und wanderte 1924 nach Palästina aus. Er übernahm wichtige Funktionen im Yishuv, in der Zionistischen Weltorganisation, in der Jewish Agency und in der Mapai. Arlosoroff war um einen Ausgleich zwischen Juden und Arabern und zugleich um die Rettung der deutschen Juden bemüht. Seine Kontakte zu Arabern, die er auch im April 1933 für ein gemeinsames Treffen mit → Chaim Weizmann nutzte, wurden von jüdischen religiösen Gruppen und den ZionistenRevisionisten scharf verurteilt. Ebenso kritisierten diese Arlosoroffs Verhandlungen mit Vertretern des Deutschen Reiches über Ausreiseerleichterungen für deutsche Juden (diese führten im August 1933 zum Haavara-Abkommen: Ausreisewillige Juden zahlten Geld auf ein deutsches Konto ein, mit dem deutsche Waren für den Export nach Palästina bezahlt wurden; der Importeur zahlte den Gegenwert auf ein Konto des Einwanderers in Palästina ein). Kurz nach seiner Rückkehr von Besprechungen in Deutschland fiel Arlosoroff am 16. Juni 1933 in Tel Aviv einem Mordanschlag zum Opfer. Hinweise deuteten darauf hin, dass Mitglieder der Zionisten-Revisionisten für den Mord verantwortlich gewesen sein könnten. Sie wurden zwar aus Mangel an Beweisen freigesprochen, doch auf dem Zionistenkongress in Prag wurden erneut schwere Vorwürfe gegen die Revisionisten erhoben. Diese Auseinandersetzungen führten 1935 zu deren Austritt aus der Zionistischen Organisation; 1946 schlossen sie sich ihr wieder an.

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Kurzbiografien

Schimon AVIDAN (1911–1994) wurde als Siegbert Koch in Deutschland geboren. 1934 wanderte er nach Palästina aus und schloss sich der Kibbuzbewegung an. Während des Zweiten Weltkrieges leitete er die „Deutsche Einheit“ des Palmach. In den Kämpfen seit 1948 war er ein bedeutender militärischer Führer in der israelischen Armee. Er verließ diese jedoch, weil er seine linkssozialistischen Überzeugungen nicht mit der Politik David Ben-Gurions in Einklang bringen konnte. Im Haschomer Hazair nahm er wichtige Funktionen wahr. Ehud AVRIEL (1917–1980) wurde als Georg Überall in Wien geboren. Schon als Jugendlicher schloss er sich der zionistischen Bewegung an. 1940 wanderte er im Rahmen der Jugend-Alija nach Palästina aus. Dort setzte er sich weiter für die Rettung europäischer Juden ein, so 1943/44 im Istanbuler Komitee, zu dem auch Heini Bornstein Verbindung hatte. Nach Kriegsende gründete er zusammen mit anderen Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei den Kibbuz Neot Mordechai. Für Israel nahm er immer wieder diplomatische Funktionen wahr. Von 1955 bis 1957 gehörte er als Mitglied der Mapai der Knesset an. Von 1968 bis 1972 war er Präsident der Zionistischen Weltorganisation. Menachem BADER (1895–1985) wurde in Dukla im heutigen Polen (damals Österreich-Ungarn) geboren, lebte zeitweise in Deutschland und kam 1920 mit sei­nen Eltern nach Palästina. Er engagierte sich in der Gewerkschaftsbewegung Histadrut, in der Kibbuzbewegung und im Haschomer Hazair. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er für das Rettungskomitee des Yishuv. Nach der Staatsgründung Israels war er als Generaldirektor mehrerer Ministerien tätig. Avraham BARKAI wurde 1921 als Abraham Becker in Berlin geboren. Obwohl er in einer strenggläubigen ostjüdischen Familie aufwuchs, wandte er sich bald marxistisch-kommunistischen Ideen zu. 1938 emigrierte er auf Veranlassung seiner Eltern nach Palästina. Er schloss sich dem Haschomer Hazair an und lebte in verschiedenen Kibbuzim. Seit 1940 ist er im Kibbuz Lehavot Habaschan ansässig. 1947 heiratete er Schuschke, die ebenfalls aus Deutschland stammt. 20 Jahre lang arbeitete er in der Landwirtschaft und Jugenderziehung. Von 1950 bis 1953 war er Emissär in der Schweiz. Ab 1963 studierte er mit einer Sondererlaubnis, da er nie einen ordentlichen Schulabschluss gemacht hatte, an der Hebräischen Universität Jerusalem Geschichte und Volkswirtschaftslehre. Nach seiner Promotion über das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus 1977 an der Universität Tel Aviv wurde er zu einem der führenden Historiker der deutsch-jüdischen Geschichte. Mordechai BAR-ON wurde 1928 in Tel Aviv geboren und schloss sich der Bewegung Haschomer Hazair an. Nach seiner Tätigkeit in der israelischen Armee übernahm 249

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er für die Jewish Agency und die Zionistische Weltorganisation wichtige Aufgaben in der Jugendarbeit. Später wurde er eine der führenden Persönlichkeiten in der Bewegung „Peace now“. Israel BARSILAI (1913–1970) wurde als Jolek Eisenberg in Polen geboren und schloss sich als Jugendlicher dem Haschomer Hazair an. 1934 siedelte er nach Palästina über, wo er in der Kibbuzbewegung aktiv war. 1947 wurde er Generalsekretär der Mapam-Weltunion. Von 1948 bis 1951 war er Botschafter Israels in Polen. 1955 wurde er zum Gesundheits-, 1958 zum Kommunikationsminister ernannt. Von 1959 bis 1961 und von 1966 bis 1969 war er noch einmal Gesundheitsminister, von 1969 bis 1970 Minister ohne Geschäftsbereich. Yehuda BAUER wurde 1926 in Prag geboren. 1939 wanderte seine Familie nach Palästina aus. Später lebte er in einem Kibbuz und trat der Mapam bei. Er ist einer der bedeutendsten Historiker der Schoah, des Antisemitismus und der vergleichenden Völkermordforschung. An der Hebräischen Universität von Jerusalem ist er Professor für Holocaust Studies. Von 1996 bis 2000 leitete er das International Centre for Holocaust Studies in Yad Vashem. Seitdem nimmt er vielfältige wissenschaftliche Beratungsfunktionen wahr. Simone de BEAUVOIR (1908–1986) war eine französische Philosophin und Schriftstellerin. Wie ihr Lebensgefährte → Jean-Paul Sartre vertrat sie eine Philosophie des Existenzialismus. Mit ihrem Werk Das andere Geschlecht von 1949 schuf sie wichtige Grundlagen des Feminismus und der Gender-Theorie. Sie arbeitete als Lehrerin, bis sie von ihrem Einkommen als Autorin leben konnte, und war im Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft tätig. Mit Sartre verurteilte sie die sowjetische Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn ebenso wie die französischen Menschenrechtsverletzungen in den Kolonialkriegen in Indochina (1946–1954) und Algerien (1954–1962). Menachem BEGIN (1913–1992) stammte aus Brest-Litowsk. 1929 wurde er Mitglied der Betar-Bewegung und nahm darin bald führende Positionen ein. Von 1939 bis 1941 war er in einem sowjetischen Straflager inhaftiert. Nach seiner Freilassung schloss er sich den Polnischen Streitkräften in der Sowjetunion an und kam auf diesem Weg nach Palästina. Dort trat er der zionistisch-revisionistischen Untergrundorganisation Irgun bei und wurde 1943 deren Anführer. 1946 war er für den Sprengstoffanschlag auf das Hotel „King David“ in Jerusalem verantwortlich, bei dem 91 Menschen ums Leben kamen. Nach der Auflösung der Irgun 1948 gründete Begin die Cherut-Partei, die dann führend im 1973 gebildeten Likud-Block wurde. Nach vorübergehender Tätigkeit in der Regierung von 1967 bis 1970 wurde Begin 1977 Ministerpräsident – der erste aus dem Lager 250

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der politischen Rechten. 1978 und 1979 kam es zum Abkommen von Camp David zwischen Israel und Ägypten sowie zu einer entsprechenden Friedensvereinbarung. Begin und der ägyptische Präsident → Anwar as-Sadat erhielten daraufhin den Friedensnobelpreis. 1982 befahl Begin den Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon (Operation „Frieden für Galiläa“). 1983 trat er überraschend von seinen Ämtern zurück. Yossi BEILIN wurde 1948 in Israel geboren. Eine Zeitlang war er als Journalist und Dozent für Politikwissenschaft tätig. Als Mitglied der Israelischen Arbeitspartei wurde er von 1988 bis 1999 in die Knesset gewählt. Nach verschiedenen Funktionen in der Regierung ernannte ihn Yitzchak Rabin 1992 zum stellvertretenden Außenminister und 1995 zum Wirtschafts- und Planungsminister. Auch in den folgenden Kabinetten hatte er verschiedene Ämter inne. 2003 trat er aus der Arbeitspartei aus, 2004 wurde er Vorsitzender der – fusionierten – Merez-YachadPartei. Von 2006 bis 2008 saß er erneut in der Knesset. Ende 2007 gab er sein Amt als Parteivorsitzender ab. Er gilt als führender Vertreter der israelischen Friedensbewegung. Bei den Geheimverhandlungen ab 1992, die zwischen 1993 und 1995 zu den Abkommen zwischen Rabin und Arafat führten, spielte er eine wichtige Rolle. Durch seine Beteiligung an der „Genfer Initiative“ von 2003 versuchte er, den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen. Yitzchak BEN AHARON (1906–2006) wurde in der Bukowina, die damals zu Österreich-Ungarn gehörte, geboren und übernahm später die Leitung des Haschomer Hazair in Rumänien. 1928 wanderte er nach Palästina aus und lebte dann im 1932 gegründeten Kibbuz Givat Haim (Ichud) in der Nähe von Hadera. 1941 geriet er als Angehöriger der britischen Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von 1949 bis 1977 war er Mitglied der Knesset, von 1959 bis 1962 Verkehrsminister. 1995 erhielt er für seine Verdienste den Israel-Preis. David BEN-GURION (1886–1973) wurde als David Grün in Plońsk (Polen) geboren und schloss sich 1904 den Poalei Zion an. 1906 wanderte er nach Palästina aus. Die Jahre 1915 bis 1918 musste er im Exil verbringen. Danach war er in der Gewerkschaft Histadrut, deren Generalsekretariat er von 1921 bis 1935 übernahm, sowie im Achdut Haawoda tätig. Nach dem Zusammenschluss mit Hapoel Hazair zur Mapai 1930 wurde Ben-Gurion Vorsitzender der neuen Partei. Von 1935 bis 1948 leitete er die Exekutive der Jewish Agency. Gegen die sozialistischen Tendenzen in der Arbeiterbewegung vertrat er gemäßigte, pragmatische und kompromissbereite Positionen. Schon früh befürwortete er Pläne zur Teilung Palästinas, bekämpfte aber nachdrücklich die restriktive Einwanderungspolitik Großbritanniens, vor allem nach Kriegsende 1945. Nach der Unabhängigkeits251

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erklärung vom 14. Mai 1948 wurde er Ministerpräsident und Verteidigungsminister der provisorischen, dann der gewählten Regierung. Seine Politik gegenüber den arabischen Staaten und den Palästinensern war stark von den israelischen Sicherheitsinteressen bestimmt und machte auch vor Vertreibungen der einheimischen Bevölkerung nicht halt (im arabischen Sprachraum werden diese, wie der Vorgang der Staatsgründung Israels insgesamt, als Nakba – Katastrophe – bezeichnet). Er setzte sich für eine Aussöhnung mit der Bundesrepublik Deutschland ein und vereinbarte 1952 das israelisch-deutsche Wiedergutmachungsabkommen. 1963 trat er als Ministerpräsident zurück. Zwei Jahre später trat er aus der Mapai aus und gründete die neue Partei Rafi (Abkürzung für Liste der Arbeiter Israels), die sich allerdings später wieder – ohne ihn – der Mapai anschloss und 1968 in der Awoda aufging. Rafi BEN SCHALOM wurde 1920 im rumänischen Cluj (Klausenburg, Kolozsvár) geboren und trat der Bewegung Haschomer Hazair bei. Während des Zweiten Weltkrieges trug er zur Rettung unzähliger Juden in Ungarn und der Slowakei bei. Mordechai BEN TOV (BENTOV) (1900–1985) stammte aus Grodzisk Mazowiecki (Polen) und gehörte zu den Mitbegründern des Haschomer Hazair in Polen. Er studierte Jura in Warschau und emigrierte 1920 nach Palästina, wo er weiterstudierte. Als Mitglied des Kibbuz Mischmar Haemek zählte er zu den führenden Persönlichkeiten von Haschomer Hazair und Kibbuz Arzi. Am 14. Mai 1948 unterzeichnete er als eine von 37 Personen die israelische Unabhängigkeitserklärung. Mehrfach übernahm er Ministerposten. Chajim Nachman BIALIK (1873–1934) gilt als der bedeutendste Dichter hebräischer Sprache. Er wurde in einem Dorf in Wolhynien geboren und wandelte sich von einem orthodoxen Juden zu einem Anhänger der jüdischen Aufklärungsbewegung (Haskala). Von 1900 bis 1921 lebte er in Odessa, wo er sich dem Zionismus zuwandte. 1924 wanderte er zusammen mit seiner Frau nach Palästina aus. Besonders beliebt wurden seine Gedichte, die die Sehnsucht nach Zion zum Ausdruck bringen, aber auch die Pogrome in Osteuropa oder den Zwiespalt zwischen Religion und Aufklärung thematisieren. Ber BOROCHOV (1881–1917) stammte aus der Ukraine und interessierte sich schon früh für sozialistische Ideen. 1901 gründete er in Russland die Zionistische Sozialistische Arbeiterunion, die dann in der Poalei-Zion-Partei und -Weltunion aufging. Marxistisch geprägt, hielt er auch in einer „jüdischen Heimstätte“ in Palästina den Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie für unumgänglich. Er werde dort sogar auf einer besseren Grundlage stattfinden können, 252

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weil erst dann, anders als in der Diaspora, die Juden eine differenzierte soziale Struktur ausbilden könnten. Das jüdische und das palästinensische Proletariat würden gemeinsam gegen die Kapitalisten kämpfen. So verband er zwar den Klassenkampf mit der nationalen Idee einer sicheren Heimstätte für das jüdische Volk, strebte aber auf der Grundlage des Sozialismus eine Aufhebung der nationalen Unterschiede zwischen Juden und Arabern ebenso an wie die Aufhebung der Klassen nach einer sozialistischen Revolution. 1914 ging Borochov in die USA und wurde Sprecher der amerikanischen Poalei Zion, des Jüdischen Weltkongresses sowie des American Jewish Congress. 1917 kehrte er nach Russland zurück, warb für den Aufbau von Siedlungen nach sozialistischem Muster in Palästina und starb während einer Vortragsreise in Kiew. Louis D. BRANDEIS (1856–1941) entstammte einer jüdischen Familie aus Prag. Von 1916 bis 1939 war er Richter am Obersten Gerichtshof der USA und wurde für sein liberales Rechtsdenken bekannt. Zugleich war Brandeis einer der Repräsentanten des amerikanischen Zionismus und Anhänger der Demokratischen Partei. Edgar Miles BRONFMAN (1929–2013) war ein US-amerikanischer Unternehmer kanadischer Herkunft. Von 1979 bis 2007 war er Präsident des Jüdischen Weltkongresses. Bekannt wurde er durch seine Verhandlungen insbesondere mit der Schweiz und Schweizer Banken über Entschädigungen für Opfer des Holocaust oder deren Erben. Seit 1986 gehörte er auch zu den schärfsten Kritikern des damaligen österreichischen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim (1918– 2007) wegen dessen Mitgliedschaft in NSDAP und SA sowie wegen dessen Tätigkeit als deutscher Offizier während des Zweiten Weltkrieges in Südosteuropa, als der er Kenntnis von Kriegsverbrechen hatte, dies jedoch abstritt. Georges BRUNSCHVIG (1908–1973) war ein Schweizer Rechtsanwalt, der an aufsehenerregenden Prozessen mitwirkte, so am Berner Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“ von 1933 bis 1935 und noch einmal 1937. Von 1940 bis 1948 war er Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Bern, von 1946 bis 1973 des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes. Martin BUBER (1878–1965) wurde in Wien geboren und wuchs in Lemberg auf. Durch seine Tätigkeit als Philosoph und Schriftsteller gilt er als führender Vertreter der Denkrichtung des „hebräischen Humanismus“. Zeit seines Lebens war er auf der Suche nach dem jüdischen Selbstverständnis. Verwirklichung des Judentums bedeutete ihm Verwirklichung einer wahren Menschengemeinschaft. Grundlegend war für ihn der Dialog, der Austausch unter den Menschen, wie er ihn mit der Formel „Ich und Du“ ausdrückte. Folgerichtig setzte er sich 253

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innerhalb der (kultur-)zionistischen Bewegung, der er sich 1898 angeschlossen hatte, für einen jüdisch-arabischen Dialog ein. Immer wieder publizistisch, verlegerisch und journalistisch tätig, unterrichtete er nach seiner Emigration – zuletzt hatte er in Heppenheim gewohnt – seit 1938 an der Hebräischen Universität Jerusalem. Einem weiten Leserkreis ist er durch seine Arbeiten zur religiösen Strömung des Chassidismus und zur jüdischen Mystik bekannt geworden. Henry BULAWKO (1918–2011) wurde im damals litauischen Lida geboren. 1925 kam er mit seiner Familie nach Paris. Als Mitglied des Haschomer Hazair schloss sich Bulawko 1940 der Résistance an. 1942 wurde er von einem französischen Polizisten verhaftet, weil er angeblich den „Judenstern“ nicht offen genug getragen hatte. Im Juli 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert. Während des „Todesmarsches“ nach der Evakuierung von Auschwitz im Januar 1945 konnte er fliehen und sich bis zur Ankunft sowjetischer Truppen verstecken. Nach Kriegsende wirkte er in verschiedenen Verfolgten-Verbänden und jüdischen Organisationen mit. 1954 gehörte er zu den Gründern des Cercle Bernard Lazare. Er war journalistisch und schriftstellerisch tätig und befasste sich in vielen Schriften mit der Schoah, der jüdischen Geschichte und Kultur sowie dem Zionismus. Abraham (Avraham) BURG wurde 1955 in Jerusalem geboren. Nach Militärdienst und Studium engagierte er sich politisch in der Arbeitspartei. 1995 wurde er zum Vorsitzenden der Jewish Agency und der World Zionist Organization bestimmt. Von 1999 bis Anfang 2003 war er Präsident der Knesset, des israelischen Parlaments. 2004 zog er sich aus der Politik zurück. In mehreren Publikationen kritisierte er die Entwicklung des Zionismus und forderte eine Änderung der Politik gegenüber den Palästinensern, unter anderem einen Rückzug aus den besetzten Gebieten. Aufsehen erregte sein 2007 veröffentlichtes Buch Hitler besiegen, das 2009 auch auf Deutsch erschien und in dem er einen anderen Umgang mit der Erinnerung an die Schoah verlangte: Führende Politiker hätten die Judenvernichtung aus ihrem historischen Kontext gerissen und zu einem Mythos aufgebaut, um damit ihre „unmenschliche Politik“ gegenüber den Palästinensern zu rechtfertigen. Ein „neues Judentum“ sei notwendig, das wieder an die kulturzionistische Idee anknüpfe. Josef BURG (1909–1999) wurde in Dresden geboren und zum Rabbiner ausgebildet. 1939 wanderte er nach Palästina aus. Dort trat er der religiös-zionistischen HapoelHamisrachi-Partei bei, die später mit anderen Gruppierungen zur Nationalreligiösen Partei fusionierte. Seit 1949 war er mehrfach Minister in verschiedenen Funktionen. Von 1970 bis 1986 war er Vorsitzender der Nationalreligiösen Par-

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tei, 1977 wurde er Präsident der Misrachi-Weltbewegung. 1986 trat er von allen Ämtern zurück. → Avraham Burg ist sein Sohn. Otto BUSSE (1901–1980) trat 1933 in die NSDAP ein, aus Protest gegen die zunehmende Diskriminierung der Juden aber 1935 wieder aus. 1940 wurde er auf Druck erneut Mitglied. 1943 eröffnete er in Białystok einen Malerbetrieb, um Aufträge der deutschen Zivil- und Militärverwaltung auszuführen. Dabei beschäftigte er bis zur „Liquidierung“ des Ghettos zahlreiche jüdische Arbeitskräfte. Busse entschloss sich, Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft zu leisten. Chasia Bielicka, die spätere Frau Heini Bornsteins, stellte er als Kontoristin ein und unterstützte sie auch weiter, nachdem sie ihm ihre jüdische Herkunft offenbart hatte. Busse förderte die jüdische und polnische Untergrundbewegung mit Waffen, Medikamenten, Kleidung und logistischer Hilfe. Chasia BornsteinBielicka hat in ihrem Buch Mein Weg als Widerstandskämpferin (2008) ausführlich darüber (und insgesamt über die „deutsche Zelle“ in Białystok) berichtet, ebenso → Chaika Grossman in ihren Erinnerungen (Die Untergrundarmee [1993]). Busse geriet als Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1949 entlassen wurde. Später gelang es ihm, Chaika Grossman und Chasia BornsteinBielicka ausfindig zu machen. Er besuchte sie erstmals 1961 in Israel und siedelte 1969 sogar mit seiner Frau Erna in den Kibbuz Nes Ammim über. 1970 wurde er von Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Aus gesundheitlichen Gründen kehrte Busse mit seiner Frau 1972 in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Der Kibbuz benannte ein Haus nach ihm und brachte dort eine Gedenktafel an. Der Verein Nes Ammim sprach ihm eine zusätzliche Rente zu. Yaakov CHASAN (HAZAN) (1899–1992) wurde in Brest-Litowsk im damaligen Zarenreich (heute Weißrussland) geboren. Er gehörte zu den Mitbegründern der Pfadfinderbewegung in Polen, aus der der Haschomer Hazair hervorging. Nach einem Studium am Warschauer Polytechnikum emigrierte er 1923 nach Palästina. 1926 trat er dem Kibbuz Haschomer Hazair B, dem späteren Kibbuz Mischmar Haemek, bei. Er spielte eine wichtige Rolle in verschiedenen zionistischen Organisationen. Zusammen mit → Meir Yaari leitete er den Haschomer Hazair, den Kibbuz Arzi sowie die Mapam und beeinflusste wesentlich deren ideologische Haltung. Bis zum Prager „Schauprozess“ gegen → Rudolf Slánský 1952 sympathisierte er mit der Entwicklung in der Sowjetunion. Von 1949 bis 1973 war er Mitglied der Knesset. 1989 wurde ihm für seine Verdienste der IsraelPreis verliehen. Levi ESCHKOL (1895–1969) stammte aus der Ukraine. 1914 wanderte er nach Palästina aus und diente während des Ersten Weltkrieges in der Jüdischen Legion auf 255

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Seiten Großbritanniens. Später war er in der Gewerkschaft Histadrut und in der Siedlungsbewegung aktiv. Während des Zweiten Weltkrieges gehörte er dem nationalen Rat der Hagana an, leitete deren Finanzabteilung und organisierte die illegale Waffenbeschaffung. Von 1948 bis 1963 leitete er die Siedlungsabteilung der Jewish Agency. 1951 wurde er als Mitglied der Mapai, die er mitbegründet hatte, Landwirtschaftsminister, ein Jahr später Finanzminister. 1963 folgte er David Ben-Gurion als Ministerpräsident und Verteidigungsminister. Unter seiner Regierung näherte sich Israel den USA an, die dann auch vermehrt Waffen lieferten. Nach Abschluss des für Israel erfolgreichen Sechstagekrieges im Juni 1967 setzte sich Eschkol für eine Fusion mehrerer Arbeiterparteien zur Awoda, der israelischen Arbeitspartei, ein, die Anfang 1968 gegründet wurde. Simcha FLAPAN (1911–1987) stammte aus Polen und wanderte 1930 nach Palästina aus. Er war zeitweise Sekretär der Mapam und wurde ein wichtiger Historiker. Ins Deutsche übersetzt wurde etwa sein Buch Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit (München 1988). Galileo GALILEI (1564–1642) begründete die moderne Physik. Für ihn bildete die Sonne das Zentrum des Weltalls, um das sich auch die Erde drehe. Weil er seine Erkenntnisse auch als Maßstab für die Bibelauslegung betrachtete und damit das Auslegungsmonopol der katholischen Kirche infrage stellte, geriet er mit dieser in Konflikt. Bereits 1616 zum Schweigen verurteilt, wurde er später wegen Ungehorsams und Ketzerei angeklagt, weil er seine Theorie nicht aufgegeben hatte. 1633 schwor er vor dem Inquisitionsgericht ab, soll dies aber mit dem Ruf „Und sie [die Erde] bewegt sich doch!“ widerrufen haben. Er blieb bis zu seinem Tod Gefangener der Inquisition. Erst 1992 rehabilitierte ihn Papst Johannes Paul II. öffentlich. Nahum GOLDMANN (1895–1982) stammte aus Weißrussland und lebte lange in Deutschland. 1940 siedelte er in die USA über. Nach mehreren wichtigen Funktionen innerhalb der zionistischen Bewegung wurde er von 1956 bis 1968 Präsident der Zionistischen Weltorganisation. Zwischen 1949 und 1978 war er darüber hinaus Präsident des 1936 von ihm mitgegründeten Jüdischen Weltkongresses, des Dachverbandes aller jüdischen Organisationen außerhalb Israels. Stets bemühte er sich um einen Ausgleich mit den Arabern. Die offizielle israelische Politik kritisierte er mehrfach heftig. Michail S. GORBATSCHOW (geb. 1931, Gorbačev), Jurist und Agrarökonom, wurde 1985 zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und 1989 zum Staatsoberhaupt gewählt. Unter den Stichworten „Perestrojka“ („Umbau“, „Umgestaltung“) und „Glasnost’“ („Offen256

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heit“, „Durchsichtigkeit“) strebte er eine Neuordnung der Gesellschaft an, die sich durch Wirtschaftsreformen, Demokratisierung, Pluralismus sowie eine gewalt- und atomwaffenfreie Außenpolitik auszeichnen sollte. Nachdem dieses Programm ins Stocken geraten und es 1991 sogar zu einem – wenngleich gescheiterten – Putsch gekommen war, trat er Ende dieses Jahres von seinen Ämtern zurück. Zugleich löste sich die Sowjetunion auf und zerfiel in mehrere unabhängige Staaten. 1990 hatte Gorbatschow den Friedensnobelpreis erhalten. Elieser GRANOT (1927–2013) war von 1981 bis 1988 Mitglied der Knesset. 1985 wurde er zum Generalsekretär der Mapam gewählt. Von 1994 bis 1996 war er Botschafter Israels in Südafrika. Andrej A. GROMYKO (1909–1989) war von 1946 bis 1948 sowjetischer Botschafter bei der UNO, von 1957 bis 1985 Außenminister, von 1973 bis 1988 Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und von 1985 bis 1988 als Vorsitzender des Obersten Sowjets Staatsoberhaupt. Chaika GROSSMAN (1920–1996) wurde in Białystok geboren und schloss sich schon mit zehn Jahren dem Haschomer Hazair an. Bevor sie ihren Wunsch, Alija zu machen, verwirklichen konnte – sie besaß bereits ein Zertifikat für Palästina –, marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Chaika Grossman wurde in die Untergrundleitung des Haschomer Hazair berufen und arbeitete daran mit, den Widerstand gegen die Besatzungsmacht und gegen die geplante Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zu organisieren. Anfang 1942 wurde sie in ihre Heimatstadt geschickt und war an der Vorbereitung des Ghettoaufstandes beteiligt. Nach dessen Niederschlagung im August 1943 gelang es Chaika Grossman, zusammen mit vier anderen jungen Frauen – weitere hatten nicht überlebt –, die sich als Polinnen ausgaben, auf der „arischen Seite“ zu bleiben und als Kurierinnen der Partisanen zu wirken. 1948 siedelte sie dann nach Palästina über und lebte im Kibbuz Evron. Dort nahm sie verschiedene Funktionen wahr, bis sie als Abgeordnete der Mapam in die Knesset einzog. Zuletzt übte sie das Amt der Alterspräsidentin aus. Yitzchak GRÜNBAUM (1879–1970) war ein führender Zionist in Polen. Im polnischen Parlament (Sejm) der Republik nach 1918 war er Mitglied des Blocks der nationalen Minderheiten, in dem allerdings nicht alle jüdischen Gruppierungen vertreten waren. 1933 emigrierte er nach Palästina. 1948 gehörte er zu den Unterzeichnern der israelischen Unabhängigkeitserklärung und wurde der erste Innenminister. Israel GUTMAN (1923–2013) wurde in Warschau geboren. Er nahm 1943 am Aufstand des Warschauer Ghettos teil und überlebte die Konzentrationslager Maj257

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danek und Auschwitz; in Letzterem beteiligte er sich erneut an einem Aufstand, dem des „Sonderkommandos“ im Oktober 1944. 1946 machte er Alija und arbeitete lange im Kibbuz Lehavot Habaschan, wo auch die Familie Bornstein lebte. Später studierte er Geschichte und wurde schließlich Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zudem war er als leitender Historiker und Berater für Yad Vashem tätig. Er zählt zu den wichtigsten Holocaust-Forschern. Zeev HADARI (1916–2001) wurde in der Nähe von Lodz als Wenja Pomeranz geboren. 1935 wanderte er nach Palästina aus. 1942 wurde er nach Istanbul gesandt, um dort für den Mossad le Alija Bet zu arbeiten, also für die „illegale“ Einwanderung nach Palästina. Später wurde er ein bedeutender Nukleartechniker und hatte eine Professur am Negev Nuclear Research Center inne. Von 1961 bis 1963 war er Bürgermeister von Beer Sheva. Yaakov HAZAN → Chasan Theodor HERZL (1860–1904) entstammte einer liberalen jüdischen Familie in Budapest. Zum Juristen ausgebildet, entschied er sich für eine Laufbahn als Schriftsteller und Journalist. Als Zeitungskorrespondent in Paris erlebte er den Dreyfus-Prozess 1894/95 mit. Unter dem Einfluss der damit verbundenen judenfeindlichen Kampagne schrieb er sein Buch Der Judenstaat. Versuch einer moder­ nen Lösung der jüdischen Frage, das 1896 erschien. Dies gab der schon lange tätigen zionistischen Bewegung den Anstoß, sich im Ersten Zionistenkongress zu einer einheitlichen Organisation zusammenzuschließen. Herzl wurde zu ihrer Symbolfigur, obwohl seine Ansichten keineswegs unumstritten waren. Chaim HERZOG (1918–1997) wurde in Belfast (Nordirland) geboren und kam 1935 nach Palästina. Während des Zweiten Weltkrieges diente er in der britischen Armee, von 1948 bis 1962 dann in der israelischen. Von 1975 bis 1978 war er Botschafter Israels bei der UNO, von 1983 bis 1993 Staatspräsident. Politisch engagierte er sich in der Arbeitspartei (Awoda). Moses HESS (1812–1875) wurde streng religiös erzogen, entwickelte jedoch bald sozialistische Gedanken. Dabei arbeitete er auch mit Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) zusammen. 1862 veröffentlichte er sein Werk Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage. Darin sah er das Scheitern der Emanzipation der Juden in den europäischen Staaten voraus. Der einzige Ausweg lag für ihn in einer nationalen Selbstbesinnung und in der Bildung eines jüdischen Nationalstaates als Vorstufe der messianischen Erlösung der Menschheit. Diese Überlegungen fanden zunächst wenig Anklang, übten später aber erheblichen Einfluss auf die Begründung der zionistischen Bewegung aus.

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Dolores IBÁRRURI (1895–1989), genannt La Pasionaria, gehörte zum engsten Führungskreis der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) und war eine mitreißende Rednerin. Nach der Niederlage der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg lebte sie überwiegend in der Sowjetunion im Exil. 1977 kehrte sie nach Spanien zurück und war für kurze Zeit Parlamentsabgeordnete. Josef (Joško) INDIG (1917–1998) wurde in der kroatischen Kleinstadt Virovitica geboren und wuchs in Osijek auf, wo sein Vater Kantor an der Synagoge war. Bereits als Neunjähriger schloss er sich unter dem Einfluss seiner älteren Schwester dem Haschomer Hazair an. Ende der 1930er-Jahre wurde er Mitglied von dessen Landesleitung in Jugoslawien. Nach dem Abitur begann er eine Automechanikerlehre, um für die Arbeit in Palästina gerüstet zu sein. Von April 1941 bis Oktober 1943 leitete er die Flucht der „Kinder der Villa Emma“ aus Zagreb über Italien in die Schweiz (siehe Heini Bornsteins Erinnerungen bei Anm. 49). Nach Kriegsende emigrierte er mit den Kindern und seiner Frau Lilli, geborene Bernhard aus Berlin, nach Palästina. Das Ehepaar ließ sich im Kibbuz Gat nieder (siehe Heini Bornsteins Erinnerungen S. 136). Josef Indig nahm den Namen Josef Itai an, wurde Lehrer im Kibbuz und war in der Lehrerfortbildung sowie in der Leitung des Haschomer Hazair tätig. Seinen Bericht über die Flucht und die Alija der Kinder verfasste er als Rohmanuskript bereits im Herbst 1945 in deutscher Sprache. Eine von ihm überarbeitete Fassung erschien 1983 auf Hebräisch, eine englische Übersetzung blieb unveröffentlicht. Die deutsche Ausgabe von 2008 beruht auf dem Rohmanuskript, die hebräische Fassung wurde in der englischen Übersetzung zum Vergleich herangezogen. Vladimir Zeev JABOTINSKY (1880–1940, Vladimir Evgen’evič Žabotinskij) wurde in Odessa geboren, studierte Rechtswissenschaft und arbeitete zunächst als Journalist. Unter dem Eindruck der Pogrome im Russischen Reich und des Sechsten Zionistenkongresses von 1903 in Basel, an dem er teilnahm, nahm er zunehmend kämpferische, radikale und nationalistische Positionen in der zionistischen Bewegung ein, um einen jüdischen Staat in Palästina zu erreichen. Während des Ersten Weltkrieges regte er die Gründung der Jüdischen Legion in der britischen Armee an, die Erez Israel von osmanischer Herrschaft befreien sollte. 1917 wurde die Legion aufgestellt, und Jabotinsky kommandierte eine Kompanie. Nach Kriegsende wurde die Legion wieder aufgelöst und Jabotinsky geriet mehr und mehr in Konflikt mit der britischen Regierung. 1923 verließ er deshalb auch die Exekutive der Zionistischen Weltorganisation, der er zuvor angehört hatte und der er zu große Nachgiebigkeit gegenüber der britischen Politik vorwarf. Er gründete die Jugendbewegung Betar und die Weltunion der 259

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Zionisten-Revisionisten, die einen jüdischen Staat auf beiden Seiten des Jordans forderte und jeden Kompromiss mit den Arabern oder der britischen Regierung ablehnte. Nach einer Abstimmungsniederlage auf dem 17. Zionistenkongress 1931 in Basel verließen die Zionisten-Revisionisten die Versammlung. 1935 traten sie offiziell aus der Zionistischen Organisation aus, und Jabotinsky gründete die Neue Zionistische Organisation. Erst 1946 kam es auf dem 22. Kongress in Basel zu einer neuerlichen Vereinigung. Während des arabischen Aufstandes zwischen 1936 und 1939 befehligte Jabotinsky die nationalistisch-militärische Untergrundorganisation Irgun, die Anschläge auf Araber und Engländer verübte. Sein wichtigster Mitarbeiter und späterer Nachfolger wurde → Menachem Begin. 1940 starb Jabotinsky, als er in den USA für eine jüdische Armee warb. Neben seiner politischen Tätigkeit war Jabotinsky ein bedeutender Hebraist und Schriftsteller. 2012 wurde sein 1936 in Paris erschienener Roman Die Fünf, der in einer poetischen Sprache das Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts schildert, in einer deutschen Übersetzung wiederentdeckt („Die Andere Bibliothek“, Berlin). Abraham B. JEHOSHUA wurde 1936 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten israelischen Schriftstellern. Er studierte Literatur und Philosophie. Während eines Paris-Aufenthaltes von 1963 bis 1967 war er Generalsekretär der World Union of Jewish Students. Seit 1972 lehrt er an der Universität Haifa Vergleichende Literaturwissenschaft und Hebräische Literatur. Nachdrücklich setzt er sich für eine Aussöhnung zwischen Juden und Arabern ein und befürwortet einen eigenen Palästinenserstaat. Seine wichtigsten Werke liegen auch in deutscher Übersetzung vor. Mosche KAGAN (1920–2012) stammte aus Litauen und schloss sich früh dem Haschomer Hazair an. Er emigrierte 1940 in die USA, diente noch während des Zweiten Weltkrieges in der US-Armee und wurde später Elektroingenieur. Politisch engagierte er sich in der amerikanischen linkszionistischen Bewegung. Er nahm wichtige Funktionen in jüdischen Institutionen wie dem Jüdischen Weltkongress, der Jewish Agency und vor allem der Zionistischen Weltorganisation wahr. Die Mapam betrachtete er immer als seine politische Heimat. Folgerichtig wurde er 1947 einer der Gründer der an Mapam orientierten Organisation Americans for Progressive Israel, die sich 1992 zu Merez USA und 2011 zu Partners for Progressive Israel weiterentwickelte. Dennoch verband ihn mit → Ariel Scharon eine enge Freundschaft. Josef KAPLAN gehört zu den führenden Persönlichkeiten der jüdischen Untergrundbewegung in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Als Mitglied des Haschomer Hazair stand er beispielsweise in enger Verbindung mit → Tosia Altman, → 260

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Chaika Grossman und → Mordechai Anielewicz. 1941 wurde er zu einem der militärischen Leiter der Widerstandsorganisation im Warschauer Ghetto gewählt. Am 3. September 1942 verhaftete ihn die Gestapo. Kurz darauf wurde er ermordet. Jan KARSKI (1914–2000) wurde als Jan Kozielewski in Lodz geboren. 1942 nahm er den Decknamen Karski an, als er im Untergrund für die polnische militärische Widerstandsbewegung arbeitete. Er diente als Kurier zur polnischen Exilregierung, zunächst in Frankreich, dann in England. 1940 war er auf einer seiner Reisen nach Frankreich verhaftet und schwer gefoltert worden. Er konnte jedoch befreit werden; dafür ließ die deutsche Besatzungsmacht die meisten Teilnehmer der Befreiungsaktion und zahlreiche Geiseln ermorden. Um die Exilregierung auch über das Schicksal der Juden zu unterrichten, wurde er 1942 in das Vernichtungslager von Izbica Lubelska geschmuggelt. Seine Erfahrungen gab er nicht nur der polnischen Exilregierung in London weiter, sondern auch der britischen Regierung und 1943 sogar dem Präsidenten der USA, Franklin D. Roosevelt (1882–1945). Dass seitens der Alliierten (fast) nichts zur Rettung der Juden geschah, bezeichnete Karski später als „Sündenfall“, der „die Menschheit bis ans Ende der Welt verfolgen“ werde. Nach Kriegsende blieb Karski in den USA, lehrte Politikwissenschaft an der Georgetown University und beteiligte sich an der historischen Aufarbeitung der Judenvernichtung. Rezső (Rudolf ) KASZTNER (1906–1957) war einer der Verhandlungsführer auf Seiten der ungarischen Juden, als es um den Vorschlag der SS ging, gegen Waren und Devisen eine gewisse Anzahl Jüdinnen und Juden freizulassen (hier Aktion „Blut gegen Ware“ genannt). In der Tat gelang es, rund 1700 Personen zu retten, die von Budapest über das Konzentrationslager Bergen-Belsen im August und Dezember 1944 in die Schweiz kamen. Kasztner wurde später in Israel beschuldigt, mit den Nazis kollaboriert zu haben, während er vielen anderen als ein mutiger Lebensretter galt. Das Oberste Gericht Israels sprach ihn von allen Anschuldigungen frei, doch zuvor war er bereits bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Heini Bornstein war an der Rettungsaktion beteiligt. Vitke (Vitka) KEMPNER (1920–2012) wurde in Kalisz (Polen) geboren. Nachdem sie zunächst als erste Frau der militanten Jugendorganisation Betar beigetreten war, schloss sie sich später dem Haschomer Hazair an. In Wilna gehörte sie zusammen mit → Abba Kovner und → Ruschka Korczak zur zionistischen Untergrundgruppe und ab 1942 zur Farejnigte Partisaner Organisazje (FPO). Ihr gelang als Erster ein Sabotageakt gegen einen deutschen Militärzug. Auch in Wilna selbst beteiligte sie sich an mehreren Sabotageakten. Nach der „Liquidierung“ 261

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des Ghettos von Wilna im September 1943 kämpfte die Partisanengruppe in den Wäldern weiter. 1946 emigrierte Kempner nach Palästina und ließ sich im Kibbuz Ein Hachoresch nieder, in dem auch Kovner und Korczak bereits lebten. Sie heiratete Kovner und bekam zwei Kinder. Später studierte sie Klinische Psychologie und entwickelte eine spezielle Kindertherapie. Chajka KLINGER (1917–1957), in Będzin (Polen) geboren, wuchs in einer chassidischen Familie auf, schloss sich aber schon mit 14 Jahren dem Haschomer Hazair an. Ihr Wunsch, Alija zu machen, wurde durch den Kriegsbeginn 1939 vereitelt. Im Frühjahr 1940 ordnete die Führung des Haschomer Hazair an, dass sie in Będzin bleiben solle, um die Bewegung in dieser Region zu organisieren. Da hier zunächst kein Ghetto eingerichtet wurde, konnte sich der Haschomer Hazair verhältnismäßig gut entwickeln. Klinger traf hier mit → Tosia Altman, → Mordechai Anielewicz, → Josef Kaplan und anderen leitenden Persönlichkeiten des Widerstandes zusammen. Ab August 1942 gehörte Chajka Klinger zur Führung der bewaffneten Organisation in Będzin. Während der „Liquidierung“ des inzwischen gebildeten Ghettos wurde sie gefangen genommen. Trotz schwerster Folterungen verriet sie keinen Kameraden. Später gelang es ihr, zu entfliehen und sich über die Slowakei und Ungarn nach Palästina durchzuschlagen, wo sie im März 1944 ankam. Sie lebte im Kibbuz Ha-Ogen, heiratete Yaakov RosenbergRonen (geb. 1917) und bekam drei Kinder. Ihre Hauptaufgabe sah sie darin, ihre Erfahrungen weiterzugeben und über das Schicksal ihrer getöteten Kameraden zu berichten. Sie scheiterte jedoch mit dem Vorhaben, ihre Erinnerungen, die auf ihren Tagebüchern beruhten, zu publizieren. Nach mehreren Krisen wählte sie 1958 den Freitod. Auf der Grundlage von drei erhaltenen Versionen wurde ihr Tagebuch 1959 auf Hebräisch herausgegeben, allerdings zensiert, weil Chajka Klinger darin scharfe Kritik am Judenrat in Będzin und an der jüdischen Führung in Palästina während des Weltkrieges äußerte. Różka (Ruschka) KORCZAK-MARLA (1921–1988) wurde in Bielsko (Polen, heute Bielsko-Biała) geboren und lebte seit 1934 in Płock, bevor sie zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Wilna ging. Dort gehörte sie zur Leitung des Haschomer Hazair. Zusammen mit → Abba Kovner und → Vitke Kempner gehörte sie zur zionistischen Untergrundgruppe und ab 1942 zur Farejnigte Partisaner Organisazje (FPO). Nach der „Liquidierung“ des Ghettos von Wilna im September 1943 kämpfte die Partisanengruppe in den Wäldern weiter. 1944 entsandte der Haschomer Hazair Ruschka Korczak nach Palästina, um den Yishuv über die Lage und über den jüdischen Widerstand zu unterrichten. Am 12. Dezember 1944 erreichte sie Palästina. Im Februar 1945 traf sie auch mit → Chaim Weiz262

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mann zusammen. Korczak ließ sich wie Kovner und Kempner im Kibbuz Ein Hachoresch nieder. Dort heiratete sie Avi Marla (geb. 1922) und bekam drei Kinder. Im Kibbuz nahm sie Aufgaben als Erzieherin und in der Verwaltung wahr. 1961 gehörte sie zu den Mitbegründern von Moreshet, dem „Mordechai Anielevich Memorial Holocaust Study and Research Center“, das sie später auch leitete (siehe Text bei Anm. 31). Soja KOSMODEMJANSKAJA (1923–1941, Zoja Anatol’evna Kosmo­dem’jan­skaja) gehörte der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol an und meldete sich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Oktober 1941 freiwillig zum Dienst in einer Partisaneneinheit. Bei einem Einsatz hinter der Front wurde sie am 27. November 1941 verhaftet und zwei Tage später gehängt. Ihr Leichnam wurde von Betrunkenen geschändet. Nachdem die Rote Armee 1942 das betreffende Gebiet erobert hatte und Sojas Schicksal bekannt geworden war, wurde sie posthum als „Heldin der Sowjetunion“ gewürdigt. In allen Ländern des sowjetischen Herrschaftsbereiches förderten Bücher, Filme, Denkmäler sowie Namensgebungen für Schulen, militärische Einheiten und andere Institutionen ihre Popularität. Der sowjetischen Führung diente ihr Schicksal als Beispiel, um den heldenhaften Kampf der Partisanen zu unterstreichen und zu einem Mythos auszubauen. Abba KOVNER (1918–1987), auf der Krim geboren, lebte lange in Wilna und wurde im Haschomer Hazair aktiv. Schon während der sowjetischen Besetzung Wilnas von 1939 bis 1941 war er im zionistischen Untergrund tätig. Gegen die nationalsozialistische Herrschaft gründete er eine Kampforganisation und rief zum bewaffneten Widerstand auf, anstatt sich „wie die Lämmer zur Schlachtbank“ führen zu lassen. Er wurde zunächst Stellvertreter, 1943 dann Kommandant der Farejnigte Partisaner Organisazje (FPO) und leitete den Kampf gegen die „Liquidierung“ des Ghettos von Wilna sowie die Flucht der noch lebenden FPOMitglieder in die Wälder, wo er eine jüdische Partisaneneinheit befehligte. 1944/45 formierte er zusammen mit anderen die Organisation Bricha. Auch versuchte er, Geld für die Jagd auf Judenmörder aufzutreiben. In Palästina wurde er Mitglied im Kibbuz Ein Hachoresch und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg Israels. Bekannt und beliebt wurde er darüber hinaus durch seine Dichtungen. Schon in Wilna hatte Kovner seine spätere Frau → Vitke Kempner und → Ruschka Korczak kennengelernt, die beide auch dem Haschomer Hazair angehörten und nun mit ihm und anderen im Untergrund und später bei den Partisanen kämpften.

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Bruno KREISKY (1911–1990) war von 1959 bis 1966 Außenminister Österreichs, von 1967 bis 1983 Vorsitzender der SPÖ und von 1970 bis 1983 Bundeskanzler. Trotz seiner jüdischen Herkunft war er ein scharfer Kritiker der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern, der auch vor heftigen Angriffen auf israelische Regierungsmitglieder nicht zurückschreckte. Bernard LAZARE (1865–1903) war ein bekannter französischer Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalist. Politisch stand er den Anarchisten nahe, sympathisierte als Jude aber auch mit dem Zionismus und bekämpfte den Antisemitismus. Mit großem Einsatz widmete er sich der Aufklärung der Dreyfus-Affäre: Der französisch-jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) wurde auf Grundlage gefälschter Beweise angeklagt, ein Spion Deutschlands zu sein, 1894 zu lebenslänglicher Deportation, 1899 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und erst 1906 freigesprochen und rehabilitiert. Lazare zerpflückte die Anklage und zeigte den judenfeindlichen Hintergrund auf. Ebenso setzte er sich für ausgebeutete Arbeiter, für die Juden Osteuropas und für die von den osmanischen Behörden verfolgten Armenier ein. In diesem Zusammenhang kritisierte er die Zionisten, weil sie sich nicht an die Seite der Armenier gestellt hatten, um es sich nicht mit dem Sultan zu verderben. 1954 wurde in Paris der Cercle Bernard Lazare gegründet, eine zionistisch-sozialistische Organisation, die mit dem Haschomer Hazair und Merez verbunden ist. Bruno LEWIN (geb. 1923) stammt aus Zürich und war Mitglied der Bundesleitung des Haschomer Hazair in der Schweiz. Während des Zweiten Weltkrieges übernahm er wichtige Aufgaben bei Hilfs- und Rettungsaktionen für verfolgte Juden sowie bei der Betreuung von Flüchtlingen. Zwi LURIE (1906–1968) lebte im Kibbuz Ein Shemer. Er war Mitglied des Haschomer Hazair, fungierte von 1935 bis 1937 als dessen Generalsekretär und vertrat ihn im Nationalrat des Yischuv. Im Mai 1948 gehörte er zu den Unterzeichnern der israelischen Unabhängigkeitserklärung. Mehrfach war er ein Emissär des Haschomer Hazair und der Mapam im Ausland. Ebenso gehörte er der Exekutive der Zionistischen Weltorganisation an. Carl LUTZ (1895–1975), ein Schweizer Diplomat, bewahrte durch seine Aktionen zusammen mit anderen über 60.000 Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager. Dafür wurde er von Yad Vashem 1964 zum „Gerechten unter den Völkern“ erklärt. Mit der „Judenfrage“ war er seit seiner Konsulatstätigkeit in Jaffa von 1935 bis 1940 vertraut. 1942 wurde er als Vizekonsul nach Budapest versetzt. Ab Mai 1944 stellte er für Juden Schutzbriefe und Pässe aus, die von den deutschen und ungarischen Behörden anerkannt wurden. Der schwedische 264

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Diplomat Raoul Wallenberg (1912 geboren, 1945 verschollen) arbeitete bei seinen Rettungsaktionen mit Lutz zusammen. Die Schweizer Regierung betrachtete Lutz’ Handeln als „Kompetenzüberschreitung“. Erst 1995 wurde er von den Behörden rehabilitiert. Seine Heimatgemeinde Walzenhausen hatte ihm bereits 1963 das Ehrenbürgerrecht verliehen. 2013 fand dort eine Ausstellung zu seinen Ehren statt. Schon 1991 war in Budapest ein Denkmal für Lutz eingeweiht worden. Saly MAYER (1882–1950) wurde in Basel geboren. Als Textilunternehmer lebte er in St. Gallen. Nach Aktivitäten in der dortigen Israelitischen Kultusgemeinde übernahm er 1929 ehrenamtlich das Sekretariat des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Von 1936 bis 1943 war er dessen Vorsitzender. In dieser Funktion versuchte er, durch Verhandlungen mit den Behörden und seine freundschaftliche Verbundenheit mit dem umstrittenen Polizeichef → Rothmund Hilfe für jüdische Flüchtlinge zu leisten. Er fürchtete allerdings auch, dass ein zu großer Flüchtlingsstrom die finanziellen Möglichkeiten des SIG, der die Unterhaltskosten aufbringen musste, überfordern könne. Auf eine offene Kritik an der von Abwehr gekennzeichneten Flüchtlingspolitik der Schweiz verzichtete Mayer. Dies stieß auch in den eigenen Reihen auf Widerstand und führte schließlich zu seinem Rücktritt vom SIG-Vorsitz. Auf der anderen Seite nutzte Mayer die internationalen Verbindungen seiner Firma, um Hilfsgelder des Joint und anderer Organisationen an Juden in von Deutschland besetzten Gebieten zu verteilen. Dabei arbeitete er eng mit dem Vertreter des Hechaluz in Genf, → Nathan Schwalb, zusammen. Eine wichtige Rolle spielte er in den Verhandlungen mit SS-Vertretern über den „Freikauf“ von Juden in Osteuropa, namentlich beim → „Kasztner-Transport“. Ebenso unterstützte er die „illegale“ Einwanderung von Juden nach Palästina. Golda MEIR (ursprünglich Golda Myerson, geb. Mabowitsch, 1898–1978) wurde in Kiew geboren und kam 1906 in die USA. Sie schloss sich der Jugendorganisation von Paolei Zion an (später Habonim). 1921 wanderte sie mit ihrem Mann nach Palästina aus. Mit der Zeit übernahm sie leitende Funktionen in der Gewerkschaft Histadrut, in der Women’s Labor Union, im Zionistischen Weltkongress sowie in der Jewish Agency. 1948 führte sie vergebliche Geheimverhandlungen mit dem jordanischen König, um diesen aus dem Krieg um die Unabhängigkeit Israels herauszuhalten. 1948/49 war sie die erste Botschafterin Israels in der Sowjetunion. Von 1949 bis 1956 war sie Arbeitsministerin, anschließend bis 1965 Außenministerin. Von 1966 bis 1968 führte sie das Generalsekretariat der Mapai. 1969 wurde sie Ministerpräsidentin. Dieses Amt übte sie bis 1974 aus. 265

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Benjamin NETANYAHU (geb. 1949) stammt aus einer Familie, die den ZionistenRevisionisten nahestand, und schloss sich früh dem Likud-Block an. Er hat enge Verbindungen in die USA, wo er zeitweise lebte. Von 1996 bis 1999 war er zum ersten Mal Ministerpräsident, ein Amt, das er seit 2009 erneut ausübt. Dazwischen hatte er verschiedene Ministerposten inne. Seine Regierungen zeichnen sich durch ein hartes Vorgehen gegen Palästinenser, nicht nur im Kampf gegen Terrorismus, und durch eine ausgeweitete Siedlungspolitik aus. Auf diese Weise wird der Konflikt mit den Palästinensern immer wieder angefacht und Israel international isoliert. Innenpolitisch steht die Regierung Netanyahu vor schweren wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Max NORDAU (1849–1923) wurde als Max Südfeld in Pest (heute Budapest) geboren. Seinen Namen änderte er in den 1860er-Jahren, nachdem er sich von der traditionellen Lebensweise seiner Familie abgewandt hatte. Er wurde Arzt und betätigte sich daneben als Psychiater, Journalist und Schriftsteller. Seine kulturkritischen Schriften – darunter Entartung von 1892 – übten großen Einfluss auf das Denken seiner Zeit aus. In Paris wurde er 1892 → Herzls Hausarzt und ließ sich von ihm 1895 für den Zionismus gewinnen. Von 1897 bis 1904 war Nordau Vizepräsident der Zionistischen Weltorganisation, von 1905 bis 1911 Präsident der Zionistenkongresse. Wie Herzl vertrat Nordau einen „politischen Zionismus“: Die „Heimstätte“ für das jüdische Volk sollte in erster Linie durch Verhandlungen mit den führenden Politikern der beteiligten Staaten erreicht werden. Darüber hinaus prägte Nordau den Begriff des „Muskeljuden“ als Gegenbild zum zwar gelehrten, aber – angeblich – unpraktischen, körperlich schwachen Mann des osteuropäischen „Ghettos“ im Schtetl. Damit beeinflusste er die Debatte um die neue zionistische Identität der Juden, die ihr Ideal im produktiven Pionier, dem Chaluz, sah. Mordechai OREN (1905–1985) stammte aus der galizischen Stadt Podhajce (heute Pidhajzi/Pidgajci in der Ukraine) und wanderte 1929 nach Palästina aus. Als Mitglied des Haschomer Hazair lebte er seit 1934 im Kibbuz Misra. 1940 entsandte ihn Hechaluz nach Genf, um dort dessen Zentrale aufzubauen und Hilfe für verfolgte Juden zu organisieren. 1948 zählte er zu den Mitbegründern der Mapam. Er gehörte zu den maßgeblichen Anhängern der prosowjetischen Tendenzen. Ende 1951 wurde er auf dem Rückweg von einer Konferenz in Prag als „zionistischer Agent“ verhaftet. Erst im März 1952 erfuhren seine Familie und die Öffentlichkeit davon. Im „Schauprozess“ gegen → Rudolf Slánský 1952 beschuldigte er sich selbst – nach schweren Folterungen – der Spionage für den britischen Geheimdienst und wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. 1956 wurde er 266

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begnadigt, 1963 rehabilitiert. Er kehrte nach Israel zurück, berichtete über seine Erfahrungen und distanzierte sich vom Stalinismus, blieb aber ein überzeugter Sozialist und Sympathisant der Sowjetunion. Von 1960 bis 1964 war er Generalsekretär der Mapam Weltunion. Der 1939 geborene Amos OZ ist einer der bedeutendsten israelischen Schriftsteller. Seine wichtigsten Werke liegen auch in deutscher Übersetzung vor. 1992 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Nachdrücklich setzt er sich für den Frieden im Nahen Osten und für eine Verständigung mit den Palästinensern ein. Er ist einer der Initiatoren der Friedensbewegung „Peace now“. Oz lebt im Kibbuz Hulda. Dieser Kibbuz wurde 1909 gegründet, 1929 während des arabischen Aufstands zerstört und 1931 von Pionieren der Gordonia-Bewegung wiedergegründet. Berühmt ist sein Weinberg. Schimon PERES wurde 1923 im damaligen Polen geboren. 1934 wanderte er zusammen mit seiner Familie nach Palästina aus. Schon früh schloss er sich der Mapai und der Histadrut an. Nach seiner Tätigkeit in der Hagana übernahm er immer wieder Funktionen in der israelischen Regierung. So organisierte er in den 1950er-Jahren wesentlich die Waffenbeschaffung für die israelische Armee. Seit 1969 hatte er mehrfach Ministerposten inne. 1977, von 1984 bis 1986 und 1995/96 war er auch Ministerpräsident, von 1977 bis 1992 und von 2003 bis 2005 Vorsitzender der Israelischen Arbeitspartei. Mehr und mehr entwickelte er sich zu einem entschiedenen Anhänger des Friedensprozesses und einer Aussöhnung mit den Palästinensern. 1994 erhielt er wegen seiner Vorbereitung der Abkommen mit der PLO als Außenminister gemeinsam mit → Rabin und → Arafat den Friedensnobelpreis. Ende 2005 trat Peres aus der Arbeitspartei aus und der von → Scharon gegründeten Kadima bei. Von 2007 bis 2014 war er Staatspräsident Israels. Augusto PINOCHET (1915–2006) war 1973 als General einer der Anführer des von den USA geförderten Militärputsches gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende (1908–1973). Danach regierte Pinochet als Diktator bis 1990, als er durch einen in der Verfassung von 1980 festgelegten Volksentscheid abgewählt wurde. Mit seinem Namen sind zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen verbunden, für die er bis zu seinem Tode nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. Leon (Yehuda Leib) PINSKER (1821–1891) war Arzt, Schriftsteller und Politiker, der vor allem in Odessa lebte. Ursprünglich setzte er sich für die Assimilation der Jüdinnen und Juden ein. Pogrome 1871 und 1881 führten bei ihm jedoch zu einem Umdenken. 1882 veröffentlichte er anonym die Schrift Auto-Emancipation, 267

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die er als „Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden“ bezeichnete. Er war nun davon überzeugt, dass eine Assimilation nicht möglich sei, die Juden würden immer fremd bleiben. Die Judenfeindschaft verstand er als eine Krankheit. Das einzige Heilmittel dagegen sei die Nationsbildung. Diese werde durch eine „Selbstbefreiung“ erreicht, die den Juden aus einem Objekt in ein handelndes Subjekt verwandele. Ein Kongress jüdischer Notabeln solle die nationale Wiedergeburt einleiten. Pinsker war ein führendes Mitglied der Chowewe Zion, der Zionsliebenden, die die Besiedlung Palästinas nachdrücklich vorantrieben. In dieser Funktion berief er in den 1880er-Jahren drei größere Konferenzen ein. Ein gemeinsames Programm und eine gemeinsame Organisation kamen jedoch nicht zustande. Trotzdem war er ein bedeutender Wegbereiter der zionistischen Bewegung. Dina PORAT (geb. 1943) wurde in Argentinien als Tochter sowjetischer Emigranten geboren. Später siedelte die Familie nach Israel über. Nach Schule und Wehrdienst studierte Dina Porat Geschichte und wurde eine bedeutende israelische Historikerin. Ihre Studien beschäftigen sich vor allem mit der Geschichte der Schoah. So hat sie untersucht, wie die Führung des Yishuv auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik reagierte und wie die israelische Gesellschaft mit der Erinnerung an die Schoah umgeht. Wichtig ist ebenfalls ihre Biografie → Abba Kovners. Dina Porat ist Professorin an der Universität Tel Aviv und Chefhistorikerin der Gedächtnisstätte Yad Vashem. Dov PUDER stammt aus der Schweiz. Er war Mitglied des Haschomer Hazair in Genf sowie später Vertreter der Mapam bzw. der Merez in der Weltexekutive der Zionistischen Bewegung und im Board of Deputies der Jewish Agency. Von 1998 bis 2001 leitete er auch die Jewish Agency in Europa und war Direktor des Jüdisch-Arabischen Zentrums für Friedenserziehung Givat Haviva. Er lebt im Kibbuz Hazor, der 1946 von Mitgliedern des Haschomer Hazair gegründet wurde und etwa 600 Bewohner umfasst. Yitzchak RABIN (1922–1995) stammte aus einer Familie, die aus Osteuropa zugewandert war. Er schloss sich schon früh der Arbeiterbewegung an und diente seit 1941 im Palmach, später dann in der regulären israelischen Armee. 1964 bis Ende 1967 war er Generalstabschef. Unter seiner Führung errang Israel den Sieg im Sechstagekrieg 1967. Von 1968 bis 1973 vertrat er die Interessen Israels als Botschafter in den USA. Von 1974 bis 1977 folgte er Golda Meir als Regierungschef, von 1984 bis 1990 arbeitete er als Verteidigungsminister. Während er zunächst brutale Methoden einsetzte, um den Aufstand der Palästinenser in der Ersten Intifada (1987–1993) zu beenden, wurde er allmählich zu einem Fürsprecher des 268

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Friedensprozesses. Nachdem er 1992 erneut Ministerpräsident geworden war, versuchte er, diesen voranzutreiben. Geheimverhandlungen in Oslo ab 1992 – nach denen diese Phase als „Oslo-Prozess“ bezeichnet wird – führten zwischen 1993 und 1995 zu ersten vertraglichen Abmachungen zwischen Israel und Palästina. Die israelische Armee zog sich aus dem Westjordanland und aus dem Gazastreifen zurück, die Palästinenser erhielten dort Autonomie und Selbstverwaltung. Sie erkannten dafür das Existenzrecht Israels an und verzichteten auf Gewalt. Für diese Abkommen wurde Yitzchak Rabin, → Yassir Arafat und → Schimon Peres 1994 der Friedensnobelpreis zuerkannt. Innenpolitisch geriet Rabin jedoch zunehmend unter Druck. Zusätzlich verschärfte der Friedensprozess die Polarisierung der israelischen Gesellschaft. Am 4. November 1995 wurde Rabin im Anschluss an eine Friedenskundgebung in Tel Aviv von Yigal Amir, einem jüdischen Fanatiker und Rechtsextremisten, erschossen. Gerhard M. RIEGNER wurde 1911 in Berlin geboren und starb 2001 in Genf. Er studierte Jura, verließ 1933 Deutschland und ließ sich schließlich in Genf nieder. 1936 wurde er nach Gründung des Jüdischen Weltkongresses (WJC) dessen Rechtssekretär und ab 1939 Leiter von dessen Genfer Büro, das eine wichtige Rolle bei der Hilfe für verfolgte Juden spielte. Von 1965 bis 1983 war er als Generalsekretär des WJC tätig, 1991 wurde er zu seinem Ehrenvizepräsidenten gewählt. Nach Kriegsende wirkte er an der Ausarbeitung der Menschenrechtskonvention mit. Darüber hinaus setzte er sich für das jüdisch-christlich-muslimische Gespräch ein. Besondere Bedeutung erlangte Riegner, als er am 8. August 1942 in Telegrammen in die USA und nach England über die geplante vollständige Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich informierte. Über die dramatischen Umstände dieser Nachricht und über die – letztlich enttäuschenden – Reaktionen hat er in seinen 2001 veröffentlichten Erinnerungen Niemals verzweifeln. Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte berichtet. Yaakov RIFKIN (1907–1978) stammte aus Polen und trat früh dem Haschomer Hazair bei. 1929 wanderte er nach Palästina aus und engagierte sich in der Kibbuzbewegung und in der Gewerkschaft Histadrut. 1947/48 gehörte er der israelischen Delegation bei den Vereinten Nationen an. Von 1949 bis 1965 war er Mitglied der Knesset. 1968 verließ er die Mapam wegen deren Koalition mit Mapai und gründete die unabhängige linke Sozialistisch-Zionistische Union. Mordechai ROSMANN (ROZMAN) (1917–2014) wurde in Stolin (Polen, heute Weißrussland) geboren und schloss sich früh dem Haschomer Hazair an. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 flüchtete er von Wilna, 269

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wo er dem zionistischen Untergrund angehört hatte, in die Sowjetunion. Dort wirkte er weiter im Untergrund und leitete die Bricha-Organisation, die Juden nach Palästina schmuggelte. Vorübergehend war er inhaftiert. 1947 war er eine der führenden Persönlichkeiten unter den Einwanderungswilligen, die sich auf der „Exodus“ befanden und dann nach Deutschland zurückdeportiert wurden. Heinrich ROTHMUND (1888–1961) leitete von 1919 bis 1955 (mit Unterbrechung von 1945 bis 1947) die Eidgenössische Fremdenpolizei. Mit seinem Namen ist die Umsetzung der verschärften Flüchtlingspolitik der Schweiz während der nationalsozialistischen Zeit verbunden. Namentlich die Grenzsperre im August 1942, die zahlreichen jüdischen Flüchtlingen das Leben kostete, ging auf sein Wirken zurück. Sein Kampf gegen die „Überfremdung“ und „Verjudung“ der Schweiz – mit der Begründung, dadurch werde Antisemitismus verhindert – ist Thema mehrerer geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Anwar as-SADAT (1918–1981) gehörte dem ägyptischen Geheimbund der Freien Offiziere an, der 1952 in einem Staatsstreich die Macht an sich riss. 1954 wurde Gamal Abd an-Nasser (1918–1970) Staatspräsident. 1970 trat Sadat dessen Nachfolge an. Nach dem verlorenen Yom-Kippur-Krieg 1973 vollzog er eine Wende, löste Ägypten aus der engen Bindung an die Sowjetunion und unterzeichnete 1979 einen Friedensvertrag mit Israel. Bereits ein Jahr zuvor hatte er zusammen mit → Menachem Begin den Friedensnobelpreis erhalten. 1981 wurde er von einem islamistischen Fanatiker wegen der Aussöhnung mit Israel ermordet. Pinchas SAPIR (1906–1975) wurde als Pinchas Koslowski in Suwałki (Polen) geboren, besuchte in Warschau ein religiöses Gymnasium und schloss sich früh der Hechaluz-Bewegung an. 1929 emigrierte er nach Palästina und lebte in Kfar Saba. Er wurde in der Arbeiterbewegung aktiv und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg. Seit 1948 arbeitete er in verschiedenen Funktionen in der israelischen Regierung. Am wichtigsten war seine Tätigkeit als Finanzminister zwischen 1963 und 1974 (mit Unterbrechungen). 1968/69 war er Generalsekretär der Arbeitspartei, 1974/75 Vorsitzender der Jewish Agency und der Zionistischen Weltorganisation. Yossi SARID wurde 1940 in Palästina geboren. Von 1973 bis 2006 gehörte er der Knesset an. Von 1992 bis 1996 war er Umwelt-, von 1999 bis 2000 Erziehungsminister. 1996 wurde er zum Vorsitzenden der Merez gewählt, der er 1992 beigetreten war, nachdem er zuvor schon anderen linken Parteien angehört hatte. Jean-Paul SARTRE (1905–1980) war ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Bis er von seiner Autorentätigkeit leben konnte, arbeitete er als Lehrer. Vor allem durch die Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft politisierte er sich zusehends und wurde zum Mittelpunkt des intellektuellen Lebens in Frankreich. 270

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In enger Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin → Simone de Beauvoir begründete er die Philosophie des Existenzialismus: Der Mensch müsse selbst versuchen, dem Leben einen Sinn zu geben. Die eigene Freiheit habe eine Grenze an der Freiheit des anderen. Unter dem Einfluss des Marxismus berücksichtigte er aber auch die Bedeutung der gesellschaftlichen Bedingungen. In den französischen Kriegen in Indochina (1946–1954) und Algerien (1954–1962) prangerte er Menschenrechtsverletzungen an. Sartre sympathisierte mit dem Kommunismus, brach aber mit der Sowjetunion nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn 1956. 1968 solidarisierte er sich mit den Studentenunruhen und den Arbeiterstreiks. In seinen Überlegungen zur Judenfrage (ungekürzt erstmals 1946, deutsch z. B. 1994) bezeichnete er den Antisemitismus als Problem der Nichtjuden und nicht als eines der Juden. Ariel SCHARONs (1928–2014) Eltern stammten aus Russland und waren Anfang der 1920er-Jahre nach Palästina ausgewandert. Er selbst trat schon früh der Hagana bei. In der israelischen Armee führte er zahlreiche Kommandounternehmen durch, u. a. während der Suezkrise 1956. Im Sechstage- und im YomKippur-Krieg (1967 und 1973) hatte er – namentlich in Panzereinheiten – hohe militärische Funktionen inne, die ihn bekannt machten. Zugleich wurde er ein prominenter Vertreter der Siedlerbewegung. Von 1973 bis 1974 und von 1977 bis 2006 gehörte er als Abgeordneter des Likud-Blockes der Knesset an. → Menachem Begin berief ihn in seine Regierung, zunächst von 1977 bis 1981 als Landwirtschafts-, dann von 1981 bis 1983 als Verteidigungsminister. Wegen der Massaker christlicher Milizen an Palästinensern in libanesischen Flüchtlingslagern während der israelischen Militärintervention im Libanon 1982, die diese nicht verhinderte, musste Scharon zurücktreten. In den folgenden Kabinetten nahm er aber immer wieder Ministerposten wahr und förderte die Siedlerbewegung. Sein Besuch des Tempelberges in Jerusalem am 28. September 2000 und die darauf folgenden Demonstrationen, bei denen Teilnehmer getötet und verletzt wurden, lösten die Zweite Intifada aus. Von 2001 bis 2006 war Scharon Ministerpräsident. Ende 2003 legte er einen Plan vor, der den einseitigen Abzug Israels aus dem Gazastreifen und aus Gebieten des Westjordanlandes – und damit auch die Auflösung dortiger Siedlungen – vorsah. Dies traf auf heftigen Widerstand der Siedlerbewegung und auch von Teilen des Likud-Blockes, darunter → Benjamin Netanyahus. Scharon trat daraufhin 2005 aus dem Likud aus und gründete eine neue Partei, die Kadima (Vorwärts). Anfang 2006 fiel er jedoch nach Hirnblutungen in ein Wachkoma, das bis zu seinem Tod am 11. Januar 2014 andauerte. 271

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Nathan SCHWALB wurde 1908 in Stanislau im österreichischen Galizien (heute Ivano-Frankiv’sk) geboren und starb 2004 in Tel Aviv. 1929 wanderte er nach Palästina aus. Er arbeitete in der Gewerkschaftsbewegung Histadrut und war nach 1939 einer der Organisatoren der Weltzentrale des Hechaluz in Genf. Er erwarb sich große Verdienste um die Rettung verfolgter Juden in Europa, wenngleich es Kritik an seiner Verteilung der Hilfsgelder gab. David SHIMONI (1891–1956) stammte aus Bobruisk südöstlich von Minsk und zählt zu den bedeutendsten hebräischen Lyrikern, stark beeinflusst von → Chaim Nachman Bialik. Er veröffentlichte aber auch Prosawerke. Nach Aufenthalten in verschiedenen Ländern lebte er ab 1925 in Erez Israel. Neben anderen Funktionen war er Vorsitzender der Akademie der hebräischen Sprache. Israel SINGER (geb. 1942), ein Sohn österreichischer Flüchtlinge, lehrte Politikwissenschaft an verschiedenen Universitäten und führte zahlreiche Verhandlungen über die Unterstützung und Entschädigung von Überlebenden des Holocaust. Von 2001 bis 2007 war er Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses. Wegen Veruntreuung von Geldern wurde er seines Amtes enthoben. Rudolf SLÁNSKÝ (1901–1952), jüdischer Herkunft, war einer der Mitbegründer der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei und wurde nach Kriegsende als Stalins Vertrauensmann deren Generalsekretär. 1951 geriet er in das Visier kommunistischer Spitzenpolitiker um Stalin, die mit Hilfe einer konstruierten internationalen „imperialistischen Verschwörung“ „Sündenböcke“ für aufgetretene Probleme finden, ihre Macht festigen und zugleich die kommunistischen Parteien im sowjetischen Herrschaftsbereich zu gefügigen Werkzeugen der Zentrale in Moskau machen wollten. Die Verhaftung des US-Amerikaners Noel Field (1904– 1970) – eines Pazifisten mit Sympathien für den Kommunismus, der während des Krieges in der Schweiz Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes geholfen hatte – im Mai 1949 war der Auslöser gewesen, um über diesen angeblichen „Agenten“ ein Spionagenetz gegen die kommunistische Welt zu erfinden. Viele Kommunisten, die mit ihm einmal zu tun gehabt hatten, wurden verhaftet und brutalen Verhören ausgesetzt. Unter der Folter nannten sie Namen von weiteren „Spionen“, gefälschte Beweise kamen hinzu. Der Kreis der „Verschwörer“ weitete sich immer mehr aus. Ende November 1951 wurde Slánský verhaftet. Die Verhaftung des Mapam-Vertreters Mordechai Oren diente dazu, eine Verbindung zur israelischen Regierung, ihrem Geheimdienst und zu zionistischen Organisationen als Teil der internationalen „Verschwörung“ zu behaupten. Ein Großteil der Beschuldigten war jüdischer Herkunft, und judenfeindliche Tendenzen kamen in den öffentlichen Verlautbarungen sowie in den „Schauprozessen“ gegen 272

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führende Kommunisten in Ungarn und in der Tschechoslowakei zwischen 1949 und 1952 immer wieder zum Vorschein. Im November 1952 wurde Slánský zum Tode verurteilt und kurz darauf hingerichtet. Mosche SNEH (ursprünglich Mosche Kleinbaum, 1909–1972) stammte aus Polen. Er studierte Medizin und wurde Mitglied einer zionistischen Studentenorganisation. 1932 wählte man ihn in das Zentralkomitee der Zionistischen Föderation Polens, 1935 in das Zionistische Exekutivkomitee der Weltorganisation. Bis 1939 – und auch noch nach Beginn des Zweiten Weltkrieges in der Armee – arbeitete er als Arzt. 1940 emigrierte er nach Palästina. Hier übte er wichtige Funktionen aus, u. a. leitete er die Abteilung für illegale Einwanderung in der Jewish Agency. 1948 trat Sneh der Mapam bei. Von 1949 bis 1965 gehörte er der Knesset an. 1953 bildete er zusammen mit anderen die Linke Fraktion, begann sich von der Mapam zu lösen und trat 1954 der kommunistischen Maki bei. Josef SPRINZAK (1885–1959) wurde in Moskau geboren. Als die meisten Juden 1891 aus der Stadt ausgewiesen wurden, siedelte seine Familie nach Kišinev (heute Chişinău in Moldova) über. Dort gründete er die sozialistisch-nationale Jugendorganisation Zeire Zion (Jung-Zion). 1910 wanderte er nach Palästina aus. Er wurde einer der Leiter von Hapoel Hazair (Der junge Arbeiter) und arbeitete von 1945 bis 1949 als Generalsekretär in der von ihm mitgegründeten Gewerkschaft Histadrut. 1948 wurde er zum Sprecher des provisorischen Parlaments gewählt, 1949 dann zum Sprecher der Knesset. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tod aus. Meir TALMI (1909–1994) wurde in Warschau geboren, schloss sich in seiner Jugend dem Haschomer Hazair an und wurde einer seiner Führer in Polen. 1932 wanderte er nach Palästina aus, lebte in einem Kibbuz und engagierte sich in der Kibbuz-Arzi-Bewegung sowie in der Mapam. Von 1973 bis 1981 gehörte er der Knesset an. Seine Frau Emma Talmi-Levine (1905–2004), ebenfalls gebürtig aus Warschau und Mitglied des Haschomer Hazair, hatte ihre Alija bereits 1924 gemacht. Sie setzte sich nachdrücklich, auch als Knesset-Abgeordnete von 1955 bis 1969, für die Gleichberechtigung der Frau ein. Yehuda TUBIN nahm innerhalb des Haschomer Hazair und der Kibbuz-ArziBewegung leitende Funktionen wahr. Er lebte im Kibbuz Beit Zera. Als Angehöriger der Jüdischen Brigade hatte er Überlebende der Schoah kennengelernt. Dies veranlasste ihn, sein weiteres Leben der Vermittlung des Schicksals der Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft – vor allem an die junge Generation – zu widmen. Folgerichtig arbeitete er bis zu seinem Tod 1998 in der

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Publikationsabteilung von Moreshet, dem „Mordechai Anielevich Memorial Holocaust Study and Research Center“ (siehe Text bei Anm. 31). Feliks TYCH (1929–2015) wurde in Warschau geboren und überlebte die Schoah, während der größte Teil seiner Familie ermordet wurde. Er war Professor für Geschichte an der Polnischen Akademie der Wissenschaften und leitete von 1995 bis 2006 das Jüdische Historische Institut in Warschau. Seine Studien beschäftigen sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, der jüdischen Bevölkerung in Polen und insbesondere mit der Geschichte des Holocaust und seiner Folgen. Menachem USSISCHKIN (1863–1941, Abraham Menachem Usyškin) stammte aus Weißrussland, wurde Ingenieur und schloss sich schon früh der zionistischen Bewegung an. 1897 gehörte er bereits zu den Delegierten beim Ersten Zionistenkongress in Basel. Nachdrücklich warb er für eine Einwanderung nach Palästina. Entschieden wandte er sich gegen Pläne, eine Ansiedlung in Ostafrika zur Vorbereitung einer dortigen „Heimstätte“ ins Auge zu fassen. Dieser „UgandaPlan“ wurde auf dem Siebenten Zionistenkongress 1905 in Basel endgültig abgelehnt. 1919 machte Ussischkin Alija. Von 1921 bis 1923 war er Vorsitzender der Jewish Agency, von 1923 bis 1941 Vorsitzender des Jüdischen Nationalfonds. Chaim WEIZMANN (1874–1952) wurde in Motel (Bezirk Minsk, Weißrussland) geboren und promovierte als Chemiker 1899 in Fribourg. Er lehrte als Dozent und Professor an den Universitäten Genf und Manchester. Früh betätigte er sich in der zionistischen Bewegung und gelangte bald in wichtige Funktionen. So war er am Zustandekommen der „Balfour-Declaration“ des damaligen britischen Außenministers beteiligt, die am 2. November 1917 dem jüdischen Volk eine „nationale Heimstätte“ („a national home“) versprach. Am 3. Januar 1919 unterzeichnete er im Auftrag der Zionistischen Weltorganisation ein Abkommen mit dem späteren irakischen König Faisal (1885–1933), in dem beide Parteien vereinbarten, dass in Zukunft ein arabischer und ein jüdischer Staat freundschaftliche Beziehungen pflegen würden und jetzt die Einwanderung jüdischer Siedler nach Palästina – bei Wahrung der Rechte und Interessen arabischer Bewohner – gefördert werden solle. Weizmann vertrat einen „synthetischen Zionismus“, der Aktivitäten zur Besiedlung Palästinas („praktischer Zionismus“) und zur Staatsbildung („politischer Zionismus“) in sich vereinte. Dieser wurde zur Hauptströmung der Bewegung. Folgerichtig wurde Weizmann 1920 auf ihrer Konferenz in London zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation (WZO) gewählt. Mit einer Unterbrechung von 1931 bis 1935 übte er diese Funktion bis 1946 aus.

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1948 wurde er Präsident des Provisorischen Staatsrates von Israel und von 1949 bis 1952 erster Staatspräsident. Edgar WOOG (1898–1973) wurde in Liestal geboren. 1918 trat er der Sozialistischen Partei Basel bei. 1920 wanderte er nach Mexiko aus, wo er sich unter dem Pseudonym Stirner für den Kommunismus einsetzte. So vertrat er 1921 die Kommunistische Partei Mexikos auf dem Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale und nahm anschließend wichtige Funktionen in ihr wahr. 1935 kehrte er in die Schweiz zurück. Während des Zweiten Weltkrieges erhielt er mehrere Gefängnisstrafen wegen seiner Aktivitäten in der illegalen Kommunistischen Partei der Schweiz. 1944 war er Mitbegründer der Partei der Arbeit. Von 1949 bis 1968 arbeitete er als deren Zentralsekretär. Veit WYLER (1908–2002) war Rechtsanwalt in Zürich. 1934 verhinderte er die Auslieferung des prominenten Kommunisten Heinz Neumann (1902–1937) an das nationalsozialistische Deutschland. 1936 verteidigte er zusammen mit Eugen Curti den Juden David Frankfurter, der den nationalsozialistischen Landesgruppenführer in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschossen hatte (Frankfurter wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt und nach Kriegsende begnadigt). Als „linker“ Zionist setzte er sich nachdrücklich für die Rettung verfolgter Juden ein. Nach 1949 trat er für eine Versöhnung zwischen Israelis und Arabern sowie für einen binationalen Staat ein. Gustav WYNEKEN (1875–1964), ein deutscher Pädagoge, war ein bedeutender Schulreformer. Er setzte sich nachdrücklich für „Freie Schulen“ ein und beeinflusste mit seinen Überlegungen zur „Jugendkultur“ (so in seinem Buch Schule und Jugendkultur von 1913) stark die Jugendbewegung. In seinen Überlegungen zur Erziehung trat er für ein neues Verhältnis von „Kameradschaft“ und „Führertum“ ein, das auch die Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler bestimmen solle. 1919 wurde er des sexuellen Missbrauchs von Schülern verdächtigt. Obwohl Wyneken nicht frei von antijüdischen und rassistischen Vorurteilen war, übte er gerade auf jüdische Jugendliche einen großen Einfluss aus. Sie sahen in seinen Lehren eine Möglichkeit, sich aus überkommenden Formen zu lösen und eine neue Identität zu gewinnen. Walter Benjamin (1892–1940), der sein Schüler gewesen war, sagte sich allerdings von ihm los, nachdem er den Eintritt in den Ersten Weltkrieg bejaht und diesen als ein ethisches Erlebnis bezeichnet hatte. Meir YAARI (1897–1987) wurde in Galizien geboren. 1919 war er einer der Mitbegründer des Haschomer Hazair in Wien. 1920 machte er Alija. Seit 1924 arbeitete er als Sekretär der Weltzentrale von Haschomer Hazair. 1948 gehörte er zu den Mitbegründern von Mapam, deren Generalsekretär er bis 1973 blieb. Von 1949 275

Kurzbiografien

bis 1973 war er Mitglied der Knesset. Haschomer Hazair und Mapam leitete er zusammen mit → Yaakov Chasan. Beide entschieden sich, keine Regierungsämter anzunehmen, sondern durch ideologische und erzieherische Tätigkeit zu wirken. 1927 gründete Yaari den Kibbuz Arzi, und von 1929 bis zu seinem Tod lebte er im Kibbuz Merchavia. Lange Zeit vertrat er Ideen des revolutionären Sozialismus sowie eines friedlichen, gleichberechtigten Ausgleichs zwischen Juden und Palästinensern in einem Staat. Seine Erziehungskonzepte dienten nicht zuletzt diesem Ziel. Yair ZABAN (geb. 1930) war von 1992 bis 1996 Minister für die Aufnahme von Einwanderern. Von 1965 bis 1973 gehörte er der Kommunistischen Partei Israels an, 1972/73 war er deren Vorsitzender. Dov ZAKIN (1922–1986) wurde in Polen geboren und wanderte 1936 nach Palästina aus. Er lebte zunächst im Jugenddorf Ben Shemen und studierte an der Universität Tel Aviv Politik- und Wirtschaftswissenschaft. 1945 gehörte er zu den Gründern des Kibbuz Lehavot Habaschan. Mehrfach war er Emissär des Haschomer Hazair in den USA. Von 1959 bis 1961 arbeitete er als Sekretär der Friedensbewegung, von 1969 bis 1977 und von 1981 bis 1984 gehörte er der Knesset an. Mosche ZILBERTAL war bis 1939 Weltleiter des Haschomer Hazair in Warschau. Nach Kriegsende lebte er im Kibbuz Ein Shemer (siehe dazu Heini Bornsteins Erinnerungen bei Anm. 4). Aharon ZISLING (1901–1964) wurde in Minsk geboren und emigrierte mit seinen Eltern 1904 nach Palästina. Er nahm wichtige Funktionen in zionistischen Organisationen sowie in Hagana und Palmach wahr. Außerdem war er einer der Gründer der linken Partei Achdut Haawoda, die dann vorübergehend in der Mapam aufging. Nach der Unabhängigkeitserklärung Israels wurde er Minister für Landwirtschaft in David Ben-Gurions Provisorischer Regierung. Die israelische Politik gegenüber den arabischen Palästinensern kritisierte er scharf. Der Regierung von 1949 gehörte er nicht mehr an, zumal auch Mapam der Koalition nicht beitrat. Von 1949 bis 1955 war Zisling Mitglied der Knesset.

276

Glossar

ACHDUT HAAWODA: Einheit der Arbeit (hebr.), ursprünglich Abkürzung für die

1919 gegründete Zionistisch-Sozialistische Gewerkschaft der Arbeiter des Landes Israel (→ Poalei Zion). Diese vereinigte sich 1930 mit Hapoel Hazair (Der junge Arbeiter) zur → Mapai. 1944 wurde Achdut Haawoda als Abspaltung von der Mapai wiedergegründet. 1946 erfolgte ein Zusammenschluss mit → Poalei Zion zur Achdut Haawoda Poalei Zion, 1948 mit dem → Haschomer Hazair zur Mapam. Von ihr spaltete sich dann 1954 erneut eine Achdut Haawoda ab. 1968 ging diese in der Arbeitspartei Awoda auf. ALIJA: Aufstieg (Plural: Alijot, hebr.). Ursprünglich die Bezeichnung für einen Vorgang, der mit einer geistigen Erhöhung der Persönlichkeit verbunden ist – dazu zählt auch, in der Synagoge zur Tora-Lesung aufgerufen zu werden –, bedeutet der Begriff im zionistischen Verständnis die Einwanderung nach Palästina. Für die Zeit vor der Staatsgründung Israels 1948 werden fünf Alijot unterschieden: 1) 1882–1904 (rund 25.000 Personen aus Osteuropa), 2) 1904–1919 (rund 40.000 Personen aus Osteuropa), 3) 1919–1923 (rund 35.000 Personen aus Osteuropa), 4) 1924–1931 (rund 80.000 Personen aus Osteuropa), 5) 1932–1939 (rund 247.000 Personen aus Mitteleuropa, besonders aus dem nationalsozialistischen Deutschland). Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sehr viele Überlebende der → Schoah nach Israel, dann auch Verfolgte aus arabischen und afrikanischen Ländern. Die bisher letzten größeren Einwanderungen erfolgten aus Äthiopien und Russland. Eine besondere Form war und ist die JUGEND-ALIJA. Diese entstand am 30. Mai 1933 in Deutschland auf Initiative von Recha Freier (1892–1984). Die neue Organisation sollte dazu dienen, jüdische Kinder und Jugendliche in Ausbildungslagern auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten und dann diese zu organisieren. Direktorin der Jugend-Alija in Jerusalem wurde Henrietta Szold (1860–1945 → Hadassah). Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte die Organisation ihre Aufgabe in der Regel nur noch auf illegalen Wegen erfüllen. Zudem mussten auch Aufenthaltsorte in neutralen oder nicht von den Deutschen besetzten Ländern gefunden werden. Insgesamt konnten auf diese Weise rund 10.000 Kinder und Jugendliche gerettet werden. Nach dem Krieg betreute die Jugend-Alija die traumatisierten Geretteten. Sie besteht heute noch, bereitet Auswanderungen vor und betreut in Israel Kinder und Jugendliche. 277

Glossar AMERICAN JEWISH JOINT DISTRIBUTION COMMITTEE (JOINT) : Diese

Organisation wurde Ende 1914 gegründet, um Not leidenden Jüdinnen und Juden außerhalb der USA zu helfen. Während des Zweiten Weltkrieges unterstützte sie Flüchtlinge und lieferte Nahrungsmittel sowie andere lebensnotwendige Güter in die Ghettos Osteuropas. Ebenso stellte sie finanzielle Mittel für den Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 zur Verfügung. AMERICANS FOR PROGRESSIVE ISRAEL: Diese Organisation wurde 1947 gegründet, vertrat eine sozialistisch-zionistische Ideologie und setzte sich für einen Dialog mit den Palästinensern ein. Mit verbündeten Gruppierungen schloss sie sich 1992 zur Vereinigung Merez USA zusammen, die sich 2011 in Partners for Progressive Israel umbenannte. Sie ist weiterhin Teil der Merez-Weltunion. Ihre Ziele sind vor allem der Schutz der Menschenrechte in Israel und Palästina und eine Aussöhnung zwischen Juden und Arabern. ANTI-DEFAMATION LEAGUE : Diese Vereinigung wurde 1913 in Chicago von Mitgliedern der Organisation → Bnei Brith gegründet, nachdem ein Jude wegen angeblicher Vergewaltigung und Ermordung eines Mädchens gelyncht worden war. Ihr Hauptziel war die Bekämpfung des Antisemitismus, sie dehnte dies aber im Laufe der Zeit auf alle Formen von Diskriminierung und den Schutz der Menschenrechte aus. Seit 1998 ist die ADL auch in Europa vertreten. ARBEITSPARTEI → Awoda AWODA: Kurzform für die hebräische Bezeichnung der Israelischen Arbeitspartei. Diese wurde 1968 als Vereinigung von → Mapai, → Achdut Haawoda, → Poalei Zion und der linken Gruppierung Rafi (Abkürzung für Liste der Arbeiter Israels) gegründet. Bis 1984, als die Awoda unter Schimon Peres mit dem Likud unter Yitzchak Schamir (1915–2012) eine große Koalition einging, bildete die Awoda mit der → Mapam das Wahl- und Fraktionsbündnis Maarach (Bund). 1990 musste die Partei wieder in die Opposition gehen. Nach einem Aufschwung unter der Führung von Yitzchak Rabin verlor die Awoda seit 1996 trotz einiger Regierungsbeteiligungen mehr und mehr an Einfluss. Ende 2005 verließ ein Teil der Mitglieder, darunter Schimon Peres, die Partei und schloss sich der Kadima (→ Likud) an. 2011 spaltete sich die Awoda, nach mehreren kleineren Ablösungen, im Zuge des Streits um eine Beteiligung an der überwiegend rechts orientierten Koalitionsregierung. Während deren Befürworter eine neue Partei – Haatzmaut (Unabhängigkeit) – gründeten, traten die Mitglieder der Awoda aus der Regierung aus. Die weitere Entwicklung der Arbeitspartei ist noch offen. BAR MIZWA: Sohn des Gebotes, Gesetzespflichtiger (hebr.). Bezeichnung für einen Jungen, der das 13. Lebensjahr vollendet hat. Im Rahmen einer Feier wird seine 278

Glossar

religiöse Volljährigkeit bekräftigt. Er muss von da an die religiösen Pflichten eines Erwachsenen erfüllen. Mädchen werden mit zwölf Jahren religiös volljährig (BAT MIZWA). Eine Feier gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert und vor allem im Reformjudentum. BETAR: Kurzwort für Brith Trumpeldor (hebr.), den Trumpeldor-Bund. 1923 in Riga gegründete Jugendorganisation der → Zionisten-Revisionisten, die gegen die in der Zionistischen Organisation vorherrschende Linie opponierten und eine energischere, vor militärischen Mitteln nicht zurückschreckende Politik forderten, um den Staat Israel durchzusetzen. Betar war noch militanter als die Zionisten-Revisionisten eingestellt und bekämpfte auch die übrigen zionistischen Jugendorganisationen. Während des Zweiten Weltkrieges beteiligte sich Betar intensiv an den jüdischen Widerstandsbewegungen. Benannt ist der Bund nach Joseph Trumpeldor (1880–1920), einen aus Russland stammenden Zionisten, der in Palästina im Kampf gegen die Araber fiel. BILU: Abkürzung für „Beit Yaakov Lechu Wenelecha“, „Auf, Haus Jakobs, lasst uns gehen!“ (Jesaja 2,5; Plural: Biluim, hebr.). Diese Studentenorganisation wurde im Januar 1882 in Char’kov als Reaktion auf die Pogrome gegründet, die ein Jahr zuvor in Russland stattgefunden hatten. Ihr Ziel war die Auswanderung nach Palästina. Mit Hilfe der 1881/82 gebildeten zionistischen Bewegung Chibbat Zion (Zionsliebe) und deren Anhänger, den Chowewe Zion (Zionsliebenden), konnten schon im Sommer 1882 die ersten jüdischen Studentinnen und Studenten nach Palästina emigrieren. Die Biluim übten eine starke Vorbildwirkung auf die erste → Alija aus. BNEI AKIBA: Söhne Akibas (hebr.). 1929 in Jerusalem gegründete Jugendorganisation der religiös-zionistischen → Misrachi-Bewegung, die aus dem Bund religiöser Pioniere (Bachad, Abkürzung für Brith Chaluzim Datiim) hervorging. Die religiöse Weltanschauung war stark von Raw Abraham Yitzchak Kook (1865–1935), dem damaligen Oberrabbiner, geprägt. Ursprünglich auch von sozialistischen Ideen beeinflusst und mit der → Kibbuzbewegung verbunden, steht sie heute politisch der Siedlerbewegung nahe. Ihr Name bezieht sich auf den Märtyrer und bedeutenden Gelehrten Rabbi Akiba (50–135), der im Zusammenhang mit dem gescheiterten Aufstand unter Bar Kochba 132–135 getötet wurde. BNEI BRITH: Söhne des Bundes (hebr.). Vereinigung jüdischer Logen, da Juden in christlichen Logen meist keine Aufnahme fanden. Die Gründer stellten sich die Aufgabe, Juden zur Förderung hoher Menschheitsziele zusammenzuschließen. Grundsätzen der Menschenliebe folgend, wollten sie Wissenschaft und Kunst fördern, die Not von Armen und Bedürftigen lindern, Kranke besuchen und 279

Glossar

pflegen sowie den Opfern von Verfolgungen helfen. Diese Ziele sollten sich nicht auf einzelne Konfessionen beschränken, sondern man wollte allumfassend wirken und über Partei- und Religionsgrenzen hinweg zu einer Verständigung der Menschen untereinander gelangen. Die Vereinigung beteiligt sich bis heute auch aktiv am Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Die erste Loge wurde 1843 in New York von zwölf jüdischen Einwanderern aus Deutschland gegründet. In den folgenden Jahrzehnten konnte Bnei Brith Anhänger in vielen Ländern der Welt gewinnen. Derzeit umfasst die Organisation etwa 500.000 Mitglieder in rund 60 Staaten. 1913 gründeten Mitglieder von Bnei Brith auch die → AntiDefamation League. BNEI MIDBAR: Söhne der Wüste (hebr.). Kinderorganisation des → Brith Habonim und des → Haschomer Hazair. BRICHA: 1944/45 formierte Abba Kovner zusammen mit anderen die Organisation Bricha (Flucht, hebr.), die Hunderttausende von Juden, die die Schoah überlebt hatten, nach Palästina brachte. Diese Hilfe stieß auf erhebliche Schwierigkeiten, da die britische Mandatsmacht die jüdische Einwanderung nach Palästina stark begrenzen wollte und bereits in vielen europäischen Ländern dafür sorgte, dass die Flucht behindert wurde. Die örtlichen Bricha-Organisationen, die mehrheitlich von sozialistisch-zionistischen Jugendgruppen wie dem → Haschomer Hazair getragen wurden, mussten die Auswanderungswilligen zu den Schiffen schmuggeln, die sie nach Palästina transportieren sollten. Die Flüchtlinge wurden häufig von britischen Kriegsschiffen abgefangen und entweder in Atlit, einem in den 1930er-Jahren eingerichteten Auffanglager in der Nähe von Haifa, oder zunächst auf Zypern interniert. Von dort aus kamen sie dann gemäß monatlichen Quoten mit einem → Zertifikat nach Atlit. Heute befindet sich dort ein Museum der illegalen Einwanderung (Alija Bet) und der Organisation Bricha. Das Schicksal der Passagiere der „Exodus“, die 1947 wieder nach Deutschland zurückdeportiert wurden, erregte die Weltöffentlichkeit. Die Tätigkeit der Bricha dauerte bis 1948/49 und erhöhte aufgrund der beträchtlichen Flüchtlingszahlen den Druck, einen Staat Israel zu errichten. BRITH HABONIM : Bund der Bauleute (hebr.). Dieser 1926/30 in Deutschland gebildete Jugendbund war ein Zusammenschluss dreier Jugendorganisationen: dem 1912/13 gegründeten „Blau-Weiß. Bund für Jüdisches Jugendwandern in Deutschland“, der Kadima (Vorwärts) und dem 1925/29 – in Hameln schon 1923 – gegründeten Brith Haolim (Bund der Aufsteigenden, also der Einwanderer; vorher: Jung-Jüdischer Wanderbund). Er war sozialdemokratisch orientiert. 1930 dehnte sich der Brith Habonim auch auf die Schweiz, dann auf weitere 280

Glossar

Länder aus. Teilweise ging er im → Haschomer Hazair auf. 1958 vereinigten sich mehrere Jugendbünde zum → Ichud Habonim, der der → Mapai nahe steht. 1982 schlossen sich die Jugendverbände Habonim und → Dror zur Jugendorganisation Habonim Dror zusammen. BRITH IWRIT : Iwritbund (hebr.). Iwrit, das moderne Hebräisch, ist heute die offizielle Sprache des Staates Israel. Althebräisch, die Sprache des Alten Testamentes – in der jüdischen Tradition werden die drei Hauptelemente Tora (die fünf Bücher Mose), Propheten und Schriften mit der Abkürzung Tanach (Tenach) bezeichnet –, erhielt sich im Judentum als Sprache der Synagoge und der Gelehrten. Im 18. Jahrhundert setzten Bemühungen ein, das Hebräische zu modernisieren. Elieser ben Yehuda (Perelman, 1858–1922) systematisierte diese Versuche. 1881 emigrierte er aus Litauen nach Palästina und warb dort erfolgreich dafür, das Hebräische wieder in eine gesprochene Sprache zu verwandeln. Insbesondere Chajim Nachmann Bialik förderte mit seinen Dichtungen die Verbreitung des Hebräischen. Die zionistische Bewegung machte sich diese Bestrebungen weitgehend zu eigen. Vor allem diejenigen, die zur → Alija bereit waren, begannen, intensiv Hebräisch zu lernen. Dazu bildeten sie häufig einen Brith Iwrit. BRITH SCHALOM → Friedensbewegung CHALUZ: Pionier (Plural: Chaluzim, hebr.). Bezeichnung für junge Menschen, die nach Palästina auswandern wollten, um dort ihr eigenes Leben durch Arbeit im Dienst der Gemeinschaft zu erneuern und mit landwirtschaftlicher Tätigkeit das Land zu entwickeln. Höchstes Ziel war der Eintritt in einen → Kibbuz. Die Chaluz-Idee verbreitete sich von Osteuropa aus über die ganze Welt und wurde ein vorherrschendes zionistisches Ideal. Vorbereitet für die Arbeit in Palästina wurden die Chaluzim durch eine besondere Ausbildung, die Hachschara (Tauglichmachung, hebr.), die häufig auf Bauernhöfen stattfand. CHAVER: Kamerad, Genosse, Freund (Plural: Chaverim, weiblich: Chavera, Plural: Chaverot, hebr.). Anrede der sozialistischen Zionisten untereinander. CHEDER: Zimmer (hebr.). In Osteuropa, später noch in orthodoxen jüdischen Gemeinden die Grundschule für Knaben, in der sie etwa ab dem vierten Lebensjahr oft bis zur → Bar Mizwa Althebräisch lernten, die Tora – die fünf Bücher Mose – und den Talmud – Lehrsätze und Kommentare, die die Tora ergänzen – studierten sowie die Grundzüge jüdischer Tradition und die Grundrechenarten vermittelt bekamen. DISPLACED PERSONS (DP): Bezeichnung für Überlebende des Zweiten Weltkrieges und der Judenverfolgung, die zwangsweise ihre Heimat in Osteuropa verlassen hatten. Sie wurden 1945 in zahlreichen Lagern, vor allem in Deutschland, 281

Glossar

untergebracht. Die Lebensbedingungen waren oft hart. Dennoch entstand häufig ein reichhaltiges kulturelles Leben. Nach und nach wanderten die DPs dann in andere Länder aus, namentlich nach Israel und in die USA. 1952 waren alle Lager bis auf eines geschlossen, 1957 wurde auch das letzte aufgelöst. DROR: Freiheit (hebr.). Linkszionistische Jugendbewegung. Sie wurde 1915 in Polen als Alternative zum → Haschomer Hazair gegründet, namentlich von Anhängern des Zeire Zion (Jung-Zion), die nicht in diese Organisation eintreten wollten. Ihre Mitglieder waren sehr aktiv in den Ghetto-Aufständen von Warschau und Białystok. In Palästina verband sie sich mit der Bewegung Kibbuz Hameuchad. EMISSÄR → Schaliach EMUNAH: Glaube, Festigkeit (hebr.). Bezeichnung eines religiös und ideologisch neutralen Jugendbundes, der vor allem unter westeuropäischen Juden Anklang fand. EREZ ISRAEL : Das Land Israel. Hebräische Bezeichnung für Palästina, für das biblische Land der Juden. Seit der Staatsgründung 1948 wird von Medinat Israel (Der Staat Israel) gesprochen. FRIEDENSBEWEGUNG IN ISRAEL: Sie geht zurück auf die kulturzionistische Gruppierung des Brith Schalom (Friedensbund). Bedeutende jüdische Gelehrte um Martin Buber, Gershom Scholem (1897–1982) oder Hans Kohn (1891–1971) gründeten diesen Bund 1925, um sich für eine jüdisch-arabische Verständigung einzusetzen. Politisch strebten sie dabei einen binationalen Staat an. Diese Ideen spielen immer noch eine Rolle, doch die Mehrheit der Friedensbewegung ist inzwischen auf die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung eingeschwenkt. Ihre wichtigste außerparlamentarische Organisation ist derzeit Schalom Achschaw (Peace now). Diese entstand, nachdem 348 israelische Reserveoffiziere 1978 in einer Petition Ministerpräsident Menachem Begin aufgefordert hatten, den Friedensprozess weiterzuführen. Ihr Ziel ist Frieden und Aussöhnung mit dem palästinensischen Volk und den arabischen Nachbarn. Als Grundlage dafür sieht sie das Prinzip „Land für Frieden“ an, also die Rückgabe aller von Israel besetzten Gebiete. Heftig kritisiert sie die Siedlungspolitik der israelischen Regierung, weil diese einer friedlichen Lösung des Konflikts und auch dem angestrebten Zwei-Staaten-Modell zuwiderlaufe. Neben Schalom Achschaw gibt es eine Anzahl weiterer Friedensgruppen – darunter auch besondere Frauenorganisationen –, die teilweise mit entsprechenden palästinensischen Verbänden zusammenarbeiten. GIVAT HAVIVA: Diese Bildungseinrichtung der Bewegung → Kibbuz Arzi wurde 1949 gegründet und nach der Widerstandskämpferin gegen die nationalsozialis282

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tische Herrschaft Haviva Reik (1914–1944) benannt. Haviva Reik, in der Slowakei geboren und Mitglied des Haschomer Hazair, war 1939 nach Palästina emigriert und hatte sich dem Palmach angeschlossen. Zur Unterstützung des Slowakischen Nationalaufstandes wurde sie Ende September 1944 in der Nähe ihres Heimatortes abgesetzt. Zusammen mit anderen wurde sie jedoch gefangen genommen und am 20. November 1944 ermordet. Als Teil der Friedensbewegung entwickelte sich Givat Haviva zu einer wichtigen Organisation für die jüdischarabische Verständigung. 1963 wurde das Jüdisch-Arabische Zentrum für den Frieden gebildet. Die Mitarbeiter und die Leitung der Organisation bestehen je zur Hälfte aus Juden und Palästinensern. 2001 erhielt das Zentrum den UNESCOPreis für Friedenserziehung. GORDONIA: Dieser Jugendbund wurde 1923 in Galizien gegründet. Er orientierte sich an den Schriften Aaron David Gordons (1856–1922), der mit seinen sozialrevolutionären Lehren für eine Befreiung des Menschen durch körperliche Arbeit eintrat. Entsprechend gründete Gordonia mehrere Siedlungen in Palästina. → Erez Israel sollte durch „Selbstarbeit“ aufgebaut werden. Dabei galten die Erziehung zu humanistischen Werten und die Erneuerung der hebräischen Kultur als weitere wichtige Ziele. In Osteuropa waren Mitglieder von Gordonia während der nationalsozialistischen Herrschaft an verschiedenen Ghettoaufständen beteiligt. In Palästina stand die Bewegung der → Mapai nahe. Später ging sie im → Brith Habonim auf. HABONIM → Brith Habonim HADASSAH: 1912 in den USA gegründete zionistische Frauenorganisation, so genannt nach dem ursprünglichen Namen der Königin Ester. Erste Präsidentin war Henrietta Szold (1860–1945). Hadassah organisierte vor allem medizinische Hilfe für Palästina und baute dort nach dem Ersten Weltkrieg ein vorbildliches Gesundheitssystem für die jüdische und die arabische Bevölkerung auf. Sie unterstützte auch die Jugend-Alija und ermöglichte dadurch die Rettung zahlreicher Kinder und Jugendlicher vor der Ermordung während der nationalsozialistischen Herrschaft. Heute ist Hadassah die größte zionistische Frauenorganisation der Welt und arbeitet mit der → Wizo zusammen. HAGANA: Schutz (hebr.). 1920 gegründete zionistische, militärische Untergrundorganisation in Palästina, die Juden vor arabischen Überfällen schützen sollte. Sie war zunächst ein Teil der Arbeiterbewegung, wurde dann aber der Zionistischen Weltorganisation unterstellt. Während des Zweiten Weltkrieges kämpften zahlreiche Mitglieder in verschiedenen Einheiten gegen die Streitkräfte des nationalsozialistischen Deutschland und seiner Verbündeten. Nach dem Ende 283

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des Weltkrieges organisierte und schützte die Hagana gegen den Widerstand der britischen Mandatsmacht die „illegale“ Einwanderung von Überlebenden der → Schoah nach Palästina. Im Unabhängigkeitskrieg nach der Staatsgründung Israels 1948 spielte sie eine entscheidende Rolle und ging dann in der regulären israelischen Armee auf. HASCHOMER HAZAIR: Der junge Wächter (hebr.). Diese zionistische Jugendbewegung mit linkssozialistischem Gedankengut entstand 1913 in Galizien und Russland aus einem Bündnis der Pfadfinderorganisation Haschomer und der Gruppe Zeire Zion (Jung-Zion). 1916 schloss sie sich in Wien mit dem dortigen Studentenverband, der ebenfalls Zeire Zion hieß, zusammen. Sie war besonders in Osteuropa stark und von Ideen der Pfadfinder, des Wandervogels und der deutschen Jugendbewegung beeinflusst. Ihre Losung lautete: „Chasak weemaz“ – „Seid stark und tapfer“. Darüber hinaus verband der Haschomer Hazair schon früh den vorwiegend kulturell verstandenen Zionismus mit revolutionären Tendenzen. Nach dem Ersten Weltkrieg machte er sich dafür stark, den Zionismus aktiv zu verwirklichen, die → Alija auch als „Selbstverwirklichung“ zu begreifen und nach Palästina auszuwandern. Dort gründeten seine Mitglieder zahlreiche → Kibbuzim; die ersten vier schlossen sich 1927 zum Dachverband → Kibbuz Arzi zusammen. Haschomer Hazair entwickelte sich allmählich zu einer politischen Partei. 1925 war ihm der Status einer politischen Fraktion mit proportionaler Repräsentation in der Exekutive und den Kommissionen sowie auf dem Kongress der → Zionistischen Weltorganisation gewährt worden. Zuvor war er dort nur im Rahmen des → Hechaluz vertreten gewesen. 1936 bildete er die Liga Sozialistit. 1948 verband sich Haschomer Hazair mit einer anderen Organisation zur → Mapam, der Vereinigten Arbeiterpartei. Vor der Staatsgründung Israels 1948 war Haschomer Hazair in der militärischen Untergrundorganisation → Hagana aktiv, insbesondere in der Eliteeinheit → Palmach, und unterstützte die „illegale“ Einwanderung von Überlebenden der Nazi-Verfolgung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die gegen den Willen der britischen Mandatsmacht durchgeführt wurde. Während des Weltkrieges hatte Haschomer Hazair eine große Bedeutung für die Organisation des jüdischen Widerstandes in Osteuropa. Derzeit gehören der Jugendbewegung weltweit in 17 Ländern rund 14.000 Jugendliche im Alter von acht bis 17 Jahren an. HECHALUZ: Der Pionier (hebr.). 1904 gegründeter Dachverband sozialistischzionistischer Jugendbünde, zunächst namentlich von Zeire Zion (Jung-Zion) und Hapoel Hazair (Der junge Arbeiter). Die Organisation vertrat das Ideal des → Chaluz, des Pioniers, der vor allem durch landwirtschaftliche und handwerk284

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liche Arbeit → Erez Israel aufbaut. Die Lehren Aaron David Gordons (1856–1922) übten – wie bei → Gordonia – eine große Wirkung aus. Hechaluz regte die Gründung von landwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina an, die auf genossenschaftlichen und sozialistischen Grundsätzen beruhen sollten. Dafür bildete er seine Mitglieder aus. 1927 hatten 43 Prozent der jüdischen Arbeiter in Palästina und 80 Prozent der Kibbuzmitglieder eine solche Schulung erhalten. Führende Zionisten und später bedeutende Politiker in Israel waren HechaluzMitglieder, etwa der erste Ministerpräsident David Ben-Gurion. Ebenso wurde die Ideologie der sozialdemokratischen Bewegung, namentlich der → Mapai, stark vom Hechaluz beeinflusst. Während der nationalsozialistischen Herrschaft hatte Hechaluz eine wichtige Funktion für die Verteilung von Hilfsgeldern und sonstigen Unterstützungsleistungen an die verfolgten Jüdinnen und Juden. HISTADRUT: Zusammenschluss (hebr.). Dieser Dachverband der Gewerkschaften wurde 1920 in Haifa gegründet. Von 1921 bis 1935 war David Ben-Gurion Generalsekretär und setzte eine organisatorische Zentralisierung durch. Histadrut war eng mit der sozialistisch-zionistischen Bewegung verbunden und verstand sich als Teil der Bemühungen, → Erez Israel als sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen. So gehörten ihr auch die meisten → Kibbuzim an. Die Gewerkschaft umfasste rund 60 Prozent der Einwohner, darunter auch Unternehmer und Wohlfahrtseinrichtungen; sie war damit die größte Organisation Israels und zugleich der größte Arbeitgeber. Entsprechend den politischen Veränderungen im Land ist seit den 1970er-Jahren der Einfluss des → Likud in der Histadrut stetig gestiegen, während früher die Arbeiterparteien dominant waren. Seit 1994 wurde Histadrut strukturell umgebaut, löste sich von vielen Unternehmen und wandelte sich zu einer unabhängigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer. HOLOCAUST → Schoah ICHUD: Einheit, Einzigartigkeit (hebr.). Bezeichnung für die → Kibbuz-Bewegung der → Mapai. Ichud ging aus dem 1921 gegründeten Kibbuz Ein Harod (→ Kibbuz Hameuchad) hervor, der sich 1951/52 in Anhänger der → Mapai und der → Mapam spaltete. Heute gehören beide Kibbuzim zur Vereinigten KibbuzBewegung. Der Kibbuz Ein Harod war der erste in Israel, der Umweltschutzprojekte durchführte. Er hatte 2008 rund 600 Einwohner. INTIFADA: Abschüttelung, Aufstand (arab.). Versuche der arabischen Zivilbevölkerung, die israelische Besatzungsmacht „abzuschütteln“. Die Erste Intifada begann in den besetzten Gebieten im Dezember 1987 und dauerte offiziell bis zur Unterzeichnung des ersten Oslo-Abkommens 1993, das die Einrichtung der palästinensischen Autonomiebehörde ermöglichte. Ausgelöst wurde die Intifada 285

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von Zwischenfällen an der Grenze zum Westjordanland, bei denen Palästinenser getötet worden waren. Ihre Ursache hatte die erste Intifada in der Verschlechterung der Lebensbedingungen im Gazastreifen und im Westjordanland. Insgesamt kamen etwa 630, nach anderen Schätzungen 1300 Menschen um, mehrheitlich Palästinenser. Hinzurechnen muss man zwischen 700 und 1000 Palästinenser, die wegen vermuteter oder tatsächlicher Zusammenarbeit mit den Israelis von ihren eigenen Landsleuten ermordet wurden. Die Zweite Intifada entzündete sich am Besuch Ariel Scharons auf dem Tempelberg in Jerusalem, wo die Al-Aqsa-Moschee steht, am 28. September 2000 und an den darauf folgenden Demonstrationen, bei denen Teilnehmer getötet und verletzt wurden; sie wird auch als Al-Aqsa-Intifada bezeichnet. Hintergrund war die Enttäuschung über das im Juli 2000 gescheiterte Gipfeltreffen von Camp David zwischen dem PLO-Vorsitzenden Yassir Arafat, dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak (geb. 1942) und dem Präsidenten der USA, Bill Clinton (geb. 1946). Die Zweite Intifada dauerte bis 2005, nach anderen Periodisierungen bis 2008, und forderte zwischen 3000 und 5000 palästinensische und 1000 israelische Opfer. ISRAELISCHE ARBEITSPARTEI → Awoda JESCHIWA: Talmudhochschule zur Ausbildung von Gelehrten und Rabbinern. JEWISH AGENCY: Eine Einrichtung der Zionistischen Weltorganisation, die 1922 auf Basis von Artikel 4 des Mandatsvertrages für Palästina gebildet und vom Völkerbund und von der britischen Mandatsregierung als Vertretung der Juden anerkannt wurde. Die Jewish Agency beriet die britische Regierung und arbeitete mit ihr in wirtschaftlichen sowie sozialen Fragen zusammen. Darüber hinaus vertrat sie die Interessen der jüdischen Bevölkerung vor dem Völkerbund (ab 1947 vor den Vereinten Nationen). 1923 bot die Palästina-Regierung den Arabern an, ihre Interessen von einer Arab Agency vertreten zu lassen; diese lehnten jedoch ab. Die Jewish Agency baute eine ausgedehnte Verwaltung in Palästina auf und wurde zur faktischen Regierung des → Yishuv. Nach heftigen internen Auseinandersetzungen in der Zionistischen Weltorganisation wurde die Jewish Agency 1929 erweitert: Alle Institutionen sollten je zur Hälfte von Zionisten und Nichtzionisten besetzt werden. Seit der Staatsgründung 1948 setzt sich die Jewish Agency vor allem für die Einwanderung nach Israel ein und bemüht sich, weltweit den Schutz der Menschenrechte für die jüdische Bevölkerung zu sichern. Auf diese Weise ist sie ein Bindeglied zwischen den Juden in Israel und denen in der Diaspora. JOINT → American Jewish Joint Distribution Committee

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Glossar JÜDISCHE BRIGADE: Chaim Weizmann, der Präsident der Zionistischen Welt-

organisation, bot der britischen Regierung nach Kriegsausbruch 1939 die uneingeschränkte, auch militärische Zusammenarbeit an. Diese lehnte jedoch zunächst ab. Dennoch bildeten sich in Palästina jüdische Bataillone, die an verschiedenen Fronten kämpften. 1942 wurde sogar ein „Palästina-Regiment“ aufgestellt, das aus drei jüdischen Bataillonen und einem arabischen Bataillon bestand und gegen die deutsche Armee in Nordafrika eingesetzt wurde. Erst im Juli 1944 bewilligte die britische Regierung unter dem Eindruck von Berichten über die Judenvernichtung die Bildung einer Jüdischen Brigade, die dann im September als Teil der 8. Britischen Armee erfolgte. Der Brigade gehörten 5000 jüdische Freiwillige an. Sie kämpfte vor allem in Italien, Jugoslawien und Österreich. Noch während des Krieges sowie in den Folgejahren wirkte sie bei der illegalen Fluchthilfe für Juden – der → Bricha – mit, um sie nach Palästina zu bringen. Angehörige der Jüdischen Brigade beteiligten sich auch an Versuchen, deutsche Kriegsverbrecher aufzuspüren und hinzurichten. Im Sommer 1946 wurde die Brigade offiziell aufgelöst. JÜDISCHER NATIONALFONDS → Keren Kayemeth LeIsrael JÜDISCHER WELTKONGRESS (WORLD JEWISH CONGRESS, WJC): Er wurde 1936 in Genf als Vereinigung jüdischer Gemeinschaften und Organisationen außerhalb Palästinas – später Israels – gegründet und versteht sich als politische Vertretung aller Juden in der Diaspora. Während des Zweiten Weltkrieges versuchte der WJC, Hilfen für verfolgte Juden zu organisieren. Nach Kriegsende unterstützte er jüdische Flüchtlinge und bemühte sich um Entschädigungszahlungen an Überlebende der Schoah. Oberstes Organ ist die Vollversammlung, die alle vier Jahre tagt, den Vorstand (Exekutivkomitee) wählt und die Richtlinien der Arbeit bestimmt. Die Mitgliedsverbände – wie der Zentralrat der Juden in Deutschland oder der Schweizerische Israelitische Gemeindebund – entsenden ihre Delegierten zur Vollversammlung entsprechend der Zahl der im jeweiligen Land lebenden Juden. Regionale Untergliederungen wie der Europäische Jüdische Kongress arbeiten teilweise autonom. KEREN KAYEMETH LEISRAEL: Jüdischer Nationalfonds (hebr.). 1897 auf dem Ersten Zionistenkongress in Basel angeregt, nahm diese Einrichtung 1901 ihre Arbeit auf. 1907 wurde sie in Großbritannien offiziell registriert. Sie sammelte Geld und kaufte damit Boden in Palästina, um ihn jüdischen Siedlern zur Verfügung zu stellen. Seit der Staatsgründung 1948 widmet sich der Nationalfonds vorrangig der Erschließung, Urbarmachung und Wiederaufforstung in Israel. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Vermehrung der knappen Wasserressourcen. 287

Glossar KIBBUZ: Sammlung (Plural: Kibbuzim, hebr.). Eine Genossenschaft auf freiwilliger

Basis mit gemeinschaftlichem Eigentum, Besitz und Konsum sowie gemeinschaftlicher Produktion und Lebensführung bis hin zur Kindererziehung. Entscheidungen werden basisdemokratisch auf Mitgliederversammlungen getroffen. Ein Sekretariat leitet die Verwaltung und vertritt den Kibbuz nach außen. Bei großen Kibbuzim gibt es noch Zwischenorgane, die bestimmte Entscheidungen treffen können. Ämter, anfangs auch die Besetzung der Arbeitsplätze, sollen nach dem Rotationsprinzip vergeben werden. Seit einiger Zeit wandeln sich die ursprünglichen Grundsätze vom Vorrang des Kollektiven hin zum Individuellen, weil sich die Kibbuzim als „Inseln“ in der kapitalistischen Umgebung auf Dauer nicht halten konnten. Einige versuchen dennoch, die früheren Ideale zu bewahren. 2014 gab es in Israel 272 Kibbuzim, davon zählten sich 256 zur weltlichen und 16 zur religiösen Kibbuzbewegung. Ihre Einwohner machen knapp zwei Prozent der Bevölkerung aus, 1948 waren es noch acht Prozent gewesen. Daneben gibt es Mischformen zwischen Kibbuz und Moschaw, einer Siedlung, die auf genossenschaftlicher Basis arbeitet, aber aus individuellen Betrieben besteht. Die Idee des Kibbuz entstand in Osteuropa aus einer Verbindung von zionistischen und revolutionär-sozialistischen Vorstellungen. Das gemeinschaftliche Zusammenleben ohne Privateigentum sollte eine sozial gerechte Gesellschaftsordnung und die kulturelle Erneuerung des Judentums vorwegnehmen. Vorbilder wurden in gemeinschaftlichen Produktionsformen unter den russischen Bauern gesehen, die auch die Diskussionen der russischen Revolutionäre wesentlich beeinflussten. Der erste Kibbuz in Palästina – Degania am Südende des Sees Genezareth – wurde 1909/10 von einer Gruppe aus Weißrussland gegründet. KIBBUZ ARZI: Sammlung des Landes, landesweiter Kibbuz (hebr.). Diese Föderation derjenigen → Kibbuzim, die von Mitgliedern der → Haschomer Hazair gegründet worden waren, bildete sich 1927. Ihr Ziel war die Förderung gegenseitiger Hilfe, aber auch der weltweiten Verbindungen ihrer Bewegung. Die Mitglieder von Kibbuz Arzi beteiligten sich aktiv an der Hilfe für die verfolgten Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft und an den Kämpfen des Unabhängigkeitskrieges zwischen 1947 und 1949. Viele Kibbuzim entstanden entlang der Grenzen Israels. Die Zahl der angeschlossenen Kibbuzim erhöhte sich von vier (1927) auf 85 (1998). Neben der wirtschaftlichen Entwicklung der Kibbuzim hat Kibbuz Arzi immer besonderen Wert auf die Erziehungsarbeit gemäß den Zielen des Haschomer Hazair gelegt. Aufgrund des internen Wandels der Kibbuzim hin zum Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv erfuhr der

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Kibbuz Arzi schwere Krisen. Seit 1999 ist er zusammen mit → Kibbuz Hameuchad und → Ichud in der Vereinigten Kibbuz-Bewegung zusammengeschlossen. KIBBUZ HAGALUJOT: Sammlung der Zerstreuten (hebr.). Organisatorische Erfassung der Einwanderung aus der Diaspora, namentlich der Wellen aus Nordafrika, insbesondere Äthiopien, sowie den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und des sowjetischen Einflussbereiches. Dabei spielt die → Jewish Agency eine wichtige Rolle. KIBBUZ HAMEUCHAD: Vereinigte Sammlung, Vereinigter Kibbuz (hebr.). Die Bewegung Kibbuz Hameuchad wurde als Dachorganisation 1927 gegründet und stand politisch nicht so weit links wie die Bewegung → Kibbuz Arzi des → Haschomer Hazair. 1951 lösten sich die Anhänger der → Mapai vom Kibbuz Hameuchad und bildeten den Dachverband → Ichud. 1979 schlossen sich beide Organisationen zur Vereinigten Kibbuz-Bewegung – abgekürzt Hatakam – zusammen. 1999 trat auch der Kibbuz Arzi der Vereinigung bei. KOMMUNISTISCHE PARTEI ISRAELS: Die Israelische Kommunistische Partei (abgekürzt: Maki) ging 1948 aus der Kommunistischen Partei Palästinas hervor und bestand aus arabischen und jüdischen Mitgliedern. 1965 spaltete sich die Partei aufgrund von Auseinandersetzungen über die Haltung gegenüber dem Zionismus und der Sowjetunion. Die Mehrheit der jüdischen Mitglieder weigerte sich, einen antizionistischen Kurs mitzutragen, und gründete eine neue Maki. Mehrheitlich arabische Mitglieder bildeten hingegen die Neue Kommunistische Liste (abgekürzt: Radach). Nach verschiedenen Bündnissen und weiteren Spaltungen vereinigten sich die beiden Flügel wieder und nahmen 1989 erneut den Namen Maki an. Die Maki gehört der Listenverbindung Chadasch (Neu, hebr., zugleich Abkürzung für Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung) an, zu der sich mehrere sozialistische Gruppierungen zusammengeschlossen haben. Sie ist die einzige gemeinsame Vereinigung von Arabern und Juden in Israel und tritt für einen Rückzug Israels aus allen seit 1967 besetzten Gebieten einschließlich der Räumung aller dortigen Siedlungen ein, ebenso für die Gleichstellung von Arabern und Juden sowie für soziale Verbesserungen namentlich der Arbeiterschaft. KRIEGE: Der Unabhängigkeitskrieg begann, nachdem bereits seit einiger Zeit ein Bürgerkrieg zwischen jüdischen und arabischen Milizen im Gang gewesen war, mit dem Ende der britischen Mandatsherrschaft und der Unabhängigkeitserklärung Israels am 14. Mai 1948. Ägypten, Jordanien, der Irak, Syrien und der Libanon akzeptierten den Beschluss der UNO-Vollversammlung vom 29. November 1947, Palästina in zwei Staaten zu teilen, nicht. Ihre Truppen marschierten 289

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in Israel ein. Die blutigen Kämpfe endeten am 11. Januar 1949 mit einem Waffenstillstandsabkommen. Der neue israelische Staat erhielt dadurch ein größeres Territorium, als ihm durch den ursprünglichen Teilungsplan zugesprochen worden war. Mindestens 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser waren geflüchtet oder vertrieben, rund 800 ihrer Dörfer zerstört worden (→ Nakba). Der Sinai-Krieg erfolgte als Reaktion auf die Verstaatlichung des Suezkanals durch Ägypten, die zu einem Bündnis zwischen Großbritannien, Frankreich und Israel geführt hatte. Am 29. Oktober 1956 griffen israelische Truppen die Sinaihalbinsel und den Gazastreifen an, am 31. Oktober leiteten Großbritannien und Frankreich militärische Aktionen ein. Auf internationalen Druck wurden im November die Feindseligkeiten eingestellt. Großbritannien und Frankreich mussten ihre Truppen, die in Ägypten gelandet waren, wieder abziehen. Bis März 1957 räumte Israel die letzten besetzten Gebiete, ab April konnte der Suezkanal wieder genutzt werden. Durch die Stationierung von UN-Friedenstruppen an der israelisch-ägyptischen Grenze wurde diese nun vor Angriffen, die zuvor von ägyptischem Territorium ausgegangen waren, sicherer. Großbritannien und Frankreich gingen geschwächt aus der „Suezkrise“ hervor, während die USA und die Sowjetunion als die beiden Weltmächte gestärkt wurden. Deren Zusammenarbeit in dieser Krise erleichterte es im Übrigen der Sowjetunion, den Aufstand für Freiheit, Demokratie und Selbstverwaltung in Ungarn im Oktober/November 1956 niederzuschlagen – die dortigen Revolutionäre hofften vergeblich auf Hilfe aus dem „Westen“. Der Sechstagekrieg begann am 5. Juni 1967 mit einem Präventivschlag der israelischen Luftwaffe gegen ägyptische Luftwaffenbasen, um einem befürchteten Angriff arabischer Staaten zuvorzukommen. Daraufhin griffen Jordanien und Syrien Israel an. Ebenso wie Ägypten wurden sie vom Irak, von Kuwait, Saudi-Arabien und Algerien mit Truppen und Waffen unterstützt. Der israelischen Armee gelang jedoch an allen Fronten der Vormarsch. Bis zum 10. Juni 1967 waren die Sinaihalbinsel, der Gazastreifen, das Westjordanland mit der historischen Altstadt von Jerusalem sowie die Golanhöhen erobert. Einen Tag später wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Von 1968 bis 1970 führte Ägypten mit sowjetischer Unterstützung einen „Abnutzungskrieg“ gegen Israel, der wiederum mit einem Waffenstillstand endete; die Grenzen blieben unverändert. Auch der Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 änderte die Situation nicht grundsätzlich. Erst 1979 konnte ein Friedensvertrag mit Ägypten unterzeichnet werden. Danach gab Israel bis 1982 die Sinaihalbinsel zurück. 2005 räumte Israel den Gazastreifen. Die übrigen eroberten Gebiete sind bis heute Konfliktzonen. Aus den besetzten Gebieten flüchteten zahlreiche Palästinenser 290

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oder wurden vertrieben. In Jordanien spitzten sich als Folge des Krieges die Gegensätze zwischen der Regierung und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu, bis diese 1970/71 aus dem Land vertrieben wurde. Der Erste Liba­nonkrieg – in Israel „Frieden für Galiläa“ genannt – hatte das Ziel, die ständigen Angriffe der PLO, die sich im Südlibanon festgesetzt hatte, auf Israel zu beenden, den Einfluss Syriens zurückzudrängen und die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Libanon zugunsten der israelischen Interessen zu beeinflussen. Beim Vormarsch der israelischen Armee, der am 6. Juni 1982 begann, kam es auch zu Zusammenstößen mit syrischen Einheiten. Am 11./12. Juni wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der sich allerdings als äußerst brüchig erwies. Ende August verließ die PLO den Libanon und verlegte ihr Hauptquartier nach Tunis. Am 16./17. September 1982 verübten christliche Milizen ein Massaker in zwei palästinensischen Flüchtlingslagern, ohne dass die israelische Armee eingriff. Die israelische → Friedensbewegung organisierte daraufhin am 25. September 1982 eine Kundgebung in Tel Aviv, die mit rund 400.000 Teilnehmern die bis dahin größte Demonstration in Israel wurde. Eine Untersuchungskommission verurteilte 1983 das Verhalten von Verteidigungsminister Ariel Scharon und Generalstabschef Rafael Eitan, die daraufhin zurücktreten mussten. Auch Ministerpräsident Menachem Begin wurde kritisiert. Schon während des Krieges hatten Intellektuelle wie die Schriftsteller Amos Oz und Abraham B. Jehoschua öffentlich gegen den Einmarsch protestiert und Reservisten, dokumentiert im „Brief der 92“, ihren Einsatz im Libanon verweigert. Die israelische Armee besetzte den Südlibanon bis 1985 und richtete dort anschließend bis 2000 eine Sicherheitszone an der Grenze zu Israel ein. Eine wirkliche Befriedung des Gebietes konnte jedoch nicht erreicht werden. Der Zweite Libanonkrieg vom 12. Juli bis 14. August 2006 war eine Reaktion auf die Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah (Partei Gottes, arab.), eine radikalislamische Organisation. Zahlreiche Zivilisten kamen durch diesen Krieg ums Leben. Er endete durch einen von der UNO vermittelten Waffenstillstand. Schließlich sind die Gaza­kriege zu nennen. Die Operation „Gegossenes Blei“ wurde vom 27. Dezember bis zum 8. Januar 2009 durchgeführt. Sie richtete sich gegen Mitglieder und Einrichtungen der palästinensischen Hamas im Gazastreifen als Reaktion auf den Raketenbeschuss israelischer Siedlungen; ein vorheriger Waffenstillstand war von beiden Seiten mehrfach gebrochen und am 18. Dezember 2008 von der Hamas aufgekündigt worden. Durch die israelischen Luftangriffe und die Bodenoffensive kamen weit über 1000 Menschen, überwiegend Zivilisten, ums Leben. Auf israelischer Seite starben drei Zivilisten und zehn Soldaten. 291

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Zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt, viele Wohngebiete sowie die Infrastruktur im Gazastreifen verwüstet und auch Einrichtungen internationaler Organisationen zerstört. Ebenso führten die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen zu erheblichen Schäden in Israel. Ein Sonderbericht der Vereinten Nationen warf beiden Seiten Kriegsverbrechen vor. Die israelische Regierung verteidigte die Angriffe auf zivile Einrichtungen damit, dass die Hamas von dort aus gekämpft habe und die eigene Bevölkerung vorschiebe. Im Zusammenhang mit diesem Krieg kam es international zu mehreren großen Demonstrationen zugunsten Israels, aber auch zu heftiger Kritik an dessen unverhältnismäßigem Vorgehen. Teilweise waren dabei antisemitische Äußerungen festzustellen. Auch nach dem Ende der Operation „Gegossenes Blei“ war ein Ende der Gewalt nicht abzusehen. 2014 wiederholte sich der Gazakrieg. LIKUD: Zusammenschluss (hebr.). Der Likud-Block entstand 1973 aus dem Bündnis der 1948 gegründeten Partei Cherut mit einer liberalen Partei und mehreren kleinen Rechtsparteien, um ein Gegengewicht gegen den linken Block Maarach zu bilden (→ Awoda). 1977 wurde Likud stärkste Fraktion in der Knesset und übernahm mit Menachem Begin das Amt des Ministerpräsidenten, das seitdem – von wenigen Jahren abgesehen – ein Likud-Vertreter innehat. Vorübergehend kam es zu einer Schwächung, als Ende 2005 Ministerpräsident Ariel Scharon den Likud verließ und die Partei Kadima (Vorwärts) gründete. Diese orientierte sich eher an der Mitte des Parteienspektrums und zog auch Mitglieder der Awoda an. Unter Benjamin Netanyahu hat der Likud-Block aber wieder an Stärke gewonnen. Sein Programm ist von nationalkonservativen Grundsätzen geprägt, die auf die Ideologie der → Zionisten-Revisionisten zurückgehen. Überwiegend werden die besetzten Gebiete als Teil des historischen Israel angesehen und deshalb dort neue Siedlungen befürwortet. MAKI → Kommunistische Partei Israels MAPAI: Abkürzung für Arbeiterpartei des Landes Israel (hebr.). Diese bildete sich 1930 als Abspaltung der → Poalei Zion (→ Achdut Haawoda) aus verschiedenen Gruppierungen. Ideologisch vertrat sie sozialdemokratische Vorstellungen und war weniger marxistisch orientiert als Poalei Zion. Später wurde sie zur stärksten Partei in der Zionistischen Weltorganisation, in Palästina und zunächst auch in Israel. Von 1948 bis 1977 kamen alle Regierungschefs aus dieser Partei, beginnend mit David Ben-Gurion. Die Mapai spaltete sich mehrfach und schloss sich 1967/68 mit anderen Gruppierungen zur Israelischen Arbeitspartei (→ Awoda) zusammen.

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Glossar MAPAM: Abkürzung für Vereinigte Arbeiterpartei (hebr.), die 1948 durch eine Ver-

bindung von → Haschomer Hazair, → Poalei Zion und → Achdut Haawoda gegründet wurde. Sie war sozialistisch-zionistisch ausgerichtet, mit starken Bindungen an die → Kibbuz-Bewegung, aber auch an die Gewerkschaft → Histadrut. Nachdrücklich trat sie für eine Verständigung mit den Arabern ein. Lange Zeit sympathisierte sie mit der Politik der Sowjetunion. Als 1952 Mordechai Oren, ein Vertreter der Mapam, in der Tschechoslowakei festgenommen und der Mapam im Schauprozess gegen Rudolf Slánský und andere die Teilnahme an einer zionistischen Verschwörung gegen die „sozialistischen Länder“ vorgeworfen wurde, begann diese Haltung zu bröckeln. Durch die Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen in den folgenden Jahren beschleunigte sich dieser Prozess. Es kam in der Partei zu einer Krise. 1954 traten führende Mitglieder wie Mosche Sneh zur Kommunistischen Partei über, andere vom eher gemäßigten Flügel gründeten die Partei → Achdut Haawoda wieder. Die Mapam war Mitglied der Sozialistischen Internationale. 1992 gehörte Mapam zu den Gründerinnen der linkssozialdemokratischen → Merez. MASKIR: Sekretär, hoher Beamter (weiblich: Maskira). Vorsitzender oder Vorsitzende der Kibbuzleitung. MEREZ: Energie (hebr.). Diese Gruppierung entstand 1992 zunächst als Wahlbündnis, dann 1996/97 als Partei aus einem Zusammenschluss von → Mapam, → Ratz und → Schinui. Sie vertritt sozialistisch-zionistische Ideen, versteht sich als Teil der → Friedensbewegung und setzt sich für ein gewaltfreies Zusammenleben von Juden und Arabern ein. Als Grundlage dafür betont sie die Notwendigkeit einer sozial gerechten Entwicklung. Deshalb engagiert sich Merez auch stark in Fragen der Menschenrechte, der Gleichstellung der Geschlechter, der Wirtschaftsund Sozialpolitik sowie des Umweltschutzes. Ende 2003 löste sich Merez zugunsten einer neuen Parteienvereinigung namens Yachad (Gemeinsam, zugleich eine Abkürzung für Sozialdemokratisches Israel) auf und nahm 2005 die Bezeichnung Merez-Yachad an, um sich 2006 erneut in Merez umzubenennen. Von Mapam hat Merez die Mitgliedschaft in der Sozialistischen Internationale übernommen. MISRACHI: Geistiges Zentrum (Abkürzung für Merkas Ruchani, hebr.). Diese religiös-zionistische Organisation wurde 1902 in Wilna gegründet. Sie verstand die Auswanderung nach Palästina nicht als Beginn der messianischen Erlösung des jüdischen Volkes, sondern als Notwendigkeit angesichts seiner Lage vor allem in Osteuropa. Die Misrachisten wandten sich gegen den Antizionismus der jüdischen Orthodoxie, aber ebenso gegen antireligiöse Tendenzen im Zionismus. Das „Baseler Programm“ des Ersten Zionistenkongresses von 1897 sollte auf der 293

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Grundlage der Tora und im Sinne des traditionellen Judentums verwirklicht werden. Misrachi arbeitete innerhalb der Zionistischen Weltorganisation mit und legte besonderen Wert auf die religiöse Erziehung. Seit 1908 förderte die Organisation die Gründung religiöser Schulen in Palästina. Des Weiteren setzte sie sich für die Institutionalisierung des Oberrabbinats und jüdischer Gerichte ein. 1921/22 gründete sich Hapoel Hamisrachi (Arbeiter-Misrachi) als eigene Organisation, die die Pionier-Ideale der → Chaluzim aufgriff und bis in die → Kibbuzbewegung hineinwirkte. Nach der Staatsgründung Israels beteiligten sich beide an vielen Regierungskoalitionen. 1956 schlossen sich Misrachi und Hapoel Hamisrachi mit anderen Gruppierungen zur Nationalreligiösen Partei zusammen. Diese vertritt den religiös begründeten Anspruch auf die 1967 eroberten Gebiete und eine an der Religion orientierte Gesetzgebung. MOSSAD: Institut (hebr.). Der israelische Auslandsgeheimdienst wurde 1949 gegründet. Er beteiligte sich an den Bemühungen, Nazi-Verbrecher aufzuspüren. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Sicherheit des Staates Israel zu gewährleisten. Es gelang dem Mossad mehrfach, geplante Terrorvorhaben zu verhindern und Truppenbewegungen gegnerischer Staaten zu melden, mit denen Angriffe auf Israel vorbereitet werden sollten. Wie andere Geheimdienste auch schreckt der Mossad nicht vor Entführungen und „gezielten Tötungen“ zurück. Eine Anzahl ehemaliger hochrangiger Mossad-Offiziere unterstützt aufgrund ihrer Erkenntnisse die Friedensbewegung, weil nach ihrer Meinung nur auf diesem Weg ein Ausweg aus dem Nahostkonflikt zu finden ist. Andererseits gibt es immer wieder Gerüchte, dass bestimmte Kräfte im Mossad durch gezielte Aktionen eine friedliche Lösung verhindern wollen. Davon zu unterscheiden ist der MOSSAD LE ALIJA BET. Dieser war eine 1939 gebildete Einrichtung der → Jewish Agency und hatte die Aufgabe, die Aktionen der → Hagana zu unterstützen und die Fluchtwege der → Bricha, aber auch anderer Aktionen der „illegalen“ Einwanderung nach Palästina (Alija Bet) vorzubereiten. NAKBA: Katastrophe, Unglück (arab.). Bezeichnung für die Staatsgründung Israels und die damit zusammenhängende Flucht oder Vertreibung von rund 750.000 Palästinenserinnen und Palästinensern. PALMACH: Abk. für Stoßtruppen (hebr.). Diese linkssozialistisch orientierte Eliteeinheit der → Hagana in Palästina wurde 1941 gegründet. Die Mitglieder waren in → Kibbuzim stationiert. Sie gingen später in der israelischen Armee auf und bildeten den Kern der Luftwaffe; aus der Untereinheit Palyam entstand die Marine. Viele Palmach-Angehörige stiegen in höchste Ränge der Armee, teilweise auch der Politik, auf; ein Beispiel ist Yitzchak Rabin. → Haschomer Hazair 294

Glossar PEACE NOW → Friedensbewegung POALEI ZION: Arbeiter Zions (hebr.). Seit 1901 bildeten sich in Osteuropa mehrere

linkszionistische Arbeitergruppierungen, nachdem schon 1897 in Wilna der nicht-zionistische Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland (Bund) gegründet worden war. Aus den Vorläufern ging 1906 die Jüdische Sozialistisch-Demokratische Arbeiterpartei Poalei Zion hervor, die sich ein Jahr später auch als Weltorganisation formierte. Sie hielt, unter dem Einfluss marxistischer Vorstellungen und den Lehren vor allem Ber Borochovs folgend, eine Konzentration des jüdischen Proletariates in Palästina für notwendig, damit sich dort der Klassenkampf entfalten könne und eine sozialistische Revolution möglich sei. In Osteuropa, aber auch in Deutschland, in den USA und in Lateinamerika spielten die Poalei Zion eine wichtige Rolle bei der Organisation des jüdischen Proletariates, in Osteuropa dann auch im Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. In Palästina schwächten sich die revolutionärmarxistischen Ideen zugunsten der praktischen Siedlungsarbeit und des nationalen Gedankens ab. Dies führte zu mehrfachen Spaltungen. 1919 gründete die gemäßigte Richtung der Poalei Zion die Organisation → Achdut Haawoda, die später in der → Mapai aufging. Ein bolschewistisch orientierter Flügel bildete hingegen die Poalei Zion Jüdisch-Kommunistische Partei (sie blieb in der Sowjetunion bis 1928 bestehen und war die letzte Partei neben der Kommunistischen, die aufgelöst wurde). Andere marxistisch ausgerichtete Mitglieder formten zunächst eine eigene Fraktion, 1924 dann die Poalei Zion Linke. Diese zerfiel später wieder in Splittergruppen, bis sie sich 1948 mit → Haschomer Hazair zur → Mapam vereinigte. RATZ: Abkürzung für Bewegung für Bürgerrechte und Frieden (hebr.). Diese Bürgerrechtsbewegung wurde 1973 von der Rechtsanwältin Schulamit Aloni (1928– 2014) als Partei gegründet. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels hatte eine Frau eine derartige Initiative ergriffen. Die Partei setzte sich nachdrücklich für Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Sie verstand sich als Teil der → Friedensbewegung. 1992 schloss sie sich mit anderen Gruppierungen zur → Merez zusammen, die 1996/97 eine eigenständige Partei bildete. REVISIONISTEN → Zionisten-Revisionisten SCHALIACH : Gesandter (weiblich: Schlicha, Plural: Schlichim). Abgesandter, Emissär der zionistischen Organisationen aus Palästina, später Israel, zu ihren Verbänden in der Diaspora. Auf diese Weise wurde die Verbindung mit der jeweiligen Bewegung sichergestellt. Oft hatten die Schlichim auch Spezialaufträge. Die Schlichim waren hauptamtlich angestellt und wurden entlohnt. Im 295

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→ Haschomer Hazair führen auch die angestellten Jugendleiter diese Bezeichnung. SCHALOM ACHSCHAW → Friedensbewegung SCHEKEL: Münze (hebr.). Der Schekel war bei den Babyloniern, Phöniziern und Israeliten zunächst eine Gewichtseinheit, im Alten Israel dann eine Silbermünze. Auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 wurde festgelegt, dass der jährlich zu zahlende Beitrag „Schekel“ genannt werden sollte, als Symbol für die Zugehörigkeit zur Zionistischen Organisation. Seit 1970 heißt die israelische Landeswährung Schekel (Abkürzung: NIS). SCHINUI: Abkürzung für Bewegung für Veränderung (hebr.). Diese Partei wurde 1974 gegründet und nahm zunächst liberal-zionistische Positionen ein. 1992 schloss sie sich mit anderen Gruppierungen zur → Merez zusammen. 1997 spaltete sich eine wieder eigenständige Schinui von Merez ab. Diese vertrat liberale Grundsätze, vor allem in der Wirtschaftspolitik. 2003/04 gehörte sie der Regierung Ariel Scharons an. Mehrere Spaltungen schwächten die Partei. Die Gründung der liberalen Kadima Ende 2005 entzog ihr weiteres Wählerpotenzial, sodass Schinui derzeit keine besondere politische Rolle spielt. SCHOAH : Katastrophe, Zerstörung (hebr.). Bezeichnung für die systematische Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Deutschen und ihre Helfershelfer aufgrund der nationalsozialistischen Politik. Sie wird synonym mit dem Begriff Holocaust (Brandopfer, griech.) gebraucht. SCHTETL: Städtchen (jiddisch). Wohnorte in Osteuropa mit einer beachtlichen, manchmal fast ausschließlich jüdischen Bevölkerung. Diese typische räumliche Umwelt der Juden in einer Kleinstadt oder auch in einem Viertel einer größeren Stadt war gekennzeichnet durch ein hohes Maß an jüdischer Selbstverwaltung und Autonomie, einen bedeutenden Stellenwert der Religion (in verschiedenen Ausprägungen), die Pflege der jüdischen Tradition, jüdischer Sitten und Bräuche, eine dichte Kommunikation und einen Austausch mit der nicht-jüdischen Umgebung. Die Umgangssprache war Jiddisch, die Sprache des religiösen Kultes und der Gelehrsamkeit Hebräisch. Mit der nicht-jüdischen Bevölkerung unterhielt man sich in deren Sprache. Schtetl bedeutet deshalb insgesamt auch eine Lebensform. Der politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wandel im 19. Jahrhundert, der auch die Stellung der Juden in der Gesellschaft veränderte und mit einem wachsenden Antisemitismus verbunden war, führte zu einer Orientierungskrise vieler Menschen im Schtetl. Nicht zuletzt empfanden Jugendliche die Lebenswelt des Schtetls als zu eng. Sie versuchten, sich neue Welten zu erschließen. Insofern verwundert es nicht, dass sich unter den Anhängern sozi296

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alistischer und zionistischer Gruppierungen viele Jugendliche befanden, die aus einem Schtetl stammten. UNRRA: Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) wurde 1943 in den USA gegründet und 1945 von der UNO übernommen. Ihre zentrale Aufgabe war die Betreuung und Repatriierung von Personen, die verschleppt oder deportiert worden waren. Nach Kriegsende kümmerte sich die Organisation vor allem um die Displaced Persons (DP). Ihre Zentrale befand sich – nach einem Übergang – in Bad Arolsen, wo sie auch einen Suchdienst, den International Tracing Service (ITS), einrichtete, der bis heute besteht und für Nachforschungen nach wie vor von großer Bedeutung ist. WERKLEUTE: Die „Werkleute. Bund deutsch-jüdischer Jugend“ gingen 1932 aus dem 1916 entstandenen deutsch-jüdischen Wanderverein „Kameraden“ hervor. Zunächst gemäßigt sozialistisch und religiös orientiert, verzichtete der Bund 1933 auf den Namensbestandteil „deutsch“ und zielte nun auf die Alija sowie die Gründung von Kibbuzim. Den meisten der ungefähr 1200 Mitglieder gelang bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges die Ausreise nach Palästina. Die Jüngeren kamen durch Kindertransporte nach Großbritannien und in die Niederlande. WIZO: Abkürzung für Women’s International Zionist Organisation. Diese Organisation wurde 1920 in London gegründet, um die Arbeit von Frauen in der zionistischen Bewegung zu unterstützen. Besonderen Wert legte sie auf die aktive Mitwirkung von Frauen beim Aufbau → Erez Israels. Die Wizo verbreitete sich insbesondere in Europa, aber auch in Lateinamerika. 1949 wurde die Zentrale von London nach Israel verlegt. Heute arbeitet sie mit → Hadassah eng zusammen. YISHUV: Ansiedlung (hebr.). Bezeichnung für die jüdische Bevölkerung in Palästina. Den „alten Yishuv“ bildeten schon vor 1882 – dem Beginn der zionistischen → Alija – dort lebende Juden (etwa 20.000–25.000, rund fünf Prozent der Bevölkerung) sowie jene, die zwar nach 1882 einwanderten, aber nicht als Zionisten, sondern aus religiösen Gründen. All diese konzentrierten sich in den vier heiligen Städten Jerusalem, Safed, Tiberias sowie Hebron und waren meist auf Unterstützung durch Juden in der Diaspora angewiesen. Der „neue Yishuv“ setzte sich aus den Einwanderern der Alijot zusammen. Sie gründeten landwirtschaftliche Kolonien – namentlich → Kibbuzim – und schufen wirtschaftliche Zentren wie Tel Aviv und Haifa. Nach der Jahrhundertwende und vor allem seit den 1920erJahren wurde ein kommunales Selbstverwaltungssystem bis hin zu einem „Nationalrat“ (Waad Leumi) aufgebaut, das die britische Regierung 1928 offiziell 297

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anerkannte. Zur Zeit der Staatsgründung Israels lebten ungefähr 700.000 Juden in Palästina und stellten damit rund 31 Prozent der Bevölkerung. ZERTIFIKAT: 1922 übernahm Großbritannien im Auftrag des Völkerbundes das Mandat zur Verwaltung Palästinas, nachdem die Siegermächte des Ersten Weltkrieges dies bereits 1920 auf ihrer Konferenz in San Remo beschlossen hatten. Seit dieser Zeit brauchten Juden eine besondere Bewilligung zur Einwanderung. Vor allem seit der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre wurden nur noch wenige Zertifikate ausgestellt. Für die jüdischen Flüchtlinge vor der Verfolgung im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich war diese Politik lebensbedrohlich. In der Schweiz bemühte sich etwa das Palästina-Amt (Basel, dann Genf ) unter Leitung von Samuel Scheps (1904–1999) um Zertifikate oder stellte entsprechende Zusagen aus, um den Flüchtlingen zumindest einen befristeten Aufenthalt in der Schweiz zu ermöglichen. Eine Zertifikatspolitik, die an äußerst einengende Bedingungen geknüpft war, betrieben auch viele weitere Staaten der Welt. ZIONISTEN-REVISIONISTEN: Die Union der Zionisten-Revisionisten bildete sich 1925 unter der Führung Vladimir Zeev Jabotinskys als eine Partei innerhalb der Zionistischen Organisation, die sich als Opposition gegen die vorherrschende Richtung um Chaim Weizmann verstand. Sie trat dafür ein, den geplanten Judenstaat in Palästina – und zwar beiderseits des Jordans – nicht nur auf diplomatischem Weg und durch eine verstärkte Kolonisation zu erreichen, sondern notfalls auch gewaltsam gegen die Araber und die britische Mandatsverwaltung durchzusetzen. Ihr Ideal war ein „reiner“ Zionismus ohne Mischung mit sozialistischen oder anderen Ideen. Sie befürwortete eine militärische Erziehung der Jugend und einen jüdischen Selbstschutz. Infolgedessen unterstützte die Union die nationalistisch-militärische Untergrundorganisation Irgun, die Anschläge auf Araber und Engländer verübte. Nachdem die Zionisten-Revisionisten immer wieder gegen die nach ihrer Meinung zu große Nachgiebigkeit der Zionistischen Welt-Organisation gegenüber der britischen Politik protestiert hatten, traten sie 1935 aus dieser aus, kehrten 1946 jedoch zurück. Den Teilungsplan für Palästina, den die UNO 1947 vorlegte, lehnten sie ab. Die Grundsätze der ZionistenRevisionisten bestimmten wesentlich die Ideologie des → Likud-Blocks. ZIONISTISCHE WELTORGANISATION (WORLD ZIONIST ORGANIZATION, WZO): Nach verschiedenen Vorläufern wurde diese Bewegung als Zionistische

Organisation auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 in Basel gegründet. Sie gab sich dort das „Baseler Programm“, das sich „die Schaffung einer öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ zum Ziel setzte. Zu diesem Zweck sollten „die Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern 298

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und Gewerbetreibenden“ gefördert, die „gesamte Judenschaft“ zusammengefasst, das „jüdische Volksgefühl und Volksbewusstsein“ gestärkt sowie „vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen“ unternommen werden. Mitglied konnten alle Juden werden, die den → Schekel bezahlten. Daneben gehörten der zionistischen Bewegung alle Organisationen an, die sich als zionistisch verstanden. Innerhalb der Bewegung entfalteten sich zahlreiche unterschiedliche Richtungen und Fraktionen. Oberstes Organ ist der Zionistenkongress, der zunächst jährlich, ab 1901 bis 1946 – mit Unterbrechungen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges – alle zwei Jahre tagte. Seitdem finden die Kongresse in Jerusalem statt. Der Kongress wählt den Präsidenten und die Exekutive. Seit 1960 können der WZO nur noch Organisationen angehören. Da das „Baseler Programm“ mit der Staatsgründung Israels 1948 hinfällig geworden war, kam es immer wieder zu Diskussionen über die Zukunft der WZO. 2004 wurde das „Jerusalemer Programm“ beschlossen. Dieses betont die Einheit des jüdischen Volkes und dessen Verbindung mit Israel. Die → Alija soll gefördert, Israel gestärkt werden. Weiter will sich die WZO für die jüdische Kultur sowie für die nationalen und individuellen Rechte der Juden in aller Welt einsetzen.

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Heini Bornstein

Insel Schweiz Hilfs- und Rettungsaktionen sozialistisch-zionistischer Jugendorganisationen 1939–1946 Mit einem Vorwort von Prof. Yehuda Bauer Chronos Verlag, Zürich 2000 ISBN 978-3-905312-80-5 Br. 281 S., 18 Abb. EUR 23

«Heini Bornsteins Buch ist ein einzigartiges, unerlässliches Zeitdokument, das auf bewegende Art und Weise zeigt, was junge Aktivisten eines zionistischen Jugendbundes während der Schoa von der Schweiz aus an Hilfe leisten konnten.» Simon Erlanger, Israelitisches Wochenblatt Nach dem 21. Zionistenkongress im August 1939 in Genf verliessen alle zionistischen Emissäre Europa, mit Ausbruch des Krieges wurde der Kontakt zwischen Europa und Palästina abgebrochen. Einzig die verschiedenen jüdischen Instanzen in Genf hielten den Kontakt mit den Führern der jüdischen Gemeinden in den von den Nazis besetzten Ländern aufrecht. Der in Basel geborene Heini Bornstein war Mitglied der zionistischen Jugendbewegung «Haschomer Hazair». Er half mit, ein Verbindungsnetz der zionistischen Jugendbewegungen zu errichten. Von der Schweiz aus wurden Lebensmittelpakete und Medikamente in die Ghettos und Konzentrationslager gesandt. Der Autor beschreibt, wie die jüdischen Untergrundbewegungen in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei mit Schweizer Dokumenten sowie mit südamerikanischen Pässen versorgt und wie mit Kurieren Gelder und Informationen überwiesen wurden. Auch die intensiven Verbindungen mit den jüdischen Widerstandsbewegungen in Frankreich, Belgien, Italien kommen zur Sprache. Viele der zahlreichen in diesem Buch veröffentlichten Briefe zwischen dem Verfasser und den Verantwortlichen der Widerstandsgruppen in den verschiedenen Ländern sind in einer kodierten Sprache geschrieben, die Heini Bornstein für die heutige Leserschaft entschlüsselt hat.



LEBENSWELTEN OSTEUROPÄISCHER JUDEN HERAUSGEGEBEN VON HEIKO HAUMANN, JULIA RICHERS UND MONICA RÜTHERS



EINE AUSWAHL

BD. 14 | JUDITH SCHIFFERLE ÜBERLEBEN IM DAZWISCHEN

BD. 10 | PETER HABER

ZU DEN POETISCHEN SELBSTBILDERN

ZWISCHEN JÜDISCHER

IM WERK VON MOSES ROSENKRANZ

TRADITION UND WISSENSCHAFT

(1904–2003)

DER UNGARISCHE ORIENTALIST

2013. 393 S. 13 S/W-ABB. BR.

IGNÁC GOLDZIHER (1850–1921)

ISBN 978-3-412-21117-2

2006. 265 S. BR. | ISBN 978-3-412-32505-3 BD. 15 | SANDRA STUDER BD. 11 | LOUISE HECHT

ERINNERUNGEN AN DAS

EIN JÜDISCHER AUFKLÄRER

JÜDISCHE VILNE

IN BÖHMEN

LITERARISCHE BILDER VON CHAIM

DER PÄDAGOGE UND REFORMER

GRADE UND ABRAHAM KARPINOVITSH

PETER BEER (1758–1838)

2014. 398 S. 17 S/W-ABB. BR.

2008. 403 S. 5 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-412-21118-9

ISBN 978-3-412-14706-8 BD. 16 | KATHARINA FRIEDLA BD. 12 | JULIA RICHERS

JUDEN IN BRESLAU/WROCŁAW

JÜDISCHES BUDAPEST

1933–1949

KULTURELLE TOPOGRAPHIEN EINER

ÜBERLEBENSSTRATEGIEN, SELBST­

STADTGEMEINDE IM 19. JAHRHUNDERT

BEHAUPTUNG UND VERFOLGUNGS­

2009. 424 S. 27 S/W-ABB. BR.

ERFAHRUNGEN

ISBN 978-3-412-20471-6

2015. 552 S. BR. | ISBN 978-3-412-22393-9

BD. 13 | JAN AREND

BD. 17 | EKATERINA EMELIANTSEVA

JÜDISCHE LEBENS GESCHICHTEN AUS

RELIGIÖSE GRENZGÄNGER IM

DER SOWJETUNION

ÖSTLICHEN EUROPA

ERZÄHLUNGEN VON ENTFREMDUNG

GLAUBENSENTHUSIASTEN UM DIE

UND RÜCKBESINNUNG

PROPHETIN EKATERINA TATARINOVA

2011. 177 S. 18 S/W-ABB. BR.

UND DEN PSEUDOMESSIAS JAKOB

ISBN 978-3-412-20802-8

FRANK IM VERGLEICH (1750–1850) 2015. CA. 352 S. BR.

ST550

ISBN 978-3-412-22453-0

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REIHE JÜDISCHE MODERNE HERAUSGEGEBEN VON ALFRED BODENHEIMER, JACQUES PICARD, MONIK A RÜTHERS UND DANIEL WILDMANN



EINE AUSWAHL

BD. 12 | CASPAR BATTEGAY DAS ANDERE BLUT

BD. 8 | ALEXANDRA BINNENKADE,

GEMEINSCHAFT IM DEUTSCH-

EKATERINA EMELIANTSEVA,

JÜDISCHEN SCHREIBEN 1830–1930

SVJATOSLAV PACHOLKIV

2011. 329 S. GB. | ISBN 978-3-412-20634-5

VERTRAUT UND FREMD ZUGLEICH JÜDISCH-CHRISTLICHE NACHBAR-

BD. 13 | KATERINA ČAPKOVÁ,

SCHAFTEN IN WARSCHAU – LENGNAU

MICHAL FRANKL

– LEMBERG

UNSICHERE ZUFLUCHT

MIT EINEM GELEITWORT VON H EIKO

DIE TSCHECHOSLOWAKEI UND IHRE

HAUMANN.

FLÜCHTLINGE AUS NS-DEUTSCHLAND

2009. X, 216 S. 3 S/W-ABB. GB.

UND ÖSTERREICH 1933–1938

ISBN 978-3-412-20177-7

AUS DEM TSCHECHISCHEN ÜBERSETZT VON KRISTINA KALLERT

BD. 9 | BEATRIX BORCHARD,

2012. 327 S. 41 S/W-ABB. GB.

HEIDY ZIMMERMANN (HG.)

ISBN 978-3-412-20925-4

MUSIKWELTEN – LEBENSWELTEN JÜDISCHE IDENTITÄTSSUCHE IN DER

BD. 14 | STEFANIE MAHRER

DEUTSCHEN MUSIKKULTUR

HANDWERK DER MODERNE

2009. 406 S. 26 S/W-ABB UND 10 S/W-

JÜDISCHE UHRMACHER UND UHREN-

ABB. AUF 8 TAF. GB.

UNTERNEHMER IM NEUENBURGER

ISBN 978-3-412-20254-5

JURA 1800–1914

BD. 10 | WULFF BICKENBACH

AUF 8 TAF. GB. | ISBN 978-3-412-20935-3

2012. 280 S. 14 S/W- UND 14 FARB. ABB. GERECHTIGKEIT FÜR PAUL GRÜNINGER VERURTEILUNG UND REHABILITIERUNG

BD. 15 | MARLEN OEHLER

EINES SCHWEIZER FLUCHTHELFERS

BRUNNSCHWEILER

(1938–1998)

SCHWEIZER JUDENTÜMER

MIT EINEM GELEITWORT VON

IDENTITÄTSBILDER UND GESCHICHTEN

JACQUES PICARD.

DES SELBST IN DER SCHWEIZERISCH-

2009. 363 S. 22 S/W-ABB. GB.

JÜDISCHEN PRESSE DER 1930ER

ISBN 978-3-412-20334-4

JAHRE

BD. 11 | ANDREA HEUSER

GB. | ISBN 978-3-412-21043-4

2013. 428 S. 5 S/W- UND 1 FARB. ABB. VOM ANDEREN ZUM GEGENÜBER »JÜDISCHKEIT« IN DER DEUTSCHEN GEGENWARTSLITERATUR

TT094

2011. 396 S. GB. | ISBN 978-3-412-20569-0

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CHRISTOPH MANASSE

AUF DER SUCHE NACH EINER NEUEN JÜDISCHEN IDENTITÄT DER SCHRIFTSTELLER KARL LIEBLICH (1895–1984) UND SEINE VISION EINER INTERTERRITORIALEN NATION

Der Stuttgarter Schriftsteller Karl Lieblich entwickelte Ende der 1920er Jahre die Vision eines neuen Judentums. Dabei entwarf er ein eigenes Gesellschaftsmodell, welches die Diaspora der Juden als natur- und gottgegeben betrachtete und das jüdische Volk als Gürtel- und Mörtelvolk zwischen den übrigen Völkern definierte. Lieblich orientierte sich bei seinen Überlegungen an den kulturellen Minderheitenkonzepten in Ost- und Mittelosteuropa, welche auf dem Grundsatz der personalen Autonomie basierten. Von der Staatengemeinschaft forderte er deshalb die völkerrechtliche Anerkennung des jüdischen Volkes als interterritorialer Nation. Das Buch zeichnet die Entwicklung der kulturpolitischen Überlegungen Lieblichs nach und bettet diese in seine Biographie ein. Gleichzeitig deckt die Studie Bezüge jener Überlegungen auf und versucht diese in einem größeren Kontext zu verankern. 2015. 364 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22483-7

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