Vom kritischen Denker zur Medienprominenz?: Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 [1. Aufl.] 9783839430781

In 1989 and 1990, authors, artists, and intellectuals were at the center of attention: As commentators and observers, bu

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Vom kritischen Denker zur Medienprominenz?: Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 [1. Aufl.]
 9783839430781

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Vom kritischen Denker zum Medienpromi
I. »Klassische« Rollen in »offener« Gesellschaft
»Bey Gott, – ich, ich, ich habe gewürket«. Christoph Kaufmann – Intellektualität als Persönlichkeitskult in der frühen Goethezeit
Zeuge und Zuschauer
Walter Dirks – Sozialist aus christlicher Verantwortung
Der Angestellte und freie Mitarbeiter als Intellektueller: Walter Boehlich
Sozialplanung und Moralistik
II. Erfahrungen in »geschlossener« Gesellschaft
Intellektuelle und doppeldeutsche Gesprächs-Versuche vor und nach 1989 – Erinnerungsstücke
»Der arge Weg der Erkenntnis«
Stephan Hermlin – »spätbürgerlicher Schriftsteller« und »kommunistischer Intellektueller«?
Distanziertes Engagement. Das Konzept der Tragödie in Heiner Müllers Schaffen
Die Selbstbehauptung der Intellektuellen in der DDR
»Die Wahrheit über diese Zeit und unser Leben müsse wohl doch die Literatur bringen«.
Kontinuität im Denken trotz Wandel in der Politik – Gesellschaftlicher Mitsprache- Anspruch am Beispiel Volker Brauns
»Eine Zugehörigkeit band mich an die Sache, die ich angriff.«
III. Perspektiven in neuen (alten) Medien?
Wollt ihr das totale Medium?
Organisierender oder universaler Intellektueller?
Der Intellektuelle als Verweigerungskünstler? – Günter Eich, Ingo Schulze, Christian Kracht
Politische Publizistik und imaginierte Alternativen in scheinbar alternativlosen Zeiten
The Rise of the Third Culture. Transnationale Überlegungen zur Erschaffung eines intellektuellen Mythos
Autorenverzeichnis

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Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz?

Lettre

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989

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Inhalt

Vorbemerkung | 9

Vom kritischen Denker zum Medienpromi. Aufriss einer Entwicklung wieder einmal von ihrem Ende her?

Carsten Gansel/Werner Nell | 11

I. »KLASSISCHE« ROLLEN IN » OFFENER« GESELLSCHAFT »Bey Gott, – ich, ich, ich habe gewürket«. Christoph Kaufmann – Intellektualität als Persönlichkeitskult in der frühen Goethezeit

Mike Porath | 31 Zeuge und Zuschauer. Intellektuelle im Angesicht des Schreckens

Maike Schult | 71 Walter Dirks – Sozialist aus christlicher Verantwortung

Ulrich Bröckling | 93 Der Angestellte und freie Mitarbeiter als Intellektueller: Walter Boehlich

Helmut Peitsch | 109 Sozialplanung und Moralistik. Albert Salomons Studien zur alteuropäischen Literatur als Standortbestimmung für eine Beobachtung der Gegenwart nach 1945

Werner Nell | 131

II. ERFAHRUNGEN IN »GESCHLOSSENER « G ESELLSCHAFT Intellektuelle und doppeldeutsche Gesprächs-Versuche vor und nach 1989 – Erinnerungsstücke

Carsten Gansel | 163 »Der arge Weg der Erkenntnis« Ostdeutsche Intellektuelle und der Verlust der Utopie

Monika Wolting | 179 Stephan Hermlin – »spätbürgerlicher Schriftsteller« und »kommunistischer Intellektueller«?

Matthias Braun | 203 Distanziertes Engagement. Das Konzept der Tragödie in Heiner Müllers Schaffen. Am Beispiel von Der Horatier

Joanna Jabłkowska | 215 Die Selbstbehauptung der Intellektuellen in der DDR. Annemarie Auer, Franz Fühmann und Christa Wolf in ihren Essays

Peter Braun | 231 »Die Wahrheit über diese Zeit und unser Leben müsse wohl doch die Literatur bringen«. Christa Wolfs Intellektuellenverständnis in Ein Tag im Jahr

José Fernández-Pérez | 253 Kontinuität im Denken trotz Wandel in der Politik – Gesellschaftlicher Mitsprache-Anspruch am Beispiel Volker Brauns

Hannah Schepers | 271 »Eine Zugehörigkeit band mich an die Sache, die ich angriff«. Volker Braun und die Paradoxie des dialektischen Engagements

Manuel Maldonado-Alemán | 285

III. PERSPEKTIVEN IN NEUEN (ALTEN) MEDIEN? Wollt ihr das totale Medium? Die unterhaltsame Agonie des Realen und das weniger unterhaltsame Verstummen der Kritik in Marshall McLuhans Das Medium ist Massage

Norman Kasper | 309 Organisierender oder universaler Intellektueller? Alexander Kluges Medien-Arbeit

Matthias Uecker | 327 Der Intellektuelle als Verweigerungskünstler? – Günter Eich, Ingo Schulze, Christian Kracht

Jörg Schuster | 345 Politische Publizistik und imaginierte Alternativen in scheinbar alternativlosen Zeiten. Die Rückeroberung eines politischen Raumes durch linke Intellektuelle wie Dietmar Dath

Inga Ketels | 359 The Rise of the Third Culture. Transnationale Überlegungen zur Erschaffung eines intellektuellen Mythos

Patricia A. Gwozdz | 377

Autorenverzeichnis | 399

Vorbemerkung

Hans Werner Richter liefert in seiner BANSINER TOPOGRAPHIE (1965) eine anschauliche Beschreibung jenes Ortes, den er auch in der Erinnerung immer wieder aufsuchte: »Die Straßen des Ortes, in dem mein Vater lebte, bilden ein Kreuz. Die längere Seestraße läuft von Süden nach Norden, die kürzere Bergstraße von Westen nach Osten. Sie schneidet die Seestraße in ihrer oberen Hälfte. Das Kreuz ist behangen mit ein paar Nebenstraßen, mit einem Kriegerdenkmal, mit einem vermoderten See, mit einer zweiklassigen Volksschule, mit Villen aus der Jahrhundertwende, mit einem Kinderspielplatz und mit zwei Tennisplätzen.«1

Richters BANSINER TOPOGRAPHIE war für den von Klaus Wagenbach herausgegebenen Atlas-Band entstanden, in dem deutsche Autoren aus Ost und West ihre verlassenen Heimaten erinnerten. So ging Günter Grass in seinem Prosagedicht KLECKERBURG Danzig nach, Arnold Zweig Glogau und Kattowitz, Anna Seghers und Carl Zuckmayer Mainz, Johannes Bobrowski Königsberg, das »inzwischen Kaliningrad zu heißen hatte«.2 Die Tatsache, dass Hans Werner Richter in seiner BANSINER TOPOGRAPHIE die deutsche Teilung als noch nicht endgültig ansah, führte damals zu gereizten Reaktionen in der DDR. Etwa 25 Jahre später erlebte Hans Werner Richter das Ende der deutschen Teilung und konnte damit ohne Probleme an den Ort zurückkehren, von dem aus er Mitte der 1920er Jahre in die Welt aufgebrochen war. Auf eigenen Wunsch wurde der Spiritus rector der GRUPPE 47 nach seinem Tod 1993 in Bansin beigesetzt. Martin Bartels, seit 1968 Pfarrer in Benz auf Usedom und ein Freund Richters, gehörte neben Karin Lehmann in der Folge zu einem Kreis von Engagier-

1

Richter, Hans Werner: Bansiner Topographie, in: ders.: GESCHICHTEN AUS BANSIN, Berlin: Klaus Wagenbach 2004, S. 9.

2

Wagenbach, Klaus: Nachbemerkung nach vierzig Jahren, in: ders. (Hg.): ATLAS. Deutsche Autoren über ihren Ort, Berlin: Wagenbach 2004, S. 11.

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ten in der Gemeinde, die das ehemalige Feuerwehrhaus zu einem Hans Werner Richter-Haus umbauten. Nach einer ersten internationalen Tagung anlässlich des 90. Geburtstages von Hans Werner Richter finden seit 2008 – dem Jahr des 100. Geburtstages – jährlich im November die Hans Werner Richter-Literaturtage statt, in deren Zentrum neben Lesungen und Gesprächen jeweils eine wissenschaftliche Tagung steht. Dass Bansin in dieser Weise zu einem Ort intellektuellen Austausches wird, bedeutet die Fortsetzung einer Tradition: Die Insel Usedom mit ihren bekannten Ostseebädern Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin gehörte im 20. Jahrhundert zu einem Raum, den Maler, Musiker, Schriftsteller, Filmemacher und Wissenschaftler, mithin zahlreiche Intellektuelle, gerade wegen seiner besonderen Atmosphäre schätzten. Dazu gehörten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Maxim Gorki, Thomas Mann, Theodor Fontane, Lyonel Feininger oder Johann Strauß. Es nimmt daher nicht wunder, wenn auch Aspekte des intellektuellen Engagements immer wieder auf den Tagungen eine Rolle spielten. Auf den 6. Hans Werner Richter-Literaturtagen stand deshalb im Jahr 2013 die Frage nach der Rolle von Intellektuellen vor und nach der Wende von 1990 im Zentrum der Diskussion. Wie in den Jahren zuvor traf sich dazu erneut eine international zusammengesetzte Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, um sich – auch im Rückbezug auf die intellektuellen Impulse, wie sie seinerzeit von der von Hans Werner Richter ins Leben gerufenen GRUPPE 47 ausgegangen waren –, mit der »Rolle der Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989« zu befassen. Der vorliegende Band enthält die Beiträge der Tagung, die um einige weitere Studien ergänzt wurden. Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vortragsrunden ebenso wie den Autorinnen und Autoren der nunmehr vorliegenden Beiträge für die zügige und sorgfältige Ausarbeitung ihrer Studien. Der besondere Dank gilt der Gemeinde und Dr. Karin Lehmann als der stellvertretenden Kurdirektorin (Eigenbetrieb Kaiserbäder Insel Usedom) für die engagierte und großzügige Förderung der Tagung. In gewohnt zuverlässiger und engagierter Weise haben Inna Margoulis, Nadine Forstner und Marc Weiland in Halle zum Zustandekommen des vorliegenden Bandes durch ihre Mitarbeit bei den Korrekturen und bei der Einrichtung des Bandes beigetragen.

Gießen/Halle im August 2015 Carsten Gansel & Werner Nell

Vom kritischen Denker zum Medienpromi Aufriss einer Entwicklung wieder einmal von ihrem Ende her? C ARSTEN GANSEL /W ERNER N ELL Die Verschwendung menschlichen Lebens im Dienste von flüchtigen, aber zur Zeit für ewig gehaltenen Werten, kann man allenthalben in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften beobachten. Aber zuweilen tragen die Opfer im Dienste flüchtiger Werte zur Entstehung menschlicher Werke oder menschlicher Figurationen von dauerhafterem Werte bei. ELIAS / DIE HÖFISCHE GESELLSCHAFT (1975: 199)

Der Begriff und die Geschichte der modernen Intellektuellen gehen – in unserem heutigen Verständnis – auf die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Mit seinem »J’accuse« (»ich klage an«) überschriebenen offenen Brief an den Präsidenten der französischen Republik, der am 13. Januar 1898 auf S. 1 der Tageszeitung L’AURORE erschienen war, hatte Émile Zola (1840-1902), seinerzeit prominentester Schriftsteller des zeitgenössischen Frankreich, auf das Schicksal des aus einer antisemitischen und chauvinistischen Intrige heraus 1894 wegen Landesverrats zu Unrecht verurteilten jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus (1859-1935) aufmerksam gemacht (vgl. Zola 1969: 113-124) und eine Wiederaufnahme des Verfahrens gefordert. In den Wochen danach erschienen Stellungnahmen für und gegen Dreyfus, die Partei der »Dreyfusards« etablierte sich ebenso wie sich die Gruppe seiner Gegner formierte (vgl. Duclert 1994: 54-64). Zunächst durch den militärisch-juristischen Apparat und die mit ihm verbundene politische Macht angegriffen, Zola musste vor einer Gefängnisstrafe wegen Verleumdung sogar zeitweilig nach England flüchten, umfasste die Gruppe der Unterstützer Dreyfus‘ schon bald mehrere tausend Journalisten, Künstler, Politiker und

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andere Vertreter des öffentlichen Lebens, die sich im Klima eines noch immer durch die Niederlage im Krieg gegen Deutschland 1871 verunsicherten und aufgeregten Frankreich in offenen Briefen, Stellungnahmen und öffentlichen Debatten mit den diversen Vorwürfen, zumal des Landesverrats, auseinander zu setzen hatten. Die einmal aufgeworfene Frage nach der Schuld bzw. Unschuld des Hauptmanns spaltete Öffentlichkeit und Gesellschaft ebenso wie die Hinweise auf eine durch Militär, Justizapparat und katholische Kirche auf den Weg gebrachte Intrige und stieß von einzelnen Familien bis zur Gesellschaft im Ganzen nicht nur weitere, z.T. auch gewalttätig geführte Auseinandersetzungen an. Vielmehr führte die in der Folgezeit wachsende Unterstützung für die Seite der Dreyfusards, gekoppelt an eine inzwischen zu einer eigenständigen Macht gewordenen Massenpresse, tatsächlich dann auch zu einer Revision des Urteils und einer, wenn auch erst spät im Jahr 1906 erfolgenden, vollständigen Rehabilitierung Dreyfus’ (vgl. Jurt 2012). Mehr noch, im Zuge dieser Affäre hatte sich auch eine Verschiebung des politischen Kräftefelds in Frankreich zugunsten der republikanischen und liberalen Kräfte abgezeichnet, als deren Folge nicht nur der Wahlerfolg der republikanischen Parteien (Bloc républicain) im Jahr 1902, sondern auch die noch heute für das republikanische Frankreich konstitutive Trennung von Kirche und Staat (1905), die Ausformung eines laizistischen Staatsverständnisses, zu sehen sind. Es waren nicht zuletzt diese sich über ein Jahrzehnt hinweg erstreckenden Debatten, Affären und Entwicklungen, die nicht nur im Blick auf die Geschichte Frankreichs im 20.Jahrhundert einen »Katalysator«-Effekt (Loth 1992: 18) hatten, sondern innerhalb derer sich auch der Begriff des Intellektuellen formierte und öffentliche Bedeutung gewann. Vor diesem Hintergrund sind auch noch aktuell Vorstellungen und Ansprüche ebenso wie Kritiken des Verhaltens und der Rolle von Intellektuellen zu sehen; nicht zuletzt gilt dies noch immer für Forderungen nach intellektueller Praxis und Verantwortung und auch für die Rede von deren Versagen und/oder Verschwinden (Bax 2015: 16). Zunächst als Kampfvokabel gegen die Verteidiger Dreyfus‘ eingesetzt, um diese auf ihre unzuständige, haltlose, vaterlands- und letztlich verantwortungslose Haltung festzulegen, wurde der Begriff schon bald von diesen übernommen und als Auszeichnung eines parteipolitisch oder gruppenspezifisch ungebundenen Eintretens für die höheren Werte der Gerechtigkeit und der Wahrheit aufgefasst (Duclert 1994: 102-116). Nicht ein Vaterland oder die Verteidigung eines bestimmten Standes- oder sonstigen Gruppeninteresses, sondern vielmehr das Eintreten für die Rechte des Individuums, der Gesellschaft oder gar der Menschheit im Ganzen wurden so zum Betätigungsfeld eines »wachen« und »besorgten« Beobachters der Gesellschaft und der Zeitläufte im Ganzen. In die damit umrissene besondere Rolle und Stellung des Intellektuellen konnten vor dem Hintergrund eines sich ebenso entfaltenden wie diversifizierenden Medienmarktes (vgl. Zola 1969: 112) sowohl die Konturen und Ansprüche eines den Fortschritt der Menschheit vertretenden Wissenschaftler-Ideals, wie es für Frankreich zumal von Henri de Saint-Simon und

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Auguste Comte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts modelliert worden war (vgl. Salomon 1957: 18-29) als auch Ansprüche einer durch Klassik, Aufklärung und Romantik gleichermaßen vertretenen Dichter-Vorstellung einfließen. Sie zielten darauf, Poeten und andere Künstler doch auch als Repräsentanten der Gesellschaft und deren (ggf. kritische) Begleiter und Erzieher zu sehen (Hess 1989:16). Für entsprechende soziale und konzeptionelle Mischungen ist für Deutschland in diesem Zusammenhang an den Heidelberger George-Kreis (vgl. Karlauf 2007: 493f.; 525-531) und an den dortigen Freundeskreis um Max und Marianne Weber (vgl. Lepenies 1988: 335-355) zu erinnern; wobei für die deutschen Verhältnisse charakteristisch ist, dass die poetisch-künstlerische Spur auch noch im Intellektuellen-Bild der Wissenschaftler dominierte, dadurch aber zugleich auch noch einmal in einen deutlichen Abstand zur Vertretung fachlicher Positionen gerückt wurde. Ganz in diesem Sinne betont Wolf Lepenies: »Anders als Comte und John Stuart Mill wollte Max Weber den Dichter nur als Künstler sehen, als Künder inneren Erlebens und von Stimmungen, die der wissenschaftliche Mensch nicht ausdrücken konnte, aber er sprach ihm die Möglichkeit und das Recht ab, als Dichter Prophet und Seher zu sein.« (Lepenies 1988: 342) Auch wenn sich so die Begriffsgeschichte datieren und die Geburtsstunde des modernen Intellektuellen auf das Jahr 1898, die Intervention des öffentlichen Lebens in Frankreich zugunsten des zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmanns festlegen lässt (vgl. Bering 1978), muss es doch frappieren, mit welcher Sicherheit schon Norbert Elias in seinen Studien zum 17. Jahrhundert von der BeobachterFigur des »höfischen Intellektuellen« (Elias 1975: 117) spricht. Freilich waren Schriftsteller und Tagebuchscheiber wie Saint-Simon (d. Ä.), La Rochefoucault oder Chamfort nicht nur Beobachter und ggf. Konkurrenten in der Auseinandersetzung um Anerkennung, Macht und ökonomische Ressourcen. Vielmehr waren sie, wenn auch eher in den von ihnen aufgezeichneten Anekdoten, Verhaltensbeobachtungen und Charakterschilderungen, also in bewusst reflektierter Weise, schon auch daran interessiert, »das System der Privilegien selbst in Frage zu stellen« (ebd.). Empfanden die Angehörigen der privilegierten Schichten zum Ende des 18. Jahrhunderts die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft mit ihren Gleichheits-, Leistungs- und Öffentlichkeitsanforderungen noch als »eine gemeinsame Bedrohung dessen, was ihrem Leben für ihr Gefühl Sinn und Wert gab« (ebd.), so haben sich das Programm und das Selbstverständnis der Intellektuellen nach 1789 zunächst ganz auf die damit angesprochene andere Seite der gesellschaftlichen Entwicklung verschoben. Seit 1800 treten sie zunehmend als Hüter der Freiheit und Gleichgestelltheit der Menschen in Erscheinung und fordern diese im Namen der durch die Aufklärung vertretenen universalistischen Vorstellungen gegenüber den aufs Neue gruppierten Mächten des Marktes, des Staats und der um ihn und in ihm konkurrierenden Interessengruppen ein.

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In dem Maße, in dem mit der Durchsetzung der Industriegesellschaft Erscheinungen wie Massenelend, Ausbeutung, Armut, Entfremdung und andere Formen sozialer Desintegration auf die Tagesordnung rückten, wurden diese nicht nur zum Thema sozialer Beobachtung und literarischer Ausarbeitung (vgl. Jantke/Hilger 1965), sondern auch zum Gegenstand kritischer Stellungnahmen und intellektuellen Engagements; der Rollensatz der Intellektuellen wurde um die Rolle des Gesellschaftskritikers erweitert (vgl. Walzer 1991: 13-20). Heinrich Heines (1797-1856) zeitgenössische Beobachtung »der Kohldampf verscheucht die Sangesvögel« (Heine 1981a: 649) spricht in dieser Hinsicht nicht nur ein soziales und auch literaturpolitisches Thema an, sondern belegt zugleich Heines eigenes intellektuelles Selbstverständnis (vgl. Höhn 2004: 2; 26-32; Hosfeld 2014), innerhalb dessen er sich auf sein »Sprechamt« (Heine 1981b: 10) beruft und seine Aufgabe darin so bestimmt: »Wenn wir es dahin bringen, dass die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Haß und Krieg verhetzen […], wir brauchen aus wechselseitigem Mißtrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu fürchten, wir benutzen zum Pflug ihre Schwerter und Rosse, wir erlangen Friede, Wohlstand und Freiheit. Dieser Wirksamkeit bleibt mein Leben gewidmet; es ist mein Amt.« (Heine 1981c: 91)

Freilich sind mit Friede, Wohlstand und Freiheit sowie der Verurteilung des Kriegs nicht nur bereits hier in der Schrift von 1832 all jene Ziele genannt, die auch noch die intellektuelle Praxis, zumindest die linksintellektuelle (vgl. Laqueur/Mosse 1969), vor und nach dem Ersten Weltkrieg und wohl ebenso auch noch zwischen 1945 und 1990 bestimmt haben. Zugleich rückt Heine mit den »Lohnschreibern der Aristokratie« aber auch noch eine andere Seite bzw. Fraktion intellektueller Akteure in den Blick: Jenes Feld und jene Spur einer nicht der allgemeinen Wohlfahrt verpflichteten, sondern unter speziellen Vorgaben, mit parteiischer Zielsetzung und durchaus individuellem Eigeninteresse verbundenen propagandistisch programmatischen Tätigkeit von Schriftstellern, Journalisten, Wissenschaftlern und anderen Geistesarbeitern, für deren Verhalten und Kritik sich im 20. Jahrhundert das Stichwort vom »Verrat der Intellektuellen« ([1927] vgl. Benda 1978) gefunden hat. Vor dem Hintergrund einer mit der Jahrhundertwende 1900 einsetzenden Debatte um die »richtige« Entwicklung von Gesellschaften, Menschen und Verhältnissen wurde zunächst – zwischen Wissenschaften und Machtorientierung einerseits, Werthaltungen und Sozialkritik andererseits – eine Typologie intellektuellen Handelns und seiner Legitimierungsformen aufgestellt, die auch in späteren Debatten und Zeiten immer wieder einmal aufgenommen wurde. Während Max Weber (1864-1920) intellektuelle Praxis entlang der durchaus polemisch gemeinten Oppositionsbildung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik diskutiert (vgl. Weber [1919] 1992: 174f.), nimmt Antonio Gramsci (1891-1937) die bei Heine bereits

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angesprochene Unterscheidung zwischen einem intellektuellen Handeln, das sich der Allgemeinheit verpflichtet sieht, und einer intellektuellen Praxis, die im Dienste einer spezifischen Gruppe oder Herrschaftsform steht, auf. Er unterscheidet ausgehend davon zunächst in »autonome« und »organische«, also in eine bestimmte soziale Konstellation und ggf. auch Gruppe eingebettete, Intellektuelle. Damit ist zugleich darauf verwiesen, dass es sich bei beiden Formen um jeweils historisch spezifische Formen des Verbundenseins und des Engagements für bestimmte Ziele handeln kann, die sich dann eben nach historischen und machtanalytischen Kategorien unterscheiden und ggf. nutzen lassen: »So entstehen im historischen Prozess spezialisierte Kategorien für die Ausübung der intellektuellen Funktion, sie entstehen in Verbindung mit allen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere aber in Verbindung mit den grundlegenden gesellschaftlichen Gruppen, und erfahren in Verbindung mit der herrschenden gesellschaftlichen Gruppe tiefgreifende und umfassende Veränderungen. Eines der hervorstechendsten Merkmale einer jeden Gruppe, die auf die Herrschaft zusteuert, ist der Kampf um die Assimilierung und die ›ideologische‹ Eroberung der traditionellen Intellektuellen.« (Gramsci 1986: 226)

In diesen Zuordnungen geht es also zunächst und vor allem um die Stellung der Intellektuellen in der Gesellschaft und deren vermeintlich eindeutige Zuordnung innerhalb spezifischer Machtkonstellationen: »Alle diese Unterscheidungen«, so M. Rainer Lepsius in seiner Studie zu KRITIK ALS BERUF von 1964, »bewirken eine Polarisierung des ungeheuer vielfältigen sozialen Verhaltens in zwei Seinsweisen, in die Sphäre der Macht und in die der Kritik der Macht. Die Intellektuellen werden dabei der einen Seite dieser Dichotomie zugeordnet. Ihre Aufgabe wird nun nicht in der Synthese widerstreitender standortgebundener Interessen, sondern in der dauernden ›Kritik der bestehenden Mächte im Dienst eines bestimmten Ideals der Menschlichkeit‹ gesehen‹« (Lepsius 1964:79; Zitat im Zitat von René König).

Dem gegenüber erscheinen das Handlungsfeld und das Selbstverständnis der Intellektuellen von einer anderen Sichtweise aus freilich gerade als durch ihre Freigestelltheit von spezifischen Interessen und Berufspflichten bestimmt, wie sie sich bei Karl Mannheim, ebenso aber auch bei Alfred von Martin oder auch bei Theodor Geiger wiederfindet (vgl. Lepsius 1964: 77-79): »Die Intellektuellen haben«, so Geiger, »ungeachtet Beruf und Erwerb eine spezifische Geisteshaltung und Attitude gemein, nämlich den Sinn für zweckfreie Geistestätigkeit.« (Geiger 1956: 303) Freilich war diese letzte Bestimmung zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift weit entfernt von den sozialen Verhältnissen, den darauf bezogenen Stellungnahmen und Verwicklungen von Intellektuellen ebenso wie von den vor allem durch politische Ideologien, Machtapparate, Gruppeninteressen und Marktmechanismen deutlich

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funktionalisierten Lebens-, Handlungs- und auch Erwerbsbedingungen der mit »Geistestätigkeiten« befassten Arbeiter, Angestellten und zumal Freiberufler; ihnen hatte in etwa zeitgleich Raymond Aron mit Blick auf ihre Befangenheit in politischen Programmen, totalitären Ideologien oder auch marktorientierten Dienstleistungen ebenso die Leviten gelesen (vgl. Aron 1957) wie er auf die mit den herkömmlichen Idealisierungen allgemeiner Wohlfahrt verbundenen Traum- und Rauschverführungen hinzuweisen suchte. Dabei lässt sich gerade für die 1950er und 1960er Jahre durchaus zunächst von einer Hochzeit intellektuellen Engagements sprechen (vgl. Pross 1971). Zumal in Westeuropa, aber auch in vielen Ländern außerhalb Europas, zu erinnern ist nur an das Vorbild Mahatma Gandhis (1869-1948) in Indien und im Blick auf das englische Kolonialreich, traten im Blick auf die maßgeblichen Themen der Zeit: Atomare Hochrüstung und Gefahren eines Atomkriegs, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den Formen totalitärer Herrschaft, Perspektiven der Industriegesellschaft, Dekolonisierung und Aufbau einer Weltbürgergemeinschaft, nicht zuletzt Antirassismus und Feminismus, zahlreiche Schriftstellerinnen, Wissenschaftler und andere intellektuelle Beobachter mit z. T. weitreichenden Wirkungen in Erscheinung; zu erinnern ist an Bertrand Russell (1872-1970), Simone de Beauvoir (1908-1986) und Martin Buber (1878-1965) ebenso wie an George Orwell (1903-1950), Arthur Koestler (1905-1983), Jean-Paul Sartre (1905-1980), Albert Camus (1913-1960), Hannah Arendt (1906-1975) und nicht zuletzt Frantz Fanon (1925-1961), dessen 1961 erschienenes Hauptwerk LES DAMNÉS DE LA TERRE (Die Verdammten dieser Erde) auch aktuell noch zu den wichtigsten Bezugspunkten kolonialer und postkolonialer Versuche intellektueller Selbstverortung zählt (vgl. Mbembe 2014). Namentlich der für die 1950er und 1960er Jahre den weltpolitischen Rahmen setzende Ost-WestKonflikt rief auf beiden Seiten intellektuelles Engagement hervor, wobei in einer charakteristischen Schieflage, intellektuelles Engagement im Westen, bspw. bei Raymond Aron (1905-1983), durchaus auf die Stärkung der jeweils eigenen Position zielen konnte, während sich die Intellektuellen im »sozialistischen« Osteuropa wohl deutlicher als Stimmen der Vermittlung oder auch der Überwindung der System-Konfrontation positionieren konnten bzw. mussten (vgl. Kraus 1966), da die öffentliche Parteinahme zugunsten der eigenen Seite bereits durch programmkonforme Akteure besetzt war. Dort war die für intellektuelles Handeln konstitutive Unabhängigkeit in staatssozialistischen Vorstellungen als »bürgerlicher« Überhang zunächst zugunsten eines system-integrierten Parteigängers aufgehoben worden.1 Übrig blieben »Verräter« (vgl. Gorz [1958] 1980) auf allen Seiten und Anschluss-

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Für instruktive Beispiele und die damit verbundenen Irritationen vgl. Westerman 2003.

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Stellen, an denen spätestens seit den Helsinki-Vereinbarungen von 19752 zunächst Dissidenten und später dann die Bürgerrechtsbewegungen in Mittelosteuropa, in der Sowjetunion und so auch in der DDR im Herbst 1989 in Erscheinung treten konnten. Freilich blieben dort und natürlich auch im Westen Plätze erhalten bzw. wurden neu geschaffen, auf denen sich später (und aktuell) erneut auch system-»integrierte« Öffentlichkeitsarbeiter einrichten konnten, seien diese nun in Militärstrukturen »eingebettete« Journalisten, von Parteien, Konzernen oder Diktatoren genutzte Prominente wie Gerard Depardieu, einzelne mit politischer Einflussnahme betraute Werbeagenturen (vgl. MacArthur 1993) oder einfach auch Medienstars, die ihre Prominenz für eigene Interessen vermarkten. Nachfrage, Debatten und Anerkennung, auch Abweisung, der Intellektuellen finden sich in diesem Rahmen dann auch in den beiden deutschen Staaten nach 1949 wieder. Hier war es zunächst die bereits 1946 von Karl Jaspers (1883-1969) aufgeworfene Frage nach der »Schuld« an den Verbrechen des Nationalsozialismus, die breit wahrgenommenes intellektuelles Engagement, auf Seiten der Apologeten ebenso wie auf Seiten der Ankläger, hervorrief (vgl. dazu Fischer/Lorenz 2007: 4255); nicht zuletzt waren es Hans Werner Richter, Alfred Andersch und andere aus dem Zusammenhang der GRUPPE 47, die sich lebhaft hieran beteiligten (vgl. Schwab-Felisch 1962). Während das Thema der NS-Verbrechen und der damit verbundenen Schuldfrage im Zuge des Wiederaufbaus der beiden deutschen Staaten für die 1950er Jahre dann erst einmal in den Hintergrund trat und erst in den 1960er Jahren in den Zusammenhängen der Aufarbeitung der Verbrechen von Auschwitz und ihres Kontextes wieder aufgenommen wurde (Mitscherlich/Mitscherlich 1967), bildeten die Atom-Kriegsgefahr, die Remilitarisierung der beiden deutschen Staaten und nicht zuletzt die Perspektiven einer Überwindung des Ost-West-Konflikts, zumal die Annäherung an die ehemals verfeindeten Nachbarn Frankreich und Polen, zentrale Themen innenpolitischer Auseinandersetzung, innerhalb deren das intellektuelle Engagement »vom Ostermarsch zur APO« (Otto 1977) führte. Konservative Schriftsteller und Journalisten wie Friedrich Sieburg (1893-1964) und Armin Mohler (1920-2003), liberale wie Golo Mann (1909-1994) sind hier allerdings ebenso als Akteure zu nennen wie die Vertreter der Kritischen Theorie: Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969), deren »Schüler« Jürgen Habermas (*1929) auch in aktuellen Debatten immer wieder als der »vielleicht letzte«

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»Die Staaten verpflichteten sich darin zur Unverletzlichkeit der Grenzen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstanden waren. Zudem erkannten sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker an und erklärten sich bereit zu Gewaltverzicht und zur Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten. Auch die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte – einschließlich der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit – wurde in der Schlussakte festgelegt.« (Bundeszentrale 2010).

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Intellektuelle apostrophiert wird (vgl. Cammann 2014, zumal auch in den im Anschluss daran nachzulesenden Netz-Debatten). Angesichts einer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich ebenfalls verstärkt dann seit den 1960er Jahren abzeichnenden, sich mehr oder weniger durchsetzenden weitergehenden Individualisierung von Ansichten, Lebensläufen und darauf bezogenen Lebenserfahrungen nimmt es allerdings auch nicht Wunder, dass trotz vielfältigen individuellen Engagements und z.T. beeindruckender Lebensleistungen – von Hannah Arendt, Jean Paul Sartre und Martin Luther King bis zu Simone de Beauvoir, Frantz Fanon und Nelson Mandela – zum Ende des Jahrhunderts wieder einmal erneut von einem Verschwinden der Intellektuellen in Märkten, Medien und politischen Debatten die Rede ist (vgl. Judt 2011). Begleitet wird die damit geäußerte Klage freilich immer wieder auch von der Suche nach Gründen für ein solches Verschwinden und von dem Ruf nach einer »Wiederauferstehung« der Intellektuellen. Persönliches Versagen, so zeigt es die im Sommerloch 2015 von der Wochenzeitschrift DIE ZEIT angestoßene Debatte »Wo seid ihr Professoren?«,3 steht dabei ebenso in Rede wie die marktwirtschaftlich grundierte Umgestaltung von Universitäten, Medien-Öffentlichkeiten, Verlagen und Verwaltungen. »An die Stelle des Zorns über die Verhältnisse in der Welt und an die Stelle des interpretativen Abenteuers mit offenem Ausgang«, so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Blick auf die intellektuellen Ansprüche wissenschaftsbezogenen Arbeitens, »ist die Sorge getreten, ob man genug Drittmittel eingeworben und ausreichend Aufsätze in internationalen Zeitschriften publiziert hat.« (Pörksen 2015) Freilich lassen sich diese Beschränkungen bzw. die Umcodierungen eines öffentlichen Raums für Intervention und Reflexion, den intellektuelle Arbeit ebenso erfordert wie sein Entstehen seit dem 18. Jahrhundert die »bürgerliche« Figur des Intellektuellen ermöglicht hat, nicht allein von der Kommerzialisierung der Universitäten aus beleuchten. Denn auch an den popkulturellen Inszenierungen etwa Nelson Mandelas wird erkennbar, dass es in der Sphäre des Politischen mit einer deutlichen Trennung von intellektueller Praxis und Medieninszenierung ebenfalls nicht so weit her ist, wie es strategisch wünschenswert und dem Bild des Intellektuellen als eines Geistestätigen oder politisch bewussten Bürgers der Civitas (Republik) auch angemessen gewesen wäre bzw. sein sollte: So haben auch Solidaritätskonzerte immer zwei Seiten: Sie sind der Musikindustrie mitunter ebenso sehr nützlich wie sie etwa im Falle Mandelas zur weltweiten Delegitimierung des ApartheitRegimes in Südafrika beizutragen suchten, Gut hundert Jahre nach der Dreyfus-Affäre und dreihundert Jahre später als die Beobachter der französischen Stände-Gesellschaft zu Zeiten Ludwigs XIV. lässt sich damit erneut fragen, welche Rolle und welche Erkenntnisse sich mit den Funk-

3

Vgl. http://www.zeit.de/serie/wo-seid-ihr-professoren (28.08.2015).

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tionen und Repräsentationen intellektueller Praxis heute verbinden lassen (vgl. Said 1997). Ob und in welcher Weise sich die Erscheinungs- und Vermittlungsformen intellektuellen Auftretens in unterschiedlichen medialen Formaten vor und nach der Zäsur des Jahres 1989 noch als intellektuelle Praxis in welchem Sinn bestimmen lassen bzw. sich auch selbst noch als solche positionieren und ggf. verstanden haben bzw. verstehen können, ist zu fragen. Gerade mit Blick auf eine sich zum Ende des 20. Jahrhunderts vielleicht wieder einmal abzeichnende »Dämmerung« öffentlicher Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Entwicklung (Walzer 2002) und deren ebenso vielfältiger wie widersprüchlicher Interpretation zwischen Politikern und Experten, Journalisten, Künstlern, Stars und Medienakteuren – man denke u.a. an die Rolle der sogenannten Talk-Master – lässt sich zum einen nach den Grundlagen, dem Grad der Verbindlichkeit und den Möglichkeiten und Grenzen einer »inkompetenten, aber legitimen Kritik« fragen, die Lepsius 1964 noch als das »Feld der Intellektuellen« bezeichnet hatte (Lepsius 1964: 88). Zum anderen geht es um die Grenze und ggf. die erweiternde Funktion einer Transformation der Figur des Intellektuellen in die Rolle oder Figur des »Medienpromis« von der Art Richard David Prechts, deren mediale Präsenz und Glaubwürdigkeit nicht nur einer bestimmten intellektuellen Leistung oder professioneller Zuständigkeit geschuldet sind, sondern auch – mitunter sogar in entscheidender Weise – einer erfolgreichen Kommunikation und Präsentation von Persönlichkeitswerten innerhalb der Medien. Die intellektuelle Leistung besteht nunmehr in der ›erfolgreichen‹ – das heißt vor allem in einer allgemein verständlichen und zugleich Aufmerksamkeit erregenden – ggf. mit Comedy-Elementen oder spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen versetzten – Vermittlung von komplexen und elaborierten, in sich selbst wiederum ausdifferenzierten und mit einer mehr oder minder eigenständigen Sprache operierenden Fachdiskursen unter den Vorzeichen ihrer Rückbindung an das zeitgenössische soziale Geschehen. Kritik wird so zu Unterhaltung. Wobei zugleich durchaus im Rückgriff auf die Anfänge des modernen Unterhaltungswesens in der bürgerlichen Geselligkeitskultur des 18. Jahrhunderts (vgl. Hügel 2003: 73-83), auszumessen ist, in welchem Maße (und ob überhaupt?) Unterhaltung unter den aktuellen medialen Gegebenheiten (noch) zur Ausbildung oder Schärfung eines kritischen Bewusstseins beitragen kann.4 Dass dies im Einzelnen durchaus widersprüchlich und zwiespältig beobachtet und beurteilt werden kann, macht zumal eine Fallge-

4

Dass freilich die Kritik der Unterhaltung ebenso alt (und ggf. einseitig) ist, wie die mit der Ausbildung bürgerlicher Geselligkeitsformen verbundene Unterhaltung selbst (Losfeld 2015), ist historischen Quellen ebenso abzulesen (vgl. Greiner 1964) wie zeitgenössischen durchaus die Bestsellerlisten stürmenden kritischen Stimmen (vgl. Postman 1985).

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schichte wie die des »Scharlatans« Christoph Kaufmann5 aus dem späten 18. Jahrhundert deutlich, die deshalb auch im Rahmen der vorliegenden Studien den Auftakt bieten kann. Aber auch aktuell wird die Präsenz des Medienpromis durch starke Persönlichkeitsmerkmale oder auch emphatisch vorgetragene Stellungnahmen getragen, begleitet und ggf. auch konterkariert – nicht ohne u. U. gerade dadurch an Wirkung noch zu gewinnen –, so dass – bspw. im Falle von Till Schweigers harscher Kritik an der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik im Rahmen einer Talkshow im Sommer 2015 – auch hier die Frage entsteht, ob es sich bei dieser Intervention eines Schauspielers6 um den Auftritt eines Intellektuellen oder die Ausstrahlung eines Medienpromis handelt und in welcher Weise die letztere Funktion ggf. die erste verdrängt, überlagert oder vielleicht sogar noch steigert und zu überbieten vermag. Am Beispiel der politischen Sphäre und der Ausgestaltung städtischer Interaktionsräume nach Kriterien des privaten Lebens hatte der amerikanische Soziologe Richard Sennett bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Aufwertung persönlicher Erscheinung und medial vermittelter Glaubwürdigkeit gegenüber politischen Programmen oder fachlich vertretenem Wissen als Krise und Verfall des öffentlichen Lebens, zumal der politischen Sphäre und ihrer agonalen Positionsbestimmungen, diagnostiziert (vgl. Sennett 1983: 16ff.). Dass persönliche Konstitution, Bildungsgeschichte und Zurechnung natürlich schon immer auch die Rolle des Intellektuellen ausgemacht haben, es sich also auch dort, wo der/die Intellektuelle sich wie bei Gramsci als »organische/r Intellektuelle/r« auf die Seiten des Proletariats zu stellen suchte, um eine bürgerliche Figur bzw. eine Rollenübernahme im Feld bürgerlicher Kultur handelt (vgl. Tenbruck 1986), damit freilich also auch an eine Sphäre »bürgerlicher Öffentlichkeit« (Habermas [1962] 1974: 132-158), deren Bestehen, Verwerfungen oder ggf. auch Untergang gekoppelt bleibt, lässt sich freilich gerade auch da erkennen, wo wie bei Benda der »Verrat« der Intellektuellen angeprangert oder dieser sogar zu ihrem eigentlichen Tätigkeitfeld erklärt wird (Jaeggi 1984). Rechtschaffenheit und Authentizität, ja auch die Attraktivität, ggf. auch Exzentrik eines persönlichen erscheinenden Auftretens können damit zum Ausweis nachvollziehbarer Glaubwürdigkeit oder auch zum Ersatz argumentativer Position werden. »Die Kommunikationstechnologie des 20. Jahrhunderts zielt in ihrer Gesamtheit auf […] schrankenlose Ausdrucksoffenheit. […] Wir sind überrascht, daß Persönlichkeit immer mehr zu einer Sache des äußeren Anscheins wird, zumal im politischen Leben. Wir stellen keinen Zusammenhang […] her, weil wir jene Wahrheit leugnen, die einmal die Grundlage öffentlicher Kultur war: Aktiver Ausdruck erfordert menschliche Bemühung, und diesem Bemühen

5

Vgl. die Studie von Mike Porath im Anschluss.

6

Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=WHvu3qSqAYo (25.09.2015).

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ist nur so weit Erfolg beschieden, wie es den Menschen gelingt, dem, was sie äußeren, Grenzen zu ziehen.« (Sennett 1983: 296)

Bei aller durch die Pluralisierung, Privatisierung und Multimedialisierung der Kommunikationsmedien erfolgenden Steigerung von Meinung und Persönlichkeitsdarstellungen ins Unendliche bleibt freilich auch erkennbar, dass es sich bei intellektueller Praxis bzw. Handlungen, die darauf zielen, als solche anerkannt zu werden oder – ggf. missverständlich als solche aufgenommen werden – nach wie vor um den Ausdruck bzw. die Zurechnung zu einer jeweils subjektiv getragenen und von den eigenen biographischen Zusammenhängen und Erfahrungen geprägte Haltung handelt, die deshalb nach zwei Seiten hin auf Ausstrahlung hin angelegt ist: Zur Seite des Politischen als Position eines angesehenen Mitgliedes der Civitas, zur Seite des Privaten hin unter der Annahme, es handele sich um eine zuverlässige Nachbarin, einen treusorgenden Anverwandten oder einen aufrichtigen Tierfreund, denen deshalb aufgrund ihrer Dignität im Privaten auch eine Kompetenz im Allgemeinen zugetraut werden könne. Ob und in welchem Maße sich dies tatsächlich dann auch auf Individuen beziehen lässt, die über ihr Erscheinungsbild in den Medien ihre Autorität bzw. zumindest ihre Bekanntheit und damit Aufmerksamkeitswerte (vgl. Frank 1998) erwerben, wird im Zusammenhang der hier zusammengestellten Beiträge wohl zunächst erst einmal im Einzelnen zu diskutieren sein. Sicherlich lohnt es sich in diesem Sinne, erneut auch jenen Personen Aufmerksamkeit zu schenken, so die im Teil 1 des Bandes zusammen gestellten Porträts, die sich mehr oder weniger (selbst-)kritisch und/oder zweifelnd auf die Rolle und Weiterführung des Selbstverständnisses traditioneller, »bürgerlicher« Intellektueller eingelassen haben. Ob hierzu die in den letzten Jahren in die Debatte eingebrachte Unterscheidung von Sozial- und Künstlerkritik (Boltanski/Chiapello 2010) einen Ansatz bieten kann, der für die Untersuchung einer solchen Art von Selbstkonstitution in einem ebenso politisch wie medial unübersichtlichen Feld nützlich sein kann, muss die weitere Diskussion zeigen (vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2009). Besonders instruktiv – nach beiden Seiten hin – zeigen sich hierfür Studien zu einzelnen AutorInnen vor und nach der Wende von 1989 in der DDR und im nachmaligen Ostdeutschland, soweit sie als Intellektuelle hervorgetreten sind oder auch ganz einfach nur »gearbeitet« haben. Ihnen ist der zweite und umfangreichste Teil dieses Bandes gewidmet. Im Zusammenhang von intellektueller Praxis und Programmatik ist freilich auch daran zu erinnern, dass es sich bei der »Wende« der Jahre 1989/90 gerade nicht nur um ein deutsches Ereignis gehandelt hat, sondern tatsächlich um einen Umbruch im Weltmaßstab, der weder von Deutschland ausging, noch – etwa im Blick auf das Ende des Apartheit-Staates in Südafrika 1991 – auf dieses beschränkt blieb. Schließlich ist im 3. Teil des Buches noch einmal einer Wendung nachzuspüren, die sich sowohl auf das Verhalten und Selbstverständnis zeitgenössischer Intel-

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lektueller als auch auf deren Rolle und Interpretation als Akteure in den Medien, eventuell also auch auf »Medienpromis«, bezieht: »Warum latschen deutsche Schriftsteller zu Regierungsgesprächen ins Willy-Brandt-Haus, statt in die Wüste zu gehen und aufzuschreiben, wie unproduktiver Turbokapitalismus abgeht? Warum fieseln Grass und all die alten Wappentiere der deutschen Literatur starre Gedichte über Griechenland zusammen, statt selber nach Griechenland zu fahren und dort eine Hilfseinrichtung für Obdachlose zu gründen?«

fragte im vorletzten Jahr in einem lesenswerten Beitrag der Essayist Hilmar Klute (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 16./17. März 2013). Wenn auch nicht explizit betont, so zielt die Frage keineswegs nur auf ein Defizit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Letztlich geht es auch (wieder einmal) um die Rolle des Intellektuellen in Vergangenheit und Gegenwart. Es ist von daher erneut an der Zeit darüber nachzudenken, »wo die Intellektuellen hin sind«. So mangelt es zwar nicht an Personen, die Woche für Woche ihre Statements in Talkshows abgeben: Zu Fukushima, zur Euro-Krise, zu Entwicklungen in der arabischen Welt, zum Einsatz der NATO in Afghanistan und zur Situation der Flüchtlinge, nicht zuletzt auch zu den absurden Gehältern nicht nur von Bankmanagern. Aber liefern diese Personen, deren Kapital ihre Medienprominenz ist, wirklich eine kritische Analyse und eine Interpretation der Ereignisse, die unabhängig vom Mainstream der herrschenden Eliten ist? Eher wohl nicht. Und weil dies größere Teile der Bevölkerung so empfinden, »sehnt man sich«, so ein anderer Beobachter, »nicht nur nach Experten, sondern nach engagierten Intellektuellen, die ihr Expertentum und ihre intellektuelle Tätigkeit mit Moralvorstellungen verbinden.« (Moebius 2011) Dass es in den 1950er und 1960er Jahren noch kritische Intellektuelle gegeben hat und die GRUPPE 47 um Hans Werner Richter in ihrer Hoch-Zeit als »Störfaktor« funktionierte, das ist wiederholt betont worden. Und auch in der DDR haben Autoren bis 1989 ihre Aufgabe, ein kritisches Korrektiv der Macht zu sein, gerade unter Bedingungen einer ›geschlossenen Gesellschaft‹ wahrgenommen. Erinnert sei an Reformversuche Mitte der 1950er Jahre (u.a. W. Harich, W. Janka, E. Loest), die Entwicklungen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 oder die BiermannAusbürgerung von 1976 und ihre Folgen. Mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen ist schließlich zu fragen, ob und in welcher Weise es nach 1989 noch einmal und erneut zu einem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (Habermas [1962] 1990: 11-49) gekommen und wie es aktuell um jene bestellt ist, zu deren Aufgaben in Kunst und Literatur, in Universitäten und in den Medien es gehört, gegenwärtige Prozesse kritisch zu durchleuchten bzw. zu beobachten. In diesem Sinne soll es in den folgenden Beiträgen also erneut auch noch einmal um die Frage gehen, wie es um die Figur des Intellektuellen in Gesellschaft und Literatur vor und nach der Zäsur von 1989 bestellt ist. Eine hieran an-

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schließende Diskussion hätte dann natürlich neben einer kritischen Sichtung der Rollen von Intellektuellen in der Gegenwart auch auf deren ggf. erkennbare Konkurrenz bzw. auch Korrelation und Kongruenz mit Erscheinungsformen der »Medienprominenz« einzugehen. Auf einen in diesem Kontext nicht unwichtigen Aspekt hat dabei zuletzt der Autor und Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl aufmerksam gemacht. Jirgl notierte im Gespräch, dass er Vorbehalte habe, wenn der »Begriff des Intellektuellen – es ist ein Ehrentitel« auf ihn angewendet werde. Seine Zurückhaltung liege »am inzwischen inflationären Gebrauch dieser Bezeichnung. Nicht jeder Schreiberling ist auch gleich ein Intellektueller«, so Jirgl (Gansel/Jirgl 2013: 14). Dem gegenüber hebt sein Schriftsteller-Kollege Norbert Niemann in seiner Dankesrede zur Verleihung des Carl-Amery-Preises die umfassende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, also auch der Literatur, jeglicher kultureller Praxis und so auch jedes individuellen Lebensentwurfs, aus dem Geiste des Neoliberalismus hervor, die zum einen auch die Stellung der Intellektuellen in den Abgrund dränge und zum anderen gerade deren Widerstand erforderlich macht: »Es ist nämlich zum Expertenwissen verkommen, was einmal die Aufgabe des literarischen Diskurses war: künstlerische und gesellschaftliche Prozesse zusammenzudenken und so an einem von Machtinteressen unabhängigen Bild der Gegenwart mitzuarbeiten. Heute dagegen treibt die geistige Provinzialisierung, die sich zwangsläufig einstellt, wenn Diskurs und Gedächtnis als Referenzsystem ausfallen, in einer Spiralbewegung den Prozess der Kommerzialisierung immer noch weiter voran. […] Gäbe es noch ein intellektuelles Gedächtnis, würde man sich erinnern, dass Schriftsteller und Philosophen diese Entwicklung seit Jahrzehnten beschreiben und vor ihr gewarnt haben. Heute das die Entwicklung fast vor ihrem Abschluss steht, muss die Frage nach Verantwortung und Widerstand neu gedacht werden.« (Niemann 2015)

In einem solcherart zugespitzten Rahmen, ebenso aber auch in weniger aufgeregten Stellungnahmen »zur Zeit« bleibt die Frage virulent, ob und inwiefern Autoren jeweils auch (noch) als Intellektuelle gelten können und in welchem Fall sie diesen »Ehrentitel« in berechtigter oder unberechtigter Weise tragen bzw. überhaupt noch beanspruchen wollen oder können. Zu bedenken bleibt schließlich auch, warum es überhaupt derzeit wieder einmal den Anschein hat, dass die klassische Aufgabe des Intellektuellen, sich »für verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Fortschritte« (Habermas 1987: 29) einzusetzen, nicht mehr in dem Maße erfüllt werden kann, wie dies vielleicht (oder auch nicht) in den 1950er oder 1960er Jahren noch möglich schien. Zu erinnern ist dabei auch, dass Habermas an dieser Stelle für die Wirksamkeit, ja das Engagement der Intellektuellen eine »resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit« fordert (ebd.). Aber offensichtlich lassen sich derzeit auch die Bedingungen, die Habermas für beide Seiten, für die Intellektuellen ebenso wie für das Publikum, anspricht: »Sie

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rechnen mit der Anerkennung universalistischer Werte, sie verlassen sich auf einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat und auf eine Demokratie, die ihrerseits nur durch das Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger am Leben bleibt« (ebd.) weder unumstritten vertreten noch gar unter den Bedingungen der »Postdemokratie« (Crouch 2012) einfach voraussetzen.

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I. »Klassische« Rollen in »offener« Gesellschaft

»Bey Gott, – ich, ich, ich habe gewürket«. Christoph Kaufmann – Intellektualität als Persönlichkeitskult in der frühen Goethezeit M IKE P ORATH

E INLEITUNG Christoph Kaufmann, der zufällige Namensgeber der Literaturepoche des Sturm und Drang, starb 1795 im Alter von nur 42 Jahren von der Mitwelt vergessen und existenziell gebrochen unweit von Herrnhut. Was von ihm im Zuge der allmählichen Kanonisierung der literarischen Errungenschaften des Sturm und Drang bis heute übrigblieb,1 ist umstritten oder – pointiert formuliert – ein 1776er- und 1777er-Kaufmann, d. h. der »Genieapostel«, »Scharlatan« oder »Schwärmer«, aber niemand, der Anspruch stellen dürfe, in seiner Intellektualität ernst genommen zu werden. Und forderte man: entweder Christoph Kaufmann als »Scharlatan« bzw. typisierte Satirefigur oder gar keiner, es würde wohl kaum ein Einspruch laut, umso weniger, je mehr sich eine solche figurative Leerstelle dazu eignet, als literatursoziologischer und -historischer Platzhalter zu fungieren, spezifische Lebens- und Denkmuster, individuelle Verhaltensweisen und zeitgenössische Ideologeme in der frühen Goethezeit zu exemplifizieren. Aber warum auch mehr und was denn mehr? Besteht denn angesichts des biographischen Dilemmas Christoph Kaufmanns, wie es sich z. B. in dem spöttischen Verdikt Johann Georg Zimmermanns (1728-1795),

1

Gleichwohl mangelt es der Literaturwissenschaft seit einigen Jahrzehnten an einer dezidierten Neubewertung des Sturm und Drang, der – ähnlich wie bei Christoph Kaufmann – als Phänomen zwar immer noch Interesse erregt, worüber jedoch versäumt wird, diesen Phänomenen genauer nachzugehen und sie zu hinterfragen (vgl. Luserke 2006: 15f.).

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»Bey Gott, – ich, ich, ich habe gewürket«2, widerspiegelt und in Anbetracht der Konzentration auf den »Scharlatan«, der das tradierte Bild des verführten und verführenden Stürmers und Drängers so simpel zu bestätigen scheint, überhaupt Anlass, zu untersuchen, ob Kaufmann – weit über die oberflächliche Feststellung hinaus, er sei jemand gewesen, der zu leben versuchte, was andere schrieben (vgl. Rector 1990: 257)3 – nicht genau die autonome, kritische und idealistische Position eines Intellektuellen für sich beanspruchte, die bis in die Gegenwart besonders aufgrund ihres kritischen, irritierenden Potenzials, aber auch ihrer Autarkie eine so kontroverse Beurteilung erfährt? Bei genauerer Analyse der biographischen Parameter fällt auf, dass Kaufmanns gerade einmal anderthalbjährige, berühmte Episode

2

Im HANNOVERSCHEN MAGAZIN von 1779: »G. [»Gottesspürhund« nach dem von Friedrich »Maler« Müller in dessen »Faust«-Fragmenten (1776/78) geprägten Spottnamen für Kaufmann – M. P.] Bey Gott, – ich, ich, ich habe gewürket – – – in Straßburg, Weimar, Dessau, Petersburg und Astrakan« mit der Fußnote: »Der Jüngling mit dem ich [Zimmermanns »Ich« in seiner fiktiven Dialog-Satire »Gottesspürhund« – M. P.] hier die Ehre habe mich zu unterreden, ist (entre nous soit il dit) seiner Profession ein Apotheker.« (Zit. nach Milch 1932: 104) [Im Folgenden im Text unter der Sigle ›CK‹ mit entsprechender Seitenzahl.] Gerhard Sauder bemerkt zur Bezeichnung »Gottesspürhund«, dass »Kaufmann sich selbst so [nannte]« und sie »nach Lavaters Bezeichnung für Kaufmann, ›Seher Gottes‹, gebildet zu sein [scheint]. (Sauder 2003: 458)

3

Obwohl Kaufmann als Person erwähnt wird, die »nicht durch eigene Texte gewirkt« hat, ist ihm trotzdem ein Artikel gewidmet; auch bei Luserke: »Kaufmann war der einzige Vertreter des Sturm und Drang, der auf andere großen Einfluß hatte und die literarischen Projektionen der Sturm-und-Drang-Autoren auch in sein Gebaren und in die Lebensweise übertrug, selbst aber – von wenigen Texten abgesehen – nicht literarisch tätig war« (Luserke 2006: 19; 194); bei Sauder: »Christoph Kaufmann, der sich vielleicht am intensivsten mit der Genierolle identifiziert hat, ohne etwas Nennenswertes veröffentlicht zu haben, wird zum Inbegriff des sich selbst lächerlichmachenden Genieanspruchs« (Sauder 2003: 29); »Kaufmann hatte ein Jahrfünft lang das literarische Deutschland von Straßburg über Weimar bis Königsberg durch sein genialisch übersteigertes Gehabe fasziniert, ohne daß er seine Überlegenheit je durch die geringste Leistung belegt hätte« (Pfaff: 1966: XV); genauso Milch: »Dieser Mann, der wie der Königsberger Philosoph Christian Jakob Kraus 1777 schrieb: ›seinen Freunden Herdern, Hamann, Lavatern, Klopstocken, Göthen usw. alle Thorheiten vergeben kann, nur die nicht, daß sie Autoren sind‹, hat nicht durch ein Werk gewirkt, sondern durch seinen persönlichen Einfluß. Kaufmann ist nicht zu denken ohne Freunde, ohne einen Bund, eine Gemeinschaft« (CK: 13); und: »Kaufmann ist Objekt der Forschung nicht als Schriftsteller, der ein der Überlieferung würdiges Werk hinterließ, sondern als Persönlichkeit, die bei aller Einmaligkeit doch in gewisser Weise für sein Zeitalter repräsentativ war« (Ebd.: 14).

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als polarisierender »Genieapostel« des Sturm und Drang, die ihm bis heute seinen schmalen Platz in der deutschen Literaturgeschichte sichert, von der Disparität zwischen seiner neu gefundenen intellektuellen, »frei schwebenden« (K. Mannheim) Rolle als Ideenempfänger, Ideenprüfer und Ideengeber und der damit wechselseitig zusammenhängenden, »universellen« (J.-F. Lyotard) Aura seiner Selbstinszenierung und Hypostase herrührt, die Kaufmann im spätaufklärerischen Kreuzfeuer der sich überholenden Denksysteme, Lebensphilosophien und Wertevorstellungen auf seinem »Sonderweg« bis zuletzt keinen festen Standpunkt finden liess. Vier Jahre nach Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) geboren, ist Christoph Kaufmann mit so gut wie allen Strömungen der frühen Goethezeit in Kontakt gekommen: Empfindsamkeit, Pietismus, Rousseauismus, Shakespeareianismus, Wertherfieber, Inspirierten- und Geniekult, Philanthropismus, Herrnhutertum und mit dem Sturm und Drang in Deutschland und der Schweiz.4 Gleichzeitig hat er mit dessen Vertretern teilweise enge Freundschaften gepflegt und versucht, sie von seinen Idealen zu überzeugen. Aber gerade dieser Aspekt hat in der literaturwissenschaftlichen Forschung dazu geführt, Kaufmanns Vita – häufig unter dem Eindruck des Verdikts »Scharlatan« – den Biographien eines Lavater, Klinger oder Lenz unterzuordnen und damit seine eigene Leistung zugunsten eines überwiegend fiktionalen Charakterprofils, wie es das Phänomen ›Sturm und Drang‹ impliziere, hintanzustellen und zu missachten. Und so sehr das im Sinne einer textwissenschaftlichen Priorisierung auch verständlich sein mag, wurde dadurch versäumt, eine für die frühe Goethezeit – besonders in den 1770er Jahren – und für die 1750er Generation durchaus populäre Lebenshaltung als Ausgangs- und Fixpunkt eines modernen Denk- und Existenzmodells zu markieren, dessen gesamtes Erscheinungsbild des auratischen Idealisten von Christoph Kaufmann in dessen substanzieller, religiöser Überzeugung im Grunde prädisponiert wird.5 Dessen ungeachtet verleitet die Vielzahl seiner zum Teil mit einem fanatischen Eifer betriebenen ›Berufungen‹ unter

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Luserke spricht vom »Schweizer Sturm und Drang«: »Die deutschen Autoren des Sturm und Drang standen in enger Verbindung mit den aufgeklärten und aufklärungskritischen Vertretern der Schweizer Literatur. Umfangreiche Korrespondenzen, kontinuierlicher Austausch von und über Publikationen, ein regelrechter literarischer Nachrichtendienst sorgten für einen jeweils aktuellen Wissensstand auf allen Gebieten, auch der nichtfiktionalen Literatur.« (Luserke 2006: 51)

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Der Aspekt der Auratisierung und Hypostasierung des »frei schwebenden«, »universellen« Kritikers und Prüfers, der bis in die Gegenwart die Rolle des Intellektuellen konnotiert, ist bei Christoph Kaufmann wesentlich ausgeprägter gewesen als z. B. bei den zeitgenössischen Intellektuellen Johann Gottfried Herder (1744-1803) oder Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), denen beruflich verschiedene publizistische Organe zur Verfügung standen, um intellektuell relevant zu sein.

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anderem zum Mediziner, Pädagogen, Genie, Missionar oder Bauern bis hin zum Herrnhuter Bruder dazu, Kaufmanns Biographie mit der Goethischen »GroßCophta«-Figur des legendären und literarisch vielfach verarbeiteten Abenteurers und Hochstaplers Giuseppe »Graf Cagliostro« Balsamo (1743-1795) zu synchronisieren. Denn auch Kaufmann wurde zu einem Gegenstand literarischer Darstellung gemacht, vornehmlich der Satire, insofern sich seine schnell gescheiterte Existenz für die dem Sturm und Drang entwachsenen Autoren Ende der 1770er Jahre als Vorlage bestens dazu eignete, anhand seines eigenwilligen Denk- und Lebensstils mit ihrer eigenen jugendlichen, rebellischen Vergangenheit abzurechnen und wie zur Warnung oder Buße das negative Charakter- und Abbild nicht allein einer ganzen Epoche, sondern eines Menschentypus zu entwerfen, dessen Nachwirkung bis heute reicht.

1. »[D] ER L ÜGNER UND BRAMARBASIERENDE P HANTAST « 6 – Z UR B EFANGENHEITSPROBLEMATIK DER B IOGRAPHIE VON C HRISTOPH K AUFMANN Eine Biographie erhält immer dann einen literarischen Charakter, wenn die Lebensabschnitte der darzustellenden Persönlichkeit narrativ strukturiert werden. Sie wird dann zwar nicht falsch, aber bezüglich eines thematischen Leitmotivs, wie z.B. bei

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CK: 7. Werner Milch zielt in Hinsicht der Voreingenommenheit gegenüber Kaufmann besonders auf die 1882 erschienene Biographie »Christoph Kaufmann. Der Apostel der Geniezeit« von Heinrich Düntzer, der »schuld [ist] an dem schlechten Leumund, den Christoph Kaufmann in der Geschichte hat; Düntzer hat jenes schiefe Bild geschaffen, das dadurch entstand, daß der Biograph jedes abfällige Urteil mit Nachdruck verzeichnete, bei jedem guten Wort über Kaufmann aber hinzusetzen zu müssen vermeinte: So habe der Lügner und bramarbasierende Phantast auch diesen bedeutenden Mann in seinen Bann geschlagen. So wertvoll Düntzers Auszüge aus den Quellen zur Erkenntnis Kaufmanns sind, so sehr vermindert er den Wert seines Buches durch das wahrhaft wissenschaftsfremde Verhalten in der Beurteilung der Quellen: Es geht nicht an, parteiisch und in vorgefaßter Meinung über eine Gestalt der Geschichte alle Quellen zu überwerten, wenn sie Schlechtes aussagen, alle günstigen Urteile aber als bedauerliche Fehlmeinungen zu kennzeichnen. Hier eine Korrektur vorzunehmen erscheint die erste Aufgabe […]. Nicht als ob in berechtigter Abneigung gegen Düntzers Mißachtung der Quellen eine ›Rettung‹ Kaufmanns geplant wäre – es bleibt des Zweideutigen und charakterlich Ungefestigten genug an der Gestalt des Schweizer Schwärmers, – aber es kann mit dem merkwürdigen Vorurteil aufgeräumt werden, Kaufmann sei ein marktschreierischer Hochstapler von großen Ausmaßen gewesen« (Ebd.).

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Christoph Kaufmann das des »Scharlatans«7, an den entscheidenden Stellen fiktionalisiert, um das von Beginn an zur Anwendung kommende Narrativ durchzuhalten. Die Vita des 1753 im schweizerischen Winterthur geborenen Christoph Kaufmann scheint zu einer solchen Stilisierung prädestiniert, was nicht zuletzt zu seiner wissenschaftlichen Vernachlässigung beigetragen haben dürfte, wenn etwa vor dem Hintergrund faktualer Versachlichung die Untersuchung eines bloss kurzfristig spektakulären »Apostel[s] der Geniezeit« (Rector 1990: 255) kaum einen Erkenntniswert zu versprechen scheint, es sei denn, über Kaufmann hinweg ›mehr‹ über Goethes, Herders, Klingers oder Lenz‘ Sturm-und-Drang-Periode zu erfahren und Topoi zu verifizieren. Folglich stammt die letzte Monographie über Christoph Kaufmann von 1932.8 Werner Milch verfolgt darin die Absicht, anhand seiner eigenen quellengestützten, behutsamen Auswertung den »schlechten Leumund, den Christoph Kaufmann in der Geschichte hat« (CK: 7), zu revidieren, »[u]m der merkwürdigen Gestalt ganz gerecht zu werden« (Ebd.: 8). Dabei ist er der Auffassung, auf dieser Grundlage zugleich ein »nicht unwichtiges Ergebnis zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts« (Ebd.: 9) zu liefern, ohne aber die »tiefe Tragik« (Ebd.: 13) eines »schwachen und ringenden Menschen« (Ebd.: 10) im Sinne seiner Intention, Kaufmanns Ruf interpretativ aufzuwerten, zu vernachlässigen, was Milch wiederum dazu veranlasst, vor allem diese »Tragik« als bio- wie monographischen Mittelpunkt zu fixieren: »[I]m Laufe von nur fünf Jahren [erfüllt] […] sich der erste Akt des merkwürdigen Schicksals, der Weg vom Apothekerlehrling über die Berühmtheit des Gottesspürhundes bis zum Sturz« (Ebd.: 15). Was aber – so muss eindeutig gefragt werden – kann von einer Person, die – mit Milch gesprochen – »war und […] lebte als ein Schwärmer« (Ebd.: 14) bzw. – mit Matthias Luserke pointiert – »sich selbst als Genieapostel aufführen und als Bürgerschreck

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Siehe die vollkommen unproblematische Verwendung dieses negativen Charakteristikums z. B. im Nachwort von Peter Pfaff (ders. 1966: XV); vgl. dazu auch die Titulatur Kaufmanns als »Kraft- und Genieapostel« bei Fechner (ders. 1998: 161); seine windige Bezeichnung als »Weltverbesserer und Sturm- und Drang-Apostel« bei Hohoff (ders. 1999: 116); sowie als »berüchtigte[r] ›Genieapostel‹« bei Siegrist (ders. 2004: 361). Die spöttische Bezeichnung Kaufmanns als »Apostel« mutet aufgrund ihrer offensichtlichen Gängigkeit in der Forschung durchaus merkwürdig an, entbehrt sie doch im Zuge seiner vorwiegend literarischen Gleichsetzung mit dem Typus des biblischen Apostels jene Objektivität, die dessen missionarisch wirkendes Vorkämpfertum nicht allein spirituell interpretiert, sondern faktual als instrumentelle Stilisierung des eigenen Denkens und Handelns betrachtet, wie es letztlich bei Herder, Goethe, Lavater, Hamann oder Lenz nicht viel anders war.

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Siehe die erste Fußnote.

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wahrgenommen werden [konnte]« (Luserke 2006: 195), ›mehr‹ zu erfahren sein, wenn scheinbar nichts von ihr übrigblieb als dieses Apodiktum? Fakt bleibt: Christoph Kaufmann hat keine bedeutende Publikation hinterlassen,9 weder wissenschaftlich noch literarisch oder philosophisch; Kaufmann hat nicht studiert und – von seinen letzten Lebensjahren abgesehen – keine regelmäßige Arbeit ausgeübt. Er war ein für die frühe Goethezeit zeittypischer Autodidakt und am Anfang seiner Karriere ein bedingungsloser Nachläufer seiner Förderer und ihrer Theorien. Und selbst seine mehr oder weniger bekannte Umtitelung des KlingerDramas DER WIRRWARR (1776) in STURM UND DRANG taugt allenfalls als Indiz für eine gewisse Form von Intellektualität. Abbildung 1: Porträt Christoph Kaufmanns Mitte der 1770er Jahre, unterschrieben mit: »Christoph Kaufmann von Winterthur«.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Kaufmann (Zugriff am 14.05.2014).

Ungeachtet dieser Befangenheit gegenüber dem nicht-studierten, eifernden »Selbsthelfer« (Luserke 2006: 10) kann dennoch eine mit seinen berühmteren Zeitgenossen größtenteils übereinstimmende Lebensbahn festgestellt werden: 14-jährig beginnt

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Sämtliche autobiographische Schriften und Notizen Kaufmanns und seiner Witwe sind unveröffentlicht. Siehe Rector 1990: 255.

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Kaufmann 1767 in Bern eine Lehre als Apotheker und widmet sich in seiner Freizeit naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien. Die zu seiner Zeit noch übliche Verknüpfung von Medizin, Naturkunde und Philosophie dürfte Kaufmann vor dem Hintergrund spätaufklärerischer Novitäten wie der Ästhetik, dem Naturrecht oder der Erfahrungsseelenkunde darüber hinaus mit den Modeideen der Literatur und Kunst bekannt und vertraut gemacht haben. 10 Als völlig unbeschriebenes Blatt kehrte Kaufmann Anfang der 1770er Jahre für kurze Zeit mit abgebrochener Ausbildung ins Winterthurer Elternhaus zurück. Die Komplexität der folgenden Jahre von 1772 bis 178111 macht es jedoch unabdingbar, sowohl die literarischen Zeugnisse über seine Person als auch die bis heute daraus geschöpften Bewertungen zu kontextualisieren, was umso dringender scheint, je häufiger man übergeht, dass nicht nur die synkretistischen wie eklektizistischen Bildungsderivate der frühen Goethezeit, sondern auch der gesellschaftliche Umstand, es mit einer Generation zu tun zu haben, die im Frieden aufwuchs,12 zu einer subjektivistischen Pluralisierung führten. Kaufmann suchte jedenfalls wie die meisten seiner Altersgenossen schnell das Weite, das er in Straßburg, »einer Stadt, in der sich aus allen Teilen Deutschlands begabte junge Menschen der verschiedensten Klassen zusammenfanden, die an den Symptomen der aufklärerischen Emanzipation teilhaben wollten, ohne sich freilich aus den bürgerlichen Lebensformen lösen zu können« (Lange 1997: 109), fand. Dementsprechend scheint die Installation des biographischen Narrativs einer Initiation des Sturm und Drang, mithin der ›Geniezeit‹ durch den späteren »Genieapostel«, zumindest seiner ›genialischen‹ Tendenz im Umkreis der Publikation von Goethes epochemachendem Schauspiel GÖTZ VON BERLICHINGEN (1771/73) nahe-

10 So passt es ins Bild, dass Kaufmann während seiner Berner Zeit mit dem berühmten, aber bereits von schwerer Krankheit gezeichneten Mediziner und Dichter Albrecht von Haller (1708-1777) engen Kontakt pflegte und bei ihm »Privatunterricht« nahm (vgl. CK: 19 f.). Die Tatsache, dass Kaufmann kurz darauf seine Lehre in Bern abbrach, was Milch mit einer »melancholischen« (vgl. Ebd.) Verstimmung erklärt, markiert daher nicht nur den Ausgangspunkt seiner unsteten Wanderjahre, sondern auch einer tiefgreifenden Selbstvergewisserung, wie sie damals für die 1750er Generation als Emanzipationspostulat geradezu verpflichtend war. 11 Im Grunde gelingt es Kaufmann erst 1791, vier Jahre vor seinem Tod, seine Existenz auf dauernde und sichere Grundlagen zu stellen und die angestrebte, aufgrund einer Vielzahl interner Querelen lange verhinderte Stelle eines Gemeindearztes zu erhalten. Milch notiert dazu: »Am 8. Januar 1791 stimmt die Gemeine [von Herrnhut – M. P.] zu, am 11. Januar nimmt Kaufmann […] das Amt des Gemeinarztes an. Seit dieser Zeit verläuft das Leben ohne jeden Zwischenfall« (CK: 176). 12 »Die Studienjahre der meist um 1750 geborenen Autoren […] fallen in eine Friedenszeit«. (Sauder 2003: 24)

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liegend.13 Dabei wird jedoch aufgrund fehlender Quellen die für Kaufmanns Intellekt grundlegende Phase zwischen seinem ersten Aufenthalt in der elsäßischen Hauptstadt um 1771/72 und seinem zweiten 1774/75 häufig unterschlagen, obwohl er in diesen Jahren zweifelsohne sein offensichtlich reichhaltiges geistiges Fundament gelegt haben muss,14 um in der Folge nicht nur Lavaters Ideen zu teilen, sondern auch selbst reformerisch tätig zu werden und sich denkend wie handelnd zu beweisen.15 Es kann also – stets in Bezug auf Kaufmanns allgemeine Verwerfung

13 Rector appliziert von Beginn an bei Kaufmann eine »genialische Attitüde« und »empfindsame [...] Wohltäterabsichten« (Rector 1990: 255) und Milch lässt »Kaufmanns Weg« bereits 1772, also zwei Jahre vor Kaufmanns entscheidendem Anschluss an Lavater, beginnen und 1777, als »der Gipfel des Ruhmes für Kaufmann bereits überschritten [war]« (CK: 15), wieder enden: »[M]it dem Kraftmenschentum des ›Götz‹, mit der Sensibilität und starken Persönlichkeitsbewertung ›Werthers‹ wird Kaufmann berühmt. Lavaters Porträt in den ›Fragmenten‹ [»Physiognomische Fragmente« – M. P.] macht ihn zu einer bekannten Erscheinung in der deutschen Geisteswelt, als aber die Erkenntnis von der edlen Einfalt und der stillen Größe die Zeit der Erregung ablöste, war Kaufmann nicht mehr ›zeitgemäß‹, die Entwicklung geht über ihn hinweg, und er muß in anderer Weise von neuem beginnen« (Ebd.: 16). Gleichwohl ist es allein Milch zu verdanken, besonders die Jahre nach Kaufmanns Wanderschaft umfangreich untersucht und ausgewertet zu haben, indem er Kaufmanns ›Spätphase‹ von 1780-1795 sechs Kapitel (s. ebd.: 142 ff.) widmet. 14 Folglich verweist Milchs kurze Auseinandersetzung um Kaufmanns vermeintliche Promotion zum Doktor der Medizin in Freiburg Anfang der 1770er Jahre, wie sie ein Dokument an seinen späten Förderer Haugwitz kolportiert (vgl. CK: 20 f.), vor allem auf die Intensivierung seiner privaten Studien sowie auf seine in dieser Periode immer wieder angestellte, ernste Überlegung, sich an der Freiburger oder Straßburger Universität zu immatrikulieren. Laut Milch hatte Kaufmann während seines ersten Straßburger Zeit außerordentlich an medizinischen Vorlesungen teilgenommen (vgl. Ebd.: 20), die aber nicht ausreichten, um den Doktorgrad zu erlangen, so dass er um 1772/73 wiederholt seinen Studien- und Aufenthaltsort wechselte, um letztlich, ehe er in den Kreis um Goethe und dann Lavater stoßen konnte, unverrichteter Dinge 1774 nach Straßburg zu seiner vorherigen Arbeit als (unausgebildeter) Pharmazeut zurückzukehren. 15 Der vor Kant noch nicht erschöpfend systematisierte und gegeneinander abgegrenzte Wissens- und Erkenntnisbestand war für den unstudierten Autodidakten Kaufmann insofern von Vorteil, als er sich netzwerkartig bzw. eklektizistisch in die verschiedensten Episteme und Ideenbereiche hineinarbeiten konnte, ohne die dabei von ihm verfolgte Leitlinie, wie etwa das in den 1770er Jahren ›modische‹ Motiv der Emanzipation oder Ichfindung, aufgeben oder umbiegen zu müssen. Sauder notiert dazu: »In den siebziger Jahren, in welchen solche Konzepte [Sauder erwähnt das »moderne Völkerrecht« oder

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als »Scharlatan« bzw. »Genieapostel« – konstatiert werden, dass sein Lebensweg bis Mitte der 1770er Jahre sich nicht großartig von denjenigen, die er in Straßburg kennenlernte, unterschied, so dass mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen ist, dass sein individueller Bildungsstand mit dem der anderen mitzuhalten vermochte. 16 Woran mangelte es dann jedoch, dass sich Kaufmann nicht in der gleichen Weise öffentlich hervortat bzw. hervortun konnte wie Herder, Goethe oder Lenz? Dies lag an zwei Umständen, die ihm in Straßburg mehr oder weniger im Weg standen und seinen publizistischen Durchbruch indirekt behinderten: zum einen an der Führungskraft und Prominenz Goethes und dessen erfolgsorientierter, durch Herder intensivierten Konzeptdominanz in der »Goethe-Sekte« (Luserke 2006: 10) sowie – als letztendlich ausschlaggebendes Kriterium – an Kaufmanns persönlicher Interessenlage, die sich in dessen zweiter Straßburger Periode von der Literatur als Hauptbezugspunkt und damit von der »Göthisch-Lenzischen Manier« (Ebd.: 162) ab- und der theoretisch-praktischen, gesellschaftsrelevanten Erziehungs- und Reformarbeit in einer quasi »Rousseauisch-Lavaterianischen Manier« zuwandte. Zwar wird Kaufmann als »Inbegriff des sich selbst lächerlich machenden Genieanspruchs« 17 vor allem mit den Sturm-und-Drang-Dichtern in Verbindung gebracht, doch ist der für seinen weiteren intellektuellen Lebensweg entscheidende Kontakt zu Johann Kaspar Lavater (1741-1801) während seiner Elsäßer Zeit weitaus wichtiger. 18 Ohne

die »Soldatenehe«, wie sie J. M. R. Lenz vorschlug – M. P.] entwickelt wurden und nicht zuletzt die von vielen Popularphilosophen und Medizinern weiter geförderte und differenzierte Anthropologie im Sinne des ›commercium corporis et mentis‹ eine Basis für zahlreiche dichterische Texte bereitstellte, war es nicht allein die Dichtung, sondern auch der Komplex der noch nicht ausdifferenzierten Humanwissenschaften, die das Profil des Menschen auszumessen und zu verändern geeignet waren« (Sauder 2003: 27). 16 Milch merkt zum Beginn der (zweiten) eigentlichen Straßburger Periode Kaufmanns von 1774 bis 1775 als erste Etappe seiner Wanderjahre, womit er einen Bogen bis an deren Ende um 1780 schlägt, an: »Es läßt sich also zusammenfassend von den sechs bis sieben Jahren, die zwischen der Zeit in Bern und dem zweiten Straßburger Aufenthalt liegen, nur sagen, daß Kaufmann viel gereist ist, naturwissenschaftlich und medizinisch bei verschiedenen Lehrern gearbeitet hat, vielleicht auch die Licentiatenwürde erwarb und jedenfalls am Ende der Wanderjahre wieder Apotheker wurde« (CK: 22). 17 Siehe die dritte Fußnote. 18 Wie verzweigt der Kreis um Goethe, Herder und Lavater in Straßburg letztendlich war, ist einer Inschrift von 1776 am Turm des Münsters zu entnehmen, die einige der für den Sturm und Drang einflussreichsten Persönlichkeiten aufführt: »Stolberg, Goethe, Schlosser, Kaufmann, Ziegler, Lenz, Wagner, v. Lindau, Herder, Lavater, Pfenninger, Haffelin, Blessig, Stolz, Tobler, Roederer, Bassavant, Kaiser, Ehrmann, M. M. Engel«. (Luserke 2006: 163)

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sich sowohl der neuen, revolutionären Literatur als auch deren Ideologemen gegenüber zu verschließen, verlagerte Kaufmann aus dem Schatten der Goethe/LenzGruppe sein rousseauistisch-pietistisches Gedankengut hin zu einem kultisch, ästhetisch und religiös dominierten Menschen- und Gesellschaftsprogramm, wie es besonders der 1774 während seiner aufsehenerregenden Rheinreise in Straßburg Station machende Lavater vertrat.19 Dass Kaufmann in der Folgezeit, wie man es von ihm im Umkreis der aufstrebenden und aufrührerischen Jungdichter scheinbar selbstverständlich erwartete, davon absah, mit einem literarischen Werk an die Öffentlichkeit zu treten und damit seine zu dieser Zeit noch praxisorientierte Entwicklung zu wechseln, ist also ein Resultat seiner seit Anfang der 1770er Jahre intensiven ideellen Suche nach einem ihn (an)führenden (Lebens-)Mittelpunkt, den er in Lavater schließlich zu finden meinte.

2. D IE »I NKARNATION DES S TURM UND D RANG « 20 – C HRISTOPH K AUFMANNS INTELLEKTUELLER »S ONDERWEG « IN DER FRÜHEN G OETHEZEIT Der Züricher Theologe Johann Kaspar Lavater wurde für Christoph Kaufmann mitte der 1770er Jahre zum wichtigsten Freund, Berater, Lehrer und Förderer. Seine allseitige, überaus engagierte und am Geschick seiner Umgebung anteilnehmende Aufgeschlossenheit gegenüber seinen (besonders jüngeren) Mitmenschen sowie sein offen zur Schau getragener »Gefühls- und Herzenskult« (Kohler 2013: 79) propagierte nicht nur sein christologisch-ethisches Ideal (vgl. ebd: 78), sondern war in Lavater selbst als geistiges und tätiges Zentrum seiner Gruppe und ›Schule‹ personifiziert.21 Dabei kam der in seiner Schweizer Heimat vorgeprägten Affinität

19 Milch vermutet eine erste Begegnung zwischen Kaufmann und Lavater bereits vor 1772 (vgl. CK: 29) und führt an, dass Kaufmann zu diesem Zeitpunkt längst »Lavaters Freund« (Ebd.) gewesen sei, was bedeuten würde, dass beide schon während Kaufmanns erster Straßburger Zeit in Kontakt gekommen sein müssen, wenn Kaufmann auch Anfang der 1770er Jahre noch unentschlossen gewesen war, sich, wie zwei Jahre später dann, sofort und mit aller Entschiedenheit Lavater anzuschließen. 20 Luserke 2006: 194. 21 Ein diesbezüglich bemerkenswerter und sich für Kaufmann günstig auswirkender Aspekt ist dabei Lavaters die eigenen Laster und Verfehlungen herunterspielender, d. h. »schonender« Umgang sowohl mit sich selbst als auch mit seiner persönlichen Umwelt, die in sein humanistisches Selbsterkenntniskonzept mit einfloss: »Lavater will überall und immer nur das Gute sehen, er beurteilt die Menschen wie die Welt im gesamten aufgrund eines Theodizee- und Harmoniemodells. Diese idealistische Perspektive nennt er Men-

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Kaufmanns, empfindsame Gemeinnützigkeit und philanthropischen Anspruch zu einer Diesseits gerichteten Einheit zu kombinieren und personalisiert in Anwendung zu bringen (vgl. Rector 1990: 255), nicht allein Lavaters eudämonistisch grundierter, »milder« (vgl. Weigelt 1990: 181) Aufklärungseifer entgegen, sondern auch dessen betont schwärmerische, unmittelbare(re) Lehrmethode, womit dieser in der liberalen Schweiz ebenso wortgewaltig wie wirkungsvoll sowohl seinen Jüngerkreis moderierte als auch seine überwiegend religiös fundierten Erkenntnisse unter seinesgleichen zu senden suchte.22 Lavaters überwältigender Predigerstil, 23 mit dem er auftrat und seine Gemeinde um sich scharte, war von zwei grundlegenden Faktoren bestimmt: einerseits durch die »›sinnliche oder innerlich-intuitife‹ […] Erfahrbarkeit Christi, dessen unvermitteltes Fortwirken in Natur u. Geschichte er fortan auf mannigfaltige Weise manifest zu machen versuchte«, andererseits durch die dem »radikalen Pietismus« entstammende »Inspiriertengemeinde«, d. h. von einem Glaubensphänomen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das »sich nicht nur ausdrücklich zur fortwährenden Offenbarung Gottes an die Menschen bekennt, sondern vielmehr diese Offenbarung selbst in Gestalt von ›Propheten‹ oder ›Werkzeugen‹, die das Wort Gottes direkt auszusprechen glauben (oder vorgeben), an sich zu erfahren vermeint.« (Schneider 1995: 9) Kaufmann fand demnach Aufnahme in einem Kreis exaltierter Eingeweihter, die unter Lavaters Führung im »Glauben an eine empfindsam gelebte Christusreligion« als überzeugte »Lavaterianer« einen rigorosen Personen- bzw. ICH-Kult praktizierten, der an der Aura und Wirkungskraft der Inspirierten partizipierte. Diese selbsternannten Propheten und Wanderprediger ›offenbarten‹ sich bevorzugt im Schlepptau der aufrührerischen 1750er Generation,

schenfreundlichkeit; sie soll noch in den verworfensten Zügen das Gottesantlitz durchschimmern sehen«. (Siegrist 2004: 384) 22 Kaufmanns allgemeine Nähe zum literarischen Zürich dürfte für seine Neigung zur Literatur, vor allem zur subjekt- und phantasiebetonten Avantgarde, wie sie u. a. Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und Johann Jakob Breitinger (1701-1776) vorbereitet hatten, von Vorteil gewesen sein. »Bodmer, Breitinger und Lavater sind nur die bekanntesten Namen, die darauf hindeuten, daß der kulturelle Aufschwung Zürichs im 18. Jahrhundert aufs engste mit einer neuen Aufgeschlossenheit der protestantischen Geistlichkeit der Literatur und den Ideen der Aufklärung gegenüber zusammenhängt, daß […] ›fast die gesamte literarische Kultur Zürichs um 1750 soziologisch und dem Gehalte nach theologisch unterlagert war‹.« (Meid 1980: 372) 23 Der ›Lavaterschüler‹ Johann Georg Müller (1759-1819) schildert in seiner autobiographischen Rückschau seine Erinnerungen an diese Predigten folgendermaßen: »In Zürich war es jeden Sonntag meine Lust, Lavatern, Pfenningern, Hess oder Hafeli predigen zu hören; ihre Reden heiligten so zu sagen meine Seele für die ganze folgende Woche.« (Zit. n. Kohler 2013: 84)

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wobei ihre zum Teil »extrem einzelgängerisch[e]« (ebd.: 10) Einstellung im Zuge der auch von Lavater fokussierten Christusnachfolge und Apokalypse zwar öffentlich faszinierte, ihnen aber auch den kirchlich problematischen Ruf einhandelte, heterodoxe Fanatiker und Sektierer zu sein. Gleichwohl sprach der erste Eindruck durchaus für sich: »[D]iese religiösen ›Genies‹ [stellten] mit ihren ekstatisch hervorbrechenden und sprachlich extrem dynamisierten Bußrufen und enthusiastischen Prophetien, durch ihr Sprechen aufgrund des ›inneren Wortes‹ oder als göttlich erfahrener Eingebungen, aber auch durch ihr normverletzendes äußeres Gebaren ein Substrat bereit, an das die dichterischen ›Genies‹ der Sturm-und-Drang-Generation anknüpfen konnten, um es – zusammen mit anderen Impulsen aus der Philosophie- und Dichtungsgeschichte – für ihre poetologische Selbst- und Neubestimmung fruchtbar zu mache.« (Ebd.)

Kaufmann konnte durch Lavaters Bekanntschaft und vor allem aufgrund dessen Unterstützung seine unlängst herangereiften Ideen zu einer modernen Reformpädagogik konkretisieren,24 während er sich selbst vor dem Hintergrund von Lavaters Konzept der »Einzigartigkeit des Individuellen« (Siegrist 2004: 393) und unter dessen »sprachlicher«25 Anleitung mehr und mehr zu phänomenologisieren begann. Er verließ 1775 Straßburg im Dunstkreis des großen Zürichers und kehrte vorerst in die Schweizer Heimat zurück, um dort, wenn auch noch als intellektueller Mitläufer, sich weiter zu profilieren. Kaufmann war inzwischen selbst der Mittelpunkt einer festen Gruppe um die etwa gleichaltrigen Akademiker Johann Christian Ehrmann, Johann Schweighäuser und Johann Friedrich Simon geworden,26 deren pädagogisch-philanthropische The-

24 Milch fasst dementsprechend zusammen: »1774 und 1775, also in der Straßburger Zeit, stellt sich uns Kaufmann […] dar als ein begeisterter Philanthropist, der in einem Kreis gleichgestimmter Freunde menschheitsbeglückende Erziehungsideale vertritt« (CK: 29). 25 Lavater fasste seine Physiognomik als »Einübung in die himmlische Sprache der Auferstandenen« auf. (Siegrist 2004: 392) 26 Hieran knüpft sich im Zuge von Kaufmanns negativem Bild als Schwindler und Egomane häufig die ›Legende‹ seines vermeintlich tyrannischen, egozentrischen Wesens, das Milch zwar nicht ausräumen will und kann, dem er aber insofern begegnet, als er die Ursache dieser Diffamation vor allem in dem »giftigen Nekrolog, den Johann Christian Schmohl [1756-1783, ökonomisch-politischer Schriftsteller mit linksradikalem Hintergrund – M. P.] 1780 seinem Freunde Mochel [Johann Jakob Mochel (gest. 1778), ein mit Kaufmann vorübergehend befreundeter Pädagoge, dessen Schriften von Schmohl herausgegeben wurden – M. P.] geschrieben hat« (CK: 23), begründet sieht. Milch führt aus, dass trotz »schwere[r] Krankheit und frühe[m] Tod«, die »Mochel an der Entfaltung sei-

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orien seit ihrer gemeinsamen Straßburger Zeit im Kern zusammenliefen und sich daher in einem eigenen Manifest ihres neuen »Bruderbundes« (Rector 1990: 256) Bahn brachen: den »Philanthropischen Aussichten redlicher Jünglinge« von 1775. Dass es zur Abfassung und Drucklegung dieses volksaufklärerisch konnotierten, inhaltlich synkretistisch angelegten Werkes gekommen war, verdankte sich dabei aber nicht allein der Begeisterung ihrer jungen Autoren, sondern vor allem der Fürsprache des einflussreichen Basler Publizisten Isaak Iselin (1728-1782). Der popularphilosophisch orientierte Jurist und Mitbegründer der Helvetischen Gesellschaft war bereits mehrfach mit reformerischen Schriften hervorgetreten, in denen er sich u. a. für das philanthropische Erziehungsmodell einsetzte, wie es besonders der mit Iselin in Verbindung stehende, gebürtige Hamburger Johann Bernhard Basedow (1724-1790) in theologischer Grundierung zu realisieren versuchte. Kaufmann lief also bezüglich seiner ersten Publikation in offene Arme, insofern Iselin nur allzugern bereit war, die enthusiastischen Neuerer nicht nur anzuhören, sondern im Sinne ihres und seines gemeinschaftlichen Vorhabens sofort landesweit bekanntzumachen.27 Als charismatischer Kopf der jungen Gruppe28 ergriff Kaufmann die Initiative und spielte parallel zur Verbreitung seines ›neuen‹ Selbstbewusstseins sein durch die Zusammenarbeit mit Lavater an dessen PHYSIOGNOMISCHEN FRAGMENTEN (1775-78) weiter genährtes Wissen gerade auf dem reformpraktischen Sektor

ner Kräfte im neuen Wirkungskreis verhinderten«, kein Grund bestünde, »Kaufmann mit Schmohl anzuklagen, er habe Mochel aus seinem ruhigen Leben in das Getriebe der Welt gerissen« (Ebd.). In Sauder (2003) auf S. 122-129 ist ein schwärmerischer Brief Mochels vom 1776/77 an Kaufmann abgedruckt, in dem Mochel Kaufmann seine GoetheVerehrung versichert und notiert: »Der empfindsamere Mensch ist einer höhern Seligkeit fähig, als der unempfindsamere, und erlangt sie gewiß, wenn er klüger und vernünftiger ist als dieser; ausserdem ist er unglücklicher« (Ebd.: 128). Die Konzentration auf eine (polarisierende) »Zentralfigur« war innerhalb einer solchen Gruppierung typisch: In Straßburg dominierte Goethe, in Frankfurt Johann Heinrich Merck, in Göttingen Heinrich Christian Boie und im Hainbund Johann Heinrich Voß (vgl. Ebd.: 25). 27 Die gegenseitige, kultische Verehrung der Lavater-Freunde täuschte indes über so manche geistige und moralische Unzulänglichkeit hinweg, solange nur die Idee der einträchtigen Gemeinschaft gewahrt blieb, denn »Freundschaft ist nach Lavaters Auffassung die höchste Form von Menschenliebe, der Freundeskreis bietet einen Vorgeschmack auf die Gemeinschaft der Seligen« (Siegrist 2004: 386). 28 Milch schreibt dazu: »[V]om frühen Lob verwöhnt, wird er im Kreise der Freunde unbestrittener Führer auf Grund seiner guten Verbindung zu den drei bekannten und berühmten Männern [Lavater, Iselin, Schlosser – M. P.], wie auch infolge der reichen Geldmittel, die ihm zugeschrieben werden« (CK: 31).

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mit rousseauistisch-pietistischem Einschlag voll aus.29 Milch notiert zu dieser Episode: »Iselin bekennt [in dem Vorwort der »Philanthropischen Aussichten«, das Iselin als Herausgeber voranstellte – M. P.], Kaufmann habe ihm von seinem Streben nach Erkenntnis der Natur und des Menschen und von seinem Entschluß, das ganze Leben der Glückseligkeit seiner Mitmenschen zu widmen, in so vertrauenerweckender Weise gesprochen, daß er, Iselin, es für seine Pflicht halte, die gemeinsame Arbeit der vier Freunde zu veröffentlichen; zwar merke man der Schrift die Jugend ihrer Verfasser an, doch bestimmten ihn zur Veröffentlichung ›der warme Eyfer, der einnehmende Gesichtspunkt, die angenehme Wendung und die feinen Anmerkungen über Erziehung‹« (CK: 26).

In dem verschiedene Bildungsmaximen sowie philosophische und anthropologische Theoreme vermischenden Traktat der Kaufmann-Gruppe konvergiert der sensualistisch-spiritualistische Impetus des Pietismus um die Seele bzw. das ICH, d.h. die empfindsame, ›(er)leidende‹ Besorgnis um dessen ›ganze‹ oder ›ganzheitliche‹, ›natürliche‹ Entwicklung, mit dem besonders von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) für seine Pädagogik der »negativen Erziehung« (Gerhardi 1988: 180) aufgegriffenen Paradigma vom unverdorbenen Menschen zu einem überhöhten Seelen- und Erziehungsidealismus, der im Sinne der eudämonistischen Schwärmerei Lavaters Naturnähe und »Liebe als das bindende Element des ganzen Menschengeschlechtes« (CK: 26) zelebriert. Zwar stand bei allem zeittypischen progressiven Anspruch und der energischen Vortragsweise die Schrift im Schatten des Prestigeprojekts der PHYSIOGNOMISCHEN FRAGMENTE, dessen spektakulärer, ›konfessioneller‹ Charakter die öffentliche und gelehrte Aufmerksamkeit auf der popularphilosophischen Ebene mindestens ebenso absorbierte wie Goethes WERTHER (1774) auf der ästhetischliterarischen, es reichte jedoch, um den umtriebigen Erziehungstheoretiker Basedow für die Gruppe zu interessieren und ihre Mitglieder für seine seit 1771 geplante und 1774 mit staatlicher Subvention gegründete, philanthropische Musteranstalt im

29 An dieser Stelle jedoch automatisch auf Kaufmanns »genialische Attitüde« zu schließen, wie es Rector macht (vgl. die dreizehnte Fußnote), scheint angesichts der geradezu aufdringlichen Protegierung durch Lavater, Iselin und Schlosser verfrüht, auch weil es Kaufmann zu diesem Zeitpunkt noch am »einzelgängerischen« Fanatismus mangelte, wenn er auch infolge seiner Straßburger Zeit und Lavaters Wirkung bereits über das notwendige Sendungsbewusstsein verfügte. Auch Milch spekuliert darüber, weil von »Kaufmanns Prahlerei alle Quellen übereinstimmend [sprechen]«, so dass für ihn »kein Grund [besteht], daran zu zweifeln, daß der spätere ›Gottesspürhund‹ bereits als Zwanzigjähriger mit seiner Fähigkeit, Genies zu entdecken und im Schatten Stehenden zu helfen, sich gerühmt hat« (CK: 31).

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sächsischen Dessau anzuwerben. Der durch seine freigeistigen Auffassungen zu seiner Zeit kontrovers beurteilte Verfasser des pädagogischen »Elementarwerkes« (1774) benötigte für sein neues »Philanthropinum« junge, unverbrauchte und am besten von seinen Vorsätzen überzeugte Lehrkräfte, die die rousseauistisch fundierte Konzeptualisierung einer Wiedererweckung der menschlichen Natürlichkeit durch eine naturverbundene Erziehungsmethode unter dem Leitbild des »Émile« (1762), d. h. den Zögling »möglichst lange und möglichst weit von dem korrumpierenden Einfluß der gesellschaftlichen Umwelt fernzuhalten, damit sich seine inhärenten Neigungen zum Guten spontan entfalten können« (Gerhardi 1988: 180), in die Tat umsetzen konnten und wollten. In der Gewissheit dieses günstigen Angebots sowie im fürsorglichen wie selbstdarstellerischen, umschwärmten Schweizer Schoß Lavaters, Iselins und des aus Frankfurt stammenden Juristen und politischphilosophischen Schriftstellers Johann Georg Schlosser (1739-1799), dessen individualistisch-christliches Weltbild (vgl. Rathje 1991: 294) mit dem Lavaterkreis korrespondierte und ihn seit den gemeinsamen Straßburger Tagen mit demselben verband, geriet Kaufmann Ende 1775 schließlich in einen Schaffensrausch: erstens, »die Freunde [Ehrmann, Schweighäuser, Simon, Mochel – M. P.] an den philanthropischen Anstalten unterzubringen«; zweitens, »für die Schweizer Landesgeistlichkeit Predigten sammeln« zu wollen, wofür er »die Straßburger Freunde um Übersendung von Handschriften [bittet], die er Lavater vorlegen wolle«; und drittens, »in Winterthur bei der Begründung eines Theaters mitbeschäftigt zu werden« (CK: 34). Im Windschatten von Lavaters Popularität, die besonders um 1776 im Zuge der Veröffentlichung der ersten beiden Bände seiner »Physiognomischen Fragmente« ihren Zenit erreichte, und in der ›selbsttherapeutischen‹ Atmosphäre von dessen »milde[r] Aufklärungstheologie« (Weigelt 1990: 181), die unter dem Leit- und Vorbild des Verfassers der »Unveränderten Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst« (1773) stets genug Subjektivismus bzw. individualistische Exzentrik ertrug und befürwortete, präsentierte sich Kaufmann zur Jahreswende 1775/76 als der weitaus offensivste »Lavaterianer«, dessen intellektueller Überhang, den er als Haupt seiner Gruppe bereits zu verspüren meinte, ihn jedoch hinsichtlich seines neuen Einsatzortes und bezüglich seiner ›wahren‹, ›eigentlichen‹ Bestimmung immer unsicherer werden ließ. Dieser Aspekt der beruflichen Unentschlossenheit von Christoph Kaufmann, infolgedessen laut Milch »die Wirrnisse [beginnen]« (CK: 34), ist in der Forschung bislang kaum zur Sprache gekommen, erhält aber für Kaufmanns Wesensart und Weiterentwicklung, überhaupt für das in der 1750er Generation stark ausgebildete Eigeninteresse umso größere Bedeutung,30 wenn man bedenkt, wie außerordentlich

30 Die Priorisierung einer Selbstbestimmung entsprechend der eigenen individuellen Neigungen, die selbst die Universität zum Mittel werden liess, den Zweck der vollkommenen

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auf den Fundamenten von Rousseau, Pietismus und der (wild) um sich greifenden Nachwirkung von Goethes »Werther« der Lavaterkreis die wahrhaftige, natur- und gottgegebene Bestimmung des Individuums nicht nur gönnerhaft besorgte, sondern erlöserhaft bzw. heilsbringend sakralisierte. Kaufmann geriet in seiner labilen Abhängigkeit nicht allein von der »Zürcher Herzlichkeit und Brüderlichkeit« (Kohler 2013: 84), sondern durch die dort fortwährend betriebene, »lavaterianische« Selbstapotheose in einen existenziellen Konflikt mit seiner ›Berufung‹, mithin seinen ›wahren‹ Lebenssinn, den er zeitlebens – zwischen dem populären Image als gottberührter Erlöser und dem wesentlich unspektakuläreren als naturverbundener Praktiker hin und her wankend – nicht zu lösen vermochte. Zwar durchschaute Kaufmann Mitte der 1770er Jahre die Mechanismen des konjunkturellen Buchmarktes, insofern er aufgrund der öffentlichen Konzentration auf die »Goethe-Sekte« und auf die »Lavater-Sekte« sich keine großen Erfolgsaussichten einräumte, auch ›bestimmte‹ er den weiteren Lebensweg seiner Freunde,31 wagte aber trotzdem nicht, sich selbst festzulegen und festlegen zu lassen, erst recht nicht in Konfrontation mit der – neben dem prosaischen Amt als Dessauer Erzieher – häufig »demütigenden« Stellung als Hauslehrer oder Hofmeister, der sich bis ins 19. Jahrhundert ein Großteil der jungen Universitätsabsolventen, mithin der aufstrebenden Intellektuellen immer wieder beugen musste, um über ein einigermaßen geregeltes Auskommen zu

Ichfindung zu erreichen, spiegelt sich in vielen Biographien der 1750er Generation wider, z. B. bei Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Friedrich Maximilian Klinger, Jakob Michael Reinhold Lenz oder Georg Forster. 31 Die Gruppe um Kaufmann zerfiel mit der Trennung der Freunde: Simon und Schweighäuser schlossen sich bereits im November 1775 Basedows Dessauer Philanthropinum auf dessen Bitte hin an; Mochel blieb in Straßburg und Kaufmann ging zusammen mit Ehrmann in die Schweiz zurück, um dann jeweils im Frühjahr 1776 (Ehrmann) und im Juli desselben Jahres (Kaufmann) ebenso nach Dessau abzureisen. Eine nicht unerhebliche Rolle in Bezug auf Kaufmanns langes Zögern, Basedow Folge zu leisten, spielte dabei der Einfluss seiner drei Mentoren, Lavater, Iselin und Schlosser, die im Interesse ihrer eigenen Absichten, Kaufmann als enthusiasmierten Claqueur instrumentell für sich auszuschlachten, die pädagogische Arbeit an Basedows Institut teilweise hemmungslos kompromittierten (siehe CK: 44 ff.). Milch merkt an, dass Kaufmann während dieser Zeit »in der Schweiz hin- und hergerissen [wurde] in dem Für und Wider der Meinungen« (Ebd.: 44), und zitiert aus MOCHELS RELIQUIEN (1780), worin u. a. der Briefwechsel zwischen Mochel und Kaufmann von 1771-1777 abgedruckt ist, dessen daraus resultierenden Beschluss: »Ich will meine Ohren verschließen. – einzig meiner Vernunft – meiner Empfindung – meinem Gefühl – Gehör geben. – Jeder hat seine Narrenkappe« (Ebd.: 28).

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verfügen.32 Der Jahreswechsel 1775/76 wurde damit zu einem Wendepunkt in Kaufmanns bisherigem Leben und Werdegang,33 ohne damit jedoch, wie es im Nachhinein häufig gesehen wird, sogleich auf der Folie eines ›genialischen‹ Imperativs negativ auszuschlagen. Lavaters idealistisch-metaphysischer Ansatz versuchte in jedem für Harmonie und das christliche Gute geöffneten ICH einen transzendental verankerten, – mit Lyotard gesprochen – »universellen Wert« freizusetzen und mithilfe seiner physiognomischen Theorie einer »visionären Hermeneutik« zu manifestieren und rekurrierend auf der christologischen »Natursprache« zu legitimieren (Siegrist 2004: 385; 380). Seine ästhetisch-charakterologische Besessenheit vom »Charisma« oder vom charakteristischen »Schädelumriß« maß selbst im gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Leben eher unbedeutenden Personen etwas »Übersinnliches« (ebd.: 383) zu, solange sie nur »das Siegel Gottes auf ihrer Stirne tragen« (ebd.: 385). Lavaters Physiognomie wuchs sich infolge ihrer Vulgarisierung zu einer populären Epidemie aus (siehe ebd.: 387 ff.),34 mit der nicht allein die gelehrte Prominenz, sondern auch (früh) Gescheiterte und Quereinsteiger ihre persönlichen Niederlagen kompensierten35 – wie Christoph Kaufmann. Dass Lavater in seiner subjektiven Äs-

32 So kontrastiert Gerhard Hay in Bezug auf den Dichter und Übersetzer Johann Heinrich Voss (1751-1826) dessen literarische Affinität mit der realpraktischen Notwendigkeit, der er früh ausgesetzt war: »Voß entdeckte [Ende der 1760er Jahre – M. P.] seine Vorliebe für die Gegenwartsliteratur: Hagedorn, Haller, Gessner, Ramler und dann Klopstock. Mit achtzehn Jahren übernahm er schon die Verantwortung für drei Kinder […] als Hofmeister. Die Demütigung dieses Status, dem kaum ein aufsteigender Intellektueller im 18. Jahrhundert entkam, wie auch sein Abkunft wurden für Voß prägend.« (Hay 1997: 190) 33 Auch Milch spricht von einer »Wandlung, die in Kaufmann während des Schweizer Aufenthaltes vom Ende des Jahres 1775 bis zum Sommer 1776 vor sich ging. Ein lernbegieriger Jüngling hatte Straßburg verlassen, ein ›Repräsentant der Menschheit‹ zog drei Vierteljahre später durch Deutschland« (CK: 47). 34 Die Euphorie, die Lavater gerade unter den jüngeren Zeitgenossen auszulösen vermochte, erklärt sich allein schon durch seine theologischen Rekurse, wie z. B. auf das Wunder der Auferstehung, das er insofern (radikal)pietistisch subjektivierte, als die Christologisierung seiner ›Jünger‹ sie in Verbindung brachte mit einer dezidiert überirdischen Qualität parallel zur Heiligen Schrift: »Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen« (2. Timotheus 1, 10). Lavater fungierte auf diese Weise in der frühen Goethezeit als einer der entscheidenden Vermittler der neuen, modernen Subjektanschauung und dem nach wie vor christlich bestimmten Alltag vor dem Hintergrund des aufklärerischen Deismus, Pantheismus, Empirismus und Sensualismus. 35 Luserke spricht allgemein vom »Kompensationscharakter« des Sturm und Drang, der »eine Emanzipationsgeste gegenüber einer als repressiv erfahrenen Aufklärung und glei-

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thetisierung die einzigartige, charismatische Persönlichkeitsgestalt jedoch nicht eindimensional auf eine bestimmte weltliche Tätigkeit festgelegt haben wollte, sondern sich diese gemäß der christlichen Universalität – nach Mannheim – »frei schwebend« über dem gesellschaftlichen, mithin profanen Welt- und Menschen-Raum vorstellte, wo sie eine unantastbare, ›dritte‹ Sonderstellung einnähme (vgl. Noack 1991: 22 ff.),36 konvergierte mit Kaufmanns existenzieller Unentschiedenheit, indem dies seine soziale Unsicherheit wie seine diffusen Denk- und Lebensvorstellungen kaschierte und unter eine prinzipiell übergeordnete, Einheitlichkeit vortäuschende Leitlinie stellte. Kaufmann richtete sich demnach Ende 1775 an der »lavaterianischen« Illusion auf, als christusgleicher Genie-Mensch nicht den gleichen Weg gehen zu können und zu dürfen wie seine Freunde, sondern infolge des Auserwähltheitskodex des Lavaterkreises die nächste Stufe in der internen Hierarchie erklimmen und – gestützt auf die überschwenglichen, »rhapsodischen« (Siegrist 2004: 284) Lobeshymnen seiner Förderer rund um sein leidenschaftliches Porträt im dritten Band der PHYSIOGNOMISCHEN FRAGMENTE (1777)37 – seinen mehrdimensionalen Einfluss ›absolut‹ bzw. überall auf der Welt geltend machen zu müssen bzw. vorzuleben.38 Kaufmann beabsichtigte, jenen »universellen Wert«, den Lavater projektierte, selbst zu verkörpern, wobei er sich den unpräzisen Faktor des »frei schwebenden« Denkers, mithin des Intellektuellen, der vor allem beobachtet und prüft, zunutze machte, um sowohl »lavaterianisch« und wie er es bei den so populären und einflussreichen Inspirierten gesehen hatte, den rousseauistischwertherischen »Sonderweg« zu beschreiten, als auch, legitimiert durch seine Auserwähltheit, permanent »Fundamentalkritik« zu betreiben und »Utopien« realiter

chermaßen Kompensation dieser nicht gelungenen Befreiung [ist]. Die Autoren beschwören die Geste und verharren in Pein«. (Luserke 2006: 16) 36 Noack führt hinsichtlich der Intellektuellen Karl Mannheim als den »Erfinder« der »sozial frei schwebenden Schicht« an und bezieht dessen Ansicht auf die »skeptischere« Variante bei Joseph Schumpeter vom »intellektuellen Freibeuter« (ders. 1991: 22 f.). 37 Milch vergrößert den Kreis der Laudatoren bis zu Herder: »Das öffentliche begeisterte Eintreten Lavaters für Kaufmann begann mit dem Jahre 1776, fast gleichzeitig mit dem Übergang des jungen Straßburger Studenten [Milch meint Kaufmanns Status als außerordentlicher, autodidaktischer Hörer – M. P.] vom pädagogischen Bruderbund zum Stil der Empfindsamkeit. Schon am 27. Februar 1776 berichtet Lavater an Herder, der edle Jüngling Kaufmann, ein Mann von Willen, Gefühl und Tat, den er eben gefunden habe, passe herzlich zu seinen Freunden Pfenninger und Häfeli« (CK: 53). 38 Kaufmann hatte Mitte der 1770er Jahre mehrmals die Absicht geäußert, nach Russland oder Amerika auszuwandern (vgl. CK: 83 f.).

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anzustreben. (Noack 1991: 113; 119; 24)39 Dafür bediente er sich des christologischen, eschatologisch gefärbten Einzelgänger-Paradigmas Lavaters als allumfassende, keiner prosaischen bzw. rein moraldidaktischen Gegenständlichkeit verpflichteten »Menschenfreundlichkeit« ebenso wie dessen Kult vom auratischen Charisma des »guten Christen« (Siegrist 2004: 384), um fortan entsprechend der biblischen Devise »Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein« (JAKOBUS 1, 22) mit der eigenen, ›ganzen‹ Existenz die Menschheit und ihr Schicksal positiv wie negativ und körperlich wie geistig zu ›erleiden‹. Seine »lavaterianische« Vorprägung als Mitglied eines ›seligen‹ Kreises von Herzensbrüdern liess Kaufmann in Hinsicht dieser selbstbezogenen Intellektualität die damit geschaffene »Zitadellenkultur« als »Dritter Weg« (Noack 1991: 101) umso eher willkommen heißen, als er sich mit ihr auf der einen Seite demonstrativ als ein unentwegter, den SisyhosMythos evozierender Verfechter einer Idee bzw. eines Willens inszenierte, 40 auf der anderen Seite durch ihn bzw. in ihm die Beherrschung einer »Hochkultur« (ebd.: 102) repräsentierte. Insofern begründet sich neben Kaufmanns synkretistischer Denkhaltung und realpraktischen Missverhältnissen sein generelles und schnelles Scheitern als elitärer Denker sowohl in dieser seiner »frei schwebenden«, auratischen Kompensationssphäre, die allgemein dem Intellektuellen bei dem Bemühen, »sich die Lufthoheit über fremdes Territorium erobern zu wollen« (ebd.: 110), anhaftet und öffentlich für Irritationen sorgt, als auch in seiner rousseauistischwertherischen »Kokonisierung«41, die den Topos der Einzigartigkeit bediente und

39 Bei aller offensiven, ja mitunter aggressiven Subjektivität Kaufmanns muss jedoch beachtet werden, dass sein kritisches Vorgehen – etwa im Gegensatz zum Wirken Schubarts – keinerlei politische Implikationen beinhaltete, weswegen Kaufmanns Aufbegehren aufgrund seiner »lavaterianischen« Basis auch nicht in Anarchie umzuschlagen drohte, sondern gewissermaßen passiv blieb. 40 Noack führt dazu den Soziologen Hauke Brunkhorst an: »Der Intellektuelle ist ein Sisyphos, der beim Wälzen seines Steines davon träumt, daß er zu einem Stein des Anstoßes werden könnte. Gleichzeitig aber lebt er von der Versuchung, diesen Stein zu behauen, bis aus ihm sein eigenes Denkmal geworden ist«, und kommentiert: »Da für den Intellektuellen alles Material ist, ist er es auch für sich selbst. Und das vor allem zum Zwecke der Selbstanbetung.« (Ders. 1991: 104) 41 Luserke apostrophiert diese auffällige Tendenz zur Vereinzelung der Autoren des Sturm und Drang und stellt die sozialgeschichtliche These ihrer »Kokonisierung« auf: »Vereinzelung, Versingelung und das genieästhetische Konzept der Einzigartigkeit, gebündelt im modernen Begriff der Kokonisierung, sind die Antwort der literarischen Avantgarde der 1770er Jahre auf den Prozess der Verbürgerlichung im 18. Jahrhundert« (Luserke 2006: 17). Die Widersprüchlichkeit zwischen dem Konzept der Verbrüderung und dem Phäno-

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aufwertete: »Die Intellektuellen gehören niemandem ganz. Sie leiden an ihrer Entwurzelung; doch zugleich ist sie für sie, die Artisten der Paradoxie, ihr höchster Genuß.« (Noack 1991: 110) Anfang 1776 vollzieht sich bei Kaufmann also nicht nur der Übergang vom intellektuellen Mitläufer und Ideenempfänger zum verehrten und verhätschelten Kristallisationspunkt des »lavaterianischen« Charismaprojekts, es sticht bei ihm auch eine damit zusammenhängende messianistische Märtyrerhaltung heraus, deren illusionistische, christologische Berufung aufgrund ihrer Dependenz von den bei der 1750er Generation modischen Topoi der Vereinzelung und Einmaligkeit bereits ihr Verfallsdatum an sich trug und teilweise zum Selbstzweck erklärte. Jean-François Lyotard hält in seinen essayistischen Studien zum Phänomen des Intellektuellen Folgendes fest: »›Intellektuelle‹ […] sind […] eher Geister, die vom Standpunkt des Menschen, der Menschheit, der Nation, des Volks, des Proletariats, der Kreatur oder einer ähnlichen Entität aus denken und handeln. Sie identifizieren sich mit einem Subjekt, das einen universellen Wert verkörpert; sie beschreiben und analysieren von dieser Position aus eine Situation oder Lage und folgern, was getan muß, damit dieses Subjekt sich verwirkliche oder wenigstens seine Verwirklichung voranschreite. ›Intellektuelle‹ richten sich an jeden einzelnen, insofern er ein Keim, ein Depositär dieser Entität ist. Ihre Erklärungen beziehen sich ihrem Inhalt nach auf jedermann und gehen in gleicher Weise von jedermann aus. Die Verantwortlichkeit der ›Intellektuellen‹ kann nicht getrennt werden von der (allgemein geteilten) Idee eines universellen Subjekts.« (Lyotard 1985: 10)

Dass Christoph Kaufmann in seiner neuen, »frei schwebenden« Berufung gleich wieder davon Abstand nahm, sowohl seine kurzzeitig wieder aufgekeimten Pläne eines Medizinstudiums als auch – die internen Differenzen in Basedows philanthropischem Institut nach seinem dortigen pädagogischen Intermezzo von Anfang Herbst 1776 bis zum Februar 1777 vorschützend 42 – seine Erziehungsarbeit weiter-

men der »Versingelung« lässt die Charaktere der 1750er Generation daher besonders komplex erscheinen und ungewiss in ihrer subjektiven Ausrichtung. 42 Dazu ausführlich Milch (CK: 56 ff.), der Kaufmanns überraschend schnellen Weggang aus Dessau dahingehend interpretiert, »daß die Praxis ein wenig anders aussah, als die in Straßburg geschmiedeten Reformpläne« (ebd.: 57). Milch verweist zudem auf Schlosser, dessen Kritik an Basedows Philanthropismus Kaufmann geteilt hätte: »[D]aß bei aller Anerkennung von Rousseaus ›Emile‹ Kinder doch keine Engel seien, daß ein bißchen Zucht und Strenge in der Erziehung nichts schade und daß die Dessauer Lehrer gut täten, sich ein wenig ›herabzustimmen‹ und statt hochfliegenden theoretischen Ideen nachzuhängen, mehr den Erfordernissen der Praxis Rechnung zu tragen« (ebd.: 59).

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zuverfolgen, resultiert folglich aus dieser vor seiner Abreise nach Dessau neu gewonnenen Sichtweise einer prinzipiell individuellen Unbestimmbarkeit als innerlich-geistige Identifikation mit einem »universellen Wert« und als äusserlichsinnliche Personifikation eines »universellen Subjekts«. Außerdem trugen die unterschiedlich situierten Ideologien zwischen Lavaters vorwiegend religiösästhetischer, naiver Glaubens- und Kulturoffensive und der positiven, philosophistisch-anthropologischen Reformbewegung bei Basedow zu Kaufmanns zunehmender Skepsis gegenüber so gut wie allen Bereichen des bürgerlichen Lebens bei. Seine fundamentalkritische Ausrichtung untersagte ihm jedweden konkreten Einsatz. In einem Brief Kaufmanns vom 28. Oktober 1776 aus Dessau an seinen Freund Friedrich »Maler« Müller (1749-1825) spielt er auf diese seine gänzlich anders gearteten Interessen und sein durch die Arbeit am Institut unterbrochenes Selbststudium an: »Wann schickst du mir die Sachen, die ich von dir bat? Kannst du mir keine Büsten, Abgüsse aus dem Antiquen Saal verschaffen und meinem Vater [nach Winterthur – M. P.] schicken? Wenn du was hast, das des Lesens werth oder das Nahrung giebt fürs arme durstende Menschenherz, so schicks mir in die Dürheit.« (Müller 1998: 39)

Dabei darf im Zuge seiner Vereinnahmung durch Lavater aber nicht übersehen werden, wie sehr sich diejenigen, die sich nicht dem »deutschen Rousseau« in Dessau anschliessen mochten, häufig hinter den Vorwürfen von Basedows angeblicher »Großmannssucht, Projektemacherei, Dilettantismus u. Geldgier« versteckten. (Krause 1988: 234) Kaufmanns biographische Problematik erweist sich unter diesen Gesichtspunkten als eine willkürliche Verkettung unausgereifter, miteinander konkurrierender, selbstbezogener Maximen, Theoreme, Philosophismen, Ideensysteme und Subströmungen, vor denen der gerade einmal Dreiundzwanzigjährige von vornherein kapitulierte, indem er ihnen bedingungslos nacheiferte. Das bedeutet zugleich, je mehr sich Kaufmanns persönliche Umgebung sozial und ideell zu konsolidieren begann, desto eher stiess Kaufmann mit seinem Eifer auf schroffe Ablehnung und wurde von ihr als potenzieller Störer, mithin als Aufrührer wahrgenommen, der sich dem jugendlichen Wahn nicht zu entziehen vermöchte. 43 Allerdings gehörte es zur »lavaterianischen« Selbst- bzw. ICH-Kultur diese Ausgrenzung und das allgemeine Unverständnis in die inhibierte Rolle des einsamen Streiters, Verfolgten, Märtyrers oder – christologisch – des »Mannes der Schmerzen« (Reichel 1922: 54) als Möglichkeit zu einem vollendeten Apostel-Auftritt instrumentell zu

43 Luserke spricht in diesem Fall von »Widerruf und Revision«, die – man denke an Goethe oder Klinger – »die späten Jahre des Sturm und Drang [kennzeichnen]« (Luserke 2006: 9).

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integrieren, um damit sozusagen umgekehrt proportional auf die Umwelt nicht allein durch Worte und Werke, sondern – verstärkt durch ein nachlässiges, aufs Wesentliche beschränktes, äusseres Erscheinungsbild, bei dem »manches vom modernen sektiererisch-lebensreformerischen Bohemien vorscheint« (Rector 1990: 257) 44, mithin des 1968er Hippies – vor allem suggestiv als Inkarnation eines Willens in Form einer Offenbarung seiner Selbst zurückzuwirken, wie es der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeinde, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760), im Bewusstsein der Verworfenheit des Menschseins vorformulierte: »›In dieser Historie [»Historie von Herrnhut« – M. P.] soll Gutes und Böses, löbliche Sachen und Fehler, so wie’s in der Bibel stehet, erzählet werden.‹ Es soll alles beschrieben werden, wie es gewesen ist, gut und böses, die Fehler und die Treffer, und zugleich sollen die Ursachen, warum was nicht geglückt ist, allezeit angeführet werden, und daß wir’s allezeit versehen haben und auf unsern Ältesten keine Schuld komme.« (Reichel 1922: 5)

Die Hypostase einer ›seelentiefen‹ Verankerung mit einem sakralisierten, heiligen Selbst oder ICH lässt Kaufmanns intellektuelle »Suche nach Freiräumen« (Charle 1997: 52) zwar »organisch« (ebd.: 56) erscheinen, indem er seine »frei schwebende«, »universelle« Einflussnahme als übernatürliche Gabe aufführte, mit der er gesegnet wäre, doch durchschauten zeitgenössische Kritiker wie Wieland, Goethe oder Merck, die von dem spiritualistischen Konzept der religiösen Persönlichkeitsverehrung weniger abhingen als die anfänglichen Kaufmannsympathisanten Herder, Hamann oder Müller, hinter Kaufmanns auratischer Fassade seinen existenziellen »Kampf um Anerkennung« (ebd.: 14), der mit Christophe Charle auf den Begriff des Intellektuellen appliziert werden kann: »Danach sind die Intellektuellen eine Gruppe von Menschen, die am sozialen, aber auch am Bildungssystem gescheitert sind und die nun, da sie ihren Platz in der Gesellschaft nicht gefunden haben, potentielle Triebkräfte von Veränderung und Umsturz sind und eine verschwörerische Kraft bilden, durch die sich überraschende historische Umwälzungen ankündigen.« (Ebd.: 15) Kaufmanns dezidierter Nonkonformismus, der sich 1775/76 bei ihm herausgebildet hatte und rund um seine Dessauer Zwischenstation auf seinen Höhepunkt zusteuerte, funktionierte demzufolge als doppelte Triebfeder, sich einerseits keiner Geistesrichtung im Speziellen zu beugen, andererseits stets interessiert genug zu bleiben, die eigene Geisteshaltung weiter aufzublähen und mit den aktuellsten

44 Milch pointiert die Problematik von Kaufmanns hippiehaften Auftritten und ist sich einig, dass »[a]lle theoretische Schwärmerei für Rousseau die meisten nicht [hinderte], sich von dem Apostel des Sturmes und Dranges, der mit Knotenstock, wehendem Haar und ›bis zum Nabel offenem Hemd‹ daherkam, peinlich berührt zurückzuziehen« (CK: 14). So auch bei Luserke (siehe ders.: 2006: 194).

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Ideenmoden zu vermengen, um sich auf diese Art und Weise zu einer festen Geistesgröße der Epoche zu verklären, also alles das kultisch an sich selbst vorzunehmen, was seit den frühen 1780er Jahren dann Immanuel Kant systematisch mit seiner Philosophie gelingen sollte: zum Knotenpunkt der gesamten Spätaufklärung zu werden. Die Publikation der Textsammlung ALLERLEY GESAMMELT AUS REDEN UND HANDSCHRIFTEN GROßER UND KLEINER MÄNNER, die Kaufmann und sein Freund Ehrmann 1776 pünktlich zur Leipziger Buchmesse während Kaufmanns Reise nach Dessau unter dem Pseudonym des »Reisenden EUK« herausgaben, unterstreicht in dieser Hinsicht sein absichtlich distanziertes Verhältnis zu einer intellektuellen Selbstoffenbarung, indem er, hinter die Gedankengebäude seiner Umwelt christlichaltväterlich zurücktretend und wie er es in gewisser Weise bei Lavater als geistiger Herbergsvater, Richter und sokratischem Streiter in persona kennen- und schätzengelernt hatte, in der Hauptsache auf die Rolle des Kritikers und Lehrers abzielte und nicht – selbst unter Zurückstellung des Ruhms eines schriftstellerischen Popularphilosophen – auf die des den Marktgesetzen sich ausliefernden, im freien Ideenwettbewerb stehenden Produzenten. Auf diese Weise konnte Kaufmann als ›weiser‹, ›weltkluger‹ Fatumbestimmer seine Umgebung als »eine Art philosophischer Don Quichotte« (CK: 96) orakelhaft terrorisieren, ohne selbst den Beweis antreten zu brauchen, was von seiner Bekanntschaft – kaum verwunderlich – mit Unverständnis und offener Ablehnung quittiert wurde und Kaufmann als stetig »Reisender« im »Allerley« von Beginn an isolierte.

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3. »D ER W UNDERZUG DES G OTTESSPÜRHUNDES « (CK: 61) 45 – C HRISTOPH K AUFMANNS V ERKLÄRUNG UND V ERACHTUNG IM LITERARISCHEN S PIEGEL SEINER Z EITGENOSSEN Christoph Kaufmanns kurze pädagogische Tätigkeit in Johann Bernhard Basedows Dessauer Philanthropinum vom Herbst 1776 bis zum Frühjahr 1777 stand von Anfang an unter ungünstigen Vorzeichen. Nicht nur Basedows permanente organisatorische und finanzielle Probleme, vor allem Kaufmanns esoterische Neufindung und Selbstüberschätzung als »lavaterianischer« Missionar und ›neuer‹ Wundermensch verhinderten eine erfolgreiche, längere Zusammenarbeit. Anstatt sich mit der prosaischen Praxis zu arrangieren, konterkarierte Kaufmann schon in den ersten Monaten seines Dessauer Aufenthalts mit der Veröffentlichung seiner gewissermaßen programmatischen Anthologie »Allerley gesammelt aus Reden und Handschriften großer und kleiner Männer« die Nüchternheit des ihn auf die bürgerlichen Tugenden verpflichtenden Erzieheramtes. Darüber hinaus hatte ihm sein Mentor im dritten Band der »Physiognomischen Fragmente« eine eindrucksvolle Visitenkarte mit auf den Weg gegeben, die es zum Zweck von Kaufmanns Hypostase offensiv einzusetzen galt. Als auf diese Weise verifizierte »Verkörperung des literarisch beschworenen, empfindsam-schwärmerischen Kraft-Genies« und »Apostel von Lavaters myst. Offenbarungsreligion« (Rector 1990: 256) suchte dieser nämlich in seinen »Fragmenten« innerhalb der Unterabteilung »Jugendliche Gesichter. Kinder, Knaben und Jünglinge« mittels eines speziellen Kaufmann-Porträts, »Ein Jüngling der Mann ist. K….nn«, seine ästhetisch-sakrale Bestimmung bzw. sensualistische, phänomenologische Begriffsfindung des geniehaften, kraftvollen, neuen, jungen Menschen anhand von Kaufmann zu exemplifizieren und ihn damit als einen noch lebendigen Mythos zu popularisieren. Lavater rhapsodiert dementsprechend über den Kupferstich des »Geliebten« aus seinem »innersten Kreis« (Lavater 2004: 209):

45 Milch fasst Kaufmanns Reise seit seinem Weggang aus der Schweizer Heimat seit Mitte 1776 folgendermaßen zusammen: »Sicher ist nur, daß Kaufmann mit oder ohne Reisegeld Anfang Juli 1776 aus der Schweiz abgereist ist. In Emmendingen bei Schlosser machte er lange Aufenthalt nach einem rührenden und tränenreichen Abschiede von Lavater in Zürich, aus Freiburg schreibt er einen herzlichen Abschiedsbrief an Iselin, und damit beginnt Kaufmanns Reise durch Baden über Darmstadt, Gotha, Weimar, Leipzig nach Dessau und zurück über Barby, Leipzig, Weimar, Frankfurt, Mannheim, Darmstadt, München und Ulm« (Ebd.: 60).

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Abbildung 2: Kupferstich Christoph Kaufmanns im dritten Band von Lavaters »Physiognomischen Fragmenten« von 1777.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Kaufmann#mediaviewer/File:Christoph_Kauf mann_Physiognomie.jpg (Zugriff am 14.05.2014). »Hier im obern Bilde – entkräftet, verschöngeistert, bis aufs Haar, das in der Natur weder so flach gekämmt, noch so flach kämmbar ist. Auswuchs, der sich kräußt wie goldene Traubenranken – wie charakteristisch im Urbilde! Ich kann mir’s nicht möglich denken, daß ein Mensch dieses Profil ohne Gefühl, ohne Hingerissenheit, ohne Interesse ansehe – da nicht in dieser Nase wenigstens, wenn in allem andern nicht, innere, tiefe, ungelernte Größe und Urfestigkeit ahnde! ›Ein Gesicht voll Blick, voll Drang und Kraft‹ – wird gewiß auch der allerschwächste Beurtheiler wenigstens sagen! Eherner Muth ist so gewiß in der Stirn, als in den Lippen wahre Freundschaft und feste Treue. Von den Augen, weil sie hier so verkleinlicht, obgleich in der Natur so mit Innigkeit gesalbt sind, sag’ ich nichts. Die Stirn im Schattenrisse hat etwas mehr Biegsamkeit, hingegen die Nase mehr Kraft, als im obern Bilde. In den Lippen ist außerordentlich viel vorstrebende entgegen schmachtende Empfindung. Viel Adel im Ganzen!« (Ebd.)

Lavaters Bekenntnis zu seinem Lieblingsjünger Christoph Kaufmann ist nicht allein mit solchen pietistischen Vokabeln wie »hinreissen«, »ahnen«, »Innigkeit« oder »salben« und idealistischen Leerbegriffen wie »Urbild«, »Mensch«, »Größe«, »Kraft« oder »Adel« funktionell ausgestattet, es bezieht sich in seinem Gehalt ebenso auf die um die Jahrhundertmitte initiierte »analytische […] Innenpsychologie des Irrationalismus«, mithin auf die »Erfahrungsseelenlehre des 18. Jahrhun-

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derts« (Langen 1954: Vorwort), womit Lavater dieses durch ihn in Szene gesetzte, »charakteristische« Kaufmann-ICH – stets in der suggestiven Nähe zur christologischen Anthropologie – zu substanziieren versucht. Dabei gestaltet er seine physiognomische Gestaltsbeschreibung aus dem Kern seiner subjektiven Emphase intentional zu einer »Sprache der Seele«, insofern die »Entdeckung und die Aussprache des eigenen Ich« (ebd.: 2) den Rezipienten als passiven Empfänger von Lavaters Impressionen nicht nur von denselben diskursiv überzeugen, sondern ihn dazu motivieren soll, selbst aktiv sein »charakteristisches« ICH äussern bzw. offenbaren zu lernen, und zwar – als wichtiger Unterschied zur rationalen Ästhetik – in der Hauptsache als intuitive, »physiognomische Sprache« in Abhängigkeit des emotionalen Eindrucks.46 Der ›geniereligiöse‹ Impetus dieser instinktiven Seelenschau, mit dem sich Kaufmann seit 1776 »kokonisierte«, wird umso deutlicher, wenn man Lavaters hymnisches »Fragment« über den Begriff des »Genie« heranzieht: »Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt, schafft, vergleicht, sondert, vereinigt, folgert, ahndet, giebt, nimmt – als wenn’s ihm ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktirt oder angegeben hätte, der hat Genie; als wenn er selbst ein Wesen höherer Art wäre – ist Genie. […] Wo Wirkung, Kraft, That, Gedanke, Empfindung ist, die von Menschen nicht gelernt und nicht gelehrt werden kann – das ist Genie. Genie – das allererkennbarste und unbeschreiblichste Ding! fühlbar, wo es ist, und unaussprechlich wie die Liebe.« (Lavater 2004: 293)

Kaufmanns endgültiger Abschied von einem bürgerlich-praktischen Leben nach seinem Dessauer Zwischenspiel erweist sich demnach als logische Konsequenz von

46 Siegrist führt dazu folgenden »heilsgeschichtlichen« Passus Lavaters von 1773 an, in der die subjektivistische Poetologie von Bodmer und Breitinger durchscheint: »[D]urch die – leiblich-personal aufgefaßte – Auferstehung wird der menschliche Körper so vollkommen plastisch, daß er als vollständiger und wahrer Ausdruck seines Inneren zu fungieren vermag; nach dem Jüngsten Gericht tritt das endgültige Gesicht jedes Menschen hervor, worin sich sein eigentliches Wesen, befreit von allen Verstellungen und maskenhaften Verzerrungen des Irdischen, gültig ausprägt. Damit wird das irdische Sprechen mit all seinen Unzulänglichkeiten abgelöst durch eine physiognomische Sprache, in der alles Innere unverfälscht und simultan zum Ausdruck kommt – das bedeutet wahrhafte, von aller Lüge befreite Kommunikation, wie sie die Gemeinschaft der Seligen bestimmt« (Siegrist 2004: 379). Die rousseauistische Aversion des Lavaterkreises vor dem korrumpierenden und unchristlichen Einfluss der Gesellschaft ist unverkennbar und dominiert folglich auch Kaufmanns penetranten Bezug auf das »frei schwebende« Absolute, wie es nicht zuletzt Schillers oder das Denken der Romantik grundieren sollte.

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Lavaters Theorie eines eschatologischen »Charisma«. 47 Und je fragmentarischer, d. h. unfertiger, unabgeschlossener, mithin unendlicher Lavater seine Passion betrieb, desto vorteilhafter grundierte sie Kaufmanns »frei schwebende«, »universelle« Denkhaltung und Aura, mit der er als Faktotum durch Deutschland pilgerte: »Das wahre, volle, ganze Genie, das Licht bringt, wohin es seinen Blick wirft; Meister ist, wo sich sein Fuß hinsetzt; das Eden und Wüsten vor sich oder hinter sich zurück läßt – das anzieht, wenn’s anziehen, zurückstößt, wenn’s zurückstoßen will – das kann, was es will, und nur das will, was es kann; das nie sich kleiner fühlt, als wenn’s am größten ist, weil es noch unendlich höhere Welten voll Genieen und Kräften und Wirkungen über sich findet – je höher es sich hinauf schwingt, nur um soviel höhere Höhen entdeckt – das Genie«. (Lavater 2004: 305)

Lavaters dominanter Einfluss verursachte in Verbindung mit dem Mitte der 1770er Jahre grassierenden ›Wertherfieber‹,48 in das auch Kaufmann 1776 geraten war, seiner pietistischen Vorprägung sowie seinem egozentrischen Emanzipationsstreben eine soziale Unverträglichkeit, die Kaufmann anfangs zwar als aufsehenerregendem, andersartigem Sonderling ein neugieriges Publikum sicherte,49 seiner Wesensart mit der sie konnotierenden Christusnähe hingegen eine grundlegende Unverständlichkeit, ja eine dezidierte Nullstelle verlieh, die ihn gesellschaftlich unmöglich machte.

47 Milch diskutiert bezüglich Kaufmanns beruflicher Unentschiedenheit nach seiner Rückkehr aus Straßburg 1775 das Bemühen seiner drei Förderer, ihn anhand eines von ihnen selbstentworfenen »Studienplan[s] für einen Aufklärungsphilosophen« (CK: 34) auszubilden: »Iselin, Lavater und Schlosser spüren die gärenden Kräfte des jungen Kaufmann, sie merken, daß ein ungestümer Anfänger gebändigt und erzogen sein will, Schlosser gibt Regeln zur Selbstbescheidung, Iselin und Lavater den Plan zur Aufklärungsbildung, und die Folge ist, daß Kaufmann unsicher wird, spürt, daß er sich an die älteren Berater, die Verschiedenes sagen, nicht unbedingt anschließen kann. So kommt es zu seinen Sätzen an die Freunde: ›Ich fühle wol, daß meine Seele noch keine Festigkeit hat […]‹« (Ebd.: 35). 48 Milch bespricht Kaufmanns Wertherismus sehr ausführlich (CK: 36 ff.), indem er die dagegen vorgehende, kurierende Rolle Schlossers und Mochels hervorhebt. Dieser »spürt, daß Kaufmann sich in die Empfindsamkeit und das Geniewesen verrennt« (Ebd.: 38) und zitiert Mochels diesbezüglichen Tadel: »Sie sind Kaufmann? – Nein, ärger als ein Chamäleon sind Sie – bey Göthe sind Sie Göthe; bey Iselin Iselin, bey Schlossern Schlosser, bey Lavatern Lavater« (Ebd.: 39). 49 Kaufmann war von Lavater und Schlosser mit Empfehlungsschreiben u. a. an Wieland, Herder und Goethe ausgestattet worden (vgl. CK: 70).

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Noch bevor Christoph Kaufmann Ende 1776 Dessau erreicht hatte, war es zur Begegnung mit dem Frankfurter Dichter Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831) gekommen, der, nachdem sie sich in Gotha kennengelernt und der Studienabbrecher ihm sein neuestes Drama DER WIRRWARR vorgetragen hatte, gemeinsam mit Kaufmann nach Weimar weiterreiste. Diesem begegnete mit Klinger ein gleichgearteter Aggressor,50 dem es jedoch gelang, in der Dramatik für seinen »exzentrischen Subjektivismus« (Neymeyr 2013: 174)51 ein vorübergehendes Ventil zu finden. Die folgenreiche, von Kaufmann vorgeschlagene Umtitelung des Stückes DER WIRR52 WARR in STURM UND DRANG entsprach folglich ihrer ideellen Übereinstimmung, wie sie Klinger bereits zuvor mit seinen aufbegehrenden, »göthisch-lenzischen«

50 Karl S. Guthke zitiert einen Brief Klingers im »kraftgenialischen Ton« von 1775: »Mich zerreißen Leidenschaften, die dir unbekannt sind«. (Ders. 2004: 71) Fechner stellt in Bezug auf Klingers 1770er-Briefe sogar fest: »Hier in den Briefen erscheint Klinger nicht als Verkörperung jener deckungsgleichen Einheit von Genie und Leben, als Ausdruck eines Inneren, sondern er benutzt Mitmenschen zur eigenen gesellschaftlichen Aufwertung, zur Selbstbestätigung in einer höheren Schicht als der seiner Herkunft« (Fechner 1998: 150). 51 Neymeyr interpretiert die wertherische Attitüde der »Seelenlandschaft« (Dies. 2013: 176) als einen »psychischen Extremismus« (ebd.: 177) und stellt mit ihrem Ansatz zur psychologischen Erschließung einer »destruktive[n] Persönlichkeitsentwicklung« (ebd.: 182) zwischen »Erlebnisintensität« (ebd.: 184) und »Desillusionierung« (ebd.: 187) auch zur Erfassung der psychischen Disposition der 1750er Generation erkenntnisgewinnende Kategorien bereit. 52 Die Kenntnis der Umtitelung durch Kaufmann verdankt sich allein einem schmähenden Hinweis Klingers in seinem Brief vom 26. Mai 1814 an Goethe: »Ich schrieb damals, im Drange nach Tätigkeit, ein neues Schauspiel, dem der von Lavater (er ruhe sanft) zur Bekehrung der Welt abgesandte Gesalbte oder Apostel, mit Gewalt den Titel: Sturm und Drang, aufdrang, an dem später mancher Halbkopf sich ergötzte. Indessen versuchte dieser neue Simson, der weder den Bart mit dem Messer schor, noch Gegornes trank, auch an mir vergeblich sein Apostelamt. Er rächte sich dafür. […] Als ich 1779 in Zürich bei Lavatern war, erzählte er mir in seinem gewaltigen Grimme, solche Schurkenstreiche, und solche unsaubere Dinge von seinem ehemaligen Apostel, daß man einen Profanen damit erfreuen könnte.« (Mandelkow 1969: 152). Gert Ueding betrachtet die Umänderung des Titels von DER WIRRWARR in STURM UND DRANG in Bezug auf die Handlung des Dramas hingegen als keine kluge Entscheidung Klingers: »Denn Sturm und Drang […], wie er es nun auf Rat seines […] Freundes Christoph Kaufmann nannte, traf zwar das Gärende, Wildbewegte, Aufbrechende der neuen Realitätserfahrung, nicht aber die ausweglose Verworrenheit, die ihr zugrunde lag: als objektiver und subjektiver Zustand in einem.« (Ueding 1997: 202).

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Dramen OTTO (1773/74/75), DAS LEIDENDE WEIB (1775) und DIE ZWILLINGE (1774/76) effektvoll demonstriert hatte. Luserke macht in diesem Zusammenhang auf eine inhaltliche Parallele zwischen der »Zwillinge«-Hauptfigur des »Guelfo« und Christoph Kaufmann aufmerksam, die er kontextuell und ideengeschichtlich aufeinander bezieht: »Guelfos Parole [»[W]as ich thu, thu ich!« – M. P.] ist aber auch die radikal zugespitzte Variante zu Christoph Kaufmanns – auf Lavater zurückgehenden – bekanntem Ausspruch: ›Man kann, was man will; / Man will, was man kann!‹ […].« (Luserke 2006: 193)53 In Klingers Trauerspiel heisst es – sozusagen in einem speziellen ›Kaufmann-Idiolekt‹ – gleich am Anfang: »G u e l f o. […] Wie viel gewinnt der Mahler, wenn er mir ein Gemählde hinstellt, wofür ich den Spiegel in mir habe. Mir geht’s in allen Fällen so. Ich kann eigentlich den nur recht durchschauen, ganz meinem Herzen nachfühlen und bestimmen, der am meisten mit mir übereinkömmt; der meine Seele so trift, daß ich gleich das Reißbley nehmen möchte, ihn lebendig hinzuwerfen. Deßwegen gewinnen bey mir Dichter und Geschichtsschreiber so selten.« (Klinger 2004: 5)

In der attraktiven Pilgerstätte des populären, sich liberal und bildungstolerant präsentierenden Weimarer ›Musenhofs‹ zerschlugen sich jedoch Kaufmanns und Klingers Pläne schon innerhalb weniger Wochen. Aber im Gegensatz zu Kaufmann, der weiter als »lavaterianischer« Mikrokosmos zum »Ideal des ›homo religiosus‹« (CK: 135) zu reüssieren suchte und mit seiner vorgelebten »Bauernfrugalität« (CK: 64) irritierte, konnte sich Klinger auf sein bereits reichhaltiges Sturm-und-DrangŒuvre stützen und wandte sich als Dramatiker vorübergehend nach Leipzig, wohin ihn Kaufmann, ehe dieser nach Dessau weiterzog, begleitete. In seinem Brief vom Oktober 1776 an Müller fasst Kaufmann den ersten Teil seiner Reise folgendermaßen zusammen: »Bis jetzt liebster Müller ists das erstemal ein wenig ruhig um mich […]. Heute schreibe ich noch ein Wort an Lavater von dir, mache dich also fertig und bereit einzuziehen in das Land wo dein Kaufmann geboren ward [Kaufmann plante, zum Beginn des Jahres 1777 sein Amt am Dessauer Philanthropinum wieder aufzugeben und mit Müller in die Schweiz zurückzugehen – M. P.], und wo er dich wiedersehen, dich umhalsen, mit dir meinem Vater L. Pf. K.

53 Luserke fährt fort: »Diesem Bild [Kaufmann als »Genieapostel« und »Bürgerschreck« – M. P.] des unkonventionellen Mannes entspricht Guelfo durchaus, doch geht Klinger in der Charakterisierung seiner Hauptfigur noch einen Schritt weiter. Auf Willen und Möglichkeit, die Bedingungen zum Handeln, kommt es Guelfo – im Gegensatz zum Kaufmannschen Motto – nicht mehr an, es zählt allein die Tat, die sich selbst rechtfertigt« (Ders. 2006: 195).

60 | M IKE P ORATH H. S. u. s. w. zu Tische sitzen wird – Ja, ja – das wird geschehen, wenn Ahndung Wahrheit ist oder wird. Lenz wohnt auf dem Lande, Göthe den großen herrlichen, wirksahmen, Herder den edlen starken, Wieland den schwachen aber guten Bruder habe ich wochenlang zu himmlisch allgemeinem Gedeien genoßen. Klinger traf ich in Gotha, reiste mit dem irrenden Ritter nach Eisenach und hernach zurück nach Weimar, fandens gut daß er aus Weimar mit mir nach Leipzig ziehe. Wäre Seiler [Abel Seyler (1730-1800), Leiter der Seylerschen Schauspielgesellschaft – M. P.] der warme ums deutsche Theater sich verdient gemachte Mann nicht da gewesen, so wäre Klinger jetzt noch bey mir. Aber da dieser Mann, einer der besten edelsten Truppen, und eine herrliche Sängerin hat, da dieser edle Direkteur Absicht hat, den Geschmack des Theaters zu erheben, da er glaubte, daß Klinger ihm behüflich seyn könnte, so entschloße sich Klinger mit ihm zu reisen und wenigstens ein Jahr bey ihm zu bleiben.« (Müller 1998: 38)

Als er sich 1780 an Kaufmann zurückerinnerte, hatte Klinger mit der Literatur des Sturm und Drang und deren Ideengut grundsätzlich abgeschlossen und rechnete in der Gewissheit seiner in Aussicht stehenden Offizierslaufbahn »mit dem fratzenhaften Geniewesen Kaufmanns und der eigenen Vergangenheit« (Ueding 1997: 203) anhand seines satirisch-allegorischen Romans »Plimplamplasko, der hohe Geist (heut Genie)« schonungslos ab. (Vgl. Ebd.) Bemerkenswert ist dabei, dass dieser heute noch literaturgeschichtlich und -soziologisch interessante Text ein Schweizer Gemeinschaftsprodukt Klingers, des Basler Mäzens und Freizeitschriftstellers Jakob Sarasin (1742-1802) sowie Schlossers und Lavaters darstellt (vgl. Pfaff 1966: VII ff.), wenn Klinger auch im Nachhinein – zur Verstimmung des Zürichers – besonders die ›apostolische‹ Verbindung zwischen Lavater als lächerlicher Papstfigur bzw. »Papa« und »Plimplamplasko«-Kaufmann zu einem seiner spöttischen Angriffspunkte machte und nachträglich pointierte: »[U]nd da mußt ihn [den Einwohnern der Heimatstadt Plimplamplaskos – M. P.] der Vater oft vorsagen des ›Papas‹ [Lavater – M. P.] Verheissung, auch ihm [Plimplamplasko – M. P.] vorlesen all Tag des ›Papas Epistolam‹; das thät er nun all recht glauben, und thät auch mehr studiren, aber alles gar seltsamlich, und alles was thät nur lermen; aber ordentlich mocht er nits lernen, weil er hätt gehört und gelesen, daß ein rechter Mann aus sich alles thät hervormachen, und wären das gemein Leut und Handwerksweis Gelehrte, die so thäten auf den Büchern hoken, und sich da herausflikten mit fremden Lappen, und wöll er das nit, sundern wie die liebe Sonn in eignem Lichte scheinen.« (Klinger 1966: 42)54

54 Erwähnenswert scheint in diesem Zusammenhang, dass sich Kaufmann zur Zeit der Niederschrift von Klingers Roman »in einem Vertrag mit seinem letzten Gönner, dem Grafen von Haugwitz, verpflichte[te], endlich in einer bürgerlichen Weise zu existieren« (Pfaff

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Obwohl Kaufmanns anfängliche Aufnahme in Weimar 1776 oder in Königsberg im darauffolgenden Frühjahr nicht ungünstig ausgefallen war,55 erregte seine programmatische Genie- und Christus-Penetranz im Windschatten seiner eigenwilligen Auftritte schnell Missfallen und Ablehnung. Kaufmanns bedingungsloses Insistieren auf seine genialische, religiös legitimierte Einzigartigkeit – gesteigert durch sein Dessauer Desaster bei Basedow 1776/77, das er zu einer existenziellen Zäsur stilisierte – provozierte in dieser Hinsicht zu gleichermaßen ›kraftvollen‹ Reaktionen im Zuge der in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre selbstständigen Neuordnung und Stabilisierung von deutscher Literatur und Kultur. Das diesbezüglich den Sturm und Drang diskreditierende Moment wird besonders aus den Schriften und der privaten Korrespondenz zwischen dem Berliner Philosophen Johann Georg Sulzer (1720-1779), den Herausgebern der parodistischen, in Leipzig erschienenen BRE-

1966: XXI) und – mit dem »Plimplamplasko« gesprochen – zum »Puro Senso« zurückzukehren und dem »lavaterianischen« Papismus abzuschwören. 55 Kaufmann traf sich von Dezember 1776 bis Oktober 1777 nacheinander mit Goethe und dem Herzog Karl August (Wörlitz), Heinrich Leopold Wagner (Frankfurt), Friedrich »Maler« Müller (Mannheim), Matthias Claudius (Darmstadt), Johann Martin Miller (Ulm), Johann Georg Sulzer und Daniel Chodowiecki (Berlin), Johann Georg Hamann (Königsberg) sowie mit Ehrmann, Claudius und Johann Heinrich Voß (Hamburg) (vgl. CK: 82 ff.). Milch zitiert einen Brief Hamanns vom Mai 1777 an Herder, in dem jener trotz ihrer anfänglichen Begeisterung und geistigen Übereinstimmung mit Kaufmann seine wachsende Skepsis ausdrückt, wie sie die zwiegespaltene Haltung gegenüber Kaufmann in der Folgezeit kennzeichnet: »Sein ganzer Weg zu denken, zu empfinden und zu handeln ist so alpenähnlich, daß Sie sich leicht vorstellen können, wie einem armen Manne dabey zu Muth gewesen seyn muß, der leider nichts als in leimigen, sumpfigen Ebenen zu waten gewohnt ist. […] Vorgestern erhielt ich wider Vermuthen einen Brief von ihm aus Riga [Kaufmann war im April/Mai 1777 von Königsberg nach Riga zu dem Verleger Johann Friedrich Hartknoch gereist – M. P.], und Hartknoch dankt ihm sehr für seinen medicinischen Rath. Er [Kaufmann – M. P.] spielt beynahe die Rolle im bürgerlichen Leben, als ich in der Autorwelt. Ich habe ihn mehr nach seiner Abreise als bey seinem Hierseyn genossen« (CK: 88); noch unmissverständlicher äussert sich der Königsberger Philosoph Christian Jakob Kraus im gleichen Jahr: »Er [Kaufmann – M. P.] ist eigentlich Arzt, aber noch besser würde ich ihnen sagen, er ist ein Apostel des 18ten Jahrhunderts, auf dem Lavaters und Hamanns Geist ruht, ein liebenswürdiger Schwärmer, der in Maske alle Länder durchstreicht, im Stillen Kranke heilt, Menschen schüttelt (wie er sich ausdrückt,) und das Christentum, so wie es zur Zeit seiner Stiftung war, in den Seelen derer, die er dazu gestimmt findet, sie mögen Fürsten oder Grafen seyn, zu errichten sucht« (Ebd.: 90).

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ALLERLEY DER GROß- UND KLEINMÄNNER (1778), Johann Jacob Hottinger (1750-1819) und Johann Rudolf Sulzer (1750-1828),56 und dem gebürtigen Schweizer, seit 1768 in Hannover arbeitenden Arzt und Popularphilosophen Johann Georg Zimmermann deutlich, die Kaufmann als personifiziertes Symbol der Sturmund-Drang-Verirrungen zugleich mit dessen Lehrmeister Lavater scharf attackierten, wobei sie ihren Ausgangspunkt charakterologisch verankerten und Kaufmann buchstäblich profanierten: »Auf Ihn (Lavater) folgt seiner Lobposauner einer, der nach dem dritten Band der Physiognomik ›kann, was er will, und will was er kann‹, der bey seiner Durchreis in unsrer Stadt [Leipzig – M. P.] von sich ausgab: ›Er besolde zwey Lehrer im deßauischen Edukationsinstitut und reise auf eigne Unkosten nach Rußland, um auch da eins zu errichten‹, und der doch, wie ich aus zuverläßigen Berichten weiß, nicht einmal Vermögens genug hat, unabhängig zu leben, und in seinem Vaterstädtchen [in Winterthur nach Kaufmanns Rückkehr aus Straßburg 1775 – M. P.] Bauernfrugalität affaktirte, um sich auszuzeichnen; aber derselben und seines geringen Einflusses bald müde ward – – Und dieser Mann gehört in den innersten Kreis von Lavaters Busenfreunden: diesem schreibt er die reinste, unbefangenste Kindlichkeit des Gefühls und des Handelns zu, Lavater! was ist deine Physiognomik, oder wie weit geht deine Partheylichkeit, dein Ringen nach Anhangsvermehrung und Namensverbreitung – ??«57

Johann Georg Sulzer fällte, nachdem Kaufmann ihn 1777 besucht hatte,58 ein ähnlich vernichtendes Urteil:

56 Hottinger und Sulzer spielten mit dem Titel ihrer Schrift unmittelbar auf Kaufmanns »Allerley gesammelte Reden und Handschriften großer und kleiner Männer« sowie auf die ein Jahr später publizierte Sammlung VERMISCHTE BETRACHTUNGEN AUF ALLE TAGE IM JAHRE (1777) von den Lavateranhängern Johann Kaspar Häfeli und Johann Jakob Stolz an (siehe Sauder 2003: 434). Der Hottinger/Sulzer-Ton ist ohnehin dominiert von einer dem Geist der rationalen Aufklärung verpflichteten, rigorosen Kritik an den Exaltiertheiten des Sturm und Drang: »›Vernunft führt zum Skeptizisme und Gefühl ist harmonisch und widerspricht sich nie!!! –‹ dieses, dem Genfer Roußeau, nachgelallte Paradox scheint Hauptaxiom geworden zu seyn unter den Enthusiasten und Schwärmern« (ebd.: 65). Hottinger war bereits 1775 mit der Satire »Menschen Thiere und Göthe eine Farce. Voran ein Prologus an die Zuschauer und hinten ein Epilogus an den Herrn Doktor« hervorgetreten. 57 Im 8. Abschnitt der »Brelocken« mit dem Titel »Potpouri für Freunde, Feinde, Denker, Spötter, Lacher, Schwärmer, Weiber und Thoren«. (Zit. nach CK: 95) 58 Milch erwähnt einige Briefe Sulzers, in denen er mitteilt, »Kaufmann habe in dem Examen, das er mit ihm angestellt, recht schlecht abgeschnitten« (CK: 95).

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»Der ist nun gerade, wie Herder die Leute haben will, voll Wärme, hingerissen von ungestümen Empfindungen, aber – ohne Vernunft. Nicht daß es ihm an Geist fehlte, aber die Empfindungen lassen keine Überlegung aufkommen. […] Der gute Mensch scheinet bey dem Übermaß seiner Empfindungen noch so wenig gedacht zu haben, daß jeder Vernunftschluß, den man ihm entgegensetzt, ihn stutzen macht, als ob ihm so etwas völlig fremd sey. […] Er ist würklich ein lebendes Beyspiel von einem Menschen, wie Herder sie haben will: voll Feuer, Drang, innerer und äußerer Kraft, die, weil es ihnen an Richtung fehlt, welche die Vernunft allein geben kann, ganz verworren durcheinander rasen, ohne auf einen bestimmten Zweck zu zielen.«59

Zimmermanns Invektive fusste dagegen noch mehr als bei den anderen auf einer persönlichen Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und Lavater. Als Kaufmann Ende 1777 gescheitert in die Schweizer Heimat zurückkehrte, nahm ihn Lavater zusammen mit seiner Theorie in Schutz und verteidigte sich und seinen messianistischen Jünger übermütig. Zimmermann reagierte empört: »Ich gratulire Dir zur Ankunft des Kraftcoloß Kaufmann von Astrakan: ›Sey froh, sagst Du, daß er Dir nicht zu nahe kam, denn, Lieber, seine bloße stille Gegenwart würde Dich tödten, und ein Wort von ihm Deine Gebeine zerschmettern.‹ – Lavater, bist Du toll? Du sagst ferner: ›Warum Kaufmann (als Arzt) unbekannt seyn will? Weil alle bekannten und berühmten Ärzte Pedanten und Philister werden‹ – Lavater bist Du toll. Von zwey Dingen wähle Eins. Entweder gestehe mir Deine Tollheit, damit ich Mitleiden mit Dir habe, oder ich zeige Dir und ganz Deutschland öffentlich mit meines Namens Unterschrift, ob der Student Kaufmann (man erkennt den Student an seiner Sprache) vermögend sey, durch seine stille Gegenwart mich zu tödten, oder durch ein Wort meine Gebeine zu zerschmettern. Wählst Du das letztere, so thut es mir leid«.60

Auch die kurze Freundschaft zwischen Kaufmann und dem vier Jahre älteren, pfälzischen Dichter Friedrich »Maler« Müller, die sich im Herbst 1776 in Mannheim kennengelernt hatten, unterstreicht die Diskrepanz zwischen Idee und Tat, adoleszentem Übermut und lebenspraktischer Einsicht. Nach ihrer Trennung hob Müller die Differenz zwischen seinem eigenen »faustischen« Anspruch, wie ihn seiner an-

59 Johann Georg Sulzer in einem Brief vom 21. Juni 1777. Zit. nach CK: 97. 60 Johann Georg Zimmermann in einem Brief von 1777 an Lavater. Zit. nach CK: 101. Unabhängig von Zimmermanns Entrüstung über Lavaters Sturheit und Einbildung darf der durch Schicksalsschläge und Überarbeitung angegriffene Zustand des ohnehin schwierigen Zeitgenossen nicht übergangen werden. (Vgl. Häntzschel 1992: 498)

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fänglichen Ansicht nach Kaufmann als ›Kraft-Genie‹ ideal darstellte,61 und der gesellschaftlichen Realität literarisch überhöht hervor, indem er den ehemaligen »Faust«-Kaufmann wie eine Geschwulst in seinem Gedankengut öffentlich exhibierte. Der Neologismus »Gottesspürhund« bzw. »Gottes Spürhund«62 vereinigt dabei Müllers gravierenden Meinungsumschlag, infolgedessen er im Zuge seines dramatischen Großprojekts FAUSTS LEBEN in der um den Jahreswechsel 1776/77 entstandenen Fragment-Szene FAUSTS SPAZIER FAHRT die Entmystifizierung des populären »Faust«-Kaufmann unternahm. Müller identifiziert Kaufmann darin als eine satirische Figur, die er zwar mit dem Habitus von Goethes Hymne WANDRERS STURMLIED (1772/74) effektvoll auftreten lässt: »Ein schroffer Fels. Gottes Spürhund auf seinem Pferde sizend den Zügel auf seinen Hals legend – und um her-

61 Laut Milch sei Müller, »der die größten Hoffnungen auf Kaufmann gesetzt hatte und naturgemäß sehr erregt war, als er bemerkte, daß Kaufmann keineswegs, wie er vermeinte, Faust war, »als erster« der Freunde von Kaufmann abgefallen (s. CK: 105), und verweist bezüglich ihrer Verstimmung auf eine Notiz Kaufmanns in einem Brief von Matthias Claudius an Müller von 1777, in der sich Kaufmann für seinen Freund Ehrmann einsetzt: »[E]s ist wahrlich nicht billig, daß Maler Müller nicht antwortet dem guten Ehrmann, ich hoffe aber, er wird sich ändern und ich werde Ihn bald mit seiner großen Wesenheit zwischen Schnee und Eis und Eisgebirgen treffen« (Ebd.). Nach Johannes Mahr hätte Müller Kaufmann »aber spätestens seit Ende des Jahres [1776 – M. P.] als Scharlatan durchschaut [], denn am 3. Januar 1777, als Kaufmann wieder in Mannheim erschien, weigerte er sich, mit ihm, wie abgesprochen in die Schweiz zu wandern.« (Mahr 1979: 162) Auch Ulrike Leuschner hebt den Freundschaftsbruch hervor: »Christoph Kaufmann, der Schweizer Genieapostel, erwarb seine [Müllers – M. P.] Zuneigung, die nach einer Enttäuschung in Verachtung umschlug. Als falscher Philanthrop ›Gottesspürhund‹ bzw. ›Spürhund‹ erscheint Kaufmann in Müllers Faust-Stücken.« (Leuschner 1997: 101). 62 So in einem Brief Müllers vom 23. Oktober 1776 an Kaufmann: »[L]ieber Bruder wie viel ist verlohren gegangen muß deßwegen verlohren seyn – wie viele schöne Situationen wie überall der gang die Fährte von meines gottes SpürHund – du bist ein herrlicher Kerl das laß dir von mir gottes Hundsjungen gesagt seyn«. (Müller 1998: 37) Kaufmann reagiert entsprechend in seinem Antwortbrief: »O Bruder! wie wohl mirs thut deine heilige Epistel an Gottes Spürhund – das kannst du dir nicht vorstellen« (Ebd.: 38). Mahr betont die Ambivalenz in Müllers Neologismus: »Der Name ›Gottesspürhund‹ war zunächst ernst gemeint; Müller sah in Kaufmann einen Führer zu neuen Zielen, nannte ihn einen ›herrlichen Kerl‹ und sich selbst ›Gottes Hundsjungen‹ […]. Der 23jährige Kaufmann konnte die kritiklose Erwartung natürlich nicht erfüllen; im Herbst 1776 setzte ein Umschlag der Stimmung ein – so maßlos man ihn vorher lobte, so maßlos wurde er jetzt verurteilt« (Mahr 1979: 146).

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schauend – ober ihm fliegen – Geyer aus den Klippen« (Mahr 1979: 137).63, die sich aber unter dem Blendwerk als Wahn und Torheit erweist: Herrlich – groß! Gott Gott – – laß mich immer diesem Fels ähnlichstark in Gott – unerschüttert zum guten aufwärts treibend wie die Wurzel die diesen Fels zerschlizt – – hier – (steigt ab) hier an dich Meister Stück der kühn daumlenden Natur laß mich ein andenken schlagen – an einen hinterlaßnen Edlen und dich theuren abweßenden küßen – (ziht Lavaters Siluette hervor) der du mir alles bist – edler tragender duldent starker Geist – Bruder und Gesell im hinaufklimmen – dort oben – [Laß mich immer die Pflichten erfüllen wirken zu deiner Ehre ganz mich verwenden und alle meine Kräfte zum Nutzen des ganz labsal – wie ein quell –] O sey mir ewig gesegnet – ewig geliebt – theil ihnen immer zu tragen mit – und laß mich – […] ist kein quell da herum daß ich Waßer schöpfe und ihre Wunden auswasche – dort rießelts (schöpft in seinem Freiheits Hut Waßer) Tell – deinen Huth entheilig ich nicht […] ich bin welt fremd hier aber denoch halt ichs für meine Pflicht und wär sie [eine arme Frau mit einem nackten Knaben – M. P.] eine Mörin ihr beyzustehen […] Ist eine Apotheke im nächsten Dorf[?]«. (Ebd.)

In seinem dramatischen Versuch FAUSTS LEBEN, ERSTER THEIL nimmt Müller dieses satirische Motiv wieder auf und vertieft es im Zusammenhang einer verstärkt ›seelenkundlerischen‹ Perspektive, die den Typus des verführten, uneinsichtigen Narren erweitert: »E c k i u s. Was für eine Erscheinung? G o t t e s p ü r h u n d. Eure Hand! Ihr seyd Faust. K ö l b e l. Freund, wer sagt ihm das? G o t t e s s p ü r h u n d. Was man nicht sehen kann. Eigentlich: Physiognomik versichert mich’s. K ö l b e l . Ein Beweis, daß sich die betrügen kann. Ich bin Faust nicht. E c k i u s. Physiognom? Ha! So schaut mir doch auch ‘mahl in die Fratze. G o t t e s s p ü r h u n d. Meine Augen haben euch verwechselt. Du bist Faust. E c k i u s. Herr! Nochmahl fehlgeschossen. Bin so wenig Faust, als ich der Seckler bin, der euch eure langen Tolpatschhosen genähet. G o t t e s s p ü r h u n d. (Dreht sich nach seinem Lehnlaquais, der im Grund steht.) Wieder einmahl durch solch einen Schurken mich prostituirt. Aller Effect jetzt hin. K n ö b e l. […] Darf ich jetzt fragen, wen wir vor uns haben? G o t t e s s p ü r h u n d. Bin Spürhund, aus der Schweiz. […]

63 Bemerkenswert ist, dass der Wertverlust Kaufmanns seit den 1780er Jahren derartig zugenommen hatte, dass es Müller angesichts der Herausgabe seiner gesammelten Werke von 1811 für nicht mehr sinnvoll erachtete, »Fausts Spazier Fahrt« in den Korpus aufzunehmen.

66 | M IKE P ORATH E c k i u s. Ist der Herr ein Literator oder treibt er sonst ein Geschäft? G o t t e s s p ü r h u n d. Bin Spürhund aus der Schweiz; mein Name und meine Beschäftigung sind bekannt. Ihr habt wohl auch von mir gehört? K ö l b e l. Wüßte mich nicht zu besinnen. Gottesspürhund. Ist nicht vor vierzehn Tagen ein Theolog hier durch, der bey Faust und Fausts Freunden mein Kommen gemeldet? E c k i u s. […] Recht, recht! Er sprach immer von einem gewißen aus Zürch… Ihr seyd also der reiche Ochsenhändler selbst, Herr? G o t t e s s p ü r h u n d. Bin kein Ochsenhändler. (Bey Seite) Die Bengel! (Geht ab)« (MÜLLER 1982: 62)

Kaufmann reagierte indirekt und vollzog in seiner Schweizer Heimat eine nochmalige Verinnerlichung weniger der idealistisch-ästhetischen als der kirchlichchristlichen, mithin praktischen Glaubenssätze: »Einsam und selig das N[eue]. Testament in der Hand brachte Chr[istoph]. mit seiner Angetrauten [Kaufmann hatte 1778 geheiratet – M. P.] den Tag zu« (CK, 117). Seine selbstständige Vertiefung in das religiöse Bauerntum führte allerdings in der Folgezeit zu Missverständnissen mit Lavater, der seine Ideologie vom christlich schönen Menschen infolge Kaufmanns neuerlichem »Sonderweg« bedroht sah und sich in dieser Hinsicht von seinen Kollegen teilweise schwerwiegende Vorwürfe gefallen lassen musste und nun selbst, wie in einem Brief von 1779 an Herder, Kaufmann persönlich anzugreifen begann: »Die Sache ist nun vorbei. Sonst drückt Kaufmann alle durch seine lieblose stolze richtende Härte, die er unserer ›Weichlichkeit‹, kraft eines ›höhern Berufs‹, den wir bei seiner unleidlichen Stolzzornmüthigkeit, von der wir buchstäblich Arm- und Beinabschlagen fürchten, nicht anerkennen können, – entgegengesetzt« (CK, 123).

Während Lavater in der Folgezeit den Weg des religiösen Erbauungsschriftstellers nahm und sich wieder mehr auf theologische Inhalte konzentrierte, zog sich Kaufmann resigniert zurück, indem er gewissermaßen an den Anfang seiner Laufbahn als Apothekerlehrling und praktischer Arzt zurückkehrte. Somit verlagerte er seine Existenz Anfang der 1780er Jahre nach Schlesien, um sich hier, von Graf Christian von Haugwitz (1752-1832) finanziell unterstützt, verstärkt den Idealen der Herrnhu-

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tischen Brüdergemeinde zu widmen.64 Zinzendorfs 1727 ins Leben gerufene »Brüder-Unität« ermöglichte Kaufmann zwar weniger die Verwirklichung seiner utopischen Gesellschaftsvorstellungen, dafür aber die, wenn auch wesentlich stillere Fortsetzung seiner illusionistischen, esoterischen Selbst- und Weltsicht gemäß der Herrnhuter Intention: »Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken.« (Reichel 1922: 3) Kaufmanns Rückzug in die christlich-brüderliche Utopie erscheint demnach als das finale Resultat eines fremdgesteuerten Selbstfindungstripps an der Peripherie gesellschaftlicher Normalitäten und Konformitäten. Geht man jedoch unter Beachtung der ideologischen Vereinnahmung der 1750er Generation einen Schritt weiter, offenbart sich seine ständige ›Reise‹ und Suche als Vorbote des ›modernen‹ Typus des in aller Konsequenz den »Sonderweg« beschreitenden, »frei schwebenden« Denkers, Kritikers und Intellektuellen, dessen Idealismus die teilweise penetrante Berufung auf einen »universellen Wert« zur Methode erklärt und sich selbst damit im Wechselspiel zwischen egozentrischem Persönlichkeitskult und gesellschaftlicher Verantwortung unantastbar zu machen versucht. Somit mag Goethes bissiges Epigramm auf Kaufmann von 1779: »Als Gottes Spürhund hat er frei / Manch Schelmenstück getrieben, / Die Gottesspur ist nun vorbei, / Der Hund ist ihm geblieben« (Goethe 1953: 418)65 zwar den 1776er- und 1777er-Christoph Kaufmann als »Scharlatan« oder »Genieapostel« verurteilen, man verfehlte jedoch das existenzialistische Potenzial des Freidenkers Kaufmann, wenn man im ersten Vers »Als Gottesspürhund hat er frei« nicht die qualitative Kombination von figurativem Rollenspiel und intellektueller Freiheit ernstnimmt und über dem fiktionalen »Hund« die Voraussetzung und kompensatorische Wirksamkeit der vielseitigen »Gottesspur« auf dem Weg zur modernen Subjektivität ignoriert.

64 Als Gegenleistung musste sich Kaufmann im Juli 1780 im Beisein Lavaters sowie von dessen Intimfreund Eberhard Gaupp (1734-1796), einem Schaffhausener Tuch- und Salzhändler, der laut Milch für Kaufmanns Übertritt zu »Zinzendorfs Religiosität« mitverantwortlich war (vgl. CK: 143), vertraglich verpflichten, fortan »mit seiner Frau und Kind ein ehrbar stilles Leben« (ebd.: 147) zu führen. Milch schildert ausführlich Kaufmanns anschließendes, langjähriges »Werben um die Aufnahme in die Brüdergemeine« (ebd.: 152). 65 Goethes »Invective« ist im Ganzen betitelt mit: »Christoph Kaufmann von Winterthur im Gefolge Lavaters, der seine frömmelnd physiognomisierende Spionerei zu adeln sich Gottes Spürhund zu nennen beliebte« (Ders. 1953: 418).

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Zeuge und Zuschauer Intellektuelle im Angesicht des Schreckens M AIKE S CHULT Thus, to become a moral witness one has to witness the combination of evil and the suffering it produces: witnessing only evil or only suffering is not enough. AVISHAI MARGALIT/THE ETHICS OF MEMORY

1. ANNA ACHMATOVA ALS Z EUGIN DES T ERRORS Anna Achmatova (1889–1966) gehört zum großen russischen Dichtergeviert 1 und gilt als bedeutendste russische Lyrikerin weltweit (vgl. Hässner 1998: 9). Über ihr persönliches Leben, das eng mit dem Schrecken des 20. Jahrhunderts verknüpft ist, ist im westlichen Europa wenig bekannt. In Russland dagegen ist »die Achmatova« eine Legende. Eine Symbolfigur, die Integrität verkörpert und mit ihrem Schicksal steht für die vielen, deren Namen vergessen sind. Sie selbst hat kaum Lebenszeugnisse hinterlassen, hat Gedichte absichtsvoll falsch datiert (vgl. Ėtkind 1984: 361) und aus Angst vor Verfolgung die meisten Manuskripte, Skizzen und Bücher verbrannt. Die Angst war nicht unbegründet. Sowjetische Schergen hatten zwei ihrer Ehemänner,2 viele Freunde und Kollegen auf dem Gewissen. Wer aus der alten Intelligenz stammte oder der falschen Dichtermode anhing, wurde vom Geheimdienst

1

Zusammen mit den Schriftstellerkollegen und Freunden Marina Cvetaeva, Osip Mandelštam und Boris Pasternak.

2

Ihr erster Mann, der Akmeist Nikolaj Gumilëv, wurde 1921 wegen angeblich konterrevolutionärer Umtriebe erschossen. Ihr zweiter Mann, der Assyriologe Vladimir Šilejko, starb 1930 an Tuberkulose. Ihr dritter Mann, der Kunsthistoriker Nikolaj Punin, kam 1953, wenige Monate nach Stalins Tod, im GULag ums Leben.

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verfolgt, verhört und gefoltert. Persönliche Aufzeichnungen verschwanden in Archiven oder wurden vernichtet, die Autoren selbst systematisch zum Schweigen gebracht. Etwa 2000 Schriftsteller wurden unter Stalin verhaftet. 1500 von ihnen wurden exekutiert oder starben im Lager (vgl. Lauer 2000: 693). Die genaue Zahl lässt sich nicht mehr ermitteln. Anna Achmatova entkam, wurde aber zum Zuschauen und Schweigen verdammt. Zwanzig Jahre lang hatte sie Publikationsverbot und schlug sich mit Übersetzungsarbeiten durch. Nur selten konnte ein eigenes Werk erscheinen. Streng abgeschirmt von ausländischen Besuchern lebte sie im »Fontänenhaus« an der Fontanka, dem ehemaligen Šeremetev-Palast in St. Petersburg (Leningrad), in dem seit 1989 ein Museum für sie eingerichtet ist. Der Name »Achmatova« ist ein Pseudonym. Ihr eigentlicher Familienname war »Gorenko«. Ein sprechender Name für dieses Leben, wenn man weiß, dass das Wort »gore« (dt. Leiden) darin verborgen ist und Anna Achmatova ihren Schreibauftrag darin gesehen hat, das Leid der vielen festzuhalten.3 Eine »tragische Muse« Russlands (Efim Ėtkind) hat man sie genannt, eine »Märtyrerin ihrer Zeit« (so Isaiah Berlin; vgl. Hässner 1998: 106), eine Zeugin des Jahrhunderts und seiner Schrecken, die mit ihren hingetuschten Texten Szenen wie auf »Kacheln« (vgl. Holthusen 1978: 86) gebrannt hat. Auch sie selbst hat sich in dieser Rolle gesehen: »Ich habe nie aufgehört, Gedichte zu schreiben. Für mich waren sie die Verbindung zur Zeit […]. Ich bin glücklich, in unvergleichlichen Jahren gelebt zu haben und Zeuge einmaliger Ereignisse gewesen zu sein.« (Achmatowa 1989: 38). Mit ihren Gedichten stieß Anna Achmatova von Anfang an und in allen literarischen Gruppierungen auf große Resonanz. Schon ihre frühen Arbeiten aus der Zeit des Akmeismus (ab 1910) galten als aufrichtig und bekenntnishaft. Kleine »Miniaturnovellen« (vgl. Lauer 2000: 487), die im Laufe der Jahre immer verschlüsselter wurden. Kunstvoll gestaltete Fragmente der Erinnerung, die lange nur als Schattenliteratur (vgl. Lauer 2000: 712) existierten, weil sie den kulturpolitischen Forderungen des Regimes nicht entsprachen. Seit 1922, dem Jahr der Gründung der Sowjetunion, trat Anna Achmatova nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Erst im Zuge der patriotischen Stimmung, die Russland kurz vor dem Eintritt der Sowjets in den Zweiten Weltkrieg (den Großen Vaterländischen Krieg) erfasst hatte und zu ideologischen Lockerungen führte, konnte ein Gedichtband von ihr erscheinen: IVA, dt. DER WEIDENBAUM (1940). Er bewies, dass die Dichterin auch in diesen Zeiten biegsam, aber fest verwurzelt blieb und damit in der Lage, sich und anderen Halt zu geben. Sie ließ sich nicht einschüchtern und nicht korrumpieren, sondern blieb sich

3

Aber auch ihr Pseudonym wurde so wahrgenommen, wenn Marina Cvetaeva in dem »Ach« der Achmatova den klagenden Hauch der Zeit vernimmt: »Anna Achmatowa! Dieser Name ist ein gewaltiger Seufzer.« (vgl. Keller 2006).

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künstlerisch treu (vgl. Holthusen 1978: 88).4 Doch die politische Öffnung währte nicht lange. 1941 wurde Anna Achmatova mit anderen Intellektuellen aus dem belagerten Leningrad evakuiert und nach Taschkent verbracht. Eine offiziell als human deklarierte Maßnahme der Behörden, die aber wohl eher dem Verdacht geschuldet war, dass die Künstler und Wissenschaftler, die hier zusammen mit Frauen und Kindern aus der Stadt ausgewiesen wurden, mit den Deutschen kollaborieren könnten (vgl. Hässner 1998: 94). 1944 kam sie, erkennbar gealtert, in die zerstörte Stadt zurück und wurde bis Kriegsende sogar als patriotische Dichterin in Anspruch genommen, weil sie die Opferbereitschaft ihres Volkes verkörpert und die europäische Kultur gegen den Faschismus verteidigt habe. Mit dem Parteierlass vom 14. August 1946 änderte sich der Ton. Anna Achmatova wurde öffentlich bloßgestellt und diffamiert als dekadente Dichterin, die zwischen Boudoir und Bethaus pendle, halb Dirne, halb Nonne sei, und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen (vgl. Hässner 1998: 110).5 Stalin, der ihre Worte als Waffe der intellektuellen Elite verstand, sah in ihr seine persönliche Feindin, überzog sie mit wüster Polemik und erklärte sie zur Unperson. Die Verfolgung von Schriftstellern im Stalinismus erfolgte willkürlich, aber strategisch und kannte verschiedene Abstufungen. Dazu zählten neben Publikationsverbot und dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, der die Autoren materiell in Not brachte, eine Reihe von Anschuldigungen (Trotzkismus, Spionage, Konterrevolution, Kosmopolitismus sowie generelle Feindschaft gegen das System), Bespitzelung und Dauerverhöre, erpresste ›Geständnisse‹, der Verrat von Freunden und Verwandten, eigene Verhaftung, Isolation, Deportation und Verbannung, Lagerhaft und Liquidierung. Eine besonders perfide Art, Druck auszuüben, war die Drangsalierung naher Angehöriger, die stellvertretend für den Gemeinten verhaftet wurden und im Lager verschwanden. Das betraf zum Beispiel die Tochter von Marina Cvetaeva, die Frau von Osip Mandelštam und den Sohn von Andrej Platonov. Das fremde Leid wurde gezielt eingesetzt, um den Widerstandsgeist der Künstler zu brechen. Auch der Sohn von Anna Achmatova, Lev Gumilëv (1912– 1992), wurde mehrfach verhaftet und vor Gericht gestellt. Achtzehn Jahre insgesamt wurde er in Gefängnissen, Lagern und Verbannung festgehalten, um auf diese Weise die Mutter zu strafen, die sich weigerte, bestimmte Gedichte aus ihrem Repertoire zu entfernen. Erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, wurde er rehabilitiert.

4

Das gilt trotz der schwülstigen Kriegsgedichte, der Ode auf Stalin und der Loblieder auf die Freiheit der Sowjetunion, die die Achmatova offenbar schrieb, um die Freilassung des Sohnes zu erwirken (vgl. Hässner 1998: 112). Die Texte lassen indes erkennen, dass sie sich nicht mit dem System identifizierte, werden aber manchmal verschwiegen, um die Legendenbildung nicht zu stören.

5

Erst am 20. Oktober 1988 wurde der Ausschluss posthum wieder aufgehoben.

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Lev war Anna Achmatovas einziges Kind, hervorgegangen aus der Ehe mit dem Lyriker Nikolaj Gumilëv. Dieser war bereits 1921 standrechtlich erschossen worden – »der erste brutale Schlag gegen die russische Literatur von seiten der neuen Macht« (Hässner 1998: 62) und damit »der erste Dichtermord, den die Bolʼševiki auf ihr Gewissen luden« (Lauer 2000: 493). 1935 nahm man den Sohn erstmals als Geisel.6 Wie tausende andere Mütter und Ehefrauen stand die Dichterin nun in endlosen Schlangen und harrte in eisiger Kälte aus vor Gerichten, Gefängnissen und Behörden, um etwas über sein Schicksal zu erfahren. Den damit verbundenen Schmerz hat sie in dem Poem REQUIEM festgehalten. Ein poetischer Bericht über den Terror (vgl. Ėtkind 1984: 360), der Anklage erhebt und der Toten gedenkt. Die Form eines Poems erhielt der Gedichtzyklus vermutlich im März 1940 (vgl. Ėtkind 1984: 381). Er wurde aber mehrfach überarbeitet und konnte weder gedruckt noch aufgeschrieben werden: »Selbst das Aufbewahren der Handschrift war lebensgefährlich.« (Kasack 1988: 61). Jahrelang existierte das »REQUIEM« nur im Gedächtnis der Autorin und im Kopf ihrer Freunde. Sie lernten es auswendig und wurden so zu Zeugen eines unsichtbaren Textes, für dessen Überleben sich die Dichterin ausliefern musste: »›Elf Menschen kannten ›Requiem‹ auswendig, und niemand hat mich verraten‹« (Ėtkind 1984: 383). Erst ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Entwurf wurde das Poem dem Papier anvertraut (vgl. Ėtkind 1984: 383). 7 1963 erschien es auf Deutsch, ehe Gorbacëv und Glasnostʼ 1987 auch seine Veröffentlichung in der Sowjetunion möglich machten. Der Zyklus besteht aus zehn nummerierten Gedichten, denen ein knapper Prosatext STATT EINES VORWORTES vorangestellt ist (vgl. Achmatowa 1989: 161-183). Dieser ist auf den 1. April 1957 datiert und erhellt die Umstände der Entstehung und Anna Achmatovas Schreibimpuls. Eine Unbekannte fragt sie, als sie gemeinsam in der Schlange vor dem Gefängnis stehen: »Und Sie können dies beschreiben?« (Achmatowa 1989: 163). Die Dichterin hört aus diesem Satz die Millionen sprechen, die vor Gefängnistoren warten, auf ein Lebenszeichen hoffen und keine eigene Form für ihre Fassungslosigkeit finden. Sie antwortet »Mogu.« (dt. Ich

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Die Angaben schwanken. Die meisten datieren die erste Verhaftung auf 1935, als Gumilëv Student an der Petersburger Universität war. Die zweite Verhaftung sei im Spätherbst 1935 erfolgt, doch sei er nach wenigen Tagen wieder freigelassen worden. 1938 wurde er erneut verhaftet und zu fünf Jahren Lager und Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Beim Abtransport 1939 hätten sich Mutter und Sohn für viele Jahre zum letzten Mal gesehen. Weil sich Gumilëv 1944 freiwillig zur Roten Armee meldete, sei er auf kurze Zeit freigekommen und habe an der Eroberung Berlins mitgewirkt. 1949 sei er dann noch einmal verhaftet und verbannt worden. 1956 wurde er rehabilitiert und konnte nach seiner Rückkehr noch lange wissenschaftlich tätig sein.

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1940 konnte indes das aus dem Requiem ausgekoppelte Gedicht DAS URTEIL erscheinen.

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kann.) und hat den Auftrag eingelöst. Der Text ist damit für ihren Sohn geschrieben, aber zugleich »Klage und Anklage im Namen all derer, die unter dem StalinTerror gelitten haben« (Hässner 1998: 89). Seine Überzeugungskraft gewinnt er aus dem autobiographischen Charakter, aber auch aus seiner sorgfältig durchkomponierten Struktur, die eine lebenzerschlagende Zeit zu einem symmetrischen Ganzen fügt. Die zehn Einzelgedichte sind klar komponiert. Sie stammen aus den Jahren 1935 bis 1957, sind chronologisch geordnet und verweben die Fragmente zu einem klassischen Zyklus, der von Prolog (Widmung mit Einführung) und Epilog (in zwei Teilen) gerahmt wird. Die Dichterin selbst verstand das Werk nicht als abgeschlossen. Es war über Jahre entstanden und spiegelt einen Prozess, der erst in einem zukünftigen Leser seinen Adressaten findet. Die Textabschnitte sind datiert, auch gelegentlich mit konkreten Ortsangaben versehen und wollen doch Allgemeingültiges anzeigen (vgl. Hässner 1998: 90). Das individuelle Leid der Familie Achmatova steht hier als Gleichnis für viele und seine lyrische Fassung gilt als »das bedeutendste russische Sprachdenkmal, das den Millionen Frauen gesetzt wurde, die vom Leid der willkürlichen Verhaftung ihrer Männer oder Söhne betroffen waren.« (Kasack 1988: 61). Die Bausteine werden zu einem epischen Poem montiert und dabei einem Grundgedanken unterworfen: der Pietà. Im Mittelpunkt steht die leidende Mutter, nicht der Sohn, gesteigert zum Bild der Muttergottes, die vielfaches Leid beklagen und anklagen will.8 Sollte man ihr eines Tages ein Denkmal setzen, sagt Anna Achmatova, dann »hier, wo ich dreihundert Stunden einst stand / Der Sohn hinter Mauern und Riegeln verschwand« (Achmatowa 1989: 183). Das eigentliche Denkmal aber ist der Text »als erschütternde Anklage einer Mutter gegen ein erbarmungsloses System« (Hässner 1998: 92). Anna Achmatovas Texte sind Medien der Erinnerung. In ihrem Hauptwerk, POEM OHNE HELD (1940–1962), hat sie ihre Poetik des Gedenkens dargelegt. Erinnerung ist für sie, wie Efim Ėtkind zusammenfasst, »die geistige Rettung der zugrundegehenden Menschheit. […] Die Erinnerung stellt sogar die Rettung vor dem ungeheuerlich sinnlosen und grausamen Terror dar; denn der Terror ist eine Form der Barbarei, Erinnerung hingegen ist Kultur.« (Ėtkind 1984: 384). Nicht nur das REQUIEM, sondern ihr Œuvre insgesamt steht für den Kampf gegen das Vergessen. Zusammen mit dem Roman DOKTOR ŽIVAGO von Boris Pasternak gilt es als die große literarische Selbstbehauptung Russlands gegen den Terror. Beide Schriftsteller gelten als Zeugen ihrer Zeit, die bewusst im Land geblieben sind, um zu beschreiben, was geschieht, und das Beschriebene in ihren Texten zu bewahren. In den Augen der Leser war es eben die Verschmelzung von Leben und Werk, die ihre Wirkung ausmachte. Anna Achmatova wurde nicht nur ihrer Gedichte wegen bewundert,

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»Ich habe für euch diesen Teppich gewebt / Aus dem, was ich damals gehört und erlebt.« (Achmatowa 1989: 181).

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»sondern auch wegen der unerschütterlichen Geradlinigkeit, mit der sie ihrer Heimat in schwersten Zeiten die Treue gehalten hat.« (Holthusen 1978: 215). Sie erschien als »die letzte überragende literarische Autorität« Russlands (Hässner 1998: 10) und war von einem Sendungsbewusstsein getragen, an dem sich das traditionsreiche Denkmodell vom Leidensweg des russischen Intellektuellen ablesen lässt (vgl. Hässner 1998: 8). Dieses Modell wies den Schriftstellern eine besondere Aufgabe zu und war mit überhöhten Vorstellungen von der Bedeutung und gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeit der Literatur verbunden. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass eine ungemein stärkende Kraft von ihm ausgegangen ist und viele bereit waren, für das Überleben der Texte zu sorgen. In einer Zeit, da die Wände Ohren hatten, das Trottoir jedes Gespräch belauschte und Menschen nur im Flüsterton miteinander sprachen, weil jede Äußerung zum Anlass von Verfolgung und Verschwinden werden konnte, fand sich mit Anna Achmatova eine Dichterin, die den Opfern eine Stimme gab. Und es fanden sich Leser, die bereit waren, diese Texte in ihrem Gedächtnis zu bewahren. Achmatovas literarisches Archiv wurde gleich zweimal vernichtet. Doch da sie ihre Texte im Kopf und Freunden zum Auswendiglernen gegeben hatte, konnte sie den Verlust ausgleichen. Besonders ihre engste Vertraute Lidija Čukovskaja (1907–1996) kannte alle Achmatova-Gedichte auswendig, oft in verschiedenen Varianten. Sie machte sich so zu einem Gefäß, zu einem Gedächtnisarchiv, und sorgte dafür, dass die Dichterin allen Schmähungen zum Trotz bei ihren Landsleuten lebendig blieb: »Ihre Gedichte wurden auswendig gelernt und mündlich, oft konspirativ, verbreitet. In dieser typisch russischen Art der Rezeption war die Tschukowskaja selbst fast unübertroffen. […] Auch die Dichterin hatte ein phänomenales Gedächtnis für ihre eigenen Texte.« (Hässner 1998: 10). Was sie schrieb, blieb stets gebunden an die »Daten ihres Gedächtnisses«, wie sie es nannte, und manchmal hat sie die ihr vom Gedächtnis aufgebürdete Last verwünscht (vgl. Hässner 1998: 64). Ausgewichen ist sie ihr nicht. Das Dichten gab ihr die Möglichkeit, schmerzliches Erleben wahrzunehmen, es sublimierend in Poesie zu verwandeln und eine Art ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS (Peter Weiss, vgl. Hässner 1998: 65) hervorzubringen, die es ihr erlaubte, nicht nur eigene Verluste zu bearbeiten, sondern in der Zeit des Terrors auch für andere »Scherben zu Dichtung« zu schmelzen (Lidija Čukovskaja, vgl. Hässner 1998: 89).

2. M ORALISCHE

UND INTELLEKTUELLE

Z EUGENSCHAFT

Die Tradition der Zeugenschaft ist fest im Gedächtnis verankert. Sie gilt als »intergenerationelle Kulturtechnik« und kann im abendländischen Denken auf eine »lange Geschichte« verweisen (Elm/Kößler 2007b: 7; vgl. dazu auch Drews/Schlie 2011). Die Begriffe »Zeuge« und »Zeugnis« sind aus dem Bereich des Rechts und

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der Religion vertraut, werden aber seit den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts weiter differenziert. Ursprünglich waren sie eng an den Holocaust gebunden, wurden dann mit dem allgemeinen Traumadiskurs verknüpft und für den kulturwissenschaftlichen9 wie therapeutischen Bereich neu durchgespielt. Trauma wiederum ist der sprachlich-kulturelle Ausdruck für gewaltvolle und verstörende Erfahrungen, die Menschen mit ihrer Umwelt machen. Er hält als Begriff das, was schwer auszuhalten ist: die seelische Verwüstung und eigene Verwundbarkeit, die Willkür und Unbeherrschbarkeit des Lebens, das zerstörerische Potential von Menschen und Naturgewalten. Auf diese Weise benennt er das, was die Sprache verschlägt und nicht besprechbar ist, Grauen, Schrecken und Sinnlosigkeit, und ist ein Medium lebensweltlicher Sinnstiftung zugleich. Denn der Traumabegriff ist nicht nur eine klinische Kategorie für die Symptome und Folgestörungen, mit denen Betroffene auf ein tremendum reagieren. Er ist auch ein reflexives Instrument zur Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten. Ein Deutungsmuster, das sich im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich als anregend, produktiv und leistungsfähig erweist und so auf die kreative Seite des destruktiven Phänomens aufmerksam macht. Auf die Faszinationsmomente, die mit dem Traumaschrecken offenbar auch verbunden sind und die bedeutungsbildend wirken, wo alles bedeutungslos schien. Diese Doppelbewegung macht Trauma zu einem inhaltlich schwer zu fassenden, emotional schwer auszuhaltenden und moralisch fragwürdigen Gegenstand. Es ist ein von vielen Begleitvorstellungen aufgeladenes Phänomen und erwirkt in denen, die es erleiden, »eine unmögliche Geschichte« (Caruth 2000: 86).10 Aber auch diejenigen, die sich zuschauend oder zuwendend mit ihm befassen, setzen sich der Gefahr der ›Ansteckung‹11 (vgl. Caruth 2000: 91) aus und finden als Zeuge und Zuhörer, als Richterin und Protokollant, als Sanitäter oder Journalist, als Therapeutin, Sozialarbeiter oder Seelsorgerin diese unmögliche Bewegung auch in sich selbst: »Man will davon nichts und doch alles wissen.«12 (Fischer-Homberger 2009: 54).

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Für den kulturwissenschaftlichen Zugang vgl. das DFG-Projekt am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin.

10 Ähnlich Baer 2002, 14-15 mit Blick auf Paul Celan. Dieser stelle sich der von ihm selbst nicht gewählten Aufgabe, »Zeugnis von einer schrecklichen Wirklichkeit abzulegen, deren Erfahrung niemand freiwillig gesucht hätte und von der niemand wissen will.« 11 Für den therapeutischen Bereich ist dies schon stärker reflektiert. Die Folgen der Arbeit mit Traumatisierten in helfenden Berufen und Präventionsmöglichkeiten (»Care for Caregivers.«) beschreibt Rössel-Čunović 2013. 12 Fischer-Homberger beschreibt dies für den Eisenbahnunfall 1842 auf der Strecke ParisVersailles. Damals noch nicht begrifflich distinkte Traumafolgephänomene traten nicht nur bei denen auf, die bei dem Unfall körperlich zu Schaden kamen, sondern auch bei denen, die ihn als Augenzeugen mit ansehen oder über das neu etablierte Zeitungswesen

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Das Traumathema ist daher an die Gedächtnisforschung geknüpft und mit der Frage verbunden, welche Möglichkeiten der Erfahrungsverarbeitung bei schweren Traumatisierungen zur Verfügung stehen. Während man medizinischpsychologisch davon ausgeht, dass sich ein traumatisches Ereignis dem willentlichen Zugriff der Betroffenen widersetzt, darum nicht als Vergangenes erinnert werden kann und erst mit therapeutischer Hilfe aus seiner anhaltenden Gegenwart herausgelöst werden muss, um vergessen zu werden, geht es dem kulturwissenschaftlichen Traumadiskurs um das Bemühen, dieses unbewältigte Ereignis der Vergangenheit auszudrücken, zu bearbeiten und erinnerbar zu halten (vgl. Bannasch/Hammer 2005: 287-288). Kulturwissenschaftliche Arbeiten untersuchen darum die Darstellungsmöglichkeiten von traumatischen Erinnerungen. Sie verstehen Trauma als eine Grenzerfahrung, deren Repräsentation auf bestimmte symbolische Formen angewiesen ist, und gehen der Frage nach, »wie die traumatische Erinnerung trotz der ihr eigentümlichen ›Unsagbarkeit‹ sagbar und für das kulturelle Gedächtnis verfügbar gemacht werden kann.« (Neumann 2013: 765). Die sprachlos machende Schreckenserfahrung, die sich einer konstruktiven Deutung entzieht, kann dabei um einen kreativen, ja faszinierenden Aspekt erweitert werden, wenn die deformierende Kraft des Traumas in Kunst und Kultur Ausdrucksmittel findet und dabei mitunter sogar innovative Erzählformen hervorbringt, die die leidvolle Erfahrung aus einer Innenperspektive heraus schildern und gesellschaftlich zugänglich machen. So werden historische Traumata dem Tabu entrissen, im Gedächtnis gehalten und Menschen für das Thema sensibilisiert. Die destruktive Wirkung von Gewalt kann bewusst und ein Gesprächsraum eröffnet werden. Im besten Fall kommt dies auch den Betroffenen zugute, indem Strukturen verändert, Straftaten verfolgt und Opfer geschützt werden. Auf der anderen Seite sind mit diesem Zugang auch moralische Schwierigkeiten verbunden.13 Denn wer Trauma als das »Kennzeichen unserer Zeit« versteht und es »zu einem großzügig angewandten Instrument« macht, der gerät in Gefahr, »die historische und moralische Präzision aufzugeben«, um die bei der diagnostischen Bestimmung von Trauma lange gerungen wurde (vgl. Kansteiner 2004: 109). Der kulturwissenschaftliche Zugang kann also zu Analogieschlüssen verführen, die den Traumabegriff aufweichen, ihn inflationär ausdehnen und Alltägliches und Außergewöhnliches so vermischen, dass jede Scheidung, jeder Karriereknick, jeder nicht erfüllte Lebensplan gleich zu einem

von ihm erfahren mussten. Zur emotionalen Doppelbewegung der Zeugenschaft vgl. auch: Herrero/Baelo-Allué (2011). 13 So fragt Kansteiner (2004: 125) an, ob es gut ist, Trauma allgemein und das Holocausttrauma insbesondere als psychologischen Schlüssel für die Analyse unserer Alltagskultur und Alltagskommunikation zu benutzen. Kritisch gegenüber einer mystifizierenden Deutung des Holocaust zeigt sich Schneider (2007).

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»Trauma« dramatisiert wird – nicht zuletzt, weil an dem Thema auch Aufmerksamkeit, Auflagenzahlen und Sendequoten sowie narzisstische und finanzielle Interessen hängen. Das wirft grundsätzlich die Frage auf, ob reale Leiderfahrungen überhaupt zu experimentellen Formspielen genutzt werden dürfen, ob sie nicht zumindest durch das persönliche Zeugnis des Betroffenen gedeckt sein sollten, ob dessen Leid damit aber zugleich zu etwas nutze sein muss und ob die furchtbare Erfahrung einzelner nicht auf solche Weise trivialisiert und dem voyeuristischen Blick und Unterhaltungsbedürfnis einer Zuschauergesellschaft dienstbar gemacht wird. Der kulturwissenschaftliche Zugang ist damit anstoßend und anstößig zugleich. Er verweist auf das eigentümliche Changieren des Traumas zwischen Krankheit und Kultur, »zwischen subjektiven Krankengeschichten und kollektivem Deutungsmuster« (vgl. Rabelhofer 2006: 185), und kann es einerseits bewusstseinsbildend verbreiten und andererseits eben durch sein breiteres Verständnis »zu einer metaphorischen Unwahrheit« (Kansteiner 2004: 133)14 machen. Hier gewinnt die Figur des Zeugen eine entscheidende Bedeutung und zwar sowohl mit Blick auf die produktionsästhetische Kraft des Traumas, die jemanden zur Beschreibung des Unbeschreiblichen anregen kann, wie auch mit Blick auf den Akt der Rezeption, mit dem sich der Hörer zum Zeugen des fremden Zeugnisses macht. Denn: »Es gibt den, der bezeugt, und den, der das Zeugnis empfängt. Der Zeuge hat gesehen; der, der sein Zeugnis empfängt, hat nicht gesehen, sondern hört. Nur über das Hören des Zeugnisses kann er an die Wirklichkeit der Tatsachen, die der Zeuge berichtet, glauben oder nicht glauben.« (Ricœur 2008: 11). Zeugnisse prägen Erinnerungskulturen. Sie vermitteln fremde Erfahrungen und machen Wissen und Werte verfügbar auch denen, die nicht unmittelbar an einem Geschehen beteiligt waren. Sie fassen Menschen zu Ketten zusammen, die den Schrecken tradieren und der zersprengenden Wucht des Traumas neue Linien der Solidarität entgegensetzen. Das Zeugnisgeben oder Zeugnisverweigern ist darum nicht eine Frage der Ästhetik allein. Es ist auch eine ethische Frage. Von einem Zeugen wird »Autorität, Kompetenz und Aufrichtigkeit« erwartet und »›wahres Wissen‹« eingefordert (vgl. Scholz 2004: 1318). Sein Hörer wiederum nutzt das Zeugnis als Erkenntnisquelle, muss es aber auch beurteilen und dem, was ein anderer berichtet, Glauben schenken oder Glauben verweigern. Er darf nicht zu skeptisch und nicht zu leichtgläubig sein. Er muss das Beschriebene bewerten und sich zum Beschriebenen verhalten und damit über die historische Erinnerung hinaus entscheiden, was dem Opfer nachträglich an Gerechtigkeit widerfahren soll. Die Traumatisierten wiederum sind auf Zeugen angewiesen. Denn die (Nicht-)Anerkennung eines gewaltvollen Geschehens durch die

14 Kansteiner kritisiert hier, dass der Holocaust als die Traumaerfahrung schlechthin medialen Unterhaltungsbedürfnissen angepasst wird und so den Blick auf die historische Wahrheit verstellt.

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Öffentlichkeit beeinflusst seine Verarbeitung. Die spezifischen Erlebnisstrukturen des Traumas verhindern, dass die Betroffenen sich selbst zum Zeugen werden könnten. Sie brauchen ein empathiebereites Umfeld, einen öffentlichen Diskurs oder zumindest einen anderen Menschen, der sie begleitet, für sie bürgt, erinnert und Partei ergreift und sich damit über die therapeutische Funktion hinaus auch moralisch als Zeuge zu Verfügung stellt. Der Begriff des moralischen Zeugen stammt von dem israelischen Philosophen Avishai Margalit (*1939). Er hatte ihn für die Zeugenschaft der Holocaust-Überlebenden geprägt, dabei aber auf Anna Achmatova und das REQUIEM mit seinem spezifischen Zeugnisauftrag Bezug genommen: »›Can you describe this?‹ and I said ›I can.‹« (vgl. Margalit 2002: 148). Margalit versteht diese Passage als »key«, als Schlüsselszene für das, was einen moralischen Zeugen (»a moral witness«) ausmacht: Zum einen solle er oder sie das Leid bezeugen und vor allem auch selbst erfahren haben, das durch ein absolut böses Regime wie das Ežov-Regime ausgelöst wird.15 Zum anderen solle er oder sie die Kombination aus dem Bösen und dem Leid, das es hervorbringt, bezeugen, nicht nur eines von beiden: »Thus, to become a moral witness one has to witness the combination of evil and the suffering it produces: witnessing only evil or only suffering is not enough. […] The paradigmatic case of a moral witness is one who experiences the suffering – one who is not just an observer but also a sufferer. The moral witness should himself be at personal risk, whether he is a sufferer or just an observer of the suffering that comes from evil-doing. An utterly sheltered witness is no moral witness.« (Margalit 2002: 148; 150).

Aleida Assmann hat Margalits Denkfigur aufgenommen und den moralischen Zeugen als einen von vier Grundtypen von Zeugenschaft näher bestimmt. Der moralische Zeuge nehme Eigenschaften des juridischen (lat. testis) und historischen Zeugen (lat. superstes) auf und sei wie der religiöse Zeuge (griech. martys) Opfer und Zeuge zugleich. Im Gegensatz zum Märtyrer aber werde er durch sein Überleben zum Zeugen, nicht durch sein Sterben, und damit zum »Sprachrohr und Zeugen für die, die nicht überlebt haben« (Assmann 2007: 42). Sein Zeugnis stehe nicht wie beim juridischen Zeugen nur im Zeichen der Anklage, es stehe auch im Zeichen der Totenklage. Es sei keine positive Botschaft, die er bezeugt und für die zu sterben sich lohnen würde. Vielmehr decke sein Zeugnis ein »kolossales Verbrechen« auf,

15 Nikolaj Ežov (1895–1940) war von 1936 bis 1938 Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD und als solcher für die Umsetzung des von Stalin angeordneten »Großen Terrors« verantwortlich, dem Hunderttausende zum Opfer fielen. Diese Zeit ist als Ežov-Zeit bekannt, worauf auch Anna Achmatova im Vorspann zum »Requiem« Bezug nimmt (vgl. Achmatowa 1989: 163).

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das er »in Form einer organisierten verbrecherischen Gewalt unmittelbar am eigenen Leibe erfahren« hat (Assmann 2007: 42). Seine Botschaft eigne sich darum weder zur Sinnstiftung noch zu einer Geschichte, auf die sich religiöse Bewegungen gründen könnten. Dennoch stehe er nicht allein, sondern bleibe selbst auf Zeugen angewiesen, die seine Botschaft aufnehmen. Für den moralischen Zeugen sind darum drei Dinge konstitutiv: die verkörperte Wahrheit des Zeugnisses, die Konstruktion einer moralischen Instanz und die Wahrheitsmission. Denn der moralische Zeuge sei kein neutraler Beobachter. Er sei Opfer und Zeuge in Personalunion. Er habe das Verbrechen, das er bezeugt, am eigenen Leib erfahren. Der Körper sei damit der bleibende Ort der traumatisierenden Gewalt und also das Gedächtnis des Zeugen. Darum könne er diese Erfahrung auch nicht abstreifen wie der Bote seine Botschaft. Er sei vielmehr der lebendige Beweis für das, wovon er spricht. Die Wahrheit seines Zeugnisses liege in der Teilhabe am Trauma und in seiner subjektiven Darstellung. Sein Zeugnis komme nicht vor Gericht. Es habe seinen Ort in der Öffentlichkeit und bringe auch selbst eine moralische Gemeinschaft hervor. Eine Gemeinschaft, die keine feste Gestalt oder Institution hat, sondern nur dadurch entstehe, dass man an sie appelliert. Die Wahrheitsmission schließlich setze eine Welt voraus, in der das Zeugnis des Opfers ignoriert, verdrängt und vergessen, verfälscht oder beschönigt wird. Gegen diesen verleugnenden Kontext sichere der moralische Zeuge die Spuren, setze sein Erinnern und Erzählen und mache sich so zum Agenten der Erinnerung und zum Anwalt der Urteilsbildung. Die Tätigkeit des Zeugens ist damit grundsätzlich nach außen gerichtet. Sie ist physisch bestimmt, angewiesen auf Augen und Ohren und an einen Adressaten gerichtet, der das Zeugnis aufnimmt und weitergibt. Für die Weitergabe dieser »intergenerationellen Kulturtechnik« (vgl. Elm/Kößler 2007b: 7) aber ist es wichtig, die Unterschiede zu beachten. Die Nachgeborenen treten nicht an die Stelle der moralischen Zeugen. Sie haben das Leid nicht selbst erfahren. Sie sind nicht Opfer und Zeuge zugleich. Für sie hat Geoffrey Hartman darum die Rolle des intellektuellen Zeugen vorgeschlagen. Für diesen komme es darauf an, die Generationendifferenz wahrzunehmen und sich selbst als sekundären Zeugen zu verstehen. Als Grenzgänger einer Erfahrung, über die er nicht selbst verfügt, sondern der er sich durch Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft immer nur annähern kann. Diese Differenz zu beachten, ist ethisch entscheidend, aber auch präventiv, wenn sich das Trauma nicht durch Überidentifikation mit den Überlebenden transgenerational fortsetzen oder aber in Abstumpfung und Ignoranz umschlagen soll. Der intellektuelle Zugang schafft Distanz. Er kommt dem Anspruch der Betroffenen auf Zuhörerschaft nach und will doch zugleich die gesellschaftliche Rolle der Intellektuellen bewahren: ihr kritisches Denken und ihr reflektierendes Innehalten. Die hier angezeigte Komplexität des Zeugenbegriffs lässt sich am Beispiel von Anna Achmatova gut demonstrieren. Als Vertreterin der russischen Intelligenz fungiert

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sie zunächst als Zeitzeugin »in einer an Ereignissen, Wendepunkten und Katastrophen kaum mehr zu überbietenden Zeit« (Hässner 1998: 14). Über »die bloße Zeitzeugenschaft« hinaus war sie aber auch selbst von diesen Ereignissen betroffen und also ihrem Volk eine »Leidensgenossin« (vgl. Hässner 1998: 14), die ein moralisches Zeugnis ablegt. Als Mutter, Frau und Künstlerin hat sie persönlich unter dem Regime gelitten und durch ihr Vorbild anderen Mut und Halt gegeben: »Die Achmatowa gehört durch Persönlichkeit und Werk zu den für viele Westeuropäer geheimnisvollen Kraftquellen, die die Russen ihre gesellschaftlichen Katastrophen, Entbehrungen und Erniedrigungen überstehen ließen.« (Hässner 1998: 11). Sie hat Verlust und Verfolgung hingenommen, sie hat überlebt und dafür gesorgt, dass die Gewalt nicht vergessen wird. Insofern ist sie auch eine sekundäre Zeugin, die ihr Talent zur Verfügung stellt für die, die keine Worte finden: »Und Sie können dies beschreiben?« – »Mogu.« (dt. Ich kann.). Mit dem religiösen Zeugen wiederum teilt sie die Situation, dass die Gewalt, von der sie Zeugnis ablegt, nicht von einem Einzelnen herrührt, sondern dass der Staat selbst die Quelle der Gewalt ist (vgl. Assmann 2007: 37). Wie der Märtyrer wird sie zum Opfer politischer Macht, verliert allerdings nicht ihr Leben, und appelliert in ihren Texten an eine höhere Instanz. Das zeitgeschichtlich gebundene Leid der vielen Söhne und Mütter wird hier durch den Verweis auf Christus und die Gottesmutter transzendiert16 und das Sterben an mit einem Sterben für verknüpft (vgl. Assmann 2007: 37). So tritt sie sinnstiftend ein für den sinnlosen Tod der Söhne und wird den vor Gram verstummten Müttern als Augenzeugin und Sprachrohr auch eine intellektuelle Zeugin.17 Anderes hingegen hat sie nicht gesehen. Was ihr Sohn Lev in den Lagern erlebte, kennt sie nicht aus eigener Anschauung und benutzt es doch, um ihr Leid zu sublimieren, nicht seines,18 um engagierte Literatur zu produzieren und an der eigenen Legende zu

16 Religiöse Elemente werden in vielen Achmatova-Gedichten zur tragenden Motivschicht. Etwa in dem Gedicht LOTS WEIB (Lotova žena) von 1924, in dem die beschriebene Katastrophe mit der biblischen Vorlage aus Gen 19 verknüpft und lautsemantisch als smotretʼ (dt. schauen) und smertʼ (dt. Tod) zusammengehalten wird. Das Gedicht konnte nur in kleiner Auflage erscheinen, weil der politische Vergleich von Sodom mit Russland und dem fliehenden Lot mit der Emigrationswelle der 1920er Jahre zu deutlich gezogen war und zu Recht als antisowjetische Provokation verstanden wurde. 17 Schwierigkeiten der Zeugenschaft thematisiert sie selbst etwa in der Vierte Elegie von 1945 (vgl. Achmatowa 1989: 117; 118). 18 Hässner 1998: 15 verweist darauf, dass die Dichterin bereits Situationen ihrer Kindheit als literarische Stimulanz genutzt habe: »Die Turbulenzen und tragischen Ereignisse in der Familie haben Anna Achmatowa ihr Leben lang wie ein Trauma begleitet.« Sie haben wohl dazu beigetagen, dass die Dichterin nicht zu einem harmonischen Familienleben

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bauen. Die Grenze zwischen Ethik und Ästhetik ist daher so schwer zu ziehen wie die Grenze zwischen den Generationen. Die Generationenfolge ist hier verdreht und die Rolle der intellektuellen Zeugin, die Abstand wahrt und Distanz hält, nur bedingt erfüllt. Der Sohn hat eben dieses gespürt und blieb nach seiner Rückkehr unversöhnt.19

3. V OM Z EUGEN

ZUM

Z USCHAUER

Die traumatische Erfahrung eines Menschen ist bei allen Mustern und Regelhaftigkeiten, die sich medizinisch aufzeigen lassen, ein ganz singuläres Ereignis. Sie ist nicht verallgemeinerbar, und diese eine ganz unmögliche und kaum sagbare Geschichte einem anderen zu Gehör zu bringen, ein sehr fragiler Prozess: »Einem anderen zu[zu]hören, der von einer traumatischen Erfahrung Zeugnis ablegt, heißt, aus jedem Wort und jeder Geste die Drohung herauszuhören, daß sich die Erfahrung augenblicklich in die stumme Zone absoluter Einzigartigkeit zurückziehen könnte.« (Baer 2000: 25). Wer einem anderen in diese Einzigartigkeit folgen will, der hat keine leichte Aufgabe. Ulrich Baer vergleicht den ethischen Anspruch der Zeugenschaft mit dem Anspruch, dem sich der Leser eines Gedichts unterwerfen müsse: Beide Begegnungen verlangen, sich dem Anspruch absoluter Einzigartigkeit zu beugen und nicht dem Impuls nachzugeben, das Gehörte oder Gesehene an bereits erworbenen Kenntnissen zu messen, um es zu vergleichen und in das vertraute Vorwissen einzubeziehen. Seit Anna Achmatova ihr REQUIEM verfasste über das, was anderen unbeschreiblich war, haben sich die Bedingungen der Zeugenschaft allerdings erheblich verändert, und längst ist das Gedicht durch andere sprachliche, vor allem aber visuelle Darstellungsformen abgelöst worden, ohne die damit verbundenen ethischen Fragen aufzulösen.20 Die prekäre Lage des intellektuellen Zeugen, der die klassische Aufgabe der Intellektuellen, sich für verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Fortschritte einzusetzen, mit dem Bezeugen traumatischer Ereignisse verbindet, wird deutlich, wenn man sich die politischen und me-

imstande war. Der später so beklagte Sohn wuchs nicht bei ihr, sondern bei der Großmutter auf. 19 So Ashoff 1993, was oft aus dem öffentlichen Achmatova-Bild ausgespart werde, um die Idolisierung nicht zu gefährden. 20 Diese waren bereits mit dem Diktum Adornos benannt, dass es nach Auschwitz barbarisch sei, Gedichte zu schreiben.

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dialen Umbrüche der letzten Jahre vor Augen führt.21 Sie machen aus einem höchst individuell bezeugenden Medium einen weit vernetzten Mediennutzer und aus dem Zeugen einen Zuschauer, der sich damit gerade wenig von denen unterscheidet, für die er den Ereignissen nachdenken soll. Der technische Fortschritt macht es schwer, innezuhalten und sich wie Anna Achmatova für ihr REQUIEM ein Vierteljahrhundert Zeit zu nehmen. Zwar scheinen die Speichermöglichkeiten grundsätzlich besser, wenn nicht mehr eine Handvoll Zeugen ein Gedicht auswendig lernen muss, das weder geschrieben noch gedruckt werden darf. Jeder Text kann fast sofort ins Internet gestellt und scheinbar unauslöschlich allen zugänglich gemacht werden. Andererseits können eben gewonnene Zugänge wieder verlorengehen, weil Abspielgeräte veralten, Videobänder nur begrenzt haltbar sind und die Flut des Gesammelten ohnehin nicht überblickt und ausgewertet werden kann. Wer unter den vielen, die ihre Kommentare und Wertungen ins Netz stellen, übernimmt damit einen intellektuellen und gesellschaftlich relevanten Beitrag? Geoffrey Hartman, der den Begriff des intellektuellen Zeugen geprägt hat, war selbst einer der ersten, der die medialen Neuerungen einsetzte, um die Zeitzeugenschaft um die Dimension audiovisueller Zeugnisse zu erweitern. In dem von ihm mitbegründeten FORTUNOFF VIDEO ARCHIVE FOR HOLOCAUST TESTIMONIES an der Yale University/New Haven hat er bewusst die Verbindung von Bild und Zeugnis gesucht und Videobild- und Stimmaufzeichnungen gesammelt, um die Erinnerung an den Holocaust lebendig zu halten. Den reinen Stimmaufzeichnungen, die auf die Nachkommen geisterhaft wirkten wie ein »Klang aus dem Totenreich« (vgl. Hartman 2007: 55), suchte Hartman über Videomitschnitte das lebendige Bild entgegenzusetzen. Andererseits hat er früh angemahnt, dass dem hohen visuellen Interesse »keine kritische visuelle Kultur« entspricht (vgl. Hartman 2007: 69), der täglichen Bilderflut keine angemessene Reflexions- und Handlungsebene. Insbesondere dem Ansinnen, Aussagen seiner Interviewpartner ins Internet zu stellen, stand er ablehnend gegenüber, damit nicht der Betrachter in die Rolle eines »visuellen Touristen« oder »Voyeurs« gerate (vgl. Hartman 2007: 60).22

21 1989 gilt besonders in Deutschland als Umbruchjahr der Intellektuellen. Es löste die Idee engagierter Literatur auf, die sich nach 1945 unter dem Eindruck von Krieg und Diktatur herausgebildet hatte und nun als »›Gesinnungs-Kitsch‹« galt (vgl. Jurt 2013: 340). Für Russland wird man vorsichtiger und zeitversetzt werten müssen. Den globalen Einschnitt markieren die Anschläge vom 11. September 2001 mit ihrer spezifischen medialen Inszenierung. 22 Die Slavistin Renate Lachmann hat darauf hingewiesen, dass es von den GULags keine historischen Filmaufnahmen gibt. Die Lager seien schlichtweg verschwunden. Bei filmischen Darstellungen des Barackenlebens würden sich russische Filmemacher darum kurioserweise an deutschen Konzentrationslagern orientieren (vgl. Czepel 2013).

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Die Frage nach einer ethisch respektablen Verbindung von Zeugen- und Zuschauerschaft ist daher schwer zu beantworten. Gerade in Bezug auf den Nationalsozialismus oder Stalinismus war von außen nicht immer abzulesen, wann jemand passiv blieb und zusah, um später zu handeln und zu bezeugen, und wann das Zuschauen ein Ausdruck war der Zustimmung, Billigung, von Beifall oder sogar Beihilfe und wieviel Verantwortung, auch strafrechtlich, dem nur Dabeistehenden zukommt. Dieser Frage ist 1988 der US-amerikanische Film ANGEKLAGT (engl. The Accused) auf wieder andere Weise nachgegangen. 23 Sein Drehbuch beruht auf einem wahren Fall und übernimmt insofern selbst eine Art visueller Zeugenschaft, um die zugrundeliegende Vergewaltigung einer jungen Frau vor Augen zu führen, die vor den Augen anderer stattgefunden hat: die damals 21-jährige Cheryl Ann Araujo (19611986) war 1983 in der Big Danʼs Bar in New Bedford/Massachusetts Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden. Das Verbrechen hatte großes Medieninteresse erregt, weil zahlreiche Gäste die Vergewaltigung beobachtet und statt einzugreifen oder die Polizei zu verständigen zugeschaut, applaudiert und die Täter noch angefeuert hatten. Das Gerichtsdrama befasst sich besonders mit diesen Zuschauern und ihrer Schuld, die tatsächlich auch verurteilt wurden, und hat als visuelles Filmmedium aufklärend und bewusstseinsbildend gewirkt. 24 Dagegen wurden die Terrorakte vom 11. September 2001 bewusst als breitenwirksames Medienereignis inszeniert (zum Folgenden vgl. Schult 2013). Sie gelten als Zivilisationsbruch und historische Zäsur, als das grundlegende Krisen- und Katastrophenereignis, das sich der Weltgemeinschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor Augen gestellt hat und durch seine permanente mediale Wiederholung dauerhaft vor aller Augen steht. Tatsächlich waren die vier terroristischen Selbstmordanschläge mit entführten Verkehrsflugzeugen auf militärische und zivile Objekte in den USA sorgfältig geplante Inszenierungen, deren Bildsprache sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat und weltweit Entsetzen und Sprachlosigkeit auslöste. Der Zusammenbruch der Zwillingstürme wurde dabei zum zentralen Symbol: »Die größte Zuschauermenge der Fernsehgeschichte verfolgte die Live-Bilder des zweiten Einschlags eines entführten Verkehrsflugzeugs in das World Trade Center« (Lorenz 2004b: 10), ohne dass dies die eigentümliche Vermischung von Fiktion und Realität aufgehoben hätte, die dem 11. September als medialem Ereignis eigen ist.

23 1989 gewann Jodie Foster den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Die Szenen des Gerichtsdramas gelten als realistisch und wirkten geradezu (re-)traumatisierend auf die beteiligten Schauspieler: Kelly McGillis zum Beispiel, die die Staatsanwältin spielt, war 1982 selbst Opfer einer Vergewaltigung durch zwei Männer geworden und konnte die Filmszenen nur schwer als Fiktion verbuchen. 24 Die Frage, wie man Zuschauer zu Zeugen macht, haben Deuring 2006 und Krämer 2005 für das Theater untersucht.

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Die desaströsen Bilder dieses Tages schienen durch Katastrophenfilme bereits vorweggenommen. Die Realität ereignete sich ›wie im Film‹, und erschütterte die Wahrnehmungssicherheit der zum Publikum depravierten Zuschauer-Zeugen. Die Live-Bilder zwangen die Berichterstatter dazu, dem Ereignis nahezu zeitgleich Sprache zu geben und dadurch das Katastrophische für sich selbst, aber eben auch für ihr Publikum narrativ in Form zu fassen. Dafür mussten sie ein Geschehen, das sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht überblickten, in eine Abfolge bringen. Sie mussten es verdichten, zusammenfassen, ihm Anfang und Ende geben, es zuspitzen und mit Höhepunkten versehen – also eine Geschichte aus einem geschichtlichen Ereignis machen, das sich direkt vor ihren Augen abspielte und dessen Bilder ihnen beim mündlichen Erzählen immer wieder davonliefen. Ohne dass sie selbst bereits emotionale Distanz zu diesen Bildern hätten aufbauen können, mussten sie sie thematisieren und kommentieren. Entsprechend affektbeladen war die Berichterstattung, doch bot sie dem Zuschauer auch eine erste behelfsmäßige Möglichkeit, das Unfassbare zu (er-)fassen und so seine psychische Verarbeitung in Gang zu bringen. Während die Medien das schreckliche Ereignis eingrenzten, es formgebend formulierten und zu einer Geschichte machten, verbreiteten und bändigten sie seinen Schrecken in einem Atemzug. Sie brachten das Außergewöhnliche in ein gewöhnliches, weltweit abrufbares Darstellungs- und Erzählmuster und machten aus entsetzlicher Geschichte »Narrative des Entsetzens« (Lorenz 2004a). Der 11. September 2001 setzte damit einerseits eine narrativierende Bedeutungsproduktion in Gang und stieß andererseits eben bei dem Versuch, das Unfassliche sprachlich zu fassen und seine Bedeutung zu vermitteln, auf grundlegende Darstellungsprobleme. Sie beginnen bereits mit der Benennung des Ereignisses. Denn das Datum 11. September oder auch Nine Eleven (9/11) nach der amerikanischen Datumsangabe, auf das das Ereignis im allgemeinen Sprachgebrauch meist reduziert wird, fungiert nicht nur als Chiffre für die konkrete Katastrophe im Jahr 2001 in den Vereinigten Staaten. Es ist auch ein Synonym für Schrecken und Terror überhaupt geworden und steht für den Angriff auf die Freiheit der (westlichen) Welt. Wie das Wort »Auschwitz« für einen Ort unfassbaren Schreckens steht, so ist auch der 11. September ein Begriff für Unbegreifliches, eine Formel für Schreckliches ohne historische Vergleichbarkeit. Andererseits wird das neuartig Entsetzliche dieses Ereignisses eben durch Vergleiche mit schon Bekanntem überhaupt erst fassbar, und so wurde trotz der sachlichen Differenzen und der moralischen Hemmnis eben doch Auschwitz als historischer Vergleichspunkt für 9/11 herangezogen und beides als »Zivilisationsbruch« benannt. Der 11. September war ein außerordentlich bilddominiertes Ereignis, dessen sprachliche Beschreibung den Bildern weitgehend hinterherlief. Doch filmisch war das World Trade Center direkt nach den Anschlägen tabu. Eine mimetische Auseinandersetzung im fiktionalen Film verbot sich durch die ›reale‹ Mimesis ohnehin von selbst, und auch der Dokumentarfilm 9/11 der Brüder Jules und Gédéon Nau-

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det, der am 11. September 2002, zum ersten Jahrestag der Anschläge, weltweit ausgestrahlt wurde, unterlag einer gewissen Kommunikationskontrolle: Die beiden Franzosen hatten ursprünglich eine filmische Langzeitdokumentation über einen Feuerwehrmann in Ausbildung drehen wollen und dafür den 21-jährigen Tony Benetatos begleitet, der als Absolvent der Fire Academy in der Feuerwache »Ladder 1« in Manhattan seine neunmonatige Probezeit durchlaufen sollte. Die Aufnahmen waren bereits in Gang, als am 11. September 2001 Jules Naudet die Feuerwehrleute während eines Routineeinsatzes in New York City begleitete und dabei zufällig Zeuge des ersten Flugzeugeinschlags in das World Trade Center wurde. Sein instinktiver Reißschwenk mit der Handkamera beim Einschlag des ersten Flugzeugs war lange Zeit die einzige Aufnahme, die davon existierte und über die Medien weltweit verbreitet wurde. Zudem filmte Jules Naudet als einziger den Einsatz der Rettungskräfte in der Lobby des Nordturms. Das öffentliche Interesse an dem Film war dementsprechend groß, doch befürchteten Überlebende, Angehörige der Opfer und Politiker auch die Konfrontation mit traumatisierenden Bildern. Der USamerikanische Fernsehsender CBS, der die Rechte an dem Filmmaterial erworben hatte, suchte darum seine Empathiefähigkeit unter Beweis zu stellen: Er betonte, dass das Material sensibel bearbeitet worden sei, und kündigte zudem an, das Geld aus der Ausstrahlung dem Fond für verwaiste Kinder von Feuerwehrleuten zur Verfügung zu stellen. Auch Jules Naudet, der viele der Aufnahmen unter Einsatz seines eigenen Lebens gemacht hatte, hatte bereits beim Eintritt in den Nordturm in intuitiver Selbstzensur auf das Filmen besonders grausamer Szenen verzichtet: »›Ich gehe rein und höre Schreie. Zwei Menschen in Flammen. Das wollte ich nicht filmen. […] Das sollte niemand sehen.‹« (Käsgen 2004: 64). Wohl aber sind mehrfach klirrende Geräusche in der Lobby zu hören – der Aufprall herabstürzender Körper –, deren Bedeutung erst später durch den Erzähler aufgedeckt wird und die eine beklemmende Vorstellung von den Tragödien vermitteln, die sich an diesem Tag in dem Gebäude abgespielt haben: »›Du siehst es nicht, aber du weißt, was passiert. Jedes Mal, wenn du diesen Aufprall hörst, weißt du: Das war ein Leben. Darüber kommt man nicht weg.‹« (Käsgen 2004: 74). Gleichwohl unterlegten die Filmemacher das ohnehin schon dramatische Ereignis noch einem fiktionalen Erzählmuster, das dem Fünf-Phasen-Schema des Dramas folgt, auf Spannungserzeugung setzt und über Identifikationsfiguren darauf zielt, die Zuschauer nicht nur kognitiv, sondern auch emotional in die Terrorerfahrung zu involvieren. Faszination und Schrecken, ethische Einfühlung und voyeuristisches Moment lagen also auch hier eng beieinander. Wie die religiösen Zeugen, nach Assmanns Definition, starben die Attentäter aus ihrer Perspektive für eine höhere Sache. Sie rissen dabei aber auch andere in den Tod und zwangen die Weltgemeinschaft als zeitgleich bezeugende Zuschauer in die Rolle des historischen Zeugen: »Dieses Medien-Zeugnis ist ein wesentlicher Teil des Anschlags selbst, bei dem es darum geht, auch unter denen, die nicht un-

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mittelbar betroffen sind, dauerhaft Furcht und Schrecken zu verbreiten.« (Assmann 2007: 39) Die Rolle des historischen Zeugen blieb damit nicht auf Bildreporter und Journalisten (die früheren Boten) beschränkt, sondern wurde auf die engagierten, parteiergreifenden oder sprachlosen Zuschauer ausgedehnt, so dass durch die globalisierten Bildmedien eine »neue Differenz zwischen Augenzeugen und Zuschauern entstanden« ist (Assmann 2007: 40). Der Zuschauer kann einerseits glauben, vor dem Bildschirm Teil des Geschehens und besonders dicht und unvermittelt Augenzeuge zu sein. Zugleich verdeckt dies den Umstand, dass bei zunehmender Medienrezeption und durch ermüdende Omnipräsenz ein immer größerer Verlust an verlässlicher Eigenerfahrung zu verzeichnen ist (Assmann 2007: 40 im Anschluss an Soeffner). Assmann sieht darum in den Bekennervideos von Selbstmordattentätern sowie in der medialen Berichterstattung über solche Anschläge, die das Publikum zu Zuschauer-Zeugen der Tat und zu Voyeuren des fremden Leids machen, eine verhängnisvolle Modernisierung der sekundären Zeugenschaft. Auch für die Intellektuellen ist der gesellschaftliche Auftrag unklar. Ihre Störwirkung ist traditionell eher an das Buch und das Lesen gebunden. 25 Kritisches Denken und reflektierendes Innehalten brauchen Zeit. Zeit, die in der Mediengesellschaft selten gegeben ist. Dabei unterscheiden sich die Rollen aber noch einmal in Ost und West. Während in Westeuropa die Rolle des Zeugen mehr und mehr auf die helfenden, vor allem therapeutischen Berufe übergegangen ist, muss die russische Intelligenz nach dem Ende der geschlossenen Gesellschaft ihre Funktion überhaupt neu bestimmen. Dabei kann der russische Begriff »Intelligencija« auf eine eigene Tradition verweisen. Er war in den 1860er Jahren aufgekommen und zunächst positiv konnotiert: »Bezeichnet wurde damit eine gesellschaftliche Gruppe, die sich wegen ihres – wie es damals hieß – ›Aristokratengeistes‹ – großer Achtung erfreute: hochgebildete Personen, kreativ und phantasievoll, unabhängig in ihrem Denken und geprägt von freiheitlichen Überzeugungen, dabei ausgestattet mit dem Gefühl der moralischen Verantwortung und beseelt von der Missi-

25 Der dominante Bildcharakter von 9/11 weckte das Bedürfnis nach leiseren Verarbeitungsmöglichkeiten, und tatsächlich wurden die Terroranschläge auch literarisch thematisiert. Sie nehmen den 11. September zum erzählerischen Anlass oder stellen ihn ganz in den Mittelpunkt des Geschehens. Dabei wurden an die Schriftsteller allerdings strengere moralische Maßstäbe angelegt als an Journalisten, die gleichfalls über das Ereignis berichtet hatten. Wer sich literarisch mit den Anschlägen auseinandersetzte, dessen Texte sollten die nötige künstlerische Komplexität aufweisen, die Aufmerksamkeit nicht unnötig auf den Autor lenken, sich aber auch nicht empathisch in die Psyche und Beweggründe der Attentäter einfühlen wollen.

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on, andere ebenfalls zu bilden. Diese Verantwortung bezog sich nicht nur auf das eigene Land, sondern auch auf die gesamte Menschheit.« (Szczukin 2002: 196).

Die »Intelligencija« wurde vielfach als spezifisch russische Erscheinung beschrieben, doch lassen sich auch anderswo vergleichbare Phänomene finden: Eliten, deren Bildung und Lebensstil von denen der breiten Massen sehr verschieden sind und die sich mit aufklärerischen Intentionen und großem sozialem Engagement den Massen zuwenden. Der Begriff ist mit dem des Intellektuellen jedoch nur partiell deckungsgleich. Sozial-ökonomisch betrachtet gehören dazu Wissenschaftler, Literaten, Künstler, Ärzte, Juristen oder auch Geistliche, also wissenschaftlich oder kulturell tätige Personen, denen im Deutschen am ehesten der Begriff »Akademiker« entspricht. Sie zeichnen sich sozial-ethisch gesehen dadurch aus, dass sie gebildet sind, kritisch, unabhängig von ideologischen Verpflichtungen und frei von ökonomischen Zwängen. Als Gemeinschaft prägen sie die öffentliche Meinung, spielen dabei eine aufklärerische Rolle und bilden so etwas wie das »›Gewissen der Nation‹« (vgl. Szczukin 2002: 196). Nachdem die Versuche, eine sowjetische Intelligencija zu schaffen, die dem System loyal gegenüberstand, gescheitert waren, wurde das Schlagwort aber auch als politisches Schimpfwort und Verfolgungsinstrument eingesetzt. Künstler wie die Akmeisten, zu denen Anna Achmatova und Nikolaj Gumilëv gehörten, waren einerseits gesellschaftspolitisch engagiert, andererseits aber auch eine elitäre Gruppe (vgl. Lachmann 1990: 374). Sie schufen eine auserlesene, anspielungsreiche Lyrik und suchten den Dialog eher mit Berufskollegen und Texten als mit der Bevölkerung. Ihre Ethik war eine Art »Gedächtnisethik« (vgl. Lachmann 1990: 374), mit der die Dichter Erinnertes zum Ereignis der Gegenwart machen wollten, etwa wenn die Achmatova ihre Zeit in Taschkent mit Dantes Verbannung in Florenz vergleicht. Für diese Gedächtnisethik brauchte sie gebildete Leser, die über genügend Prätext-Wissen verfügten. Dennoch verstand sie sich auch als ein kritisches Korrektiv zur Macht und bezog eben daraus auch einen Teil ihres Selbstbildes. Gerade Leningrad als Heimstatt »der künstlerischen und wissenschaftlichen Elite« war Stalin suspekt (Hässner 1998: 108), und Schriftsteller, die hier lebten, wurden besonders sorgfältig überwacht. Mit den Umbrüchen, die mit dem Jahr 1989 symbolisiert werden, konnte einerseits Reputation zurückgewonnen werden (wenn etwa das Jahr 1989 von der UNESCO zum Anna-Achmatova-Jahr erklärt und ein Asteroid nach ihr benannt wurde). Zugleich wurde es von nun an schwieriger zu benennen, was die Rolle der Künstler, Intellektuellen und Zeugen sein könnte. Anna Achmatovas Zeugnis war an das Wort und die Kulturtechnik des Lesens gebunden gewesen. Ihre Texte beschrieben Unbeschreibliches und wurden dafür memoriert und aufbewahrt. Sie warteten, wie die Texte von Osip Mandelštam, als eine »Flaschenpost« auf ihre Leser. Manchmal Jahre oder Jahrzehnte. Die dauernde Präsenz der Bilder von Terror und Gewalt, ihre Penetranz und Ver-

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fügbarkeit, weckt hingegen eher den Eindruck der Ausweglosigkeit. Sie machen uns zu Zuschauern, wo Zeugenschaft nötig ist, und belassen die Zeugenschaft eng an denen, die sie für sich selbst gerade nicht leisten können: bei den Traumatisierten selbst. Diese legen nun mit ihrem Schicksal Zeugnis ab von der conditio humana: dass das, was uns zustoßen kann, schwer wiegt und im Extrem ein einziges Gewaltwiderfahrnis ausreicht, um einen Menschen seelisch zu zerstören (Eckart/Seidler 2005: 22): »Ungern allerdings werden sich vorausschauende Menschen mit nur einem einzigen Leben dessen bewusst.« (Fischer-Homberger 2009: 79).

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Walter Dirks – Sozialist aus christlicher Verantwortung1 U LRICH B RÖCKLING

Als Walter Dirks im Mai 1991, wenige Monate nach seinem 90. Geburtstag, starb, sparten die Nachrufe nicht mit großen Worten: »Einer der bedeutendsten deutschen Publizisten dieses Jahrhunderts« sei er gewesen, »ein einzigartiger kritischer Hoffnungsträger linker Positionen«, »Maßstab und Vorbild«. In der Etikettierung waren sich alle einig: Zorniger alter Mann, Abt. Christentum und Sozialismus, besonderes Kennzeichen: katholisch. Eine äußerst seltene Spezies also, mehr respektvoll bestaunt als wirklich ernst genommen. Ein Ärgernis war er wohl nur noch den Fundamentalisten unter seinen Glaubensgenossen; ansonsten hatten ihn Rechte wie Linke längst zur »moralischen Instanz« entschärft, zu einem jener »unbequemen Mahner«, ohne die das Leben erst recht ungemütlich wäre. Genauer wollte es schon damals kaum jemand mehr wissen. Blättert man achtzehn Jahre später noch einmal in seinen politischen Kommentaren und Essays, wird der Abstand spürbar, der uns inzwischen von all dem trennt, was vor der Epochenschwelle von 1989 liegt. Nicht nur die Antworten, selbst viele Fragen sind fremd geworden. Und doch: Wer etwas über die politischen Hoffnungen und Enttäuschungen des vergangenen Jahrhunderts erfahren will, der lese Walter Dirks. Mehr als 4100 Titel aus den sieben Jahrzehnten zwischen 1921 und 1991 erfasst die Bibliographie seiner Veröffentlichungen. Es gibt wenige deutsche Publizisten, die so kontinuierlich und über einen so langen Zeitraum das politische Geschehen des vergangenen Jahrhunderts kommentiert und mit programmatischen Einmischungen begleitet haben.

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Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist erschienen in Hans-Rüdiger Schwab (Hg.), Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts, Kevelaer: Butzon & Bercker, S. 323-338.

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Geboren wurde Dirks am 8. Januar 1901 in Hörde bei Dortmund als viertes von sechs Kindern eines Handelsreisenden und einer Fürsorgerin. Die Familie zählte zum katholischen Bürgertum der Stadt. Vor allem über die berufliche Tätigkeit der Mutter kam Dirks aber früh in Kontakt mit den sozialen Problemen des Kohlenreviers. Zu den eindrücklichsten Kindheitserinnerungen gehörte ein Einsatz berittener Polizei gegen Streikende, den der Siebenjährige durch das Schlafzimmerfenster beobachtete. Das Bild der mit ihren Säbeln auf die Arbeiter einhauenden Gendarmen und den Kommentar der Mutter – »Da hängt nun diese ganze Stadt Hörde von dem einen Unternehmen mit den beiden Werken ab, und da bilden sich die Herren ein, das sei Privateigentum« – deutete er später als eine der biographischen Wurzeln seiner politischen Option für den Sozialismus.

J UGENDBEWEGTE ANFÄNGE Prägend wurde für Dirks insbesondere sein Engagement im Quickborn, einem katholischen Bund innerhalb der Jugendbewegung. Schon als Gymnasiast war er in seiner Heimatstadt einer Quickborn-Gruppe beigetreten, nachdem der begeisterte Wanderer zuvor mit den »Wandervögeln« auf Fahrt gegangen war. Nach dem Abitur begann Dirks 1920 ein Studium der Theologie. Während seiner Studienzeit in Paderborn und Münster erlebte er dann den Aufschwung des Quickborn und führte zunächst eine Gruppe und 1921/1922 den Westfalengau des Bundes. Kurz nach Ende des Krieges hatte der Quickborn die Burg Rothenfels am Main erworben und besaß damit ein Zentrum, das die lokalen Gruppen enger miteinander verband. Ein Ort zudem, der geradezu dazu einlud, ihn und damit auch den Bund romantisch aufzuladen. Ein Jahr später war der Religionsphilosoph und -pädagoge Romano Guardini, damals noch junger Kaplan, zum Quickborn gestoßen und rasch zum geistigen Mentor des Bundes aufgestiegen. Dirks begegnete ihm erstmals beim zweiten Quickborntag auf Burg Rothenfels im Sommer 1920 – ein Treffen, das für den weiteren Weg des Theologiestudenten große Bedeutung erlangen sollte. Im Jahr darauf hielt der Zwanzigjährige als Sprecher der Westfalen an gleicher Stelle eine viel beachtete Rede, in der er gegen die Statuten des sich bis dahin ausschließlich aus Schülern rekrutierenden Bundes die Aufnahme »werktätiger« Jugendlicher verteidigte. Das erfolgreiche öffentliche Auftreten und überhaupt das freiere Klima der Jugendbewegung stärkten sein Selbstbewusstsein und halfen ihm, das Stottern loszuwerden, das ihn seit seiner Kindheit behindert hatte. Im Quickborn begann Dirks auch seine publizistische Laufbahn. Die Aufsätze, die er zwischen 1921 und 1923 in verschiedenen Zeitschriften des Bundes veröffentlichte, zeigen den Einfluss Guardinis und die Eingebundenheit in den Selbstverständigungsdiskurs des Bundes. Sie dokumentieren aber auch, wie Dirks diesen

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Diskurs zu politisieren versuchte und schließlich den jugendbewegten Horizont überschritt. Anders als bei Guardini, anders auch als beim größten Teil katholischer wie nichtkatholischer Jugendbewegung war Dirks’ Blick geprägt von der Erfahrung der Industriegesellschaft und verweigerte sich der Illusion eines rousseauistischen »Zurück zur Natur«. Angesichts der sozialen Gegensätze konnte sich seiner Überzeugung nach der Quickborn nicht in ein beschauliches »Jugendreich« zurückziehen, den jungen Katholiken blieb gar nichts anderes übrig, als »mit der Umwelt zu ringen«. Wirklich in die Sphäre des Politischen stieß Dirks mit einem Aufsatz vom Mai 1923 vor, der ganz unter dem Eindruck der französischen Ruhrbesetzung und der deutschen Widerstandsaktionen stand. Er beschrieb darin zunächst seine spontane Empörung beim Einmarsch der französischen Soldaten, den Impuls, »sich hin(zu)geben an die Abwehrfront, sich solidarisch (zu) erklären mit der einheitlichen Kraft, die sich in Deutschland gegen den Feind bildet«. Doch der aufgedrehte Chauvinismus, der keinen Widerspruch duldete, machte ihn misstrauisch, und er ging auf Distanz zur antifranzösischen Mobilisierung, die von den Rechtsparteien und Freikorps bis zur KPD alle politischen Kräfte erfasste. Dirks verlangte Verständnis auch für die französische Seite: »Stellt euch vor, die Franzosen seien damals in unser Land eingedrungen und statt Nordfrankreichs sei Westfalen und das Rheinland zur Wüste geworden! Ob wir dann so mühelos eine ›objektive‹ Haltung in der Kriegsschuldfrage gefunden hätten?« Die moralische Erwägung mündete in die Frage »Was tun?«. Um bei der praktischen Verständigung zwischen den Fronten mitwirken zu können, dazu fehlten der katholischen Jugend nach Dirks’ Überzeugung »Unterlagen und Fähigkeiten«; ihr musste es daher »zunächst um die Haltung gehen«. Das bedeutete »ehrliches Bekenntnis« deutscher Schuld, »Abbau des Hasses« und Verzicht auf allen patriotischen »Klimbim«. Dirks wollte deeskalieren, doch er gab sich alle Mühe, seine Friedensliebe nicht als Schwäche erscheinen zu lassen. Ein heikles Unterfangen, das nicht zuletzt von dem enormen Rechtfertigungsdruck zeugt, dem er sich mit seinen ketzerischen Ansichten aussetzte. Es erforderte Mut, sich 1923 im besetzten Ruhrgebiet für ein deutsches Schuldbekenntnis und Verständigung mit Frankreich einzusetzen. Das gilt umso mehr, als Dirks aus persönlichen Gründen Anlass gehabt hätte, in das nationalistische Geschrei einzustimmen: Sein älterer Bruder Ewald war kurz nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen von einem betrunkenen französischen Soldaten auf offener Straße erschossen worden.

B EI DER R HEIN -M AINISCHEN V OLKSZEITUNG Nach Abbruch des Studiums 1923 arbeitete Dirks für einige Monate als Sekretär Guardinis in Potsdam. Dieser empfahl ihn dem reformkatholischen Publizisten

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Ernst Michel, der Dirks im Jahr darauf als Redakteur an die neu gegründete, dem linken Zentrumsflügel nahe stehende RHEIN-MAINISCHE VOLKSZEITUNG nach Frankfurt holte. Mit 24 Jahren übernahm er die Leitung des Feuilletons, für das er bis zur Übernahme des Blatts durch die Nationalsozialisten verantwortlich zeichnete. Das Profil der Zeitung prägte Dirks vor allem als politischer Redakteur. Von Michel übernahm er das Programm einer »Politik aus dem Glauben«, das sich gegen das traditionelle katholische Modell einer kasuistisch aus der dogmatischen Naturrechtslehre abgeleiteten und auf Absicherung des konfessionellen Milieus gerichteten »christlichen Politik« wandte. Zur gleichen Zeit, als Carl Schmitt die hierarchische Ordnung der römisch-katholischen Kirche zum Modell autoritärer Staatlichkeit verklärte, konzipierte Dirks eine demokratische politische Theologie und plädierte dafür, religiöse Überzeugungen in der Sphäre des Politischen nur mittelbar als subjektives Movens in Erscheinung treten zu lassen. Nicht generell, aber für den Bereich der Politik verengte er Religion auf Ethos und sublimierte religiöse Entscheidungen zu moralischen. Das direkte Band zwischen Religion und Politik war damit zerschnitten; Politik war »keine Aufgabe, die absolut vom Religiösen her zu begründen wäre«. Die »Welt« verlangte weltliche Antworten – freilich aus christlicher Verantwortung. Gegen den in der katholischen Soziallehre wirkmächtigen Universalismus setzte Dirks eine okkasionalistische Ethik und bezog das christliche Liebesgebot auf den konkreten historischen Augenblick: »Gott spricht durch die Situation«, lautete die Schlüsselaussage. Die theologische Zurückweisung des kirchlichen Totalitätsanspruchs erlaubte es ihm, die Grenzen des konfessionellen Milieus weit hinter sich zu lassen, ohne sein Selbstverständnis als katholischer Publizist aufzugeben. Unterstützte Dirks zunächst den Kampf der von Joseph Wirth geführten Zentrums-Linken um eine republikanische Ausrichtung der Partei, so gehörte er Ende der zwanziger Jahre zur kleinen Gruppe katholischer Intellektueller, die sich um Brückenschläge zur organisierten Arbeiterbewegung bemühten. Ausgehend von einer sozialpolitischen Aktualisierung der christlichen Liebesethik radikalisierte Dirks dabei seine Formel von der »Republik als Aufgabe« zur Entscheidung für den Sozialismus. Im Zentrum seiner Reformvorstellungen stand der Begriff der Wirtschaftsdemokratie, den er aus sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Diskussionen übernahm. Die lediglich formale, politische Demokratie sollte zur materiellen, auch den Bereich der Ökonomie einschließenden Ordnung erweitert werden. Stärker als die meisten Sozialdemokraten betonte Dirks dabei föderative und genossenschaftliche Elemente: Demokratisierung »von oben«, also Verstaatlichung der Produktionsmittel, und Demokratisierung »von unten« durch Selbstverwaltungsorgane und Produktionsgenossenschaften sollten einander ergänzen. Öffnung zur Gegenwart war auch das Programm seiner Kulturpublizistik: Mit großer Begeisterung verfolgte und rezensierte der passionierte Musikliebhaber das reiche Konzert- und Opernleben Frankfurts. Sein besonderes Augenmerk galt dabei

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dem zeitgenössischen Musiktheater; begeistert feierte er etwa die Inszenierungen von Bert Brechts und Kurt Weills Oper AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY sowie Paul Hindemiths CARDILLAC – auch das eine Minderheitenposition in der katholischen Publizistik der Weimarer Republik, die sich mehrheitlich gegen die Moderne abschottete und die künstlerische Avantgarde als »kulturbolschewistisch« denunzierte. Eine Reihe von Kommentaren zum Gotteslästerungsprozess gegen George Grosz, der in einer antimilitaristischen Bilderfolge einen Gekreuzigten mit Soldatenstiefeln und Gasmaske gezeichnet hatte, führte dazu, dass der Verteidiger des Malers ihn 1931 als theologischen Gutachter berief. In seiner Stellungnahme, die ihm heftige Kritik von katholischer Seite einbrachte, begründete Dirks, warum er in Grosz´ Bild eine legitime Verfremdung des Kreuzigungsmotivs sah, die dem Betrachter den Widerspruch zwischen der genuin pazifistischen Botschaft Jesu und ihrer Indienstnahme für einen ganz und gar widerchristlichen Krieg vor Augen führte. 1928 reduzierte Dirks seine Tätigkeit bei der RHEIN-MAINISCHEN VOLKSZEITUNG und begann zunächst in Frankfurt, dann in Gießen ein Studium der Soziologie und Philosophie. Im gleichen Jahr übernahm er die Redaktion des FRIEDENSKÄMPFERS, der Zeitschrift des Friedensbundes deutscher Katholiken, und verfasste unter dem Pseudonym Georg Risse – dem Namen des verehrten Großvaters – regelmäßig Beiträge für die DEUTSCHE REPUBLIK, eine von Joseph Wirth initiierte, entschieden demokratische Wochenzeitschrift. Aufsätze von Dirks erschienen ferner in den NEUEN BLÄTTERN FÜR DEN SOZIALISMUS sowie in der ARBEIT, dem Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes.

G EGEN

DIE FASCHISTISCHE

K OALITION

Spätestens seit den Septemberwahlen von 1930, als die Nationalsozialisten mit einem Schlag die Zahl ihrer Mandate von 12 auf 107 steigern konnten, stand die Auseinandersetzung mit diesem Gegner im Zentrum von Dirks’ Publizistik. Ein Gegner, an dem er wuchs. Sein Schreiben veränderte sich, neben und an die Stelle tagesjournalistischer Leitartikel und politischer Kommentare traten umfangreiche Artikelserien und Rezensionen. Auch kürzere Beiträge zielten stets aufs Grundsätzliche, auf theoretische Klärung des Phänomens Faschismus sowie der Strategien zu seiner Abwehr. Dirks gelang eine luzide soziologische Analyse des aufziehenden Nationalsozialismus, die den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Faschismustheorien nicht zu scheuen braucht und die zumindest im Bereich des deutschen Katholizismus keine Entsprechung findet. Seine Faschismus-Aufsätze beziehen ihre Klarheit nicht zuletzt aus der Nähe zu ihrem Gegenstand; dem publizistischen Kampf gegen die Nationalsozialisten und

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ihre intellektuellen Steigbügelhalter ging eine intensive Selbstklärung voraus. Auch aus diesem Grund sperren sich die Analysen gegen eindeutige Klassifizierungen und stehen »zwischen den Fronten«. Das Gefühl einer tief greifenden Krise, den antiliberalen Affekt und das Pathos der Entscheidung teilte Dirks mit dem politischen Gegner. Wie für die Nationalsozialisten gab es auch für ihn nur ein »über Weimar hinaus«. Um den bloßen Erhalt des Status quo konnte es nicht gehen, die Alternative hieß: Faschismus oder Sozialismus. Die parlamentarische Demokratie war lediglich das Feld, auf dem für das eine oder das andere gekämpft wurde. Dirks fundierte auch hier seine Dezision moralisch: Er stellte sich auf die sozialistische Seite, weil diese »einen Weg in die Zukunft zu weisen vermag, und auf die Kräfte hinweisen kann, die diesen zu gehen bereit und fähig sind«. Die Nationalsozialisten dagegen setzten an die Stelle einer solchen Perspektive »den unwirklichen Traum vom ›Dritten Reich‹«, und »im Rausch dieses Traumes« löste sich ihre Unruhe »falsch, unfruchtbar und gefährlich« auf. Neben der nationalsozialistischen Massenbewegung, für ihn im Kern eine Sozialrevolte verunsicherter und wirtschaftlich degradierter Mittelschichten, identifizierte er als soziale Basis der faschistischen Koalition die in der Demokratie politisch entmachteten militärischen Eliten, die von ökonomischem Abstieg bedrohten Großagrarier des Ostens, ferner die intellektuellen Protagonisten der »konservativen Revolution«, vor allem aber jene Kapitalfraktionen, die in der Krise ihre Monopolstellung durch eine direktere Form politischer Herrschaft absichern wollten. Dirks’ Überlegungen zum fehlenden Widerstandspotential der Katholiken, die den Nationalsozialismus zwar als pseudoreligiöse Konkurrenz ablehnten, deren politische Ordnungsideale aber starke Affinitäten zum autoritären Staat des Faschismus besaßen, wurden zur exakten Prognose. Die »schleichende Faschisierung« des Katholizismus, vor der er schon 1931 warnte, erfasste ihn zwei Jahre später allerdings zeitweise auch selbst: Nachdem die »antifaschistische Entscheidung«, die Dirks von seinen Glaubensgenossen eingefordert hatte, ausgeblieben und Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, versuchte er für kurze Zeit die »nationale Revolution« sozialistisch umzudeuten. Dirks machte begriffliche Anleihen bei den katholischen Reichstheologen, deren romantisierende Verklärung des Mittelalters er einige Jahre zuvor noch vehement kritisiert hatte, und schrieb zwischen Juli und Oktober 1933 eine Artikelserie über »Die Idee des Reiches« – ebenso wortreiche wie hilflose Versuche, die eigenen Positionen in den klerikalfaschistischen Diskurs zu übersetzen. Dirks wollte nicht verstummen, wollte – auch unter dem Druck von Verhaftungswellen und Gleichschaltungsmaßnahmen – als katholische Stimme öffentlich vernehmbar bleiben. Ratlosigkeit, Empörung, Resignation, nur allzu berechtigte Angst und was ihn sonst in diesen Monaten bewegt haben mag, davon sprechen seine Artikel allenfalls zwischen den Zeilen. Das verzweifelte publizistische Bemühen um »Anschlussfähigkeit« war jedoch nur von kurzer Dauer. Im Sommer 1933 nahmen die neuen Machthaber Dirks für

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einige Wochen in »Schutzhaft«, Anfang 1934 konfiszierten sie die RHEIN-MAINISCHE VOLKSZEITUNG und erteilten ihm vorübergehend Schreibverbot. Sein letzter Artikel in der Zeitung, eine Besprechung von Carl Schmitts Schrift VOLK – BEWEGUNG – STAAT, erschien am 15. Januar 1934. Während des Gefängnisaufenthalts verbrannte sein Bruder aus Angst vor einer Hausdurchsuchung das Manuskript von Dirks’ nahezu fertig gestellter Dissertation über Georg Lukács’ GESCHICHTE UND KLASSENBEWUßTSEIN.

»… DEN RICHTIGEN G EBRAUCH DES K ONJUNKTIVS Z EIT DER B ARBAREI HINWEGRETTEN «

ÜBER DIE

1935 erhielt Dirks eine Anstellung im Lokalteil, später als Musikkritiker im Feuilleton der FRANKFURTER ZEITUNG, bis die nationalsozialistische Regierung im Sommer 1943 auch diese einstellte und ihm die weitere Ausübung seines Berufs untersagte. Im Feuilleton der ehemals liberalen Zeitung, welche die neuen Machthaber zunächst als Feigenblatt gegenüber dem Ausland bestehen ließen und nicht völlig gleichschalteten, fand Dirks Kollegen, die seine Opposition zum Nationalsozialismus teilten. Gemeinsam bemühte man sich, Distanz zu den Sprachregelungen der Lingua Tertii Imperii zu wahren. Das ging freilich nicht ohne Zugeständnisse und Kompromisse, so wenn Dirks als Korrespondent der Zeitung über die Bayreuther Festspiele zu berichten hatte. Fernab von politischen Themen literarisierte sich sein Schreiben, aber bei aller Virtuosität seiner feuilletonistischen Prosa hatte es Züge von Eskapismus, wenn Dirks seiner alpinistischen Leidenschaft auch als Autor nachging, Frauengestalten der Oper porträtierte oder eine »diätetische Betrachtung« über »schlechte Laune« verfasste. Er selbst hielt im Rückblick den Versuch der Redaktion, wenigstens »den richtigen Gebrauch des Konjunktivs über die Zeit der Barbarei hinwegzuretten«, denn auch für ein durchaus problematisches Experiment. 1941 heiratete Dirks die Musiklehrerin Marianne Ostertag. Aus der Verbindung gingen vier Töchter hervor. Um den Unterhalt für die Familie zu sichern, schrieb Dirks in der Endphase des Krieges – niemals verwendete – Werbetexte für die Reichspost und bereitete im Auftrag des Herder-Verlags insgeheim ein Buchprogramm für die Zeit nach Hitler vor.

E IN P ROGRAMM

FÜR DEN

N EUBEGINN

Nach der Besetzung Frankfurts durch US-Truppen im April 1945 wurde er von der amerikanischen Militärbehörde in den Bürgerrat der Stadt berufen und setzte sich zunächst für die Gründung einer Sozialdemokraten, Kommunisten und Linkschris-

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ten umfassenden »Sozialistischen Einheitspartei« ein. Nach dem Scheitern dieses Vorhabens beteiligte sich Dirks am Aufbau der CDU Hessen, deren »Frankfurter Leitsätze« sich deutlicher als alle anderen Dokumente der Christdemokraten für einen »wirtschaftlichen Sozialismus auf demokratischer Grundlage« aussprachen. Als sich Anfang 1946 abzeichnete, dass in der CDU die marktwirtschaftlich orientierten Kräfte die Oberhand gewannen, zog er sich allerdings aus der Parteiarbeit zurück. Bekannt wurde Dirks vor allem zusammen mit Eugen Kogon als Herausgeber der FRANKFURTER HEFTE, die von April 1946 an monatlich erschienen und bezogen auf Auflage wie Autorenkreis als eine der bedeutendsten Nachkriegszeitschriften anzusehen sind. Anknüpfend an seine durch den Nationalsozialismus unterbrochene Publizistik der Weimarer Zeit entwarf Dirks dort seine Vorstellungen für den demokratischen Neuaufbau. Als elementare Fixpunkte der »zweiten Republik« bestimmte er Europa und den Sozialismus; als »Realisationsfaktoren« setzte er auf ein Bündnis von Arbeitern und Christen. Während sich für die einen die sozialistische Option unmittelbar aus ihren Interessen und der Geschichte ihrer Bewegung ergeben sollte, postulierte Dirks für die anderen einen umwegigen »Sozialismus aus christlicher Verantwortung«. Nicht die Nationalstaaten, sondern Europa als Großregion vergleichbarer Produktionsverhältnisse und kultureller Traditionen sollte als »Dritte Kraft« zwischen den Blöcken die Irrwege des in diesem Zusammenhang meist als amerikanisch identifizierten Kapitalismus wie des sowjetischen Bolschewismus überwinden. Dirks’ Stärken lagen zweifellos eher im Definitorischen als bei den Details der Realisierung. Wohl auch deshalb verharrte sein Blick vor allem auf der Ebene von Partei und Staat. Eine Auseinandersetzung mit den Streiks, Demonstrationen und Betriebsbesetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit fand allenfalls am Rande statt. Seine Aufsätze richteten sich vor allem an »bürgerliche« Christen. An ihrem moralisch, nicht in den ökonomischen Interessen begründeten Positionswechsel zum Proletariat hing die gesamte Konstruktion. Und diesen Bürgern war Sozialismus vielleicht zwar nahe zu bringen als gerechte Ordnung, die Klassenkämpfe überflüssig machte, nicht aber Klassenkampf als Voraussetzung sozialistischer Befreiung. Früh schon mischten sich Zweifel in die großen Entwürfe. »Wird es denn überhaupt gehen?« fragte er bereits in der ersten Nummer der FRANKFURTER HEFTE und bekannte sich zur »Hoffnung wider die Hoffnung«. Was in der Wirklichkeit des besiegten Deutschlands nicht zustande kam, ging Dirks in der Folge von den Grundlagen her an: Mit dem im Februarheft 1947 der FRANKFURTER HEFTE erschienenen Aufsatz »Marxismus in christlicher Sicht« unternahm er es, Konvergenzen und Divergenzen zur Philosophie der sozialistischen Arbeiterbewegung herauszuarbeiten. Damit wollte er zum einen nachweisen, dass Sozialismus und Christentum sich nicht wie »Feuer und Wasser« gegenüberständen, wie es August Bebel und Leo XIII. übereinstimmend behauptet hatten. Zum anderen sollte eine Rückbesinnung

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auf die Wurzeln die jeweiligen »Häresien« überwinden helfen – die christliche des Pakts mit dem Bürgertum und jene der Arbeiterbewegung, die Dirks in der Spaltung in a-marxistischen Sozialdemokratismus und vulgärmarxistischen Bolschewismus sah. Berührungspunkte zwischen Marxismus und Christentum fand er in der gemeinsamen Wendung gegen den deutschen Idealismus sowie in der Nähe von materialistischer Geschichtsauffassung und christlicher Nüchternheit. Eine Synthese von Marxismus und Christentum lag Dirks freilich fern, unüberbrückbar war vor allem die Kluft zum »Geschichts-Pantheismus« der Marxisten. Die historische Bedeutung von Marx selbst sah er darin, dass dieser als erster radikal »von der proletarischen Existenz aus gedacht« habe. Mit diesem Akt der Entäußerung zum leidenden Nächsten habe er eine zutiefst christliche Bewegung vollzogen, vor der die christlichen Denker seiner Zeit versagt hätten. Eine christliche Haltung gegenüber dem Marxismus habe, so Dirks’ Fazit, dessen Erkenntnisse offen und unbefangen zu prüfen, ihren absoluten Anspruch zurückzuweisen, selbst aber den absoluten Einschlag aller Erkenntnis wiederzugewinnen, indem sie diese in Beziehung zur von der Kirche vermittelten göttlichen Offenbarung setzt, und schließlich habe sie in glaubwürdiger Praxis ein Zeugnis dieser Offenbarung abzugeben. In dieser Praxis könnten und sollten Christen und Marxisten sich als Partner treffen. Mit seinen Überlegungen, die an das unvollendete Dissertationsprojekt der frühen dreißiger Jahre anknüpften, antizipierte Dirks Positionen, die in den sechziger Jahre als »Theologie der Befreiung« wieder auftauchten und erst dann in der Kirche breiter diskutiert wurden.

D ER RESTAURATIVE C HARAKTER DER E POCHE Nachdem die emphatische Aufbruchsstimmung der »Stunde Null« verflogen war, entwickelte er einen umso schärferen Blick für das Versagen gerade jener Kräfte, auf die er gebaut hatte. An Prägnanz gewann zumal die Option für Europa in der Kritik an den christlichen Glaubensbrüdern und -schwestern wie auch an den Arbeiterparteien. Dirks schrieb an gegen die katholische »Abendländerei«, die aus einer romantischen Geschichtsphilosophie Ordnungsvorstellungen destillierte, welche er als den Versuch kennzeichnete, »aus der bürgerlichen Krise durch ideologische Rückwendung zur vorbürgerlichen Welt herauszukommen, statt sie vorwärts zu überwinden«. 1950 diagnostizierte er in seinem wohl bekanntesten Essay den »restaurativen Charakter der Epoche«. Restaurative Zeiten, schrieb er, »sind Zeiten der fälligen, aber verpaßten Umwälzung. Die Restauration ist die Angst vor der Revolution«. Dirks ortete die Symptome in allen Parteien, in der Wirtschaft und im Alltag, im Städtebau, in Literatur, Philosophie und Theologie. Die Schuld gab er den matten Christen und Sozialisten, die zur radikalen Erneuerung berufen gewesen wä-

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ren und versagt hatten. Der Aufsatz fand ein großes Echo; der Begriff der Restauration wurde zum kritischen Schlagwort für das juste milieu der Adenauer-Ära. Im fast verzweifelten Bemühen, weder das eigene Programm einfach fallen zu lassen, noch es der Wirklichkeit abstrakt entgegenzuhalten, unterstützte Dirks in der Folge widerwillig schlechte Kompromisse, um noch schlechtere zu verhindern. Das gilt insbesondere für die Frage der deutschen Remilitarisierung, die ab 1950 zunehmend die innenpolitische Diskussion bestimmte. Dirks’ Kommentare dokumentieren das aufgenötigte Zurückweichen: Gutgeheißen hat er die Wiederbewaffnung zu keinem Zeitpunkt; die Westorientierung der Bundesrepublik unterstützte er und forderte weitergehende Schritte zur europäischen Einigung; als die erneute Aufrüstung unabwendbar schien, stimmte er dem Plan einer europäischen Armee mit Beteiligung deutscher Soldaten zu; die Konzeption eines neutralen, wiedervereinigten Deutschland hielt er für blauäugig, viele ihrer Vertreter für offen nationalistisch. Nachdem das Projekt einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft gescheitert war, plädierte er wieder für den Verzicht auf einen deutschen »Wehrbeitrag«; nach Ratifizierung der Pariser Verträge schließlich, die den Westdeutschen nationale Souveränität und das Recht auf eigene Soldaten gaben, hoffte er durch demokratische Kontrolle der Armee und Verzicht auf die Wehrpflicht die innenpolitischen Gefahren des Militarismus zu begrenzen. Was Dirks forderte, nahm in vieler Hinsicht die Entspannungspolitik der siebziger Jahre vorweg – einschließlich ihrer Begrenzungen: »Friedliche Koexistenz« und Rüstungskontrolle konnten zwar die Blockkonfrontation entschärfen, solange sich aber beide Seiten die Kriegführungsoption offen hielten, blieb das System der Herrschaftssicherung durch globale Erpressung wirksam. Blickt man im Spiegel der Dirks’schen Kommentare vom Jahr 1956, als die Bundesrepublik sich mit der Einbindung ins westliche Bündnissystem international etabliert hatte und die restaurativen Kräfte auch im Innern fest im Sattel saßen, zurück bis zu den Anfängen der zweiten Republik, so ergibt sich ein deprimierendes Bild: Schritt für Schritt hatte er – ebenso wie viele andere »heimatlose Linke« – von seiner Hoffnung auf ein sozialistisches, friedliches Europa zwischen den Blöcken Abschied nehmen müssen. Er hatte immer größere kleine Übel in Kauf genommen, um wenigstens noch Teile seiner ursprünglichen Konzeption bewahren zu können. Acht Jahre später, am Ende der Kanzlerschaft Adenauers, zog er eine Zwischenbilanz, die eigene Niederlage eingestehend, aber nicht versöhnt mit dem, was aus der »zweiten Republik« geworden war: »Im Endeffekt hat Adenauers überzeugter und pathetischer Antinationalismus, durch Pragmatismus und Machtwille verdorben, dem Nationalismus schließlich doch zum Sieg verholfen. Die Bundesrepublik ist unter ihm ein kleiner, mächtiger und arroganter Nationalstaat geworden.« Zu den FRANKFURTER HEFTEN waren inzwischen andere Wirkungsfelder hinzugekommen: Zwischen 1948 und 1957 war Dirks innenpolitischer Kommentator des Südwestfunks und freier Mitarbeiter verschiedener Tageszeitungen, darunter der

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NEUEN RUHR-ZEITUNG und der FRANKFURTER NEUEN PRESSE. In den fünfziger Jahren beteiligte er sich an empirischen Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und gab zusammen mit Theodor W. Adorno die FRANKFURTER BEITRÄGE ZUR SOZIOLOGIE heraus. 1956 übernahm er die Leitung der Hauptabteilung Kultur beim Westdeutschen Rundfunk. Bewogen, nach Köln zu gehen, hatte ihn neben der interessanten Aufgabe, die ihn dort erwartete, die materielle Unsicherheit des freien Publizisten. 1954 hatte ihn eine längere Krankheit damit konfrontiert, dass sein Auskommen – und das von Frau und Töchtern – von permanenter journalistischer Arbeitsfähigkeit abhing. Lukrative Angebote von Rundfunkanstalten waren bereits früher an ihn ergangen: 1949 hatte ihm der NWDR Hamburg die Stelle des Intendanten angetragen, 1955 der WDR. Beide Male hatte Dirks abgelehnt; eine vornehmlich administrative Tätigkeit entsprach weder seinen Neigungen noch Fähigkeiten. Die Leitung der Hauptabteilung Kultur verlangte und ermöglichte dagegen die Koordination der verschiedenen Redaktionen und die Einstellung qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nicht zuletzt auf Dirks’ Wirken war es zurückzuführen, dass der WDR in den fünfziger und sechziger Jahren als äußerst lebendiger Sender galt und das – je nach politischer Couleur als Schimpf- oder Ehrentitel gemeinte – Attribut »Rotfunk« erhielt. Dafür standen Sendereihen wie die »Umstrittenen Sachen« oder feste Einrichtungen wie das allabendliche »Kritische Tagebuch«. Sie lagen ganz auf der Linie des Dirks’schen Kulturbegriffs, in dessen Zentrum die politische Aufklärung stand. Der neue Beruf beschnitt die Zeit für eigene publizistische Aktivitäten. Sie wurde noch weiter eingeschränkt durch die Mitarbeit im »Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen«, jenem von Theodor Heuß eingesetzten Gremium unabhängiger Köpfe, das in 29 »Gutachten und Empfehlungen« zwischen 1953 und 1965 umfassende Anregungen zur Bildungsreform vorlegte. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils, das 1962 eröffnet wurde, hielt sich Dirks häufig als Rundfunkkorrespondent in Rom auf und wandte sich auch in der Bundesrepublik verstärkt Fragen kirchlicher Erneuerung zu. So zählte er Ende der sechziger Jahre zu den Gründern des Bensberger Kreises politisch engagierter Katholiken und gehörte zum Präsidium der katholischen Friedensorganisation Pax Christi.

F ÜR EINE

ANDERE

R EPUBLIK

Die Studentenbewegung blieb dem eher bedachtsamen Dirks bei aller Sympathie im Grunde fremd. Wie viele Künstler und Intellektuelle unterstützte er 1972 den Wahlkampf der SPD: Zusammen mit Carl Amery, Alfred Horné und Gottfried Erb, ebenfalls prominenten Linkskatholiken, bildete er innerhalb der Sozialdemokratischen Wählerinitiative einen Arbeitskreis, der gezielt um die Stimmen katholischer

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Wähler warb. Dirks fasste in dieser Kampagne ein besonders heißes Eisen an: die Reform des Paragraphen 218. Aus christlicher Perspektive verteidigte er die von der Regierungskoalition eingebrachte Fristenlösung, gegen die besonders katholische Kreise Sturm liefen. In den sechs Jahrzehnten seiner publizistischen Arbeit gab es wohl kaum eine Stellungnahme, die ihm so erbitterte Anfeindungen einbrachte wie diese. Dass man ihn von Kanzeln herab und in den Spalten der Kirchenpresse angriff, war noch vergleichsweise harmlos gegen die große Zahl anonymer Schmähund Drohbriefe, in denen sich die Gewaltphantasien des katholischen »Untergrunds« entluden. Die Unterstützung für Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen!« wich bald skeptischer Ambivalenz. Als im »Deutschen Herbst« 1977 die medial geschürte Terroristen-Hysterie ihren Höhepunkt erreichte und jeder, der nur an die Verhältnismäßigkeit der Mittel erinnerte, schon als »Sympathisant« diffamiert und damit der geistigen Mittäterschaft beschuldigt wurde, da verweigerte sich Walter Dirks den befohlenen Sprachregelungen. Ihm erschien es durchaus angemessen, den akuten Zustand einer Gesellschaft faschistoid zu nennen, in der die Sicherheitsorgane mit Rasterfahndung und Kontaktsperregesetz grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft setzten und Politiker aller Bundestagsparteien das noch als »wehrhafte Demokratie« feierten. Dirks widersetzte sich dem Druck der großen Vereinfacher und beharrte auf dem Recht zu differenzieren: Gewiss war es nicht sein Kampf, den die Rote Armee Fraktion führte, und gewiss empfand er weder offene noch »klammheimliche Freude« bei den von ihren Mitgliedern begangenen Morden, aber er hatte zumindest Verständnis für ihren radikalen Bruch mit einem Staat, der seinen nationalsozialistischen Vorgänger nur deshalb so perfekt hatte verdrängen können, weil sich das alte Personal und die alte Mentalität gut auch demokratisch verwenden ließen. Weit mehr verbunden fühlte er sich jedoch den neuen sozialen Bewegungen. Die FRANKFURTER HEFTE beobachteten mit Sympathie und Interesse die neuen Formen des Protests, ohne sich je als »Bewegungsblatt« anzudienen. Daran hinderte sie schon ihr ehrwürdiges Alter und das noch ehrwürdigere ihrer beiden Herausgeber. Bei aller Affinität sprach man doch eine andere Sprache. Die Zeitschrift ließ jedoch Aktivisten verschiedenster Initiativen zu Wort kommen, berichtete über Basisbewegungen in anderen Ländern und bemühte sich um historische wie soziologische Reflexion. Die Ökologie- und Friedensbewegung begriff Dirks sogleich als Aktualisierung eigener Anliegen. Hier fand er – mutatis mutandis – jene »politisierte Jugendbewegung«, wie er sie sechzig Jahre zuvor für den katholischen Jugendbund Quickborn gewünscht hatte. Pazifistisch hatte er sich ebenfalls bereits in der Weimarer Republik engagiert, und dass Widerstand gegen Naturzerstörung und Atomstaat dringend geboten war, leuchtete ihm unmittelbar ein. Auch die Gründung der grünen Partei begrüßte Dirks und plädierte, lange bevor das bei dieser und bei Teilen der SPD salonfähig wurde, für ein Zusammengehen

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von »Roten« und »Grünen«. Wichtiger als Wahlbündnisse war es ihm dabei, dass beide Seiten erkannten, dass sie trotz vordergründiger Konkurrenzen und Differenzen – im Grunde – fürs gleiche Ziel stritten. Die »rot-grüne Integration«, die er forderte, vollzog sich binnen weniger Jahre, allerdings mit etwas anderen Konsequenzen, als er sich das vorgestellt hatte. Es war nicht das einzige Mal, dass ein Ziel, für das Dirks sich publizistisch stark gemacht hatte, sobald es erreicht war, die vorausgegangenen Hoffnungen dementierte. Seine Plädoyers für eine »andere Republik« erschöpften sich freilich nicht in Appellen zu Konvergenz und Konsens. Immer gab es da auch die andere Seite: die Ermutigung zur Aufmüpfigkeit, zum Ungehorsam, der wie der »zivile« der Friedensbewegung auch vor staatlichen Paragraphen nicht halt machen durfte. Zu gut erinnerte sich Dirks noch an jene bittere Einsicht, die sein Freund und Kollege Eugen Kogon 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald mitgebracht hatte: »Diktaturen sollten nicht gestürzt werden müssen; Diktaturen sollten verhindert worden sein.« Auch wenn in der Bundesrepublik akut keine diktatorische Gewalt drohte, Zivilcourage, dieses »basisdemokratische Urgestein« war gefordert, um ein sehr wohl mögliches »autoritäres oder auch nur autoritäreres Regime, Eskalationen von Gewalt und Gegengewalt, den ›Atomstaat‹, den kälteren und kalten Krieg« abzuwenden. Dirks’ Skepsis, ob die Bonner Demokratie auch im Sog einer Krise demokratisch bleiben würde, hatte sich nach der »Wende« von 1982 noch verstärkt. Zwar war der Bundesrepublik ein Kanzler Strauß erspart geblieben und anders als in Großbritannien und den USA, wo Thatcher und Reagan »mit eisernem Besen kehrten«, verlief die restaurative Modernisierung in der Bundesrepublik vergleichsweise moderat. Doch war, seit Helmut Kohl mit von keinen Skrupeln getrübtem Machtinstinkt die Regierungsgeschäfte führte, wieder verstärkt der »Faktor Untertertia« in Rechnung zu stellen, jene gefährliche Verbindung »von totaler Erwachsenheit und Puerilität«, in der Dirks die Wurzel so vielen Unsinns und Unheils in der Politik erkannte. Im Sommer 1984 entschlossen sich Dirks und Kogon, beide waren inzwischen über achtzig, das Erscheinen der FRANKFURTER HEFTE zum Jahresende einzustellen. Vergeblich hatten die beiden Herausgeber nach jüngeren Freunden Ausschau gehalten, die die Zeitschrift hätten weiterführen können. Wirtschaftlich hatte sie bei zuletzt noch 3.000 Abonnenten schon des längeren nur dank Unterstützung von außen überleben können. Auf die Ankündigung der Einstellung erhielten Dirks und Kogon jedoch zahlreiche Hilfe- und Übernahmeangebote, darunter auch eines des damaligen SPD-Geschäftsführers Peter Glotz, in das sie schließlich einwilligten. Die beiden traten ab Januar 1985 in den Herausgeberkreis der sozialdemokratischen NEUEN GESELLSCHAFT ein, die seitdem unter dem Doppelnamen FRANKFURTER HEFTE/DIE NEUE GESELLSCHAFT erscheint. In der ersten Nummer unter gemeinsamer Flagge wies Dirks den nahe liegenden Verdacht zurück, sie hätten sich den traditi-

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onsreichen Titel von der SPD »abkaufen lassen« und erklärte die Fusion zur »Verbündung für eine andere Republik«. So sehr es ihn auch in den folgenden Jahren oft noch drängte, zu jenem Bündnis eigene Beiträge beizusteuern, so sehr entlastete es ihn doch auch, die Verantwortung für die Zeitschrift abgegeben zu haben. Es blieb nun mehr Zeit für seine Frau Marianne, für die Töchter und Enkelkinder, für das Musikhören, für das Krimilesen und für die zahlreichen Besucher, die nach Wittnau kamen, um diesen sanften zornigen alten Mann zu befragen. Seit seiner Pensionierung 1967 lebte Dirks als freier Schriftsteller in dem Dorf bei Freiburg. Seine Frau und er führten ein offenes Haus, und insbesondere viele jüngere Menschen suchten das Gespräch mit den beiden. Vom Schreiben ließ er auch im hohen Alter nicht, doch der Charakter seiner publizistischen Interventionen änderte sich: Die aktuellen Kommentare wurden seltener, an ihre Stelle traten verdichtende Reflexionen auf eigene Grundpositionen. Häufiger als früher schrieb Walter Dirks in der ersten Person, vor allem aber kreisten seine Gedanken immer wieder um einen Punkt: Die Suche nach dem verantwortlichen politischen Handeln in der aktuellen geschichtlichen Situation, die als Leitmotiv über seiner gesamten Arbeit stehen könnte, verdichtete sich jetzt zur Frage, wie die notwendigen Kräfte zu mobilisieren seien, um die Selbstzerstörung menschlicher Zivilisation aufzuhalten. Der »christliche Dezisionismus« (Karl Prümm), ein Grundzug von Dirks’ Publizistik schon der Weimarer Zeit, wurde in den späten Jahren fast eschatologisch aufgeladen und trat deutlicher hervor denn je. Kein Zufall, dass er 1985 dem Samaritergleichnis des Lukasevangeliums ein Buch widmete. Diese Geschichte bildet gleichsam den Schlüssel zu seiner christlich begründeten politischen Theorie: Politik hieß für Dirks Hinwendung zum gesellschaftlich produzierten, aber stets individuell erfahrenen Leid und die gemeinsame Anstrengung, dieses Leid von den Menschen zu nehmen, zumindest aber zumutbare Zustände zu schaffen. Gegen pessimistische wie optimistische Deterministen beharrte er auf seiner »Hoffnung wider die Hoffnung«. »Le pire n´est pas toujours sur«, beschloss er, Paul Claudel zitierend, einen Band mit autobiographischen Schriften, »es ist nicht sicher, daß die Geschichte schlimm ausgeht. Das rechtfertigt immer wieder den Versuch, sich wider die Wahrscheinlichkeit für reale Möglichkeiten des guten Endes einzusetzen.«

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L ITERATUR Schriften von Walter Dirks: Dirks, Walter (1987 – 1991): Gesammelte Schriften in acht Bänden, hg. von Fritz Boll, Ulrich Bröckling und Karl Prümm, Zürich: Ammann. Ders. (1931): Erbe und Aufgabe. Gesammelte kulturpolitische Aufsätze, Frankfurt a.M.: Carolus-Druckerei. Ders. (1947): Die zweite Republik, Frankfurt a.M.: Knecht. Ders. (1952): Die Antwort der Mönche, Frankfurt a.M.: Verl. d. Frankfurter Hefte. Ders. (1956): Ein Fest und ein Zeichen. Zehn Jahre Ruhrfestspiele, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg. Ders. (1964): Das schmutzige Geschäft. Die Politik und die Verantwortung der Christen, Olten/Freiburg i.Br.: Walter. Ders. (1967): Geschäftsführung ohne Auftrag, Olten/Freiburg i.Br.: Walter. Ders. (1972): Unser Vater und das Vaterunser, München: Kösel. Ders. (1981): Die Wette. Ein Christ liest Pascal, Freiburg/Heidelberg: Kerle. Ders. (1983a): Der singende Stotterer. Autobiographische Texte, München: Kösel. Ders. (1983b): War ich ein linker Spinner? Republikanische Texte von Weimar bis Bonn, München: Kösel. Ders. (1985): Die Samariter und der Mann aus Samaria. Vom Umgang mit der Barmherzigkeit, Freiburg i.Br.: Lambertus Verlag. Sekundärliteratur: Archiv der sozialen Demokratie (Hg.) (1991): Walter Dirks Bibliographie, hrsg. vom Archiv der sozialen Demokratie, bearb. von Ulrich Bröckling, Bonn: Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Blankenberg, Heinz (1981): Politischer Katholizismus in Frankfurt am Main 19181933, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Boll, Fritz/Linz, Manfred/Seiterich, Thomas (1980): Wird es denn überhaupt gehen? Beiträge für Walter Dirks, München/Mainz: Kaiser [u.a.]. Breuning, Klaus (1969): Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München: Hueber. Bröckling, Ulrich (1993): Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik. Zeitkritik und Gesellschaftstheorie bei Walter Dirks, Romano Guardini, Carl Schmitt, Ernst Michel und Heinrich Mertens, München: Fink. Ders. (1998): »Der ›Dritte Weg‹ und die ›Dritte Kraft‹. Zur Konzeption eines sozialistischen Europas in der Nachkriegspublizistik von Walter Dirks«, in: Köhler, Joachim /van Melis, Damian (Hg.): Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Stuttgart: Kohlhammer, S. 70-84.

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Der Angestellte und freie Mitarbeiter als Intellektueller: Walter Boehlich H ELMUT P EITSCH

Mit »Autodafé«, seinem »Kursbogen« zum KURSBUCH 15 des Jahres 1968, ist Walter Boehlich in die Geschichtsschreibung der Literaturkritik eingegangen; keiner seiner Texte ist häufiger nachgedruckt worden (vgl. die Nachweise Thein 2011: 332), und er gilt als die »intellektuelle Selbstpositionierung« (Lorenz 2011: 160) des Kritikers. Angeregt von zeithistorischen Arbeiten, die ›1968‹ in ›lange sechziger Jahre‹ eingebettet haben, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, in welchen Zusammenhängen Boehlich ein Selbstverständnis als Intellektueller seit dem Ende der fünfziger Jahr entwickelte. Rekonstruiert werden soll die Vorgeschichte eines Offenen Briefes, den er im April 1964 schrieb, als auch ein Radioessay in Buchform erschien. »Unsere Universitäten haben versagt. Ein offener Brief« druckte die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT am 8.5.1964; »Kritik und Selbstkritik« kam in dem »rororo-aktuell«-Band SIND WIR NOCH DAS VOLK DER DICHTER UND DENKER? 14 ANTWORTEN heraus und war vom Hessischen Rundfunk am 16.1.1964 gesendet sowie von der ZEIT als »Sind wir noch ein Volk der Dichter und Denker?« am 14.2.1964 vorabgedruckt worden: In beiden Texten ging es um die NS-Vergangenheit. »Der Autor B. ist ein armes geplagtes Schwein und kommt zu nichts, da der Verlag ihn einerseits als Verlag, anderseits als erpresserischer ÜbersetzungsAuftraggeber ausbeutet«, schrieb der seit 1957 im Suhrkamp Verlag tätige Lektor Boehlich am 19.9.1961 an den Mitherausgeber des MERKUR Hans Paeschke, dem er zwischen 1948 und 1958 jährlich zwei bis drei Beiträge geliefert hatte: »Er wird in der nächsten Zeit kaum etwas schreiben können.« (DLA, Bestand Merkur) Einige Monate vorher war der letzte Artikel Boehlichs in der Schweizer DIE TAT erschienen, an deren Feuilletonredakteur Max Rychner Boehlich ebenso von seinem akademischen Lehrer Ernst Robert Curtius wie an den MERKUR vermittelt worden war; über den Literaturkritiker Rychner hatte Boehlich in den Jahren, als er DAAD-

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Lektor in Aarhus und Madrid gewesen war, wiederholt im MERKUR geschrieben (1950, 1953, 1957) und ihm von 1951 bis 1957 jährlich mindestens zwei Rezensionen geliefert. Boehlichs letzter Artikel in der TAT war ein Nachdruck: »Die Einheit der europäischen Literatur. Zu Ernst Robert Curtius: ›Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie‹« war acht Tage vorher in »DIE ZEIT« (Boehlich 1961a) erschienen. Auch Rychner war von Boehlich versichert worden: »Der Verlag ist nach wie vor mörderisch, eher mehr als weniger, und ich komme nicht zu dem, wozu ich gerne käme, zum Beispiel zum Schreiben. Vielleicht wieder im nächsten Jahr.« (DLA, Bestand Rychner, Brief vom 7.11.1959) Seit 1960 schrieb Boehlich tatsächlich, aber nicht mehr für MERKUR und DIE TAT, sondern bis 1964 jährlich bis zu sieben Aufsätze für DIE ZEIT, 1961 begann er für den Rundfunk zu arbeiten, zunächst den Hessischen Rundfunk, dann seit 1963 auch den SDR und 1964 den WDR. Das Schreiben für DIE ZEIT begann mit einer redaktionellen Anfrage an den angestellten Verlagslektor als Experten, wie sie auch von anderen Presseorganen an Boehlich gerichtet wurde, ob z.B. die DÜSSELDORFER NACHRICHTEN eine »Umfrage: Findet das Theater im Buche statt?« veranstalteten und Boehlich antwortete: »Der Lektor: Das Drama findet im Buche statt« (DÜSSELDORFER NACHRICHTEN, 18.3.1961) oder vom Mitarbeiter von Brechts BRD-Verlag eine Stellungnahme zum Brecht-Boykott nach dem Bau der Mauer wünschten: »Angst vor der Freiheit« (DÜSSELDORFER NACHRICHTEN, 10.3.1962). Mit Boehlichs Texten für die Hauszeitschriften des Verlags vergleichbar war die – jeweils einmalig bleibende – Vorstellung von Suhrkamp-Titeln als Fortsetzungsromane in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG (27.10.1961: »SIMON von Giraudoux. Unser neuer Roman«) und der DEUTSCHEN ZEITUNG (14.9.1962.: Ramon J. Senders »DER KÖNIG UND DIE KÖNIGIN. Zu unserem heute beginnenden Fortsetzungsroman«). 1960 lud der Feuilletonchef der ZEIT Rudolf Walter Leonhardt, der von 1958 bis 1973 amtierte, als die Auflage von 1960 66.000 auf 1973 330.000 stieg (Janßen/ von Kuenheim/Sommer 2006: 131, 260), den Suhrkamp-Lektor unter der Überschrift »Bitte, korrigieren Sie mich…« (DIE ZEIT, 2.12.1960) ein, zu antworten auf seine Unterscheidung von »drei Möglichkeiten der Literaturkritik«, entweder sachlich oder persönlich, entweder nüchtern oder farbig zu rezensieren, anhand von Robert Neumanns Besprechung von Alfred Anderschs DIE ROTE, Petra Kipphoffs Besprechung von Carl Zuckmayers Werkausgabe, seiner eigenen von Eckart Kronebergs DER GRENZGÄNGER und Günter Blöckers von Martin Walsers HALBZEIT. Außer Boehlich wurde ein weiterer damaliger Suhrkamp-Lektor gefragt, Hans Magnus Enzensberger, der wie Leonhardt und der dritte Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, Mitglied der Gruppe 47 war. Von den achtzehn Artikeln, die Boehlich bis Mai 1964 der ZEIT schrieb, entsprechen diesem Auftakt mit Gegenwartsliteratur nur drei, davon einer allerdings ein Geburtstagsglückwunsch für einen Hausautor, Hans Erich Nossack (3.2.1961). Wichtiger als der Verriss von HORST BIENEKS WERKSTATTGE-

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SPRÄCHE MIT FÜNFZEHN DEUTSCHEN AUTOREN

(26.10.1962) ist der wesentlich prinzipiellere »Friedrich Sieburgs Unmut« (Boehlich 1962). Er ist fünf Jahre nach Erscheinen für die Geschichtsschreibung der Gruppe 47 kanonisiert worden, seit ihn Reinhard Lettau in das in Zusammenarbeit mit Hans Werner Richter entstandene HANDBUCH »GRUPPE 47« aufnahm (LETTAU 1967: 347-352). Boehlich rezensierte eine Rezension, er antwortete auf Friedrich Sieburgs »Freiheit in der Literaturkritik« (FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 1.12.1962; Sieburg 1969: 195-199), eine Besprechung von Günter Blöckers KRITISCHES LESEBUCH. LITERATUR UNSERER ZEIT IN PROBE UND BERICHT. Sieburgs Rechtsnachfolger verweigerten Lettau den Abdruck, als der Artikel zusammen mit Boehlichs Antwort erscheinen sollte. Zu den namentlich genannten ›Figuren‹ Martin Walser, Günter Grass, Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll hatte Sieburg, der seit 1956 das »Literaturblatt« der FAZ leitete, Blöcker zustimmend, geschrieben: »Die unwürdige Lobhudelei, die sich über diese Figuren wie eine Dunstglocke gesenkt hat, muß einmal durchstoßen werden, wenn die Mitläuferei nicht schließlich die einzige kritische Gangart in Deutschland werden soll.« (Sieburg 1969: 198) Der Literatur »dieser Figuren«, die ausnahmslos zur Gruppe 47 gehörten, warf Sieburg vor: »Sie fügt dem, was uns zu einem Ganzen verbinden könnte, nichts hinzu« (ebd.): »es ist ihr nicht gegeben, den fragwürdigen Zusammenhalt der Deutschen zu verstärken. Und da nur jene Literatur, die einmal aus dem Kern der Nation hervorgegangen ist, ein Teil der Weltliteratur werden kann, so ist uns auch der Weg zur Weltliteratur versperrt.« (Ebd.: 211).

Boehlichs Gegenargumentation, dass Sieburgs wahnhafte Feindschaft gegen die Gegenwartsliteratur den Kritiker aus der Literatur ausschlösse (Lettau 1967: 347), unterschied sich von der des ZEIT-Feuilletonchefs: »Nicht daß sie unisono (›im Sprechchor‹) tönte, kennzeichnet die deutsche Literaturkritik, sondern daß ein Kritiker vor nichts so große Bedenken hat wie davor, für wenig originell gehalten zu werden, weil er noch einmal im gleichen Sinn schreibt, wie ein anderer schon geschrieben hat.« (Leonhardt 1963: 250)

Rhetorisch fragend, ob sieben namentlich genannte Kritiker in das Bild der »›Meute‹« passten, von der ausschließlich »die beiden aufrechten Männer Sieburg und Blöcker […]›Unabhängigkeit‹« bewahrten, listete Leonhardt auch Walter Boehlich und Max Rychner auf, außerdem: »Werner Weber? […] Marcel Reich-Ranicki? […] Walter Jens? Joachim Kaiser? Curt Hohoff?« (Ebd.: 249) Boehlichs Sieburg-Kritik wurde im Umkreis der Gruppe 47 unterschiedlich aufgenommen: Während Gerhard Schoenberner in einem Brief an Hans Werner Richter Boehlichs Artikel lobte (vgl. Schutte 1989: 275), hielt Roland H. Wiegenstein Boehlichs Erklärung von Sieburgs »Feldzug« gegen die Gruppe 47 aus per-

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sönlicher Eitelkeit für unzureichend: Wesentlicher sei die Erinnerung an die braunen Flecken von Sieburgs Vergangenheit (Ebd.: 105). Boehlichs Schweigen über diese in dem ZEIT-Artikel steht in einem auffälligen Kontrast zu der Rolle, die sie in seinen privaten Briefen spielte, als er sich mit seinem Freund Peter Wapnewski, seit dieser 1959 ein »Ordinariat« (AdK, Bestand Wapnewski, 31, 7.11.1959) für Germanistik übernommen hatte, über Literaturkritik von Sieburg und Blöcker stritt. Zu Sieburgs Rezension von Walsers »Halbzeit« schrieb Boehlich dem Freund: »Da bin ich anderer Meinung als Sie. Schön, ich finde die gerügte Formulierung von Walser wirklich nicht glanzvoll, aber ist es wirklich besser vom ›Schoss‹ zu sprechen? Und Takt? Ausgerechnet von Herrn Sieburg? Jedermann weiss, wie grosses persönliches Interesse Sieburg daran haben muss, dass an mancherlei nicht gerührt werde. Der Walser ist also ein junger Barbar, der einer Gesamtbarbarei Tür und Tor öffnen wird? Und deswegen muss man ihn tadeln? Ja, da hätte ich es doch wesentlich lieber gesehen, wenn Herr Sieburg vor und nach 1933 etwas gegen eine uns wohlbekannte effective Barbarei gesagt hätte. Das tat er nicht. Wenn man ein Schriftsteller wie Walser (oder Enzensberger) ist, soll man zum Teufel, das Kind beim Namen nennen, so deutlich wie möglich. Je mehr Kinder von so viel Leuten wie möglich beim Namen gekannt werden, desto mehr Aufmerksamkeit wird man für sie haben. Walser wird uns nie eine neue Hitlerei bescheren, nie mit ihr pactieren. Aber Sieburg? Mir scheint, da hat das richtige Schwein das falsche zu schlachten versucht. Und Sie finden das schön? Klugheit soll darin bestehen, sich die Augen zu verbinden und allen Beteiligten vorzumachen, dass wir in einer schönen, vollkommenen Welt leben, wie es das Prinzip der FAZ ist? […] Im Gegensatz zu Ihnen bin ich für die Beseitigung von Tabus. Wir brauchen keine sozialen Tabus, keine politischen, kaum ethische. Die Wahrheit ist mehr wert und heilsamer als jede noch so schöne Zwecklüge. Halten Sie es für richtig dass man einfach nicht vernünftig über tausend Fragen sprechen kann? Nicht über die Folgen des verlorenen Krieges, nicht über die Verbrechen der Hitlerei, nicht über das Factum, dass Deutschland alles andere ist als ein christlicher Staat, nicht über Abtreibung, Krankenversicherungsreform, Agrarreform, was weiss ich? Das werden wir alle eines Tages wieder ziemlich teuer bezahlen müssen.« (AdK, Bestand Wapnewski, 11.12.1960, S. 2/3)

Schon Boehlichs Einspruch gegen Wapnewskis Lob von Blöckers HALBZEITBesprechung mündete in eine Einschätzung der innenpolitischen Situation der Bundesrepublik als nicht entnazifiziert und der außenpolitischen als gefährlich durch die Forderungen nach Atomwaffen und Grenzrevision: »Je länger es dauert, desto mehr Zorn packt mich über die widerwärtige Politik der NSCDU. Stückweise wird alles erbärmlicher. Das öffentliche Leben ohne Nazis? Sie müssen bevorzugt wiedereingestellt werden, auch wenn man weiss, dass sie Schaden stiften werden. Sie werden nicht einmal bestraft, auch wenn sie Verbrecher waren. Sie sitzen überall, werden überall ge-

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deckt, ob sie nun Globke (ich habe seinen Commentar gelesen!) oder Sawade heissen. […] Keine Wehrmacht mehr? Bald wird sie Atombomben haben. Dann wenigstens den Bürger in Uniform? Jeden Tag weniger. […] Nicht einmal in Weimar sind die moralischen Prämissen der Demokratie so brutal von den Regierenden selbst zerstört worden wie unter Adenauer. Da wird für jeden gebürgt, wenn er nur dem Kanzler gefällt.« (AdK, Bestand WAPNEWSKI, 3.11.1960, S. 3)

Dass sich in Boehlichs veröffentlichten Texten in dieser Zeit keine ähnlich scharfen politischen Äußerungen finden, hat seine Entsprechung in der Distanz, auf die er im privaten Briefwechsel geht gegenüber damals viel beachteten Stellungnahmen von Autoren zur aktuellen politischen Situation; Boehlich distanziert sich sowohl von Wolfgang Weyrauchs Anthologie von 1960 als auch von dem im Folgejahr von Martin Walser herausgegebenen Eingriff in den Bundestagswahlkampf: »Zu ›Ich lebe in der Bundesrepublik‹ kein Wort. Es ist ein miserables Buch, in dem fast alle Beiträge auf die eine oder andere Weise schlecht sind.« (AdK, Bestand Wapnewski, 11.12.1960, S. 2) Dem noch schärferen Urteil ein Jahr später: »Die ›Alternative‹ ist in der Tat idiotisch. Keinen Pfennig für dieses Geschwätz«, geht die Reflexion voran: »Der Blick über die Mauer macht nicht besser, was bei uns schlecht ist. Wirklich nicht. Er macht es eher noch schlechter, weil Adenauer nicht verstanden hat, ein echtes Gegenbild zu Ulbrichts Diktatur zu schaffen. Natürlich muss eine Demokratie Mängel haben. Aber solche?« (AdK, Bestand WapnewskI, 11.10.1961, S. 3)

Der ›Blick über die Mauer‹ nach dem 13. August im Dissens über Blöckers Unterstützung des Brecht-Boykotts veranlasste Boehlich zu einer Unterscheidung der Positionen von Verlagslektor und Hochschullehrer: »Was Sie über Blöcker schreiben, hat mich freilich wieder etwas entmutigt. […] er deduziert: Brecht ohne Marxismus ist kein Brecht, Marxismus wollen wir nicht, also wollen und sollen wir auch keinen Brecht! […] Blöcker ist Sieburgs Rechtsaussen, in jeder Zeile; er kann einem einfach nicht einleuchten. Mich wundert, dass Sie darin anders denken als ich. Hat mich der Wechsel von der Universität zu dem Verlage so angekränkelt? Oder trennt Sie die Universität, die nun einmal reactionär ist, von einem Teil der Wirklichkeit?« (Ebd.: S.1/2)

Wenn sich Boehlich in seiner Sieburg-Kritik in der ZEIT im Unterschied zu seinen privaten Briefen an die – von Hermann Lübbe 1983 positiv eingeschätzte – »gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Thematisierung individueller [...] NaziVergangenheiten« (Lübbe 1987: 15) hielt, so hatte diese nicht gegolten in den Briefwechseln zwischen Boehlich und den Redaktionen, von denen sich Boehlich

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um 1960 verabschiedete, um sich der ZEIT zuzuwenden, aber auch einer Monatsschrift, dem Westberliner MONAT, in dem er mit einer Gegenrezension – gerichtet gegen seinen bisherigen Schweizer Redakteur – erstmals seit 1955 wieder etwas publizierte. Zwei Hefte, nachdem Max Rychners »Von der Politik der Unpolitischen. Die Briefe Thomas Manns an Paul Amann und Ernst Bertram« erschienen war, führte DER MONAT Boehlichs Aufsatz »Der Unpolitische und der Bücherverbrenner. Noch einmal Thomas Mann als Briefsteller« »als eine nützliche Ergänzung zur Darstellung Rychners« ein, »weil er cum ira et studio geschrieben« sei (Boehlich 1960/61: 5). Boehlichs ›Zorn und Eifer‹ richtete sich gegen Rychners Bild der Gegenwartsliteratur. Gegen die Autoren, »die heute, um Kompensationsstücke für die tausend Jahre zu liefern und um die jüngste Vergangenheit, wie sie formelhaft behaupten, zu ›bewältigen‹, wieder einer Faszination durch das Untere, durch Dreck und Bosheit verfallen« (Rychner 1960/61: 52), berief sich Rychner auf Curtius, um ihre Werke »Saisonblümchen« zu nennen: »Man betrachte sich doch die Leistungen dieses Aktualitätsdranges jeweils nach zwei Jahren – allein der Staubsauger braucht sich noch damit zu befassen.« (Ebd.: 53) Während Rychner den Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Ernst Bertram besprochen hatte, ohne mehr als zwei Sätze und das Adjektiv »verschrullt« (ebd.: 53) für Bertrams Rolle im Faschismus zu finden, schrieb Boehlich so, dass es zum Bruch mit Rychner kam: »ich glaube in Ihrem Aufsatz Argumente gefunden zu haben, die deutschen Nationalisten oder Rechtskulturpolitikern Wasser auf die Mühlen geben könnten« (DLA, Bestand Rychner, 7.2.1961). Zwei Wochen vorher hieß es in einem Brief Boehlichs, dessen Abwägung von Sozialismus und Nationalismus Rychner dick mit Rotstift markierte: »Warum eigentlich sind Sie so schrecklich verdrossen über die sogenannten jüngeren Schriftsteller? Sie sind doch nicht alle aus dem selben Holze geschnitzt. Daß viele von ihnen links stehen, haben Sie doch in den zwanziger Jahren ebenso erlebt, und es kommt mir vor, daß uns allen wohler wäre, wenn damals nicht auch zu viele rechts gestanden hätten. Sie werfen ihnen vor, daß sie keine Christen seien. Ich glaube, das kann man nicht, wenn man die Rolle der Kirchen unter den faschistischen Regimes kennengelernt hat, und auch sonst ist das jedermanns eigene Sache. […] Ich finde es auch nicht richtig, daß Sie den jungen Leuten vorwerfen, sie wollten sich DDR-fähig halten. Sie wissen, ich bin ein Liberaler, aber das hindert mich nicht zu erkennen, daß der Sozialismus (kein sowjetischer) in unserer Welt notwendiger ist als jede Form von Nationalismus. Er hat uns ins Unglück gestürzt, […] und wir brauchen ihn nicht mehr. Wenn wir nicht lernen, uns in Europa so einzurichten wie die Leute sich früher in ihren Nationen eingerichtet haben, werden wir an der Oder-Neiße-Grenze ersticken.« (DLA, Bestand Rychner, 25.1.1961)

Wenn es im Fall der TAT durch Rychners Schweigen über Ernst Bertrams ›individuelle Nazi-Vergangenheit‹ zum Bruch kam, indem Boehlich sie im MONAT öffent-

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lich thematisierte, war seine »Neigung«, im MERKUR zu publizieren, wie er am 8.5.1961 Paeschke schrieb (DLA, Bestand Merkur), seit der Auseinandersetzung mit den Herausgebern über die ›individuelle Nazi-Vergangenheit‹ Leo Weisgerbers »erloschen«, in der diese sich auf die Seite des von Boehlich kritisierten Sprachwissenschaftlers gestellt hatten: »Die Weisgerber-Lösung finde ich alles andere als schön. Sie sollen nicht die Rolle einer Spruchkammer übernehmen, aber Ihre Mitarbeiter sollten ihre Meinung sagen dürfen. Wenn jemand einmal ein strammer Pg. gewesen ist und heute ein sachliches und ordentliches Buch schreibt, so hat natürlich niemand einen Grund, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Aber wenn einer eine idiotische Sprachtheorie erfindet, die ziemlich genau das ist, was der Herr Hitler braucht – und dies auch deutlich betont –, jetzt aber ein oder zwei Wörtchen ändert und uns dieselbe Theorie serviert, da darf, soll und muss man nach meiner Meinung auf seine Vergangenheit eingehen. Solche Auseinandersetzungen sollen und müssen geführt werden, auch wenn sie weder für die Redaction noch für die Beteiligten immer erquicklich sind. Aber Sie wollen eben immer keinen Anstoss erregen, und das verbittert mich etwas. – Dass die Berichtigung auf Ihre Kosten ginge, kann ich auch nicht finden, denn sie geht eindeutig auf die meinen. Was heisst eigentlich ›eine politische Verdächtigung‹??? Ist die Wahrheit eine Verdächtigung? Ich wollte durchaus etwas Politisches sagen, weil sich die sachliche Beurteilung des Buches von der politischen seines Autors nun einmal nicht trennen lässt.« (Ebd.: 10.12.1955)

Bevor die Herausgeber endgültig die Veröffentlichung von Boehlichs Erwiderung auf Weisgerbers ›Berichtigung‹ ablehnten (Ebd.: 10.5.1957) – den Druck des letzteren hatte Paeschke gegenüber Boehlich begründet: »Wir würden zur Rolle einer Spruchkammer verurteilt, wenn wir uns nicht energisch zu einem Schlustrich [sic] entschlossen hätten, der freilich auf Kosten der Herausgeber geht « (Ebd.: 13.12.1955) – , wurde Boehlich in der Verteidigung seiner Antwort gegen Einwände Paeschkes sehr grundsätzlich: »Warum darf man denn jetzt nicht mehr von Faschismus reden? Die ganze Welt hat sich daran gewöhnt, die restaurativen Rechtsdictaturen mit diesem Namen zu bezeichnen, was durchaus seine Vorteile hat. Es gibt eine Menge Gedanken, die vielleicht nicht vollkommen hitlerisch oder nationalsozialistisch sind, die man aber sehr gut als faschistisch bezeichnen kann. Ich habe mit Absicht oft diesen allgemeineren Ausdruck gewählt, damit Weisgerber nicht hinterher sagen kann: was, ich soll Nationalsozialist gewesen sein! Keine Spur! – Die Schwierigkeit liegt darin, dass Nationalsozialismus bei uns an die Partei gebunden war, während jemand sehr gut ausserhalb der Partei Faschist sein und dadurch die Partei fördern konnte, oder Wasser auf ihre Mühlen leiten usw. usw.« (Ebd.: 1.12.1956)

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Friedrich Kießling belegt u.a. mit einem Brief Boehlichs an den MERKUR »die ausgesprochen-unausgesprochene Präsenz des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit«: Paeschke und sein Mitherausgeber Joachim Moras »beobachteten […] sehr genau, welche ihrer früheren Mitarbeiter [von vor 1945] als rehabilitiert gelten und somit als Autoren wieder in Frage kamen, und in anderen Fällen bemühten sie sich, […] selbst dazu beitragen« (Kießling 2012: 54). Wer im MERKUR publizierte‚ galt als ›rehabilitiert‹; seine ›individuelle Nazi-Vergangenheit‹ durfte, wie Boehlich erfuhr, nicht ›thematisiert‹ werden, auch wenn die Herausgeber gewohnt waren, dass er solche in seinen Briefen an den MERKUR zur Sprache brachte, z.B. wenn er Rezensionen ablehnte: »[…] höchste Vorsicht vor Martini. Unter Hitler schrieb er mit Unterstützung Darrés ein Buch über das Bauerntum in d. dt. [sic] Dichtung (bis zum 18. Jh.), ohne genügende philologische Vorbildung, aber in der Annahme, das sei opportun, womit er ja auch nicht einmal Unrecht hatte. Die Umstellung kam ruckartig nach 45; da hatte ers [sic] plötzlich mit der expressionistischen Lyrik […] und mit dem weltbürgerlichen Wieland. Ich halte auch wissenschaftlich wenig bis gar nichts von ihm.« (DLA, Bestand Merkur, 18.6.1951)

Oder: »Über Emrich mag ich nichts schreiben, weil er im Amt Goebbels war.« (DLA, Bestand Merkur, 20.7.1961) Auch in den Briefen an Rychner ›sprach‹ er das ›Unausgesprochene‹ aus, wenn er am 20.5.1956 die Wahl von Leo Weisgerber als Redner der Universität Bonn bei der Beerdigung von Curtius »herz- und taktlos« nannte, weil er einer der »Bonner Völkischen« gewesen sei wie Karl Justus Obenauer, »der als Decan Thomas Mann eigenhändig den Ehrendoctor aberkannte« (DLA, Bestand Rychner, S. 1). Nach dem Bruch mit dem MERKUR und Rychner schrieb der Suhrkamp-Lektor Boehlich in zwei Zeitschriften, die zunehmend begannen, individuelle NaziVergangenheiten öffentlich zu thematisieren, und deren Redakteure, mit denen Boehlich zu tun hatte, auch Curtius-Schüler waren, sowohl Leonhardt bei der ZEIT als auch Hellmut Jaesrich beim MONAT (vgl. Bödeker 1993: 159). Obwohl sich die MONAT-Redaktion in einem redaktionellen Kommentar von denen abgrenzte, die »das politische Sündenregister immer wieder aus dem Schrank [holen], um mit dieser Waffe die Urteile und den Einfluß des mächtigsten Literaturkritikers zu bekämpfen«, meinte sie sich gezwungen an die antisemitische Kollaborationspropaganda Friedrich Sieburgs zu erinnern, weil dieser in einem aktuellen Interview »seinen Gegnern den Vorwurf« gemacht habe, »sich nicht ihrer Vergangenheit zu erinnern: ›Sie nehmen eine Art Jungfräulichkeit an, die ich ein wenig degoutant finde.‹« (DER MONAT 15, 1962/63, H. 172, S. 8) Sieburg, für dessen Position DER MONAT sarkastisch die Formel »Alles verstehen heißt alles verzeihen« benutzte, wurde als jemand bezeichnet, der »so wunderhübsch« vor allem samstags Literaturkritik schreibe (ebd.).

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»Paßt mir der alte mächtige Herr nicht, der immer am Samstag so wunderhüb-

sche Feuilletons schreibt, so wird sich doch bald jemand finden, der ihn als ›Nazi‹ entlarvt«, hieß es wenige Wochen später in einem Artikel »Wie man Argumente ersetzt« im Feuilleton der ZEIT: »In unserem Geistesleben grassiert eine gräßliche Mode, die von Jahr zu Jahr schlimmer wird: Es ist der Trick mit der Biographie« (Krüger 1963). Am 22.2.1963 beantwortete der Leiter des literarischen Nachtprogrammes im SWF Baden-Baden, Horst Krüger, die Titelfrage folgendermaßen: »Ich nenne sie die biographische Methode. Die biographische Methode sieht nicht den Mann und seine Argumente in der Gegenwart, sie gräbt in der Vergangenheit. Laß ihn nur reden, laß ihn nur alle Trümpfe ausspielen, ich forsche inzwischen in seiner Jugend herum. [...] Da muß sich doch etwas finden lassen. [...] Da kommt dann auch aus der unbewältigten Vergangenheit ein Sätzchen, etwas vermodert, aber frisch genug, um anzuklagen, auf den Tisch. [...] Siehe da, da sitzt ein häßlicher, kleiner, braver Mitläufer drinnen. Der Mann ist nun mühelos zu erledigen. Seine geistige Position heute, seine etwaige Bewährung seit vielen Jahren interessieren nicht. An die Stelle des Arguments ist die Biographie getreten.« (Ebd.)

Krüger plädierte für das Aussetzen der ›biographischen Methode‹, was diejenigen angehe, die heute »fünfzig oder sechzig« seien, nicht seinen eigenen Jahrgang; die Jüngeren bezog er aber ausdrücklich in den Begriff der Generation ein: »Tun wir doch nicht so, als hätten wir nicht alle diese elenden dreißig [sic! von 1933 bis 1963, H.P.] Jahre Katastrophenpolitik hinter uns. Wir sind alle mitschuldig. Das ist das Schicksal unserer Generation.« (Ebd.) Auf das öffentliche Reden über ›diese Jahre‹ bezog sich im Feuilleton der ZEIT der Frankfurter Germanist Johannes Kleinstück in seiner Glosse »Die dunkelsten Jahre« für die Spalte »Unsere Sprache«. Verdeckt entlarvte er das Schweigen über Benno von Wieses NS-Vergangenheit, als er gegen diesen »Topos« polemisierte, den Wieses Schüler Hans-Joachim Schrimpf in seinem Geburtsartikel auf den Lehrer in der ZEIT benutzt hatte (Kleinstück 1963). Zur Erklärung des Lehrer-SchülerVerhältnisses hatte Schrimpf die Formel angewandt: »War es die gemeinsame Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und die Zeit der Unmenschlichkeit, was diese spontane Beziehung veranlaßte? Oder war es das Wissen um die Gemeinsamkeit, die die Generation der um die Jahrhundertwende Geborenen mit den Abkömmlingen der zwanziger Jahre so dicht zusammenrückte?« (Schrimpf 1963)

Wenn es dann in Schrimpfs Version von Wieses Vita hieß: »Nach kurzer Bonner Dozentenzeit ging er 1932 als junger Professor nach Erlangen, lehrte seit 1943 in Münster und wurde schließlich 1957 als Nachfolger Günther Müllers nach Bonn berufen« (Ebd.), bewies der Topos seine Eignung zu einer Distanzierung ohne Konkretisierung, die Kleinstück als seine Leistung beschrieb: »So steht die Formel

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von den dunkelsten Jahren im Dienste unseres Vergessenwollens – und beschert uns zugleich für Augenblicke die Illusion, daß wir die Vergangenheit überwinden, indem wir uns zu ihr bekennen.« (Kleinstück 1963) Kleinstücks Artikel erschien eine Woche, nachdem in Frankfurt publik geworden war, weshalb der zum Rektor gewählte Germanist Heinz Otto Burger das Amt nicht angetreten hatte: »Den Anlaß für seinen Schritt, teilte er anschließend dem Senat und den Rektoren der westdeutschen Universitäten schriftlich mit, habe ›der Protest eines eben promovierten Studenten amerikanischer Nationalität‹ gegeben.« (Kraushaar 1998: I, 203) Dieser, der von seinem Kommilitonen Georg Fülberth, dem späteren Marburger Politologen, auf einen rassistischen Artikel Burgers aus dem Jahr 1934 hingewiesen worden war, kritisierte in der FRANKFURTER RUNDSCHAU an dem Rücktritt »die Haltung der akademischen Verwaltung, die in falscher Furcht vor den Reaktionen der Öffentlichkeit auf Aufklärung und Information überhaupt verzichten zu müssen glaubte«: »Nötig ist vor allem auch eine Diskussion über die Rolle der Professoren und […] der deutschen Universitäten vor und nach der Hitlerschen Machtergreifung« (Ebd.: 204; vgl. Boehlich 1963). So hatte die Frankfurter Studentenzeitung DISKUS im Januar Theodor W. Adornos »Antwortschreiben« auf den im Dezemberheft publizierten »Offenen Brief« eines Studenten »Zur Frage der Autorschaft einer im Juni 1934 in der Zeitschrift ›Die Musik‹ erschienenen Rezension« als eine akzeptable Stellungnahme gedruckt (Kraushaar 1998, II: 165-169). Der Unterschied zwischen Krügers und Kleinstücks von der ZEIT gedruckten Stellungnahmen zur öffentlichen ›Thematisierung individueller NaziVergangenheit‹ lässt sich auch in anderen – wie Leonhardt sie 1963 in der Buchveröffentlichung seiner Arbeiten für das Feuilleton genannt hat – »schweren Fällen« (Leonhardt 1963: 286) zeigen. Dass seine eigenen Beiträge zu diesen ›Fällen‹ nicht in das Buch aufgenommen, sondern nur in rhetorischen Fragen angedeutet wurden: »Wie können Sie von dem Nazi Hans Baumann anders als von einem Verbrecher reden? […] Wie können Sie antisemitische Äußerungen eines Hamburger Sozialpsychologen verteidigen?« (Ebd.: 285/286), wirft ein Licht auf das Programm, dem er als Feuilleton-Chef folgte: »zwischen extremen Positionen zu vermitteln, die Freiheit der anderen Meinung gegen die Überschätzung der eigenen ›Linie‹ zu verteidigen […], so zwischen zwei Stühlen zu schreiben« (Ebd.: 285). Der verantwortliche Redakteur hatte 1962 dafür plädiert, ein Theaterstück des ehemaligen NS-›Dichters‹ Hans Baumann »in einer gültigen Aufführung zur Kritik zu stellen« (Leonhardt 1962), und sich von den »Bewältiger[n]« abgegrenzt, die er von Franz Schonauer und seinem 1961 erschienenen Buch »Deutsche Literatur im Dritten Reich« repräsentiert sah, insofern sie nur die Texte aus dem ›Dritten Reich‹ zitierten: »Wo für die Bewältiger [...] eine Geschichte aufhört, dort fängt sie in Wirklichkeit erst an, interessant und aufschlußreich zu werden« (Ebd.).

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Im negativ wertenden Gebrauch von ›Vergangenheitsbewältigung‹ ( »Eine Nation, die sich in peinvoller Lage dem so peinlichen Wort von der ›Bewältigung der Vergangenheit‹ verschrieb – als trüge man sie nicht auf seinem Rücken, wohin immer man sich wende«, Paeschke/Moras 1964: 902; vgl. Rychner 1961) stimmte Leonhardt mit Hellmut Jaesrich, dem Stellverteter Melvin J. Laskys in der Redaktion des MONAT überein. Ironisch nannte Jaesrich die Autoren von drei 1959/60 erschienenen Romanen, u.a. Christian Geißlers ANFRAGE, die Bewältiger; er warf ihnen vor, »Gegenwartsromane« (Jaesrich 1959/60: 97) geschrieben zu haben, denn die nationalsozialistische Vergangenheit, die in ihnen zentrales Thema sei, werde nicht mehr in die Form von »Kriegsliteratur« (Ebd.: 97) gebracht. In der negativen Bewertung von Schonauers Buch war sich Leonhardt mit Walter Boehlich einig. Boehlichs am 13.10.1961 in der ZEIT erschienene Rezension aber hatte nicht nur Schonauers Forschungs- und Darstellungsweise wissenschaftlich kritisiert und ihm vorgeworfen, die ›Entwicklung‹ der »beiden widerstreitenden, oft eng miteinander verfilzten Tendenzen der neueren deutschen Literatur«, der »progressiv-humanistische[n] und d[er] regressiv-völkische[n]«, verfehlt zu haben, sondern vor allem »das verächtliche, aber so wirksame Zusammenspiel von minderwertiger völkischer Literatur, völkischer Literaturkritik und völkischer Universitätslehre«: »Hier liegt etwas, wogegen zu polemisieren Wert hätte. Denn die Blunck und BehrensTotenohl, die Gmelin und Hohlbaum, die Luserke und Ponten, die Steguweit und Stickelberger und wie sie alle geheißen haben, sie sind vergangen. Aber die, die sie gelobt haben, loben noch immer (wen?), und die, die Literaturgeschichte getrieben haben, wie es – Hitler und Goebbels genehm war: die Burger, Kindermann, Koch, Martini, Nadler, Obenauer, Oppel, Pongs, Wais und so viele andere, sie lehren und schreiben noch immer (was?).« (Boehlich 1961c)

Der ›schwere Fall‹ Peter R. Hofstätter war – zehn Monate vor dem Beginn des Frankfurter Auschwitz-Prozesses – sein Eintreten für die Einstellung der Strafverfolgung von NS-Verbrechen gewesen: »Die Täter werden sich vor Gott zu verantworten haben. Uns aber geziemt ein Bekenntnis zur unbewältigbaren Vergangenheit« (Hofstätter 1963a), und er wandte sich wenig später gegen die Verstärkung der Behandlung von »Zeitgeschichte« im damals noch projektierten Gemeinschaftskundeunterricht: »Der im eigentlichen Sinn demokratische Bildungswert des Faches Geschichte ist durch eine schulische Beschäftigung mit – oder genauer: gegen – Hitler nicht zu erreichen.« (Hofstätter 1963b). Leonhardts redaktionelle Linie schloss ein, innerhalb eines gewissen Spektrums abweichende Meinungen zu drucken. So durfte Marcel Reich-Ranicki den von Leonhardt aufführenswert befundenen Text Baumanns als »Nazi-Stück« analysieren, dessen Autor – gegen Leonhardts Unterstellung einer ›Wandlung‹ – »aus seiner

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Haut nicht herauskam« (Reich-Ranicki 1962), so wie er im MONAT die von Leonhardt ironisierte »sogenannte Bewältigung der Vergangenheit« (Leonhardt 1962) an Gerd Gaiser vorführen konnte: »In der Tat, es besteht keine Notwendigkeit, heute mit dem Gaiser von 1941 zu rechten«, scheint er Leonhardt zuzugeben, aber nur um fortzufahren: »Wie aber, wenn jenes erste Buch zum Verständnis für sein eigentliches [Nachkriegs-, H.P.] Werk entscheidend beitragen könnte?« (Reich-Ranicki 1962/63: 68). Und so wie Reich-Ranicki auf Leonhardt, so durfte auf Hofstätter Gerhard Schoenberner antworten, der in der Kontroverse um Hochhuths DER STELLVERTRETER auf sein eigenes Buch DER GELBE STERN (1960) hatte hinweisen können, in dem Hochhuth Schlüsseldokumente gefunden hatte (Schoenberner 1963a). »Für den einzelnen Bürger«, so definierte Schoenberner »Was heißt Bewältigung der Vergangenheit?« (Schoenberner 1963b): »kann es nur darauf ankommen, jene Jahre als politischen Anschauungsunterricht zu nehmen, aus den Irrtümern der Vergangenheit zu lernen, die historische Entwicklung in ihren Zusammenhängen zu begreifen und die ihm unbekannten Ursachen der ihm bekannten Folgen zu durchschauen.« (Ebd.)

Es ist allerdings für das Spektrum des ZEIT-Feuilletons bezeichnend, dass Leonhardts Stellvertreter Dieter E. Zimmer auf Krüger zurückkam, als es um das redaktionelle Resümee in Sachen STELLVERTRETER ging: Angesichts der »abwehrenden Hinweise [...] auf das jugendliche Alter dieses oder jenes ungemütlichen Autors«, die in der Debatte vorgeherrscht hätten, berief sich Zimmer auf Krügers Absage an die ›biographische Methode‹, um zu belegen, dass den »heute gerade Dreißigjährigen« »das besserwisserische Pathos«, »die Generations-Solidarität und -Komplizität« fehle: »Wenn sie sich der Beschäftigung mit dem Geschehenen nicht entzieht, dann keineswegs, um abzurechnen mit den Eltern. Sie tut es vielmehr, weil sie Aufschluß gewinnen möchte, gewinnen muß über ihre eigenen Ressourcen.« (Zimmer 1963) In demselben Monat, als Boehlichs Beitrag zur Serie des Hessischen Rundfunks SIND WIR NOCH DAS VOLK DER DICHTER UND DENKER? unter dem Titel »Kritik und Selbstkritik« erschien, am 28.4.1964 (Boehlich-Archiv im Verlag der Autoren, Kiste 3, Mappe 1964, Leserbrief an DIE ZEIT, 28.4.1964, zu Attacken gegen Professor Schwinge) schrieb er einen Leserbrief an die ZEIT, in dem er für die Marburger Studentenzeitschrift Partei nahm, die die NS-Vergangenheit des Juristen Ernst Schwinge öffentlich thematisiert hatte und gegen deren »Attacken« ihn in der Wochenzeitung der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Fritz Schwarz (Die ZEIT, 24.4.1964) mit »Argumenten« »verteidigt« hatte, »die wir zwar seit zwanzig Jahren zu hören bekommen, die jedoch dem Verschleiern mehr dienen als der Wahrheitsfindung« (Boehlich 1964b):

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»Wahrheitsfindung, heißt es jeden Tag, werde an unseren Universitäten gelehrt. Und wenn das so ist, warum drückt sich diese Universität darum, endlich ihre eigene Wahrheit zu finden? Warum werden Namen nach Möglichkeit nicht genannt, offenkundige Tatsachen nicht erforscht? Warum sagen denn nicht einmal die, von denen man es längst weiß: ich habe damals das und das getan und geschrieben, weil …« (Ebd.)

Die Redaktion veröffentlichte Boehlichs Text jedoch nicht in der Rubrik Leserbriefe, sondern als Beitrag zum Feuilleton. Vor allem aber gab sie ihm nicht nur einen Titel: »Unsere Universitäten haben versagt«, sondern auch eine Genrebezeichnung: »Ein offener Brief«. Eine Begründung für diese Umadressierung – denn der Leserbrief richtete sich an »Sehr geehrte Herren« – lässt sich in der ZEIT erst finden, als der verantwortliche Redakteur auf die in »privat-vertraulicher Korrespondenz« von Bonner Professoren verbreitete ›Unterstellung‹ antwortete, Boehlichs Stellungnahme sei »Ausfluß des Ressentiments eines Akademikers, der es in Bonn zu nichts Rechtem gebracht habe« (Leonhardt 1964a), aus dem heraus er am 23.10.1964 seinen Artikel zur Wahl des germanistischen Sprachwissenschaftlers Hugo Moser zum Rektor der Universität Bonn in der ZEIT publiziert hätte: »Der neue Bonner Rektor. Die Maßlosigkeit und die Mäßigung eines Philologen«. Leonhardt begründete Boehlichs Berechtigung zur öffentlichen Stellungnahme dreifach: mit seiner wissenschaftlichen Qualifikation, seiner beruflichen Stellung im literarischen Leben und mit seiner - undeutlich und einschränkend angespielten – jüdischen Herkunft: »Ernst Robert Curtius, dessen Schüler heute doch alle gewesen sein wollen, die ›geisteswissenschaftlich‹ hierzulande mitreden, ließ aus unserer Generation nur wenige, fünf oder fünfzehn, gelten: Unter den wenigen stand an erster Stelle Walter Boehlich, den er zu seinem Assistenten machte und der heute nicht ›Lektor eines Frankfurter Verlags‹ ist, sondern derjenige, der im literarisch anspruchsvollsten deutschen Verlag, dem Suhrkamp Verlag, mit und neben Siegfried Unseld die Maßstäbe setzt. Daß Boehlich heute noch lebt, verdankt er der Tatsache, daß das Tausendjährige Reich nur zwölf und nicht dreizehn Jahre gedauert hat. Er würde nicht daran denken, daraus einen Freibrief abzuleiten« (ebd.).

Boehlich selbst begründete in seiner »Antwort« auf die offiziellen Reaktionen der Universität auf den Artikel zur Rektorwahl sein Recht einzugreifen anders, als er hervorhob: »Der Streit um den Bonner Rektor […] wird geführt zwischen einem einzelnen und einer Institution.« (Boehlich 1964f) Bereits mit dem von der ZEIT zum offenen gemachten Leserbrief hatte Boehlich den Marburger Personalfall in eine Forderung an die »Institution« Universität und ihre »Einzelwissenschaften« gewendet: »daß es nur besser werden kann, wenn wir die ganze Wahrheit [über »die deutschen Universitäten von 1933 bis 1945«] er-

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forscht und ausgesagt haben werden« (Boehlich 1964b). Als der Germanist Hugo Moser zum Rektor der Universität Bonn gewählt worden war, deren philosophische Fakultät »bis zum heutigen Tage« ihre Aberkennung von Thomas Manns Ehrendoktor »nicht erklärt« habe, bezweifelte Boehlich Mosers Eignung zum Repräsentanten, indem er mit Zitaten aus Mosers Publikationen im Faschismus und danach begründete: »Kritik hervorrufen muß […] das mangelnde Verständnis für das, was den Unterschied zwischen faschistischer und demokratischer Lehre ausmacht.« (Boehlich 1964d) Gerade das Beispiel des zum Rektor gewählten Germanisten ließ Boehlich verallgemeinernd zuspitzen, dass sich die Universität mit »politischen Implikationen« von wissenschaftlichen »Theorien« »auseinandersetzen« müsse (Ebd.). Entsprechend begründete Boehlichs »Antwort« auf die »Erklärung« der Universität und die »Stellungnahme« ihrer so genannten Sonderkommision sein öffentliches Eingreifen: »[…] es hätte nach 1945 die Aufgabe der Gesellschaft sein müssen, das Vergangene zu klären, sich selbst zu reinigen und die Grenzen des Möglichen und Zumutbaren festzulegen. Das ist bei uns nie geschehen. Weil die Gesellschaft versagt hat, gibt es bei uns angebliche Verleumder, Störenfriede, Anschuldiger. Sie stehen fast immer außerhalb der Institutionen, gehören den Institutionen kaum je selbst an.« (Boehlich 1964f)

Als »Gefangene einer Institution« charakterisierte Boehlich die »Ordinarien«, die zu den universitätsoffiziellen Reaktionen »schweigen«, so zu dem Satz der ›Sonderkommission‹ über Mosers Publikationen vor 1945: »Die zeitbedingte Diktion geht über das Maß des damals Üblichen und zur Abwehr politischer Verdächtigungen sogar notwendigen nicht hinaus« (ebd.). Indem Boehlich fragte: »Ist kein Mitglied dieser Körperschaft fähig oder bereit, solche Sätze ideologiekritisch zu analysieren? Hat keines ihrer Mitglieder bemerkt, welches Geschichtsbild sie verraten?«, kam er auf den Kern seiner Kritik an der mangelnden Unterscheidung zwischen Faschismus und Demokratie: »daß das ›damals Übliche‹ ermöglicht hat, woran wir noch heute zu ersticken drohen« (Boehlich 1964f). Eine entsprechende Einschätzung der gesellschaftlichen Situation in der Bundesrepublik findet sich nur in einem Absatz von Boehlichs BEMERKUNGEN ZUR LITERARISCHEN KRITIK IN DEUTSCHLAND (Boehlich 1964c: 49), die in einem »rororoaktuell« Band erschienen, der unter Boehlichs »Biographische[n] Daten« verzeichnete: »Seit 1957 Angestellter in Frankfurt« (Kalow 1964: 136). In wesentlichen Punkten entspricht Boehlichs Positionsbestimmung als Literaturkritiker noch früheren programmatischen Texten: in der Forderung, die »Provinzialität« (Boehlich 1964c: 44) zu überwinden wie die »Verkümmerung der Urteilsfähigkeit« (ebd.: 46), dem 1954 in einem MERKUR-Sonderband erschienenen Aufsatz »Die fehlende Generation« (vgl. Wegmann 2011), dessen pauschale Verurteilung der damaligen Gegenwartsliteratur Boehlich allerdings seit 1960 in den ZEIT-Artikeln revidiert hatte.

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So lautet 1964 umgekehrt der Vorwurf, die Kritik »scheint der Literatur, auf die sie sich bezieht, nicht zuzugehören« (Boehlich 1964c: 43f.). Aus der immer noch auf Curtius sich berufenden Forderung, die »Einheit« der Literatur »sichtbar [zu] machen«: »Daß das Neue mit dem Alten zusammenhängt« (Ebd.: 46), ist deshalb die Aufgabe geworden, dass der Kritiker »zeigt, was sich geändert hat, und warum« (ebd.: 47). Für die Festlegung des Kritikers auf »eine vermittelnde Funktion« – gegen generationelle und politische Polarisierungen – zitiert Boehlich (nicht nur an dieser Stelle) einen französischen Autor und Kritiker, der eine Schlüsselrolle in dem Projekt einer europäischen Literaturzeitschrift REVUE INTERNATIONAL DER AUTOREN (Marmulla 2006: 181) gespielt hatte, das Suhrkamp mit dem italienischen Verlag Einaudi und dem französischen Juliard verfolgt hatte: »Er soll, wie Blanchot sagt, ein ehrlicher Makler sein. Wir brauchen […] nicht den Konservativen, dem alles sogenannte Linke ein Greuel ist, und nicht den enragierten Linken, der alles an seiner gesellschaftlichen Avanciertheit mißt.« (Boehlich 1964c: 47) Ein weiteres Blanchot- und ein Roland Barthes-Zitat belegen, dass Boehlich in Gegensatz zu den an den Verhandlungen beteiligten Suhrkamp-Autoren gestanden hatte, die letztlich erfolgreich für die Aufkündigung der Vereinbarung mit den ausländischen Verlegern eingetreten waren (Marmulla 2006: 194), weil – so Uwe Johnson – der von Blanchot und Barthes vorgeschlagene Fokus auf »Schreibweise« »erzkonservativ« sei: »Die Realität erscheine nur in sehr kleinen Bruchstücken, die benutzt würden als Startplatz für allgemein philosophische und gebildete Abstraktionen und Folgerungen. « (Ebd.: 193) Auffälligerweise kommt Boehlich im Anschluss an Blanchots Formel vom Kritiker als ›ehrlichem Makler‹ auf »ein speziell deutsches Problem«: »Wir könnten uns jede ›kulinarische‹ Eskapade leisten, wenn wir nicht Hitler gehabt hätten und wenn es nicht bedenkliche Übereinstimmungen gäbe zwischen unserer Literatur und unseren politischen Verhältnissen, die die besten nun einmal nicht sind.« (Boehlich 1964c: 47)

Diese ›Übereinstimmungen‹ zwischen ›Literatur‹ und ›politischen Verhältnissen‹ der bundesrepublikanischen Gegenwart begründet Boehlich – über ein eingeschobenes Zitat von Martin Walser über die »metereologische Brauchbarkeit von Literatur«: »Ich lese ein Buch und weiß, es kann nicht mehr lange dauern, bis der aus dem dritten Stock heraufkommt und mir in die Suppe spuckt« (ebd.; vgl. Walser 1963: 14) – dreifach mit den »Spuren« der NS-Vergangenheit: »Auch heute noch sind wir weit davon entfernt, sicher zu sein, daß sich Ähnliches nie wiederhole« (Boehlich 1964c: 47), dann: »Es gibt Dinge, die in den Staat, den das Grundgesetz uns verspricht, nicht mehr gehören« (ebd.; vgl. WALSER 1963: 14), schließlich: »wer einer Gesellschaftsform und einer Politik das Wort redet, welche sich von denen unterscheiden, die unsere heutigen sind«, werde von »unsere[n] konservativen Kritiker[n] […] verunglimpft« (Boehlich 1964c: 47).

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Das Selbstverständnis eines Intellektuellen, der als einzelner von ›außerhalb‹ einer der Institutionen der Gesellschaft die für die Gegenwart und Zukunft relevante Wahrheit über ihre NS-Vergangenheit öffentlich abverlangt, steht zwar in Gegensatz zu der im Bisherigen nachgewiesenen Einbettung seiner publizistischen und verlegerischen Tätigkeit, in der er seit dem Ende der fünfziger Jahre dieses Selbstverständnis entwickelte, aber die markante Veränderung in seiner Vernetzung im Übergang zu den sechziger Jahren erklärt vielleicht, weshalb er an allgemeineren Entwicklungen teilhatte, die von der neueren Zeitgeschichtsschreibung zur intellektuellen Geschichte der Bundesrepublik beschrieben worden sind, und vor allem, weshalb sein Eingreifen in die Auseinandersetzungen über die NS-Vergangenheit so folgenreich war. Boehlichs Weg zum Protest gegen die Wahl Mosers zum Bonner Rektor kann als Beispiel genommen werden für den »Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit« von Journalisten, die in den »frühen 60er Jahre[n]« einen »emphatischen Begriff der ›Zeitkritik‹ […] gegen den überlebten Konsensjournalismus ins Feld führten« (Hodenberg 2002: 309), für eine »[z]unehmend[e]« ›Debatte‹ von »Fragen der Elitenkontinuität«, »[b]egleitet […] von entsprechenden intellektuellen Debatten der nachholenden Beschäftigung mit dem ›braunen Erbe‹« (Gassert 2011: 195), für ein »Aufweichen des antitotalitären Gründungskonsenses« durch »eine […] mögliche […] Alternative eines erneuerten antifaschistischen Konsenses« (Geppert 2011: 143), für »ein Netzwerk intellektueller Foren«, in dem »die Begriffe ›Schriftsteller‹ und ›Regierungskritiker‹ nahezu synonym zu verwenden« waren (Schildt 2011: 136) und dessen »Polarität zwischen liberalen Reformern und […] Linkssozialisten noch im gemeinsamen Protest gegen die Regierungspolitik überdeckt« »als oppositionell, linksliberal oder links wahrgenommen« wurde (ebd.: 135), für »Engagement« »als Möglichkeit, die Ziele zu realisieren, auf die sie zwar 1945 gehofft hatten, die sie aber nicht verwirklichen konnten. Sie betrachteten ihren Protest als nachgeholte Stunde Null, versuchten also die Bundesrepublik neu zu gründen« (Nehring 2008: 231).

Boehlichs Weg zur Wahrnehmung der »soziale[n] Rolle« des Intellektuellen in der Situation der Bundesrepublik von 1963 stellt aber nicht nur die Periodisierung des Engagements von Schreibenden in Frage, das Ingrid Gilcher-Holtey erst auf die »Formierung« der ›außerparlamentarischen Opposition‹ datiert, deren »Primat der Praxis« (Gilcher-Holtey 2007: 22) die bisherige antitotalitär begründete »Trennung von Literatur und Politik« (Ebd.: 20) in der Engagement-Debatte der späten sechziger Jahre aufgehoben habe, sondern auch deren – mit Pierre Bourdieu getroffene – methodische Vorentscheidung: »Zu Intellektuellen werden Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler nur, ›wenn (und nur wenn)‹ sie ›über eine spezifische Autorität‹ verfügen, die ihnen eine ›autonome (das heißt

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von religiösen, wirtschaftlichen, politischen Mächten unabhängige) Welt verleiht‹, deren spezifische Gesetze sie respektieren, und ›wenn (und nur wenn)‹ sie ›diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen‹ geltend machen.« (Gilcher-Holtey 2012: 78)

Weder als Verlagsangestellter noch als ›freier‹ journalistisch-literaturkritischer ›Mitarbeiter‹ von Presseorganen besaß Boehlich eine in ›Autonomie‹ begründete ›Autorität‹. Dennoch wurde er 1964/65 in der Mehrheit der von der ZEIT abgedruckten Leserbriefe als – seinem Selbstverständnis entsprechend als von ›außerhalb der Institutionen‹ Kritik übender – Intellektueller wahrgenommen: »pure, fundierte Wahrheit« nannte ein Student Boehlichs »sehr scharfe, aber berechtigte Kritik« (27.11.1964); die meisten studentischen Leserbriefe forderten von der »zumindest durch Schweigen und Passivität mitschuldig[en]« »Generation unserer Väter« Zurückhaltung in der Rolle als »Aushängeschilder unserer ›bewältigten Vergangenheit‹«; auch wenn der zuletzt zitierte Leserbriefschreiber zugleich von den »Studenten, etwas zu unternehmen« (4.12.1964), verlangte, keiner unter den zahlreichen Auslandsgermanisten, insbesondere aus den USA, die Boehlich Recht gaben, ging so weit wie der US-amerikanische Assistant Professor Jeffrey L. Sammons, der sich darüber »deprimiert« zeigte, »daß die Bonner Studentenschaft nicht in eine empörte Revolte explodiert« (27.11.1964). Auf den Bonner Germanistik-Professor Richard Alewyn, der 1949 aus dem USamerikanischen Exil gekommen war und von dem Verfahren der Universität mit Boehlichs Kritik für die Öffentlichkeit die Frage aufgeworfen sah, ob »unter ihrem schwarz-rot-goldenen Mäntelchen die deutsche Universität so braun ist wie je« (Alewyn 1964), berief sich eine in der ZEIT veröffentlichte »Erklärung der Sieben«, jüngeren Germanistikprofessoren, unter denen drei ehemalige Hamburger und Bonner Kommilitonen Boehlichs waren, Karl Ludwig Schneider, Peter Wapnewski und Eberhard Lämmert. Alewyn habe »mit maßvollen, aber höchst bedenkenswerten Worten die Proportionen sichtbar gemacht, die unter der von Walter Boehlich ausgelösten Lawine von Polemik unkenntlich zu werden drohten« (Borck u.a. 1964), aber in einem zentralen Punkt stimmten sie öffentlich Boehlichs »Antwort« zu: »daß der Senat sich nicht wenigstens in einem Punkte zu einem ausdrücklichen Widerruf hat entschließen können. Der unselige Satz vom ›damals Üblichen‹, der nicht so bald vergessen werden wird, bleibt ein schmerzhafter Stachel.« (Ebd.) Benno von Wiese, der Vorsitzende des Germanistenverbands, reagierte schon am 25.12.1964 auf diese »Erklärung« mit einem Plan, die Diskussion im Fach Germanistik auf eine Versammlung von ausschließlich Ordinarien zu beschränken, deren zwei ›Generationen‹ er vor Gefahren sah: »Die ältere sollte sich mehr dazu entschließen, die Vergangenheit nicht nur als peinliches Tabu zu betrachten; die jüngere hat sich vor Selbstgerechtigkeit und diktatorischen Urteilen zu hüten, die ohne jedes Risiko abgegeben werden können.« (Wiese 1964) Dem Adjektiv ›diktatorisch‹ entsprach, dass Wiese von der »Form« der »Anklagen« behauptete, dass sie

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»fatal an damals übliche Methoden erinnern«: das »eifrige […] Ausgraben von isolierten, heute belastenden Zitaten« (ebd.). Im Rückblick darauf, von wie »wirklich entscheidender und fortwirkender Bedeutung« Boehlichs Moser-Artikel zunächst für die in den beiden folgenden Jahren an drei Universitäten, Tübingen, FU Berlin und München, veranstalteten Ringvorlesungen zum »nicht aufgehellten Komplex ›Deutsche Universität und Drittes Reich‹«, dann für den Münchener Germanistentag 1966 gewesen sei (vgl. das Resümee mit Literaturangaben bei Colin 2007), nannte Karl Otto Conrady »bedenklich«, wie Boehlichs Konzentration auf Publikationen und Formulierungen Mosers die Auseinandersetzung »personalisierte« (Conrady 1988: 134). Die Begründung, die der zuständige WDR-Redakteur, Roland H. Wiegenstein, einer Bonner Lokalzeitung für die Ausstrahlung von Boehlichs Essay zu Leo Weisgerber »Irrte hier Walter Boehlich?«, geschrieben am 16.2.1964 (Boehlich-Archiv im Verlag der Autoren, Kiste 3, Mappe 1964) und gedruckt im Oktober 1964 in den FRANKFURTER HEFTEN, durch seinen Sender gab, spricht dagegen: »es gehe bei den Auseinandersetzungen nicht etwa um wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Germanisten und Romanisten, sondern – auch auf internationaler Ebene – um die Klarstellung, wer heute nationalistisch und wer nichtnationalistisch sei« (Strambowski 1964).

L ITERATUR Alewyn, Richard (1964): »Die Universität als moralische Anstalt«, in: Die Zeit, vom 27.11. Auch in: General-Anzeiger, Bonn, vom 28./29.11. Art. (1962/63): »Jungfräulichkeit«, in: Der Monat 15, H. 172, S. 8-10. Art. (1964): »Noch einmal: Der neue Bonner Rektor. Universität Bonn: Erklärung. Bonner Sonderkommission: ›Grundlos‹«, in: Die Zeit vom 6.11. Bödeker, Birgit (1993): Amerikanische Zeitschriften in deutscher Sprache 19451952. Ein Beitrag zur Literatur und Publizistik im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Boehlich, Walter (1954): »Die fehlende Generation«, in: Joachim Moras/Hans Paeschke (Hg.), Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 382-397. Ders. (1960): »Der ideale Rezensent«, in: Die Zeit vom 2.12. Ders. (1960/61): »Der Unpolitische und der Bücherverbrenner. Noch einmal Thomas Mann als Briefsteller«, in: Der Monat 13, H. 150, S. 74-80. Ders. (1961a): »Die Einheit der europäischen Literatur. Viele berufen sich gern auf Ernst Robert Curtius, aber er hatte am Ende keine Schüler mehr«, in: Die Zeit vom 10.3.

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Sozialplanung und Moralistik Albert Salomons Studien zur alteuropäischen Literatur als Standortbestimmung für eine Beobachtung der Gegenwart nach 1945 W ERNER N ELL

Mit dem nunmehr für 2016 angekündigten Erscheinen der beiden letzten der auf fünf Bände angelegten Werkausgabe der Schriften Albert Salomons (*Berlin, 8. Dezember 1891 – + New York, 18. Dezember 1966) wird die Erinnerung an einen Soziologen und Kulturhistoriker wieder aufgenommen, von dem bis zu eben dieser Werkausgabe, deren erster Band 2008 im Wiesbadener VS Verlag erschien, nach 1945 nur noch ein einziges Buch im deutschsprachigen Raum vorhanden war. Es handelt sich dabei um die kleine Studie FORTSCHRITT ALS SCHICKSAL UND VERHÄNGNIS. BETRACHTUNGEN ZUM URSPRUNG DER SOZIOLOGIE, die mit einem Vorwort des damaligen Bonner Ordinarius für Soziologie Gottfried Eisermann (19182014) und in der Übersetzung des renommierten Soziologen M. Rainer Lepsius (1928-2014) im Stuttgarter Enke Verlag bereits 1957 erschienen war. 1 Mehr war2 (und ist wohl immer noch weitgehend) nicht bekannt, 3 der Faden einer Wirkungsgeschichte des immerhin von Karl Mannheim (1893-1947) geförderten, 1921 von Emil Lederer (1882-1939) und Heinrich Rickert (1863-1936) in Heidelberg promovierten Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlers riss spätestens mit der aufgrund seiner jüdischen Herkunft im April 1933 erfolgten Entlassung aus den Staatsdienst und der anschließenden Flucht bzw. Übersiedlung nach Nordamerika

1

Engl. THE TYRANNY OF PROGRESS. New York: Doubleday 1955.

2

Vgl. den knappen Eintrag von Wagner 1980 in Bernsdorf/Knospe 1980: 368.

3

Inzwischen gibt ein gut informierter Wikipedia-Eintrag erste Übersicht und weitere Orientierung: http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Salomon (12.06.2015).

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ab. Freilich wirft dies nicht nur einmal mehr den Blick auf die zerstörerische Gewalt des Nationalsozialismus, in deren Folge nicht nur Forschungsperspektiven der 1920er Jahre ausgelöscht wurden, sondern auch darauf, dass an diese nach 1945 nur zögerlich, spät und sehr sporadisch Anschluss gesucht wurde (König 1971; Wiehn 1989). Gerade anhand der Biographie, wissenschaftlichen und gesellschaftsbezogenen Praxis Salomons wird darüber hinaus aber auch der Verlust eines intellektuelles Milieu erkennbar, dessen Zerstörung durch die NS-Zeit in späterer Zeit auch nicht einfach mehr zu kompensieren war (vgl. Gostmann 2014: 327-334). Es beleuchtet freilich auch – und dies ist ja dann auch das Thema des hier vorliegenden Bandes – die intellektuelle Szene in den beiden deutschen Staaten nach 1945, in der Adenauerzeit ebenso wie in den ersten beiden Jahrzehnten des Aufbaus einer vermeintlich sozialistischen Gesellschaft in der DDR, dass innerhalb dieser beiden ebenso konträren, wie miteinander konkurrierenden Gesellschaften für Autoren, Gelehrte und Intellektuelle, die wie Salomon in ihren Ansätzen und Befunden quer zu den geläufigen konservativ-liberalen oder sozialdemokratisch-sozialistischen Linien standen, kein Platz und kaum Anerkennung zu finden war. Zumal gilt dies wohl für diejenigen, die wie Salomon nicht nur ihr Leben einzig im Exil zu retten vermochten, sondern gerade im Blick auf die Gewaltverbrechen des nationalsozialistischen Deutschland dann auch die Rückkehr nach Deutschland nicht mehr suchten (Luckmann 1988: 367). Es wird später noch darauf einzugehen sein, dass dabei Salomons grundsätzliche, zumal im Zuge seiner eigenen Lebenserfahrungen und in Folge seiner ebenso wachen wie kritischen Beobachtung des deutschen Weges in den Nationalsozialismus noch gewachsene, Skepsis gegenüber den Möglichkeiten eines gesamtgesellschaftlichen Fortschritts und dessen umfassender Planung unter den Bedingungen der Moderne einer breiteren Rezeption seiner Schriften und seines Denkens sowohl in Amerika als auch in Europa gerade in jenen fortschrittsorientierten, planungsbegeisterten 1950er und 1960er Jahren4 durchaus im Wege stand. Im gleichen Maße gilt dies aber wohl auch für seine aus dieser Skepsis begründeten Rückwendung auf die Traditionslinien einer humanistisch grundierten bürgerlichen Kultur, deren Quellen er bis in die Antike zurück zu verfolgen suchte 5 und die ihn auch in den späteren gesellschaftskritisch gestimmten und aufbruchsorientierten Jahrzehnten

4

Zur Utopie und Praxis »großer Planung« und entsprechender Rationalitätsansprüche in der Nachkriegsära vgl. Deutsch 1969 sowie die diversen Beiträge, u.a. von Schiller, Schick, Rein und Rudwick in Naschold/Väth 1973; Tenbruck 1972.

5

Hier wäre insbesondere auf den 1948 zunächst als Einleitung zu einer amerikanischen Ausgabe von Epiktets Handbüchlein der Ethik veröffentlichten Essay STOICISM AS A WAY TO FREEDOM. THE ENCHIRIDION OF EPICTETUS hinzuweisen; vgl. Salomon 1963: 16-20.

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nach 1968 sicherlich nicht zu den Autoren gehören ließ, denen zeitaktuelle Aufmerksamkeit zukam.6 Vielleicht, so die im Folgenden zu entfaltende Hypothese zu seinem intellektuellen Standort, lassen sich die beiden Ansatzpunkte seiner soziologischen Beobachtung und sozialgeschichtlichen Analyse: Skepsis und Humanismus erst heute wieder angemessener verstehen als noch in den 1950er und frühen 1960er Jahren, nachdem zentrale Paradigmata eines spezifischen auf Fortschritt ausgerichteten »modernen« Denkens und entsprechend »großer« Gesellschaftsentwürfe und – erzählungen eher wieder zur Debatte stehen bzw. an ihre Grenzen gekommen zu sein scheinen.7 Dies betrifft zunächst Salomons grundlegend skeptische Einschätzung einer auf Fortschrittsannahmen basierenden gesellschaftlichen Totalplanung, für deren Anfänge er neben den Rationalitätsansprüchen der Aufklärung vor allem die Steuerungs-, Neuerungs-und Ordnungsversuche der Verhältnisse nach 1789 und im Zusammenhang des napoleonischen Aufbruchs und seiner europäischen Reaktionen in den Blick nimmt (Salomon 1957: 9-11). Denn damit rücken auch die Entstehungsbedingungen der Soziologie selbst als einer »Ordnungs- und Synthesewissenschaft« (vgl. Klages 21972: 35-55) in einer an Michel Foucaults Studien zur Diskursivierung sozialen Wissens im Zeitalter der »großen Einschließung« (Foucault 1991: 11-17) erinnernden Weise in den Blick, während sich die Position des intellektuell Verantwortlichen in Salomons Verständnis von der eines wissenschaftlichen Beraters, Planers oder Angestellten machtstaatlicher Organisationen (»clerc«)8 und eines Agenten anwendungsorientierten Wissens (Salomon 1957: 12-17)9 im Anschluss an die Intellektuellen des

6

Sven Papckes Hinweis, Salomons Wert orientierte Suche nach soziologischer Erkenntnis wirke angesichts der »Durchempirisierung« zeitgenössischer Sozialwissenschaften »altbacken«, ließe sich analog auch auf die Positionen antibürgerlicher, sozialreformerischer oder auch sozialrevolutionär »kritischer« Sozialtheorie seit den 1960er Jahren übertragen, in deren Rahmen für einen dezidiert humanistischen, der bürgerlichen Kultur verpflichteten Ansatz ebenfalls kein Platz zu finden war; vgl. Papcke 1993: 209.

7 8

Vgl. dazu Beck 1986: 300ff.; Giddens 1995: 187ff. Zum »Verrat« der Fachleute, die – statt sich der Vertretung allgemeingültiger Werte zu widmen – sich an Interesse orientierte Parteiungen, Ideologien und Agenturen ausliefern vgl. Benda 1978: 111-126.

9

Als zentralen Einschnitt sieht Salomon dabei den Einsatz von Wissenschaft, Technologie und Massenmedien im Rahmen des Ersten Weltkriegs: »Zum ersten Mal wurde die Lenkung der öffentlichen Meinung und die Beeinflussung der Kriegsmoral zu einer ebenso mächtigen Waffe wie die Artillerie. Die Erfahrungen des ersten Weltkrieges, des ersten Experiments mit dem totalen Krieg, zeigten die Möglichkeiten, die in einem totalitären Kontrollsystem lagen. Wenn es möglich war, die moderne Gesellschaft derart für einen Krieg zu mobilisieren, warum sollte man diesen Zustand nicht dauernd beibehalten? Der

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Mittelalters (Le Goff 1986: 69) und des Humanismus erneut in Richtung eines Beobachters, Zeitkritikers und Bewahrers individuell verantwortungsbewusster und Werte bezogener Lebenserfahrung hin zu verschieben gehabt hätte. »Diese Neigung der Soziologie zum Totalitarismus ist durch einen seltsamen historischen Prozess unterstützt worden. Eine Begleiterscheinung des Wachstums des konstitutionellen Staates ist der Verlust eben der Freiheit, zu deren Schutz diese Staatsform aufgebaut worden war. Je mehr sich der Staat für die Sicherheit seiner Bürger einsetzte, um so größer musste der Umfang seiner Verantwortlichkeit anwachsen. Der Antagonismus zwischen den sozialen Klassen, der bei unbeschränktem Kapitalismus notwendig eintreten muß, veranlaßte die einzelnen, den Schutz des Staates zu suchen, bis auf die Dauer der Staat seinen Einfluß bis in die privatesten Bereiche des Lebens seiner Bürger ausdehnte.« (Salomon 1955: 11)

In der Folge gilt diese »altbackene« Unzeitgemäßheit aber auch für Salomons Suche nach Kräften und Quellen einer menschlichen, »humanen«, also der unmittelbaren Vernutzbarkeit des Menschen entgegen zu setzenden Vorstellung eines »guten Lebens« und individueller Besonderheit,10 die er im Rückgriff auf die französischen Moralisten11 zunächst in den Salons der Hofwelt und der Aristokratie des 17. und frühen 18.Jahrhunderts zu erkennen glaubt: »Der Elite der enterbten Adligen verblieb die Unabhängigkeit im Geistigen und Religiösen, wobei sich unter ihnen ein lebhaftes Interesse für Wissenschaft und Philosophie entwickelte, das ihnen einen Ersatz für ihre verlorene politische Freiheit bot. In den Salons von Paris diskutierte man leidenschaftlich […] die aristokratischen Intellektuellen begannen eine Art psychologischer Selbstbetrachtung […] Trotz der kirchlichen Zensur bestand eine fast unglaubliche geistige Freiheit.« (Salomon 1955: 8)

Totalitarismus, der fast seit dem Ursprung der abendländischen Zivilisation als Tendenz erkennbar ist, hatte seine letzte Probe im großen Maßstab abgelegt.« (Salomon 1957: 11). 10 »Steht es aber so, dass die verständliche Welt insgesamt sich überhaupt nur hermeneutisch-inventorisch, artistisch eigentlich konstituiert, so bleibt praktisches Wissen anders als gegenständliches Erkennen prinzipiell unabschließbar und stets situativ (individuell, sozial und geschichtlich) eingebunden. Der Lebensvollzug lässt sich daher nicht objektivieren oder systematisieren. Was von der Praxis fassbar und verständlich wird […], das kann nur indirekt approximativ mitgeteilt und in seiner letztlichen Intentionalität allenfalls als ›negative Anthropologie‹ aufgewiesen werden.« Balmer 2008: 103. 11 Auf diesem Weg ist ihm später immerhin Wolf Lepenies gefolgt; vgl. Lepenies 1971: 62f.

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Die damit aufgenommene Suche nach früh-, vor- oder auch gegenmodernen Quellen und Sinnreservoiren, die Salomon zur Stabilisierung und Restrukturierung (Giddens 1995: 179-185) aktueller sozialer Verhältnisse und Verantwortlichkeiten gerade aus den Leitvorgaben und Erfahrungen früherer Epochen und Weltvorstellungen zu erhalten suchte, führte ihn aber noch weiter. Zum einen zurück in den frühmodernen Humanismus,12 zum anderen in die Modellbildung und historischen Erscheinungsformen einer spezifisch durch Aufklärung und Romantik gleichermaßen geprägten »bürgerlichen Kultur« des 19. Jahrhunderts,13 die ggf. im Blick auf aktuell zu beobachtende Tendenzen der Refeudalisierung, Resakralisierung und auch Renaturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Neckel 2013) erneut auf die Tagesordnung zu setzen wären (Geier 2012: 12). 14 Immerhin ist Salomon, zumal unter dem Eindruck der Massenmobilisierung und Gewaltaktionen in den zeitgenössischen totalitären Systemen,15 seit den 1930er Jahren nicht nur diesen Spuren in verschiedenen Studien nachgegangen, 16 sondern hat im Blick etwa auf Erasmus, Goethe, Alexis de Tocqueville und namentlich Jakob Burckhardt 17 auch Vorbilder aufzuzeigen gesucht, an denen sich intellektuelle Praxis, Augenmaß und Redlichkeit unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts erneut zu orientieren hätten. Salomons Lebensweg stellt in diesem Sinne das Musterbeispiel eines spezifisch bildungsbürgerlichen Weges zu einer intellektuellen Praxis und einem entsprechenden Selbstverständnis dar, das in bürgerlichen und z. T. vorbürgerlichen historischen – also insgesamt »alteuropäischen« – Grundlagen wurzelt, allerdings dann eben auch unter den besonderen Bedingungen des 20. Jahrhunderts seine jeweils individuelle und zugleich durch dessen Verwerfungen gezeichnete Gestalt ange-

12 Zu nennen wären hier Salomons Studien zu Erasmus, Hugo Grotius und Goethe; vgl. Salomon 1963: 24-43, 44-59, 151-197; ebenso auch der Hinweis auf Montaigne, Ebd.: 63f. 13 Vgl. dazu noch immer Tenbruck 1986. 14 Vgl. dazu etwas Charles Taylors Beiträge zu einem »Re-Enchantement« der Welt unter den Bedingungen der Moderne; Taylor 2011. 15 Auch wenn Salomon von Max Lerner (1902-1992) offensichtlich persönlich nicht allzu viel hielt (vgl. Salomon-Janovski 2008: 47) so ist hier doch auf die ersten wichtigen Beiträge zu der dann in den 1930erJahren aufkommenden vergleichenden TotalitarismusForschung zu erinnern; vgl. Lerner [1935] (1968) und Kohn [1935] (1968). 16 Vgl. dazu etwa SOLDATISCHER GEIST UND MILITARISMUS (Salomon 2010: 17-36), DEMOKRATIE, SOZIALISMUS UND RELIGION (Ebd.:

89-96).

17 Vgl. DEMOCRACY AND RELIGION IN THE WORK OF ERASMUS (Salomon 1963: 24-43), GOETHE (1949) (Ebd.: 173-197), TOCQUEVILLE (Salomon 2008b: 35-49), zu Burckhardt schließlich die wichtige Studie JENSEITS DER GESCHICHTE: JACOB BURCKHARDT (Salomon 2010:137-190, engl. auch in Salomon 1963: 328-372).

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nommen hat. Zu deren besonderem Charakter gehören dabei zum einen ein den Intellektuellen offen stehendes, ihnen aber damit auch zugewiesenes gesellschaftlich bestimmtes Feld (Gierl 2007: 1054-1056; Hübinger 2006; Gostmann 2014: 41-55), die Rahmenbedingungen einer vielfältig entwickelten und doch zugleich doch auch habituell geschlossenen akademischen Landschaft (vgl. Judt 2010: 20-24) sowie zum anderen ein daran orientierter Bildungs- und Werdegang (Gostmann 2011 2226; Härpfer 2009, Kap. 3 und 4; Gostmann 2014, Kap. 3). Im Falle Salomons wird dieser in bezeichnender Weise noch durch öffentlichkeitsbezogene Arbeiten, zumal seine publizistische Tätigkeit (vgl. Gostmann, Ikas, Wagner 2005: 268f.) und seine Arbeit in unterschiedlichen Wirtschafts-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen ergänzt.18 Hinzu kommen dann die Erfahrungen der Marginalisierung, des Ausschlusses und für den Angehörigen einer im Besonderen durch Rassismus und andere ideologische Konstrukte der Diffamierung und Diskriminierung preisgegebenen Gruppe wie der Juden in Deutschland die Todesdrohung bzw. die dadurch in der Folge zunächst zugemutete Erfahrung des Exils.19 Wenn Michael Walzer in seiner Studie zum Standort gesellschaftskritischer Intellektueller im 20. Jahrhundert darauf verweist, dass sie sich zum einen mit der Gesellschaft der Menschen, auf die sie sich beziehen, »verbunden« fühlen müssen und zum anderen einen eigenen, also auch unabhängigen Standort zu beziehen haben (vgl. Walzer 1991: 44), so kann dieses Verhältnis von Zugehörigkeit und Distanz, dessen Konjunkturen und auch Verwerfungen wohl die Voraussetzungen für Objektivität und Reflexivität, ebenso aber auch für Unruhe und ein Motiv für Suchbewegungen jedweder Art sein können,20 nicht nur, wie dies Walzer an anderer

18 Zu Salomons Werdegang, akademischer Bildung und beruflichen Tätigkeiten vgl. zum einen die Aufzeichnungen seiner eigenen Erinnerungen IM SCHATTEN EINER ENDLOSEN GROßEN

ZEIT. ERINNERUNGEN AUS EINEMLANGEN LEBEN FÜR MEINE KINDER, JUNGEN

FREUNDE UND STUDENTEN. In: Salomon 2008a:13-29 sowie die biographisch orientierten Darstellungen seiner Tochter Hannah Salomon-Janovski (Ebd.: 31-58); Mayer 2008 und Birnbaum 2008. Für den letzten Aspekt außerdem aufschlussreich Salomons Report SOZIOLOGIE AM BERUFSPÄDAGOGISCHEN INSTITUT. EIN BERICHT AUS DEM JANUAR 1933, in: Gostmann/Härpfer 2011: 245-252. 19 In seinen Erinnerungen berichtet Salomon auch von verschiedenen antisemitischen Erlebnissen, die er zumindest verbal parieren konnte (vgl. Salomon 2008a: 22f.). Nach 1945 hat Salomon Deutschland nicht mehr besucht. Von den in Deutschland gebliebenen Verwandten Salomons hatte keiner die Shoah überlebt (vgl. Gostmann/Härpfer 2011: 8 Fn. 4). 20 Dieser letztgenannte Aspekt wird von Yuri Slezkine in der Erscheinungs- und Lebensform der »Merkurianer« gefasst: »Merkur […] ist der Gott der Boten, Kaufleute, gelehrte, Dolmetscher, Handwerker, Führer, Heilkundigen und sonstigen Grenzgänger.« (Slezkine

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Stelle getan hat, mit dem Beispiel Max Horkheimers erläutert werden. (Vgl. Walzer 2002: 28-31) Vielmehr lässt es sich durchaus auch mit den Erfahrungen, Arbeitsvorhaben und Selbstverortungen Albert Salomons, zumal auch seiner Stellung in einem »Abseits als sicherer Ort«,21 in Einklang bringen. Auch sein Lebensweg bewegt sich zwischen bewusst gewählten und erzwungenen Orten der Zughörigkeit und der Distanzerfahrungen, wobei Salomon selbst sich in zweierlei Hinsicht: zeitlich und sozialtheoretisch dezidiert außerhalb der Moderne positioniert. In der Folge nehmen seine Studien und Analysen zur Moderne ebenso wie die zu den ihm wichtigen intellektuellen Beobachtern einen zwischen konservativer Kulturkritik auf der Basis traditional, religiös oder anthropologisch bestimmter Werte und einer an Fortschritt und Gleichheitsvorstellungen ausgerichteten »linken« Sozialkritik oszillierenden, eigentümlichen, durchaus unabhängigen, zugleich aber auch recht isolierten Standpunkt ein. Entsprechend wertgebunden und zugleich kritisch gegenüber jedweder Systematisierung endet seine Essay-Sammlung von 1963: »The young Erasmus wrote that charity deprived of science is like a ship without a helm. Contemporary Erasmians are impelled to turn his thesis around. Science without love is just a wreck.« (Salomon 1963: 399) Nicht nur mit diesem Hinweis auf Erasmus von Rotterdam (~1469-1536) und das von ihm vertretene Bildungs- und Toleranzideal orientiert sich Salomon an einem geschichtsphilosophisch-anthropologischen Selbstverständnis, das sich für ihn in der frühbürgerlich-adligen Gesellschaft des französischen 17. Jahrhunderts am Aufschlussreichsten wiederfindet und das er selbst mit dem teils literaturhistorischen, teils philosophiegeschichtlich bestimmbaren Begriff der »Humanismus« anspricht (vgl. Härpfer 2009: 65-71).

2005: 10) Slezkine versucht mit dieser Kategorie, der er mit den »Apolloniern« das Gegenbild einer sesshaften, Güter produzierenden und traditionsbestimmten Gesellschaftsform gegenüberstellt, einen Erfahrungs- und Verhaltenstypus zu bestimmen, der gleichermaßen die Erfahrung der Juden wie auch die Erfahrungen anderer Menschen in einer sich ausweitenden Moderne anspricht (vgl. v.a. Slezkine 2007: 27-57). Es macht den Reiz und vielleicht auch die Stelle Salomons aus, dass er in der Art der Merkurianer als Grenzgänger in die Vorstellungswelten und Traditionsbestände apollinischer Kanones eindringt und diese zur Kritik der Verfestigungen und Verwerfungen zeitgenössischer Modernisierung zu nutzen, zumindest daran zu erinnern sucht. 21 Trotz ziemlich unterschiedlicher Positionen im politischen Feld und natürlich auch generationaler Unterschiede lässt sich diese von Peter Brückner (1922-1982) gewählte Metapher (vgl. Brückner 1980) auch für Salomon nutzen und mag zudem auch noch auf weitergehende analytische Ansätze im Vergleich der beiden Intellektuellen hinweisen, die freilich an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden können.

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Neben dem damit angesprochenen, vor allem in seinen autobiographischen ERINNERUNGEN AUS EINEM LANGEN LEBEN FÜR MEINE KINDER, JUNGEN FREUNDE UND STUDENTEN (Salomon 2008: 13-29) und in diversen Studien u. a. eben zu Erasmus von Rotterdam, Hugo Grotius, Goethe und namentlich dem Grafen von Saint Simon (1675-1755) (vgl. Salomon 1963: Kap. II und III) zum Ausdruck kommenden Interesse an der Welt von vor 1789 bzw. vor 1914,22 stellt sich dann die vor allem im US-amerikanischen Exil wieder aufgenommene Spur eines transzendental ausgerichteten, zugleich mit innerweltlichen Moralitäts- und Handlungsansprüchen verbundenen, eher liberalen als orthodoxen Judentums23 als ein zweites Erkundungsfeld und Bezugsmuster für die von Salomon vertretene intellektuelle, genauer genommen: »gelehrte« und ihn auch verpflichtende wissenschaftshistorische und ethisch orientierte Praxis dar. Entsprechend heißt es in den einer »Jewish Existence« gewidmeten einleitenden Bemerkungen zu einigen Studien zum jüdisches Denken und dessen zeitgenössischer Rezeption in der 1963 erschienenen Sammlung IN PRAISE OF ENLIGTENMENT: »I discovered my Jewish existence as a destiny. (…) I found meaning in the fact that I belonged to a community that had given the prophets to the world. They were to me the ideal images of Jewish existence, dedicated to the service of God and to the education of mankind in teaching love and indignation.« (Salomon 1963: 373) Als reflektierter, aber aufgrund der aufgenötigten wie der selbst gewählten Marginalität eben nur in Teilen mit der Gesellschaft verbundener, sehr wohl aber einer spezifischen Form von Gemeinschaft als einer »Community of Suffering« (Salomon 1963: 374) zugehöriger Intellektueller bzw. humanistisch bis »bürgerlich« orientierter Gelehrter hatte der Weg Salomons zunächst von dem im Berlin der Kaiserzeit aufgewachsenen Schüler eines humanistischen Gymnasiums aus bürgerlichem und assimilierten jüdischem Haus (vgl. dazu Gostmann 2011: 23) über einen Studienbeginn in Berlin im Jahr 1910, der es ihm immerhin ermögliche noch Georg Simmel zu hören und damit ein Denken aufzunehmen, das ihn ein Leben

22 Er selbst nimmt in seinen Erinnerungen sehr bewusst das Bonmot Talleyrands von 1815 auf: »Wer nicht vor 1789 gelebt hat, kennt die Süßigkeit des Lebens nicht«, um sich damit auf »seine« Welt von vor 1914 und ihr Bildungsprogramm zu beziehen: »Die Süßigkeit des Lebens war keine Zeit epikureischer Lust; sie bestand vielmehr in einer unbegrenzten Lust zu lernen und den Horizont zu erweitern, weil man doch ohne Theologie und Philosophie auch Sprachen und Literaturen, den Geist der Menschen, Klassen und Völker nicht verstehen konnte.« (Salomon 2008a:14) 23 Zu den religiösen Kontakten und Gemeindezugehörigkeiten der Familie in New York vgl. die Aufzeichnungen der Tochter Hannah Salomon-Janovski in: Salomon 2008a: 4550; siehe auch Kaden 2011: 207-217.

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lang beeinflussen wird,24 nach Heidelberg geführt. Hier konnte er in der anregenden Atmosphäre dieses intellektuellen »Weltdorfes« (Camilla Jellinek, 1970)25 vor und auch noch in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zumindest an drei unterschiedlichen intellektuellen Gruppen Anteil nehmen (vgl. Gostmann, Ikas, Wagner 2005: 269). Neben den bekannten Sonntagstreffs im Hause Marianne und Max Webers und dem von Salomon schon bald mit deutlicher Kritik wahrgenommenen George-Kreis, zu dessen Schüler Friedrich Gundolf er allerdings einige Beziehungen unterhielt (vgl. Gostmann 2011: 28), sind hier vor allem der Kontakt mit Georg Lukács (1885-1971), Walter Benjamin (1892-1940) und Ernst Bloch (1885-1977) sowie die Beziehung zu Karl Mannheim (1893-1947) (vgl. dazu Matthiesen 1988: 309-311) zu nennen, wobei ihn mit dem Letztgenannten eine lebenslange Freundschaft verband. Nach der Dissertation 1921 wieder in Berlin, schloss sich Salomon, zunächst als Mitarbeiter in einer Privatbank, dann eine Zeit lang im Fellgeschäft des Vaters tätig, wohl unter dem Eindruck der Ermordung Walter Rathenaus 1922 der SPD an und wurde hier im Laufe der nächsten Jahre zu einem der führenden, wenn auch gerade nicht marxistisch orientierten Intellektuellen innerhalb des sozialdemokratischen Milieus, zu dem er bereits zuvor über seinen Heidelberger Doktorvater Emil Lederer (1882-1939) und durch seine Bekanntschaft mit Rudolf Hilferding (1877-1941) Zugang gefunden hatte. Zunächst als Autor und Rezensent, ab 1928, nachdem Hilferding als Finanzminister in das Kabinett Hermann Müller eingetreten war, als Schriftleiter der sozialdemokratischen Zeitschrift DIE GESELLSCHAFT tätig, trug Salomon schon allein dadurch, dass er mit Herbert Marcuse, Eckart Kehr, Walter Benjamin, Hans Speier, Hajo Holborn und Hannah Arendt eine Reihe ebenso prominenter wie kritischer und zugleich selbständiger Gelehrter zur Mitarbeit bewegen konnte (Gostmann 2011: 36f.), erheblich dazu bei, dass diese Zeitschrift bis 1933 zu einem der führenden kritischen Theorie-Organe der späten 1920er Jahre werden konnte und er selbst damit – heute kaum erinnert – zu einem der wichtigsten Organisatoren und Anreger innerhalb des intellektuellen Feldes der letzten Jahre der Weimarer Republik wurde (vgl. Gostmann 2011: 37). Seit 1926 Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik erhielt er dann 1931 den Ruf auf eine Professur für Soziologie am Berufspädagogischen Institut in Köln. Dabei handelte es sich um eine Einrichtung, die, wie Salomon in seinen ERINNERUNGEN schreibt, im Jahr 1928

24 Diese Verehrung wird nicht nur dadurch belegt, dass das einzige zu Lebzeiten Salomons von ihm veröffentlichte Buch »dem Andenken Georg Simmel’s« gewidmet ist (Salomon 1957: V), sondern auch durch seinen Beitrag zu dem zu Simmels 100. Geburtstag am 1.März 1958 erschienenen Buch des Dankes an Georg Simmel (vgl. Gassen und Landmann 1958: 277f.). 25 Zit. bei Gostmann 2011: 27; vgl. dazu Treiber, Sauerland (1995).

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bewusst dazu gründet worden war, »den technisch spezialisierten Lehrern einen weiten Blick [zu] vermitteln für die universalen und historischen Probleme der Welt und ihnen damit implizit kritische Werkzeuge gegen den Nationalsozialismus zu geben.« (Salomon 2008a: 26f.) Aufgrund des am 7. April 1933 erlassenen sogenannten »Gesetz(es) zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Deutschland« aus seinem Amt vertrieben, gehörte Salomon, auf Empfehlung Emil Lederers und Karl Mannheims, 1935 zu den ersten von Alvin Johnson (1874-1971) an die von ihm 1933 an der New Yorker Columbia University eingerichteten University in Exile Berufenen, aus der dann die heute weltbekannte New School of Social Research hervorging. Über die Umstände der Ausreise des zu Beginn der 1930er Jahre an Polio erkrankten, zusätzlich noch durch einen Straßenbahnunfall verletzten Salomon und seiner Familie sowie über die aufgrund der Erkrankung erschwerten Bedingungen seiner Einreise (vgl. Salomon 2008a: 38) berichtet Hannah Salomon-Janovski: »Die Entlassung aus der Lehrtätigkeit hatte Dad in tiefe Depressionen gestürzt, zudem sorgte er sich wegen der bevorstehenden Emigration und sprach kaum ein Wort. Seine Kollegin Wilhelmine Münster hatte Dad nach dem Unfall besucht und scherzhaft bemerkt, die ganze Sache habe insofern auch ihr Gutes, als dadurch seine Nase (ein markantes Erkennungszeichen) begradigt worden sei. Diese humorige Spitze scheint Dad bis ins Mark getroffen zu haben. Den Schmerz dieser inneren Blessuren konnte er nicht verbergen.« (Salomon 2008a: 37f.)

Nur dem beherzten Eingreifen des Gründers der New School Alvin Johnsons war es offensichtlich zu verdanken, dass Salomon in den USA an der University in Exile eine neue Wirkungsstände finden konnte, zu deren Senior Lecturers er dann bis zu seinem Tod am 18. Dezember 1966 zählte. Zu den bedeutendsten Schülern, die Salomon in dieser Zeit hatte, gehören die noch heute bekannten Peter L. Berger, Thomas Luckmann und auch Richard Grathoff. Bekannte in New York wurden Martin Buber (1878-1965) und der ebenfalls in Berlin geborene Gershom Scholem (18971982), zudem fand er Zugang zu der in der Park Avenue gelegenen Synagoge, deren durch den 1916 von Mordecai Kaplan (1881-1983) begründeten Reconstructionist Judaism beeinflusste Rabbiner Milton Steinberg (1903-1950) zu einem wichtigen Gesprächspartner wurde.26 Freilich blieb Salomon durch seine PolioErkrankung Zeit seines Lebens gehandikapt. »Fortunately«, so berichtet Johnson in seiner Autobiographie über Salomons gerade noch geglückte Flucht und deren Verzögerung, ja Gefährdung aufgrund der Umstände seiner Krankheit, »he got away before Hitler’s madness evolved to mass murder.« (Johnson 1960: 345)

26 Vgl. Salomon-Janovski 2008: 47-49; Gostmann 2011: 51-54.

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So erhalten wir über Salomons Lebenslauf und sein Werk zum einen Anschluss an das deutsche intellektuelle Milieu liberaler und sozialdemokratischer Prägung vor und nach dem ersten Weltkrieg, an ein sozialdemokratisch-republikanisches Denken unter den Rahmenbedingungen und im Erfahrungsraum der Weimarer Republik, aber auch an die intellektuellen Szenen des US-amerikanischen Exils.27 Zugleich tritt dabei das Geflecht von Verwebungen eines zwischen Aufklärung und religiösen Traditionslinien sich ausgestaltenden nordamerikanischen Judentums in Erscheinung.28 In diesem Rahmen war Salomon u. a. mit konservativen Denkern wie Leo Strauss (1899-1973), ebenso aber auch mit Alfred Schütz (1899-1959), dem ebenfalls aus Berlin stammenden Lewis Coser (1913-2003) und zweitweise auch mit Hannah Arendt befreundet (vgl. Gostmann 2011: 47-49). Aber auch eine Reihe sozialdemokratischer, keineswegs marxistisch ausgerichteter Wissenschaftler und Philosophen gehörten von Heidelberg bis New York immer wieder zu seinem engeren Kreis, so dass wir zum anderen ihn auch als Schnittpunkt zwischen konservativer Modernekritik und einer liberal-sozialdemokratischen Gesellschaftskritik sehen können, deren Gemeinsamkeit in einer individualistischen und vor allem antitotalitaristischen Blickrichtung auf die Moderne als eines Zeitalters der Planung, des Umbaus von Mensch und Gesellschaft nach generalisierten Vorgaben und in der Kritik, ja in der Abwehr der Tyrannei einer vermeintlich wissenschaftlich entfalteten Rationalität und Rationalisierung gesellschaftlicher Prozesse und individueller Beeinflussung besteht.29 Über sein Leben und seine Schriften kommen damit Bezugslinien in den Blick, die die Gesellschafts- und Kulturtheorie und –beobachtung aus der Welt von vor 1914 nicht nur mit der Zwischenkriegszeit und dem US-amerikanischen Exil der 1930er und 1940er Jahre verbinden, sondern auch wieder in die Welt und in das Denken des »Atomzeitalters« nach 1945 hinein führen und so vielleicht erst heute angesichts neuerlich in Erscheinung tretender Divergenzen zwischen Systementwicklungen und deren Möglichkeiten zur Rückbindung an die Lebenserfahrungen

27 Zu beiden Stationen vgl. jetzt Gostmann 2014, Kap.3.2. und Kap.3.3. 28 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen und die Gliederung in Gostmann 2014: Kap. 4. 29 Dass sich damit auch Bezugslinien zu Max Horkheimers ECLIPSE OF REASON (1947) und den diesbezüglichen Folge-Erscheinungen einer DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG (1944/1947) ergeben, kann hier nicht weiter verfolgt werden, würde allerdings eher in den genannten Schriften eine kulturkonservative Tönung beleuchten als dass Salomons Kritik damit Anschluss an deren marxistisch grundierte Kapitalismus kritische Rezeption finden könnte.

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und Lebenswelten von Menschen in der Post-Moderne30 in ihrer ganzen Reichweite (auch Aktualität) wieder aufgenommen werden können. Wenn es darum gehen soll, aus seiner Blickrichtung die sich nach 1945 neu formierende intellektuelle Szene der beiden deutschen Staaten in den Blick zu nehmen und ggf. von heute aus das damit sich zeigende Denken und Beziehungsgeflecht im Blick auf aktuelle Fragestellungen und Orientierungspunkte wieder aufzunehmen, so bieten Salomons Werke und Lebenserfahrungen in dreierlei Hinsicht eine Perspektive von Außen: Zum Ersten formuliert es eine Sicht auf Deutschland und Europa aus der Sicht des Exils (I), freilich auf der Basis und als Vergegenwärtigung eines spezifisch alteuropäischen, in Europa ebenso wie in den USA zeitgenössisch allerdings weitgehend verschütteten Traditionsbezugs. Zum zweiten entfaltet Salomon eine Sicht auf die mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts von Europa aus sich weltweit entfaltende Industriemoderne 31 aus Perspektiven der Vormoderne (II), zumindest aus der Sicht von Beobachtern, die wie Saint Simon der Ältere (1675-1755) und in anderer Weise auch die von Salomon verehrten und mehrfach in Studien untersuchten Jacob Burckhardt (1818-1897) und Alexis de Tocqueville (1805-1859) aus der Sicht der »Verlierer«32 den Erfolg und die durchaus zweifelhafte, zumindest »schwankende« Selbstlegitimation der Moderne verfolgten. Schließlich boten (III) das christliche Denken, katholische Denker wie Erasmus oder auch der französische Philosoph, Schriftsteller und Sozialreformer Charles Péguy (1873-1914), zumal aber die auf die Lehransprüche der Propheten sich stützende jüdische Tradition (vgl. dazu Gostmann 2014: 280-300),33 auch für Salomon noch einmal einen Gegenentwurf zu den durch den industriegesellschaftlichen Fortschritt ebenso wie den Positivismus und eine szientistisch entfaltete Religionskritik gestützten innerweltlichen Erlösungs- und Heilsversprechen des Industriezeitalters. In dieser Hinsicht ist vor allem auf die zunächst 1949 in der jüdischen Zeitschrift COMMENTARY veröffentlichte Studie PROPHETS, PRIESTS, AND SOCIAL SCIENTISTS (Salomon 1963: 387-386) hinzuweisen, die in einer Art Vermächtnis,

30 Ich verwende diesen Begriff in der auch analytisch nutzbaren Bestimmung, wie sie bei Giddens 1995: 201-213 vorgelegt wurde. 31 Für die Entfaltung und Kritik dieser mit der Moderne verbundenen globalen Perspektive vgl. Salomon 1957: 47ff. 32 Vgl. dazu bereits den Untertitel der dem älteren Saint-Simon gewidmeten Studie LOUIS DUC DE SAINT-SIMON: CLASS CONSCIOUSNESS OF THE DEFEATED (Salomon 1963: 6193). 33 Dass Salomon mit seiner Verknüpfung der Propheten mit Fragen der Gesellschaftskritik und intellektueller Praxis nicht alleine steht, lässt sich u. a. mit dem Verweis auf die diesbezüglichen Ausführungen Michael Walzers zeigen; vgl. Walzer 1990: 81-108.

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nur noch gefolgt von einem kurzen, durchaus emphatischen EPILOGUE mit dem Bekenntnis zu einem unverzichtbaren Festhalten am »Licht« der Aufklärung (Salomon 1963: 399f.), die Aufsatzsammlung von 1963 dann abschließt.34 Es handelt sich dabei zum einen um einen Abriss religionssoziologischer Fragestellungen, die im Rahmen einer Evolutionsgeschichte des Fachgebietes Soziologie aufgenommen werden können. Soziologie erscheint dabei in doppelter Hinsicht als eine Beobachtung der Verliererseite, zum ersten indem sie im Blick auf die Realisierungsansprüche religiöser Weltgestaltung von deren Grenzen und letztlichem Scheitern im Versuch »to identify the city of man with the City of God« (Salomon 1963: 388) berichtet. »With regard to this failure, sociology can tell us how theological creed became the ideological weapon of a certain class […] and to what degree, ideal values become subordinate to material ends.« (Ebd.) Aber indem die soziologische Beobachtung religiösen Strebens in der Welt von dessen Verweltlichung und letztendlicher Niederlage35 berichtet, ja gerade in ihrem eigenen Aufstieg im Sinne von Comtes »Drei-Stadiengesetz« (vgl. Comte 1972: 111-120) diese sogar bezeugt, muss sie in einem zweiten Schritt auch ihre eigenen Grenzen, ja eine Niederlage eigner Art hinsichtlich ihrer Welt erklärenden, ja ggf. Welt verbessernden Zielsetzungen anerkennen. »With the realization that the so-called scientific theories of sociology have no claim to ›absolute‹ or ›neutral‹ truth, sociology suffers the same fate as did the church when its claim to absolute truth was disputed by science – sociology becomes an object of study for sociology.« (Ebd.: 389) Nicht zuletzt wird damit der Schritt zu einer Wissenssoziologie erkennbar, der im Sinne Mannheims die von Salomon mit den »großen« Soziologen des 19. Jahrhunderts: Henri de Saint-Simon, Comte und Marx verbundene Überhebung der Soziologie zu einer innerweltlichen Heilslehre selbst als historisches Faktum und Ergebnis sozialer Lagerungen, Prozesse und Interessen in einem innerweltlichen, damit eben auch relativistischen Sinn zu erklären sucht: »[…] denn aus dem Bereich des Göttlichen können dann keine Symbole mehr gebildet werden, die dem Leben als Einheit einen Sinn verleihen. Das Ganze besteht nicht mehr aus konstituti-

34 »Beyond all theologies, it is universally valid in the worlds inhabited by men that Light shines in the darknesses, but that darknesses stubbornly disregard the Light. For this reason enlightenment is a lasting postulate and, ultimately, identical with philosophy.« (Salomon 1963: 399f.). Gerade im Blick auf den hier in Rede stehenden Aufsatz ist freilich darauf hinzuweisen, dass das hier angesprochene Licht (vielleicht auch im Sinne Benjamins, evt. Adornos) durchaus auch als messianisches Licht aufgefasst werden kann, ohne dessen »Erleuchtung« sich keine Dunkelheit in der Welt der Menschen erkunden lässt. 35 »defeat of the religious intention« (Salomon 1963: 389).

144 | W ERNER N ELL ven Elementen wie Gott, Mensch, Mitwelt und Welt. Es wird zu einer Einbahnstraße, in der man nicht umkehren kann.« (Salomon 1957: 74)

Statt eines Beispiels historischen Fortschritts ergibt sich für Salomon aus dieser Versuchung zum Absoluten, die beide Strebungen, das in religiösen Orientierungen sich zeigende Begehren nach Selbsttranszendenz (Joas 2004: 17) und den in wissenschaftlichem Forschen sich manifestierenden Willen zu grenzenloser Erkenntnis, an ihre jeweiligen Grenzen führt, eine wechselseitige Beobachtungsposition und Beschränkung, die nicht nur Religion zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Erkundung macht, sondern diese wiederum auch zum Thema religiöser Beobachtung: »[…] under these circumstances, sociology exposes itself as an object of study for the religious mind, too.« (Salomon 1963: 389 f.) Mehr noch, im Vergleich der beiden durchaus miteinander konkurrierenden Sinnsysteme36 wird eine Inkommensurabilität hinsichtlich der damit angesprochenen Zielsetzungen und Wertsphären erkennbar, die einem auf funktionale Differenzierung und wechselseitige Komplementarität unterschiedlichen Subsysteme hin angelegten Selbstverständnis innerweltlicher Moderne-Vorstellungen zuwiderläuft. »From this, however, there flows the classic blunder of modern, scientific, secular civilization concerning religion: the assumption that religion is just one other cultural motif, like some particular technology or philosophy.« (Ebd.: 398)

Ähnlich wie in der zeitgenössischen Diskussion um und bei Charles Taylor (vgl. Taylor 2002: 67-69) bildet auch für Salomon die Kritik an Émile Durkheims Studien zu LES FORMES ÉLÉMENTAIRES DE LA VIE RELIGIEUSE (1912) einen Ausgangspunkt für die Unterscheidung bzw. auch Begrenzung säkular wissenschaftsbezogener Perspektiven und Zugänge zu dem, was als religiöse Erfahrung und religiöse Form eines weltbezogenen und zugleich ggf. Transzendenz orientierten Wissens/Glaubens in Erscheinung tritt. Auch Durkheim sieht zunächst die Bedeutung des Religiösen, sowohl der im Glauben vermittelten religiösen Erfahrung als auch der in der kirchlichen Gemeinschaft konstituierten Zugehörigkeit darin, dass Menschen über sich und ihre als Beschränkung erfahrenen jeweiligen sozialen, historischen und auch biographischen Situationen hinaus zu wachsen vermögen:

36 »As a matter of fact, religions have always viewed science as a rival faith, suspecting sociology of the ambition to set itself up to be […] the pretender-messiah of modern mankind.” (Salomon 1963: 390)

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»Denn sie fühlen in der Tat, dass die wahre Funktion der Religion nicht darin besteht, uns zum Denken zu bringen, unser Wissen zu bereichern, unsere Vorstellungen zu ergänzen, die wir der Wissenschaft verdanken […], sondern uns zum Handeln zu bringen und uns helfen zu leben. Der Gläubige, der mit seinem Gott kommuniziert hat, ist nicht nur eine Mensch, der neue Wahrheiten sieht, die der Ungläubige nicht kennt: er ist ein Mensch, der mehr kann. Er fühlt mehr Kraft in sich, entweder um die Schwierigkeiten des Lebens zu ertragen oder um sie zu überwinden. Er scheint über der menschlichen Not zu stehen […] Er glaubt, vom Übel, unter welcher Form er es auch auffassen mag, befreit zu sein. Der erste Artikel eines jeden Glaubens ist der Glaube an das Heil durch den Glauben.« (Durkheim 1981:558; Hervorh. im Text – W. N.)

Im Zentrum steht dabei für Durkheim allerdings die innerweltliche Funktion einer solchen Selbstprogrammierung zum Heiligen, als deren Rahmen dann die Gesellschaft als das Feld der Überschreitung jeweiliger Individualität durch die ebenso dogmatisch wie traditional und ggf. rituell hergestellte Erfahrung einer Gemeinschaft als Ursache und Kern der religiösen Lebens in Erscheinung tritt: »Wir haben gezeigt, welche moralischen Kräfte sie [die Gesellschaft-W.N.] entwickelt und wie sie diese Gefühle der Anlehnung, des Schutzes, der schützenden Abhängigkeit erweckt, die den Gläubigen an seinen Kult binden. Sie hebt sich über sich hinaus: sie selbst tut das. Denn was den Menschen ausmacht, ist jene Summe von intellektuellen Gütern, die die Zivilisation bilden und die Zivilisation ist das Werk der Gesellschaft. So kann man die überragende Rolle des Kults in allen Religionen erklären« (Durkheim 1981: 560).

Indem Durkheim in dieser Weise die Erscheinungsformen des Religiösen ebenso wie seine Gehalte als eine Funktion des sozialen Zusammenhals bestimmt, überantwortet er freilich die gesamte Sphäre religiöser Erfahrung und Selbstverortung an das Feld des Gesellschaftlichen und damit auch an das Arbeitsgebiet der Soziologie. Gegen diese Reduktion des Religiösen auf das Soziale aber erhebt Salomon ebenso wie im übrigen Taylor in der Auseinandersetzung mit William James (vgl. Taylor 2002: 97-102) Einspruch. Während für Taylor die bereits von Durkheim beschriebene Bindung des Religiösen an die Erfahrung einer sozialen Bewegung in Permanenz: »Die Gesellschaft kann ihren Einfluss nicht fühlbar machen, außer sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln.« (Durkheim 1981: 560) einen Faktor anspricht, der in der von ihm so bezeichneten »neo-durkheimianischen« Phase (vgl. Taylor 2002: 68) der Ausbildung zeitgenössischer Religiosität Nationenbildung ebenso wie andere Formen »ethnischer Gemeinschaftsbeziehungen« (Weber 1972: 234) ermöglicht, stellt diese soziale Funktionalisierung des Religiösen für Salomon, der sich hier

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ebenfalls auf Max Weber bezieht (vgl. Salomon 1963: 394),37 einen Abweg vom Verständnis des Religiösen dar, das dann lediglich noch im Sinne einer Ideologie erfasst werden kann: »Insofar as religion expresses itself in social processes, sociology can handle it. But this means that there can be no sociology of religion but only of irreligion.« (Ebd.: 398) Beginnend mit religionsphilosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Zugängen zu den Formen und Erfahrungen des Religiösen aus der Welt des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, also mit Bayle, Fontenelle und Vico (Vgl. ebd.: 393f.), entwickelt Salomon zunächst eine Argumentationslinie, in deren Folge dann Marx und Comte im 19.Jahrhundert als diejenigen zur Sprache kommen, die Religion auf ihre Funktion, sei es als soziale Kompensations- oder auch Mobilisierungsstrategie, innerhalb spezifischer innerweltlicher historischer und sozialer Prozesse bestimmen – und damit das Wesen des Religiösen im Ganzen verkennen: »Religion has traditionally claimed to express an inner relation to a being beyond and higher than ourselves. It takes itself to be a primary phenomenon which in the last analysis is irreducible to anything else, be it science or poetry. Religious men consider the whole of reality as a unity impregnated with a divine meaning.« (Ebd.: 388)

Gerade hier, sicherlich im Gegensatz zu einem laizistisch orientierten Selbstverständnis, das zumal im Blick auf Sartre oder auch Camus die Wahrnehmung der Intellektuellen nach 1945 ausgemacht hat und wohl auch bis in die Gegenwart hinein noch den Ton angibt,38 beharrt Salomon auf der Unreduzierbarkeit des Religiösen und verweist in diesem Rahmen – ähnlich wie Michael Walzer (Walzer 1990: 81ff.), aber mit unterschiedlichen sozialpolitischen Akzenten – auch auf die Tradition und Praxis der jüdischen Propheten (Salomon 1963: 395f.). Zugleich beschreibt er die eigene Stelle eines diesbezüglich Brücken bauenden und die Inkommensurabilität der in Rede stehenden Sphären wahrenden intellektuellen Engagements durchaus in Anlehnung an Max Webers Typenbildung religiöser Praxis (vgl. Weber 1992b)39 als eine Zwischen-, Rand- und Übergangsstelle zwischen den religiösen Visionären (»visionary«), den Propheten, einerseits und den Vertretern der Glaubensgemeinschaften als sozialen Organisationen (»ecclesiastic«), den Priestern andererseits (vgl. Salomon 1963: 388)

37 Zu Taylors Weber-Referenzen vgl. Taylor 2002: 15 u.p. 38 Vgl. dazu etwa das noch von Jürgen Habermas mehrfach zitierte Wort Max Webers vom »religiös unmusikalischen Menschen«; Kaesler 2009; Weber 1992: 395. 39 Auch hier böten sich weitergehende Vergleiche zu Taylors an William James entwickelter Typologie (Vgl. Taylor 2002: 27f.) an.

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»So an opposition arises between the visionary, the man of the original insight, and, on the other side, the priest, the theologian, and ecclesiastic, who take the primary spiritual experiences as given and preoccupy themselves with the erection of creeds and institutions. Both types are integral to religious life.« (Ebd.)

Für die eigene Stelle des Beobachters und selbstreflexiven Forschers, durchaus im Gegensatz zu einem areligiös wissenschaftlich sich verstehenden Betrachter nimmt Salomon dagegen die Position eines »spiritual thinkers« in Anspruch, der sich gerade in seinem intellektuellen Selbstverständnis der Grenzen des eigenen Zugangs zu seinem Gegenstand bewusst ist, ohne damit die Realitätsbezüge und Rationalitätsansprüche »menschlicher«, wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen preiszugeben: »one who accepts devine revelation as true and yet sufficiently secular to be able to abstract himself from the religious situation in order to survey the history of humanity and its religions« (Salomon 1963: 394) Als Vorbilder nennt Salomon Erasmus von Rotterdam (Vgl. ebd.: 396), aber auch die Gabriel Marcel, Charles Péguy, sowie den jungen, noch nicht zum Marxisten gewordenen Georg Lukács. (Ebd.: 397) Wenn Salomon im Blick auf Jacob Taubes (1923-1987), auf dessen 1947 erschienene ABENDLÄNDISCHE ESCHATOLOGIE er sich hier bezieht, davon spricht: »Writing from his marginal position, Taubes can see religion from within and without« (Ebd.: 395), so umreißt dies auch seine Auffassung einer intellektuellen Praxis, über deren Gefährdetheit er sich ebenso Auskunft zu geben sucht wie über deren privilegierten Stellenwert: »Such men exist in a state of permanent tension, committed to one revealed truth, yet not blind to the passionate and profound claims of other religions, and, indeed, of scientific rationalism itself. They are the living and distressed witnesses of the fact that God and the whole are no longer, and not yet, one.« (Salomon 1963: 394)

Aber auch noch in einer anderen Hinsicht, und so ist auch Salomons EssaySammlung von 1963 angeordnet, stehen seine Reflexionen über den Stellenwert des Religiösen im Zusammenhang wissenschaftsbezogener Erkenntnis- und insoweit auch Wissenstheorie. Wie Eric Voegelin (1901-1985) (vgl. Voegelin [1939] 1996; Opitz 2006) versteht auch Salomon die seit dem 19.Jahrhundert, zumal bei SaintSimon, Hegel, Comte und Marx auf den Weg gebrachten »politischen Religionen« als Formationskräfte der im 20. Jahrhundert in aller Brutalität in Erscheinung tretenden totalitären Ideologien und Massenmord-Programme.40 Dass Salomon überdies die sozialphilosophischen Grundlagen und sozialen Planungsvorhaben der frü-

40 Vgl. dazu den Aufsatz DIE RELIGION DES FORTSCHRITTS (1946), in: Salomon 2010: 191210.

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hen Soziologen des 19. Jahrhundert, Hegel und Marx, Comte und dem jüngeren Saint Simon eine entsprechend fatale und inhumane Tendenz zur Überformung der älteren diversifizierten und damit möglicherweise humaneren Verhältnisse zuschrieb, ja in der Soziologie, wie es die schärfsten Anti-Soziologen nicht anders gesehen hätten, eine den Menschen überfordernde, ggf. abschaffende eigenständige Ideologie zu kritisieren fand (vgl. Salomon 1957: 65), dürfte ihm weder bei den empirisch und »modern« sich verstehenden Soziologen der Zeit nach 1945 noch bei den an diesen orientierten politischen oder sonstwie gesellschaftsgestalterisch in Erscheinung tretenden Funktionseliten der Nachkriegsgesellschaften in Ost und West besondere Aufmerksamkeit oder gar Rückhalt vermittelt haben. Unmissverständlich sieht Salomon auch noch in der zeitgenössischen Soziologie der 1950er Jahre eine Tendenz der forschungsstrategischen Unterwerfung des Individuums unter die Vorgaben eines soziologisch der Gesellschaft zugeschriebenen Kollektivismus: »There is«, so heißt es in der 1955 erstellten Studie SYMBOLS AND IMAGES IN THE CONSTITUTION OF SOCIETY »a conception of society which is antagonistic to the individual approach. The discipline of sociology as an empirical science has its raison d‘être in the assumption that society is the sum-total of collective consciousness and of collective affections. The sociologist sees the individual as part of the whole. He regards the individual as conditioned and indoctrinated by the system of preferences and of goods which appear as plurality of symbols to the members of society.« (Salomon 1963: 247)

Auch wenn Salomons Position sich hier der Kultur- und Marktkritik der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG annähert (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 37-42), war für einen solchen Totalverdacht gegenüber sozialer Planung und soziologisch rationalisierten Gesellschaftsentwürfen, die Salomon vor allem im Blick auf die französische Tradition von Comte bis Durkheim, aber auch an der zeitgenössischen USamerikanischen Soziologie (vgl. Matthiesen 1988; Papcke 1993: 209)41 kritisierte, zunächst einmal jenseits der großen Strömungen und Schulen, zwischen liberalen und marxistischen, empirisch-analytischen und quantitativ-marktorientierten Ansätzen in der Soziologie der 1950er und 1960er Jahre wenig Resonanz zu erwarten. Zumindest in Zeiten des Wiederaufbaus, der Blockkonfrontation und einer damit einhergehenden wechselseitigen Schuldzuschreibung hinsichtlich der Katastrophen der Vergangenheit, nicht zuletzt prospektiver Erwartungen auf eine »strahlende« Zukunft war für Einzelgänger und rückwärts gewandte Ideen-Historiker42 offen-

41 Siehe auch zum Vergleich Adorno (1969). 42 Vgl. dazu den Untertitel der Aufsatzsammlung von 1963: ESSAYS IN THE HISTORY OF IDEAS (Hervorh. von mir - W.N.).

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sichtlich ebenso wenig Platz wie für Querdenker oder solche, die wie Albert Salomon es unternahmen, gegenläufig zu einem in dieser Zeit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs vorherrschenden, v. a. auf wissenschaftlich-technische Entwicklungen gestützten Fortschrittglauben (vgl. dazu Aron 1953) an die »prekäre Lage des Menschen in einer Welt unerbittlichen Fortschritts« zu erinnern, bzw. dessen Verheißungen jenseits der großen Strömungen und Schulen »einer Nachprüfung zu unterziehen.«43 Alfred Döblins resignative Einsicht, »Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder« (Döblin [1946] 1980: 431), mag hier im Hintergrund anklingen, wobei anders als in Döblins Welt die Familie Salomon noch bis in die 1950er Jahre auf der New Yorker Upper East Side Weihnachten und andere für einen »deutschen Haushalt« (vgl. Salomon-Janovski 2008a: 41) charakteristischen Feste feierte und Salomon sich zeitlebens wohl auch in Amerika noch immer ebenso als »Berliner« 44 verstand wie sich seine Frau auf ggf. »kölsche« Traditionen beziehen wollte (vgl. ebd.: 58), ja die Erfahrung einer negativ besetzten Gegenwart durch eine gleichsam heilsame, auf Heilung hin angelegte Erinnerung an die Grundlagen und Werke der älteren deutschen und auch europäischen Kultur, auch durch die Evokation der darin in Erscheinung tretenden repräsentativen Gestalten wie etwa Jakob Burckhardt 45 oder auch Goethe46 auszugleichen suchte. (Vgl. Härpfer 2009: 133-140) Zugleich aber stellte die Judenvernichtung, der zwischen 1933 und 1945 auch einige der nächsten Familienangehörigen zum Opfer fielen, eine Erfahrung dar, die für Salomon nach dem Ende des NS-Regimes doch weiterhin jeden Gedanken an die Rückkehr oder auch nur eine Reise nach Deutschland völlig ausschloss. »In Amerika«, so berichtet Benita Luckmann in ihrer Studie zu Heimkehr und Exil im Umfeld der »New School of Social Research«, »kehrte er zum Glauben seiner Väter zurück und wurde ein stolzer Jude. Als ihn jemand nach Deutschland einlädt, antwortet er: ›Damit ich auf einem Kissen schlafen kann, das mit den Haaren meiner Mutter gefüllt ist.‹«47

43 Albert Salomon, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Salomon 1957: VII. 44 »In seinen Lebenserinnerungen schreibt er, in Berlin habe er das notwenige Rüstzeug für den Rest seines Lebens erhalten.« (Salomon-Janovski 2008a: 45; vgl. Salomon 2008a: 14f.) 45 So vor allem in der erstmals 1945 erschienen Studie JENSEITS DER GESCHICHTE: JACOB BURCKHARDT (Salomon 2010:137-190). 46 So enthält die Essay-Sammlung von 1963 auch die Rede, die Salomon zu seinen Ehren 1932 in Berlin aus Anlass des hundertsten Todestages 1932 in Berlin gehalten hat; vgl. Salomon 1963: 151-172; dt. Salomon 2008: 215-242; dazu Gostmann 2014: 280-289. 47 Luckmann 1988: 367 (aus einem Brief der Tochter an die Verf. vom 30.5. 1984).

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Dem steht nun allerdings auch wiederum gegenüber, dass sich Salomon wie kaum ein anderer der im Zuge der gewaltsamen Umsetzung des völkischen Rassismus und Antisemitismus während der NS-Zeit aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftler bis an sein Lebensende zugleich in einem positiven, affirmativen Sinn auf die ältere deutsche Geistes- und Kulturgeschichte, namentlich von Goethe und Kleist über Jakob Burckhardt und Hofmannsthal bis zu Max Weber und Georg Simmel (vgl. Salomon 2008a: 29), bezogen hat, so dass hier zum einen in mindestens dreifacher Weise an einen bislang vergessenen »Vermittler« zwischen der älteren Geistesgeschichte und zeitgenössischer Moderne-Theorie zu erinnern ist. Zum einen zielen Salomons Studien zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, immerhin hatte er seine schon während des Ersten Weltkrieges begonnene, 1921 dann eingereichte Dissertation DER FREUNDSCHAFTSKULT IN DEUTSCHLAND WÄHREND DES 18. JAHRHUNDERTS (Salomon 2008a: 81-142) bereits den Wechselbeziehungen zwischen literarischen und kulturgeschichtlichen Faktoren und Entwicklungen im 18. Jahrhundert gewidmet, auf eine Integration der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte in gesamteuropäische Zusammenhänge. Kennzeichnend für diesen Zugang sind seine lebenslange und zumal nach 1945 noch einmal intensivierte Beschäftigung mit den Werken und dem Denken von Alexis de Tocqueville zum einen, Jacob Burkhardt zum andren; ferner gehören seine Studien zu einer europäischen Moralistik, die er beginnend bei Erasmus von Rotterdam über französische Denker des 17. und 18. Jahrhunderts wie La Rochefoucault und Fontenelle bis zu Nietzsche und Max Weber auszog, ebenfalls in diesen Zusammenhang. Zum zweiten ging es ihm – mit Anthony Giddens gesprochen – um die »Rückbettung« (Giddens 1995: 102f.) der Welt der Moderne in die Lebenszusammenhänge eines älteren Europa, dessen Konturen er über die Moralistik und den Humanismus hinaus bis in die antike Stoa zurückverfolgte bzw. deren Denken als aktuelle Anstöße aufzubieten suchte. Schließlich ging es ihm zum Dritten um die Vermittlung von Literatur und Sozialwissenschaften, in dem er – den zeitgenössischen Trends der US-amerikanischen Soziologie in ihrem Empirismus und Pragmatismus ebenso wiederstrebend wie den Planungs- und Szientismus-Vorstellungen der »großen« französischen Soziologen des 19. Jahrhunderts, auch darin Marx (und Hegel) widersprechend – darum Soziologie und sozialwissenschaftliches Denken als ein geisteswissenschaftlich ausgerichtetes Projekt darzustellen, in dessen Mittelpunkt der Mensch als ein animal sociale zu stehen habe. Der Mensch rückt damit in seiner anthropologischen Gegebenheit in den Mittelpunkt, zu deren besonderen Eigenschaften freilich – im Sinne der Anthropologie des jungen Marx durchaus auch anschlussfähig – seine Bestimmbarkeit durch soziale Lagerungen, Impulse und Verhältnisse im Besonderen gehöre.48

48 Vgl. dazu auch das Nachwort zur Essay-Sammlung von1963, 399f.

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Es nimmt nicht wunder, dass in dieser Sicht Salomon nicht nur – in Berichten über ihn immer wieder mit Verwunderung angesprochen – 1948 an der »New School« einen Kurs unter dem Titel INTRODUCTION TO SOCIOLOGY: BALZAC AS SOCIOLOGIST (Salomon 2011: 253-264) gehalten hat, sondern dass er auch in der bereits oben angeführten Studie über SYMBOLS AND IMAGES auf Goethes Gesellschaftsvorstellungen als wegweisende Impulse für eine auf die Moderne gerichtete soziologische Erkenntnisorientierung hinweist: »Goethe’s view of society as reflected in his analysis of the Roman carnival implies that society is something between nature and art. It is the world of the Schein. […] according to Goethe, there are three powers that control the world: wisdom, force and Schein. […] Schein is the sum-total of all ideal images and symbols that direct, guide and give meaning to social conduct. […] a basic sociological category […].« (Salomon 1963: 245)49 Im Ganzen, so hat sich Salomon wohl auch verstanden, bedeutet diese Ansätze eine Rückwendung auf ältere, abendländische Vorstellungen, eine Intention und ein Forschungsprogramm, das ihn nicht nur gegenüber den nach 1945 in der westdeutschen Soziologie vorherrschenden empiristischen, technologischen Tendenzen isoliert hat, sondern ihm auch in der US-amerikanischen Soziologie jene Randstellung eingebracht hat, die er im Blick auf Jacob Taubes selbst formuliert hatte: »writing from his marginal position« (Salomon 1963: 395). Von hier aus, so soll es abschließend versucht werden, lassen sich wohl drei Brücken zu Salomon und seiner Stellung at the margins benennen, über die (a) die zeitgenössische Signifikanz von Salomons Denken in den 1950er und 1968er Jahren herausgestellt werden kann, zugleich (b) eine gewissen Aktualität der von Salomon bearbeiteten, damals ggf. anachronistisch erscheinenden Autoren und Lektüren zu postulieren ist und (c) erneut auch der Nutzen einer Kooperation von sozialwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Arbeitsansätzen erkennbar zu werden vermag. Vor allem aber zielt der Beitrag natürlich darauf, mit Albert Salomon einen ganz zu Unrecht vergessenen Beobachter und Interpreten der deutschen Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert vorzustellen und über die hier vorgenommene biographisch-historische Verortung hinaus einen Standpunkt zu skizzieren, der von späterer, nach 1968er dann prominent gewordener »kritischer«, ja kritisch-materialistischer Perspektive zunächst als »idealistisch« bzw. spezifisch bürgerlicher Ideologie zugehörige konservative Orientierung sicherlich eher vernachlässigt wurde. Tatsächlich ist wohl auch in Rechnung zu stellen, dass diese Orientierung gerade durch die deutsche Entwicklung zum Faschismus und die damit ver-

49 Aufschlussreich sind an dieser Stelle auch seine Überlegungen zur Übersetzbarkeit von »Schein«: »Actually, the term challenges all translations: it is shining light, appearance, illusion, fiction, duplicity, and ambiguity. It is beauty as its climax.« (Ebd.)

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bundene Selbstentmächtigung eines humanistisch gebildeten Bürgertums 50 weitgehend bis gänzlich delegitimiert erschien und wohl auch erscheinen musste. (Vgl. Haug 31970: 33-48) Die damit angesprochene Überholtheit eines in den 1950er Jahren in bürgerlichen und sonstwie gebildeten Kreisen durchaus noch attraktiven abendländischhumanistischen Denkens (vgl. Repgen 2005: 3) in einer auf Fortschritt und Reformen ausgehenden, mitunter sogar Kulturrevolution, Populärkultur oder proletarische Öffentlichkeiten anvisierenden zeitgemäß sich als »nachbürgerliche« Kultur verstehenden kritischen Gesellschaft, was sich unter anderem auch an der bis vor Kurzem nicht vorhandenen Rezeptions- und Publikationsgeschichte der Schriften Salomons festmachen lässt, korreliert dabei auf charakteristische Weise einem aus der Sichtweise eines genuin auf die Moderne und ihre Fortschritts- und Generalisierungsimplikationen gerichteten sozialwissenschaftlichen Erklärungsanspruchs, in dessen Rahmen eine zumindest im Sinne Seyla Benhabibs als »zögerlich« anzusprechende Haltung zu den Grundannahmen der Moderne und ihren Machbarkeits-, Funktionalisierungs-, Mobilisierungs- und Normierungsansprüchen und -vorstellungen als anachronistisch bzw. ideologische Residualkategorie erscheinen muss. Dies trifft freilich mehr noch als auf die bei Benhabib als »zögerliche Vertreterin« der Moderne angesprochene Hannah Arendt (vgl. Benhabib 1998; Schulze Wessel 2006: 15-17) auf Albert Salomon zu, dessen Rückwendung auf explizit vormoderne, humanistische und moralistische Literatur und Lebensentwürfe, denen er in einer Fülle von Einzelstudien seit den 1920er Jahren nachgegangen ist, durchaus als Ausgangspunkte dazu dienen können, um seine Beobachtungen der zeitgenössischen Bundesrepublik nach 1945 vorzustellen, wobei hier – im Blick auf die historische und aktuelle Entwicklung beider deutscher Gesellschaften – dann auch deren Vorgeschichte, der Weg »von Bismarck zu Hitler« und die Frage nach den Erklärungsmöglichkeiten für den deutschen Massenmord an den europäischen Juden in den Blick zu nehmen sind. Dies wiederum führt auf eine bei Salomon grundlegende und für seine Rolle als Soziologe, zumal in einer zeitgenössisch in den 1950er Jahren zwischen westlicher Modernisierungstheorie und östlichem Produktivitätsglauben angesiedelten soziologischen Profession, durchaus unbequemen Stellung zwischen den Stühlen, die durch sein Interesse an Kulturgeschichte, literarischer Ästhetik und an der Geschichte politischer Ideen – allenfalls in einem wissenssoziologischen Sinne noch der Soziologie zuzurechnen – noch verschärft wird und sicherlich auch seiner Ausstrahlung aus dem Exil zurück in die deutschsprachigen Zusammenhänge nicht

50 Alfred Andersch: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.« Andersch 1995: 50.

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dienlich war. So nimmt es nicht wunder, dass die einzige Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten (und auch eben noch bis zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts) in deutscher Sprache nach 1945 einer durchaus auch an »reaktionäre« Strömungen anschließbaren Kritik des Fortschrittglaubens und einer auf Sozialplanung ausgerichteten soziologischen Programmatik bei einigen Gründungsvätern der Soziologie selbst gewidmet war: »Die frühen Soziologen, deren Denken in den Grenzen der Philosophie des Fortschritts verhaftet blieb, betonten, daß der Fortschritt nur von einer industriellen Gesellschaft getragen werden könnte. Man kann es nicht oft genug wiederholen, daß diese Männer die Wirklichkeit des Fortschritts im Kollektiven sahen, und daß ihnen der einzelne ein geschichtsloser Unbekannter war. Sie verehrten die Gesellschaft als Schöpfer, Gestalter, Treibkraft und Hoffnung der Welt.« (Salomon 1957: 74)

Mit Blick auf die räumliche Beschränkung dieser Skizze 51 sollen die drei genannten Brücken abschließend anhand eines der vielen in Frage kommenden Aufsätze angesprochen werden, der unter dem Titel TOCQUEVILLE – MORALIST UND SOZIOLOGE (1935) zunächst diesen von Salomon verehrten politischen Philosophen und Beobachter der zeitgenössischen »Amerikanischen Demokratie« zum Anlass nimmt, um unter dem Eindruck der Machtübernahme des Faschismus in Europa und im Blick auf das gerade betretene amerikanische Exil einen Umriss des von Salomon vertretenen Gesellschaftsmodells und seiner darauf aufbauenden Kritik zeitgenössischer Gewaltherrschaft, auch in den Formen und Ergebnissen liberaler Massenmobilisierung, zu geben. Zugleich geht es ihm dabei aber auch darum, einen gewissen Maßstab für die Konstitution und Beurteilung einer den kritisierten Zeitläuften gegenüber zu stellenden »freien Gesellschaft« zu bieten, deren Konturen sich immerhin in der frühen Bundesrepublik ja dann auch wiederfinden lassen. Nicht zuletzt gehörte Salomon seit ihrer Gründung im Jahr 1941 der an der University in Exile beheimateten »Study Group on Germany« an, zu der neben dem ehemals Frankfurter Soziologen Carl Mayer auch der Rechtswissenschaftler Erich Hula, der Wirtschaftswissenschaftler Adolph Lowe und der bereits genannte politische Philosoph Leo Strauss gehörten. (Vgl. Gostmann 2011: 43-46) Eine kleine, aber für die spätere (bislang erfolgreiche) Konzeption eines »Bürgers in Uniform« durchaus wegweisende Untersuchung stellt in diesem Rahmen zudem die von Salomon im Zu-

51 Für differenziertere, detaillierte und ebenso sorgfältige wie behutsam weiterführende Interpretationen vgl. Gostmann 2014.

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sammenhang dieser Arbeitsgruppe angefertigte Studie SOLDATISCHER GEIST NAZI-MILITARISMUS (1942) (vgl. Salomon Werke 2010: 17-36)52 dar:

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»Wahrhaftiges Gefühl und ehrliche Überzeugung sind nur in freien Republiken möglich, denn nur hier haben die Menschen die Chance, im Austausch über strittige Fragen, Vernunft und Einsicht zu gewinnen, die sie als Mittel zur Bewältigung der gegebenen Umstände einbringen können.« (Ebd.)

In entsprechender Weise scheinen auch Salomons bereits in den 1930er Jahren einsetzenden Tocqueville-Studien geeignet, die Grundlagen der 1949 gegründeten Bundesrepublik, das diese konstituierende Grundgesetz sowie deren föderalen Aufbau im Sinne einer weiteren Funktion der Gewaltenteilung und damit der Machtkontrolle, und eben so auch der Legitimation zu präfigurieren. Hinzu kommen seine Einsichten in die gerade auch für moderne Gesellschaften offensichtlich nötige Existenz gemeinsamer Überzeugungen und entsprechender Vermittlungsmedien, 53 in etwa das, was wir heute im Rückgriff auf Robert N. Bellah mit »Zivilreligion« (Bellah: 1967) ansprechen. Schließlich gehört auch das Wissen darum dazu, dass eine einigermaßen stabile Gesellschaft Freiheit und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden muss, sich aber aus solchen Ansätzen nicht nur der »Fürsorge-Staat«, sondern auch neue Formen der Abhängigkeit und Kontrolle ergeben können. Im Ganzen und so anachronistisch es auf einen ersten Blick erscheinen mag, stellt jene für Salomon mit der Weimarer Klassik um 1800 verbundene Idee einer bürgerlichen Gesellschaft und Kultur dann doch einen Gegenentwurf zu den seitdem in Erscheinung tretenden Möglichkeiten des politischen und sozialen Verbrauchs menschlicher Individualität durch gesellschaftliche Organisation und politische Macht-Akteure dar. Gerhard Wagner zitiert in seiner Einleitung zu einem Salomon gewidmeten Konferenzband passend aus Salomons Goethe-Porträt von 1932 (Wagner 2011: 18)54 und knüpft daran durchaus aktuelle und auch für die gegenwärtige Zukunft wichtige Fragestellungen, die auch Salomons Forschen und Denken bestimmten.

52 Ebenda die Leitkategorie des »demokratischen Offiziers«, mit dem der Anspruch verbunden ist, »dass kein Unterschied zwischen militärischen und zivilen Tugenden existiert und dass der Preis des Krieges nicht in ökonomischen Begriffen berechnet werden kann, sondern anhand der Auswirkungen, die er auf die Geltung der Grundsätze von Unabhängigkeit und Würde des Menschen hat.« 53 Vgl. Salomon, TOCQUEVILLE: MORALIST UND SOZIOLOGE. In: Salomon 2008b: 81-102. 54 Zitiert wird der Goethe-Aufsatz zum 100. Todestag, Salomon 2008a: 215-241.

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»Diese Texte kreisen um die Begriffe Bildung und Humanismus. Sie sind Suchbewegungen, die den totalitaristischen Regimen des 20. Jahrhunderts, für die Salomon nicht zuletzt die geschichtsphilosophischen Spekulationen der Aufklärung verantwortlich machte, den Spiegel vorhalten. Diese Suchbewegungen fanden kein Ende.« (Ebd.: 17)

Auf diese mit den Entwicklungslinien der bürgerlichen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert verbundenen Tendenzen und Gefahren zu einer totalitären Aushebelung bzw. Überformung der Demokratie kommt Salomon freilich auch in der Tocqueville-Studie zu sprechen: »Zehn Jahre vor dem Kommunistischen Manifest erkannte Tocqueville den tiefgreifenden Gegensatz zwischen kapitalistischer Wirtschaft und politischer Demokratie sowie die Neigung des Staates, wirtschaftliche Angelegenheiten zu regulieren. Darüber hinaus erkannte er, wie tiefgreifend das neue Wirtschaftssystem den Charakter der Menschheit zu verändern begann.« (Ebd.: 93)

Natürlich gehört aber auch Tocqueville für Salomon im weiteren Verlauf der Moderene damit zu den Verlierern. Ihnen ist dadurch aber zugleich auch die Chance zur Erkenntnis, zur Selbstbesinnung und damit auch zu einem Neuanfang auf der Basis von Skepsis, Beobachtung und Reflexion gegeben. Ein Ansatzpunkt und eine Erfahrung werden damit benannt, in deren Aufarbeitung sich auch Salomon selbst und sein Arbeiten als Soziologe im Exil sehen konnte, in gewissem Sinn dann auch seine politische Lehre und seine ethische Position verortete: »So betrat er [de Tocqueville W.N.] den amerikanischen Boden im vollen Bewusstsein, dass die Welt seiner Väter für immer untergegangen war. Zudem war er der Meinung, dass die Demokratie das Schicksal der westlichen Welt ist. Dies akzeptierte er nicht nur, weil er der Unerbittlichkeit der geschichtlichen Entwicklung gewahr wurde, sondern weil er glaubte, dass die Demokratie die Mittel bot, alle Entwicklungsmöglichkeiten, die sich in der neuen Situation eröffneten, zu nützen und auszuschöpfen, um in der neuen historischen Welt dauerhafte Lebensformen hervorzubringen.« (Ebd.: 84)

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II. Erfahrungen in »geschlossener« Gesellschaft

Intellektuelle und doppeldeutsche Gesprächs-Versuche vor und nach 1989 – Erinnerungsstücke C ARSTEN G ANSEL In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. WALTER BENJAMIN Für Martin Bartels

I.

V ORBEMERKUNG

Auf die Frage, warum er mehrfach im Gespräch verneine, dass er ein Intellektueller sei und dies, obwohl es in seinen Essays letztlich doch letztlich analytisch an gesellschaftliche Entwicklungen herangegangen werde, immerhin ein Kennzeichen intellektueller Arbeit, stellt Reinhard Jirgl heraus, dass seine »Vorbehalte gegenüber dem auf mich angewendeten Begriff des Intellektuellen - er ist ein Ehrentitel« nicht zuletzt mit dem »inzwischen inflationären Gebrauch dieser Bezeichnung« zusammenhängen. Denn, so Reinhard Jirgl »Nicht jeder Schreiberling ist auch gleich ein Intellektueller. Mit ›Intellektualität‹ verbinde ich bestimmte geistige Fähigkeiten, Einsichten, auch Zukunftsentwürfe. Gilles Deleuze definierte den Intellektuellen als jemanden, der ›über ein Vorwissen verfügt‹. Dies aber besitze ich nicht, jedenfalls nicht im bewussten Sinn. Bei mir reicht's nur zum Kritiker in der oben angesprochenen Form.« (Gansel/Jirgl 2013: 14)

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Reinhard Jirgl ist zuzustimmen, wenn er davor warnt, den Begriff des Intellektuellen inflationär zu gebrauchen. Diese Warnung ist mitzudenken, wenn nachfolgend an zwei Versuche von Autoren erinnert wird, den deutschen Verhältnissen nach 1945 auf die Spur zu kommen und gedankliche Grenzen zwischen Ost und West zum Gegenstand der Auseinandersetzung bzw. des Gesprächs zu machen. Dass dabei Hans Werner Richter mit ins Spiel kommt, das hängt nicht nur dem Ort neuerlichen intellektuellen Austausches – Bansin –zusammen, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass der Autor vielleicht der wichtigste (intellektuelle) ›Netzwerker‹ im literarischen Feld der jungen Bundesrepublik war. Mit der von ihm maßgeblich geprägten Gruppe 47 spielte er eine zentrale Rolle bei der Herausbildung der westdeutschen Nachkriegsliteratur und ihrer Kritik, aber auch des zu konsolidierenden Begriffs von Öffentlichkeit.1 Die literarische Gruppenbildung, die mit der Zeit immer stärker zu einer politischen geriet bzw. gemacht wurde, ist daher in der Forschung umfassend untersucht worden. Eine zusätzliche Komponente von Richters ›Netzwerkertätigkeit‹ ergibt sich auf der deutschlandpolitischen Ebene; hier steht sein Verhältnis zur DDR und ihren Autoren zur Debatte. Und darüber hinaus geht es um Verbindungen von Hans-Werner Richter in andere Länder des RealSozialismus, insbesondere nach Polen und in die Sowjetunion. In diesem Rahmen zeigt sich, welche wichtige Rolle Hans Werner Richter und die Gruppe 47 für Intellektuelle etwa in der DDR oder Polen spielten und wie sie von den Institutionen des Staates wahrgenommen wurden. Als Publizist und Herausgeber war Hans Werner Richter maßgeblich beteiligt an der Etablierung von Intellektuellendebatten in der Bundesrepublik. Es nahm daher nicht wunder, dass es dem Autor über lange Jahre versagt blieb, in die DDR zu reisen und Auftritte etwa im Rahmen des Schriftstellerverbandes in der DDR unmöglich waren. Erst Mitte der 1980er Jahre brachen die »rostigen Zustände« auf, und es ergaben sich Möglichkeiten für Gespräche, wenn man denn beharrlich genug war. So fand die erste Lesung von Hans Werner Richter in seiner Heimat, auf der Insel Usedom, im Juli 1986 in der Benzer Kirche statt. Dieses Erlebnis hat der Autor in der Erzählung BRUDER MARTIN – die Geschichte ist in seiner letzten Veröffentlichung REISEN DURCH MEINE ZEIT (1989) sehr detailliert und treffend beschrieben. Einmal mehr kann man an dieser Erzählung sehen, wie die Texte von Richter vom Autobiographischen leben. (Siehe Gansel 2011: 11 – 28.) Hinter der Figur des Bruder Martin steht nämlich eine »wirkliche« Person, Martin Bartels, der 1968 seine erste Pfarrstelle in Benz antrat und seiner Gemeinde über 32 Jahre die Treue hielt, bis zu seinem Ruhestand! Martin Bartels, der im besten Sinne jemand war und ist, der Menschen – oftmals Intellektuelle und Künstler – zueinander und ins Gespräch gebracht hat, erinnert den Versuch, Hans Werner Richter nach Bansin zu holen, so:

1

Vgl. dazu nachfolgend Gansel/Nell 2011: 7 ff.

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»Ich hatte ihn persönlich bei einem Besuch in München im Herbst 1985 eingeladen, als ich zur Hochzeit meines Bruders eine Privatreise in die BRD genehmigt bekommen hatte. Das war eigentlich der Beginn unserer herzlichen Freundschaft. Wir saßen auf seinem Balkon in der Floßmannstraße, Toni (Richter – C.G.) servierte ›Kullerpfirsich‹, und er war zu Tränen gerührt, als ich zaghaft meine Bitte zu einer Lesung in der Benzer Kirche vortrug. Ein bisschen blauäugig planten wir, dass er eine Privatreise zu den Verwandten in Bansin beantragen würde und ich, erst wenn er das Visum in der Tasche hätte, mich um eine ›Veranstaltungsgenehmigung‹ bemühen sollte. Das war nach der Veranstaltungsverordnung der DDR nötig. Während ich bei DDR-Künstlern nur eine ›Veranstaltungs-Anmeldung‹ zu tätigen hatte, galten BRD-Künstler als ›Ausländer‹, für die man eine Genehmigung brauchte. Die Genehmigung wurde abgelehnt. Hans Werner galt als ›persona non grata‹, weil er sich gerade in einem Film über Bansin (›Flaggenwechsel‹) sehr unliebsam über die DDR geäußert hatte. Ich habe dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Lesung doch noch möglich zu machen. Auf Kreis- und Bezirksebene war nichts zu machen. Der Versuch über Stephan Hermlin, zu dem HWR geraten hatte, schlug fehl. Der Verbandssekretär des DDR-Schriftstellerverbandes, Henninger, druckste auch rum und ich vermute, dass letztlich Hermann Kant den Ausschlag gegeben hat, der gesagt haben soll: »Lasst den Richter doch ruhig in der Dorfkirche lesen. Das gibt weniger Ärger als ein Spiegel- Artikel Gruppe 4'- Chef darf nicht in seiner Heimatkirche lesen.’ Einen Tag vor der Lesung erhielt ich telefonisch aus Berlin die Erlaubnis, schriftlich leider nie. Das wäre ein schönes Erinnerungsstück geworden.« (Martin Bartels an den Verfasser, 10. August 2015)

Hans Werner Richter, der in seiner BANSINER TOPOGRAPHIE von 1965 die deutsche Teilung noch nicht als endgültig gesehen hatte, was damals wiederum zu gereizten Reaktionen in der DDR führte, konnte nicht ahnen, dass seinem Besuch von 1986 schon einige Jahre später die Rückkehr in die ›verlorene Heimat‹ folgen sollte, weil genau das eingetreten war, was er immer wieder erhofft hatte, die Aufhebung der deutschen Teilung. Vor diesem Hintergrund erscheint es – auch und vielleicht gerade in diesem Rahmen – sinnvoll, an zwei doppeldeutsche Gesprächsversuche zu erinnern, die Autoren aus Ost und West betrafen. Auch deshalb, weil es jeweils darum ging, die »Grenze: (den) Unterschied: die Entfernung« (Uwe Johnson) zu verringern.

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II. O ST -W EST -G ESPRÄCH 1964 Z EHENSPITZEN «

ODER

»G ESPRÄCH

AUF

Hans Werner Richter verantwortete in den 1960er Jahren einen literarischpolitischen Salon in Berlin/West. Nun hatte Richter nach zwei ersten Veranstaltungen versucht, auch deutsche Autoren aus Ost und West an einen Tisch zu bekommen. Das war nach dem Mauerbau ausgesprochen kompliziert, aber letztlich gab es eine Zusage aus der DDR. Vor dem ins Auge gefassten Ost-West-Gespräch hatte bereits zwei Sendungen mit Gerd Bucerius und Adolf Arndt gegeben, die – und das war das Besondere - live im Rundfunk übertragen wurden. Das sollte auch diesmal der Fall sein. Aber die Autoren aus der DDR hatten damit Probleme und baten darum, das Gespräch auf Band aufzuzeichnen, um es in Ostberlin einem DDR-Sender anzubieten. Dazu ist es nicht gekommen. Das Tonband verschwand im Archiv. Statt dessen lief der Mitschnitt am 31. März 1964 auf NDR III. Das Gespräch war durchaus hochkarätig besetzt. Von westdeutscher Seite nahmen daran Heinz von Cramer, Günter Grass und Uwe Johnson teil, von ostdeutscher Seite Hermann Kant, Max Walter Schulz und Paul Wienst. Als Hans Werner Richter hatte die Leitung und moderierte. Das Gespräch, das inzwischen dokumentiert und publiziert ist, bedarf 2 keiner Kommentierung. Gleichwohl sei auf einige Aspekte aufmerksam gemacht, weil sie in den nachfolgenden Jahren bis 1989 die Verhältnisse zwischen Autoren in 3 Ost und West mit bestimmt haben. (Vgl. Gansel 1991b) Die jeweiligen Positionen wurden dann wiederum Anfang der 1990er Jahre zum Ausgangs- und Streitpunkt einer ›Kommission‹ von Autoren, die sich nach der Aufhebung der deutschen Teilung daran machten, der Geschichte der Schriftstellverbände in Ost und West auf den Grund zu gehen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Positionen die die Autoren aus der DDR markieren, dann zeigt sich, dass sie sich einig in der Auffassung sind, Literatur stehe im Dienste einer »Sache« und habe von daher gegebenenfalls Abstriche an der künstlerischen Form in Kauf zu nehmen. Es ist dies ein Kardinalproblem sich sozialistisch verstehender Literatur seit ihren Anfängen. Obwohl Georg Lukacs als Kronzeuge in dem Gespräch keine Rolle mehr spielt, sind die hier wiederkehrenden Theoreme von DDR-Seite in engem Zusammenhang mit ihm zu sehen. Johannes R. Becher hatte in diesem Sinne in den fünfziger Jahren Dichtung als Dienst verstanden. Diese Position bestimmte ganz freiwillig seine Ein- wie Unterordnung:

2

Siehe die Dokumentation: Ost-West-Gespräch 1964. (Gansel 1991a: 123-146). Verweise auf Seitenangaben nachfolgend im Text.

3

Teile der Darstellung werden für diesen Beitrag übernommen.

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»Ja, um Dienst handelt es sich bei jeder großen Dichtung. Dichtung ist Dienst, nochmals betont allen denen gegenüber, die der Dichtung diesen dienenden Charakter aberkennen wollen und die sich um ein poetisches Prinzip bemühen, das nichts und niemandem dient außer sich selbst [...].« (Becher 1991c: 16)

Ganz in Becherschen Bahnen funktionieren die DDR-Autoren 1964 nicht mehr, aber von der »Zweckmäßigkeit« der Literatur wollen sie doch keinen prinzipiellen Abstand nehmen. Paul Wiens äußert in dieser Richtung, daß im Kontext mit dem Schriftsteller »das Spektakuläre... seine absolute Berechtigung (hat), wenn es zu etwas nütze ist.« (Gansel 1991a: 126) Und Max Walter Schulz kommt darauf in anderem Kontext noch einmal zu sprechen: »Ob sie es nun kreditieren oder nicht, wir in der DDR befinden uns in einer revolutionären Situation, und wir können für uns nicht in Anspruch nehmen die absolute ästhetische Freiheit.« (Ebd.: 136) Der Begriff der »Zweckmäßigkeit« wird ebenso wie der einer »pädagogischen« Aufgabe der Literatur von den westdeutschen Autoren deutlich in Frage gestellt. Und über die Auffassung von der »revolutionären Situation« kann Günter Grass nur lächeln. Heinz von Cramers energischer Einspruch bringt die Problematik so recht zur Geltung: »Wenn wir in diesem Beruf des Schriftstellers überhaupt den Begriff ›zweckmäßig‹ einführen, dann beginnt der Zynismus [...], dann beginnt auch schon die Halbwahrheit aus Zweckmäßigkeit, das Verschweigen aus Zweckmäßigkeit, die mangelhafte, bewußt mangelhafte Information aus Zweckmäßigkeit.« (Ebd.: 138)

In der DDR wurde als Begründung für das Verschweigen später der von Volker Braun in seinem »Hinze-Kunze«-Roman karikierte Begriff des »gesellschaftlichen Interesses« favorisiert. Uwe Johnson hat versucht, das Gespräch zu befördern. Von seinen Positionen macht er allerdings keine Abstriche. Sehr präzis benennt er die Unterschiede in den Literaturauffassungen. Hermann Kant beispielsweise vertritt die Meinung, dass ein pädagogisches Herangehen berechtigt sei, weil es darum gehe, »etwas, das wir für richtig erkannt haben, für nützlich, für wichtig, auch so vorzutragen, daß es von anderen verstanden, ja akzeptiert wird.« (Ebd.: 131) Dem kann Uwe Johnson nicht folgen. Einer »Vernachlässigung der Form«, wie sie auch Günter Grass empfindet, kann er nicht zustimmen. Schon zu Gesprächs beginn hatte er Unterschiede in Formfragen angesprochen: »Es ist aber auch so, daß zwischen den Schriftstellern dieser beiden Währungsgebiete durchaus eine Meinungsverschiedenheit herrscht über den einfachen deutschen Satz, daß Schriftsteller sich nicht einig sind, welcher Satz auf eine literarische Weise gut ist.« (Ebd.: 125)

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Insofern sieht Johnson im weiteren Verlauf die vieldiskutierten und erfolgreichen Texte von Christa Wolf, Brigitte Reimann und Karl Heinz Jakobs eher kritisch: »Sachen, die Sie für richtig erkannt haben, so vorzutragen, daß sie von jedermann verstanden werden können, das mag auf andere Gegenstände als literarische – nach meiner Meinung – zutreffen. Aber mit der Schwierigkeit und Komplexität eines Gegenstandes muß sich doch auch seine Darstellungsweise verändern. Und gerade das ist in solchen Büchern wie ›Der geteilte Himmel‹ oder ›Die Geschwister‹ oder ›Ankunft im Alltag‹ oder teilweise auch bei ›Beschreibung eines Sommers‹ nicht der Fall.« (Ebd.: 131)

Sein Vorschlag, auf einer vielleicht möglichen nächsten Zusammenkunft eine Diskussion über »den deutschen Satz, den einfachen deutschen Satz« (Ebd.: 125) zu führen, ist der Versuch, Fragen der Form ebenso nachzugehen wie solchen der unterschiedlichen Rolle von Literatur in den »beiden deutschen Ländern«. Uwe Johnson ist es, der dann wohl eine gemeinsame Meinung der Gesprächsteilnehmer auf den Punkt bringt, die, dass nämlich die »Gelegenheit sensationell« sei, weil seit 1961 »wieder Schriftsteller verschiedener Währungsgebiete miteinander (sprechen), und das auch noch öffentlich« (ebd.: 141). Weil die Autoren ein »unbelastetes, von Spannungen nicht allzu sehr beeinträchtigtes Gespräch wollen«, wie Johnson sagt, wird zunächst weitgehend vermieden, die brisanten Fragen der deutsch-deutschen Beziehungen und der offensichtlichen Verletzung demokratischer Grundrechte in der DDR zum hauptsächlichen Gesprächsgegenstand zu machen. Aber zu umgehen sind derartige Fragen nicht, und sie tauchen selbst im »literarischen« Diskurs etwa zu den nur ausgetauschten »Tendenzchen« der »Soldatenhefte« in Ost und West wieder auf. Fast zu Ende nimmt das Gespräch dann eine deutlichere Form an, als nämlich Günter Grass auf Robert Havemann zu sprechen kommt und anmahnt, dass Schriftsteller sich für ihn einsetzen müssen. Es geht, wie Grass mit voller Berechtigung sagt, in jedem Fall immer um die »Stimme eines Intellektuellen« (Ebd.: 145). Der von den Anwesenden erhoffte Dialog ist nur in Ansätzen weitergeführt worden. In der DDR nahmen die Repressionsmaßnahmen gegen Künstler mit dem 11. Plenum von 1965 nur zu, und damit der Versuch, Kunst und Literatur auf eine »dienende Funktion« zu verpflichten.6 »Die Grenze: (der) Unterschied: die Entfernung« wurden größer. Und es dauerte 25 Jahre bis Gespräche möglich wurden, die nicht auf »Zehenspitzen« geführt werden mussten.

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III.

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D AS G ESPRÄCH

ODER »W ER DIE F RAGE NICHT BEANTWORTET HAT DIE P RÜFUNG IM G ESPRÄCH BESTANDEN «

Der Erinnerung an den Mauerfall und den Umständen, wie es dazu kam, kommen auch 25 Jahre danach im kollektiven Gedächtnis eine zentrale Rolle zu. Dabei dürfte über eines Gewissheit herrschen: Die DDR konnte nur als eine (ab)geschlossene Gesellschaft existieren. Gleichwohl gehen bei der Einschätzung des nachfolgenden Prozesses, der in der Wiedervereinigung mündete, die Einschätzungen auseinander, sie hängen ab von Sozialisation, Alter, Generation, Biographie sowie den konkreten Nach-Wende-Erfahrungen in der neuen Bundesrepublik. Versuche nach 1989 öffentlich ins Gespräch zu kommen, sind zumeist gescheitert. 4 Es hing dies damit zusammen, dass der medial in Szene gesetzte öffentliche Raum kein Ort ist, der eine Situation schafft, in der vertrauensvolle Gespräche möglich sind. Aber was ist überhaupt ein (intellektuelles) Gespräch? Die Frage zu beantworten, ist nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick erscheint. In der gesprächsanalytischen Forschung gibt es zwar einen grundsätzlichen Konsens darüber, daß es sich beim Gespräch um die »grundlegende Form der sprachlichen Tätigkeit des Menschen« handelt und es somit »als grundlegend für jede menschliche Gesellschaft anzusehen ist«. Was aber unter einem Gespräch letztlich zu verstehen ist, durch welche kategorialen Merkmale es sich auszeichnet und wie es sich von anderen Textformen unterscheidet, das wird verschieden beantwortet. (Heinemann 1991: 177) Für Thomas Luckmann ist das Gespräch mehr als eine bloße Wechselrede, es sollte Gleichheit der Kommunikationspartner voraussetzen und in möglichst nicht institutionalisierten Zusammenhängen stattfinden. (Luckmann 1984: 56 ff.) Diese Enthierachisierung des Gesprächs ist ein Moment, das in den Überlegungen des Autors Gert Neumann offenbar wird. Nach seiner Beobachtung habe er selbst zunächst die »landläufige Meinung« geteilt, daß zu einem Gespräch »die Frage und die dazugehörende Antwort« gehören, und es dann abgeschlossen sei, »wenn ein Standpunkt unterliegt«. (Neumann 1988: 135) Mit anderen Worten, es gibt in einem so angelegten Gespräch »Gewinner« und »Verlierer«. Diese Ost-Erfahrung Gert Neumanns ist mit der DDR keineswegs verschwunden, denn auch in ausdifferenzierten (post)modernen Gesellschaften gibt es Leute, die von sich meinen, sie befänden sich »im Zentrum des Wissens und dürfen behaupten, daß die Gestalt der Wahrheit

4

Die nachfolgende Darstellung ist im Rahmen eines Beitrages für die Geschichtskommission des VS entstanden, deren Mitglied der Verfasser von 1991 bis 1997 war. Teile der Darstellung wurden publiziert in KUNST & KULTUR 11/99, sie werden an dieser Stelle erweitert und im Sinne einer Erinnerung genutzt. Siehe zur Geschichte der Kommission auch: Gansel/Chotjewitz-Häfner 1997.

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sich genau in dieser Ordnung befände«. (Ebd.) Auf einen derartigen Anspruch, Deutungsmacht zu erlangen, indem vorab fest steht, was als »richtig« oder »falsch« gilt, ist zu verzichten, wenn ein Gespräch unter Gleichen zustande kommen soll. Freilich, wo nicht »verständigungsorientierte Kommunikation« das Ziel ist, sondern »strategische«, sind Drohung wie Täuschung nicht fern. Dabei kann eine ungleiche, eine asymmetrische Kommunikation bereits in dem Augenblick entstehen, da die eine Seite eine Frage formuliert und die andere Seite damit zwingt, auf den in die Diskussion geworfenen Sachverhalt zu antworten. Diesem pragmatischen Verfahren begegnet Gert Neumann mit einem auf den ersten Blick verblüffenden Verhalten: »Wer die Frage nicht beantwortet« – so seine Überlegung – , »hat die Prüfung im Gespräch bestanden«. (Neumann/ Saab 1999: 9) Eine solche Auffassung bildete denn auch den Denkrahmen für den erzählerisch wie philosophisch faszinierenden Roman ANSCHLAG, der in der Tat ein »riesiges Ost-West-Gespräch« ist. Die Frage des Westdeutschen nämlich danach, »Widerstand« zu erklären, erwartet nichts anderes als die Bestätigung einer vorgefertigten Meinung. Doch im wirklichen Gespräch geht es darum, »neuen Raum zu eröffnen, wo die feststehenden Begriffe in Frage gestellt werden können«. (Ebd.) Ganz in diesem Sinn wird man sagen können, dass die im Verband deutscher Schriftsteller (VS) von 1991 bis 1997 existierende Geschichtskommission – zumindest für jene, die in dieser Gruppe miteinander umgingen – so funktioniert hat, wie Gert Neumann sich ein wirkliches Gespräch vorstellt. Und es muß daher keineswegs ein Mangel sein, wenn viele Fragen in diesem deutsch-deutschen Gespräch offen geblieben sind.

IV.

G ESCHICHTE

UND

G ESCHICHTSKOMMISSION

Auf dem Schriftstellerkongreß in Chemnitz 1997 zog Erich Loest ein knappes Resümé über die Arbeit der Geschichtskommission. »Es bleibt das Verdienst des Kongresses von Travemünde«, so Erich Loest, »eine paritätisch besetzte Geschichtskommission ins Leben gerufen zu haben.« Und er notiert: »In langen Gesprächen versuchte die Kommission festzuhalten, was nicht in Akten und Manuskripten steht. Wir nahmen uns etwas vor, was andere Verbände scheuten.« (Loest 1997: 14 f.) In der Tat: im Vergleich zu den anderen Künstlerverbänden war diese Arbeitsgruppe ebenso ein Novum, wie der Versuch, eine gleichberechtigte Kommunikation zwischen Autoren aus Ost und West herzustellen. Die Geschichtskommission war eine Art Katalysator, um wirkliche Gespräche zwischen Autoren in Gang zu bringen und bei der Darstellung von Geschichte(n) nach 1945 nicht bei einer simplen »Einfühlung in den Sieger« (Walter Benjamin) sowie klischeehafter Frage-Antwort-Muster stehenzubleiben. Daß die Kommission bis 1997 – wenngleich mit wechselnder Besetzung – existierte, ist nicht hoch genug zu veranschla-

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gen und eigentlich ein Wunder. Vielleicht lag es an der geführten symmetrischen Kommunikation. Dabei bündelten sich in dieser Gruppe jene Konflikte, über die ansonsten gesamtgesellschaftlich auf verschiedenen Feldern gestritten wurde. Hier waren nach dem Ost-West-Proporz Autoren zusammengeworfen, die sich nach Alter, Biographie, Sozialisation, Literaturbegriff, Politikauffassung, literarischem Renommee unterschieden. Wer daher heute die (Alltags-)Geschichte dieser Kommission schreiben wollte, müßte über endlose Debatten, wütende Ausbrüche, Schuldvorwürfe, Aus- und Wiedereintritte berichten. Den Beteiligten war zunächst nicht klar, daß manche der als persönlich empfundenen Angriffe eine Ursache auch darin hatte, daß es für die Frage, wie nach dem Zerfall des Real-Sozialismus mit deutscher Geschichte nach 1945 umzugehen ist, keine gesicherten Methoden und Kategorien gab. Es mußte also erst ein Mechanismus gefunden werden, der es ermöglichte, Ereignisse und Strukturen sowie ost- und westdeutsche Biographien wie Schicksale zusammenzudenken. Zunächst Ereignisse auszuwählen, die als Knotenpunkte zwischen Ost und West funktioniert hatten und sich über die keineswegs unproblematische interne »Befragung« von Zeitzeugen der Geschichte anzunähern, war darum ein Weg. Als deutsch-deutscher Fall von einschneidender Bedeutung für Intellektuelle wurde die Biermann-Ausbürgerung 1976 empfunden. Und als ein zweites Problem stellte sich das widersprüchliche Verhältnis westdeutscher Literaten zu jenen Autoren dar, die in der DDR Kritik übten, später als Dissidenten galten, gegen ihren Willen gezwungen wurden, die DDR zu verlassen oder dort blieben: Jürgen Fuchs, Wolfgang Hilbig, Reiner Kunze, Katja Lange-Müller, Hans Joachim Schädlich, Ulrich Schacht oder Gert Neumann. Doch sollte sich heute keiner darüber täuschen, wie lange, wie zäh, wie fundamental bei der Vorbereitung der jeweiligen Themen innerhalb der Kommission um mögliche Fragen gerungen wurde. Und dies genau deshalb, weil die jeweilige Frage, wie Neumann sagt, »die Bestätigung vorgefertigter Meinung« bedeuten kann. (Neumann/ Saab 1999) Aber ein solcher Streit um Fragen bildete schon eine zweite, eine höhere Stufe der Kommunikation innerhalb der Gruppe. Denn: sachliche Diskussionen wurden überhaupt erst in dem Maße möglich, wie etwas überwunden wurde: Fremdheit!

V. O ST - UND WESTDEUTSCHE M ENTALITÄTEN Die Kommission selbst war in ihrem Anfang ein Beispiel für verschiedene Mentalitäten, für Prägungen, wie Uwe Johnson sie in seinem Essay »Berliner Stadtbahn (veraltet)« beschrieben hatte. Johnson sprach hier von den beiden »Herrschaftsordnungen, unter denen entlang der Grenze gelebt wird« und wie sie das Betragen der verwalteten Bürger verändert hätten. Simpel erscheinende Verhältnisse wie der Arbeitsvertrag oder eine Freundschaft würden anders kalkuliert und erschienen ent-

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sprechend als »verschiedenes Verhalten«. (Johnson 1975: 18) Dafür gebe es einen einfachen Grund: die Deutschen hüben und drüben wären auf andere Bezüge orientiert. Wenn nun aber jemand die Grenze überschritte, etwa von Ost nach West, dann führe er mit sich »Gewohnheiten und Überlegungen, für die ihm diesseits plötzlich die Anlässe fehlen. Er wird an seinen Nachbarn bemerken, daß sie Dinge nicht beachten, über die er erschrickt. Er wird sie beobachten bei Streitigkeiten, die er geringschätzen oder in der Öffentlichkeit vermeiden würde. Wo sie locker sind, ist er bedenklich.« (Ebd.) An Johnsons Bild fühlte man sich bei manchen der ersten Gespräche erinnert und auch an einen Satz aus seinen MUTMASSUNGEN ÜBER JAKOB, der das Auseinanderleben der Deutschen anzeigte. »Mensch, kann man denn da überhaupt leben?« wurde Jakob von einem Westdeutschen nämlich gefragt. Und Seiten später faßte der Erzähler Jakobs Ergebnis zusammen: »Aber es war kein Reden mit ihnen, sie verstanden ihn nicht«. (Johnson [1959] 1974: 218/ 282) Was nahm es also wunder, wenn in der Geschichtskommission Beteiligte aus dem Osten erstaunt darüber waren, mit welcher Selbstsicherheit einzelne Autoren aus dem Westen zunächst urteilten, wie sie sich im »Zentrum des Wissens« wähnten. Es war die Übersetzerin Silvia Morawetz - sie hatte wegen der politischen und kulturpolitischen Verhältnisse in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt und 1988 das Land verlassen -, die zurückhaltend einwarf, solche Statements würden lähmen und ein Gespräch abtöten. Und sie - wie andere aus dem Osten - formulierte den Eindruck, die Diskussionen würden zeigen, in welcher Weise westdeutschen Intellektuellen alle möglichen Länder der Erde näher gewesen seien als die DDR. (Vgl. Morawetz 1997: 45/ 47) Heftige Reaktionen und Abwehr waren zunächst die Folge, aber nur so wurde es möglich, gemeinsam Räume der Begegnung zu schaffen. Und nebenbei bemerkt, die kritische Replik war keineswegs aus der Luft gegriffen. Peter Schneider hatte in seiner essayistischen Erzählung »Der Mauerspringer« Anfang der 80er Jahre durchaus selbstkritisch danach gefragt, wie nahe der Osten und das Schicksal seiner Bewohner dem Westen wirklich war. Der Erzähler erinnerte, daß schon bald nach dem Mauerbau im Westen eine Gewöhnung einsetzte. Nachdem nämlich der »erste Schrecken« vorbei war, »verdünnte sich das massive Ding im Bewußtsein der Westdeutschen immer mehr zur Metapher«. Die Ab-Grenzung hatte zudem einen für Westdeutsche vorzüglichen Effekt, sie diente der Selbstbestätigung: »Was jenseits das Ende der Bewegungsfreiheit bedeutete, wurde diesseits zum Sinnbild für ein verabscheutes Gesellschaftssystem. Der Blick nach drüben verkürzte sich zu einem Blick auf die Grenzanlagen und schließlich zum gruppentherapeutischen Selbsterlebnis: die Mauer wurde den Deutschen im Westen zum Spiegel, der ihnen Tag für Tag sagt, wer der Schönste im Lande ist. Ob es ein Leben gab jenseits des Todesstreifens, interessierte bald nur noch Tauben und Katzen.« (Schneider 1995: 12)

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Mit anderen Worten: die Grenze wurde zum Symbol dafür, wer es zu etwas gebracht hatte. So konnte der arbeitslose westdeutsche Klempner sich gegenüber dem als Arzt tätigen Bruder als der erfolgreichere verstehen und großzügig Päckchen Richtung Osten in der Gewißheit schicken, etwas Großes zu tun. Jedes Pfund Kaffee erhöhte - doppeldeutsch betrachtet - sein symbolisches Kapital. »Aufreißen wie ein Westpaket« war im Osten ein Vergleich, der eine besonders große Gier anzeigte. Psychologisch gesehen, mögen daher also manche Westdeutsche als die eigentlichen Verlierer der Einheit dastehen: sie dürfen keine Pakete mehr schicken. Freilich wird dies kein Anlaß sein, sich die monströse Mauer wieder zu wünschen. Aber zweifellos sind jene mentalen Mauern geblieben, deren Langlebigkeit Peter Schneider lange vor der Wende vermutet hatte: »Die Mauer im Kopf einzureißen wird länger dauern, als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht.« (Ebd.: 110)

VI.

F RAGEN UND S CHMERZEN ODER TOT IST , DAS IST L EGENDE «

»D ASS

DIE

DDR

Es ist nicht Selbstüberschätzung oder sentimentale Erinnerung, wenn man die Behauptung wagt, die Geschichtskommission hat allein durch ihre Existenz mit dazu beigetragen, existierende Frontenbildungen abzubauen oder aber sie überhaupt erst ins Bewußtsein zu bringen. Sie hat bis zur Mitte der 90er Jahre ein offenes, selbstkritisches Gesprächs-Klima im Umgang der Autoren untereinander befördert und sich zu keinem Zeitpunkt instrumentalisieren lassen. Eine »Aufarbeitung auf die schnellstmögliche Art durch Vereinfachung« (Christoph Hein) war ihre Sache nicht, und dies betraf die Geschichte(n) in Ost wie West. Doch genau dies wurde der Kommission zum Vorwurf gemacht, den einen ging sie in ihren Wertungen nicht weit genug, andere sahen sich allein schon durch das Aufgreifen offener Fragen in Mißkredit gebracht. Der Vorschlag etwa, die krisenhafte Geschichte des Verbandes deutscher Schriftsteller in den 80er Jahren zu diskutieren, damalige Positionen zur Ostpolitik des Verbandes, zu den Menschenrechten oder zum Verhältnis gegenüber Dissidenten neu zu bedenken, stieß auf starke Abwehr, zu sehr schien die »Gestalt der Wahrheit« (Neumann 1988: 136)5 (Gert Neumann) festgelegt. Einzelne aus der Gruppe sahen sich Angriffen ausgesetzt, die auf die Person selbst, nicht aber auf die Sache bzw. das vorgebrachte Argument zielten. Vielleicht hing die Schärfe der Kritik damit zusammen, daß schmerzhafte Erinnerungen erneut ans

5

Siehe auch die Dankesrede von Gert Neumann zur Verleihung des Uwe-JohnsonLiteraturpreises, in: Gansel/Schumacher/Frank 2014: 68 – 74.

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Licht der Öffentlichkeit gezogen wurden. Aber was anderes hätte Aufgabe einer Gruppe sein sollen, der es um deutsch-deutsche Autoren und ihre Geschichte ging? Friedrich Nietzsche hat bekanntlich den Schmerz »das mächtigste Hilfsmittel der Mnemotechnik« genannt. Und insofern mußte die Geschichtskommission auch Schmerz erzeugen und mit dem produzierten privaten wie öffentlichen Druck leben. Sie hielt diesem Druck stand, verteidigte ihren autonomen Status, weigerte sich konsequent, Affirmationsgeschichten zu schreiben oder als eine Art Feigenblatt zu dienen. Für manche mag die Kommission darum zeitweise eine Art Feindbild gewesen sein, aber rückblickend betrachtet, mögen auch Kritiker eingestehen, daß gerade mit der »Institution Geschichtskommission« der Raum für Gespräche geschaffen wurde. Dabei bestand eine Intention der Geschichtskommission darin, aus der »doppeldeutschen« Gesprächserfahrung mögliche Diskurspunkte zu benennen und eigene Entwürfe in die Diskussion zu bringen. Dies ist ihr nur unvollkommen gelungen. Aber die Erfahrung zeigt, jene Themen, die zunehmend öffentliches Interesse erlangten, sind in der Kommission gewissermaßen im Selbstversuch der Autoren vorab diskutiert, besprochen worden: Es ging um Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung, um die Macht von Literatur, um Gesinnungsästhetik oder um deutschdeutsche Mentalitäten. Wenn heute mitunter fälschlicherweise und voller Verwunderung von einer zu beobachtenden DDR-Nostalgie bzw. Ostalgie die Rede ist, dann war diese - die Gespräche in der Geschichtskommission haben dies früh gezeigt -, absehbar. Ein einfacher Grund liegt in der nicht hinreichenden Unterscheidung zwischen der DDR als Staat, seinen Institutionen, Gesetzen, Verfügungen und dem, was man als »Gesellschaft« bezeichnen kann, den Beziehungen zwischen Menschen, dem Leben in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb. 6 Auch der Schriftstellerverband der DDR war wohl beides, »Staat« - als offizielles Organ und »Gesellschaft« - bestehend aus kleinen Gemeinschaften von Autoren, die miteinander in Freundschaft verbunden waren. Nun ist der Staat mit seinem politischen System untergegangen, aber nicht das Beziehungssystem der Menschen. Mit einigem Recht behauptet daher Ulrich Plenzdorf: »Daß die DDR tot ist, das ist Legende. Alle diese Leute, die DDR waren, leben noch.«7 Zwar hat der »Arbeiter- und Bauernstaat« in die Beziehungen seiner Bürger hineingewirkt, aber ebenso offensichtlich war, daß der Alltag der Bürger sich der staatlichen Einflußnahme zu allen Zeiten entzog. Der Mensch ist nun einmal - und dies gilt eben auch für die Gegenwart - die Summe seiner Beziehungen.8 Eine spezifische Mentalität, in diesem Falle eine ostdeutsche, bildete sich ja gerade heraus im Wechselspiel zwischen Individu-

6 7

Siehe dazu auch den Beitrag von Gabler 2000. Plenzdorf/Gansel (1996): »Von unegölten Texten und erhoffter Provokation«. Ein Gespräch (erscheint in: Deutschunterricht Berlin).

8

Vgl. dazu Gansel 1999.

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um und staatlichen Instanzen. Klaus Schlesinger, dem man nicht den Vorwurf machen kann, er hätte den staatlichen Instanzen in der DDR nahe gestanden - im Gegenteil, Schlesinger gehörte zu jenen Autoren, die 1979 aus dem DDRSchriftstellerverband ausgeschlossen wurden - fragte 1993: »Sehnsucht nach der DDR?«. Und indem er darauf eine negative Antwort gab, sagte er etwas aus über den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft. »Ich denke, wir hatten auch eine Menge Spaß. Oder?« heißt es selbstbewußt. (Schlesinger 1998: 11) Die Frage wird mit einer Frage »beantwortet« und gleichwohl gezeigt, daß Alltag, ja Leben in der DDR nicht einzig auf staatliche Repressionen, auf Eingriffe des Apparates, auf politische Indoktrination zu reduzieren ist. »Konspiration zieht Observation nach sich« – das war die Erfahrung von Gert Neumann.

VII.

ABSCHLUSS

Wenn nun von der DDR-Vergangenheit einzig die staatlichen Symbole als Metaphern übrig bleiben – das gilt bis in die Gegenwart – wird die Gesellschaft von den vielen einzelnen in der Erinnerung neu (re)konstruiert. Und es sollte nicht verwundern, daß in dem Maße, wie der Schmerz abnimmt, die Geschichten, die von ihr erzählt werden, zunehmend in einem liebevoll-ironischen Licht erscheinen. Thomas Brussig sucht dafür in SONNENALLEE eine einfache Begründung zu geben. »Denn die Erinnerung...«, so sein Erzähler, »vollbringt beharrlich das Wunder, einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, in dem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was mal scharf und schneidend empfunden wurde. Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gewissen und reiche Erinnerungen.« (Brussig 1999: 157)

Die Erinnerungsarbeit der Geschichtskommission, die einerseits Gespräche ermöglichen sollte und andererseits »scharf« und »schneidend« sein mußte, wurde 1997 beendet, die literarische Spurensuche geht weiter und wird zunehmend von einer Generation besorgt, die die »Nur« noch DDR als Kind erlebt hat. Der wachsende historische Abstand provoziert die Frage nach dem »Sachgehalt«, nach der historischen Wahrhaftigkeit, dem Wahrheitsgehalt der Texte und sie tritt - wie Walter Benjamin vermutet - dem Leser »desto deutlicher vor Augen«, je mehr die »Realien« in der Welt absterben«. (Benjamin 1974: 125)9 Wenn das keine Chance ist - für Erzähler und ihre Geschichten. Ob die freilich im Sinne von Intellektuellen ist, das ist eine andere Frage!

9

Siehe dazu auch Golisch 1994 oder Fries 1990.

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I NTELLEKTUELLE UND DOPPELDEUTSCHE G ESPRÄCHS -V ERSUCHE

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»Der arge Weg der Erkenntnis« 1 Ostdeutsche Intellektuelle und der Verlust der Utopie M ONIKA W OLTING

Der Gedanke einer mögliche Integration wirtschaftlicher und idealistischer Ziele begleitete seit Jambulus´ »glücklichen Inseln« über Thomas Morus UTOPIA oder die Ideen Charles Fouriers die Tätigkeiten vieler Vordenker, Wegbereiter und Utopisten. Utopisches Denken als ein Denken von neuen Wegen lässt sich nicht in Kontexten einer eskapistischen Idealisierung oder einer apokalyptischen Hoffnungslosigkeit wahrnehmen. Die Anhänger des Sozialismus boten ein alternatives Gesellschaftsmodell auf der Grundlage einer Analyse der bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen an. Sie bezogen sich auf ihr meistens im kulturellen Feld erworbenes Wissens und auf normative Vorstellungen, die sie der Gegenwart entnehmen konnten. In diesem Beitrag soll es um die Vorstellung des Dritten Wegs2 gehen, die 1989 zum prägenden Gedanken der politischen, gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen hätte werden können. Unter den vielen Ereignissen, die die Vereinigung deutscher Staaten begleitet haben, werden hier drei herausgestellt: die Kundgebung, die am 4. November 1989 am Alexanderplatz stattfand, der Appell von Christa Wolf in der Aktuellen Kamera vom 8. November 1989 und der Aufruf FÜR UNSER LAND vom 28. November 1989, weil sie ein besonders großes Erklärungspotenzial für die Haltung vieler DDR-Intellektuellen in sich bergen. Die These, die innerhalb dieses Beitrags ausgeführt werden soll, lautet: Der von den DDR-

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WOLF 2012: 188. Die Bezeichnung Dritter Weg wurde nicht von allen Intellektuellen und Bürgerrechtlern willkommen geheißen, da sie eine ideologische Nähe zu den Bewegungen in der DDR aus den 50er Jahren hätte schaffen können, die nicht erwünscht war. Beispielsweise: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42622617.html (Zugriff am 22.01.2014).

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Intellektuellen geforderte Dritte Weg für eine demokratisch erneuerte DDR ging nicht ins kulturelle Gedächtnis der Deutschen über. Die friedliche Revolution, der politische Umbruch von 1989 wird nur noch selten mit der Vorstellung vom Dritten Weg in Zusammenhang gebracht. Die Auslegung der Ereignisse in den Jahren 1989/1990 erfolgt meist im Sinne einer nationalen Freiheits- und Einheitsbewegung, die die Vereinigung Deutschlands zu Folge hatte. Das kulturelle Gedächtnis wird von einem zeithistorischen Narrativ beherrscht (vgl. SABROW 2010), das die Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 aus der Perspektive der deutschen Vereinigung vom 3. Oktober 1990 erfasst. Dazu werden dann auch die Stimmen dieser Umbruchszeit vereinheitlicht, der Wille der Vereinigung wird als Gesamtwille der DDR-Bevölkerung in der Öffentlichkeit präsentiert. Die Aufrufe der DDR-Intellektuellen, die in den Tagen vor dem Mauerfall stattfanden, wie das Ringen um eine andere Form der Veränderungen seitens der OstIntellektuellen mit Unterstützung von vielen Intellektuellen aus dem Westen, z.B. seitens Günter Grass, sind stattdessen dem Vergessen überantwortet worden. Sie fügten sich nicht in die Narrative der »Friedlichen Revolution« ein, die nach 1990 etabliert wurden. Die Erinnerung an den Versuch, dem Dritten Weg noch eine Chance in der sozialistischen DDR zu geben, findet nur bedingt den Eingang in die historische Auseinandersetzung mit der Zeit der Wende. Sie stellt den Gegenstand einer Gegenerinnerung ehemaliger ›Vorkämpfer‹ dar, die sich der »Nötigung zur Identitätsverleugnung« entzogen haben, wie Dieter Segert, Professor für Transformationsprozesse in Mittel-, Südost- und Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien diesen Zustand in DAS 41. JAHR. EINE ANDERE GESCHICHTE DER DDR (Segert 2008: 7) urteilt. Seine »andere Geschichte der DDR« zeigt, dass es ernst zu nehmende Alternativen zur Wende von 1989/1990 gegeben hätte. Die Ereignisse des Jahres 1989 hätten auch zu einer anderen Wende in der Geschichte der deutschen Staaten führen können. Die Mehrheit der Bevölkerung hat eine Entscheidung getroffen, die nach Meinung Segerts durch die wirtschaftlich überlegene Macht und die politisch größere Autorität der westdeutschen politischen Klasse von 1989/1990 generiert wurde. Andere, wie Thomas Klein 3 gehen hart mit den Veränderungen nach dem Mauerfall ins Gericht. In seinem Buch FRIEDEN UND GERECHTIGKEIT! DIE POLITISIERUNG DER UNABHÄNGIGEN FRIEDENSBEWEGUNG IN OST-BERLIN WÄHREND DER ACHTZIGER JAHRE (Klein 2007) setzt sich Klein mit der unabhängigen Friedensbewegung der 1980er Jahre in Berlin auseinander. Der Autor sieht das Misslingen der

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Thomas Klein wurde als Mitarbeiter der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften nach Protesten gegen den Ausschluss einiger Schriftsteller aus dem Verband 1979 zu einer Haftstrafe und Berufsverbot verurteilt und war ab 1981 im Pankower Friedenskreis aktiv; heute ist er als Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam tätig.

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integrativen Idee der Friedensbewegungen in dem fehlenden, obwohl angestrebten Schulterschluss der Intellektuellen-Bewegungen mit der Arbeiterbewegung, wie es beispielhaft im Zusammengehen von Intellektuellen und Solidarność in Polen gelang, wobei, man darüber streiten könnte, ob dieses tatsächlich beispielhaft verlaufen ist. Die Alternative: Vereinigung unter kapitalistischem Vorzeichen und die Herausforderung einer bundesdeutschen Parteienlandschaft erschienen für die Bevölkerung erfolgversprechender. Klein schreibt: »Wir wussten, dass die Mehrheit der Bürger der DDR sich der von den Herrschenden in Ost und West erfundenen Weisheit, dass keine Alternative zwischen dem real existierenden Sozialismus und dem Kapitalismus denkbar wäre, unterwarf.« (Klein 1999: 236)

Der Zusammenschluss aller oppositionellen Bewegungen in der DDR wurde zu einem nicht gelebten Ideal. In der wissenschaftlichen Analyse dieser Jahre fehlt es an Beiträgen zu der Idee des Dritten Wegs. Bei den Recherchen zum Thema bin ich neben der fundierten Dissertation eines niederländischen Politologen Dirk Rochtus (Rochtus 1999) aus dem Jahre 1999 und dem Beitrag von Martin Sabrow (Sabrow 2010), nur auf vereinzelte Textpassagen in Wolfgang Englers DIE OSTDEUTSCHEN ALS AVANTGARDE (Engler 2002: 44-47) oder in Jens Reichs Text ABSCHIED VON LEBENSLÜGEN (Reich 1992) gestoßen. Das Thema scheint nicht nur der vergessene, verdrängte Moment der deutschen Geschichte zu sein, sondern auch ein Desiderat in der Forschung. Außer der erwähnten Dissertation, die sich im politischen Feld bewegt, existiert keine umfassende Untersuchung über das Konzept des Dritten Wegs in der DDR und seine Tragweite für die Zeit nach der Vereinigung. Die Intellektuellen der DDR sahen in der Wende eine Chance für eine sozialistische Erneuerung des Landes. Die Forderungen des Dritten Wegs hatten eine kurzfristigere Wirkung als Worte und nicht als Taten. Bourdieu betont in seinen Äußerungen zur Rolle der Intellektuellen in der Umbruchszeit ihre »Rückkehr zu den Quellen, den Texten, dem ›reinen‹ Sozialismus.« (Bourdieu 1991a: 28) Allerdings warnt er vor einem weiteren Missbrauch der marxistischen Ideologie: »Der Marxismus ist in den letzten Jahren [das Interview wurde am 26. Oktober 1989 geführt, M.W.] derart elastisch gehandhabt worden, um alles mögliche zu rechtfertigen, dass man jetzt besonders strenge Reflexion, Wachsamkeit und Vorsicht bei der Benutzung der Begriffe üben muss.« (Bourdieu 1991b: 17)

Bourdieu weiß aber auch um die »wichtige historische Rolle« (Ebd.: 21), die den Intellektuellen in solchen Umbruchszeiten zugeschrieben wird. Er sagt:

182 | M ONIKA W OLTING »Ich befürchte, dass auch die Intellektuellen hier auf das, was auf sie zukommt, nicht vorbereitet sind. Das ist oft nicht ihre Schuld, weil die sozialen Bedingungen, unter denen sie tätig sind, die Herausbildung eines richtigen Bewusstseins über die Gesellschaft, über die Arbeitswelt, die sozialen Beziehungen nicht gerade begünstigen.« (Ebd.)

Die Ängste der Intellektuellen galten zunächst der Wiederherstellung der alten Ordnung, wovor sie in ihren Reden und Aufrufen gewarnt haben. Die radikalen Veränderungen, von vielen erahnt, betrafen weiterhin die Herausbildung einer alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftsform zum westlichen System. In der »Resolution der Künstler« vom 18. September 1989 wurden Reformen gefordert, die ein sozialistisches System in der DDR weiterhin hätten möglich machen können. Die Intellektuellen standen mit ihrer ganzen Überzeugung und Autorität hinter den Postulaten, einen verbesserten, reformierten Sozialismus ins Leben zu rufen. Die kurze Zeit später erfolgte Entscheidung der DDR-Bevölkerung für die Vereinigung mit Westdeutschland hielten viele der Oppositionellen und Reformer für falsch oder zumindest für unerklärlich. Frank Eigenfeld schreibt in seinem Beitrag »Bürgerrechtsbewegungen 1988–1990 in der DDR«: »Niemand forderte das Ende des Sozialismus, keiner dachte an das Ende vom Sozialismus.« (Eigenfeld 2001: 68) Die Wissenschaftler der Humboldt-Universität gehören in dieser Zeit zu den ersten, die den Begriff Dritter Weg benutzten. Am 25. November 1989 veröffentlichten sie, d.h. Harald Bluhm, Michael Brie, Reiner Land, Dieter Segert, Rosemarie Will, HansPeter Krüger den Text »Die Überlebensfrage der DDR: der dritte Weg. Was wir vom Außerordentlichen Parteitag der SED erwarten«, in dem sie ausgehend vom Dritten Weg als Mittel, der DDR eine neue Identität zu verleihen, ihre zukünftigen Erwartungen zum Ausdruck brachten. Sie definierten den Dritten Weg als das Modell, das »jenseits von staatlichen und ökonomischen Monopolen« zum modernen Sozialismus führen sollte. Für eine neue DDR sollte das bedeuten: keinen bürokratischen Sozialismus im Sinne eines Staatsmonopols, der aufgrund der globalen Probleme für eine Erneuerung nicht in Frage käme4, aber auch keine Unterwerfung unter die kapitalistischen Verhältnisse, im Sinne eines Monopolkapitalismus. Die Aussage des Textes lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die sich mit der Petition zu Wort meldenden Intellektuellen hofften auf dem Außerordentlichen Parteitag auf die Entstehung einer demokratischen sozialistischen Partei, die für eine Wiederbelebung der »durch die bürokratische Herrschaft des Parteiapparates ausgeschalteten Traditionen […] insbesondere der sozialdemokratischen der nicht stalinistischen kommunistischen und weiterer linker Traditionen« die Verantwortung tragen würde und sich den »Werten, politischen Zielen und Organisationsweisen

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Der real existierende Sozialismus befasste sich ausschließlich mit nationalen Problemen.

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der neuen sozialen, ökologischen und kulturellen Bewegungen« öffnen sollte. (Bluhm, Brie, Land, Segert, Will 1990: 18) Im Herbst 1989 äußerten sich viele Schriftsteller und Intellektuelle der DDR zur nationalen deutschen Frage, beispielsweise in der Befragung »Brauchen wir eine neue Republik?«. Die Haltung von Heinz Knobloch, Werner Liersch, Steffen Mensching, Andreas Montag, Gert Prokop, Stefan Heym, Otto Reinhold, Heinz Czechowski machte, auch wenn infolge unterschiedlicher Argumentationslinien, die Ablehnung der »Wiedervereinigung« deutlich. (Liersch 1990) Christa Wolfs gedanklicher Ansatz fällt die Kategorie der DDR-internen Argumente. Sie begründete ihre Position mit der Verletzbarkeit der »Biografie« der DDR-Bürger. Eine Vereinigung würde die Negation von »vierzig Jahren ihres Lebens« (Wolf 1989a: 21f.) bedeuten. 2010 konstatiert sie im Gespräch mit Susanne Beyer und Volker Hage, das den Titel »Wir haben dieses Land geliebt« trägt: »Auf der Universität traf ich auf viele Generationsgenossen, die nach der niederschmetternden Erfahrung des Nationalsozialismus’, eine von Grund auf andere Gesellschaft erhofften. Für uns wurde es, über Jahre hin, ein arger Weg der Erkenntnis.« (Wolf 2012: 188)

Die »Utopie zu Anfang« der DDR, für die sich »viele Menschen einsetzten« (ebd.: 194), nahm 1989 ihr Ende. Die Krise der Position der Intellektuellen tauchte schon zu dieser Zeit in der globalen Diskussion auf. 1987 sprach Russell Jacoby – ein amerikanischer Intellektueller – im klagenden Ton vom Niedergang der »öffentlichen Intellektuellen« (vgl. Jacoby 1987). Wenn die Krise von der Dimension politischer Auswirkungen her, betrachtet werden kann, dann ergibt sich ein gewichtiges Ergebnis: Es besteht im Ende der Utopien, im Niedergang der »großen Legitimierungsnarrative der Aufklärung« (vgl. Lyotard 1979) der »Meta-Erzählungen«, in der Auflösung des Geschichtsbegriffes, der Folgerichtigkeit und der Rationalität, wie Lyotard es schon 1979 bemerkte, es ist das Ende des Versprechens einer klassenlosen Gesellschaft, mit Jacoby gesprochen: der Verzicht auf eine pluralistisch-nichttotalitäre Postmoderne. Die Kundgebung vom 4. November am Alexanderplatz, auch wenn sie von Jens Reich als »Theatervorstellung« (Reich 1992) bezeichnet wurde, blieb vielen Teilnehmern als »das zentrale Erlebnis der Wendezeit im Gedächtnis und als der kurzweilige Schulterschluss zwischen Opposition, SED-Reformern und Bevölkerung«. (Sabrow 2010) In der Rede, die Bourdieu noch am 26. Oktober 1989 an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED in Berlin Ost hielt, stellt sich ihm die Frage, ob jenen Intellektuellen ein wirkliches und vor allem dauerhaftes Bündnis mit den Beherrschten zu schließen gelingt, die davon träumen, einen »wahren Sozialismus der Karikatur entgegenzusetzen, die die Männer des Apparates aus ihm gemacht haben.« (Bourdieu 1991b: 39) Die utopische Vorstel-

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lung vom Dritten Weg schien dagegen für viele in diesen Herbsttagen 1989 Realität zu werden. Friedrich Schorlemmer erinnert sich: »Wir schwebten noch im Traum einer Selbstbefreiung. Wir meinten, nun würde eine deutsche demokratische Republik möglich, eine revolutionäre Frucht des gemeinsamen aufrechten Gangs.« (Schorlemmer 1992: 295)

Den Gegenstand meiner nachfolgenden Überlegungen stellt diese letzte sozialistisch orientierte Kundgebung auf dem Alexanderplatz vom 4. November 1989 dar. Das Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, die Beweggründe der aufgetretenen Künstler darzulegen und des Weiteren ihre Vorstellungen von einer sozialistischen Welt zu veranschaulichen. Die hier gestellte Aufgabe liegt dabei nicht in der Bewertung und Kategorisierung dieser Reden, sondern im Beschreiben ihrer Narrative. Es wird darum zu tun sein, das Was und das Wie der Reden zu bestimmen. Am 4. November 1989 versammelten sich zwischen 200.000 und 500.000 Menschen5 auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin. Zu der fünfstündigen Kundgebung hatten die Künstlerverbände der DDR, Schauspieler und Mitarbeiter an Ost-Berliner Theatern und das Neue Forum6 aufgerufen. Die Sprecher forderten die Durchführung von Reformen in der DDR, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die DDR-Bürger standen für Losungsworte wie »Wir sind das Volk!« 7, »Demokratie – Jetzt oder nie«, »Visafrei bis Shanghai« ein.

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Eine genaue Anzahl der Teilnehmer wird nicht festgelegt, die Meinungen der Historiker und der Veranstalter schwanken zwischen 200.000 und 500.000.

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Das Neue Forum war eine landesweite Oppositionsbewegung in der DDR außerhalb der evangelischen Kirche. Zu den aktivsten Mitgliedern der Friedensbewegung zählten Bärbel Bohley, Katja Havemann. Rolf Henrich und Jens Reich. Das Neue Forum forderte den Dialog über demokratische Reformen und eine »Umgestaltung« der sozialistischen DDR-Gesellschaft. Bis zum Ende des Jahres unterzeichneten fast 200.000 Menschen den Gründungsaufruf des Neuen Forums, etwa 10.000 Menschen wurden als Mitglieder der Organisation geführt. Nach der Abspaltung der Deutschen Forumspartei schließt sich das NF im Februar 1990 mit anderen Oppositionsgruppen im Bündnis 90 zusammen.

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»Wir sind das Volk« wurde als Parole während der Montagsdemonstrationen 1989/90 gerufen. Zum ersten Mal wurde sie schriftlich nach einer Leipziger Demonstration am 2. Oktober 1989 fixiert. Bei der Demonstration am 9. Oktober 1989 wurde sie auf einem Flugblatt in einer neuen Form gedruckt: »Wir sind ein Volk« als Signal für die Sicherheitskräfte, dass sie auch dem Volk angehören. Damit wurde der Versuch unternommen, einem möglichen Gewaltausbruch vorzubeugen. Die letztere, auch anders zu verstehende Formulierung, wurde von den Westmedien (hauptsächlich von der Bild-Zeitung) aufge-

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Die Demonstration auf dem Alexanderplatz wurde gegen die Staatsmacht gerichtet, die Abschlusskundgebung sollte als Plädoyer für die gesetzmäßigen Rechte, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit verstanden werden. Die Alexanderplatz-Demonstration gilt im Narrativ der Vereinigung als Meilenstein der ›Friedlichen Revolution‹ in der DDR, es wird dabei aber gänzlich außer Acht gelassen, dass sie hauptsächlich für jene DDR-Bürger von größter Bedeutung war, die in der DDR bleiben wollten und eine reformierte und erneuerte DDR forderten. Diese Kundgebung sollte nicht in den Kategorien der Anfangsphase der Vereinigung gesehen werden, sondern als das letzte öffentliche Gesamtbekenntnis der DDRIntellektuellen und Bürgerrechtler zur sozialistischen Ideologie, deren Grundwerte bekanntlich aus Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität bestanden. Jutta Wachowiak, die Mitbegründerin des Neuen Forums, machte am 15. Oktober 1989 den Vorschlag einer Demonstration zugunsten einer demokratischen DDR. Zu der Veranstaltung wurden mehr als 20 Sprecher eingeladen, unter anderem Politiker wie Günter Schabowski, Manfred Gerlach, der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der Hochschulrektor Lothar Bisky, die Schriftstellerin Christa Wolf, die Schriftsteller Christoph Hein, Stefan Heym und Heiner Müller, als Vertreter des Neuen Forums Jens Reich und als Vertreterin der Initiative Frieden und Menschenrechte8 Marianne Birthler, die Schauspieler Steffie Spira, Ulrich Mühe und Jan Josef Liefers. Unter den Sprechern befanden sich Personen, die mit dem Staatsapparat zusammengearbeitet, ihn aktiv oder passiv durch das Ausüben einer öffentlichen Funktion unterstützt hatten, oder auch Menschen, die den Moment des nahenden Umbruchs zur öffentlichen Meinungsäußerung wahrnehmen wollten. Es liegt die Vermutung nahe, dass gerade die Nähe vieler Sprecher zum politischen Apparat den Gedanken an den Dritten Weg in der Gesellschaft von dieser Zusammenkunft aus nicht weiter anwachsen ließ. Die Befürwortung des Systems seitens der Intellektuellen wurde ihnen zum Teil als Angst vor den Folgen des Widerstandsweges ausgelegt. Diese Angst aktiviert moralische Schwächen des Menschen, die sowohl auf der individuellen als auch der gesellschaftlichen Ebene verortet sind. Sie führt zu Lügen, Be-

griffen und als eine Forderung nach Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ausgelegt. Nach der Maueröffnung verbreitete sie sich nur in der letzten Bedeutung. 8

Zu den Mitgliedern der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) gehörten Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Ulrike und Gerd Poppe sowie Bärbel Bohley. Die Gruppe wurde 1985 gegründet. Die IFM nahm sich als Orientierungspunkte die Zielsetzung und Arbeitsweise der Gruppe Charta 77 in der CSSR. Sie wurde zu einer der wichtigsten Oppositionsgruppen in der DDR. Seit Juni 1986 gab die IFM auch eine eigene, nicht genehmigte, dem Regime kritisch gestellte Zeitschrift »grenzfall« heraus. 1988 wurden die aktivsten Mitglieder der IFM von der Staatssicherheit verhaftet, nach einer Woche zwar freigelassen, jedoch zu einer Ausreise in den Westen gezwungen.

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spitzeln, Kollaboration und einem moralischen Untergang. Das moralische Versagen der Intellektuellen in den Augen der Öffentlichkeit hatte die schnelle Umorientierung der DDR-Gesellschaft in Richtung der Angebote aus dem Westen zur Folge. Die Option, dass der Befürwortung des Systems auch eine intellektuelle Vorstellung und nicht die Angst vor kommunistischem Terror zugrunde liegen könnte, wurde weitgehend außer Acht gelassen. Stefan Heym wurde bei der Kundgebung von den am Alexander Platz versammelten Demonstranten emphatisch begrüßt, er hielt eine Rede über »den neuen, den besseren Sozialismus in der DDR« (Heym 1989). Ein Ausschnitt dieser Rede wurde an diesem Tag als wichtigste Nachricht des Tages in der »Tagesschau« der ARD gebracht. Der Sprecher berichtete: »In der DDR sind heute so viele Menschen, wie nie zuvor für demokratische Reformen auf die Straßen gegangen. Während der Kundgebung in Ostberlin forderten sie das Ende des Machtmonopols der SED.«9

An diese Information wurde dann nahtlos eine weitere Nachricht, die eigentlich in einem Gegensatz zu der vorherigen stand, angefügt. Diese handelte von der Flucht tausender DDR-Bürger über die Grenzen der Tschechoslowakei. Diese zwei Nachrichten wurden durch das Adverb »zugleich« verbunden, was zwar nur eine Gleichzeitigkeit markiert, legt aber eine inhaltliche Verbindung der beiden Ereignisse nahe. »Zugleich verließen Tausende das Land über die Tschechoslowakei. Die DDR-Führung hatte diesen Weg gestern Abend frei gegeben. Für die Ausreise ist nur noch der Personalausweis erforderlich.«10

Um hier nur kurz die Funktion der Medien in dieser Zeit anzusprechen, ist an dieser Stelle auf Bourdieus Position zurückzukommen: »[Bei dem Umbruch in der DDR, MW] dürften die Medien eine wichtige Rolle gespielt haben, indem sie den Akteuren eine Definition der Ereignisse lieferten, die sich nicht einfach von sich verstehen.« (Bourdieu 1991a: 29) In den Medien wurden stets die Konturen der Ereignisse verwischt, Äußerungen in falsche Kontexte gestellt, Vorgänge missverstanden und so der breiten, hauptsächlich westlichen Öffentlichkeit, die über geringe Kenntnis der politisch-gesellschaftlichen Lage verfügte, dargeboten. An die Anmerkung zu der Ausreise vieler DDR-Bürger über die Tschechoslowakei schloss

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Tagesschau vom 4. November 1989.

10 Tagesschau vom 4. November 1989.

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ebenso nahtlos ein weiterer Bericht vom Alexanderplatz an, der mit den Worten Stefan Heyms eröffnetet wurde: »Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all' den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.« (Heym 1989)

»Fenster aufstoßen« könnte nach dem Tagesschau-Bericht als die Öffnung des Grenzübergangs über die Tschechoslowakei verstanden werden; der Weg, wie es im Wortlaut der Sprecher hieß, wurde »gestern Abend frei gegeben«. Es handelt sich dabei um einen verfälschenden Interpretationsversuch. Denn während der Kundgebung wurden die DDR-Bürger mehrmals zum Bleiben aufgefordert (Wolf, Schorlemmer). Heym interpretierte die Großversammlung, als eine »aus eigenem freien Willen« stattgefundene, um »für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist« einzustehen. Der Schriftsteller forderte groß angelegte Veränderungen innerhalb der DDR, er äußerte zwar Verständnis für die Menschen, die das Land verlassen hatten, rief aber diejenigen, die geblieben waren, zum Ergreifen der neuen Situation, die eingetreten war: zur Machtübernahme auf. Er stellte einen direkten Zusammenhang her zwischen den Ereignissen dieser Tage zu »sämtlichen Revolutionen«, die in Deutschland stattgefunden hatten, die aber »danebengegangen (waren), und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.« An jenem 4. November sah Heym die große Chance für gelungene revolutionäre Veränderungen in der DDR: »Laßt uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. [...] Der Sozialismus – nicht der stalinsche, der richtige –, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.« (Ebd.)

In diesen Worten offenbarte sich der Wille zum Dritten Weg, dem heute von der Öffentlichkeit, zuweilen aber auch von der Wissenschaft vergessenen Moment der deutsch-deutschen Geschichte, der europäischen Geschichte. Der Dritte Weg verstanden als eine neue Gesellschaftsordnung, als Demokratischer Sozialismus. Nach der Maueröffnung gehörte Heym mit Christa Wolf, Volker Braun, Jutta Wachowiak, Friedrich Schorlemmer, Ulrike Poppe, Konrad Weiss mit zu den Initiatoren des Aufrufes FÜR UNSER LAND. Auch in diesem weiteren Appell wird Heym auf seiner Forderung nach einer sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik bestehen.

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Ebenso deutliche gesellschaftspolitische Forderungen beinhaltete die Rede des Dramatikers und jahrelangen Präsidenten der Akademie der Künste Ostberlin Heiner Müllers. »Wir dürfen uns nicht mehr organisieren lassen, auch nicht von neuen Männern und Frauen. Wir müssen uns selbst organisieren. Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. [...] Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen. Gründet unabhängige Gewerkschaften.« (Müller 1989)

Es sind klare Worte eines Intellektuellen, der die anstehenden Veränderungen im Sinne der sozialistischen Zukunft in Anlehnung an den polnischen Weg der 80er Jahre, in denen die Gewerkschaft Solidarność für massive Reformen im Land sorgte, in Sätze fasste. Christa Wolf unterschied in ihrer Rede zwischen denen, die für eine sozialistische DDR einstehen, und denen, die sich gegen diese wenden: »Verblüfft beobachten wir die Wendigen [...]« (Wolf 1989b). Nach dieser Äußerung zog sie eine Linie zu allen Ursprüngen der sozialistischen Bewegungen: zur Revolution. Die Ereignisse stellte sie in den semantischen Kontext jeder Revolution, die bislang für Menschenrechte eingestanden hatte. Somit machte auch sie deutlich, dass die DDR, die gerade ihr 40. Jubiläum feierte, an diesen Tagen an ihr Ende angelangt war. Die Schriftstellerin forderte in ihren Worten einen neuen demokratischen Weg für die sozialistische DDR. Sie begründete ihre Position wie folgt: »Demokratie jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft, und wir erinnern uns der stecken gebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze in unserer Geschichte und wollen die Chance, die in dieser Krise steckt, da sie alle unsere produktiven Kräfte weckt, nicht wieder verschlafen; aber wir wollen sie auch nicht vertun durch Unbesonnenheit oder die Umkehrung von Feindbildern.« (Ebd.)

Christa Wolf machte auf die in ihrer Sicht bestehende Gefahr der kritiklosen Annahme der politischen und wirtschaftlichen Ordnung des westlichen Kapitalismus aufmerksam; davor warnte sie in deutlichen Worten. Sie verwies auf die Semantik des Wortes Wende, deren sich viele zu dieser Zeit bedienten; auch hier befürchtete sie das Verwischen von Konturen der für die DDR notwendigen Veränderungen. Sie plädierte für den Gebrauch eines anderen Wortschatzes. Bekanntlich schaffen Worte Realität. Sie beabsichtigte »von revolutionärer Erneuerung [zu] sprechen«, weil »Revolutionen von unten aus gehen.« Hier bediente sie sich erneut der Semantik der Revolution. Weiter fährt sie fort:

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»›Unten‹ und ›oben‹ wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang.« (Ebd.)

Wolf baut in ihre Rede, das wohl am häufigsten gebrauchte Wort für die stattfindenden Veränderungen – Traum ein. An diesem Wort entwickelt sie die Chance einer möglichen Realisierung der für viele utopischen Idee des Sozialismus: »Also träumen wir mit hellwacher Vernunft. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!« (Ebd.)

Dieser verheißungsvolle Zukunftstraum wird allerdings durch Szenen der aktuellen Realität unterbrochen: »Sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden«. Zum Schluss baut sie aufmunternde Worte ein, die es ermöglichen sollen, den sozialistischen Traum in die Realität zu verwandeln: »Wir fragen uns: Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun! Das fängt jetzt an, wenn aus den Forderungen Rechte, also Pflichten werden: Untersuchungskommission, Verfassungsgericht, Verwaltungsreform. [...] Das ›Staatsvolk der DDR‹ geht auf die Straße, um sich als ›Volk‹ zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen – der tausendfache Ruf: ›Wir-sind-das-Volk!‹« (Ebd.)

Im Narrativ der Vereinigung, hauptsächlich durch die West-Medien angestoßen, mutiert der Satz schnell zu »Wir sind ein Volk«, womit ein diametral anderer gesellschaftlicher Zustand ausgedrückt wird. Die heute als kontrovers beurteilte Person des Gregor Gysi, der damals auch als Bürgerrechtler und Systemkritiker galt und dennoch ein aktiver Rechtsanwalt war, verfolgte in seiner Rede den Erneuerungsgedanken der DDR, zeigte Brennpunkte der juristischen Zukunftsarbeit auf, sprach damals von der Notwendigkeit des Aufbaus »neuer politischen Strukturen«, von dem Schaffen eines »neuen ökonomischen Denkens« und vom »Ausbau der Rechtsordnung«. (Gysi 1989) »Die Verfassung selbst ist gut, obwohl auch sie entwickelt werden kann. Vor allem gilt es aber, Grundrechte der Bürger nach der Verfassung auszubauen und zu sichern. Kein Gemeinwesen kommt gegenwärtig ohne Staat aus. Auch wir brauchen den Staat und Staatsautorität.« (Ebd.)

Im weiteren Verlauf der Rede bezog sich Gysi auf die Begriffe jeder Revolution, sprach von Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. (Ebd.) Auch in seinem Referat während des Außerordentlichen Parteitags deutete Gysi an,

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dass nur der Dritte Weg die Lösung für die Krise des »administrativ-zentralistischen Sozialismus« sein könne (Vgl.: Winkler 2000: 531). Ähnlich auch Christoph Hein, der nicht an der sozialistischen Zukunft der DDR zweifeln wollte. Er sah die Gefahr, die in jeder Revolution steckt, sie darf nicht zu lange andauern, deswegen forderte er: »Liebe mündig gewordene Mitbürger. Es gibt für uns alle sehr viel zu tun, und wir haben wenig Zeit für diese Arbeit.« (Hein 1989)11 Und er betont kausale und finale Zusammenhänge: »Wenn sie [die Gesellschaft] demokratisch und sozialistisch werden soll, müssen [ihre] Strukturen verändert werden.« Dazu sah er am 4. November »keine Alternative«. Auch in dieser Rede wird, ähnlich wie bei Christa Wolf und Gregor Gysi, von der auf die DDRBürger zukommenden »großen Arbeit« gesprochen: »Hüten wir uns davor, die Euphorie dieser Tage mit den noch zu leistenden Veränderungen zu verwechseln. Die Begeisterung und die Demonstrationen waren und sind hilfreich und erforderlich, aber sie ersetzen nicht die Arbeit.« (Hein 1989)

Hein forderte eine demokratische Gesellschaft und »einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht.« (Ebd.) Den Schwerpunkt der Rede bildete die revolutionäre Haltung der Bürger der DDR, die von unten anfingen, »die übermächtigen Strukturen aufzubrechen« und »den Schlaf der Vernunft zu beendeten. Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes.« (Ebd.) Friedrich Schorlemmer, der Mitbegründer der Partei Demokratischer Aufbruch, eröffnete seine Rede mit großen Begriffen: »Solidarität und Toleranz« (Schorlemmer 1989). Die Sätze des Pfarrers sollten der Funktion nach zu einer Quelle der Ermutigung und der Zuversicht werden. Er bezog sich auf die DDR-Hymne, deren Worte erst in diesen Novembertagen 1989 den wahren Sinn annehmen sollten, »auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt. [...] Hier lohnt es sich jetzt, hier wird es spannend.« Ähnlich wie Christa Wolf appellierte er an die Bürger, die das Land zu verlassen gedachten: »Bleibt doch hier! Jetzt brauchen wir buchstäblich jeden und jede.« (Ebd.) Wie die anderen Redner, betonte auch er, dass die Bedingung für das Bestehen der DDR in der Auflösung alter Strukturen der DDR bestünde. Die revolutionäre Stimmung wird an vielen Sätzen des Redners ablesbar, z.B.: »Und wir werden viele in ihren Ämtern nicht mehr tolerieren können.«, »Wir brauchen nun eine Struktur der Demokratie von unten nach oben.«, »Wir las-

11 Ein ähnlicher Appell ist den Worten Friedrich Schorlemmers zu entnehmen, die während der Kundgebung am 4. November geäußert wurden: »Wir brauchen weitere spürbare Ergebnisse des Dialogs. Der Dialog muß zum Normalfall des Umgangs zwischen Volk und Regierung werden. Er darf nicht Notmaßnahme im Krisenfall sein.« (Schorlemmer 1989)

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sen uns nicht mehr bevormunden.«, »Fehler dürfen nun nicht flugs korrigiert, sie müssen auch als Fehler zugegeben werden.« (Ebd.) Schorlemmer bemühte das Personalpronomen wir zum Zwecke einer klaren Abgrenzung der am Alexanderplatz Versammelten von den politisch Tätigen der Vergangenheit, indem er erläuterte: »Es ist wahr, unser Land ist kaputt. Ziemlich kaputt. Es ist wahr, dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt, so viele Jahre. Heute sind wir hierhergekommen offener, aufrechter, selbstbewusster. Wir finden zu uns selbst. Wir werden aus Objekten zu Subjekten des politischen Handelns. Oder sind wir mitten in einem wirklichen dauerhaften demokratischen Aufbruch?« (Ebd.)

In der Ansprache erinnerte Schorlemmer an die blutigen Vorgänge bei Revolutionen und warnte ausdrücklich vor dem Einsetzen »der Fäuste«. Er forderte, ähnlich wie Christa Wolf, einen wirklichen Dialog mit allen Menschen in der DDR und erhoffte von diesem die Herausbildung neuer Wege für eine neue sozialistische DDR in ihren bisherigen Grenzen. Am 8. November unternimmt Christa Wolf, unterstützt von vielen ostdeutschen Intellektuellen und Bürgerrechtlern noch einmal den Versuch, die DDRÖffentlichkeit für das Aufrechterhalten der sozialistischen Idee zu motivieren 12. Die Aktuelle Kamera sendet ihren Appell, der von Christoph Hein, Stefan Heym, Volker Braun, Ruth Berghaus, Ulrich Plenzdorf, Kurt Masur, Bärbel Bohley (Neues Forum), Uta Forstbauer (Sozialdemokratische Partei), Hans Jürgen Fischbeck (Demokratie Jetzt), Gerhard Poppe (Initiative für Frieden und Menschenrechte) und Ehrhard Neubert (Demokratischer Aufbruch) mit unterschrieben wurde. Es ist bezeichnend für die Narrative dieser sozialistischen, revolutionären Aufrufe, dass ihre Urheber dem intellektuellen Milieu entstammten. Das Kampfmittel des Intellektuellen waren schon in den Ursprüngen des intellektuellen Engagements immer die Worte. Christa Wolf versuchte die Worte einzusetzen und, trotz der Ohnmacht der Worte in Konfrontation mit Massenbewegungen, rief sie zum Aufbau der sozialistischen Idee in der DDR auf. Sie sprach im Namen der Intellektuellen, die sich mitverantwortlich für das Gelingen des Sozialismus fühlten. Wolf stellte diese Idee über das Wohlstandsbedürfnis der Menschen. Sie trug vor: »Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für: Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist: Jahrzehntealte Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land.« (Ebd.)

12 Aktuelle Kamera vom 08.11.1989.

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Im weiteren Verlauf stellte Wolf die Intellektuellen als die Mitbegründer des neuen politischen Systems in der DDR dar, sie sprach den Politikern das Recht auf die Durchführung der notwendigen Reformen ab: »Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich selbst und zu uns, die wir hier bleiben wollen, Vertrauen.« (Ebd.)

Am 28. November 1989 unternahmen die reformfreudigen Intellektuellen der DDR einen weiteren Versuch, an die Bürger zu appellieren. Der Aufruf FÜR UNSER LAND wurde von Stefan Heym auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin vorgetragen, die Endfassung des Textes wurde von Christa Wolf vorbereitet. Die Idee für diesen Aufruf wurde von dem niederländischen Pfarrer Dick Boer, der seit 1984 in der DDR lebte, angestoßen. Das Originelle an seiner Idee war, schreibt Rochtus, dass er der Sorge vieler Intellektueller um den eigenen Staat und das eigene Gesellschaftssystem durch einen Aufruf an die Bevölkerung zu Beifallsbezeugungen an die Adresse der DDR eine breite Basis verschaffen wollte. Den Aufruf unterzeichneten »31 Bürger der DDR«13. (Vgl.: Rochtus 1999, S. 220-234) Diesem Aufruf, der im NEUEN DEUTSCHLAND am 29.11.1989 (Neues Deutschland 1989) veröffentlicht wurde, haben sich zunächst Hunderttausende mit ihren Unterschriften angeschlossen. Der Text wurde in einem ähnlichen Ton verfasst wie der vorangegangene vom 8. November. Ein Schwerpunkt kam allerdings hinzu: Der empfundenen Bedrohung, die mit der westlichen Marktwirtschaft in die DDR Einzug hielt, wurde Ausdruck gegeben.

13 Götz Berger, Rechtsanwalt; Wolfgang Berghofer, Kommunalpolitiker; Frank Beyer, Regisseur; Volker Braun, Schriftsteller; Reinhard Brühl, Militärhistoriker; Tamara Danz, Rocksängerin; Christoph Demke, Bischof; Siegrid England, Pädagogin; Bernd Gehrke, Ökonom; Sighard Gille, Maler; Stefan Heym, Schriftsteller; Uwe Jahn, Konstruktionsleiter; Gerda Jun, Ärztin/Psychotherapeutin; Dieter Klein, Politökonom; Günter Krusche, Generalsuperintendent; Brigitte Lebentrau, Biologin; Bernd P. Löwe, Friedensforscher; Thomas Montag, Mediziner; Andreas Pella, Bauingenieur; Sebastian Pflugbeil, Physiker, Ulrike Poppe, Hausfrau; Martin Schmidt, Ökonom; Friedrich Schorlemmer, Pfarrer; Andree Türpe, Philosoph; Jutta Wachowiak, Schauspielerin; Heinz Warzecha, Generaldirektor; Konrad Weiss, Filmemacher; Angela Wintgen, Zahnärztin; Christa Wolf, Schriftstellerin; Ingeborg Graße, Krankenschwester.

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»Oder: Wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.« (Ebd.)

In dem Aufruf wurde weiterhin die Vision einer »sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik« beschworen und in einem Atemzug vor dem »Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte« gewarnt. Die Autoren knüpfen an die »antifaschistischen und humanistischen Ideale« an, »von denen wir einst ausgegangen sind«. (Ebd.) Die »entweder-oder«-Struktur ließ die, wie Dirk Rochtus bezeugt, ursprünglich differenzierte Sichtweisen der Initiatoren, wie eine unnuancierte Wahl »des Sozialismus« und »der DDR« wirken und erregte bei vielen Zuhörern und Lesern Widerstand, weil die beiden extremen Positionen »aus dem alten Denken resultieren: Guter Sozialismus hier, böser Kapitalismus dort.« (Rochtus 1999: 218) Dazu kam ein unglücklicher Zufall hinzu, dass der Aufruf am selben Tag vorgestellt wurde wie der Zehn-Punkte-Plan von Helmut Kohl, in dem auf konkrete Fragen der DDR-Gesellschaft und -Wirtschaft eingegangen wurde. Gerade die konstruktiven Vorschläge für konkrete Maßnahmen ließ aber der Aufruf der DDRIntellektuellen vermissen. Dieser Umstand wie auch Heyms Bewertung des Kohlschen Plans als »Ouvertüre zur Vereinnahmung« (Neues Deutschland 1989) der DDR erweckten den Eindruck, als sei der Aufruf eine durch die Regierung initiierte Reaktion auf den offiziellen Standpunkt Bonns. Die Unglaubwürdigkeit des Aufrufes wurde durch die Unterschrift von Egon Krenz untermauert, auch wenn dieser seinen Namen nicht in seiner offiziellen Funktion, sondern als Bürger unter das Schreiben setzte. Bourdieu riet den DDR-Intellektuellen einen strengen Übergang zur wirklich politischen Arbeit, die er an einigen Voraussetzungen festmachte: Der Intellektuelle solle »[...] in der Lage sein zuzuhören, abzuwarten, still zu sein, zuzugucken, Fragen stellen, ohne jedoch dem eigenen Wissen abzuschwören. Man müsste sagen: Ich bin hier, um Fragen zu stellen, um Verbindungen zwischen den Antworten zu ziehen, um Interpretationen anzubieten. Das ist politische Arbeit.« (Bourdieu 1991b: 22)

Diese Art der Kommunikation war den Intellektuellen der DDR verwehrt, sie hatten bereits den Kontakt zu einer breiteren Öffentlichkeit verloren. Die Initiatoren der öffentlichen Aktionen, der Kundgebungen, Aufrufe, Fernsehauftritte verfolgten die Absicht, die DDR in Hinblick auf einen erneuerten Sozialismus zu erhalten. Ihre Absichten erstreckten sich bis hin zu einem gesellschaft-

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lichen Projekt, »für das die DDR auf der Grundlage ihrer ›Traditionen und Errungenschaften‹ die notwendige Erfahrung und als staatlicher Rahmen den ordentlichen Schutz böte.« (Rochtus 1999: 218) Wenn man versucht, die Texte der Schriftsteller, der Intellektuellen, die zu dieser Zeit öffentlich vorgetragen und in Zeitungen veröffentlicht wurden, nach den gesicherten Kategorien der Literaturwissenschaft zu untersuchen, kommt man zu den Annahme, dass sie in der theoretischen und gattungsspezifischen Tradition der Utopie gelesen werden können. Die angewendete Textstrategie wie auch das semantische Potential der Reden und Aufrufe weisen die zentralen und idealtypischen Merkmale der Utopie auf. Wilhelm Vosskamp unterscheidet folgende drei Merkmale der Utopie: das Moment der Negation im Sinne der kritischen Differenz gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit; das Problem von Antizipation – unter dem Aspekt der Vorwegnahme der Zukunft und die Kategorie der Wirklichkeit und Möglichkeit – als Gegenüberstellung von Konjunktivischem und Indikativischem. (Vgl. Vosskamp 1990: 273-283) Die Negation hat sich über Jahrhunderte zu einem dominanten Prinzip aller Utopien entwickelt. Dank des Moments der Negation ist es für die Literatur möglich gemacht worden, der vorgefunden Realität mithilfe logischer Verfahren eine alternative Gesellschaftsform, ein mögliches anderes Gesellschaftssystem gegenüberzustellen. Dem Negationsverfahren fällt die Funktion zu, rationale Konstruktionen anzubieten, die auf die Wirklichkeit Einfluss nehmen und sie mit ihrer Kraft verändern können. Die Negation der gegenwärtigen Zustände äußert sich in dem Gebrauch pejorativer Begriffe und Beschreibungen der Wirklichkeit, wie die folgenden Beispiele es beweisen: • • • • • • • • • •

»Jahre der Stagnation« (Heym 1989) »Jahre der Dumpfheit« (Heym 1989) »wir dürfen uns nicht mehr organisieren lassen« (Müller 1989) »wir erinnern an die steckengebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze unserer Geschichte« (Wolf 1989B) »unser Land ist kaputt« (Schorlemmer 1989) »dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt.« (Schorlemmer 1989) »Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei.« (Heym 1989) »Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut.« (Heym 1989) »Verfilzung, Korruption, Amtsmißbrauch, Diebstahl von Volkseigentum.« (Hein 1989) »Von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmißbrauch, Entmündigung und auch Verbrechen war und ist diese Gesellschaft gezeichnet.« (Hein 1989)

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Die Negation betrifft die vergangene Zeit, die auch durch die Verwendung des Vergangenheitstempus signalisiert wird. Dagegen werden Neuordnungen innerhalb der Gesellschaft und des Systems vorgeschlagen: »Alle müssen Teilhaben an der Macht.« (Heym 1989) »Der Sozialismus – nicht der stalinsche, der richtige.« (Heym 1989) »lasst uns lernen zu regieren.« (Heym 1989) »Die Strukturen dieser Gesellschaft müssen verändert werden, wenn sie demokratisch und sozialistisch werden sollen.« (Hein 1989) • »Aber wir wissen, daß jetzt andere Formen noch wichtiger werden; neue politische Strukturen, wirksame Parlamentsarbeit, neues, ökonomisches Denken und vor allem der Ausbau der Rechtsordnung.« (Gysi 1989)

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Hier werden Aussagen zu allgemein verbindlichen »neuen« politischen Ordnungsmöglichkeiten getätigt, die konkrete Orientierungspunkte für eine Gesellschaft im Umbruch bieten. An diesem Punkt offenbart sich das zentrale Moment der Utopie: Die Gegenüberstellung von Ordnung und Kontingenz. Durch stilistische Mittel wird der Zuhörer davon überzeugt, dass das Gegebene verändert werden kann, die Kontingenz behebbar ist. Das Moment der Erwartung einer neuen politischen Ordnung und der Bewältigung der Kontingenz wird an den Sätzen Christa Wolfs noch einmal deutlich. Sie wendet sich nicht nur gegen den undemokratischen Sozialismus, sondern auch gegen eine andere Form der gesellschaftlichen Ordnung »der starken ökonomischen Zwänge[n]« der »einflußreichen Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik« (Wolf 1989). Christa Wolf erwartet von der Gesellschaft einen Schritt nach Vorne zu gesellschaftlichen Neuordnungen. Stefan Heym spricht auch vom »Sozialismus, de[m] richtigen, den wir erbauen wollen« (Heym 1989) – damit benennt er auch die Forderung nach einer politischen Neuordnung, in der menschliche Bedürfnisse: Freiheit, Glück, Subjektivität neu geschaffen werden können. Wolf und Heym zeichnen eine Differenz zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit hier und dem Entwurf einer neuen Wirklichkeit dann. Diese Handlung schafft eine notwendige Voraussetzung für das Konzept einer neuen Ordnungskonstruktion. Die Forderung und die Erwartung einer neuen Ordnungsform kommen auch in dem Auftritt von Steffi Spira zur Sprache, die ihren Beitrag mit einem Gedicht von Bertolt Brecht beginnt: »Lob der Dialektik./ So wie es ist, bleibt es nicht./ Wer lebt, sage nie Niemals./ Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein./ Und aus Niemals wird Heute noch!« (Spira 1989)

Vosskamp erwähnt die Antizipation als eine weitere Funktion, die mit dem Entwurf einer Utopie seit dem 18. Jahrhundert festgeschrieben wird. Antizipation wird als

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Zeitsprung in die Zukunft verstanden, als Mittel, dessen sich der Autor bedient, um die Erwartungen der Leser, Zuhörer zu wecken. (Vosskamp 1990) Die Negation, die zwischen kritischer und konstruktiver Herangehensweise angesiedelt ist, die Vorschläge eines neuen Ordnungskonstrukts, wie auch die in Ausschau gestellte Bewältigung der Kontingenz wird in den Reden und den Aufrufen durch die Antizipation ausgebaut. Der Bezug auf die Zukunft bildet den Kerngedanken der Aussagen. Zum einen wird vor ungewünschten Handlungen gewarnt, zum anderen und das ist für diese Ausführungen von größerer Bedeutung, wird eine Position markiert, die auf eine zuversichtliche, optimistische, hoffnungsvolle Zukunft hindeutet. Zur Illustration des Verfahrens seinen hier nur einige Aussagebeispiele erwähnt: • »Heute hier, die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit

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und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist.« (Heym 1989) »Demokratie jetzt oder nie!« (Wolf 1989) »Ich finde, es ist Zeit, zwei weitere Worte zu übernehmen: nämlich Perestroika und Glasnost. Und wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen.« (Gysi 1989) »Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet.« (Hein 1989) »Im Herbst 1989 sind wir auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt. Und bald werden wir dieses Lied auch wieder singen. Hier lohnt es sich jetzt, hier wird es spannend.« (Schorlemmer 1989) »Wir lassen uns nicht mehr bevormunden.« (Schorlemmer 1989)

Die Funktion der Antizipation liegt hauptsächlich in dem Versprechen, dass die neu geschaffenen Strukturen und Ordnungen ein Garant für die weitere Entwicklung der Subjekte sind. Die Ziele der Veränderung werden in den Zukunftsentwürfen angegeben, vom Individuum wird nun erwartet, dass es sie zu den seinen macht und sie weiter verfolgt. Als ein weiteres Merkmal der theoretischen und gattungsgeschichtlichen Tradition der literarischen Utopie wird von Vosskamp schließlich die Kategorie der Wirklichkeit und Möglichkeit genannt. Dieser Kategorie wird eine entscheidende Rolle bei der Gattungsbezeichnung zugeschrieben. (Vosskamp 1990) Die Kategorie Möglichkeit ist die einzige dynamische Potenz (Bloch 1965) unter den drei aufgeführten Merkmalen. Das Feststellen von Differenzen oder auch die Antizipation gehören zu den statischen Elementen der Utopie. Vosskamp verweist dabei auf Diskussionen über das Utopische in literarischen Texten aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts,

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die die Dichotomie von Wirklichkeit und Möglichkeit zu ihrem Gegenstand gemacht haben. Auch im Rahmen der Reden am Alexanderplatz wird eine dichotomische Welt entworfen. • »In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu

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mir mit ihren Klagen. [...] Und ich sagte: So tut doch etwas! Und sie sagten resigniert: Wir können doch nichts tun. […] Die anderen aber, die Mehrzahl, erklärten, und zwar auf der Strasse, öffentlich: Schluß, ändern. Wir sind das Volk!« (Heym 1989) »Also träumen wir mit hellwacher Vernunft. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!« (Wolf 1989) »An die Stelle des Mißtrauens und der Verdächtigungen, der Ängstlichkeit und behaupteten Nichtzuständigkeit muß in den Medien die Bereitschaft treten, die Jungen zu akzeptieren, zuzuhören und zuzuschauen, was sie uns zu sagen haben […].« (Bisky 1989) »Lebten wir gestern noch in der stickigen Luft der Stagnation, die atemberaubend war, so erleben wir jetzt Veränderungen, die atemberaubend sind.« (Schorlemmer 1989) »40 Jahre haben wir das erduldet, jetzt wollen und können wir diesen riesigen Angstapparat weder weiter tolerieren noch bezahlen.« (Schorlemmer 1989) »Es ist auch von den schmutzigen Händen, von den schmutzigen Westen zu sprechen. Verfilzung, Korruption, Amtsmißbrauch, Diebstahl von Volkseigentum, das muß aufgeklärt werden, und diese Aufklärung muß auch bei den Spitzen des Staates erfolgen.« (Hein 1989)

Bei den vor einem großen Publikum gehaltenen Reden fällt auf, dass gerade die Kategorie der Möglichkeit am wenigsten ausgeprägt worden ist. Sie wird eher durch das Aufzeigen von kurzfristigen Handlungserwartungen, die auf die DDR-Bürger zukommen, charakterisiert. Der Begriff »Traum«, der sowohl bei Wolf (1x), als auch bei Hein (3x), Schorlemmer (1x) vorkommt, verweist zwar auf eine potentielle Welt, entwirft aber ihr Bild nicht. Die Reden und Aufrufe lassen wirklich konstruktive Gedanken für den aufzubauenden Sozialismus und mögliche Zukunftsentwürfe vermissen. Auch wenn die Intellektuellen sich in den nachfolgenden Monaten mit Vorschlägen der Strukturveränderung an die Bevölkerung gewandt haben, so konnten sie keine große Öffentlichkeit mehr für ihre Gedanken erreichen. Der Traum vom Dritten Weg war allerdings spätestens mit der Gründung der vereinigungsorientierten ›Allianz für Deutschland‹ dann ganz aus. Bärbel Bohley beklagte »die verlorene Chance«, »daß hier wirklich etwas hätte entstehen können, was ganz neu [...] in der Welt« [sei]. (Jarausch 1995: 180) Damit verschwand auch das Engagement der Intellektuellen in ihrer ursprünglichen sozialistisch orientierten Funktion aus der Öffentlichkeit. Der Dritte Weg evo-

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luierte zu einem abwesenden Begriff des europäischen Denkens. »Sieht man«, schreibt Bourdieu »in den Umwälzungen [der friedlichen Revolution] eine ›liberale‹ Revolution, ein Votum für die freie Marktwirtschaft, wird jede wie immer geartete ›sozialistische‹ Rückbesinnung zu einer Art Selbstwiderspruch.« (Bourdieu 1991a: 29)

Deshalb hielt es Bourdieu 1991 für wichtig, »diesem Sinn gegenüber Freiheit zu bewahren« und sah »eine wichtige Aufgabe der west- und ostdeutschen Intellektuellen darin, diese Freiheit wiederzugewinnen, sich nicht in diesen tagespolitischen Horizont einschließen zu lassen«. (Ebd.) Für Bourdieu besteht allerdings auch kein Anlass einen »Totalausverkauf des Marxismus« zu sehen; »die Realität der kommunistischen Regime« bezieht er nicht nur auf intellektuelles Denken, sondern hauptsächlich auf »soziale Kräfte […], die unabhängig von der marxistischen Theorie« gewirkt haben, »für die sie daher nicht unmittelbar verantwortlich gemacht werden kann«. (Ebd.: 31) Im Westen wurde der Dritte Weg als Illusion gedeutet und verworfen, dies wurde durch die Feststellung untermauert, an der »undemokratischen« Lehre des Sozialismus werde nichts zu verändern sein. (Legutko 1999: 87) Ganz anders verhielt sich die Rezeption des Begriffs innerhalb der ostdeutschen Oppositionellen, wo das Konzept zumindest eine Zeitlang noch als eine wirkungsvolle Methode angesehen wurde, um auf deren Grundlage zu einer anderen demokratisch-sozialistischen Gesellschaft zu gelangen. Die unterschiedliche Herangehensweise an den Begriff führte damit zur Entstehung zweier unterschiedlicher Diskurse im vereinigten Deutschland. Als Beweis dafür, dass der Dritte Weg ein Misserfolg war, gelten im Westen beispielsweise die Reformversuche der Regierung Modrow. Für die Befürworter der Idee des Dritten Weges bestand immer eine deutliche Unterscheidungsmarke zwischen der Reformpolitik des SED-Spitze und ihren eigenen Idealen. Die Ideale gingen über das effizientere und humanistischere Gestalten des Sozialismus weit hinaus. Die parteinahen Intellektuellen, die im Unterschied zu den Vertretern der Bürgerbewegungen, über eine intensive Bildung in der marxistischen Lehre verfügten, sahen im Dritten Weg nicht ein System, das zwischen Kapitalismus und Sozialismus balancierte. Für sie ging es um das Wahrmachen einer dialektischen Aufhebung der Errungenschaften des einen Systems in dem anderen, um eine qualitative Veränderung des Sozialismus. Der Sozialismus wurde dabei als Gegensatz zu bürokratischem Sozialismus verstanden. Marx behauptete, der Sozialismus könne sich nur in einer Gesellschaft vollziehen, die durch den Kapitalismus ausreichend entwickelt sei. Der Sozialismus solle so auf den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft aufbauen. (Rochtus 1999: 283) In den Jahren 1989/1990 verschwand das Engagement des Intellektuellen mit seiner ursprünglich sozialistischen Orientierung dann ganz aus der Öffentlichkeit.

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Der Kommunismus und der Sozialismus wurden damit zu einem unwillkommenen Thema der intellektuellen Auseinandersetzung und einer kulturellen Reflexion seitens der Intellektuellen überhaupt und der Dritte Weg fand keinen Platz in dem kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Jacoby sieht 1999 das Ende des utopischen Denkens überhaupt erreicht. (Vgl. Jacoby 1999) Es fehle an Kräften und Energien, die den utopischen Gedanken noch denken könnten. Die kohärente gesellschaftliche Vision wird ihm zufolge durch die Erscheinungen des Multikulturalismus, der Ideologie eines Zeitalters ohne Ideologie, ersetzt. Die Untersuchung der tatsächlichen gesellschaftlichen Systeme und Verhältnisse wird durch Begriffe wie Diversität, Fussy, Pluralität verhindert. In Diskussionen wird dagegen auf Modephrasen und Allgemeinplätze zurückgegriffen, politische Slogans gelten als Ausdrücke politischer Korrektheit. Jacoby sieht in dem Ende der Utopie das Hindernis, einen Gedanken über das Bestehende hinaus denken zu können.

L ITERATUR Aktuelle Kamera vom 08.11.1989: http://www.youtube.com/watch?v=BIrJ0z4kinM (Zugriff am 07.05.2013). Aufruf für unser Land, in: Neues Deutschland vom 29.11.1989, S. 2. Die Endfassung des Textes stammt von Christa Wolf, verlesen wird der Text auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin (28.11.1989) von Stefan Heym. Bisky, Lothar (1989): Rede während der Kundgebung am Alexanderplatz vom 04.11.1989. http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/4november1989/htmrede. html (Zugriff am 18.12.2014) Bluhm, Harald/ Brie, Michael/ Land, Reiner/ Segert, Dieter/ Will, Rosemarie, Krüger, Hans-Peter (1990): »Die Überlebensfrage der DDR: der dritte Weg. Was wir vom Außerordentlichen Parteitag des SED erwarten«, in: Bluhm, Harald/Brie, Michael (Hg.): Sozialismus in der Diskussion, Berlin: Dietz, S. 7-23. Bloch, Ernst (1977): Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1991a): »Revolutionen, Volk und intellektuelle Hybris«, in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik. Red. Klaus Wagenbach, Barbara Sichtermann, Heinrich v. Berenberg, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, S. 27-34. Ders. (1991b): Die Intellektuellen und die Macht. Hg. v. Irene Dölling, Hamburg: VSA-Verlag. Eigenfeld, Frank (2001): »Bürgerrechtsbewegungen 1988–1990 in der DDR«, in: Pabst, Andrea/Schultheiß, Catharina/Bohley, Petra (Hg.): Wir sind das Volk? Ostdeutsche Bürgerrechtsbewegungen und die Wende, Tübingen: bpb, S. 65-78.

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Engler, Wolfgang (2002): Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin: AufbauVerlag. Gysi, Gregor (1989): Rede während der Kundgebung am Alexanderplatz vom 04.11.1989. http://www.youtube.com/watch?v=e1FyCB57ZVw (Zugriff am 16.05.2013). Hein, Christoph (1989): Rede während der Kundgebung am Alexanderplatz vom 04.11.1989. http://www.youtube.com/watch?v=Ewgh5dWvvbY (Zugriff am 16.05.2013). Heym, Stephan (1989): Rede während der Kundgebung am Alexanderplatz vom 04.11.1989. http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/htmrede.html (Zugriff am 02.05.2013). http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42622617.html (Zugriff am 22.01.2014). Jacoby, Russell (1987): The Last Intellectuals: American Culture in the Age of Academe, New York: Basic Books. Ders. (1999): The End of Utopia. Politics and Culture in an Age of Apathy, Berlin: Berlin Verlag. Jarausch, Konrad H. (1995): Die unverhoffte Einheit: 1989–1990, Frankfurt a.M. Klein, Thomas (1999): »Außer Reden nichts gewesen? Der Runde Tisch zwischen Volkskammer und Modrow-Regierung«, in: Gehrke, Bernd/Rüddenklau, Wolfgang (Hg.): Das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Köln: Böhlau 1999, S. 235-238. Ders. (2007): »Frieden und Gerechtigkeit!« Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der achtziger Jahre, Köln: Böhlau 2007. Legutko, Ryszard (1999): Intelektualiści i komunizm, in: Ryszard Legutko: O czasach chytrych i prawdach pozornych, Kraków: Stalky i Spółka, S. 80-89. Liersch, Werner (1990): Deutsche Fragen, in: Neue Deutsche Literatur 4, S. 61146. Lyotard, Jean-François (1979): Kondycja ponowoczesna. Raport o stanie wiedzy, Warszawa: Aletheia. Mannheim, Karl (1965): Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M.: Klostermann. Müller, Heiner (1989): Rede während der Kundgebung am Alexanderplatz vom 04.11.1989. http://www.youtube.com/watch?v=gr0k2-6WoPg (Zugriff am 16.05.2013). Reich, Jens (1992): Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht, Berlin: Rowohlt. Rochtus, Dirk (1999): Zwischen Realität und Utopie, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. Sabrow, Martin (2010): Der vergessene »Dritte Weg«, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 04.03.2010. http://www.bpb.de/apuz/32883/der-vergessenedritte-weg?p=all (Zugriff am 07.03.2012).

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Stephan Hermlin – »spätbürgerlicher Schriftsteller« und »kommunistischer Intellektueller«? M ATTHIAS B RAUN »Ich war dieser Partei treu, trotz ihrer entsetzlichen Mängel, weil sie eine Vorform von Utopie realisieren konnte« (HERMLIN 1995: 96) »Man (gemeint ist die Partei, M.B.) konnte nie etwas Richtiges mit mir anfangen. […] Ich bin auf dem Gebiet der Kunst und der Kunstbetrachtung nie den Lehren der Partei und Staatsführer gefolgt«. (HERMLIN 1991: 20)

Beide Zitate stammen von einem Mann, der 1915 als Rudolf Leder in Chemnitz geboren und 1997 als Stephan Hermlin in Berlin gestorben ist. Leder stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie und besuchte das humanistische Gymnasium in Chemnitz und Berlin. Er wuchs in einem musischen Elternhaus auf, in dem sein lebenslanges Interesse an klassischer Musik, der Malerei und den großen Werken der Weltliteratur geweckt wurde, was bereits den Jungkommunisten Rudolf Leder von Anfang an von seinen Genossen unterschied. Die Gegensätze zwischen Fremdsein und Dazugehören, zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit, wie auch das Phänomen von Treue und Verrat, prägten nicht nur Stephan Hermlins gesamtes Leben, diese Antagonismen durchziehen auch sein schmales literarisches Werk. Als der dreißigjährige Hermlin 1945 aus dem Exil in die amerikanische Zone Nachkriegsdeutschlands zurückkehrte, war er alles andere als ein bekannter Autor.

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Im Gegensatz zu seiner politischen Überzeugung orientierte sich der Schriftsteller Hermlin vielmehr an Rilke, Hölderlin und Verlaine, als dass er sich in der Tradition proletarisch- revolutionärer Literatur bewegte. (Berger 2013: 9-89, Schlenstedt 1985) 1947 übersiedelte Stephan Hermlin in den sowjetischen Sektor von Berlin. Dort bezog er ein Haus im Stadtbezirk Pankow, in dem er bis zu seinem Lebensende wohnte. Im Rahmen der internationalen Weltfriedensbewegung der Nachkriegszeit engagierte sich der Genosse Hermlin ohne Wenn und Aber für die Politik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Im Rückblick gab er zu Protokoll: »Ich habe, wie viele andere Kommunisten innerhalb der Weltfriedensbewegung, klar gesehen, dass unsere Bewegung damals in ihrem Ursprung vor allem einem Ziel zu dienen hatte, nämlich diese amerikanischen Erstschlagmöglichkeiten hinauszuzögern, hinauszuziehen, um der Sowjetunion zu ermöglichen, auf allen Gebieten der Bewaffnung gleichzuziehen. Das war eines der zwar nicht ausgesprochenen, aber deutlich spürbaren, deutlich bewussten Ziele.« (Hermlin 1982) Anlässlich des Baus der Berliner Mauer im August 1961 schrieb Stephan Hermlin: »Ich gebe den Maßnahmen der Regierung der DDR meine uneingeschränkte ernste Zustimmung.« (Hermlin 1961) Ein Jahr später wies er im Auftrag seiner Regierung auf einer PEN-Tagung in Brüssel die Kritik an der Verhaftung von DDRSchriftstellern als Verleumdung zurück. Diese Schriftsteller sein nicht wegen ihrer schriftstellerischen Tätigkeit oder Gesinnung verurteilt worden, sondern wegen Handlungen, die mit den Gesetzten der Republik in Widerspruch stehen und der strafrechtlichen Verfolgung unterliegen. (Walther 1996: 374) Im August 1968 protestierte Stephan Hermlin gegen den Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR mit der Behauptung, dies sei »der schwerste Schlag gegen den Sozialismus seit 1945«. (Opitz 2009: 126) Auf einer weiteren Tagung des Internationalen PEN in London (1970), auf der Generalsekretär David Carver einen Brief an Walter Ulbricht verlas, in dem die DDR-Regierung aufgefordert wurde, das über den Lyriker Peter Huchel verhängte Publikations- und Reiseverbot aufzuheben, dieser Brief war u.a. von Arthur Miller, Graham Greene und Heinrich Böll unterzeichnet worden, verließ Stephan Hermlin gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der DDR-Delegation aus Protest den Saal. 1952 verfasste der Schriftsteller Stephan Hermlin, wie viele seiner Kollegen, Lobeshymnen auf Stalin.1 Zehn Jahre später wurde Hermlin wegen einer von ihm

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Aus dem unendlichen Raunen von Inseln und Ländern/Hebt das Entzücken sich mit seiner Botschaft dahin,/Wo die Verheißungen leben und die Epochen verändern,/Namenlos sich die Zeit endlich selbst nennt:/STALIN.

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verantworteten Lyrik-Veranstaltung zum Rücktritt als Sekretär der Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste gedrängt. In der Summe beschreiben die genannten Beispiele nicht mehr und nicht weniger als das lebenslange Dilemma, des sich selbst als Kommunist und »spätbürgerlichen Dichter« (Hermlin 1995: 22f). bezeichnenden Stephan Hermlin, der sich nicht ohne weiteres in die von der SED vorgegebene Vorbildrolle einbinden ließ und dennoch seiner Partei und seinem Staat DDR verbunden blieb. 2 Diese Haltung weckte immer wieder Argwohn auf allen Seiten und ganz besonders in den Zeiten des »Kalten Krieges« stand Hermlin damit auch mehrmals zwischen den Fronten. Der Schriftsteller Stephan Hermlin stilisierte sich nicht nur gern als Friedenskämpfer und Brückenbauer, er pflegte auch ausgiebig sein Image als »spätbürgerlicher Dichter«, der sich in der Rolle der »grauen Eminenz« und als »Fürstenerzieher«3 wohlfühlte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang ganz besonders an seine Rolle als Initiator der Biermann-Petition (November 1976) oder auch als Anreger und Vorsitzender des deutsch-deutschen Schriftstellertreffens im Dezember 1981 in Ostberlin, das als »Berliner Begegnung« in die Geschichte eingegangen ist. (Braun 2007: 335ff.) Über die zahlreichen Widersprüche in Stephan Hermlins Biografie ist vornehmlich nach 1989 viel Konträres gesagt und geschrieben worden.4 Unstrittig ist jedoch und darum geht es hier in erster Linie, Stephan Hermlins besondere geistige Existenzform unter den Rahmenbedingungen des realen Sozialismus in der DDR näher zu untersuchen. Seine Existenzform prädestinierte ihn, sich immer wieder in den gesellschaftlichen Verständigungsprozess einzumischen und damit den »gesellschaftlichen Normalismus« gezielt aufzustören. Um in diesem Kontext mehr Klarheit über die Frage zu erlangen, ob wir es deshalb bei dem Schriftsteller Stephan Hermlin mit einem klassischen Intellektuellen oder gar einem »kommunistischen Intellektuellen« zu tun haben, scheint mir ein Blick auf den Forschungsstand zu diesem Thema hilfreich zu sein.

2 3

Siehe Eingangszitat. Ein von Schriftstellern bereits in der Aufklärung beschrittener Versuch, absolutistische Herrscher zu guten Taten zu bewegen.

4

Hier ist vor allem das von Karl Corino verfasste Zeit-Dossier »Die Dichtung in eigener Sache« vom 4.10.1996 zu nennen, das auf allen Kulturseiten deutscher Tageszeitungen eine heftige Debatte um die Lebenslügen des Schriftstellers Stephan Hermlin ausgelöst hatte.

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W AS MACHT DEN I NTELLEKTUELLEN AUS UND GIBT ES DEN T YPUS EINES » KOMMUNISTISCHEN I NTELLEKTUELLEN «? Pierre Bourdieu zufolge ist »Der Intellektuelle ein bi-dimensionales Wesen. Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muss ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muss er einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetzte respektieren; zum anderen muss er eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im engeren Sinne stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat.« (Bourdieu 1991: 42) Für den amerikanischen Literaturtheoretiker Edward W. Said sind »Intellektuelle Individuen, denen die Kunst des Repräsentierens gegeben ist, sei es sprechend, schreibend, lehrend oder auf dem Bildschirm. Und diese Gabe ist insofern wichtig, als sie öffentlich wahrgenommen wird und sowohl Verbindlichkeiten wie auch Risikobereitschaft, Mut und Verletzlichkeit einschließt«. (Said 1997: 18) Said mahnt wie Bourdieu an, dass der Intellektuelle keinem Gott oder einer anderen Autorität verpflichtet sein darf. »Wer unkritisch einem Gott dient, für den sind die Teufel stets auf der anderen Seite.« (Ebd.: 129) Der deutsche Soziologe M. Rainer Lepsius sieht, wie auch Bourdieu und Said, die Funktion des Intellektuellen in der Kritik, und zwar in der »Kritik als Beruf«. (Lepsius 1964: 75-91) Der Politikwissenschaftler Wolfgang Jäger gelangt zu der Auffassung, »in Bezug auf die DDR nicht von Intellektuellen, sondern von ›Intelligenz‹ zu sprechen«. (Jäger 1998: 357) Allein schon auf Grund ihrer Parteinahme für die sozialistische Utopie hätten sich die Schriftsteller und Geisteswissenschaftler der DDR außerhalb der intellektuellen Tradition gestellt. »Ihr Engagement für eine Partei, so Jäger, »setzt sie prinzipiell dem Verdacht aus, ihre universellen Ideale zu verraten«. (Ebd.) Der Typus des Intellektuellen ist also an klare Kriterien gebunden. An vorderster Stelle steht dabei die Unabhängigkeit einem »Gott oder einer anderen Autorität« gegenüber. Demzufolge hat Stephan Hermlin allenfalls gelegentlich die Rolle eines Intellektuellen gespielt, sich insgesamt aber als parteitreuer5 Kommunist durchaus einer Autorität (seiner Partei) verpflichtet gefühlt, an die sich gerade der Typus des Intellektuellen nicht gebunden sieht. Bleibt die Frage, ob die Selbstbeschreibung »spätbürgerlicher Schriftsteller«, also ein Autor zu sein, der seine ästhetischen Wertmaßstäbe und seine Rolle als Künstler nicht aus der Tradition des sozialistischen Realismus herleitet, stimmig

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Siehe Eingangszitat: »Ich war dieser Partei treu…«.

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ist.6 In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, worauf sich Hermlins Ruf gründete, sich als kritisches Korrektiv der Macht zu Wort gemeldet zu haben? Wie ambivalent Stephan Hermlins Kritikerrolle als »spätbürgerlicher Schriftsteller« aussah und unter welchen spezifischen Bedingungen er diese Rolle spielte, soll an drei weiteren Beispielen verdeutlicht werden.

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ALS

S EKRETÄR

Als Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Ostberliner Akademie der Künste hatte Stephan Hermlin im Dezember 1962 eine Veranstaltung »Junge Lyrik – unbekannt und unveröffentlicht« organisiert. Diese, in die Literaturgeschichtsschreibung als legendäres Ereignis eingegangene Veranstaltung löste eine große Kontroverse aus. (Braun 2007: 156ff.) Ihre tiefere Ursache lag nicht in der Gestaltung der Nachwuchsarbeit in der Akademie begründet, deren Verbesserung der damalige Akademiepräsident Willi Bredel im Auftrag seiner Partei gefordert hatte. Sie resultierte vielmehr aus den unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen der verschiedenen Akteure sowie ihrem unterschiedlichen Funktionsverständnis von Kunst und Politik. Wesentlicher Bestandteil der Kontroverse war ein politischer Generationenkonflikt. Die alten Genossen nahmen die »Jungen« in ihrer künstlerischen Arbeit kaum zur Kenntnis, wollten sie aber gleichzeitig zur Fortsetzung des »Kampfes der Alten«, nun nicht mehr gegen Ausbeutung und Faschismus, sondern für die Verwirklichung der sozialistischen Utopie funktionalisieren. Aus der Perspektive des Machtapparates handelte es sich hierbei nicht um einen harmlosen Interpretationskonflikt. Für die Partei ging es um einen grundsätzlichen ideologischen Konflikt, der ihre Definitionsmacht ganz unmittelbar berührte und deshalb nicht geduldet werden konnte. Die Förderung des schriftstellerischen Nachwuchses hatte Hermlin zu einem Schwerpunkt seiner Sektionsarbeit erklärt. Als erstes Zwischenergebnis stellte er am 11. Dezember 1962 in einer öffentlichen Werkstattlesung Texte junger Lyriker in der Akademie vor. Ein Lyrik-Abend, für den einige Monate vorher in den Tageszeitungen Annoncen geschaltet worden waren mit der Bitte, selbstverfasste Gedichte einzusenden, stellte in der Reihe der Akademieveranstaltungen ein absolutes Novum dar. Die Konzeption, Organisation und der Ablauf der Veranstaltung waren in keiner Sektionssitzung besprochen worden. Aus der Fülle von 1250 Gedichte wählte Stephan Hermlin die seiner Meinung nach gelungensten Gedichte aus und stellte sie in der Akademie vor. 7

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Angesichts seines schmalen Gesamtwerkes im Verhältnis zu seinem langen Leben, erscheint die lebenslange Berufsbezeichnung Schriftsteller nicht ganz unproblematisch.

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Unter den Autoren fanden sich Talente, die später repräsentativ wurden für die DDR-Lyrik: Helmut Baierl, Wolf Biermann, Kurt Bartsch, Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Bernd Jentzsch, Uwe Gressmann, B. K. Tragelehn, und Karl Mickel.8 Außerdem hatten sich Kulturfunktionäre und ein Vertreter des Zentralorgans NEUES DEUTSCHLAND unter das Publikum gemischt. Statt politischer Parolen oder überschwänglicher Huldigungen der Aufbauleistungen der Väter- und Müttergeneration, zeichnete sich die vorgetragene Lyrik dadurch aus, dass sie in der Lage war, in die Gesellschaft hineinzuhören und für sich das Recht auf eine subjektive Sichtweise in Anspruch zu nehmen. Die Autoren stellten überall dort Fragen, wo die SED-Politik tradierte Bekenntnisse erwartete. Hier bahnte sich eine Lyrik den Weg, die der geforderten »Ahnenkontinuität« die Losung »Kommt uns bloß nicht mit Fertigem« 9 entgegenhielt. Das Lebensgefühl der jungen Generation hatte hier seinen poetischen Ausdruck gefunden. An diesem Abend sprach Stephan Hermlin »vom Recht und der Pflicht der jungen Lyriker, die wichtigen Fragen, die im Moment hier im Lande stehen«, zu behandeln. Dabei müsse der jungen Generation zugestanden werden, dort anzusetzen, wo sie es für richtig hält. In der Tat hatte auf dieser Veranstaltung eine neue Lyrik, die sich fern ab von dem auf der 1. Bitterfelder Konferenz proklamierten kulturpolitischen Leitbild der SED bewegte, ihre öffentliche Premiere erlebt. Nur wenig später zitierte der im Regierungsapparat für die Akademie-Arbeit zuständige Alexander Abusch die gesamte Leitung der Akademie zu einer Generalkritik in sein Büro. Dort sprach er davon, dass Hermlins Arbeit im Widerspruch zu den Beschlüssen der Regierung über die Arbeit der Akademie stehe. Mit diesem Verhalten werde den Spekulationen der Feinde der DDR Vorschub geleistet. Die Akademie könne

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Zu den vorgelesen Gedichten gehörten von Helmut Baierl »Graue Vasen«; von Wolf Biermann »Für Dich« und »Frühzeit«; von Volker Braun »Unsere Gedichte« und »Kommt uns nicht mit Fertigem«; von Bernd Jentzsch »Die grünen Bäume starben in uns ab«; von Sarah Kirsch »Quergestreiftes« und »Vom Brotbacken«; von Rainer Kirsch »Meinen Freunden, den alten Genossen« und Karl Mickel »Wenn der Frieden ausbricht«. Sämtliche vorgetragenen Gedichte sind im stenografischen Protokoll der Veranstaltung »Junge Lyrik – unbekannt und unveröffentlicht« am 11.12.1962; AdK-O, ZAA, MF 312 nachzulesen.

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Die Einladungskarte kündigte auch Gedichte von Peter Diezel, Frank Dittmann, Günter Engelmann, Michael Franz, Joachim Rähmer, Rolf Richter und Axel Schulz an.

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So lautet die Zeile eines Gedichts von Volker Braun, welches er auf der Veranstaltung vorgetragen hatte.

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nicht eine Stätte bohèmehafter Zufälligkeiten im Verlauf eines solchen Abends sein. Daran habe sich auch die Leitung der Sektion Dichtkunst – also ihr Sekretär Hermlin – zu halten. Abusch zog sämtliche Register. »Hermlin muss sich entscheiden, so oder so. Das Präsidium und die Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste müssen sichern, dass eine Leitung der Sektion auf der Grundlage der sozialistischen Kulturpolitik gewährleistet ist« 10, lautete Abuschs Fazit. Damit war das »Todesurteil« des Machtapparates über den Sektionssekretär Stephan Hermlin gesprochen. Eine gehörige Portion Selbstkritik und Einsicht des Genossen Hermlin wurde erwartet. Stephan Hermlin erklärte dann auch, als Sekretär der Sektion Dichtkunst »nicht der richtige Mann am richtigen Platz gewesen zu sein. […] Der wirklich schwere Fehler, den ich beging, bestand darin, […] dass ich die Aussprache schlecht leitete, […] nicht im Zusammenhang mit der Situation sah, in der der Abend stattfand. Das hängt wohl damit zusammen, dass ich Dichtung und Kunst, die mein Leben fast ausfüllen, oft unabhängig von Zeit und Ort betrachte […] Ich erkenne das als einen Fehler an; aber ich weiß auch, dass ich vor der Wiederholung dieses Fehlers nicht gefeit bin«. (Hermlin 1963)

D ER » SPÄTBÜRGERLICHE S CHRIFTSTELLER « IN SEINER R OLLE ALS » KRITISCHES K ORREKTIV « Mehrfach hat sich Stephan Hermlin, zumindest von außen betrachtet, als furchtloser Kritiker der Macht, wohlgemerkt nicht als Systemoppositioneller, zu Wort gemeldet. Beispielsweise hat er mit seinem diskursiven Vorstoß als Initiator und Mitverfasser einer Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns (1976) mit dazu beigetragen, den Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung in der DDR in Gang zu halten. (Braun 2007: 260ff.) Der Ablauf dieser Aktion und deren persönliche Folgen für Stephan Hermlin zeigt aber auch, über welche exklusive Stellung und Handlungsmöglichkeiten nur ein Stephan Hermlin in der DDR verfügte. Wie hinlänglich bekannt, hatte Hermlin die Petition sowohl dem SEDZentralorgan NEUES DEUTSCHLAND als auch einer westlichen Nachrichtenagentur übergeben. Diese, nur in den Westmedien veröffentliche Wortmeldung einiger prominenter ostdeutscher Schriftsteller löste einen einmaligen öffentlichen Protest vieler DDR-Kulturschaffender gegen eine Maßnahme ihrer Regierung aus. In deren Folge führte SED-Generalsekretär Honecker nur mit seinem alten Freund Stephan

10 Protokoll über die Aussprache beim Stellvertreter des Ministerrates Alexander Abusch mit dem Präsidium der DAdK am 9.1.1963 0.D; BArch, DY 30, IV 2/2.026/27, Bl. 335f.

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Hermlin eine persönliche Aussprache. Hermlin erklärte nach dieser Zusammenkunft mehrfach, »dass das Gespräch mit Genossen Honecker für ihn bedeutsam war, alles andere ist nichts. Für ihn habe sich damit die Angelegenheit erledigt.«11 Wahrscheinlich wurde selbst das Politbüromitglied Werner Lamberz, der für die Koordinierung der medialen Gegenkampagne zuständig war, nicht rechtzeitig über Hermlins Gesprächstermin bei Honecker informiert.12 Das MfS erfuhr konspirativ von dem Gespräch. Die MfS-Quelle vermittelt den Eindruck, dass sich Stephan Hermlin in diesem mehrstündigen Gespräch auf einen Handel mit Generalsekretär Honecker einließ, den Honecker jedoch in einem wesentlichen Punkt nicht einhielt.13 Eine Wiedereinreise des Liedermachers Wolf Biermanns stand für den Generalsekretär von vornherein nicht zur Debatte.14 Der MfS-Quelle zufolge habe Honecker gesagt: »Nun ja, Stephan, ein Kommunist kämpft dort, wo er steht. Wenn Biermann ein Kommunist ist, dann brauchst du dir ja keine Sorgen machen, dann wird er schon seinen Weg in Westdeutschland gehen.«15 Honecker sei um seinen Freund Hermlin sehr besorgt gewesen. Im Verlauf der Unterredung hatte der Generalsekretär zu seiner angeblich eigenen Absicherung den Genossen Hermlin um eine schriftliche Stellungnahme gebeten und ihm zugesichert, dass dieses Papier im Büro des Generalsekretärs verbleibe. Stephan Hermlin kam diesem Verlangen seines Generalsekretärs nach. In einer Demutsbezeugung brachte er »zum Ausdruck, dass es ein Fehler war, dass er die Protesterklärung der französischen Presseagentur übergeben hat«. Darüber hinaus legte Hermlin »ein Bekenntnis zur Partei, der Partei- und Staatsführung sowie der Politik des VIII. und IX. Parteitages ab«.16 Des Weiteren ist einer Stasi-Information zu entnehmen, dass

11 HA XX/7: Information v. 30.11.1976; BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. 17 Bl. 32. 12 Vgl. HA XX: Information v. 15.12.1976; BStU, MfS, AOP 3706/87 Bd. 17, Bl. 158. 13 Entgegen der Vereinbarung erhielten alle Politbüromitglieder und Kandidaten, die Berliner Bezirksleitung der SED und auch die Parteileitung des Schriftstellerverbandes Hermlins persönliche Erklärung. Vgl. HA XX/7: Information v. 7.12.1976; BStU, MfS AOP 3706/87, Bd. 17, Bl. 57. Hermlin protestierte daraufhin bei der SED-Bezirksleitung Berlin gegen diese Verfahrensweise. Die gezielte Indiskretion hatte jedoch längst ihren Zweck erreicht, indem sich einige Petitionisten von Hermlin abwandten. Letztendlich distanzierte sich Hermlin schriftlich von seiner eigenen Erklärung. Vgl. HA XX: Information v. 14.12.1976; BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. 17, Bl. 150. 14 HA XX: Information v. 1.12.1976; MfS BStU AOP 3706/87 Bd. 17, Bl. 39. 15 BV Potsdam, Abt. XX/7: Bericht von IM »Anton« v. 25.11.1976; BStU, MfS AOP 16578/ 89, Bd. 8, Bl. 220. 16 HA XX/7: Information v. 7.12.1976; MfS BStU, AOP 3706/87, Bd. 17, Bl. 48. Diese Informationen stimmen mit Stephan Hermlins schriftlicher Erklärung überein, die Hone-

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Honecker ihn hat wissen lassen, »dass er nach wie vor sein Visa benutzen kann und in das kapitalistische Ausland ungehindert aus- und einreisen darf«.17 Generalsekretär Honecker habe Stephan Hermlin klar gemacht, dass zwar viel vom Frieden gesprochen, in Wahrheit aber aufgerüstet werde. Deshalb könne sich die DDR eine »Aufweichung im Innern nicht leisten«. 18 Ob Hermlin dem Generalsekretär seine Meinung mitteilte, »dass sich alle Antifaschisten bei dem Akt der Ausbürgerung Biermanns an die Methoden eines faschistischen Staates erinnern, und dass solche Methoden für einen sozialistischen Staat unwürdig sind«, wie er sie im Schriftstellerverband und PEN-Zentrum geäußert hatte, ist nicht überliefert. Seinen Kollegen gegenüber soll Hermlin verbreitet haben, dass »sich die ganze Angelegenheit auf dem richtigen Gleis bewegen«19 würde. Darunter lässt sich verstehen, dass der Generalsekretär Stephan Hermlin signalisiert hatte, er werde unter keinen Umständen aus der Partei ausgeschlossen und habe lediglich mit einer Parteistrafe zu rechnen. Trotz aller Beteuerungen seines Freundes Honecker ließ dieser seinen Genossen Stephan weiter von der Stasi überwachen. Es wurde für einige Zeit recht still um den kritischen Begleiter der SED-Politik. Eine öffentliche Schimpfkanonade des Politbüro-Mitgliedes Konrad Naumann auf einem ZK-Plenum im Frühjahr 1978, bei der er die bekanntesten Schriftsteller der DDR tadelte, weil sie sich angeblich vom Westen fürstlich entlohnen ließen, hatte Stephan Hermlin derart erzürnt, dass er dem Präsidenten des Schriftstellerverbandes Hermann Kant mitteilte, am nächsten Schriftstellerkongress nicht teilzunehmen. Wenig später rief Erich Honecker seinen Genossen Hermlin an. »Stephan, ich möchte dich bitten, dir die Sache noch einmal zu überlegen, ich würde mich freuen, wenn du am Schriftstellerkongress teilnehmen würdest«. »Erich«, erwiderte Hermlin, »sollte ich kommen, dann nur, wenn es mir gestattet wäre, etwas gegen den infamen Aufsatz Konrad Naumanns sagen zu können«. Honecker darauf: »In Ordnung«. (Hermlin 2011: 120)

cker am 4.12.1976 an alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros weitergeleitet hat. Vgl. Erklärung von Stephan Hermlin v. 4.12.1976; BArch, DY 30 IV 2/2.033/52, Bl. 89. 17 HA XX/7: Information v. 30.11.1976; BStU, MfS AOP 3706/87, Bd. 17, Bl. 31. – Aus einem MfS-Bericht geht hervor, dass Generalsekretär Honecker den Minister für Kultur »beauftragt, das beantragte Dauer-Visum für Stephan Hermlin zur mehrmaligen Ausreise nach Westberlin für 1977 zu bearbeiten und zu befürworten.« Analog solle bei bereits genehmigten Reisen anderer Schriftstellern verfahren werden. Vgl. Vermerk der HA XX/7 v. 21.12.1976; BStU, MfS AOP 3706/87 Bd. 17, Bl. 161. 18 BV Potsdam, Abt. XX/7: Bericht von IM »Anton« v. 25.11.1976; BStU, MfS AOP 16578/ 89, Bd. 8, Bl. 220. 19 HA XX/7: Information v. 6.12.1976; BStU, MfS, AOP 3706/87, Bd. 17, Bl. 45.

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So kam es zu der berühmten Rede Stephan Hermlins auf dem VIII. Schriftstellerkongress mit seinem aufsehenerregenden Bekenntnis: »Ich bin ein spätbürgerlicher Schriftsteller – was könnte ich als Schriftsteller auch anderes sein. Ich hörte nicht auf, einer zu sein, während ich Jahrzehnte hindurch Kommunist war und blieb.« (Hermlin 1995: 22f.) Und im letzten Teil seiner Rede kam Hermlin auf das »jeweils Machbare« zu sprechen. »Um das jeweils Machbare wird nicht erst seit heute oder gestern gestritten. Was bedeutet der Konflikt zwischen den Schriftstellern Luther und Thomas Münzer […] anderes als der Streit um das Machbare. Es handelt sich da um eine der wichtigsten Fragen, aber sie ist eine Frage für und an den Politiker. Ich bin keiner und kann keiner sein«. (Ebd.: 24f.) Hermlins Äußerungen riefen sogleich einen Sturm der Entrüstung hervor. »Eine ganze Schar von Gegenrednern verschwor sich in der Pause gegen ihn und redeten, als sie das Wort erhielten, eifernd über etwas, wovon sie lieber nicht geredet hätten.« (Melchert 1990: 6) Im Protokoll des Kongresses fehlte Hermlins Wortmeldung und auch in den ostdeutschen Medien wurde darüber nicht berichtet. Stephan Hermlin übte ständig den Spagat zwischen Parteigehorsam und künstlerischem Eigenwillen. So hat er punktuell, wohlgemerkt nicht als Systemoppositioneller und darüber hinaus unter exklusiven Bedingungen, als »kritisches Korrektiv« der Macht gehandelt. Stephan Hermlin hat sich aber auch viele Male als kulturpolitischer Botschafter und Genosse im Sinne seiner Partei betätigt. Mit Werner Mittenzwei lässt sich zusammenfassend sagen: »Für Hermlin waren die Selbststilisierung ein Mittel der Distanzierung. Er wollte nicht in intime Nähe zur genormten Geschichtsschreibung gerückt werden. […] Der Dichter wehrte sich dagegen, austauschbar zu sein, besonders auf literarisch–künstlerischem Gebiet. Ihm ging es darum, etwas aus der bürgerlichen Kultur herüberzuholen, und das wollte er auch am eigenen Lebenslauf kenntlich machen.« (Mittenzwei 2001: 493) Insofern lebte Stephan Hermlin die Existenz eines »spätbürgerlichen Schriftstellers« und Kommunisten im »ersten Arbeiter- und Bauernstaat« auf deutschem Boden, dessen eigene Genossen ihn mehr als einmal spüren ließen, dass er aus ihrer Sicht ein »Klassenfremder« (Hermlin 1992: 9) war.

L ITERATUR Berger, Christel (2013): Als Magd im Dichter-Olymp, Bd. 2, Gransee: Edition Schwarzdruck, S. 9-89. Bourdieu, Pierre (1991): Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg: VSA-Verlag. Braun, Matthias (2007): Kulturinsel und Machtinstrument, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Corino, Karl (1996): »Die Dichtung in eigener Sache«, in: Zeit-Dossier vom 4.10.1996.

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Hermlin, Andrej (2011): My Way. Ein Leben zwischen den Welten, Berlin: Aufbau Verlag. Hermlin, Stephan (1961): »Nur ein logischer Schritt«, in: Berliner Zeitung v. 19.8.1961. Ders. (1963): »Ich bin für diesen Sozialismus und diese Partei«, in: Neues Deutschland v. 6.4.1963. Ders. (1978): Rede vor dem Schriftstellerkongress, in: ders.: In den Kämpfen der Zeit, Berlin: Wagenbach. Ders. (1982): »Diskussionsbeitrag in der Sektionssitzung v. 3.3.1982«; AdK-O 948. Ders. (1991): »Mich ekelt der Lärm der Stärkeren«, in: Junge Welt v. 12.10.1991, S. 20. Ders. (1992): »In der Kunst geht es elitär zu«, in: Neues Deutschland v. 5./6.12.1992, Beilage S.9. Ders. (1995): »An Allem ist zu zweifeln«, in: ders.: In den Kämpfen dieser Zeit, Berlin: Wagenbach, S. 96. Jäger, Wolfgang (1998): Die Überwindung der Teilung, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. Lepsius, M. Rainer (1964): »Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16, S. 75-91. Melchert, Rulo (1990): »Mitteilungen über Hermlin. Zu seinem 75. Geburtstag«, in: Sonntag, 15. Mittenzwei, Werner (2001): Die Intellektuellen, Leipzig: Faber & Faber. Opitz, Michael/Hofmann, Michael (Hg.) (2009): Metzler Lexikon. DDR-Literatur, Stuttgart Weimar: Metzler. Said, Edward W. (1997): Götter, die keine sind, Berlin: Berlin Verlag. Schlenstedt, Silvia (1985): Stephan Hermlin, Berlin: Volk u. Wissen. Walther, Joachim (1996): Sicherungsbereich Literatur, Berlin: Christoph Links.

Distanziertes Engagement. Das Konzept der Tragödie in Heiner Müllers Schaffen Am Beispiel von DER HORATIER J OANNA J ABŁKOWSKA

Nachdem er mit seinen ›Produktionsstücken‹ – vor allem mit der »Umsiedlerin« – in ›Ungnade‹ gefallen war,1 begann Heiner Müller sowohl antike Tragödien als auch andere literarische Stoffe, vornehmlich Shakespeare, zu adaptieren (Vgl. Ette 2011: 483f.). Er wandte sich großen mythologischen und historischen oder literarischen Stoffen zu. In diesem Zusammenhang betont Wolfram Ette, dass Müller in der DDR, »im Aufstieg und Niedergang der kommunistischen Idee« das einzige tragische Sujet der Moderne erkennen ließ (Ebd.: 480): »Müller hat immer wieder betont, dass er nicht aus politischen, sondern aus künstlerischen Gründen in der DDR geblieben sei. Neben der generellen Überlegenheit der DDR-Literatur war es vor allem das Interesse an der Tragödie, das ihn zur Solidarität mit der DDR zwang: ›mich interessierte die Tragödie. In der bürgerlichen Welt gibt es ja nur Trauerspiele.‹ Wie die großen Tragiker vor ihm verpflichtete das Müller auf eine gebrochene Solidarität mit den Zeitläuften, und das heißt in seinem Fall mit dem politischen System der DDR.« (Ebd.)

Obwohl Müllers Werken eine sehr umfangreiche Forschungsliteratur gewidmet wurde,2 bleibt nach wie vor umstritten, wie seine Rolle als Intellektueller innerhalb

1

Diese Episode in Müllers Schaffen wurde mehrmals in der Forschungsliteratur genannt und beschrieben. Müller selbst geht darauf ausführlich in seiner Autobiographie ein: (MÜLLER 1992, 1994: 160–187).

2

Die umfangreiche Forschungsliteratur zu den Adaptionen Heiner Müllers lässt sich in einem kurzen Artikel lediglich andeutend erwähnen. Eine erste, bereits vertiefte Orientierung bekommt man aus dem umfangreichen Kapitel »Müller und die Tradition« im Hei-

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des DDR-Kulturbetriebs verstanden werden soll. Relevant wäre die Frage, ob er – als einer der wichtigsten Autoren der DDR – die Rolle des Intellektuellen in der (seiner) Gesellschaft ernst nahm und sich mit ihr identifizierte. Oder war ihm die DDR ein willkommener Stoff für seine Kunst, die nach grundsätzlichen Antagonismen, Zerwürfnissen, Unvereinbarkeiten suchte? Es scheint, dies wäre mein Denkansatz, dass Heiner Müller nach dem Versuch, sich ernsthaft in der Sache des Kommunismus mit seinen Produktionsstücken zu engagieren, deutlich Abstand nahm; doch dies war ein Abstand, aus dem heraus eine Beobachterrolle entstanden ist, eine kritische Partizipation, die in der DDR-Gesellschaft selten, wenn nicht einmalig war. Der Einblick in sein Tragödienkonzept könnte einen erhellenden Blick auf diese Art von distanziertem Engagement werfen. Eine direkte Übertragung seiner literarischen Stoffe auf die gesellschaftlichen Probleme der sozialistischen Republik wurde in Müllers fortgeschrittenem Schaffen, dem Schaffen nach den ›Produktionsstücken‹ aufgegeben. Ob sein Werk somit einen Einfluss auf den real existierenden Sozialismus ausüben konnte (und wollte?), bleibt offen – zumal die privilegierte Position des Autors – er durfte ja relativ frei reisen – nicht ausschloss, dass man seine Dramen nur zögerlich in der DDR aufführte; er wurde stärker in der Bundesrepublik rezipiert. Dies ist indessen bekannt. 3 Eine detaillierte Analyse von Müllers Tragödien, für die die DDR den Humus darstellte, könnte ergiebiger sein als Hinweise auf biographische Fakten oder die Selbstinterpretation des Dichters; man kann vermuten, dass Müller sowohl Meister der Selbststilisierung als auch ein Kunstgourmet war, dem sein Schaffen wichtiger erschien als gesellschaftliches Engagement. Doch unabhängig davon, wie er sich in der äußeren Welt – vornehmlich in seiner sozialistischen Heimat – profilierte, um seine Künstlerfreiheit nicht zu verlieren, war er ein scharfer, geradezu zynischer Beobachter der Welt. Sein Werk, für die Zensoren oft unverständlich, verriet mehr als der Autor selbst verraten wollte: mit der Zeit verriet es Verzweiflung und Ohn-

ner-Müller-Handbuch. Es werden verschiedene Aspekte in einzelnen Artikeln thematisiert, u.a. die Shakespeare-Rezeption und die Antike-Rezeption. Vgl. Lehmann/Primavesi 2003: 123–182, insbes. die Beiträge von Alexander Karschnia, Wolfgang Emmerich, Patrick Primavesi. Zu den neueren Publikationen, die das Thema der Adaptionen problematisieren, gehören darüber hinaus vor allem Huller 2007 sowie: Gruber 1989; Petersohn 1993, Domdey 1998, Keim 1998. 3

Man kann hier die zahlreichen Monographien zu Müllers Schaffen zu Hilfe rufen: die großen Biographien: Hauschild 2001 und Eke 1999 sowie kleinere Einführungen in Leben und Werk, wie beispielsweise: Schütte 2010. Ebenso auch Müllers Autobiographie »Krieg ohne Schlacht«: Müller 1992, 1994. Eine wichtige Quelle sind Interviews und Gespräche: Müller 1986, 1991, 1994.

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macht, eine Kapitulation des Intellektuellen in einer Welt, die er mit seiner Kunst legitimierte und gleichzeitig immer weniger akzeptieren konnte. Norbert Otto Eke wies noch zu Lebzeiten des Autors auf die Entwicklung seiner Dramen zu ort- und zeitlosen Werken hin (Vgl. Eke 1989: 20ff.): 4 »Ein wesentliches Element der Zurücknahme des Dramas aus dem geschichtlichen ZeitRaum der dramatischen Aktion in den entgegenständlichten Innenraum der Reflexion oder […] des dramatischen Konfliktpotential[s] in die paradoxe ›Raum-Zeit von Landschaften‹ ist die monologische Anlage der Texte […]; ein anderes die Dekonstruktion der dramatischen Figur mit dem Verzicht auf die dramatische Entäußerung von dramatis personae im eigentlichen Sinn und der Auflösung der handelnden Figur in die Zeichenlandschaft des Textes.« (Eke 1989: 21)

Ekes These ist, dass sich diese Veränderung Ende der 70er und in den 80er Jahren in Müllers Schaffen durchsetzte; doch bereits in den 60er Jahren, mit dem Beginn der intensiven Rezeption der antiken Stoffe, entzieht sich Müllers Drama den konkreten politischen Landschaften mit ihrer Zeit- und Raum-Verortung. Hans-Thies Lehmann schreibt explizit von der Entwicklung zum postdramatischen Theater5 sowie vom geschichtsphilosophischen Pessimismus, der relativ früh im Schaffen des DDR-Autors einsetzt: »Ende der 60er Jahre […] setzt eine thematische Verdüsterung ein: die stets schon vorhandene sarkastische Skepsis, die Zuspitzung zum tragischen Paradox wird augenfälliger. Wenn Müller die stabile dramatische Form, von der bis dahin noch erhebliche Reste wirksam waren, nunmehr aufgibt, so dürfte der Grund hierfür darin liegen, daß das Drama als Form von einem sozusagen optimistischen Zug zu einem Telos hin nicht abzulösen ist. Nicht nur, aber auch wegen seiner Abwendung von den scheinbaren Gewißheiten der marxistischen Geschichtsdoktrin tragen spätere Texte formal die gleiche Zeitsignatur wie das postdramatische Theater.« (Lehmann 2000: 11) 6

4

Eke beruft sich auch auf Hans-Thies Lehmann. Lehmann wies bereits 1982 auf die ›enthistorisierte‹ Raum-Zeit-Konstellation in Müllers damals letzten Dramen hin. Vgl. Lehmann 1982: 71-81.

5

Den Begriff »postdramatisches Theater« benutze ich im Sinne der Studie von Lehmann 1999.

6

Schon 1882 verband Lehmann Müllers Dramen, die nach den ›Produktionsstücken‹ entstanden sind (u.a. HAMLETMASCHINE, MAUSER, QUARTETT, GUNDLING) mit dem französischen Poststrukturalismus und behauptete, »Müllers Werk [könne] zureichend nur begriffen werden […], wenn man einerseits seinen Hintergrund, die kommunistische

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Damals schon, ungefähr in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, stellte sich die Frage nach Müllers Position innerhalb der literarischen und Theaterlandschaft der DDR; war seine Kunst als »autonom« oder »fait social« (Adorno 1973: 16) zu verorten? Sein Theater-Konzept als Kommunikationsgemeinschaft, als Laboratorium »sozialer Fantasie« (Vgl. Eke 1989: 27-34)7 entwickelte sich in der Theaterpraxis dank der Autonomie seiner Texte in Opposition zu Erwartungen der sozialistischen Kulturproduktion. Dies könnte mit der Reflexion erklärt werden, die Eke zitiert: »Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär.« (Vgl. Eke 1989: 34)8 Allerdings wird in den Adaptionen Müllers sichtbar, dass der Versuch, die Sehnsucht nach der Veränderung der Welt als Spannung zwischen Bühne und Publikum aufzubauen, scheitern musste. Dies lässt sich am besten an Beispielen exemplifizieren, die sich von der »Privilegierung der Fabel« – in Brechts Sinn – nicht gelöst haben und die noch nicht zur »Dramaturgie der Überschwemmung« (Heimböckel 2010: 58) gehören – so Dieter Heimböckels metapherngesättigter Begriff –, die sich an dem Plot ihrer Vorlagen orientieren und ihn nur in entscheidenden Momenten verändern – also nicht als ›postdramatische‹ Theatertexte gedeutet werden können – und die sich noch nicht »zum tragischen Paradox« hingezogen fühlen. Es überrascht, dass gerade die Dramen, die die Botschaft des Textes scheinbar klar aussprechen und die erzieherische Rolle der Literatur in den Vordergrund stellen, die ›Lehrstücke‹ Müllers, sich dem revolutionären Postulat von einem neuen Zustand der Welt radikal verweigern.9 Am produktivsten scheint es, sich Werke vorzunehmen, in denen die Abweichung von dem Ausgangstext offensichtlich und intentional als direkte Anspielung auf die Zeitgeschichte gedeutet werden kann. Zu Stücken, die diese Kriterien erfüllen: eine klare, sich an einer bekannten Vorlage

Theorie und Praxis, nicht aus dem Blick verliert, andererseits aber seine poetische Logik zusammenliest mit den französischen Theoretikern […].« Lehmann 1982: 80. 7

Zitiert wird Heiner Müller: »Sechs Punkte zur Oper«, in: Heiner Müller: »TheaterArbeit«. Texte 4, Berlin: Rotbuch 1975, S. 117.

8

Eke zitiert aus einem Interview mit Müller von Urs Jenny und Hellmuth Karasek: Deutschland spielt noch immer die Nibelungen. In: Der Spiegel v. 9.5.1983. Abrufbar http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14018356.html.

9

Wolfram Ette schreibt, dass »die Stücke [gemeint sind die genannten Lehrstücke] […] die geschlossene Form bis zu einem Punkt treiben, an dem sie sich in einer Art Übersoll der Teleologie transzendiert.« (Ette 2011: 507) Weiter behauptet Ette, dass PHILOKTET, DER HORATIER [Ette nennt irrtümlich den Titel »Die Horatier«] und MAUSER jeden Hinweis auf eine Lösung verweigern. Sie produzieren den Stillstand negativ; dadurch, dass sie mit der Illusion des Fortschritts brechen.« (Ette 2011: 509).

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orientierende Fabel, Lehrstückgeste, Abweichung vom Vorbild, die eine aktuelle politische Absicht vermuten lässt, gehören beispielsweise PHILOKTET (1958/19641968) oder DER HORATIER (1968-1972). Diese Stücke entwickeln – gerade durch die trügerische Treue zu dem antiken Ursprungstext – aporetische Strukturen, die sich als eine Kommunikationsplattform zwischen Bühne und Publikum nicht eignen. Der Dramatiker hat somit der sozialistischen Gesellschaft nichts zu sagen, außer, dass die Sehnsucht auf eine mögliche Veränderung des Weltzustands unerfüllt bleiben muss. Eke widmet dem Tragischen in Müllers Dramen einen umfangreichen Artikel (Vgl. Eke 2006: 235-254), in dem er von dem Gedicht NOTIZ 409 (aus dem Nachlass) ausgeht. Er formuliert die These, der Autor habe nach dem Fall der Mauer, »nach dem Niedergang der politischen Utopien« die Vorstellung von der »Unhaltbarkeit der Tragödie und [dem] Verlust des Tragischen« entwickelt (Ebd.: 235). Doch den Begriff der Katharsis habe Müller nicht ganz abgelehnt, er habe ihn umdefiniert: »Katharsis wird […] als Lernvorgang durch Furcht und Schrecken und Freisetzung gesellschaftlicher Energien politisch reformuliert. Es geht nicht um einen haltlosen Schrecken; es geht um Lernen durch und in der Kontroverse. [...] Der Schrecken […] lehrt – diese Einsicht ist der Kern gleichermaßen von Brechts dialektischer Theaterkonzeption wie der Tragödienkonzeption Müllers, die in einer auf den ersten Blick rätselhaften Weise auf der revolutionären Potentialität der Tragödie insistiert.« (Ebd.: 242f.)

Das Theaterkonzept Müllers beruhe – so Eke – auf der Verschiebung des Tragischen, die aus den politischen Konstellationen der Welt, in der er lebte, resultierte. Eke erinnert in diesem Kontext an »Müllers Hinweis auf die Bemerkung Ilja Ehrenburgs ›Wenn der Kommunismus gesiegt hat und alle ökonomischen Probleme gelöst sind, beginnt die Tragödie des Menschen. Die Tragödie seiner Sterblichkeit‹ [zitiert aus »Gesammelte Irrtümer«].« (Ebd.: 248) Hier beginnt die grundsätzliche und – es scheint – aussichtslose Suche nach einem ideologischen Halt, der im Kommunismus nicht zu finden war. Seit dem Scheitern der ›Produktionsstücke‹ wird immer deutlicher, dass der Glaube an die Lösung von existentiellen Grundproblemen des Menschen durch und im Kollektiv nicht aufrechterhalten werden könne. Weil aber im real existierenden Sozialismus die Illusion von dem Verschwinden des Individuums im Kollektiv gerettet werden wollte, wurde das existentielle Problem des individuellen Todes, auch des individuellen Schmerzes verdrängt oder künstlich rationalisiert. Der unlösbare Widerspruch zwischen dem künstlich hypertrophierten Kollektiv und den unterdrückten Problemen des Individuums wurde bereits im Schaffen aus den 60er Jahren zum Kern von Müllers Tragödie. Der Autor konnte sich damals schon nicht an die Grundsätze des Kommunismus halten, und gleichzeitig bemühte

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er sich, ihre Widersprüchlichkeiten zu retten. Die Diskrepanz zwischen dem Tod jedes Individuums, der im extremen Fall eine existentielle Ausweglosigkeit, im besten Fall Hoffnung auf Transzendenz darstellt, und der Sinnstiftung, die das Aufgehen im (diesseitigen) Kollektiv gewährleistet, bleibt in Müllers Werken, vornehmlich in seinen Adaptionen tradierter Stoffe ungelöst. Ein exemplarisches Modell für eine solche Entwicklung stellt das ›Lehrstück‹ DER HORATIER dar.10 »Den Stoff entlehnte Müller einer Sage aus der frühen Stadtgeschichte Roms, die vom Historiker Livius berichtet wird: die verfehdeten Städte Rom und Alba beschließen, einen Konflikt durch einen Stellvertreterkampf zu lösen, damit die Kampfkraft ihrer Armeen angesichts der […] Bedrohung durch das übermächtige Heer der Etrusker nicht unnötig geschwächt wird. Das Los fällt auf einen Horatier, der für Rom kämpft, und einen Kuratier, der für Alba streitet. Dabei ist ein unvermeidbarer Konflikt vorprogrammiert, denn ›der Kuratier war verlobt der Schwester des Horatiers‹.« (Schütte 2010: 40)

Das Stück rafft und verkürzt Livius’ Handlung, in der auf jeder Seite je drei Gegner, drei Brüder gegeneinander kämpfen, wobei nur ein Horatier überlebt und siegt. Wichtiger jedoch ist der legendär gewordene Prozess über den Horatier, der einerseits Roms Held geworden ist, andererseits aber ein Verbrecher, weil er seine Schwester tötete, die um den mit ihr verlobten Kuratier trauerte. In Müllers Text soll der Horatier sowohl den Lorbeer für den Sieg bekommen als auch für den Mord an seiner Schwester mit dem Tod bestraft werden. So wird er zuerst »als Held ausgezeichnet und dann als Mörder exekutiert.« (Ebd.: 41) Es ist wahrscheinlich das erste, doch nicht das einzige Werk der Weltliteratur, das eine solche Konstellation beschreibt. In Shakespeares JULIUS CÄSAR werden Ehrung und Mord an mehreren Personen des Dramas vollzogen: zuerst an Cäsar, den Brutus rühmt und gleichzeitig tötet – um das römische Volk vor Cäsars Herrschsucht zu retten, dann an Cäsars Mördern, Brutus vor allem, die zuerst für ihre Tat gelobt, dann aber verfolgt werden, bis sie sich selbst den Tod geben. In Kleists PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG

10 Die Gattung des Textes ist nicht eindeutig zu bestimmen: er wird nicht in Rollen geteilt, man könnte ihn auch als episches Werk, in gebundener Rede erzählt, beschreiben. HansThies Lehmann interpretiert ihn als »Lehrstück […]. Es handelt sich wie bei Brechts »Die Horatier und die Kuratier« um ein Stück für Schüler. Die Fabel stammt von Livius, das ›Modell Tragödie‹ von Corneille.« (Lehmann 1980: 93) »Der Horatier« konnte – wie viele andere Stücke Müllers nicht sofort aufgeführt werden. Der Versuch einer Inszenierung am BE scheiterte (Vgl. Müller 1992, 1994: 259); Zur Uraufführung kam es erst 1973 am Schillertheater in Westberlin und in der DDR wurde DER HORATIER erst 1988 am Deutschen Theater aufgeführt (Vgl. Eke 1999: 122).

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wird der Prinz zuerst wegen seines Ungehorsams zum Tod verurteilt und erst, als er seine Schuld erkennt, begnadigt und mit einem Lorbeerkranz gekrönt. JULIUS CÄSAR und PRINZ VON HOMBURG erzählen vielschichtige und komplizierte Geschichten über die Aporien der Gerechtigkeit. Doch die Grundsituation ist der von Livius dargestellten Situation ähnlich. Sie vermittelt eine wichtige Botschaft über die menschliche Natur, die nie rein gut oder rein böse sei. Die grundsätzliche Frage ist, wie man dem gerecht werden könne; kann ein Herrscher oder eine Gesellschaft so anmaßend sein, ein endgültiges Urteil zu fällen? Dies ist eine politische Frage, die von Müller deutlich in den Vordergrund gestellt wird. Nicht zufällig ist in diesem Kontext die Wahl des Stoffes. Die Berufung auf die römische Geschichte, insbesondere auf Livius’ Horatier-Episode könnte als Hinweis auf den politischen Gehalt des Textes verstanden werden. Das Berühmte Gemälde von Jacques-Louis David SCHWUR DER HORATIER, in der vorrevolutionären Zeit entstanden, wurde zum Symbol der Hingabe des Einzelnen an das Wohl der Gemeinschaft. In diesem Kontext ist es legitim, Müllers Text als politische Grundsatzerklärung zu lesen. Uwe Schütte geht davon aus, dass DER HORATIER eine Selbstreflexion (Ebd.: 42) des Autors über seine eigene Aufgabe und Rolle als Autor im sozialistischen Staat sei. Schütte weist auf den Erinnerungsprozess hin, der nach dem Tod des Horatiers im kollektiven Gedächtnis der Römer zu arbeiten anfängt und deutet dies ›positiv‹ als ehrlichen Umgang mit der Geschichte: »[I]n der geschichtlichen Rückschau [darf es] keine Unterschlagung der negativen Seiten politischer Erfolge geben […], der Triumph des Sieges [schließt] auch den Tod seiner Opfer mit ein […], geschichtsklitternde Lügen [vergiften] den Zusammenhalt einer Gemeinschaft […] und nicht zuletzt auch […] ein poetischer Diskurs [stelle] die vielleicht adäquateste Form von 11

Geschichtsschreibung dar.« (Ebd.: 41)

Falls dies so gedeutet werden soll, dass der Schriftsteller die Aufgabe habe, Hüter einer offenen und aufrechten Erinnerungspolitik zu sein und – wie Schütte schreibt – DER HORATIER – »geschrieben […] unter dem Eindruck der Niederschlagung des Volksaufstandes in Prag12 – ein durchaus unerhörtes Plädoyer für einen wahrhaftigen Umgang mit der ›unreinen Wahrheit‹ des Sozialismus« (Schütte 2010: 42) sei, dann wären manche Aspekte des Textes allerdings nicht zu erschließen. In einem viel früheren Kommentar wies Hans-Thies Lehmann darauf hin, dass die vermeintliche »reinliche Scheidung« zwischen Ehrung und Hinrichtung ein »Ungleichgewicht« entstehen lässt, »denn der Tod, der alles auslöscht, überwiegt die Ehrung

11 In eine ähnliche Richtung geht die Deutung von Hauschild 2001: 82f. 12 Dass das Stück »eine Reaktion auf Prag 1968« war, schreibt Müller (Vgl. Müller 1992, 1994: 259).

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[…]. Hinrichtung und Ehrung des Leichnams sind nur ›ungefähr‹ vereinbar.« (Lehmann 1980: 96) Lehmann betont das Postulat der offenen Diskussion, die »für den marxistischen Intellektuellen« von großer Bedeutung sei (Ebd.: 97). Doch – so deutet er den Schluss des Textes – die Sprache, die Literatur: »die Worte« haben die Aufgabe wiederherzustellen, was das »Schwert« verdorben habe: »Die ›Worte‹ könnten sich als wichtiger erweisen als das ›Schwert‹ – diese nur scheinbar idealistische These hält Müller dem Materialismus des bloßen Machtdenkens entgegen: ›Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn // Ein Schwert kann zerbrochen werden […] aber die Worte// Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar // Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich‹ […].« (Ebd.: 97; Müller 2001: 84)

Dies spricht die »Stimme des Volks«, in der Lehmann die Stimme Müllers sieht (Vgl. Lehmann 1980: 97). Demzufolge wäre der Intellektuelle in der Lage, das ›Gleichgewicht‹, das die Politiker zerstören, wiederherzustellen. Es ist allerdings zu fragen, ob der Intellektuelle als legitimer Vertreter und Sprecher der Gesellschaft zu verstehen wäre. In der DDR waren dies die Funktionäre. Der Intellektuelle konnte allenfalls – oder immerhin – beobachten und beschreiben. Wenn man das Drama so auslegen will, wäre im Ideellen: in der Erinnerung des Volkes und dem ›Wort‹ die Gerechtigkeit wiederhergestellt, was in der materiellen Welt der Absolutheit des Todes weichen muss. Was den zitierten Analysen von Schütte und von Lehmann allerdings fehlt, ist ein expliziterer Hinweis auf die Unterschiede zwischen Livius’ Vorlage (Lehmann deutet dies nur an) und Müllers Bearbeitung sowie auf die Rolle der Vaterfigur im Stück. Der römische Prozess endet nach Livius mit dem Freispruch des Horatiers, dessen Sieg für die Römer wichtiger war als seine Schuld an dem Schwestermord. Der Horatier wird nur symbolisch bestraft: er »wird […] unter der Auflage freigesprochen, dass seine Familie fortan regelmäßig Sühne leisten und an den Staat bezahlen musste.« (Keilhauer 2009: 5) Das römische Volk ließ sich von Horatius’ Vater überzeugen, der behauptete, dass seine Tochter mit Recht getötet wurde; im anderen Fall hätte er selbst seinen Sohn bestraft. Die Horatier-Geschichte wird mythologisiert, und es scheint, dass das Wohl der Gemeinschaft und die Schlichtung des Konflikts eine größere Geltung und Bedeutung haben als das individuelle Schicksal: »Um indeß einen so offenbaren Mord wenigstens durch eine Art von Sühne büßen zu lassen, ward dem Vater auferlegt, die Sühne für seinen Sohn auf gemeine Kosten auszurichten. Der Vater stellte gewisse Reinigungsopfer an, deren Beobachtung nachher der Horatischen Familie übertragen wurde, und zog quer über die Straße einen Balken, unter welchem er den Jüngling mit verhülltem Haupte als unter einem Galgen weggehen ließ. Dieser Galgen, der immer

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auf öffentliche Kosten erneuert wird, ist noch zu sehen, und heißt der Schwesterbalken. Der Horatia wurde auf der Stelle, wo sie erstochen niedersank, ein Grabmal von Quadern errichtet.« (Livius: Zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/2504/7)

Bei Corneille, der die Geschichte in einer Tragödie bearbeitete, rettet den Horatier ebenfalls sein Vater, der den König um das Leben seines Sohnes bittet und sich auf seine Verdienste für Rom beruft, worauf der König tatsächlich dem Schwestermörder vergibt. Müllers Stück löst den Konflikt also radikal anders als die Überlieferung. »Im Widerspruch kann man nicht leben«, schreibt Ette, zeigt aber zugleich, dass die Stimme des Volkes, der »kollektive[] Atem« in der Lage sei, »in sich den Gegensatz von Verdienst und Schuld zu balancieren.« (Ette 2011: 511) Doch er deutet ›das Wort‹ des Volkes gegen die positive geschichtsphilosophische Aussage des Dramas und er lässt sich auf den Text viel genauer ein als Schütte oder Jahre zuvor Lehmann: »Der Tod ist unwiderruflich. Auf der einen Seite steht alles, auf der anderen nichts. Für sein Verdienst wird der Horatier auf Widerruf geehrt, sein Tod kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Symmetrie von Verdienst und Schuld existiert allein post mortem, im Wort als falscher Auferstehung, als Verwesungsprodukt der empirischen Wirklichkeit.« (Ebd.: 512)

Einige Zeilen des Stücks, auf die Ette hinweist, scheinen in diesem Zusammenhang besonders wichtig zu sein: der bereits getötete Held, der nach dem Tod geehrt wurde, soll jetzt vor die Hunde geworfen werden. Doch seine Leiche ist bereits starr, und man muss ihr die Finger brechen, um ihm das Schwert aus der Hand zu nehmen. Es ist, als ob sich die Leiche gegen die posthume Schändung wehren würde, als ob sie das Urteil des Volkes nicht anerkennen wollte (Vgl. Ette 2011: 512). 13 Auch Ette übersieht allerdings die Funktion der Vaterfigur im Stück. Nur der Vater des Horatiers scheint zu verstehen, dass das Doppelurteil des Volkes keine Lösung sein kann: weder für den »Sieger/Mörder« (Müller 2001: 80) noch für die römische Gerechtigkeit. Der Tod unterbindet nicht nur die Möglichkeit, dass der Horatier seine Schuld einsieht oder sie auch durch eine gute Tat sühnt.14 Mit Recht schreibt Ette, dass DER HORATIER (darüber hinaus PHILOKTET und MAUSER) »jeden Hinweis auf eine Lösung« verweigert (Ette 2011: 59). Signifikanterweise bleibt der Protagonist während des Prozesses stumm. Er sprach zuvor: zu dem Kuratier, der ihn um sein Leben bat und zu der Schwester, die

13 Zu: Müller 2001: 84. 14 Diesen Aspekt betont auch Lehmann 1980: 94-97.

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um ihren Bräutigam trauerte; zu dem Kontrast zwischen seiner Heldentat und seiner Schuld hat er nichts mehr zu sagen. Richtig bemerkt Norbert Otto Eke, dass »Terror und Notwendigkeit […] ununterscheidbar [werden]: mit der Schärfe ein und desselben Schwertes erficht der Horatier den Sieg für Rom und ermordet er seine Schwester.« (Eke 1999: 125) Er bekennt keine Reue oder ein Schuldeingeständnis, die Schiller »moralisch erhaben« nannte, weil das »Gefühl für Recht und Unrecht […] selbst gegen das feurigste Interesse der Selbstliebe« sich geltend macht (Schiller o.J.: 113). Müllers Protagonist versucht auch nicht, seine Tat menschlich oder psychologisch glaubwürdig zu rechtfertigen. Er schweigt und bleibt handlungsunfähig. Wenn man Müllers Text als Drama ernst nehmen will, dann wird in diesem Moment der Horatier-Figur die Helden-Rolle abgesprochen. An seiner Stelle spricht aber der Vater – da er am selben Tag zwei Kinder verliert –, doch auch diese Figur verkörpert nicht das »moralische Vergnügen«, das den moralischen Schmerz ersetzt (Ebd.: 114). Der Vater scheint zuerst die Tat seines Sohnes zu akzeptieren: »Und der Vater des Horatiers / Sah das zweimal blutige Schwert und sagte: / Du hast gesiegt. Rom / Herrscht über Alba.« (Müller 2001: 77) Doch er beweint seine Tochter: er tut dies, als ob er es heimlich machen müsste, »verdeckten Gesichts« (Ebd.: 77) und gleich danach umarmt er den Sieger; man könnte den Eindruck haben, er würde vor dem eigenen Kind Angst haben. Er fürchtet offensichtlich, wegen der Trauer um die Tochter ebenfalls getötet zu werden. Als er aber sieht, dass ein Teil des Volkes seinen Sohn mit dem Tod für den sinnlosen Mord bestrafen will, setzt er sich für sein Kind ein und versucht, rational zu argumentieren: »gegen die Stadt stehn die Etrusker / Und Rom zerbricht sein bestes Schwert.« (Ebd.: 78) Weil dies nichts hilft, will er sein eigenes Leben opfern, wenn sein Sohn verschont bleibt (Vgl. Ebd.: 81). Doch das römische Volk nimmt den stellvertretenden Tod nicht an: es verlangt absolute Gerechtigkeit. Im Gegensatz zum ›Wort‹ der Römer, das den gewürdigten und getöteten Horatier in der Erinnerung gerecht behandeln kann, bleibt dem Vater nur der tote Sohn. Die Erinnerung an den Sieg kann den Schmerz des Verlustes nicht mindern. Der Vater bittet die Römer noch einmal, den Leichnam nicht vor die Hunde zu werfen: »Der Sieger ist tot, der nicht zu vergessende / solange Rom über Alba herrschen wird. / Vergeßt den Mörder, wie ich ihn vergessen habe / Der erste im Verlust.« (Ebd.: 83) Er deutet die Schändung der Leiche richtig: das Gedächtnis an seinen Sohn wird dadurch ausgelöscht. Und ihm, dem Vater, bleibt nicht einmal das Grab. Das »moralische Vergnügen« – die Sinnstiftung eines ›notwendigen‹ Todes, bleibt für die Figur des Vaters ausgeschlossen. Da er über seinen Sohn nicht rational urteilt, sondern emotional in sein Schicksal verwickelt ist, weiß er als einziger in der von Müller dargestellten Handlung, dass der Tod die Ehrung für immer und unwiderruflich ungültig macht. Der Vater wird von seinem Leiden durch den Sieg des moralisch Guten nicht erlöst. Und auch für die Erinnerung an die römische Gerechtigkeit bleibt nichts

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mehr übrig. Die Sinnlosigkeit des römischen Urteils wird durch ein ausgesuchtes Wortspiel unterstrichen. Als der Horatier zum ersten Mal ohne höhere Notwendigkeit, doch »im Namen einer erbarmungslosen Staatsräson« (Eke 1999: 124) tötet, heißt es: »Und der Horatier stieß dem Kuratier / Sein Schwert in den Hals, daß das Blut auf die Erde fiel.« (Müller 2001: 75) Die gleiche Wendung wird bei dem – nicht nötigen, vielmehr grausamen – Mord an der Schwester wiederholt: »Stieß das Schwert […] / In die Brust der Weinenden / Daß das Blut auf die Erde fiel […].« (Ebd.: 76) Diese Wiederholung betont Eke: die scheinbar legitime Gewalt, die gegen den Feind gerichtet wird, wird auf diese Weise – so Eke – relativiert (Eke 1999: 125). Die Formel »Daß das Blut auf die Erde fiel« (Müller 2001: 81) wird noch einmal wiederholt: bei der Beschreibung der Hinrichtung des Horatiers. Dies zwingt zur kritischen Reflexion über die soeben vollzogene Todesstrafe. Denn die Tötung der Schwester war mit dem Kommentar »ohne Notwendigkeit« (Ebd.: 80, 81, 83, 84) versehen. Trotz der Beteuerung am Ende des Textes, die ›Worte‹ müssen rein bleiben, sie fürchten die »unreine Wahrheit« (Ebd.: 84) nicht, bleibt die ›Lehre‹ von Müllers Lehrstück sehr vage. Die Worte haben die Dinge »kenntlich« (Ebd.: 84) gemacht, also haben sie das Urteil über den Horatier ausgesprochen. Doch sie verrieten zugleich die unmenschliche und blinde Pseudogerechtigkeit des Urteils. Die Symmetrie dieser Gerechtigkeit entzieht sich dem humanen Prinzip, das nach differenzierten Lösungen verlangt. Das individuelle Schicksal, das Leiden des Vaters, das Unrecht, das ihm geschehen ist, wurde weder beachtet noch gerecht behandelt. Der Vater wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen, er wurde verraten und symbolisch mit seinem Sohn getötet. In Livius’ Vorlage, auch in Corneilles Tragödie, wird der Horatier ebenfalls nicht aus Mitleid mit dem Vater von der Mordanklage freigesprochen. In den alten Werken wurde ausdrücklich der Gemeinschaft der Vorrang vor dem Individuum gegeben; Livius’ Vaterfigur vertritt die Überzeugung, dass die Zukunft wichtiger sei als die Trauer um seine Tochter. So rettet er seinen Sohn im Einvernehmen mit dem römischen Volk. Damit rettet er auch das römische Gedächtnis, für das die Siegerfigur des Horatiers steht und er rettet seine eigene Familie. Bei Müller erleiden sowohl die Gemeinschaft als auch das Individuum einen unwiederbringlichen Verlust. Die Gemeinschaft – in dem Wahn, gerecht handeln zu können – verzichtet auf einen wichtigen Aspekt ihrer Identität: die kollektive Erinnerung. Das Individuum wird in der Person des Vaters – nicht der des Horatiers, der für einen Mord bestraft wurde – erniedrigt und psychisch zerstört. Die Deutung, dass negative Seiten politischer Erfolge nicht unterschlagen werden dürfen, greift daher zu kurz. Das Stück plädiert in der Tat gegen die Propaganda der Erfolgspolitik. Allerdings zeigt der Text nicht nur die Defizite von politischen Systemen, die für sich die absolute Gerechtigkeit und den Ausgleich aller Kontroversen beanspruchen, sondern er vermittelt auch die Einsicht in den grundsätzlich fehlenden humanen Wert eines solchen Systems. Das private Leiden –

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scheint das Fazit des HORATIER zu sein – könne nie mit dem kollektiven Erfolg aufgewogen werden. Das Individuum verliert, und sein Schmerz wird von der Gemeinschaft, in der er aufgehen soll, nicht getilgt oder entschädigt. Weder für die Erinnerung noch für die gegenwärtigen politischen Zwecke noch für die Zukunft eines Volkes dürfen der individuelle Tod und der individuelle Schmerz von einer an der Gesellschaft orientierten Idee kompensiert werden. Auf der Oberfläche erscheint der Schluss von DER HORATIER als Erfüllung von Goethes bekannter Sentenz zu sein: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleichung eintritt oder möglich wird, schwindet das Tragische« (im Gespräch mit Kanzler von Müller v. 6.6.1824). So ist tatsächlich Livius’ Text gedacht. Bei Müller fängt der tragische Konflikt in dem Moment an, wo der Vater nicht in der Lage ist, Gnade für seinen Sohn oder für die Leiche des Sohnes zu erflehen. Nun ist es kein Konflikt zwischen der Gesellschaft – die zufriedengestellt wurde – und dem Individuum. Das Individuum bleibt vielmehr allein zurück mit seinem Problem. Die Gattung des Lehrstücks, die man gern mit DER HORATIER (auch mit PHILOKTET und MAUSER) verbindet – die Assoziation mit Brechts DIE HORATIER UND DIE KURIATIER stellt sich ja von selbst ein –, muss kritisch hinterfragt werden. Die positive Pointe, der Sieg der Gemeinschaft über die Bedürfnisse des Einzelnen, wird in DER HORATIER hinterfragt. Es scheint, dass die Gemeinschaft über das Leben oder das Schicksal ihres Mitglieds nicht selbstverständlich und vor allem nicht straflos verfügen dürfe. Die Versöhnung, die Livius mit seiner Version präsentierte, will sich bei Müller nicht einstellen. Die Feind-Konstellation, mit der das Stück beginnt, wird am Ende nicht getilgt. Hans-Thies Lehmann erklärt die Beschäftigung des DDR-Dramatikers mit Carl Schmitt mit der Überzeugung, dass nicht ›Brüderlichkeit‹ die menschlichen Gruppen konsolidiere – dies gilt auch für die sozialistische Gesellschaft – sondern die »Abgrenzung gegen den Feind«. (Lehmann 1998: 20f.) Der »geschichtsphilosophische […] Optimismus« wird somit in seinen Texten immer konterkariert (Ebd.: 24f.). Diesem Prinzip entsprechen andere Adaptionen Müllers, sei es der antiken Tragödien, sei es der Dramen Shakespeares, und dies unabhängig davon, ob die überlieferte Handlung der alten Vorlage in der neuen Fassung relativ treu wiedergegeben oder nur angedeutet wird. Es stellt sich die Frage, was Müller – als DDR-Intellektueller – bereit war, seiner Gesellschaft als Alternative zu empfehlen? Meine These ist, dass die einzige Lösung, die Müller in der Lage war, vorzuschlagen und gegen die er sich gleichzeitig in seiner Dramaturgie wehrte, die er in seiner Poetik nicht anerkannte und explizit nie vorschlug, die Abwendung vom kollektiven Bewusstsein war, von der Aufopferung des Einzelnen für das Kollektiv. Die Folge oder der Preis, der sich deutlich abzeichnet, war die Vereinsamung und Resignation, die der Mensch in der sozialistischen Gesellschaft überdies leugnen musste. Aus dieser Resignation heraus, entstand ein Dramenkonzept, das dem Brechtschen Lehrstück nicht entsprach und

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die aristotelisch verstandene Tragödie ebenfalls nicht adaptieren konnte. Dieses Dramenkonzept nimmt sich angesichts des Bildes, das Forschung und Medien von Müllers Schaffen geprägt haben paradox aus. Und doch, dies die Pointe: In der Figur des Vaters in DER HORATIER schwingt die traditionelle Mitleidsästhetik mit,15 charakteristisch für das bürgerliche Trauerspiel, das Müller ja für sein Konzept der Tragödie theoretisch entschieden ablehnte. Gerade im bürgerlichen Trauerspiel wird die Vaterfigur als Ikone eines moralischen Konflikts stark gemacht (Vgl. Greiner 2012: 319), Beispiele gibt es genug: MISS SARA SAMPSON, EMILIA GALOTTI von Lessing, KABALE UND LIEBE von Schiller, MARIA MAGDALENA von Hebbel. Bei Müller ist die Konstellation anders als im 18. und 19. Jahrhundert; keine verbotene Liebe oder ein Verstoß gegen die bürgerliche Moral, sondern das falsche Gerechtigkeitsgefühl der Gemeinschaft verursacht die Tragödie. Doch den Grundkonflikt scheint Müller von Lessing geerbt zu haben, den Konflikt zwischen dem Individuum, das sich nach der natürlichen Moral orientiert und der Gesellschaft, die ihre Normen als Identitätsstütze verteidigt. Es ist auffallend, wie Müllers Text auf der Oberfläche zwischen zwei verschiedenen und sich geradezu ausschließenden Dramenformen angesiedelt zu sein scheint, zwischen dem Lehrstück und der Tragödie und sich in seiner Pointe für eine dritte Möglichkeit entscheidet, für das bürgerliche Trauerspiel. Der Leser/Zuschauer nimmt keinen Anteil am Schicksal des großen Siegers, des Horatiers, der sich gegen menschliche Gefühle, das Flehen des Kuratiers und der Schwester, immun zeigt; wir nehmen Anteil am Leiden des Vaters. Somit wiederholt der kurze Text die Wandlung, die die Tragödie um das 18. Jahrhundert vollzogen hat. Man kann eine einfache Lehrbuchformulierung von Bernhard Greiner zu Hilfe rufen: »Deutlich wird […], dass die Themen und Probleme des bürgerlichen Trauerspiels nicht mehr aus dem öffentlichen Raum des Heroischen stammen, auch nicht mehr historisch oder mythologisch verankert sind, vielmehr dem bürgerlich-privaten Bereich der Familie zugehören.« (Ebd.: 315)

Es ist kein Widerspruch, dass in DER HORATIER der tragische Konflikt von der Idee der Vernunft – hier der instrumentellen Vernunft – provoziert wurde. Bereits im 18. Jahrhundert – am deutlichsten bei Schiller – wurden solche »Handlungsmuster« entwickelt.16

15 Zum Mitleid-Begriff im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels steht eine umfangreiche Forschungsliteratur zu Verfügung. Ich verweise nur auf einige Studien, die für diesen Artikel von Nutzen waren: Schings 1980, von der Lühe/Gülcher 2007, Szondi 1973, Schößler 2003. 16 Vgl. hier Greiner 2012: 320, auch in der Ähnlichkeit der Formulierung.

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Die Aporie – das Trauerspiel abzulehnen und die DDR wegen ihres tragischen Potentials vorzuziehen und schließlich doch beim Trauerspiel zu landen – verbarg Müller dann in seinen postdramatischen Texten. Hier rettete sich die Tragödie in katastrophischen Visionen. Die Idee des Sozialismus konnte allerdings nicht mehr gerettet werden, sie scheiterte am fehlenden Heroismus und in der Todesbereitschaft des Einzelnen, am bürgerlichen Trauerspiel. Ob Müller das Scheitern des Kollektivs, also das Scheitern der Idee des Kommunismus, in seinen Stücken bewusst problematisierte oder ob er die aporetische Struktur seiner Stoffe selbst nicht anders gestalten konnte, kann wahrscheinlich keine Analyse seiner Werke offenlegen. Es fällt auf, dass viele (nicht alle) Adaptionen von grossen Tragödien, die er sich in seinem Oeuvre vorgenommen hat, ähnlich ausgehen wie DER HORATIER: auf der Oberfläche der Handlung gewinnt das Kollektiv, die Gemeinschaft die Oberhand, als ob Müller Brechts Lehrstückprinzip fortsetzen wollte. Die nähere Analyse deckt allerdings Widersprüche auf, die das Individuum, das persönliche Leiden zum Hauptproblem machen. PHILOKTET, ANATOMIE TITUS. FALL OF ROME, VERKOMMENES UFER, MEDEAMATERIAL, LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN können als Beispiele solcher Dramen dienen, obgleich ihre Thematik und Struktur grundverschieden sind. Welche Rolle Müller für die DDR-Gesellschaft spielte, zeigte sich nach seinem Tod. Der Theaterkritiker Benjamin Henrichs formulierte dies etwas zynisch: »Das absurde Trauertheater nach Heiner Müllers Tod – als seien Brecht, Shakespeare und Aischylos auf einmal dahingegangen.«17 Man verabschiedete damals einen großen Künstler, doch womöglich auch einen Intellektuellen, der den Mut hatte, die Gesellschaft aus dem Abstand seiner Intellektualität zu beobachten und das Trauerspiel vom Menschen weiter zu schreiben.

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17 Nach: http://www.welt.de/kultur/article2997280/Warum-Heiner-Mueller-seinen-Tod-gutueberlebt-hat.html (Zugriff 23.2.2014).

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Die Selbstbehauptung der Intellektuellen in der DDR Annemarie Auer, Franz Fühmann und Christa Wolf in ihren Essays P ETER B RAUN Ich schreibe das im Konjunktiv; ich hüte mich vor übereilten Schlüssen. FRANZ FÜHMANN: WAS FÜR EINE INSEL IN WAS FÜR EINEM MEER

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Mit dem Typus des Intellektuellen verhält es sich ähnlich wie mit dem Essay – jener literarischen Form, in der sich ihre Autoren am deutlichsten als Intellektuelle zu erkennen geben. Einige allgemeine Charakteristika reichen zu einer Bestimmung nicht aus. Weder lässt sich der Essay hinreichend als Gedankenexperiment zwischen Wissenschaft und Kunst fassen, noch der Intellektuelle als unabhängiger und engagierter Kritiker in öffentlichen Debatten. Definitionen dieser Art bewegen sich auf einem hohen Abstraktionsniveau. Die historisch und medial konkreten Entstehens- und Publikationsbedingungen des Essays ebenso wie die sich wandelnden gesellschaftlichen Handlungsräume und Funktionen des Intellektuellen werden so verdeckt. Gerade diese jedoch schreiben sich tief in deren Gestalt ein und bestimmen ihre je konkrete Form. Es gilt also, genauer hinzusehen – und dies umso mehr, wenn der Blick auf die DDR fällt. Deren Aufarbeitung verläuft bis jetzt weitgehend in Dichotomien, die sich einerseits aus der Überheblichkeit der alten Bundesrepublik als dem erfolgreicheren Gesellschaftssystem herleiten, andererseits auf Unterscheidungen und Zuschreibungen gründen, die aus der DDR selbst herrühren wie »angepasst oder oppositionell« und »bleiben oder gehen«.

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Der historische Abstand von heute erlaubt es jedoch, die literarischen Texte, die unter den Bedingungen der DDR entstanden sind, mit größerer Unvoreingenommenheit zu lesen und jene Dichotomien zu überwinden. Vielleicht verlaufen die Bruchkanten, die sich dann abzeichnen, in feineren Linien.

Z UR S ITUATION

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Nach der nationalsozialistischen Herrschaft und der Katastrophe des »Zweiten Weltkriegs« besaßen Marxismus und Sozialismus eine hohe intellektuelle Attraktivität. Sie versprachen eine menschliche Gesellschaft, die auf wissenschaftlichrationalen Erkenntnissen gründet. Zudem gab das materialistisch-dialektische Denken eine kritische Methode an die Hand, sich den existierenden Widersprüchen – und damit der eigenen Zeit – zu stellen. Nicht wenige deutsche Intellektuelle, darunter viele Schriftsteller, Verleger und Universitätslehrer, – wenn sie auch im Blick auf ihre Gesamtzahl in der Minderheit blieben – bekannten sich deshalb offen dazu und sahen ihre Aufgabe darin, einen neuen deutschen Staat und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Es waren vor allem aus dem Exil zurückgekehrte Emigranten, die entweder aktiv gegen den Faschismus gekämpft oder Jahre ihres Lebens als politische Häftlinge in Gefängnissen und »Konzentrationslagern« verbracht hatten. Sie prägten denn auch in den 1950er Jahren das kulturelle Leben in der DDR, wie Johannes R. Becher die Kulturpolitik, wie Anna Seghers oder Arnold Zweig die Literatur, wie Bertolt Brecht das Theater, wie Walter Janka und Max Schroeder die Verlage oder wie Hans Mayer, Werner Krauss oder Ernst Bloch die philosophischen und philologischen Fächer an den Universitäten. Ihr Wirken war jedoch von Beginn an in eine ambivalente Spannung gestellt. Einerseits umworben und mit materiellen Privilegien bedacht, wurden sie zugleich mit rigiden Vorgaben der Doktrin des »Sozialistischen Realismus« für eine verständliche und volksnahe, vor allem aber parteikonforme Kunst gegängelt. Gerade Walter Ulbricht war in seiner Zeit als »Erster Sekretär« der SED stets von der Angst verfolgt, die Intellektuellen könnten den Führungsanspruch der Partei in Frage stellen und ihr die Hoheit über die marxistische Weltanschauung aus den Händen reißen. Von daher war er, so sehr er die Intellektuellen einerseits hofierte, stets auch darauf bedacht, sie zu disziplinieren – und das oft sehr kleinlich und penibel und nicht selten von seinem eigenen Kunstgeschmack diktiert. Als Mittel dazu diente ihm ein komplexer Zensurapparat, der deshalb so lange funktionierte, weil die Intellektuellen in ihren verschiedenen Funktionen darin miteingebunden waren. Ein erster Bruch, der bei vielen Intellektuellen deutliche Spuren hinterließ, vollzog sich auf dem 11. Plenum der SED im Dezember 1965. Die von Ulbricht angestoßenen Wirtschaftsreformen wurden blockiert und die Spannung entlud sich auf

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die Künstler. Sie wurden von den Parteifunktionären für die Hemmungen in der politischen Entwicklung des Landes verantwortlich gemacht. Am härtesten traf es Werner Bräunig, einen der wenigen tatsächlichen Arbeiterschriftsteller der DDR, gelernter Schlosser, Fördermann bei der Wismut, Stipendiat des Johannes-BecherLiteraturinstituts und Mitautor des Aufrufs GREIF ZUR FEDER, KUMPEL!. In einem umfangreichen Romanprojekt zeichnete Bräunig am Beispiel des Bergarbeitermilieus in der Wismut ein Bild der schwierigen Anfangsjahre der DDR. Doch der Vorabdruck eines Kapitels daraus erregte die Gemüter; Bräunigs Romanprojekt wurde wiederholt öffentlich und schließlich auf jenem 11. Plenum als Beleidigung der Werktätigen und der Sowjetunion angeprangert. (vgl. Bräunig 2007, besonders Kap. IV, S. 75-97) An Bräunigs Exempel erfuhren die Intellektuellen, die bis dahin dachten, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken, wie sie plötzlich zu deren Gegnern gestempelt wurden. Das irritierte und verstörte viele von ihnen, ohne dass sie jedoch ihre Hoffnungen auf das Projekt DDR ganz aufgaben. Werner Bräunig hingegen brach sein Romanprojekt ab, verlor seine Stelle als Dozent am Leipziger Literaturinstitut und verfiel dem Alkoholismus. (vgl. Drescher 2007) In der Ära von Erich Honecker – er setzte sich 1971 an die Spitze der SED – änderte sich an der Situation nur wenig, auch wenn er sich kaum mehr direkt in die Kunstproduktion einmischte, und die Spielräume zu bestimmten Zeiten etwas größer wurden. Aber auch unter Honecker durften vor allem keine von der Parteilinie abweichenden Äußerungen und Meinungen in den Medien veröffentlicht werden. Kontroverse öffentliche Diskussionen waren um jeden Preis zu vermeiden. Gerade darum jedoch, um das Zulassen kontroverser Meinungen in der Öffentlichkeit, um die Möglichkeiten kritischer Publizistik und Kunst, die eine öffentliche Debatte erlauben würde, kämpften viele Intellektuelle in den 1970er Jahren. Die Freiheit des Wortes wurde zunehmend zum entscheidenden Kriterium dafür, ob das utopische Potential des Projekts DDR, ihr Versprechen auf eine menschlichere Gesellschaft, noch eingelöst werden könnte. Doch je stärker sie darauf pochten, desto mehr verhärteten sich die Fronten. Viele, gerade von den Jüngeren, resignierten und verließen die DDR. Andere versuchten, in ihren Texten – im Zusammenspiel mit ihren Lesern – die fehlende öffentliche Diskussion auszugleichen. Statt offen die Dinge anzusprechen und zur Diskussion zu stellen, suchten sie nach Wegen, wie sie die Prozesse der Kritik in ihre Texte aufnehmen und in Figuren des Dialogischen verwandeln konnten, ohne in die Fänge der Zensur zu geraten. Das brachte sie in die Nähe des Essays.

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ANNEMARIE AUER UND D IE KRITISCHEN W ÄLDER – EIN E SSAY ÜBER DEN E SSAY Der Essay besaß in der Funktion, die der Literatur in der DDR von der Gründergeneration zugeschrieben war, keinen Ort, nirgends. Er war, wie Hermann Kähler noch 1982 konstatierte, eine Gattung ohne Heimatrechte. (vgl. Kähler 1982: 5) Der argumentative und zugleich offene, mehrschichtige und reflektierende Charakter dieser Textform musste von offizieller Seite auf Ablehnung stoßen. Zu unberechenbar war das kritische Potential, das darin zu Recht vermutet wurde, und zu unwägbar die Geste der Subjektivität, die davon nicht abgezogen werden konnte. Zudem haftete dem Essay der Ruf des Elitären an. Erst Ende der 1960er und in den 1970er Jahren erfolgte eine zaghafte Annäherung an den Essay, die vor allem von einer neuen Generation vollzogen wurde. Dies geschah durch eine Neuinterpretation der Aufgabe, die Literatur zu erfüllen habe: Die junge Generation wollte die »neue sozialistische Gesellschaft« nicht mehr nur verkünden und in ihrem Dienste erzieherische Rollenmodelle vorgeben; sie wollte die aktuellen Zustände vielmehr kritisch befragen und mit ihren Texten korrigierend in fehlende Entwicklung oder gar Fehlentwicklungen eingreifen. Seine engagierteste Verfechterin findet der Essay in Annemarie Auer. Sie legte im Jahr 1974 ein Buch mit dem Titel DIE KRITISCHEN WÄLDER. EIN ESSAY ÜBER DEN ESSAY vor. Auer zählt mit ihrem Geburtsjahr 1913 nicht unmittelbar zur jungen Generation der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, doch die gelernte Buchhändlerin, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Rundfunkredakteurin und in der Akademie der Künste arbeitete, nahm spät, 1953, ein Studium der Germanistik auf – dem sie 1933 wegen ihrer politischen Arbeit schmerzhaft entsagen musste – und fühlte sich jener Generation nahe. In ihrem knapp 200 Seiten umfassenden Buch, selbst ein Essay mit allen Vorzügen dieser Gattung, ergreift sie leidenschaftlich Partei für ihren Gegenstand und rückt dessen lange Geschichte, dessen vielfältige Formen und dessen intellektuelles Potential in den Mittelpunkt ihrer belesenen und klugen Betrachtungen. Ihr ist es vor allem darum zu tun, dem Essay in der DDR-Literatur endlich die Geltung zu verschaffen, die ihm nach ihrer Ansicht zukommt. Dazu muss sie zunächst die Vorbehalte ausräumen, die gegen den Essay im Raum stehen. Deshalb appelliert sie immer wieder an das sozialistische Ideal eines umfassend gebildeten, kritikfähigen Menschen, der die Angelegenheiten des Staates zu seinen eigenen macht, und wird nicht müde zu betonen, dass der Essay die Entwicklung eben dieses Menschentyps befördert. Die gegenwärtige Gesellschaftsform in ihrem Land sieht sie als idealen Nährboden für den Essay, da Bildung nicht nur das Privileg einer kleinen bevorzugten Schicht ist, sondern allen zukommt. So schreibt Auer gegen Ende ihres Essays:

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»Es stellt sich heraus, dass eine Affinität besteht zwischen dem Menschentyp, den die sozialistische Gesellschaft ermöglicht und braucht, und dem Anspruch an Intellektualität, den das Genre an Autor und Leser stellt. Und mehr: der Essay als literarische Form entspringt einer so unmittelbaren Korrespondenz zwischen dem Subjekt und dem System seiner Ansichten, daß er sich als ein Mittel anbietet, von der Klärung und Erweiterung der Ansichten her den Prozeß der Individuation in den Individuen selbst zu verstärken. Er könnte ein Mittel sein, um das Heranreifen urteilsfähiger und selbständiger gebildeter Persönlichkeiten zu beschleunigen und zu vertiefen.« (Auer 1974: 180)

Aus diesen Sätzen klingt ein ungebrochener Glaube an der Projekt DDR. Das lässt sich daran erkennen, dass Auer auch dem Essay eine erzieherische Funktion am Aufbau der neuen Gesellschaft zuschreibt. Um sich jedoch bei aller emanzipatorischen Emphase dem dennoch nahe liegenden Vorwurf des Individualismus zu entziehen, verwendet Auer einige Mühen darauf, den alten bürgerlich-idealistischen Begriff des Individuums durch einen materialistisch-dialektischen zu ersetzen. Demnach ist das Individuum auf Engste verknüpft mit der Gesellschaft. Geleitschutz sucht sie sich bei damals neuen marxistischen Versuchen einer Theorie der Persönlichkeit, namentlich bei dem französischen Marxisten Lucien Séve. Ihm zufolge ist ein Individuum das Ergebnis eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses. Es entwickelt sich nicht geradlinig aus seinen genetischen Anlagen, sondern muss betrachtet werden als »eine Neubildung gesellschaftlichen Charakters: als das große und erstrebenswerte Resultat einer ›einmaligen Eingliederung eines Individuums in ein bestimmtes System gesellschaftlicher Verhältnisse‹«. (Ebd.: 185) Diese Ausführungen sind für das Verständnis des Essays in der DDR von großer Wichtigkeit. Sie geben nämlich Aufschluss darüber, welche Voraussetzungen im Blick auf die Individualität und Subjektivität des Essays zu berücksichtigen sind. Das »Ich« des Essays in der DDR ist immer auch als ein gesellschaftliches gedacht – und mithin als ein exemplarisches. Zumindest in der Theorie. Von daher stellt die Ich-Konzeption ein entscheidendes Kriterium dar, das es an die Essays, die in der DDR erschienen sind, anzulegen gilt. Wie hält es eine Autorin, ein Autor mit dem »Ich«? Wie viel Gesellschaft hat es in sich aufgenommen? Wie repräsentativ ist es? Wie schwer indes es ist, darauf im Einzelfall eine Antwort zu geben, zeigt eine Rezension von Annemarie Auer in der Zeitschrift SINN UND FORM aus dem Jahr 1977. Sie sorgte für viel Wirbel und versetzte ihrer Autorin einen heftigen Stoß, von dem sie sich nicht mehr so recht erholte. Die über 30 Seiten fassende Rezension galt dem Buch KINDHEITSMUSTER von Christa Wolf, das bereits deutliche essayistische Züge besitzt und ihre spätere Entwicklung einer Mischform von Essay und Erzählung vorwegnimmt. Auers Rezension billigt dem Buch von vornherein zu, ein »wichtiges Buch« zu sein, da es sich in eine Lücke stelle: »Wie sah der Faschismus von innen aus?« (Auer 1977b: 850) Was jedoch Auers Widerspruch erregt, ist der aus ihrer Sicht eingeschränkte Blickwinkel des Buchs, das sich ganz auf die deut-

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sche, faschistisch infizierte Bevölkerungsgruppe in der damals zur Mark Brandenburg zählenden Stadt Landsberg an der Warthe konzentriere. Die eigentlich Geschädigten kämen darin nicht zu Wort. (vgl. Ebd.: 859) Deshalb zeigt sich Auer überrascht von dem »Klageton«, den sie in dem Buch vernimmt, und wirft der Autorin Christa Wolf »eine Art Ich-Faszination« vor und ein Bestehen darauf, »daß auch über das ichigste Ich noch Objektivität erlangbar sei«. (Ebd.: 859 und 855) Unversehens gerät hier die Rezension zu einem Konflikt der Generationen. Denn Auer fragt, wie es mit den Erfahrungen ihrer Generation bestellt sei, die unter dem Faschismus leiden mussten, ohne Faschisten geworden zu sein und stattdessen bereits antifaschistisch und sozialistisch orientiert und organisiert waren? Welches sei »die Mitgift, die meine Generation, und so keine andere, zwar menschlich nicht spurlos, wohl aber literarisch nahezu folgenlos in die Gesittung unseres erneuerten Volkes eingebracht hat«. (Ebd.: 860) Sie zeichnet daraufhin aus eigenen Erinnerungen an die Zeit des Krieges und unmittelbar danach, aus biographischen Partikeln von Zeitgenossen sowie aus einigen wenigen raren literarischen Zeugnissen – darunter auch von polnischen Autoren – ein Porträt ihrer Generation der Antifaschisten und Widerstandskämpfer, die sich mit einigem Stolz in das historisch Notwendige fügte und das Ende des Krieges tatsächlich als »Befreiung« erlebte. Verbitterung und Trauer sprechen aus den Zeilen, dass die Erfahrungen dieser ihrer Generation nicht literarisch verarbeitet und dargestellt worden seien. Sie lastet es vor allem den harten Bedingungen der Zeit nach 1945 an: »Ich weiß von Talenten, und ich weiß von Anfängen und Plänen vom ersten Nachkriegstage an. Aber es gab auch die Umstände, und die hatten ihr Gewicht.« (Ebd.: 878) Aus dieser Lebenserfahrung heraus und weniger aus ideologischer Verbohrtheit resultiert der Vorwurf, den Auer an Christa Wolf richtet: dass sie den Blick zu sehr auf ihre Protagonistin Nelly Jordan und deren Innenleben richte und die sie umgebende soziale Wirklichkeit nicht genügend Eingang in die Selbsterforschung gefunden habe. Gleichzeitig betont sie jedoch, dass sie die KINDHEITSMUSTER nicht am Kriterium der »gesamtgesellschaftlichen Relevanz« bemessen wolle. Sie schreibt am Ende: »Für die Lücke im Selbstverständnis der Nation, entstanden durch das Schweigen der Antifaschisten der voraufgegangenen Generation, ist diese nachfolgende nicht verantwortlich zu machen. Sie kann für das Fehlende nicht aufkommen.« (Ebd.: 878) Das Ringen um den Gehalt ihrer Generation und der Schmerz um dessen ausgebliebene und nicht mehr nachzuholende literarische Gestalt ist in der Rezeption von Auers Rezension untergegangen. Gerade bei den kritischen Intellektuellen wie Stephan Hermlin und Franz Fühmann stieß sie auf heftige Ablehnung. Auer stand daraufhin im Ruf einer »Stalinistin«, was die weitere Aufnahme sowie Bezugnahme auf ihre Bücher blockierte. Das ist schade, denn DIE KRITISCHEN WÄLDER stellen über weite Strecken einen immer noch höchst lesenswerten Gang durch die »vierte Gattung« des Essays dar.

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Er ist gespickt mit vielen Beispielen aus der deutschen, der englischen und französischen und gegen Ende auch der amerikanischen Literatur. Immer wieder geht Auer exemplarisch vor und zeigt an ausgewählten Beispielen von Michel des Montaigne und Francis Bacon, von Denis Diderot und Friedrich Schiller, von Friedrich Ratzel und Heinrich Mann die konstituierenden Verfahren essayistischen Schreibens. Ebenso findet sich jedoch auch eine reiche, auf die Literatur der Antike ausgreifende formgeschichtliche Herleitung des Essays. Dessen Ausgang bilden für Auer die drei grundlegenden Möglichkeiten, einen Gedanken auszudrücken und ihm eine sprachliche Gestalt zu geben: das Gespräch, der Brief und die intime Aufzeichnung. (vgl. Auer 1974: 86 ff.) Alle drei Formen sind bereits in der Antike literarisch ausgebildet worden. Allen drei gemeinsam ist ein deutlicher, klar konturierter Adressat, der jedoch im Zuge der Literarisierung in seiner Konkretion zurücktritt, um seinen Platz für die Leser frei zu machen. Das begründet für Auer den grundlegend dialogischen Charakter des Essays. Darüber hinaus sieht sie vielfache Verbindungen und Korrespondenzen zu vielen anderen Ausprägungen der von ihr sogenannten »rationalen literarischen Formen«. An einer Stelle bietet sie sogar eine Liste mit 46 solcher Formen, darunter die Diatribe, die Predigt, die Disputation, das Colloquium, die Exempla, die Epistel, den Traktat, die Kompilation, die Skizze und den Aphorismus. (vgl. Ebd.: 89-94) In diesem Feld bewegt sich der Essay, aus ihm bedient er sich, einzelnes sich aneignend, um daraus etwas Eigenes zu machen. Dem Essay ist folglich ein ursprünglich synkretistischer Zug eingeschrieben, seine Form ist immer schon eine Mischform. Was die Wahl seiner Themen betrifft, sieht Auer für den Essay keine Grenzen. Den Gründervater Michel de Montaigne vor Augen hebt sie immer wieder die Wirklichkeitsnähe dieser Gattung hervor und betont die Vielfalt der Themen, die er sich gewählt hat. So sieht sie denn auch die »Urszene« eines Essays überall dort, wo eine Lebenswirklichkeit auf ein Urteil trifft und mithin ein Objektives auf ein Subjektives. In diesem Zusammenhang beklagt Auer mehrmals, dass sich in der deutschen Traditionslinie ein Ungleichgewicht zugunsten des Kunstessays herausgebildet hat – und das gilt auch für die noch zaghaften Ansätze in der DDR. Doch die Kunst und noch enger gefasst die Literatur ist nicht der einzige Gegenstand, dessen sich ein Essay annehmen kann. Ganz im Gegenteil. Auer fordert: »Zwar ist Bildung der Stoff der Essayistik, aber Literaturkritik ist nicht ihr einziges Betätigungsfeld. Auch der Essay muss ohne Schwimmgürtel in die Gewässer des Lebens.« (Ebd.: 192) So sieht Auer schließlich drei Erfordernisse, die für den Essay charakteristisch sind – und das ist eine von vielen, pointierten, treffenden und stilistisch schönen Stellen, die sich in dem Buch über seinen Gegenstand finden: »Der oberste sittliche Grundsatz dieser Art Literatur ist intellektuelle Redlichkeit: die unbeirrbare Wahrhaftigkeit des Autors. Die leitende künstlerische Maxime: Genauigkeit der Be-

238 | P ETER B RAUN obachtung und Präzision des sprachlichen Ausdrucks. Ihr methodisches Prinzip ist die Gedankenreihe. Nun aber nicht mit der ausschließenden Strenge diskursiver Behandlung, […]. Der essayistische Gedanke – auch er an die Vernunft gebunden – verfährt komplex und kombinatorisch: das Apropos, der Einfall, die Vermutung, das Beispiel, die Assoziation, die Abschweifung überhaupt und damit das Gewebe der Querverbindungen sind sein Feld.« (Auer: 1974: 101)

Von heute – im historischen Abstand – gelesen, ruft Auers Buch, wie alle Äußerungsformen, die im geschlossenen und unter Zensur stehenden System der DDR erschienen sind, die Frage auf, was zu einer bestimmten Zeit sagbar und publizierbar war. Von daher stellt Auers Essay nicht zuletzt ein interessantes Sprachdokument seiner Entstehungszeit dar. Um jene konstituierenden Verfahren essayistischen Schreibens, die Auer an vielen konkreten Textbeispielen herausarbeitet, auch im Layout sichtbar zu machen, sind sie jeweils gesperrt gedruckt. Es lohnt sich, diese einmal in eine Reihe zu stellen: OFFENHEIT, BEWEGUNG, BILDUNG, ERFAHRUNG, KOMMUNIKATIVE GRUNDHALTUNG, OFFENE ICH-FORM, RAFFUNG, GELASSENHEIT, ASSOZIATION, WAHRHEITSLIEBE, WERTENDE HALTUNG, LEBENDIGE GENAUIGKEIT, u.a. Damit ist sehr genau ein spezifischer diskursiver Raum abgesteckt – eben jener, den zu erobern und gegen die staatliche Zensur durchzusetzen viele Intellektuelle in der damaligen Zeit angetreten sind. Indem sich Auer essayistisch sprunghaft und zugleich souverän in der Literaturgeschichte bewegt, vermag sie so manche brisante Formulierung im historischen Gewand verstecken. So klingt es geradezu wie ein intellektuelles Bekenntnis der 1970er Jahre, wenn Auer im Zusammenhang mit Lichtenberg schreibt: »Voraussetzung des Essays ist das nicht in Zweifel gesetzte Recht, zu denken und sich ungebrochen seiner Gedanken zu entäußern – sie in die öffentliche Debatte zu werfen.« (Ebd.: 44) Annemarie Auer nimmt biographisch eine Zwischenstellung ein. Sie teilt einerseits die Erfahrungen der Gründergeneration der DDR, allen voran den Widerstand gegen den Faschismus, und fühlt sich zugleich dem emanzipatorischen Anliegen der nachfolgenden jüngeren Generation verbunden. Auch wenn sie schließlich durch ihre Rezension zu Christa Wolf zwischen die »Fronten« geraten ist, so ergreifen DIE KRITISCHEN WÄLDER und andere ihrer Essays dennoch Partei für das Ringen um eine kritische, öffentlich geführte Debatten- und Diskussionskultur in der DDR als ein im Zeichen der Vernunft stehendes Widerlager gegen das oftmals als Willkür empfundene Machtverhalten der SED.

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D ER E SSAY ALS W EG : C HRISTA W OLF UND F RANZ F ÜHMANN Zu jener neuen Generation von Intellektuellen, die Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren mit Essays hervorgetreten sind, zählen Autorinnen wie Sarah Kirsch, Irmtraud Morgener und Eva Strittmatter und Autoren wie Rainer Kirsch oder auch Gerhard Wolf. Für zwei von ihnen indes erlangt der Essay eine zentrale Bedeutung im Rahmen ihrer Entwicklung als Schriftstellerin, bzw. als Schriftsteller: Christa Wolf und Franz Fühmann. An einigen wenigen ausgesuchten Beispielen von ihnen sollen nun die essayistischen Verfahren, die darin beobachtbar sind, freigelegt und vor allem auf ihre dialogischen Figuren sowie auf die Offenheit ihrer Ich-Konzeption befragt werden. Bei Christa Wolf greife ich dazu auf zwei frühe Essays von Anfang der 1970er Jahre zurück, auf ZU EINEM DATUM und LESEN UND SCHREIBEN; bei Fühmann indes auf seinen letzten Essay, der erst posthum, im Jahr 1985, in dem Foto-Text WAS FÜR EINE INSEL IN WAS FÜR EINEM MEER. LEBEN MIT GEISTIG BEHINDERTEN erschienen ist.

Z U EINEM D ATUM (1971) Christa Wolf konnte 1972, nach ihrem Wechsel vom Mitteldeutschen Verlag zum Aufbau-Verlag, einen ersten Band mit Essays veröffentlichen. Er trägt den Titel LESEN UND SCHREIBEN und führt als Gattungsbezeichnung AUFSÄTZE UND BETRACHTUNGEN – der Begriff »Essay« taucht einzig im Klappentext auf. Darin findet sich auch der Text ZU EINEM DATUM aus dem Jahr 1971. Ausgelöst wurde er durch einen Auftrag. Der Aufbau-Verlag plante einen Band zum 25. Jahrestag der Gründung der SED, also des Zusammenschlusses von KPD und SPD am 21. April 1946, und bat verschiedene Schriftsteller, ihre Erinnerungen an diesen Tag aufzuschreiben. Christa Wolfs Beitrag ist im Januar 1971 entstanden und wurde gleich in der ersten Ausgabe von SINN UND FORM desselben Jahres publiziert. (vgl. Wolf 1971: 239-243) Im Jahr danach ist er dann in der Essaysammlung erschienen. In späteren Publikationen hat Christa Wolf diesen Text allerdings den Erzählungen zugeordnet; unter dieser Rubrik ist er dann auch in die Werkausgabe aufgenommen worden. (vgl. Wolf 1999a: 129-136) Offensichtlich ist ZU EINEM DATUM zweifach zu lesen, als Essay und als Erzählung – ein weiterer Beleg für Christa Wolfs Suche nach einem modernen Erzählen zwischen Narration und Essay. Der Text ZU EINEM DATUM handelt von zwei Orten und zwei Zeiten. Zum einen das Dorf G., wohinter sich – biographisch – das Dorf Gammelin in Mecklenburg verbirgt, wohin Christa Wolf, damals noch Christa Ihlenfeld mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach der Flucht aus Landsberg an der Warthe gekommen war und

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von 1945 bis 1947 lebte. Zum anderen ist es Bad Frankenhausen, im Kyffhäuser in Thüringen gelegen, ohne dass der Name der Stadt im Text genannt würde. Hier lebte die mit dem zurückgekehrten Vater wieder vollzählige Familie von 1947 bis 1949 und hier legte Christa Ihlenfeld ihr Abitur ab. Hier kam sie auch, vermittelt über ihren Mathematiklehrer, mit dem Marxismus in Berührung und hier trat sie in die SED ein. Aber all dies schwingt nur im Hintergrund mit. Der Text setzt ein mit der folgenden Passage: »Kommunisten? Kannte sie einen, das war der Schuster Sell aus dem Dorfe G. Den oder besser dessen Fuhrwerk teilte sie wie jedes andere zu Spanndiensten ein, da haute er seine Schirmmütze auf den Tisch des Gemeindebüros und schrie: Immer ich, das ist doch auffallend, haben die Großbauern sie vielleicht geschmiert, Fräulein? Da knallte sie ihre saubere, gerechte Liste neben seine speckige Mütze und schrie auch.« (Wolf 1999a: 129)

Diese erste Erinnerung an einen Kommunisten wird grundiert von einer zweiten, die weiter zurückreicht, in die Zeit des Nationalsozialismus: ein Bierkutscher, der von seinem eigenen Sohn des Abhörens feindlicher Sender angezeigt wird, was ihn sein Leben kostet. Als das »Sie« des Textes davon erfährt, ist es überrascht: »So liefen also immer noch Kommunisten unter den Menschen herum, es erstaunte sie sehr, und sie sah sich alle Bierkutscher genauer an.« (Ebd.) Der Zeit, in der die Kommunisten also die Anderen, die Gegner waren, obwohl der Bierkutscher auf Grund der Denunziation durch den Sohn das »Sie« bis in den Schlaf verfolgt, fügt sich eine Zeit der Indifferenz an, in der sich das »Sie« einzig auf ihren Gerechtigkeitssinn verlässt. Für diese Zeit folgen nun noch weitere Erinnerungen, die nicht einmalige Erlebnisse beschreiben, sondern eher zeittypische, die also nicht einen singulären Zeitpunkt besitzen, sondern eher ein Zeitfeld markieren. Begründet werden sie von dem einleitenden Satz: »Zu dem Datum, das hier gegeben ist, muss ein merkmalsfreier Tag gehört haben.« (Ebd.) Diese darauf folgenden Erinnerungen oder besser Erinnerungspartikel kreisen vor allem um die Schule, um verschiedene Lehrer und Mitschülerinnen – und um den Hunger. Der Lateinlehrer spricht von einer »nagelneuen Zeit« und dem antiken Sinnspruch: tempora mutantur, und ein Aufsatzthema lautet »Persönlichkeiten, die die neue Ordnung aufbauen«, unter dem dann der Kommentar steht: »geschraubter Stil«. (Ebd.: 132) Hin und wieder blitzt die Suche nach Orientierung auf. Die Deutschlehrerin, mit der Haltung ihres Kollegen für Latein konfrontiert antwortet: »Die Zeiten ändern sich, sagt sie, wir ändern uns, Christus bleibt. Was meinen sie, wer mir die Kraft gegeben hat, diese Fahne nicht zu grüßen, niemals, kein einziges Mal?« (Ebd.: 133) Dennoch legt sich als charakteristische Atmosphäre über all diese Erinnerungspartikel ein Gefühl der Gleichgültigkeit, geleitet von der Lektüre des explizit genannten Buchs HERZENSHEILIGE von Diedrich Speckmann, in dem u.a. steht: »Der erscheint mir als der Größte, der zu keiner Fahne schwört«. (Ebd.: 134) Formal von Interesse ist, dass in

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diesen Erinnerungspartikeln nicht mehr von einer »Sie« die Rede ist, sondern Wendungen mit »Man« oder »Einem« weichen. Das Erzählen bleibt in der dritten Person, doch die Distanz zwischen Figur und narrativer Instanz verringert sich. Im zweiten Teil wechselt der Text schließlich ganz zum »Ich«. Er beginnt: »Die Wahrheit ist, dass ich erst zweieinhalb Jahre nach jenem 21. April 1946 meine erste marxistische Schrift gelesen habe.« (Ebd.: 135) Es ist eine Schrift von Friedrich Engels aus dem Jahr 1886, LUDWIG FEUERBACH UND DER AUSGANG DER KLASSISCHEN, DEUTSCHEN PHILOSOPHIE. Die wichtigsten Passagen markiert sich das »Ich« am Rand des Textes und zwei werden – als Gegensetzung zu Diedrich Speckmanns HERZENSHEILIGE – zitiert: »Und so wird im Laufe der Entwicklung alles früher Wirkliche allmählich unwirklich« und: »An die Stelle des absterbenden Wirklichen tritt eine neue lebensfähige Wirklichkeit«. (Ebd.) Der Text endet mit der Wirkung, die diese Lektüre ausgelöste hat: »Ich will versuchen, genau zu sein. Ich lief damals hinaus. Es war eine kühle Nacht, herbstlich mit dünner klarer Luft. Wir wohnten an einem Berg. Die Sterne oben und die Stadtlichter unten schienen sich wie immer zu spiegeln. […] Die Schönheit der Nacht war mir zuwider. Die gleichmäßige Mondsichel, diese raffinierte Täuschung, stieß mich ab. Der schiefe Kirchturm, das romantische Wahrzeichen der Stadt, hätte seine Beharrlichkeit aufgeben und endlich einstürzen sollen. Alles hätte auf uns Bezug nehmen sollen, auf uns, deren Gleichgültigkeit nun ein Ende hatte.« (Wolf 1999a: 136)

Das ist nicht frei von Pathos – und am Ende geht das »Ich« sogar noch in der ersten Person Plural auf. Allen Topoi den Romantischen wird abgeschworen: der Natur, dem Mond und dem schiefen Kirchturm, denn nun ist man ja mit Feuerbach und Marx im Besitz des »Rationellen«. Das folgt zum einen ganz dem Muster einer Konversion. Dem entspricht auch ganz die abnehmende Distanz von der dritten zur ersten Person, um die Bewegung des Zu-sich-selbst-Findens auszudrücken. Dennoch, und das ist nicht gering zu veranschlagen, beharrt der Text auf der eigenen Erfahrung. Das historische Datum und das individuelle fallen nicht zusammen, Lebensgeschichte und Geschichte kommen nicht zur Deckung. Und auch der Gebrauch der grammatischen Person, die Differenzierung in »Sie«, »Man« und »Ich« geht nicht in einer reinen Entwicklungslogik auf. Darin verbirgt sich auch eine dialogische Figur – in dem Sinne, dass die Autorin hier ein differenziertes Verhältnis zu sich selbst aufbaut und damit ein monolithisches »Ich« als Bezugspunkt der selbstbehaupteten, individuellen Erfahrung in verschiedene Zeit- und Erlebensschichten aufsprengt. Ganz abgesehen davon, dass hier ein emphatisches »Ich« geradezu erschrieben wird, das jedoch so offen konzipiert ist, um für die Erfahrung aller zu stehen, die wie die Autorin in ihrer Jugend in den Faschismus verstrickt waren.

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L ESEN UND S CHREIBEN (1972) Die Poetologie, die sich in ZU EINEM DATUM ausdrückt, hat Christa Wolf einige Jahre zuvor – und zwar im Jahr 1968 – in ihrem wohl bekanntesten Essay LESEN UND SCHREIBEN entwickelt, der jedoch erst 1972 zum ersten Mal publiziert wurde. Entstanden ist er, nachdem Wolf im März 1967 das Manuskript zu NACHDENKEN ÜBER CHRISTA T. beim Mitteldeutschen Verlag eingereicht hatte und ein zähes Ringen um die Druckgenehmigung mit mehreren Arbeits- und Außengutachten einsetzte. (vgl. Drescher 1991) Die Verve und programmatische Wucht, die den Essay diktiert, erklärt sich auch als Reaktion auf dieses langwierige Verfahren. Gleich der erste Satz, der wie eine unmittelbare Konsequenz aus ZU EINEM DATUM anmutet, lautet: »Das Bedürfnis, auf eine neue Art zu schreiben, folgt, wenn auch mit Abstand, einer neuen Art, in der Welt zu sein.« Und, wenige Zeilen später: »Das Bedürfnis, sie zu artikulieren, ist mächtig, auf die Dauer mächtiger, als die Versuchung, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen.« (Wolf 1999b: 238) Für Wolf gibt es denn auch drei Möglichkeiten, auf diese Situation zu reagieren. Man könne an den alten Mitteln festhalten, um irgendwann zu sehen, dass sie nicht mehr angemessen sind und dann das Ende der Gattung Prosa verkünden, man könne ins Schweigen fallen und alsbald in dieser Pose erstarren oder aber man könne sich ihr durch Produktivität stellen. Wolfs Essay ist der Versuch, die poetologischen Grundlagen für diese dritte Verhaltensweise zu entwickeln. Somit gewinnt der Text den Charakter eines Manifests, in dem sich die Anliegen einer neuen Generation – gegenüber der Gründergeneration der DDR – artikulieren. So bleibt die Auseinandersetzung mit den Ideologemen und Argumentationsmustern der Kulturfunktionäre nicht aus, ebenso wenig wie die Polemik – für Wolf ein eher ungewöhnliches Mittel. An einer Stelle heißt es: »Lassen wir Spiegel das Ihre tun: spiegeln. Sie können nicht anders. Literatur und Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber wie Spiegel und das, was gespiegelt wird. Sie sind ineinander verschmolzen im Bewusstsein des Autors.« (Wolf 1999b: 275)

In diesen Sätzen liegt, gerade im Blick auf die Philosophie des MarxismusLeninismus, gehöriger Zündstoff. Denn mit dem Primat der gesellschaftlichen und vor allem ökonomischen Bedingungen als monokausalem Prägefaktor des Menschen, sowie mit dem »Klassenkampf« als Motor der Geschichte glaubte Marx nichts weniger als ein Weltgesetz erkannt zu haben, nach dem sich eine objektiv gesetzte Welt vollzieht. Auf Grundlage einer unabhängig existierenden Objektwelt konnte Lenin dann seine Widerspiegelungstheorie errichten, nach der Erkenntnis die ungebrochene Wahrnehmung eben dieser objektiv gesetzten Welt ist. Lukács schließlich übertrug dieses Widerspiegelungstheorem in die Ästhetik und unter-

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mauerte damit die in den 1930er Jahren in der Sowjetunion entworfenen Prinzipien des »sozialistischen Realismus«. Gegen diese, Ende der 1960er Jahre immer noch nachwirkende Doktrin schreibt Christa Wolf an. Sie streitet für einen literarischen Raum, in dem sich eine subjektive Erfahrung der Wirklichkeit formulieren, in dem das Erleben und Verarbeiten von Wirklichkeit mit seinen einschießenden Assoziationen und Erinnerungen oder mit anderen Worten: die Prozesse des Bewusstseins Platz finden können. Dazu muss sie – erkenntnistheoretisch – nichts weniger als die konstitutive Mitwirkung des Bewusstseins an der Errichtung der Welt durchsetzen. Die Potentiale des menschlichen Bewusstseins bilden denn auch den anthropologischen Grund für die entworfene Programmatik. Ausgehend von einer konkreten biographischen Situation in der Stadt Gorki, die sie phänomenologisch beschreibt, kommt sie zu dem Schluss: »Unser Gehirn ist genügend differenziert, die lineare Ausdehnung der Zeit – nennen wir sie die Oberfläche – durch Erinnerung und Vorausschau fast unendlich zu vertiefen. […] Tiefe: Wenn sie keine Eigenschaft der materiellen Welt ist, so muss sie eine Erfahrung sein, eine Fähigkeit, die im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen über lange Zeiträume erworben wurde und sich nicht nur gehalten, sondern entwickelt hat, weil sie brauchbar war. Sie ist also an uns gebunden. Subjekte, die in objektiven Verhältnissen leben.« (Wolf 1999b: 242)

Schützenhilfe für ihre brisante Argumentation holt sich Wolf in der modernen Atomphysik. Gerade hier findet sie ein Paradigma für eine zeitgemäße Literatur. Denn, so Wolf, in dem Problem, keine vorausliegende Beschreibungssprache für die Phänomene, die sie untersuchen, zur Verfügung zu haben und stattdessen auf Modelle und sich widersprechende Bilder zurückgreifen zu müssen, um sich ihrem Gegenstand anzunähern, treffen sich modernste Wissenschaft und neueste Literatur. Geschickt nützt Wolf hier also die grundlegend positive Haltung zu Wissenschaft und Technik, die das sozialistische Gesellschaftsexperiment von Anfang an getragen hat und die Wolf auch bis zu einem gewissen Grade teilt, um ihre Position zu stärken. Analog zur Atomphysik schreibt sie über die Literatur – wieder mit einer polemischen Spitze: »Noch scheuen wir dieses Abenteuer. Wir klammern uns an die Konventionen, wir befestigen mehr alte Denkinhalte, als daß wir nach neuen suchen. Anstatt zu beunruhigen und zu aktivieren, beschwichtigen wir. Es scheint, die Prosa ist noch nicht angekommen im wissenschaftlichen Zeitalter.« (Ebd.: 271)

Die entfaltete Programmatik findet wiederum ihren Ausdruck im Umgang mit den Personalpronomen. Am häufigsten wird ein »Wir« gebraucht, das jedoch in der Bewegung des Textes ganz unterschiedliche Reichweite besitzt. Zunächst steht es

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für die Gruppe derer, die sich mit der Frage nach der Aufgabe und Funktion der Literatur auseinandersetzen – darin eingeschlossen auch diejenigen, die den Essay lesen. Manchmal steht das »Wir« aber auch für die literarischen Intellektuellen, die das Literatursystem der DDR bilden. Dann wieder weitet es sich zum »Wir« der sozialistischen Gesellschaft, um dann wieder zum »Wir« der Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu schrumpfen und manchmal sogar bis zum »Ich« der Autorin Christa Wolf vorzustoßen. Demgegenüber gibt es aber auch Passagen, die explizit im »Ich« gehalten sind. Das ist immer dann der Fall, wenn Christa Wolf eigene Erfahrungen schildert, beispielsweise die Reise in die Stadt Gorki oder die Reise nach Leningrad – heute St. Petersburg –, auf der sie zu den Schauplätzen von Dostojewskis »Schuld und Sühne« geführt wird. Im »Ich« steht freilich auch das großartige Gedankenexperiment einer negativen Lesebiographie, in dem sich die Autorin vorzustellen versucht, was fehlte, was wäre unentwickelt geblieben, wenn sie all die Bücher, die sie in ihrem Leben gelesen hat, nicht gelesen hätte – angefangen von den Märchen der Kindheit, über die »vergifteten« und streng zensierten Bücher im »Dritten Reich«, weiter über die schlichten Pappbände der sozialistischen Theorie in der Nachkriegszeit, bis zu all den prägenden Lektüren im weiteren Leseleben. In dieser Passage entwickelt Wolf mit großer Emphase ihren Begriff von Subjektivität. Am Ende resümiert sie: »Tabula rasa. Ich bin am Ende. Mit den Wurzeln ausgerissen, ausgelöscht in mir eines der großen Abenteuer, die wir haben können: vergleichend, prüfend, sich abgrenzend allmählich sich selbst zu sehen. […] Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich.« (Wolf 1999b: 254)

Diese Subjektivität bildet sich für Wolf aber immer im Austausch: im Austausch mit Büchern, im Austausch mit der Welt und anderen Menschen, im Austausch mit den eigenen Erinnerungen. Diese Subjektivität ist zudem auch gebunden an eine bestimmte Generation; ausdrücklich spricht Wolf von den kollektiven Zügen ihrer Lesebiographie und von der »auffällig verzögerten Reife meiner Generation«, die durch die faschistische Abschottung gegen die Weltliteratur bedingt sei. Im wechselnden Gebrauch der Personalpronomina von »Ich« und »Wir« und im An- und Abschwellen ihrer Bedeutungsreichweite führt Wolf eben dies vor: die unauflösbare Verschränkung des Subjektiven und des Objektiven im Bewusstsein. Mit ihren frühen, forcierten Essays hat Christa Wolf entscheidende Impulse gegeben, damit sich die Literatur in der DDR erneuern konnte – nicht nur in ihrer gesellschaftlichen Aufgabe und Funktion, sondern auch, durch eine nachgeholte Wiederaneignung der klassischen Moderne der 1920er und 1930er Jahre, in ihrer Schreibweise. Sie gab damit einer neuen Generation von Intellektuellen eine kräftige und klare Stimme. Ausgehend von einer grundsätzlichen Übereinstimmung mit dem Projekt DDR pochte sie umso mehr auf ihre eigene Erfahrung und behauptete sie gegen die idealisierten und zunehmend illusorischen Vorgaben. Dadurch er-

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schloss und erkundete sie mehr und mehr einen Raum des Subjektiven, der immer schwieriger mit der Gesellschaft zu vereinen war. Eine Zeitlang schienen ihr noch die Frauen in emanzipatorischer Gemeinschaft und Solidarität die Utopie einer anderen Gesellschaft tragen zu können. Doch spätestens mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl traten für sie die selbstzerstörerischen Kräfte der modernen Welt in einem Maß hervor, das ihr Zutrauen, diese gesellschaftlich bewältigen zu können, vollends erschütterte.

W AS

FÜR EINE I NSEL IN WAS FÜR EINEM

M EER (1985)

Bezeichnend für den Stand des Essays in der DDR fand auch ihr wohl bedeutendster Essayist, Franz Fühmann, erst spät, erst in den 1970er Jahren, ermutigt von seinem Lektor Kurt Batt, zu dieser Form. In der Selbstdeutung des Autors hat mit dem autobiographisch-essayistischen Reisebericht 22 TAGE ODER HÄLFTE DES LEBENS (1972) seine eigentliche Entwicklung als Schriftsteller erst eingesetzt, sein Abwenden von der Doktrin und sein Hinwenden zur Dichtung. In der Folge entstanden dann auch bis zu seinem Tod im Jahr 1984 eine Reihe großer Essays, die, meist um Autoren oder einzelne Werke zentriert, immer auch ins Autobiographische und Poetologische, in die Sprach- und in die Gesellschaftskritik ausgreifen – Essays über die »Vorläufer und -bilder« E.T.A. Hoffmann und Georg Trakl, über die Jungen, die als neue Generation die Literatur fortsetzen sollen, über Wolfgang Hilbig und Uwe Kolbe und, als Kommentar zu einer Jubiläumsausgabe, über die Bibel in der Übersetzung Luthers. Nicht selten begannen sie als Auftrag für ein Nachwort zu einer Edition oder einer Herausgabe, die er selbst besorgte, und manches Mal wuchsen sie sich, nachdem er seinem literarischen Temperament keine Zügel mehr anlegte, zu sehr viel umfangreicheren, eigenständigen Texten aus. Im Mittelpunkt jedoch stand für Fühmann all die Jahre sein BERGWERK-PROJEKT, das er für die anderen Arbeiten immer wieder aufschob. Nach den ausgearbeiteten Passagen und den vielen Entwurfsskizzen zu urteilen, hätte auch dieser als Bericht aus der Arbeitswelt des Bergbaus angelegte Text deutlich essayistische Züge getragen, da zu dem in Ich-Form gehalten, also subjektiv gebrochenen Bericht andere Elemente hinzutreten sollten, so mythologische Erzählungen und geologische Abhandlungen, ferner Traumprotokolle, Interviews, Zeitungsartikel und kulturgeschichtliche, psychoanalytische und poetologische Reflexionen. Schließlich musste Fühmann jedoch erkennen, dass sein Projekt unvollendet und lediglich Fragment bleiben würde. So finden sich denn in seinem Testament die desillusionierten Zeilen: »Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.« (Fühmann 1993: 307)

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Ein Zeugnis der Desillusionierung ist auch der letzte Essay, den Fühmann geschrieben hat und der erst posthum in dem Foto-Textband WAS FÜR EINE INSEL IN WAS FÜR EINEM MEER. LEBEN MIT GEISTIG BEHINDERTEN erschienen ist. (vgl. Fühmann/Riemann 1985) Von einem Scheitern in der Literatur kann hier freilich nicht die Rede sein – ganz im Gegenteil. Der Text, der sich selbst als »Begleittext« zu den Fotografien versteht, ist feingesponnen. Fäden und Themen werden ausgelegt und im Laufe der sechs Kapitel, in die der Essay gegliedert ist, wieder aufgenommen; Menschen, die vor allem in den ersten beiden Kapiteln in knappen Porträts vorgestellt und eingeführt werden, tauchen an späterer Stelle wieder auf. Zudem ist der Text von vier Leitmotiven getragen. Sie werden immer wieder explizit, im Wortlaut ihrer Formulierung, aber in anderem Zusammenhang wiederholt und mithin jeweils in eine andere Konstellation gebracht, wodurch ihre Bedeutungen zu schwingen beginnen. Das erste Leitmotiv besteht aus jenen Worten, mit denen der Essay unvermittelt einsetzt: »Photographien von geistig Behinderten: […]«. Fünfmal wird diese Wendung aufgegriffen, oftmals am Anfang von Kapiteln. Sie steht für jenen Strang des Textes, in dem Fühmann versucht, eine Haltung zu den Fotografien Dietmar Riemanns und allgemeiner: zu einer ästhetischen Darstellung geistig behinderter Menschen zu gewinnen. Riemanns sozialdokumentarischer Ästhetik bescheinigt er dabei, einen Weg des Verstehens zur Welt der Behinderten zu suchen, indem er sie als Partner ernst nehme und zu einer Form des Porträts finde, die um ihr Objekt als Subjekt werbe. Dafür greift Fühmann u.a. auch vergleichend auf die Fotografien von Diane Arbus zurück, die im Gegenzug zu Riemann das Groteske und Bizarre in der Vordergrund rücke. Das zweite Leitmotiv steht im engen Bezug zur Ästhetik und berührt Fühmanns eigene Auffassung von Kunst. Es ist dem Philosophen Sören Kierkegaard entlehnt und beschreibt jenen Punkt innerweltlicher Transzendenz, da sich ein Atom Zeit in ein Atom Ewigkeit verwandelt. Drei Mal taucht diese Formulierung auf, einmal in einer alltäglichen Situation, die anderen beiden Male im Zusammenhang mit dem Betrachten von Fotografien. Damit wird deutlich, dass sich solche Momente einer epiphanienhaften Verdichtung sowohl im realen Leben als auch in Rahmen einer ästhetischen Erfahrung einstellen können. Für Fühmann sind es Momente des Erkennens, Momente, in denen sich ein alltägliches Phänomen auf einen mythischen Urgrund hin öffnet und eine existentielle Tiefe erfahrbar wird. Es sind denn auch grundlegende Aspekte menschlicher Existenz, die Fühmann beim Betrachten einiger Fotografien erkennt: das Alter, den Schmerz, die Trauer und die Sexualität, verdichtet und gebrochen in der Darstellung geistig behinderter Menschen. Dies führt zum dritten Leitmotiv: die immer in Anführungszeichen gesetzte Wendung von der »erlösenden Spritze«; das »Mörderdenken« der nationalsozialistischen Euthanasie, das im modernen Gewand eines vermeintlichen Humanismus auch heute noch so manches Mal zu vernehmen ist. Daran geknüpft ist die quälende

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Frage nach dem »Sinn« menschlicher Behinderung – für die Betroffenen, für die Betreuer und für die Gesellschaft – sowie die Frage nach den Konsequenzen für das, was wir als das Menschliche und Menschenwürdige erachten. Fühmann macht es sich nicht leicht mit dieser Frage. Er weiß um die Gefahren der Verklärung, er kennt aber auch die Reaktionen des Abscheus und des Ekels und der damit verbundenen Bewegung der Distanznahme. Beides ist ihm vertraut und er schildert sie als persönliche Erfahrung. Erst jenseits beider Regungen, die nur die Oberfläche berühren, ebnet sich, auf der Grundlage von Empathie, ein Weg des Zugangs. Fühmann betont: »Es käme aber, fürs erste, alles darauf an, sich vorstellen zu können, wie diese zu sein.« (Fühmann/Riemann 1985: 11) Um weiter unten zu dem Schluss zu kommen: »Einen anderen aber als Menschen zu nehmen heißt zunächst, ihn als Menschen wie sich selbst anzuerkennen; da wird sehr schnell mit dem Kopf genickt, doch ist die Frage dahin gestellt, sich selbst auch als Menschen wie ihn anzusehen, sich der eigenen Minderung bewußt zu werden, die jeglichem von uns zuteil ward, und sich auch vorstellen zu können, an Stelle seines Betreuers zu stehn, dann geht das Nicken in Kopfschütteln über, und im Geist tippt der Finger gegen die Stirn. Doch ebendarauf käme es an: Daß man nicht nur den Geminderten zu geben, sondern auch von ihnen zu nehmen bereit ist.« (Ebd.: 20)

In den ersten beiden Kapiteln beschreibt Fühmann minutiös das Verhalten einiger Insassen der Samariteranstalten in Fürstenwalde, die er als »seine Freunde« anspricht. Seit drei Jahren, schreibt er, komme er regelmäßig dorthin, um vor den Behinderten zu lesen und mit ihnen darüber zu sprechen, um sie an Sprachspiele heranzuführen und, nicht zuletzt, um sie auch mit der bildenden Kunst vertraut zu machen. Fühmann beschreibt sein Ankommen und das Wiedersehen mit seinen Freunden und so geraten diese ersten beiden Kapitel zu einer Reihe kleiner, von herzlicher Verbundenheit getragener Porträts von Bernd und Heike und anderen. Das »Ich« des Textes ist durch die nicht ausgesparte Emotionalität sehr präsent, es steht unmittelbar für Fühmann. Als von Ferne eine Gruppe normaler Jugendlicher grölt und spottet, heißt es: »[…]; meine Wut springt wie ein Schnappmesser auf, […]« (Ebd.: 8) Offen legt er auch seine Skrupel, die ihn bei diesem Besuch angesichts seines Vorhabens befallen, über die Insassen zu schreiben und sie mithin zu Objekten seiner Beobachtung zu machen. Dies setzt er dann jedoch in solch einer Genauigkeit um, als ob er in einen Wettstreit mit dem Fotografen treten wolle, welches Medium über die größere Präzision verfüge. Im dritten Kapitel erreicht der Text dann ein allgemeineres Niveau. Dies geschieht durch einen Umschlag. Das »Ich« erlebt, als es Monika bei der Arbeit beobachtet, einen jener Kierkegaard-Momente. In der Weise, wie sich diese Spastikerin, die kaum ein Wort, geschweige einen Satz zu artikulieren vermag, ihrer Arbeit hingibt, erfährt es eine Erkenntnis:

248 | P ETER B RAUN »Sie beugt – mitunter in gequetschte, piepsende Fisteltöne ausbrechend, die überraschen, da man Baßgebrumm erwartet – ähnlich wie Heike den Kopf tief über das Werkstück, nimmt die Lederteile mit klobiger Hand auf, stößt die Nadel mit dem Lederriemchen durch die gestanzten Löcher, derb und doch suchend bemüht, die rechten zu treffen, zieht, die Lippen leckend, die Riemchen nach, und plötzlich, da sie den nächsten Stich tut, sehe ich von ihr nur den Kopf und die Hand, und plötzlich sehe ich im Werksaal nur Köpfe und Hände, weitausholend, zugreifend, glättend, ordnend, fügend, den Raum durchmessend, die Hände, die um das Werkstück kreisen, darüber die Köpfe tiefgebeugt sind –, die Dreiheit der Arbeit: Kopf, Hand und Werkstück, die menschliche Dreifaltigkeit – Es ist eine Offenbarung. – Ich habe selbst Jahre hindurch physisch gearbeitet und immer wieder das Arbeitserlebnis gesucht, auf der Werft, auf der Großbaustelle, im Bergwerk; hier erfahre ich Arbeit, eben hier.« (Fühmann/Riemann 1985: 12)

Das ist es also, was die geistig behinderten Menschen in Fürstenwalde Fühmann vorleben und was er von ihnen zu nehmen bereit ist. Ihm wird bewusst, dass in das Herstellen eines Produkts etwas eingeht, ein spielerisch Menschliches, das nicht in dessen Warencharakter aufgeht. In ihrer Naivität und ungebrochenen Hingabe an die Arbeit führen die Behinderten Fühmann vor, was »unentfremdete Arbeit« ist. Dasselbe gilt, dialektisch gedacht, auch für den Produzenten. Auch er wird, auch er kommt im Werden zu sich – und das heißt im Fall der geistig Behinderten in einem Prozess heilender Zuwendung. Fühmann führt hier das Beispiel des Insassen Peter an. Lange Zeit war er ein reiner Pflegefall, apathisch, ohne jeden Lebensfunken. Aber die stete Fürsorge der Betreuer weckte schließlich dennoch rudimentäre Lebensimpulse und entfaltete so ein Stück der Persönlichkeit Peters, so dass Fühmann schlussfolgern kann: »Im Werden entfaltet sich der Sinn, […].« (Ebd.: 21) Dies spielt in das vierte Leitmotiv über, in die titelgebende Formulierung: »Was für eine Insel in was für einem Meer.« Dreimal klingt sie im Text an. Das erste Mal ist sie Ausdruck eines Staunens angesichts einer kirchlich getragenen Einrichtung, die bereits seit 90 Jahren existiert und in der insgesamt 450 geistig behinderte Menschen zusammen leben. Das zweite Mal ist sie Ausdruck einer Schreckvision auf der Grundlage der Vorstellung, wie die Anstalt in ungefähr 50 Jahren aussehen werde, die Insassen inzwischen im hohen Alter und in körperlichem Verfall. Beim dritten Mal schließlich erhalten die Samariteranstalten Modellcharakter, werden sie zu einem heilen Mikrokosmos inmitten eines verderbten Makrokosmos, werden sie – bei aller Vorsicht, die der Autor walten lässt, – zu einem Vorschein jener Utopie, die einst allen einmal zukommen sollte – nun aber, wie es scheint, nur auf dieser Insel, inmitten dieser kleinen, überschaubaren Kommune gebrechlicher und geistig kranker Menschen gelebt werden kann. Zur zentralen Figur wird nun Monika, eine Insassin von Mitte 30, die von den Knien bis zu den Füßen gelähmt ist und sich deshalb auf verlängerten Knieschützern aus Gummi fortbewegt. Das wirke zwar

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grausam, schreibt Fühmann, aber eröffne ihr einen viel größeren Bewegungsspielraum als ein Rollstuhl. »[…]; später«, heißt es sogar, »werden wir derart miteinander tanzen«. (Ebd.: 12) Sie beobachtend wird Fühmann nicht nur jene Erkenntnis »unentfremdeter Arbeit« zuteil; sie beschließt auch den Essay, genauer ein fotografisches Porträt von ihr: »Die Entfaltung eines Jeden als Bedingung für die Entfaltung Aller: Fürstenwalde ist dafür ein Beispiel. Diese Photographien machen es sichtbar. Ich habe eine aus dem Umkreis dieses Bandes gerahmt an die Wand des Raumes gehängt, in dem ich arbeite, esse, schlafe. Es ist ein Porträt Monikas. Ich lerne von ihr, auch auf Knien zu gehen.« (Fühmann/Riemann 1985: 22)

Der Schlusssatz mag vielleicht zuerst religiöse, christliche Assoziationen auslösen, er mag sich vielleicht sogar als Bekenntnis zur Demut lesen lassen. Gestützt werden sie durch die vielen Anklänge an die Bibel, die sich im Text finden. So heißt es unmittelbar vor jenem, gerade zitierten letzten Abschnitt: »Damit mich niemand mißverstehe: Ich will aus einer Plage keine Wohltat machen. […] Solange sie aber unter uns sind, sind ihre Träger unseres- und wir ihresgleichen: Was ihnen geschieht, geschieht auch uns.« (Ebd.) Doch wie in seinem Bibel-Essay tritt Fühmann auch in diesem Text deutlich als säkularisierter »Aufklärer« auf. So lässt sich der letzte Satz des Textes wohl eher als melancholische Resignation eines Intellektuellen lesen, der anfangs mehr als gewillt war, sich in den Dienst der Partei und des sozialistischen Aufbaus einer neuen Gesellschaft zu stellen, über die Jahre und Jahrzehnte indes ins Zweifeln gekommen und von seinen einstigen Idealen Abschied genommen hat. Am Ende wird er von einem Staat, der nicht mehr dem utopischen Projekt, sondern nur noch seinem eigenen Machterhalt dient, in die Knie gezwungen. Bekenntnis eines Scheiterns und Selbstbehauptung eines Intellektuellen zugleich: »Ich lerne von ihr, auch auf Knien zu gehen.« Das »Ich« in Fühmanns Essay bleibt dicht an sein Erleben, Empfinden und Reflektieren gebunden. Es schwillt in seiner Bedeutungs-Reichweite nicht an, wie in den frühen Essays der Christa Wolf. Es ist ungeschützt. Es ist zugleich ein sehr erfahrungshungriges »Ich«, das sich offen zeigt für Neues, das bereit ist, die sich spontan einstellenden Reaktionen der Überlegenheit, der Abwehr – aber auch der Verklärung des Dysfunktionalen – zu reflektieren und zu überwinden. So durchläuft dieses »Ich« in der geschlossenen Welt der Samariteranstalten von Fürstenwalde einen Bildungsprozess, während dessen es die alten Ideale und Utopien wiedererkennt. Diesen Bildungsprozess bietet es den Lesern offen an. Somit gilt auch für diesen Essay, was Christa Wolf in ihrem letzten Brief an Franz Fühmann, anlässlich des Erscheinens der ESSAYS, GESPRÄCHE, AUFSÄTZE 1964-1981 im Rahmen der Werkausgabe am 19. 3. 1984 geschrieben hat:

250 | P ETER B RAUN »In Deinem Essayband habe ich erst das Interview mit Simon gelesen, und auch hier: vorbildlich die Präzision und Offenheit; es macht einfach Spaß zuzuhören, wie Du selbstverständlich, ohne zu klemmen und zu drücken, jetzt Deins sagst – ohne falsche Scham und Rücksicht.« (Wolf/Fühmann 1998: 139)

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Feinere Bruchkanten, diffizilere Linien. Es wäre historisch ungerecht – und war es im Fall von Christa Wolf nach 1989 –, wollte man der DDR ihre Intellektuellen streitig machen, nur weil sie Teil des Systems waren. Eine idealerweise unabhängige Position, wie sie manche für den Intellektuellen fordern, ist wohl in keinem Gesellschaftssystem gegeben, auch wenn Meinungs- und Pressefreiheit gegeben sind. Unvoreingenommen gelesen überraschen jene Texte, die in der DDR unter der Gattungsbezeichnung »Essay« oder auch »Betrachtungen« erschienen sind. Überraschend, wie ein literaturkritischer, als ausführliche Rezension angelegter Essay unversehens ins Autobiographische umkippen und eine historische Schuld beklagen kann. Überraschend auch, wie aus Beobachtungen der eigenen Person, die sich selbst als Versuchsperson nimmt, eine umwälzende Programmatik für eine zeitgemäße Literatur erwachsen kann. Überraschend schließlich, wie ein Foto-Text-Buch über den Alltag und den Jahreslauf geistig behinderter Menschen einem Staat, der sich einmal einer humanistischen Utopie verschrieben hatte, einen entlarvenden Spiegel vorhalten kann. Nicht weniger überraschen aber auch die buchlangen Essays, ob sie nun von Herders KRITISCHEN WÄLDERN ausgehend in langen Gängen durch die Literaturgeschichte eine literarische Gattung erkunden oder ob sie entlang der unterschiedlichen biographischen Lesesituationen von Gedichten Georg Trakls die eigene Lebensgeschichte erzählen und zugleich in einzigartig dichter Weise vorführen, wie man Lyrik liest, lesen muss. Der Spielraum des Sagbaren, das die Zensur passieren konnte, war, so scheint es, im Essayistischen größer und offener als in anderen literarischen Formen. Gebrauch gemacht haben davon mehr Autorinnen und Autoren als zunächst zu vermuten ist. Ihre Texte liegen vor (vgl. Liersch 1998) oder lagern in den Bibliotheken und warten auf eine neue Lektüre, auf einen zweiten Blick. Sie erzählen, wie sich an den ausgesuchten Beispielen andeutet, eine eigene, eine möglicherweise andere Geschichte der DDR und ihrer Intellektuellen.

L ITERATUR Auer, Annemarie (1974): Die kritischen Wälder. Ein Essay über den Essay, Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag.

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Dies. (1977a): »Vergewisserung«, in: dies.: Erleben – Erfahren – Schreiben. Werkprozess und Kunstverstand, Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag. S. 7-123. Dies. (1977b): »Gegenerinnerung«, in: Sinn und Form 4, S. 847-878. Bräunig, Werner (2007): Rummelplatz, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Angela Drescher sowie mit einer Einleitung von Christa Wolf, Berlin: Aufbau. Drescher, Angela (1991): Dokumentation zu Christa Wolf ›Nachdenken über Christa T‹, München: Luchterhand. Dies. (2007): »›Aber die Träume, die haben doch Namen‹. Der Fall Werner Bräunig«, in: Bräunig, Werner: Rummelplatz, Berlin: Aufbau, S. 625-674. Fühmann, Franz (1983): Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981, hrsg. von Ingrid Prignitz, Rostock: Hinstorff. Ders. (1985): Das Ohr des Dionysos. Nachgelassene Erzählungen, hrsg. von Ingrid Prignitz, Rostock: Hinstorff. Ders./Riemann, Dietmar (1985): Was für eine Insel in was für einem Meer. Leben mit geistig Behinderten, Rostock: Hinstorff. Ders. (1993): Im Berg. Texte aus dem Nachlaß, 2. Auflage, hrsg. von Ingrid Prignitz, Rostock: Hinstorff, 1993. Ders. (2000): Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht, mit einem Nachwort von Uwe Kolbe, Rostock: Hinstorff. Kähler, Hermann (1982): Von Hofmannsthal bis Benjamin. Ein Streifzug durch die Essayistik der Zwanziger Jahre, Berlin, Weimar: Aufbau. Kolbe, Uwe (2014): »Feuerschlünde oder Der lange Weg zur beinahe vollständigen Veröffentlichung einen langen Nachworts«, in: text und kritik 202/203: Franz Fühmann, S. 144-154. Liersch, Werner (1998): Die Kraft der Empfindlichkeit. Essays 1949-1990, Die DDR-Bibliothek Bd. 16, Leipzig: Faber und Faber. Mittenzwei, Werner (2001): Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig: Faber und Faber. Wolf, Christa (1971): »Zu einem Datum«, in: Sinn und Form 1, S. 239-243. Dies. und Fühmann, Franz (1998): Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 19681984, hrsg. Von Angela Drescher, Berlin: Aufbau. Dies. (1999a): »Zu einem Datum«, in: Erzählungen 1960-1980, hrsg. von Sonja Hilzinger, Werke, Bd. 3, München: Luchterhand, S. 129-136. Dies. (1999b): »Lesen und Schreiben«, in: Essays/Gespräche/Reden/Briefe 19591974, hrsg. von Sonja Hilzinger, Werke, Bd. 4, München: Luchterhand, S. 238282. Dies. (2012): »Nachdenken über den blinden Fleck«, in: Rede, dass ich dich sehe. Berlin: Suhrkamp, S. 72-9.

»Die Wahrheit über diese Zeit und unser Leben müsse wohl doch die Literatur bringen«. Christa Wolfs Intellektuellenverständnis in Ein Tag im Jahr J OSÉ F ERNÁNDEZ P ÉREZ »Wer will schon eine Priesterschaft ausüben? Es scheint mir nur so, dass, wenn man alle gesellschaftlichen Ansprüche im Schreiben aufgibt, dann eine Beliebigkeit entsteht, die weitab ist von Priesterschaft, aber auch weitab davon, Leute zu bewegen und zu berühren. Es könnte sein, dass eine Zeit kommt, in der wieder mal gefragt werden wird, wo sind eigentlich Schriftsteller, die sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen.« »ICH BIN NICHT MEHR ABHÄNGIG VON MEINUNGEN ANDERER«/GAUS/WOLF

Nachdem im Zusammenhang mit dem Literaturstreit um die Erzählung WAS BLEIBT einige meinungsbildenden Organe der Medienöffentlichkeit, angeführt von Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher und unterstützt von anderen Literaturkritikern, der sogenannten »Gesinnungsästhetik« jede Legitimation zu entziehen versuchten und sie für beendet erklärten, reflektiert Christa Wolf im Jahr 2000 über eine Zukunftsvision und markiert hier einen zentralen Aspekt, der ihr Autorenverständnis prägt: Es gehe darum, durch Literatur »Leute zu bewegen und zu berühren«, aber auch darum, Beliebigkeit zu vermeiden. Will man der Intellektuellen-Rolle Christa Wolfs gerecht werden, reicht es nicht aus, nur mit Kategorien wie »engagierte Vertreterin einer Gesinnungsästhetik« oder »Staatsdichterin« zu operieren. Die Singularität Christa Wolfs besteht unter anderem darin, eine Existenz in drei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen vorweisen zu können, die ihr Leben und zwangsläufig ihre

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Schreibhaltung prägen, und auf diese Gesellschaftsordnungen mit ihrer Literatur zu reagieren, indem sie »Fragen aufwirft […], die neu sind, die der Künstler zu sehen glaubt, [und] auch solche, für die er noch nicht die Lösung sieht«. (Wolf 1991: 342) Im Folgenden wird zunächst der poetologische Ansatz, der den tagebuchartigen Eintragungen in EIN TAG IM JAHR zugrunde liegt, erörtert. Schließlich soll es zentral darum gehen, die Entwicklung ihrer Haltung als Intellektuelle in der DDR anhand der Tagebucheintragungen zu bestimmen. Dabei kann es an dieser Stelle nur um eine exemplarische Erörterung einzelner Eintragungen gehen. Um einen Einblick zu geben, wird nachfolgend chronologisch verfahren.

1. Z UM POETOLOGISCHEN ANSATZ DES T AGEBUCHS E IN T AG IM J AHR Das Diarium spielt im Werk Christa Wolfs eine wichtige Rolle. Bereits 1964 reflektiert sie in ihrem Essay mit dem programmatischen Titel TAGEBUCH – ARBEITSMITTEL UND GEDÄCHTNIS über das Potenzial des Tagebuches, um sich rückblickend »über die innere[n] Vorgänge um die Mitte [des 20. Jahrhunderts – J.F.P.]« zu informieren. Sie betont den Authentizitäts- und Dokumentationscharakter dieser literarischen Form, da das Tagebuch »das Amt des unbestechlichen, gerechten und wahrhaftigen Zeugen [übernimmt]« und dessen Inhalt ein »unverfälschter Ausdruck innerer und äußerer Erlebnisse« darstelle. (Wolf 1986: 16/20) Allgemein gilt das Führen eines Tagebuchs als eine Form biographischer Selbstreflexion. Bei einem Autorentagebuch kommt die Möglichkeit der poetologischen Metareflexion hinzu, denn die Tagebücher enthalten »Vorstufen, Ideen und Entwürfe zum ›eigentlichen‹ Werk [und] Kommentierungen der eigenen Arbeit«. (Hagestedt 2007: 175) Zugleich können Tagebücher, insbesondere in sogenannten »geschlossenen Gesellschaften«, einen Raum eröffnen, um über tabuisierte und bedrückende Aspekte zu reflektieren. Darüber hinaus entwerfen Tagebücher ein Spiegelbild der Epoche und liefern wichtige Erkenntnisse unter anderen über die Funktion der Autoren innerhalb der Gesellschaft. Das Tagebuch zeichnet sich durch seinen Hybridcharakter aus, denn »die fließende Grenze zwischen faktualen und fiktionalen Textschichten ist für das Tagebuch [...] konstitutiv«. (Ebd.) Dementsprechend stellt sich die Frage, ob das von Christa Wolf dem Tagebuch zugesprochene Potenzial als Medium zur getreuen Abbildung der inneren und äußeren Welt ohne weiteres gelten kann oder ob es sich hier um eine Form der »subjektiven Authentizität« handelt, ohne die die Poetologie Christa Wolfs nicht zu verstehen ist. Bei EIN TAG IM JAHR handelt es sich um ein literarisches Projekt, an dem Christa Wolf einundfünfzig Jahre, von 1960 bis 2011, arbeitete. Die Beweggründe für dieses Projekt verraten indirekt einiges über ihr Intellektuellen-Verständnis:

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»Nicht alle Gründe dafür sind mir bewußt, einige kann ich nennen: Als erstes mein Horror vor dem Vergessen, das, wie ich beobachtet habe, besonders die von mir geschätzten Alltage mit sich reißt. Wohin? Ins Vergessen eben […] Gegen diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein wollte ich anschreiben: Ein Tag in einem jeden Jahr wenigstens sollte ein zuverlässiger Stützpfeiler für das Gedächtnis sein – pur, authentisch, frei von künstlerischen Absichten beschrieben, was heißt: dem Zufall überlassen und ausgeliefert.« (Wolf 2013: 10)

Hier markiert Christa Wolf die Bedeutung des Erinnerns und des damit zusammenhängenden Schreibprozesses. Die Autorin betrachtet das Schreiben dieser Aufzeichnungen als einen Versuch gegen das Vergessen, gegen den Verlust von geschätzten alltäglichen Erfahrungen, die das Leben der Menschen ausmachen und aus deren Perspektive eine einzigartige Geschichtsbetrachtung entstehen kann. Mithin handelt es sich um ein authentisches und pures Schreiben über die Geschichte dieser Menschen (Erinnerungen, Erlebnisse, Assoziationen, Irritationen, Zeitereignisse, politische Vorgänge, Zustandsbeschreibungen, u. Ä.). Bereits 1968 formuliert Christa Wolf in ihrem Essay LESEN UND SCHREIBEN einen poetologischen Ansatz: »Sich-Erinnern ist gegen den Strom schwimmen, wie schreiben – gegen den scheinbar natürlichen Strom des Vergessens.« (Wolf 1986b: 24) Das Erinnern ist nicht nur in dem Tagebuch, sondern allgemein ein substantieller Bestandteil ihres Erzählens. Diese »puren und authentischen« Beschreibungen in ihren Tagebucheintragungen verkörpern das ästhetische Programm der subjektiven Authentizität, das Christa Wolfs literarisches Werk bestimmt. Es handelt sich um nichts anderes, als den bereits 1968 von ihr in LESEN UND SCHREIBEN formulierten poetologischen Ansatz. Demnach sei Erzählen »wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung«. (Ebd.: 25) Diese Aufzeichnungen werden »zu einer Übung gegen Realitätsblindheit« und zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst: »Es geht darum, bestimmte Lebensphasen, die einen bewegen, zu reflektieren« (Gansel/Wolf 2014: 357), so die Autorin. Nachträgliche Eintragungen, Korrekturen von früheren Fehlurteilen und ungerechten Einschätzungen sind ausgeschlossen. Gleichzeitig sind diese Aufzeichnungen aus der Sicht der Autorin ein, zwar unvollständiger, aber aufschlussreicher Beleg für ihre Entwicklung und werden zum Reflexionsmedium einer bewussten Persönlichkeitsentwicklung. (Vgl. Wolf 2013:10 f.) Des Weiteren sind die Tagebuchaufzeichnungen ein Selbstzeugnis, bzw. eine bewusst konzipierte Konstruktion der Wirklichkeit und als solche erfüllen sie die Funktion eines »Gegen-Gedächtnisses« im Sinne von Michel Foucault, das für eine Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen sorgen kann und als korrektives Element gegen »die tief greifende Wirkung ständiger Wiederholung inzwischen fast sakrosankter Thesen« über die Vergangenheit der DDR fungieren kann. (Wolf: 2009) Es geht also um den »Streit um die Deutungshoheit von Erinnerung«, d.h. um »den Kampf um die Bewertung von Vergangenheit«. (Vgl. Gansel 2010: 18) Chris-

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ta Wolf erkennt in diesen persönlichen Eintragungen einige Aspekte allgemeiner Gültigkeit, die »dazu beitragen können, die Meinungen über das, was geschehen ist, im Fluß zu halten, Vorurteile noch einmal zu prüfen, Verhärtungen aufzulösen, eigene Erfahrungen wiederzuerkennen und zu ihnen mehr Zutrauen zu gewinnen, fremde Verhältnisse etwas näher an sich heranzulassen«. (Ebd.)

Neue Erinnerungskonzepte bereichern demzufolge den Erinnerungsdiskurs, indem man bis jetzt unberücksichtigte individuelle Erfahrungen in die Erinnerungskultur einspeist.

2. Z UR E NTWICKLUNG C HRISTA W OLFS ALS I NTELLEKTUELLE IN DER DDR Im Folgenden werden zentrale Momente aus dem Tagebuch Christa Wolfs herausgearbeitet, anhand derer eine Entwicklung ihrer Haltung als Intellektuelle in der DDR dokumentiert werden soll. Christa Wolfs Bindung zum Sozialismus ist nur zu verstehen als Reaktion auf den Schock, den sie in der Nachkriegszeit erfährt, als sie mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus konfrontiert wird. Sie gerät in eine tiefe Verzweiflung und entdeckt im Sozialismus eine Alternative, die ihr ermöglicht, mit diesen Erfahrungen weiterzuleben. »Ich wollte genau das Gegenteil. Ich wollte auf keinen Fall mehr etwas, was dem Vergangenen ähnlich sein könnte. […] Das war der Ursprung dieser Bindung, das war auch der Grund, warum wir so lange an ihr festhielten.« (Gaus/Wolf 1993) Diese Bindung zum Sozialismus verkörpert dementsprechend eine Abkehr vom Nationalsozialismus, beruht zum großen Teil auf einem schlechten Gewissen den verfolgten Genossen gegenüber und erklärt Christa Wolfs Respekt vor diesen Menschen, die schlimme Erfahrungen im Kampf gegen den Nationalsozialismus durchleben mussten und die Entwicklung der DDR jahrelang bestimmten. Ihren damaligen geschichtlichen Standpunkt und ihre Beweggründe beschreibt sie folgendermaßen: »Es ging im Grunde um die DDR, darum, die Menschheit zu überzeugen, dass wir ein blühendes sozialistisches Land aufbauen wollen, und darum, das auch möglichst zu schaffen. Vom Stalinismus wussten wir […] zunächst nichts.« (Simon 2013: 113 f.)

Im April 1959, im Rahmen der Bitterfelder Konferenz, wird beschlossen, dass die sozialistische Kulturrevolution im literarischen Bereich vorangetrieben werden soll. Dafür sollen u.a. die Schriftsteller in die Produktionsbetriebe gehen, mit Brigaden zusammenarbeiten und die Arbeitsbedingungen an Ort und Stelle analysieren. (Vgl.

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Emmerich 1989: 108f.) Christa Wolf, im Geist dieser Bewegung, formuliert nach einem Brigadebesuch eins ihrer Lebensprinzipien: »Wenn es gelänge, in dieses fast undurchschaubare Geflecht von Motiven und Gegenmotiven, Handlungen und Gegenhandlungen einzudringen … Das Leben von Menschen groß machen, die zu kleinen Schritten verurteilt scheinen…« (Wolf 2013: 28). Sehr früh bekennt sie sich zu einer Haltung, die sie bis zu ihrem Tod beibehalten wird: der ständige Versuch, die existierenden »Verhältnisse zu durchschauen«. Die Zeit in Halle hinterlässt ihre Spuren und bringt ihr die Erkenntnis, dass nur das Schreiben ihre Existenz erfüllen könne. Sie sammelt ihre ersten Erfolge mit der »Moskauer Novelle« und verarbeitet ihre im Betrieb gesammelten Eindrücke in ihrem ersten Roman »Der geteilte Himmel«. Literarisch signalisiert sie mit diesem Roman ein Bekenntnis zum Verbleib in der DDR, denn aus ihrer Sicht stelle die Bundesrepublik keine Alternative dar, stattdessen wachsen in der DDR die Bedingungen zum Menschen werden. Jedoch finden sich schon zu diesem Zeitpunkt die ersten Anzeichen von Skepsis: »Wachsen sie wirklich? Streuen wir uns nicht oft über die konkreten ›inneren Verhältnisse‹ ›unserer Menschen‹ Sand in die Augen?« (Ebd.: 41) Sie bemängelt bei den alten Genossen eine fehlende selbstkritische Haltung im Umgang mit ihrer Vergangenheit: »Es fällt ihnen unendlich schwer, sich selbst gegenüber kritisch zu sein«. (Ebd.: 41) Zusätzlich kritisiert sie die Haltung der Funktionäre, »die in den Ämtern ihre Sessel drücken und Bürokratismus exerzieren«, »feige und ohne Gedanken und Initiative«, (Ebd.: 46) während das Land ausblute. Der Rückzug aus den öffentlichen Institutionen in eine freiberufliche Existenz stellt für sie eine Flucht vor den Belastungen im Umgang mit diesen Funktionären dar. Auch wenn ihr Roman DER GETEILTE HIMMEL nicht ohne kontroverse Reaktionen in der DDR aufgenommen wird, gewinnt sie trotzdem den Eindruck, mit ihrem Buch gesellschaftspolitische Fragen in Gang setzen zu können: »Es gibt Leute, die zählen auf mich, die rechnen mich nicht unter die Abweichler, sondern unter die Kräfte, die sie ›bündeln‹ wollen.« (Ebd.: 53) Durch die Zusammenarbeit mit Louis Fürnberg und später, nach dem Umzug nach Kleinmachnow im Jahr 1962, durch Gespräche mit der Familie Schlotterbeck kommt sie zu neuen Erkenntnissen über den Stalinismus und der innere Prozess des Zweifelns nimmt neue Konturen an. In privaten Gesprächen erhält Christa Wolf genaue Information über die Geschichte und die inneren Bewegungen der Kommunistischen Partei sowie über das Schicksal von Kommunisten, die nach der Überwindung der Nazi-Verfolgung in der DDR im Zuge stalinistischer Prozesse wiederum zu Gefängnishaft verurteilt werden. Friedrich Schlotterbeck, ein Opfer dieser stalinistischen Verfolgung, bekräftigt in diesen Gesprächen die Notwendigkeit einer kritischen Haltung, um sich gegen die Parteibeschlüsse wehren zu können: »Man muß immer gegen den Pferch anrammeln, Mädchen, sagt er. Sonst kommen die Wände auf dich zu und zerquetschen dich am Ende.« (Ebd.: 61) Die Aufzeichnungen im

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Tagebuch belegen ihre Betroffenheit. Nach dem Besuch breitet sich Sprachlosigkeit aus, begleitet von einer bedrückenden Atmosphäre: »Unterwegs haben wir [sie und Gerd - J.F.P.] keine Lust zu reden. Es ist dunkel, ein bizarrer Mond begleitet uns. […] Es ist noch nicht Mitternacht, als wir im Bett liegen. Gerd reicht mir sein Hermlin-Buch aufgeschlagen herüber. Lies, sagt er. Das paßt. Als er das schrieb, war er so alt, wie wir heute sind. Ich lese: ›Die Zeit der Wunder ist vorbei. Hinter den Ecken Versanken Bogenlampensonnen. Ungenau Gehen die Uhren, die mit ihrem Schlag uns schrecken, Und in der Dämmrung sind die Katzen wieder grau. Die Abendstunde schlägt für Händler und für Helden. Wie dieser Vers stockt das Herz, und es erstickt der Schrei. Die Mauerzeichen und Vögelflüge melden: Die Jugend ging. Die Zeit der Wunder ist vorbei.‹ […] und es endet: ›Der Worte Wunden bluten heute nur nach innen. Die Zeit der Wunder schwand. Die Jahre sind vertan.‹« (Ebd.: 61f.)

In dem Fragment des Gedichts von Hermlin muss die Euphorie vor der düsteren Wirklichkeit ausweichen. Das lyrische Subjekt beschreibt eine bedrückende Stimmung in einer Zeit, die von Unsicherheit, Unstimmigkeit, Unruhe und von einer latenten Bedrohung gekennzeichnet ist. Diese starke Disharmonie wird zusätzlich durch Enjambements hervorgehoben. Der explizite Vergleich zwischen dem stagnierenden Vers und dem stockenden Herz wird durch die kursive Markierung zusätzlich hervorgehoben, und akzentuiert die existierende Spannung. Die Warnungen der Seher kündigen das Ende der siegreichen Zeit an. Jedoch, wie am Ende des Gedichts deutlich wird, sind diese kritischen Warnungen in der Gegenwart wegen ihres aufstörenden Potenzials völlig unerwünscht. Das lyrische Subjekt trauert um die verlorene Zeit und betont die Vergeblichkeit seines Handelns. Durch diesen intertextuellen Bezug wird die Situation des Gedichts auf die DDR-Wirklichkeit übertragen. Gerhard Wolf verweist explizit auf wichtige Übereinstimmungen. Das Protokollieren der Anmerkungen ihres Ehemannes ins Tagebuch, ohne sie zusätzlich zu kommentieren, suggeriert eine zustimmende Position Christa Wolfs zu den formulierten Gemeinsamkeiten zwischen der Situation des lyrischen Ichs und der DDR-Intellektuellen. Auffällig ist die Tatsache, dass auch dieser intertextuelle Bezug in ihrem Essay TAGEBUCH – ARBEITSMITTEL UND GEDÄCHTNIS existiert. Da-

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durch wird die Aussage über die Vergeblichkeit des intellektuellen Handelns hervorgehoben: »Wir sind mißtrauisch geworden gegen Erfindungen über das Innenleben unserer Mitmenschen. Außerdem: die Wirklichkeit hat sich als unübertrefflich gezeigt. Wenn auch nicht als unübertrefflich schön. [...] ›Die Zeit der Wunder ist vorbei‹«. (Wolf 1986a: 14) Die weiteren Aufzeichnungen bis 1965 belegen eindeutig, dass Christa Wolf eine zunehmende kritische Haltung annimmt. Ihre Skepsis wird anhand von Reflexionen über die Manipulierbarkeit des Schriftstellers in der DDR deutlich, mithin fühlt sie sich belastet durch den Erhalt des Nationalpreises: »Es ist unheimlich schwer, unter all diese öffentlichen Anforderungen einen Strich zu ziehen. Man wählt mich in den PEN, ich kann nichts dagegen machen. Man stupst mich in den Beirat des Präsidiums, ich werde nicht gefragt und bin nicht mal dabei« (Wolf 2013: 69).

Insbesondere die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit ist ein wichtiges Thema, bei dem sie jedoch erkennen muss, dass die Intellektuellen den Institutionen machtlos ausgeliefert sind und gegen manche Publikationsverbote nichts unternehmen können. Ein weiterer kritischer Moment in der Entwicklung Christa Wolfs bildet das berühmte 11. Plenum des ZK der SED im Jahr 1965. Gerhard Wolf bezeichnet diesen Moment als »die große Stunde der Bewährung«. (Simon 2013: 122) Bereits im Vorfeld des 11. Plenums war es zu Unstimmigkeiten zwischen der SED-Führung und der sowjetischen Führung aufgrund des seit 1963 auf Initiative von Walter Ulbricht eingeführten »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung« (NÖSPL) gekommen. Die Einführung war ohne die Zustimmung des sowjetischen Partners erfolgt und war ein Versuch, durch mehr Selbstverantwortung der Betriebe und eine gewisse Entbürokratisierung die ungenügende Effizienz der Produktion zu steigern. Der Versuch musste scheitern, »weil effizientere wirtschaftliche Strukturen eine Demokratisierung der politischen Strukturen vorausgesetzt hätten. Die aber erschien der Führungselite als drohender Machtverlust«. (Wolf 2009) Demzufolge war die SED-Führung gezwungen, einen Kurswechsel vorzunehmen, ohne ihn eigentlich beim Namen zu nennen. Diesem Zweck dienten die Angriffe auf die Kulturschaffenden und die Rücknahme einer nach dem Mauerbau eingeleiteten Liberalisierung der Jugendpolitik. Die Angriffe auf die Schriftsteller und die Disziplinierungsmaßnahmen erfolgten schon im Vorfeld des Plenums, bereits im Sommer 1965 und insbesondere im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Vorabdrucks des Romans RUMMELPLATZ von Werner Bräunig in der NDL. (Vgl. Agde: 128ff.) Während des Plenums greift Paul Fröhlich, erster Sekretär der Bezirksleitung Leipzig, in einem polemischen Diskussionsbeitrag den Autor Werner Bräunig scharf an, unterstellt ihm, ein antisozialistisches Konzept für seinen Roman ausgesucht zu haben, um bessere Verkaufschancen im Westen zu haben, und suggeriert,

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dass im Schriftstellerverband der DDR ähnliche Verhältnisse wie im Petöfi-Club, einer 1956 in Ungarn existierenden konterrevolutionären Vereinigung, vorzufinden seien. Christa Wolf verteidigt mit einem mutigen Diskussionsbeitrag die sozialistische Haltung Bräunigs und argumentiert gegen die am Roman ausgeübte Kritik. Mithin verwehrt sie sich gegen administrative Eingriffe, beansprucht für die Literatur »ein freies Verhältnis zum Stoff« und erinnert an die Aufgabe der Kunst, »Fragen aufzuwerfen, die neu sind, die der Künstler zu sehen glaubt, auch solche, für die er noch nicht die Lösung sieht«. (Ebd.: 342) Im Tagebuch finden wir für das Jahr 1965 keine Beschreibung des 27. September, sondern eine Eintragung, die nach dem 11. Plenum erfolgt. Diese Abweichung vom ursprünglichen Diarium-Konzept hebt deutlich die Bedeutung dieser einschneidenden Erfahrung hervor. Tief erschüttert von den Eindrücken des Plenums reflektiert Christa Wolf über das Tagebuch »als einzige Kunstform, in der man noch ehrlich bleiben kann« (Wolf 2013: 81). Sie protokolliert ihre Befindlichkeit während des Plenums, ein von Aufregung und Angst geprägter Auftritt, der einen hohen Tribut fordern wird, eine tiefe Depression mit der Notwendigkeit eines sechswöchigen Aufenthalts in der Psychiatrie: »Das Bild von einer Dampfwalze, die sich auf mich zubewegte, stand mir vor Augen«, so Christa Wolf im Tagebuch. (Ebd.: 85) Jahre später erinnert sie sich im Gespräch mit ihrer Enkelin an die Situation und offenbart die Beweggründe ihres Handelns: »Ich dachte, wenn ich jetzt nichts sage, still dabei sitze und das damit sanktioniere, kann ich nie wieder schreiben. Das Schreiben war für mich ein moralischer Akt. Sonst hätte ich die Moral verwirkt.« (Simon 2013: 132)

Hier markiert Christa Wolf ein Hauptmotiv ihres Lebens, den moralischen Anspruch an sich selbst und conditio sine qua non für ihr Schreiben und ihre Existenz als Intellektuelle. Sie fühlt sich, zusammen mit anderen Intellektuellen, verantwortlich für die Entwicklung der DDR, will die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft mit ihren Büchern, mit ihrer kritischen Literatur, vorantreiben, muss jedoch erkennen, dass ihre Vorstellung von Sozialismus und die real existierende Form desselben immer mehr auseinanderklaffen. Im Jahr 1968 ereignet sich ein weiterer politischer Schlag, der militärische Angriff gegen den Prager Reformsozialismus, der zusammen mit dem Tod ihrer Mutter und den mit der Veröffentlichung des Romans NACHDENKEN ÜBER CHRISTA T. zusammenhängenden kritischen Stimmen zu einer weiteren Krise führt. Trotz eines immer wieder erscheinenden »gefährlichen Lähmungsgefühls« verkörpert das Schreiben für sie den Weg zur Heilung. Im Tagebuch beschreibt sie zutreffend die politische Entwicklung und ihre eigene Position: »Manchmal kommt es mir vor, [das Leben – J.F.P.] rast auf ein ungutes Ende zu. Und wir stehen daneben und geben vergrämte Kommentare. Doch wenn man erst einmal mit solcher Wucht aus

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den Schienen gesprungen ist, kommt man nicht rein…« (Wolf 2013: 123). Trotz dieser pessimistischen Anzeichen sucht sie gemeinsam mit anderen intellektuellen Freunden »›den produktiven Punkt‹, von dem aus man noch arbeiten kann.« (Ebd.: 129) Sie steckt aber in einem Dilemma: einerseits die Erkenntnis der Notwendigkeit eines Rückzugs aus der Kulturpolitik, um »sich einigermaßen bewahren« zu können, der aber wiederum zu einer ungewollten »Isolierung und Lebensfremdheit« führe. Andererseits gelangt sie zu der Einsicht: »Die eigene Welt, die wir uns gezimmert haben, kann nicht ewig halten.« (Ebd.: 135) Nur mit der Einnahme von Stimulanzien und Beruhigungsmitteln kann sie weitermachen und ihre Angst überwinden. Aus der Distanz beobachtet sie kritisch und skeptisch die Entwicklung der Gesellschaft: »Mir fällt auf, daß ich dieser Theorie (der kleinen Schritte) auch nicht mehr anhänge, im Grunde an keine tiefgreifende Veränderungsmöglichkeit mehr glauben kann.« (Ebd.: 173) Trotz der Rückschläge kommen bei ihr jedoch Momente der Hoffnung, in denen sie glaubt, etwas verändern zu können, insbesondere wenn Lockerungen im System zugelassen werden: »Merke gleichzeitig, daß ich es im Innersten doch nicht lassen kann, an Phasen, in denen uns, auch mir, eine größere Bewegungsfreiheit gewährt ist, weitergehende Hoffnungen zu knüpfen.« (Ebd.: 198) Das Oszillieren zwischen Resignation und Hoffnung ist und bleibt eine Konstante in ihrer Entwicklung. Sie weigert sich, sich das Scheitern der gesellschaftlichen Erneuerung, eben jenes sozialistischen Experiments auf deutschem Boden, einzugestehen, gleichwohl erkennt sie die Anzeichen der Fehlentwicklung, von der sie sich eindeutig distanziert, die sie aber mit ihren kritischen Anregungen unbedingt verändern will. Literarisch ist das an dem Roman KINDHEITSMUSTER nicht zu übersehen, in dem sie die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Bürger der DDR darzustellen versucht. Parallel dazu ergreift sie als Intellektuelle in der Öffentlichkeit eine deutliche Position der Unabhängigkeit, wie z.B. auf einer Akademie-Veranstaltung offensichtlich wird: »Die Grundfrage ist nicht die, ob eine offizielle Politik dies oder jenes verbietet. Das ist keine Haltung. … Irgendwann muss man kapieren, dass man selber da ist, um ganz bestimmte Sachen – die ich übrigens wirklich nicht überschätze, was mich betrifft – zu sagen. Und dass man die eben sagen muss, ganz egal, was gerade im Moment der oder jener – oder die oder jene Zeitung – davon denkt oder hält.«1

1

Wolf, Christa; zitiert nach dem Manuskript der Hr2-Sendung am 02.10.09: »Mauer-Fälle (5) Christa Wolf, Schriftstellerin«. In: Heckmann-Janz 2009: 7; vgl. auch Christa Wolf in ihrem letzten Interview: »Die Literatur kann nur darüber [über die zusammenhängende Geschichte eines Landes - J.F.P.] berichten und auch die Verhältnisse immer wieder atta-

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Ein weiterer kritischer Moment ereignet sich im Jahr 1976 mit der BiermannAusbürgerung. Auf Initiative von Stephan Hermlin verantwortet Christa Wolf zusammen mit weiteren zwölf renommierten Künstlern eine Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Biermanns, die nicht nur der Redaktion des SED-Zentralorgans NEUES DEUTSCHLAND, sondern auch der französischen Nachrichtenagentur Agence France Press zugeleitet wird. Mit dieser Maßnahme wollten die Unterzeichner verhindern, dass ihr Anliegen im Bereich der informellen Öffentlichkeit verbleiben würde und sicherstellen, dass ihr Appell die Öffentlichkeit der DDR erreichen würde. Daraufhin veranlassen die Vertreter der offiziellen Kulturpolitik Disziplinierungsmaßnamen, z.B. Ausschluss von Schriftstellern aus dem Schriftstellerverband, unter ihnen Gerhard Wolf und Sarah Kirsch. Im Rahmen dieses Konflikts versuchen die Unterzeichner an mehreren Stellen ihr Vorgehen zu erläutern. Obwohl sie einem massiven Druck ausgesetzt wird, steht Christa Wolf zu der Initiative. Entgegen der Gerüchte, die von der Stasi in die Welt gesetzt wurden, hat sie nie ihre Unterschrift zurückgezogen. In einer Stellungnahme vom 26. 11. 1976 verteidigt und begründet sie ihre Vorgehensweise als ablehnende Reaktion auf die demagogische Informationspolitik der Kulturfunktionäre. Des Weiteren distanziert sie sich selbstkritisch von ihrer eigenen unkritischen Haltung in der Vergangenheit und ihrer zustimmenden Position zu Maßnahmen der Parteiführung: »Für uns beide [Christa und Gerhard Wolf – J.F.P.] war der entscheidende Anstoß zuzustimmen, daß die Information auch an AFP gegeben wurde, jener Kommentar, den zur Ausbürgerung Biermanns Dr. K[ertzscher – J.F.P.] am 17.11. im Neuen Deutschland schrieb. Dieser Artikel enthält auf kleinem Raum eine uns unzumutbare erscheinende Anzahl von Verdrehungen und Unterstellungen, Demagogien und Zynismen! Ein körperliches Gefühl von Gefahr ließ uns in diesem Augenblick wieder intensiv die Atmosphäre einer Epoche empfinden, die wir für immer überwunden glaubten, in der auch wir manches schweigend hingenommen hatten, anderes unkritisch geglaubt und zu anderem unsere Zustimmung gegeben haben, woran wir heute nur noch mit Scham denken können.«2

Die Beweggründe für diese Petition werden ebenfalls in dieser Stellungnahme erörtert und sind wie beim 11. Plenum, als es um die Verteidigung von Werner Bräunig ging, ihre Aufrichtigkeit und ihr Gewissen: »Ich glaube, daß ich nicht mehr hätte schreiben können, wenn ich an diesem Tag nicht öffentlich hätte sagen können, was

ckieren. Und dies durch unaufhörliches und bohrendes Nachfragen.« (Gansel/Wolf 2014: 366) 2

Protokoll der Fortsetzung der Parteiversammlung des Berliner Schriftstellerverbandes am 26.11.1976. Das Manuskript wurde von Gerhard Wolf im Namen seiner erkrankten Frau vorgetragen. In: Berbig 1994: 116f.

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ich dachte und fühlte«. (Berbig 1994: 115) Aus Archiv-Dokumenten geht eindeutig hervor, dass sie Sarah Kirsch vor den Angriffen der Kulturfunktionäre verteidigte und den Schriftstellerverband für ihre Ausreise mitverantwortlich machte. (Vgl. Ebd.: 277 – 288) Des Weiteren bekräftigte sie die Notwendigkeit der Veröffentlichung der Biermann-Petition im Westen, zumal sie die einzige Möglichkeit darstellte, neben dem ND-Kommentar andere Stimmen aus der DDR in der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Zusätzlich kritisiert sie das Strafmaß der Maßnahmen und besteht darauf, wie die ausgeschlossenen Kollegen behandelt zu werden. Im Tagebuch ist wieder von der Bewältigung eines Schocks die Rede. Christa Wolf reflektiert über ihre eigene Rolle in der Gesellschaft, stellt selbstkritisch fest, viel Zeit »mit falschen Engagements« vertan zu haben, und resignierend registriert sie: »KINDHEITSMUSTER könnte ich nicht noch einmal schreiben, es fehlt mir die Kühnheit dazu. Man hat sie mir ausgetrieben« (Wolf 2013: 236). Zugleich wird deutlich, wie die Folgen der Ausbürgerung Biermanns und des Widerstands gegen diese politische Maßnahme ihr privates Leben beinträchtigen: erstens durch den schmerzhaften Verlust von Freunden, die wie Sarah Kirsch in Folge der Disziplinierungsmaßnahmen die DDR verlassen, zweitens durch polemische Angriffe auf ihre Person und ihr Werk, und insbesondere drittens durch das Dilemma, ob für sie eine Existenz als Schriftstellerin in der DDR oder in einem anderen Land unter diesen Bedingungen möglich ist. Als ehemalige Kriegsvertriebene sei jedoch der wiederholte Verlust der Heimat für sie nicht vorstellbar oder zumutbar. (Vgl. Gansel/Wolf 2014: 363; Wolf 2013: 242) Stattdessen müsse sie für dieses Heimatgefühl bereit sein, »täglich unbewußt […] einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören oder zumindest: schweigen« (Wolf 2013: 242) zu zahlen. Als Intellektuelle muss sie demzufolge in Kauf nehmen, ständig mit Selbstzensur und Tabus auszukommen: »Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt.« (Ebd.: 234) Der Wunsch nach einem Winkel, in dem man sie »einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfung, ohne den Zwang, [sich] andauernd vor anderen und vor [sich selbst] verteidigen zu müssen« (Ebd.: 240), ist eine Reaktion auf die zu erleidenden Schmerzen. Jedoch erweist sich dieser Wunsch als naiv und unerfüllbar. Es gebe für sie nur dieses Spannungsfeld (hier oder dort), zwischen den Fronten, Angriffen ausgesetzt, von Angst verfolgt, und erkennend, dass der Westen für sie keine Alternative darstelle, so Christa Wolf. Jahre später wird sie rückblickend in diesem Spannungsfeld die Voraussetzung für ihren schriftstellerischen Antrieb erkennen. 3 Zu diesem Zeitpunkt stellt sich ihr aber die Frage, ob sie noch einmal die Kraft zu der notwendigen

3

In diesem Sinne äußert sich Christa Wolf in ihrem letzten Interview: »Von daher war ein Konflikt oder eine Störung [...] unerlässlich dafür, dass ich geschrieben habe und schreibe«. (Gansel/Wolf 2014: 358)

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Schonungslosigkeit aufbringen könne. Davon hängt die Fortsetzung ihrer weiteren schriftstellerischen Arbeit ab. Beim Anblick eines Suhrkamp-Katalogs, wo sie unter anderem das Foto von Thomas Brasch und die Ankündigung eines Gedichtbands von Peter Huchel registriert, fasst sie neuen Mut zum Weiterkämpfen, bereit ihre eigene schriftstellerische Position wahrzunehmen als Reaktion auf die existierenden Angriffe: »Es muß doch gehen, man muß doch weitermachen. Ein jäher, bestürzender und erfreulicher Kontakt mit mir selbst, mit dem Teil von mir selbst, das schreibend freigelegt wird und das ich unter der Sturzwelle von Gemeinheit des letzten Jahres zu verstecken gezwungen war« (Wolf 2013: 244).

Die Distanz zu den politischen Funktionären ist nicht mehr zu übersehen. Sie ist sich seit Jahren darüber bewusst, dass sie von der Stasi verfolgt wird, und gerät zunehmend in eine Abseitsrolle. Der politischen Elite attestiert sie ein absolutes Versagen: »Ich denke, daß die Politik, ihre Ziele und Formen, mitsamt den Männern, die sie ausüben, hoffnungslos überholt und unzeitgemäß ist, gar nicht in der Lage, die Probleme der Gegenwart überhaupt zu erfassen, geschweige sie der Lösung näherzubringen.« (Ebd.: 255)

In dieser Abseitsposition wird ihr bewusst, welche Rolle sie als Intellektuelle noch in der DDR erfüllen kann. Die oben angesprochene Resignation hängt direkt mit der nach der Biermann-Ausbürgerung gewonnenen Erkenntnis zusammen, dass »ihre direkte Mitarbeit in dem Sinne, wie sie sich selbst verantworten konnte und für richtig hielt, nicht mehr gebraucht wurde«. (Zit. Hilzinger 1991: 93) Obwohl sie eine »Abseits-Rolle« nie angestrebt hat, muss sie besorgt feststellen, dass »die Möglichkeit, [sich] in den Institutionen zu bewegen, [...] allmählich ganz [ausfällt]« (S. 280). Zusätzlich erklärt sich diese Resignation mit der Einsicht, dass der »Glaube, [...] daß das ganze Volk Kunst brauche, [...] sich als Illusion erwiesen [habe]« (S. 284). Angesichts der kulturpolitischen Entwicklungen erweist sich ebenso der Glaube an die Wirkungsmöglichkeit für die Verbesserung einer sozialistischen Gesellschaft als eine Chimäre. Christa Wolf gewinnt die Einsicht, dass sie zu der kleinen »Gruppe von Intellektuellen – Avantgarde ohne Hinterland [...]« gehört. Sie werden »Fremdlinge [...] im eignen Land, Vorgänger, denen keiner folgt, Begeisterte ohne Widerhall, Rufer ohne Echo.« (Wolf 1986c: 58) Trotz dieser Abseitsposition und Resignation empfindet sie eine bedrückende Verantwortung für das ganze Land, deren Ursprung in einer unauflösbaren Identifizierung mit ihrer Heimat liegt, und ist sich über ihre Funktion als Autorin bewusst, die »stellvertretend für andere Stumme« sprechen müsse: »Es bleibt die Erkenntnis, daß Literatur bei uns oft als Ersatz für andere, vorenthaltene Möglichkeiten der

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Selbstverwirklichung herhalten muß« (Wolf 2013: 285). Sie möchte ihre Leserschaft nicht verlassen, und ist dafür bereit, Kompromisse zu machen, aber ein Weitermachen in der DDR sei nur möglich, wenn sie sich frei machen könne und ganz unabhängig werde. (Vgl. Ebd.: 271) Nur mit dieser Unabhängigkeit ist ihre Literatur mit dem von ihr angestrebten Prinzip der Aufrichtigkeit und der Authentizität zu vereinbaren, so die Autorin. In den 1980er Jahren wird die oben angesprochene Abseitsrolle und die damit zusammenhängende Wirkungslosigkeit bestätigt. Im Tagebuch fasst sie diese allgemeinverbreitete resignierende Stimmung folgendermaßen zusammen: »[D]ie bleiern graue Resignation, das bequeme Sich-gehen-Lassen, hat ja die allermeisten Leute erfaßt, die normalerweise schöpferisch sein könnten: Wer eine Generation lang daran gehindert wird, gibt es schließlich auf. Oder geht weg. Mehltau legt sich über alle und alles.« (Ebd.: 346)

Die Leserbriefe, die sie regelmäßig erhält, erwecken jedoch bei Christa Wolf ein Pflichtgefühl, in der DDR zu bleiben, und geben ihr den Eindruck, als Intellektuelle gebraucht zu werden, zumal sie durch ihr symbolisches Kapital als Intervent für andere agieren kann oder verzweifelte Menschen trösten soll: »Doch gerade weil Sie sehen und denken können, bitte ich Sie, mir zu zeigen, ob und wie es hier noch Hoffnung gibt, besonders für meine Kinder.« (Ebd.: 384) Sich der Aussichtslosigkeit der Situation bewusst und völlig überfordert mit den Problemen, die an sie herangetragen werden, entwickelt sie jedoch nach und nach eine Abwehr gegen den Anspruch, den die Leser an sie stellen: »Ich weiß noch nicht, ob ich der Frau […] antworten werde, weil ich nicht weiß, was. Gerne schwiege ich, habe das Gefühl, schon zu viel gesagt zu haben – ganz besonders immer dann, wenn mich Ausläufer der Kassandra-Welle erreichen.« (Ebd.: 385) Sie fürchtet sich vor der »vermehrte[n] Last der Verpflichtungen und [einer] sich immer noch steigernde[n] Erwartungshaltung«, die das Schreiben immer schwieriger machen. Sie erkennt jedoch in ihrem Verhalten die Ursache für diese Entwicklung: »Durch ein vertracktes Verhaltensmuster biete ich mich als Identifikationsfigur an.« (Ebd. 443) Die Aufzeichnungen im Jahr 1989 stellen aufgrund der historischen Ereignisse eine Besonderheit dar. Christa Wolf reflektiert über die Begegnung mit den Aichers, einem westdeutschen Ehepaar, das bei ihnen in Woserin in Mecklenburg zu Besuch ist. Die geschichtlichen Ereignisse sind durch die Nachrichten vom Deutschlandfunk ständig im Hintergrund präsent. Vordergründig geht es aber um einen Rückblick auf die letzten fünfundvierzig Jahre deutscher Geschichte und um eine komparative Analyse der Entwicklung beider Länder, um die Gründe für den massenhaften Exodus von DDR-Bürgern zu analysieren. Am Ende des Tages formuliert Aicher die Schlussfolgerung: »Die meiste bisherige Geschichte ist umsonst

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gewesen.« (Ebd.: 477) Christa Wolf denkt über diese Aussage bis in den Schlaf nach, vielleicht steht sie wieder wie das lyrische Ich in Hermlins Gedicht vor der Erkenntnis: »Die Jahre sind vertan«. Der Besuch am nächsten Tag in Barlachs Atelierhaus in Güstrow wird zu einem sinnbildlichen Moment deutscher Geschichte. Christa Wolf betrachtet lange den »Zweifler«, »der in Schmerz die Hände ringt, dessen Gesicht aber schon Ruhe gefunden hat, als erlaube er sich nur selbst den Zweifel und den Abfall vom Glauben: Ich kann nicht anders. Als könne er, da er im Ernst geglaubt hat und nun im Ernst zweifelt, sich endlich selbst verzeihen.« (Ebd.: 478) Die Unsicherheit und Verzweiflung der Figur Barlachs spiegeln in gewisser Weise die Lage vieler DDR-Bürger wider, die ebenfalls im Ernst an die Idee des Sozialismus geglaubt haben, und von denen manche nun im Ernst zweifeln. Sie können auch nicht anders, als sich selbst verzeihen, nachdem sie sich angesichts der real existierenden Verhältnisse den Zweifel und den Abfall vom Glauben eingestanden haben. Bei der nächsten Skulptur »Wanderer im Wind« erinnert sich Christa Wolf an die Entstehungszeit im Jahr 1934, als Barlach klar wird, »was für Zeiten angebrochen waren«. An die Haltung des Wanderers, der symbolhaft »seine helmartige Kopfbedeckung fest[hält], seinen Mantel dichter um sich [umschlägt und] sich seiner Kräfte vergewissert«, um dem Sturm standhalten zu können, muss Christa Wolf in der DDR-Zeit sehr oft gedacht haben und wird sich sicherlich auch nach der Wende erinnert haben. Auch sie wurde während der DDR-Zeit, wie bereits erläutert, mit viel »Gegenwind« konfrontiert und einige kritische Stürme standen ihr nach der Wende noch bevor. Für Christa Wolf bleibt beim Betrachten der Figuren nur die Erkenntnis: »So ist es, sagt jede dieser Figuren. Kein Zugeständnis. Klage schon. Aber kein Selbstmitleid. So ist es eben, so schlimm. Und das zu wissen, darin liegt der Trost«. (Ebd.: 478) Mit dem Umbruch der DDR scheint das Wort der Intellektuellen an Bedeutung und Aktualität zu gewinnen. Für einen Moment entsteht der Eindruck, als ob Christa Wolf zusammen mit anderen Intellektuellen als Galionsfigur einer Reformbewegung der sozialistischen Gesellschaft erfolgreich agieren könnte, um einen »Staat, der aus der Anschauung und aus den Verhältnissen heraus eine arbeitende Beziehung zwischen den Individuen herstellt, der sich keinem übergeordneten Prinzip unterwirft – heiße es auch Weltvernunft oder Fortschritt –, sondern den wohlverstandenen Bedürfnissen der einzelnen.« (Ebd.: 485) Der Ausgang der »friedlichen Revolution« belegt allerdings, dass den DDR-Intellektuellen nur die Rolle der Avantgarde ohne Hinterland übrig blieb. Bald stellt sich für Christa Wolf die Frage, ob ihr »Standort in dieser ›neuen‹ Zeit zu unbestimmt ist«, um ihrer Berufspflicht nachgehen zu können. (Vgl. Ebd.: 486f.)

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3. F AZIT Ausgehend von den hier analysierten Tagebuchaufzeichnungen kann resümiert werden, dass das Tagebuch EIN TAG IM JAHR über die Darstellung des familiären Alltags am 27. September hinaus einen Einblick in die Kulturpolitik der DDR gewährt. Außerdem dokumentiert das Tagebuch eindeutig, wie sich die Haltung Christa Wolfs als Intellektuelle in der DDR entwickelt. Als Mitglied der sogenannten »Aufbau-Generation« bekennt sie sich zum sozialistischen Experiment auf deutschem Boden, um eine Alternative zum Nationalsozialismus aufzubauen. Sie ist bereit, die Entwicklung der DDR-Gesellschaft prägend voranzutreiben, indem sie gesellschaftspolitische Fragen in Gang zu setzen versucht. Ihre anfängliche zustimmende Begeisterung wandelt sich allmählich, insbesondere nach dem 11. Plenum im Jahr 1965, in eine skeptisch prüfende Haltung, die eine zunehmende Distanzierung zu der autoritären Parteiführung und zu der mit ihr zusammenhängenden offiziellen Kulturpolitik zur Folge hat. In dem Tagebuch ist von einem anwachsenden Gefühl, »daß die Partie verloren ist« (Ebd.: 81) die Rede und von Spannungen, die im kreativen Schreibprozess produktiv umgesetzt werden. Mit der BiermannAusbürgerung wird das Verhältnis zwischen Politik und Kunst auf eine harte Probe gestellt. Die Unterzeichnung der Biermann-Petition und die darauffolgenden kulturpolitischen Maßnahmen bestätigen die zunehmende Distanz zur offiziellen Kulturpolitik und stellen ihre Unabhängigkeit als Intellektuelle in einem repressiven Umfeld unter Beweis. Ihre prüfende skeptische Haltung und ihre Eigenständigkeit zwingen sie in eine Abseits-Rolle. Durch den Rückzug aus dem politischen Leben ins Private eröffnet sich für sie einen Schutzraum, in dem sie die Konflikte literarisch aufarbeiten kann, sei es im Tagebuch oder in anderen publizierten Texten. Jedes von ihr veröffentlichte Werk dokumentiert das für sie als Intellektuelle verbindliche Prinzip der Aufrichtigkeit und der Authentizität. Diese Wertvorstellungen, die Primärerfahrungen während des Nationalsozialismus, die daraus gewonnenen Erkenntnisse, der nach dem Krieg erlittene Heimatverlust und »die Unfähigkeit ›drüben‹ eine Alternative zu sehen« (Wolf 2013: 292) eröffnen Ansätze, um die Entwicklung Christa Wolfs als Intellektuelle in der DDR nachvollziehen zu können. Letzteres erklärt vor allem, warum Christa Wolf während der Wende vermehrt in der Öffentlichkeit auftritt, um sich für eine Politik des »Dritten Weges« und für eine demokratische Erneuerung der DDR einzusetzen. Mit ihrem Schreiben des Alltäglichen setzt sie unverzichtbare »Erinnerungspunkte in das Meer des Vergessens« (Ebd.: 461) und bereichert die Erinnerungskultur mit einer individuellen DDRErinnerung, die das komplexe Verhältnis zwischen Politik und Kunst in der DDR beleuchtet.

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L ITERATUR Agde, Günter (1991): »Zur Anatomie eines Test«, in: ders. (Hg.): Kahlschlag, Das 11. Plenum des ZK der SED 1965, Berlin: Aufbau, S. 128-147. Berbig, Roland (1994) (Hg.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung, Berlin: Ch. Links Verlag. Emmerich, Wolfgang (1989): Kleine Literaturgeschichte der DDR, Frankfurt a.M.: Luchterhand. Gansel, Carsten (2010): »Attlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR«, in: Dettmar, Ute (Hg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 17-50. Ders./ Wolf Christa (2014): »›Zum Schreiben haben mich Konflikte getrieben‹ - ein Gespräch«, in: Gansel, Carsten (Hg.): Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 353-366. Gaus, Günter/ Wolf, Christa (1993): »Christa Wolf im Gespräch mit Günter Gaus in der Sendung Zur Person am 25.02.1993« http://www.rbb-online.de/zurperson/ interview_archiv/wolf_christa.html> (Zugriff am 15.06.2015). Ders. (2000): »Günter Gaus befragt Christa Wolf: ›Ich bin nicht mehr abhängig von Meinungen anderer‹«, in: Der Freitag vom 10.11. http://www.freitag.de/autoren/ der-freitag/ich-bin-nicht-mehr-abhangig-von-meinungen-anderer (Zugriff am 15.06.2015). Hagestedt, Lutz (2007): »Das Tagebuch«, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 174-178. Heckmann-Janz, Kirsten (2009): »Mauer-Fälle (5) Christa Wolf, Schriftstellerin«, in: Hr2-Sendung am 02.10.09. Manuskript verfügbar unter: http://www.hronline.de/website/specials/mauerfall/download.jsp?key=standard_document_38 094926&row=3&rubrik=47788 (Zugriff am 15.06.2015). Hilzinger, Sonja (1991): »›Avantgarde ohne Hinterland‹. Zur Wiederaufnahme des Romantischen in Prosa und Essayistik der DDR«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur in der DDR. Rückblicke, München: Edition Text + Kritik, S. 93-100. Simon, Jana (2013): Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf, Berlin: Ullstein. Wolf, Christa (1986a): »Tagebuch – Arbeitsmittel und Gedächtnis«, in: dies., Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985. Bd. 1, Berlin/Weimar: Aufbau Verlag, S. 13-27. Dies. (1986b): »Lesen und Schreiben«, in: dies., Die Dimension des Autors. Bd. 2, S. 7-47. Dies. (1986c): »Der Schatten eines Traumes«, in: dies., Die Dimension des Autors. Bd. 2, S. 55-115.

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Dies. (1991): »Diskussionsbeitrag beim 11. Plenum des ZK der SED« in, Kahlschlag, Das 11. Plenum des ZK der SED 1965, Berlin: Aufbau, S. 334-344. Dies. (2013): Ein Tag im Jahr, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Kontinuität im Denken trotz Wandel in der Politik – Gesellschaftlicher MitspracheAnspruch am Beispiel Volker Brauns H ANNAH S CHEPERS »Das hatte diese Gesellschaft doch vermocht, das Hinnehmen, Dulden, Einrichten ins Unannehmbare aufzukündigen. Es ist ein Kapitel, dem andere folgen, aber zu dem man zurückblättern wird.« (BRAUN 2011)

Mit diesen Worten blickt der Autor Volker Braun 2011 auf seine Vergangenheit zurück. Braun, 1939 geboren, lebte und schrieb bis 1990 in der DDR und gehört zu jenen Intellektuellen, die mit ihrer Literatur die Gesellschaft politisch mitgestalten wollen. Seit dem Beginn seiner schriftstellerischen Karriere in den 1960er Jahren beschäftigt Braun das Ungleichgewicht zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, zwischen oben und unten in der Gesellschaft. Er fasst seine Literatur als Mittel der politischen Meinungsäußerung auf und versucht mir ihr das Zusammenleben in der DDR und später in der Bundesrepublik zu verändern. Sein Ziel vor 1990 war es, den Menschen in der DDR Mitspracherechte und Partizipationsmöglichkeiten zu gewähren und den alleinigen Machtanspruch der SED zu verringern. Trotz seiner kritischen Haltung bleibt er der DDR bis zur Wiedervereinigung jedoch treu, eine Ausreise in die Bundesrepublik stellt für ihn nie eine Option dar. Er glaubt an den Sozialismus als Regierungsform und ist überzeugt, die DDR reformieren zu können. Sein Handeln gründet auf einem festen Wertefundament, das auf Gerechtigkeit und Solidarität aufbaut. An Beidem mangelt es seiner Wahrnehmung nach in der DDR, weil die SED mit ihrem Herrschaftsanspruch die Freiheitsrechte der Menschen zu sehr einschränkt. Sein Schwanken zwischen Widerstand

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und Glaube an den Sozialismus, zwischen Kritik an der SED und Loyalität gegenüber der Regierung verhindert klare Stellungnahmen. Braun befindet sich stets in einem Schwebezustand, der sein Handeln auch für die SED unberechenbar macht. Sie beobachtet sein Schreiben mit Misstrauen und bedenkt seine Werke oft mit Zensur und Verboten. In der Bevölkerung der DDR und im Ausland findet seine Literatur dagegen eine breite Leserschaft. Die Menschen fühlen sich von Braun verstanden und lesen aus seinen Büchern ihren eigenen Ärger über die Zustände in der DDR heraus, den sie offen und öffentlich in der DDR nicht aussprechen dürfen. Braun wird zu einem renommierten und grenzüberschreitend bekannten Autor. Diese Position ändert sich im Zuge der Wiedervereinigung. Das Leben in der DDR ist nicht auszulöschen, das Dasein in der Bundesrepublik verlangt jedoch einen radikalen Perspektivwechsel. Mit den Umbrüchen im gesellschaftlichen System verschiebt sich der Stellenwert von Literatur aus der DDR. (Vgl. Schröter 2003: 94) Während Braun unverändert an seinem Verfahren, durch Literatur politisch wirken zu wollen, festhält, ändert sich die Welt um ihn herum. Weder die Themen noch die Art seines Schreibens können in den 1990er Jahre eine große Leserschaft packen. (Vgl. Lammert 2000: 79) Innerhalb kurzer Zeit erleben Autoren wie Braun einen Bedeutungsverlust. Galten ihre Werke zuvor als Ersatzöffentlichkeit in einer Gesellschaft ohne Meinungsfreiheit und sie selber als Persönlichkeit, deren Stimme Gehör geschenkt wurde, lenken die Menschen nun ihre Blicke auf das Neue aus dem Westen. Sie benötigen die Literatur nicht mehr als Rückzugsraum und die Worte der Autoren nicht mehr als Ermutigung.

E NTTÄUSCHUNG E NTWICKLUNG

ÜBER DIE GESELLSCHAFTLICHE

Aus Sicht Brauns fokussieren sich die Menschen zu stark auf materielle Faktoren und verabschieden sich zu schnell von ihrer politischen Partizipationsbereitschaft. Diese Entwicklung enttäuscht Braun, weil er in den 1980er Jahren große Hoffnungen in die aufkommende Bürgerbewegung und das Engagement der Menschen setzte. Noch am 11. November 1989 schrieb er im NEUEN DEUTSCHLAND: »Das Eis/Der Strukturen bricht, und es hebt den Nacken neugierig/Der Unterdrückte.« (Braun 1990b: 252) Jetzt ärgert er sich über das scheinbare Desinteresse vieler Menschen an einer politischen Mitgestaltung der neuen Gesellschaft. Besonders deutlich kommt seine Gefühlslage in dem Gedicht DAS EIGENTUM (1990) zum Ausdruck: »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.

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Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.« (Braun 1993b: 52)

Mit der Zeile »Dem Winter folgt der Sommer der Begierde« prangert Braun die hohe Bedeutung des Materiellen an, das die Gesellschaft dominiert. Das Streben nach Konsum führt zu Egoismus der Einzelnen, der dem sozialen Zusammenhalt schadet. (Vgl. Braun 2006: 7) Die Solidarität zwischen den Menschen, die für Braun so wichtig ist, schwindet. Braun, der Gemeinwohlorientierung und Gemeinschaftsdenken für essentiell für das Funktionieren der Gesellschaft hält, sieht diese Entwicklung mit Sorge. (Vgl. Rosenlöcher 1999: 152) So fühlt sich das lyrische Ich im Gedicht »Mein Eigentum« nicht in der Lage, weiterhin »mein Land« zu sagen und versetzt ihm stattdessen »den Tritt«. Braun spricht hier für sich selber und impliziert, sich bewusst von der gesellschaftlichen Entwicklung distanzieren zu müssen. Gleichzeitig formuliert er die Hoffnung, doch wieder den Anschluss zu finden und Teil der Entwicklung zum Neuen zu werden: »Wann sag ich wieder mein und meine alle«, schreibt er. Vor diesem Hintergrund ist Brauns eingangs zitierte Äußerung zu verstehen. Sie formuliert eine deutlich kritische Haltung gegenüber der Gegenwart. Gleichzeitig betont sie Brauns eigene Position, die er in der Gesellschaft der DDR hatte. Seine Worte lassen ahnen, dass Braun sich als kritischer Impulsgeber in der DDR gesehen hat. Sein Wunsch ist es, weiterhin eine solche Rolle einzunehmen.

T HEMATISCHE K ONTINUITÄT Brauns Werke nach 1990 kreisen daher ebenfalls um das Thema Arbeit und die Frage, wie größere Gerechtigkeit und Solidarität in der gesamtdeutschen Gesellschaft zu erzeugen sei. Seine komplizierte und verklausulierte Schreibweise, die in der DDR ein geschicktes Instrument zur gleichzeitigen Umgehung der Zensur und zur Anregung einer intensiven Beschäftigung mit seinen Schriften war, findet im Literaturkanon der Bundesrepublik keinen so großen Resonanzraum wie zuvor. (Vgl. Ebd.) Er betont weiterhin seine universellen Forderungen nach Gerechtigkeit und Solidarität. Im Rahmen seiner Heidelberger Poetik-Dozentur 1996 formuliert

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Braun: »Je universeller ein Text, umso besser, je tagespolitischer, umso eher wird er verschwinden.« (Welzel 1998: 104) In ihrem Kern haben seine Äußerungen nach 1989 Relevanz und Berechtigung. Die verminderte Aufmerksamkeit belegt deshalb, dass Leser in der Bundesrepublik vor 1990 die besondere politische Situation der DDR in ihre Literaturkritik einfließen ließen. Solange die DDR existierte, hatte Brauns Anliegen Berechtigung und galt als Oppositionsmittel gegen die DDR. Ohne die Folie der Diktatur im Hintergrund sind die Themen nicht mehr prägnant genug, um Brauns Texte literarisch aufzuwerten. Er selber kann dies nicht nachvollziehen. Klaus Welzel berichtet über Brauns Verärgerung, »dass er heute im Westen auf eine ablehnende Haltung stoße, und das bei Texten, die er so oder ähnlich zu DDR-Zeiten noch als Systemkritik unter Beifall der gleichen West-Rezipienten formulierte.« (Ebd.: 103) Braun gelingt es nicht, zu vermitteln, dass er sich für allgemeingültige Rechte einsetzt und sein Ringen um Gerechtigkeit und Solidarität über den politischen Systemen steht. Diese Entwicklung zeigt die Wechselhaftigkeit zwischen Politik und Literatur und die besondere Rolle, die Literatur in der DDR spielte. In der Bundesrepublik befindet Braun sich in den 1990er Jahren dagegen als Autor unter Autoren, deren Bücher unter literarischen Gesichtspunkten wahrgenommen werden und miteinander konkurrieren. Auf der anderen Seite steuern Rezensenten und Literaturkenner das Leseverhalten, da sie Brauns Werke in Kontext zu seiner Vergangenheit setzen. Sie präsentieren Braun in Rezensionen oft als Autor der DDR und verhindern alleine deswegen einen vorbehaltlosen Blick auf seine Werke. Die Öffentlichkeit erschwert Braun auf diese Weise ein Ankommen im wiedervereinigten Deutschland, indem sie zwar Anpassungsleistungen an das gesellschaftliche Gefüge der Bundesrepublik und ein Loslassen der Vergangenheit erwartet, selber jedoch immer wieder an Brauns Herkunft aus der DDR erinnert. Braun stört diese vorgeprägte Sichtweise. Friedrich Dieckmann erzählt: »Volker Braun hat sich rechtens darüber empört, als eine große westdeutsche Zeitung ihn viele Jahre nach der Vereinigung einen ›ostdeutschen Schriftsteller‹ nannte; er sei schließlich ein deutscher Dichter.« (Dieckmann 2001: 690)

Dieser Bericht aus dem Jahr 2001 zeigt Brauns Dilemma, sich von der breiten Öffentlichkeit unverstanden zu fühlen. Es gelingt ihm nicht, gesamtgesellschaftlich seine Thesen zu vermitteln, die Diskrepanz zwischen den eigenen Ansprüchen an seine Literatur und der Wahrnehmung seiner Leser bleibt. Nach der Wiedervereinigung kommt es zu der paradoxen Situation, dass Braun trotz größerer Freiheiten in der Demokratie teils eine geringere öffentliche Resonanz und Reichweite als im diktatorischen System der DDR mit ihren Zensurmaßnahmen erfährt. Der Blick auf ihn ist zu verengt und auf seinen Lebensweg fokussiert, als dass sich seine Texte in den literarischen Mainstream der Bundesrepublik einreihen lie-

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ßen. Braun wird ungewollt zum Nischenautor, was ihn nicht hindert, sondern eher dazu ermutigt, seine Linie unermüdlich zu verfolgen. In der Tendenz bleibt er bei seiner Grundkonstellation zwischen oben und unten. Ihre Darstellung wird jedoch radikaler und kompromissloser. Sicher ist Brauns Entwicklung zum Teil seinem eigenen Verhalten geschuldet. Es ist jedoch zu fragen, ob nicht zu geringes Verständnis in den 1990er Jahren mit zu dieser Haltung führt. Hätte die öffentliche Meinung Schriftsteller wie Braun Anfang der 1990er Jahre nicht so massiv angegriffen, ihnen Anhängerschaft an das SED-Regime vorgeworfen und den Blick von ihrer Vergangenheit gelöst, eine derartige Radikalisierung Brauns hätte vielleicht verhindert werden können.

W AHRNEHMUNG DER EIGENEN P OSITION So jedoch kommt zu seiner Enttäuschung über die politische Entwicklung die Enttäuschung über das Verhalten in der breiten Öffentlichkeit gegenüber Autoren aus der DDR. Er hat das Gefühl, weiter für seine Texte kämpfen zu müssen und urteilt: »Psychologisch hat sich die Situation der Schreibenden nicht so sehr geändert.«1 Diese Empfindung formuliert er deutlich in seinem Text DER WESTSTRAND (1992). Der Text ist paradigmatisch für Brauns Umgang mit der neuen Situation und seine Verarbeitungsstrategie. Wie zu Zeiten der DDR sucht er Halt, indem er sich in seinen Werken an Vertraute wendet.2 DER WESTSTRAND kann so an Christa Wolf adressiert gelesen werden,3 die Anfang der 1990er Jahre, während eines Amerika-

1

Äußerung im Rahmen der Heidelberger Poetik-Dozentur 1996; zitiert nach: Welzel 1998: 100.

2

Der Kontakt und Austausch mit Gleichgesinnten aus dem intellektuellen Kontext spielt für Braun stets eine wichtige Rolle und gibt ihm Rückhalt. In den 1960er Jahre gehört er zu einer Gruppe junger Dichter, die sich unter dem Namen »Sächsische Dichterschule« formieren und in ihrer Lyrik den Machtanspruch der SED kritisch kommentieren (Vgl. Endler 1978: 72, Engler 2000: 163.) Später hat Braun enge Verbindungen zu ausgewählten Intellektuellen, neben Christa und Gerhard Wolf unter anderem zu Jürgen Teller (Braun 2001: 26f.). Die Bezugspersonen, die in einer ähnlichen Situation wie er lebten, waren in der DDR wichtig, weil Braun ihnen gegenüber offen seine Gedanken aussprechen konnte. Gegenüber der Öffentlichkeit äußerte er aus Selbstschutz vor Zensur und Repressionen seine Meinung nicht. (Vgl. Braun 2009b: 68).

3

Im Text DER WESTSTRAND ist von einem Muschelessen die Rede. Braun erzählt an anderer Stelle, dass er in den 1990er Jahren öfter mit Wolfs und Alain Lance Muscheln gegessen hat (vgl. Braun 2007b: 132) und verfasst diesbezüglich auch ein Gedicht: »[...] In meiner Küche brichst die eingereisten/[...] Austern auf, [...] Und die Wolfs, an nichts

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Aufenthaltes, in Deutschland mit scharfen Vorwürfen bezüglich ihrer angeblichen Staatskonformität zu Zeiten der DDR überzogen wird.4 Im Text heißt es: »Heiteres Grau: der Atlantikhimmel,/eine Wolkenbank/Auf der dein Blick ruht, »zurückgelehnt«/In den Zusammenhang/ [...] Das Mündungsfeuer/Der Morgenzeitung/Das du inhalierst [...] Das Minenfeld/ Deiner Kompromisse/Geht langsam hoch. Passé/Politisches Tier/Vergiß die Witterung des Ziels./ [...] Aber du hältst dich/Fest,/ [...] bedenkenloses Beharren/Auf deiner Meinung ... uralte Revolte/Zärtlichkeit. [...] Wir/Das Drüben konnte uns wenig kümmern/Dasselbe (bestenfalls) in Grün/Von unserer Insel Utopia/(Gemeinbesitz!/ Geld: spielt keine Rolle, Arbeit für alle)/Vertrieben, aus Mangel an Fantasie, [...] Das Problem/Heraustreiben und stehenlassen/Wie eine Tote/in deiner Biografie.« (Braun 2010: 146f.)

Im Laufe des Textes ist neben der direkten Ansprache an ein »Du« von »ich« und »wir« die Rede, Braun bezieht die eigene Situation mit ein. Er klingt resigniert und fordert Wolf und sich selber auf, trotz allem standhaft zu bleiben. 5 Die öffentliche Kritik, der Wolf im Zuge des Literaturstreites ausgesetzt ist, verstärkt die Solidaritätshaltung Brauns mit Wolf. Er appelliert, die eigene Lebensleistung nicht in Frage zu stellen und sich des Wertes der literarischen Werke bewusst zu werden: »So traurig es ist, sich mit der schwachen Figur konfrontiert zu sehen, die man einmal gemacht hat: Du hast dann in beispielhafter Weise Kraft gewonnen; [...]; und dass das Andere wieder ein neuer Widerspruch war (wie Fühmann es uns sagte), ist noch ganz unser Problem. Wir haben Dich eben darum gern, dass du es vermochtest, Dich frei zu machen, in den großen, sinnlichen Erzählungen über unser Verhängnis. Sie sind eine Bleibe, aus der Du rückhaltlos sprechen kannst, und Du tust es zu unserer Erleichterung.« (Vinke 1993: 315)

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mehr/Denken die da als ans Fressen, was sie/Wie alles, gründlich tun. Das sind noch Menschen.« (Braun 2007a: 132.). 4

Christa Wolfs 1990 veröffentlichte Erzählung WAS BLEIBT führte zu einer Diskussion über die Autoren der DDR. Vor allem der Zeitpunkt der 1979 geschriebenen Erzählung sorgte für Aufregung. Kritiker interpretieren die Publikation als Versuch, die eigene Vergangenheit schön zu reden. (Vgl. Emmerich 2000: 465) Die Debatte bezieht danach auch den angeblichen Loyalitätskonflikt der kritischen Schriftsteller zwischen Anpassung und Widerstand mit ein. (Vgl. Anz 1995: 165).

5

Im Text heißt es: »Sie schlürfen die Muscheln/Eine Nacht nach der andern/Betäubt mit Zitronen/Und ich hoffte wieder, mich der Dinge/Die mich treffen/Ein Erwählter/Würdig zu zeigen./[...] Sechzigmal der Wechsel der Jahreszeiten/Dreimal der Wechsel der Zeitalter/Darunter machst du es nicht;/nimm/Die Dinge, wie sie nicht länger sind/Mit kalter Achtung: kein Passant.../en passant.« (Braun 2010: 150f.).

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Volker und Anne Braun an Christa Wolf, 25.2.1993.

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Wolf erwidert diese Verbundenheit in einem Antwortbrief. Sie bezieht Brauns Gedicht DAS EIGENTUM mit ein und greift Brauns Überlegungen über die neue Situation nach der Wiedervereinigung auf: »Aber/wie oft und wann/ war Hoffnung Selbstbetrug/DIE HOFFNUNG LAG IM WEG WIE EINE FALLE/und warum konnten wir uns/so schwer aus ihr befrein/Warum und wie lange haben wir/die erdichteten Fragen des lesenden Arbeiters/dem nichtlesenden Arbeiter/in den Mund gelegt/Anders gefragt/Wer baute das baukastenförmige Hoyerswerda [...].« (Wolf 1994: 266f.)

Aus der Haltung von Braun und Wolf lassen sich Zweifel und Fragen zur eigenen Rolle in der DDR herauslesen. Ihre Äußerungen lassen erkennen, dass es ihnen keineswegs leicht fällt, mit der neuen gesellschaftlichen Situation angemessen umzugehen. Sie wollen nach vorne schauen, können ihre Vergangenheit jedoch nicht vergessen und suchen gemeinsame Formen des Umgangs mit der Gegenwart. Deshalb greifen sie die damit verbundenen Problematiken immer wieder in ihren Texten auf, indem sie ihre ähnliche Situation betonen. 1999 schreibt Wolf anlässlich Brauns sechzigstem Geburtstag: »[...] was ich am liebsten täte [...]: die Spur nachzeichnen, die Volker Braun mit seinen Texten wie kein Zweiter, behaupte ich, in den letzten zehn Jahren in seinen, unseren Lebenslauf eingeritzt, eingegraben hat, sich selbst und uns REDE UND ANTWORT stehend ÜBER DIE ROLLE, DIE JEDER VON UNS SPIELTE; SEIT WIR UNS TRENNTEN IN DEM GROSSEN BOGEN ZEIT, auf den der Autor gespannt war, von den frühen siebziger Jahren:« (Wolf 2001: 657)

2009 schreibt Braun anlässlich Wolfs achtzigstem Geburtstag: »Zu den Vorschlägen zur Güte, die uns kummergewohnten Leuten nach der deutschen Vereinigung gemacht wurden, gehörte der, unsere Biografien für nichtig zu achten. Man rezensierte sie als das verpasste Leben. [...] Sie konnte mich fragen, es war 1980: erwartest du dir noch etwas von dieser Gesellschaft? oder war es im Jahr 2000. Es sind und waren die banalsten und die verbotensten Dinge, die wir uns vorsetzten. Gehen oder bleiben? Aber wohin?« (Braun 2009a: 14f.)

Während Braun im persönlichen Kontakt mit Christa Wolf offene Worte findet, flüchtet er sich in öffentlichen Äußerungen in die Ironie, um sich nicht angreifbar zu machen. In seinem 1995 erschienenen Text DER WENDEHALS schreibt er:

278 | HANNAH SCHEPERS »Wie gut, daß ich keine Bücher schreibe; diese dicken ausgedachten Erzählungen über real existierende Zustände, von denen man weiß, was davon zu halten ist, nichts, unhaltbare Verhältnisse! Jetzt liest sie keiner mehr.« (Braun 1995: 7)

Durch die Zeilen klingt die bittere Empfindung, von der Partizipation an der gesellschaftlichen Entwicklung abgeschnitten zu werden. Es zeigt sich, wie sehr Braun seine Texte zu Zeiten der DDR als Mittel zur politischen Einflussnahme wahrgenommen hat. Nun sieht er sich nicht mehr als Teil des Geschehens, sondern auf die Zuschauerseite verbannt. 1992 schreibt er: »Wir waren/werden Zuschauer; bei der Abwicklung des Volkseigentums [...] spielen wir diese unsere Rolle, im Sinne der Veranstalter, bravourös.« (Braun 1993a: 145f.) Braun ist jedoch nicht gewillt, sich mit einer solchen Rollenverteilung zufrieden zu geben, sondern möchte unter den gewandelten politischen Bedingungen weiterhin als Schriftsteller die Gesellschaft mitgestalten. Welzel dokumentiert Brauns Haltung, er sehe »sich nach wie vor als schreibendes Korrektiv, das sich kreativ an der herrschenden Schicht reibe [...].« (Welzel 1998: 103) Er trauert der DDR nicht nach und möchte sie nicht wiederbeleben, sondern sucht Lösungen für eine Verbesserung des gegenwärtigen Systems. »Laßt uns eine andere Gangart wählen als die der Räuber, die wir waren. Eine Gangart, mit der wir zu anderen Zielen kommen, zu sanfteren Technologien, zu einem milderen Markt. Der horizontalen Gesellschaft kann eine soziale Produktion entsprechen, die Erfindungen anderer Art braucht als die der erbarmungslosen Konkurrenz.« (Braun 1998d: 25)

Deshalb ist es ihm möglich, an den gleichen Grundmotiven seines Schreibens festzuhalten, sie jedoch auf die aktuelle gegenwärtige Situation zu projizieren. Braun thematisiert weiter die Rolle und soziale Lage der Beschäftigten und das Ungleichgewicht zwischen oben und unten. Er bleibt kritisch wie zu Zeiten der DDR (vgl. Barck/Mühlberg 2005: 187), spiegelt am Thema Arbeit aber nun nicht mehr die Missstände in der DDR, sondern in der Bundesrepublik. Arbeit beurteilt er wie zu Zeiten der DDR als entscheidenden Prägefaktor im Leben der Einzelnen. Ein Stück weit schwingt untergründig oft die Vergangenheit mit, die er aber nicht zum Sehnsuchtsort hochstilisiert, sondern genauso problembehaftet wie die Gegenwart beurteilt. Beispielsweise nimmt er in seinem Text DIE LEUTE VON HOYWOY (2) ein Bild aus DDR-Zeiten wieder auf und stellt es in einen Kontext zur aktuellen Situation. Er kehrt literarisch nach Hoyerswerda zurück, der Kombinatsstadt, die er bereits mehrmals in Gedichten verarbeitet und an der er den Wandel im Denken und Leben der Menschen dargestellt hat. (Vgl. Braun 1992: 78f., Braun 1998b: 52f.) Nun, Anfang der 1990er Jahre, beobachtet er weitere Verschärfungen in der Stadt. In seinem Text beschreibt er, wie die Bewohner, mit Arbeitsgeräten und fremdenfeindlichen Parolen ausgestattet, Ausländer aus der Stadt vertreiben wollen. (Vgl. Braun 1998a: 65f.) Die Bewohner stattet er abwertend mit »haßkalten

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Fressen von Jünglingen« und »satten Gesichtern Erwachsener« aus. (Ebd.) Diese Menschen hätten sich bedingungslos mit ihrer Situation abgefunden, seien auf sich fokussiert und nicht geneigt, Neues oder andere Meinungen zu akzeptieren. Allerdings gibt Braun zu verstehen, dass dieser Zustand zum Teil durch die äußeren Zustände entstanden sei, sodass die Menschen nicht allein für die Situation verantwortlich seien. Während Braun sich zu Anfang des Textes durch seine Wortwahl deutlich von den heutigen Bewohnern distanziert, schwächt er diesen Abstand im Laufe der Zeilen ab, der letzte Satz lautet: »Ich gehörte noch zu ihnen.« (Ebd.) Ihre Fremdenfeindlichkeit entschuldigt er jedoch nicht, sie verurteilt er deutlich und scharf.

K RITIK AN G EWINNSTREBEN UND O RIENTIERUNG

ÖKONOMISCHER

Seine Solidaritätsbekundung mit der Situation der Menschen zeigt, dass Braun sich weiterhin für die Bedürfnisse der Individuen einsetzt. Ihre Situation ist nach Brauns Sicht auch in der demokratischen Gesellschaft noch nicht beim Idealzustand angekommen. Nun richtet sich seine Kritik nicht nur gegen die Politik, sondern im zunehmenden Maße gegen wirtschaftliche Vertreter. Sie erkennen Beschäftigte und Angestellte nicht als Individuen an, sondern blicken einzig auf ihre Gewinne: »Die Gestalt der Gesellschaft, die in der Menge aufschien, zerfließt im ungewissen Licht der Fabriken. Dem Augenblick ungemeiner Freude folgte die gemeine Scham und der erlebten Souveränität der Kundgebungen die erlebte Demütigung des Begrüßungsgelds.« (Braun 1990a: 6)

Die Menschen werden auf eine andere Art und Weise unterdrückt. An die Stelle der SED zu Zeiten der DDR tritt mit den westlichen Wirtschaftskonzernen eine neue »Instanz«, wie er in seinem Text DER WENDEHALS formuliert.7 Diese ökonomische Fokussierung führt zu neuen Missständen: »Es war das Publikum, das ein Jahr zuvor in angespanntem Schweigen verharrte bei Sätzen wie: ›Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.‹ – Und das ist zum

7

»Wo ist sie, fragt Schaber. Wo ist die Instanz? […] Ich marschiere […] hinauf bis auf die Gertraudenbrücke und blicke nach Westen. PEPSI-COLA FOR THE NEW GENERATION. MORGENPOST. […] Das ist sie. ER Wie denn, dieser Überfluß? O ja, rufe ich, das ist die Instanz. Wähle aus.« (Braun 1995: 62f.).

280 | HANNAH SCHEPERS Problem geworden, nachdem uns die Selbstbefreiung von Bankern und Lenkern aus der Hand genommen wurde.« (Braun 1998c: 85f.)

In seiner Einschätzung unterscheidet Braun nicht zwischen der Situation der Menschen in den alten und den neuen Bundesländern. Alle werden mit der Dominanz der materiellen Interessen konfrontiert. (Vgl. Ebd.) Belastungen wie Arbeitslosigkeit hemmen die Persönlichkeitsentfaltung: »[...] Auf dem Theater des Wilden Ostens funktioniert wieder der Gute Mensch der Obdachlosen, [...], ein Indiz, daß wir in alter Geschichte sind. [...] Jedenfalls aber wieder in gemeinsamer Geschichte, Landsleute: erhabenes (gemischtes) Gefühl.« (Ebd.)

Indem Braun die Menschen in den alten und neuen Bundesländern in seine Überlegungen mit einbezieht, verdeutlicht er die Gegenwartsbezogenheit seines Denkens. Er wünscht sich Lösungen für die aktuelle Situation aller Menschen in Deutschland und hat nicht die Vergleichsfolie der Gesellschaft in der DDR im Blick.

B OTSCHAFT

DER NEUESTEN

W ERKE B RAUNS

In seinen jüngsten Veröffentlichungen fokussiert er deshalb verstärkt die Situation von Menschen, denen durch Arbeitslosigkeit ihre Lebensgrundlage entzogen wird. In dem 2008 erschienenen Text MACHWERK ODER DAS SCHICHTBUCH DES FLICK VON LAUCHHAMMER steht der Bergmann Flick im Mittelpunkt, der seine Beschäftigung verloren hat und die Erwerbslosigkeit nicht akzeptieren kann. Immer wieder besucht er das Arbeitsamt und erhält neue kurzfristige Aushilfsstellen. (Vgl. Kaufmann 2009: 292) Der Text zeigt das Ringen um gesellschaftliche Anerkennung und individuelle Wertschätzung, die stark vom Faktor Arbeit abhängen. »Die Arbeit ... ist ein Wert [...], wenn du ihn schmeckst,« (Braun 2008: 57) sagt Flick. Ökonomische Interessen verdrängen in der Wahrnehmung Brauns die persönlichen Anliegen der Menschen: »Jetzt wissen wir, es wird nicht besser, nur anders, um den Preis des sozialen Standards; und aus der Epoche des Mangels sind wir ins Stadium des Wuchers gelangt, und die Erhöhung der Lebensmühe scheint die allgemeine Losung der Parteien zu sein.« (Braun 2009a: 16)

Innerhalb des Textes schaltet sich wiederholt der Erzähler in den Gang der Handlung ein und weist auf die für Autoren ebenfalls unbefriedigende gesellschaftliche Situation hin:

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»Es ist ja ein Faulenzerkapitel; und ich werde das Schreiben jetzt nicht in Arbeit ausarten sondern, ohne mich zu erheben, an meinem Tisch, über die Leute! die Beteiligten selber reden lassen.« (Braun 2008: 133)

Die gleiche Schreibstrategie wendet Braun in seinem HINZE-KUNZE-ROMAN in den 1980er Jahren an. Die Kontinuität im Schreiben deutet an, dass Braun damals wie heute zwar gesellschaftlich wirken möchte, es aber nicht immer im notwendigen Maße kann. Während der Erzähler im HINZE-KUNZE-ROMAN mit der Zensur kämpft, ringt er im »Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer« mit Ignoranz und Missachtung eines gesellschaftlichen Miteinanders. Texte dieser Art treffen bei Menschen in den neuen Bundesländern auf viel Zuspruch. Sie sehen oft ihre eigene Situation, die sie mit Arbeitslosigkeit oder dem Strukturwandel konfrontiert, gespiegelt.8 Auch intellektuell Gebildete und Kenner der Literatur schätzen seine Werke. Sein Schreiben wird unter Spezialisten der Literaturszene anerkannt, wie die Verleihung von Auszeichnungen und Preisen zeigt. 9 Allerdings benötigen seine Texte Leser, die sich auf die Werke einlassen. Brauns Bücher sind nicht leicht zu interpretieren und enthalten zahlreiche Querverweise zu politischen und historischen Ereignissen, die ohne Vorwissen schwer zu verstehen sind.10 Deshalb finden seine Veröffentlichungen in der breiten Öffentlichkeit geringere Resonanz. Volker Braun bewahrt sich damit seine Grundhaltung, der eigenen Position gegenüber treu zu bleiben. Er lässt sich nicht vom gesellschaftlichen Mainstream mitreißen, sondern legt seine eigenen Kategorien als Standard an. Er fordert seine Leser heraus und erwartet ihr Mitdenken. Auch in der Gesellschaft der Bundesrepublik kann er nicht hinnehmen und dulden, was ihm gesellschaftliche Faktoren vorgeben wollen. Braun bleibt der Autor mit politischem Mitgestaltungsanspruch, der er in der DDR war und setzt sein Schreiben bewusst mit der gleichen Haltung fort. Er verfolgt weiterhin das Ziel, eine Gesellschaft auf Basis von Gerechtigkeit und Solidarität aufzubauen – nun in der Bundesrepublik und nicht in der DDR.

8

Vgl. unter anderem: Der erträumte Widerstand, Volker Braun stellte in Lehnitz seine Nachwende-Erzählung DIE HELLEN HAUFEN vor, Märkische Allgemeine, 1.10.2011; Begegnung mit der Wirklichkeit, Thüringer Allgemeine, 7.12.2011.

9

Unter anderem Georg-Büchner-Preis 2000, Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg 1998, Hans-Erich-Nossack-Preis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft BDI 1998, Dresdner Kunstpreis 2012.

10 Vgl. unter anderem Rezension von Brandt 2011, Overath 2011.

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L ITERATUR Anz, Thomas (1995): »Kampf gegen die Kaste, die Intellektuellen und die deutsche Einheit«, in: ders. (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«, der Literaturstreit im vereinigten Deutschland, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 161-166. Barck, Simone/Mühlberg, Dietrich (2005): »Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR«, in: Hübner, Peter/Kleßmann, Christoph/Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus, ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln u.a.: Böhlau, S. 172-189. Brandt, Sabine (2011): »Abgelebte Weltsichten«, in: FAZ, 1.12.2011 Braun, Volker (1990a): »Das Unersetzliche wird unser Thema bleiben. Eröffnungsansprache auf dem außerordentlichen Schriftstellerkongreß der DDR vom 1. bis 3. März 1990 in Berlin«, in: Neue deutsche Literatur, Nr. 6/1990, S. 5-9. Braun, Volker (1990b): »Die Erfahrung der Freiheit, Neues Deutschland, 11./12.November 1989«, in: Kuberski, Angela (Hg.): Wir treten aus unseren Rollen heraus, Dokumente des Aufbruchs Herbst ´89, Berlin: Zentrum für Theaterdokumentation, S. 252f. Ders. (1992): »Bericht der Erbauer der Stadt Hoywoy«, in: ders.: Texte in zeitlicher Folge, Band 1, Halle: Mitteldeutscher Verlag, S. 77-80. Ders. (1993a): »Adresse an das Cottbuser Theater«, in: ders.: Texte in zeitlicher Folge, Band 10, Halle: Mitteldeutscher Verlag, S. 145f. (veröffentlicht in der Lausitzer Rundschau, 19. Dezember 1992). Ders. (1993b): »Das Eigentum«, in: ders.: Texte in zeitlicher Folge, Band 10, Halle: Mitteldeutscher Verlag, S. 52. Ders. (1995): Der Wendehals. Eine Unterhaltung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1998a): »Die Leute von Hoywoy (2)«, in: ders.: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 65f. Ders. (1998b): »Die Leute von Hoywoy«, in: Hoyerswerdaer Kunstverein e.V. (Hg.): Hoyerswerda – literarische Spiegelungen, Hoyerswerda, S. 52f. Ders. (1998c): »Ist das unser Himmel? Ist das unsere Hölle?«, in: ders.: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 81-87. Ders. (1998d): »Notizen eines Publizisten«, in: ders.: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende, Äußerungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 23-28. Ders. (2001): »Zu Tellers Gedächtnis, 1999«, in: Witt, Hubert (Hg.): Jürgen Teller: Hoffnung und Gefahr, Essays, Aufsätze, Briefe 1954–1999, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 26f. Ders. (2006): »O Chicago! O Widerspruch!«, in: Leeder, Karen/Wizisla, Erdmut (Hg.): ›O Chicago! O Widerspruch!‹, Hundert Gedichte auf Brecht, Berlin: Transit, S. 7.

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Ders. (2007a): »Le Procope«, in: Sinn und Form, Nr. 1/2007, S. 132 Ders. (2007b): »Und wünschte kein Ende dem Umweg, Lobrede auf Alain Lance«, in: Sinn und Form, Nr. 1/2007, S. 129-134. Ders. (2008): Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (2009a): »Die leibhaftige Christa Wolf«, in: Hörnigk, Therese (Hg.): Sich aussetzen – Das Wort ergreifen, Texte und Bilder zum 80. Geburtstag von Christa Wolf, Göttingen: Wallstein, S. 14-16. Ders. (2009b): Werktage I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (2010): »Der Weststrand«, in: Jendryschik, Manfred (Hg.): Volker Braun & Zeitgenossen, Der Kassensturz, Halle: Projekte-Verlag Cornelius, S. 146–154. Ders. (2011): »Ein Schutzengelgeschwader«, Totenrede für die Schriftstellerin Christa Wolf, gehalten am 13. Dezember 2011 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, in: Die Zeit, 15.12.2011. Dieckmann, Friedrich (2001): »Ein deutscher Dichter aus Dresden«, in: Sinn und Form, Nr. 5/2001, S. 683-690. Emmerich, Wolfgang (2000): Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Berlin: Aufbau. Endler, Adolf (1978): »DDR-Lyrik Mitte der Siebziger, Fragment einer Rezension«, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Nr. 7, S. 67–95. Engler, Wolfgang (2000): »Mit barer Münze zahlen. Gestalten des Utopischen in der DDR-Geschichte«, in: Becker, Franziska/Merkel, Ina/Tippach-Schneider, Simone (Hg.): Das Kollektiv bin ich. Utopie und Alltag in der DDR, Köln u.a.: Böhlau, S. 161-164. Kaufmann, Ulrich (2009): »Der Bergmann als Ritter, bitterböse Schwänke in der Tradition von Cervantes«, in: Pergande, Ingrid/Kaufmann, Ulrich (Hg.): »Gegen das GROSSE UMSONST«. Vierzig Jahre mit dem Dichter Volker Braun, Berlin: Frankfurter Allee 45, S. 291-294. Lammert, Norbert (2000): »Überall und nirgendwo zu Hause«, in: Die Politische Meinung, Oktober 2000, S. 79-81. Overath Angelika (2011): »Ein Totentanz«, in: Neue Zürcher Zeitung, 8.12.2011. Rosenlöcher, Thomas (1999): »Der Engel der 11. Feuerbachthese, Laudatio für Volker Braun«, in: Neue deutsche Literatur, Nr. 1/1999, S. 143-153. Schröter, Dirk (2003): Deutschland einig Vaterland. Wende und Wiedervereinigung im Spiegel der zeitgenössischen deutschen Literatur, Leipzig Berlin: Ed. Kirchhof und Franke. Vinke, Hermann (Hrsg.): Akteneinsicht Christa Wolf. Zeitspiegel und Dialog, eine Dokumentation, Hamburg: Luchterhand. Welzel, Klaus (1998): Utopieverlust – die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren, Würzburg: Königshausen und Neumann. Wolf, Christa (1994): Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990 – 1994, Köln: Kiepenheuer und Witsch.

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Dies. (2001): »Plusquamfutur II, Erinnerte Zukunft bei Volker Braun«, in: dies.: Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987 - 2000, München: Luchterhand, S. 656662.

»Eine Zugehörigkeit band mich an die Sache, die ich angriff.« Volker Braun und die Paradoxie des dialektischen Engagements1 M ANUEL M ALDONADO -A LEMÁN

Für sein lyrisches, dramatisches und erzählerisches Werk wurde Volker Braun mit dem Georg-Büchner-Preis 2000 ausgezeichnet. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung würdigte, dass Braun »die Sprache und die Formen« der deutschen Literatur »erneuert und verwandelt hat«, dass er »den Grundkonflikt seiner Epoche, die Spannung von Freiheit und Gleichheit, eigensinnig formuliert und scharfsinnig durchdacht hat«. (Assmann 2001: 170) In seiner Laudatio hob der Publizist Gustav Seibt Brauns »dialektischen Witz« und »satirischen Humor« (Seibt 2001: 132) hervor und bezeichnete ihn als einen Ideenpoet, der »ein Bild seiner Welt geschaffen« hat, »das eindringlicher nicht gedacht werden kann.« (Ebd.: 130) Brauns Werk sei eine »Chronik, die erzählt, was im sozialistischen Deutschland gewollt und ersehnt, aber auch, was real gelebt und gearbeitet wurde. Daß die Historie, die aus dieser Chronik wird, am Ende tragisch wirkt, voller Schuld und Vergeblichkeit, ändert nichts am Erbarmen, dem Witz, der Sinnlichkeit, die diese Texte ihre geschichtliche Umwelt siegreich überleben lassen.« (Ebd.: 130f.) Allerdings wurde Volker Braun auch vorgeworfen, so in der taz, dass er in der DDR nur ein

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Dieser Beitrag ist im Rahmen eines vom spanischen Ministerio de Economía y Competitividad und Fondo Europeo de Desarrollo Regional (FEDER) finanzierten Forschungsprojektes über »Historia y memoria en la narrativa alemana actual« (FFI201237358) und eines von der Junta de Andalucía (Consejería de Economía, Innovación, Ciencia y Empleo) finanzierten Forschungsprojektes über »Entre la historia y la memoria. Discursos sobre el pasado en la narrativa alemana actual« (P12-HUM-2162) entstanden.

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»Vierteldissident« gewesen sei oder, vom westdeutschen Feuilleton nach dem Mauerfall, dass er ein »Ewiggestriger« sei, »der am Ende des Sozialismus leide« (Jucker 2004: 77) oder auch, dass er mit seinem Bleiben in der DDR »zur Legitimierung des Regimes beigetragen« habe (vgl. Howald 2010). Ebenso missbilligte die liberale wissenschaftliche Literaturkritik, dass Brauns Denken und Dichten »keinen Gegendiskurs zur sozialistischen Staatsideologie« darstelle, und dass er »die sozialistische Utopie als Ikone […] vor der Beschädigung durch den Bankrott des Realsozialismus« retten wollte. (Wohlfarth 2005: 17f.) Auf der anderen Seite ist Braun auch als »Büchner unserer Zeit« bezeichnet worden, der »seit Beginn seiner Laufbahn Archäologie der Gegenwart« betreibe und dessen scharfer Blick »ihm stets Kritik von Verteidigern des jeweiligen Status Quo eintrug.« (Jucker 2004: 77) Selbst diese wenigen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich und sogar gegensätzlich Volker Braun im Laufe der Zeit beurteilt worden ist. Unzweifelhaft ist, dass Volker Braun, neben Christa Wolf und Heiner Müller, zu den anerkanntesten Schriftstellern der DDR gehörte. Er war im Osten und im Westen ein viel gelesener Autor. Seine Texte und auch seine Figur erregten große Aufmerksamkeit. Seit 1960 war Volker Braun Mitglied der SED. Gleichwohl galt er in der DDR als staatskritisch. Anfangs drückte sein Werk den Enthusiasmus für den Aufbau des Sozialismus aus. Nach dem »Prager Frühling« nahm Braun jedoch eine zunehmend kritische Haltung gegenüber dem real existierenden Sozialismus ein und wandte sich gegen die Verklärung des Bestehenden und jegliche unkritische Affirmation. Als kritischer DDR-Autor wurde er ständig von der Zensur behindert, doch das Land verließ er nicht. Er gab die Hoffnung auf einen erneuerten, wirklichen Sozialismus nicht auf. Seine Position bewegte sich zwischen Kritik und Loyalität. An den Grundprinzipien eines »wahren Sozialismus« hielt er fest, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in der DDR wurden hingegen immer häufiger von ihm kritisiert und abgelehnt. 1976 gehörte er zu den ersten Mitunterzeichnern des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermanns.2 Dennoch erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, im Jahre 1988 sogar den Nationalpreis erster Klasse der DDR. Im Folgenden wird am Beispiel von Volker Braun die Rolle und die Paradoxie des Engagements des kritischen Schriftsteller-Intellektuellen in der DDR untersucht, der auch – infolge seiner Parteinahme für den Sozialismus, die

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Allerdings distanzierte sich Volker Braun später von der politischen Instrumentalisierung des Protestbriefes, da westliche Medien und Politiker die Gelegenheit nutzten, um »eine Kluft zwischen uns und unserer Partei zu konstruieren.« (Emmerich 2000b: 255) (Vgl. Mittenzwei 2003: 274ff.).

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ihn außerhalb der intellektuellen Tradition stellt – als »literarische Intelligenz« bezeichnet wird.3

1. D AS

DIALEKTISCHE

E NGAGEMENT V OLKER B RAUNS

Volker Brauns ästhetische Haltung lässt sich als ein »dialektisches Engagement« (vgl. Köhler 2002: 473-497) begreifen, das auf die Darlegung von Widersprüchen und ihrer eigentümlichen Bedeutung ausgerichtet ist. Aus Brauns Sicht sind Widersprüche ein integraler Bestandteil der Wirklichkeit, auch der sozialistischen. Gerade in der sozialistischen Gesellschaft bestand ein grundlegender Widerspruch zwischen Führenden und Geführten: »Der aufwühlendste Widerspruch zwischen den Leuten, die in die sozialistischen Revolutionen verwickelt sind«, ist im Sozialismus durch den neuartigen Widerspruch »zwischen den politisch Führenden (die bewußt die Umgestaltung der Gesellschaft organisieren oder bewußt oder unbewußt hemmen) und den Geführten (die bewußt oder unbewußt die Pläne realisieren oder kritisieren).« (Braun 1975b: 19f.) Widersprüche sollen dennoch grundsätzlich nicht als etwas Negatives betrachtet werden, das zugunsten von Harmonie und Einklang abgeschafft werden müsste. In Übereinstimmung mit einer dialektischen Denkweise versteht Braun die Widersprüche als »Triebkräfte der Entwicklung«, wie es in seiner Schrift »Es genügt nicht die einfache Wahrheit« (1975) heißt. Widersprüche sind notwendig und produktiv, da sie die Unzufriedenheit der Menschen mit den bestehenden Verhältnissen hervorrufen und somit die Veränderung und die soziale Entwicklung ermöglichen. »wirklichkeit ist ein widerspruchssystem und bedarf vieler perspektiven der darstellung, wenn sie nicht unter allem wissen bleiben soll« (Braun 1990: 245), betont Braun. Nach Brauns Konzeption bezweckt die ästhetische Gestaltung des Widerspruchs nicht den Umriss eines Ideals, »das Realität andeutet jenseits des Faktischen als einer gestörten und schlechten Realität« (Vormweg 1977: 26), also keineswegs »eine bloße Reproduktion der aus der bürgerlichklassischen Literatur bekannten Spannung zwischen Ideal und Leben oder gar des spätbürgerlichen Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft« (Rohmer 1975: 202). Es geht Braun eigentlich um die Widersprüche in der Gesellschaft, statt zu ihr bzw. zwischen der Gesellschaft und dem einzelnen, »konkret: um die Widersprüche des Sozialismus in den grundlegenden Beziehungen von Arbeit, Liebe und Staat.« (Nemitz 1980: 44) Brauns Anliegen besteht darin, nicht einfach kritisch zu denken, sondern »in den Widersprüchen über das Bestehende« hinaus zu denken (Mix 1993: 225). Seine »Widerspruchskunst« (vgl. Nemitz 1980) soll prinzipiell ein

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Vgl. dazu: Lepsius 1964: 75-91, Emmerich 1993: 5-21, Jäger 2000: 1-25, Mittenzwei 2003: 155ff.

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»praktisches Eingreifen« (Köhler 1996: 9) ermöglichen, das die Veränderung von gesellschaftlichen Faktizitäten und die Etablierung neuer Verhältnisse anstrebt. Deshalb ist seine Ästhetik als eine »Kunst der Entzweiung« und nicht als eine der Versöhnung bezeichnet worden (vgl. Wohlfarth 2005: 2). Obwohl Brauns Ästhetik eng mit der gegenwärtigen Realität und dem Gegebenem verknüpft ist, begreift seine Widerspruchskunst zwangsläufig ein utopisches Moment mit ein. Denn sind Widersprüche als Veränderungspotentiale ein Grundbestandteil der Wirklichkeit, so gehört notwendigerweise »stets auch ein Zukünftiges zum Wirklichen.« (Köhler 1996: 10) Ohne eine zumindest vage Vorstellung einer wie auch immer gearteten zukünftigen Gesellschaft bekommt die Darlegung der gegenwärtigen Widersprüche keinen eigentlichen Sinn. So geht es bei Braun auch um das Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit, um die Verbindung gegenwärtiger Widersprüche mit dem Utopischen. Allerdings ist Brauns Verwendung des UtopieBegriffs uneinheitlich. In der Frühphase grenzt er sich gegen die Utopie ab und verwendet den Begriff bis Ende der siebziger Jahre kaum. In dieser Phase folgt Braun Friedrich Engels These von der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (vgl. Engels 1988) und lehnt das utopische Denken als überholte Geisteshaltung ab. Er sieht hierauf einen unvereinbaren Gegensatz zwischen einer realistischen Ästhetik und der Utopie, die er in dieser Zeit als eine Form des Wirklichkeitsverlustes auffasst. Insbesondere der Lyrik und den Dramen der sechziger Jahre liegt in diesem Zusammenhang eine fortschrittsoptimistische Einstellung zugrunde, die Technologie, Wissenschaft und Wachstum als Basis für den sozialen Progress ansieht. Erst seit Mitte der siebziger Jahre, als der Widerspruch zwischen dem sozialistischen Ideal und der gesellschaftlichen Realität, die Fehlentwicklung und Stagnation der realsozialistischen Gesellschaft und die dogmatische Tendenz der staatlichen Einschränkungen unverkennbar sind,4 macht sich ein Bewusstseinswandel bemerkbar. Braun sucht seinen eigenen Weg zu Marx jenseits der offiziellen Doktrin der Staats- und Parteiführung, und wie vor ihm Ernst Bloch lehnt er nun die Ansicht ab, dass der Marxismus nur eine Wissenschaft, aber keine Utopie sei. Im Sinne Blochs strebt er nach einer Utopie, die »sich auf das Hier und Jetzt einlässt, ohne das Fernziel eines geglückten Sozialismus aus den Augen zu verlieren.«

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Im Herbst des Jahres 1976 kam es in der DDR zu einer Verschärfung der repressiven Maßnahmen von Partei und Staat. Im Oktober wurde Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, und im November wurde Wolf Biermann ausgebürgert. In den folgenden Jahren verstärkten sich die repressiven Maßnahmen gegen kritische Intellektuelle: Druckverbot, Parteistrafe, Hausarrest, Verhaftung, Verbandausschluss u. a. wurden immer wieder angeordnet. Trotzdem »wurden in dieser Zeit auch kritische Texte veröffentlicht sowie Westreisen von Angehörigen der ästhetischen Intelligenz genehmigt.« (Grauert 1995: 24).

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(Berghahn 1996: 151) Als Utopie wird nun die Idee eines »wahren Sozialismus« beibehalten, »als das, was keinen Ort hat, aber doch sein soll.« (Emmerich 2008: 78) Braun äußert dann offene Kritik an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der DDR (vgl. Braun 1979a) und stellt, explizit erst gegen Mitte der achtziger Jahre, das utopische Moment als Vorbedingung einer konsequenten realistischen Haltung heraus (Braun 1991: 231). Durch diesen Perspektivenwechsel, der Brauns Unzufriedenheit mit den realsozialistischen Verhältnissen markiert, gewinnt er innere Freiheit und entdeckt sein literarisches Schaffen als autonome Tätigkeit neu (vgl. Wohlfarth 2005: 4, 29). Er distanziert sich von der herrschenden ästhetischen Doktrin, wendet sich ausdrücklich gegen »Obrigkeitsdenken« und »Untertanengeist« (Braun 1975a: 64) und intensiviert seine kritische Disposition, die zunehmend radikaler wird.

2. H ÖRIGKEIT

VS .

S ELBSTBEFREIUNG

Im Laufe dieses Bewusstseinswandels gerät Volker Braun in eine krisenhafte Situation, die er in dem in Form von Tagebuch-Aufzeichnungen geschriebenen UngarnReisebericht 21., 22. AUGUST 1984 kritisch reflektiert. Auch in seinem 2009 erschienenen Arbeitstagebuch WERKTAGE schildert Braun seine Auseinandersetzung mit dem realsozialistischen Alltag und seine angespannte Lage im Kulturbetrieb (vgl. Braun 2009). Ausgangspunkt seiner Betrachtungen sind die Schwierigkeiten mit der Zensur, die seinen HINZE-KUNZE-ROMAN, der 1980 abgeschlossen und erst 1985 veröffentlicht wurde, und den von 1978 bis 1984 geschriebenen und erst 1987 publizierten Lyrikband LANGSAMER KNIRSCHENDER MORGEN betreffen. Braun fühlt sich als Opfer einer repressiven Kulturpolitik, deren »byzantinischer Ästhetik« (Braun 1988a: 146) es nur um das Lob und die Verklärung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse geht. Infolge seiner Parteimitgliedschaft fühlt er sich unter solchen Umständen innerlich zerrissen und empfindet seine Situation als »unerträglich« (Ebd.). Er gibt dennoch die sozialistische Utopie nicht auf. Das Prekäre seiner Lage und seiner Schriftstellerrolle ist ihm explizit bewusst: »Gedanke zu einem Gedicht: im Inferno besucht mich Dante, in der komfortablen Hölle, die ich loben muß (dazu bin ich verdammt)« (Ebd.: 148), schreibt er in seinem Reisebericht. Braun hat die Befürchtung, dass seine schöpferische Kraft zum Stillstand kommt. Angesichts des schwierigen Loyalitätenkonflikts knüpft Braun an die in Peter Weiss‘ DIE ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS dargelegte Notwendigkeit der Resistenz gegen den Druck der ideologischen Direktiven an und erwägt das von Weiss vertretene Selbstbefreiungskonzept auf die eigene Situation anzuwenden: »Wenn wir uns nicht selbst befreien, hat es für uns keine Folgen.« (Ebd.: 151) Die Lösung seiner widersprüchlichen Lebenslage durch Befreiung aus der Bindung an die Partei sieht

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er nun gedanklich ein. In diesem Zusammenhang hatte er schon 1981 auf die undogmatische Sichtweise des KOMMUNISTISCHEN MANIFESTES von Karl Marx und Friedrich Engels hingewiesen: »Wie das Einzelinteresse nicht in der These, darf es, und erst recht, nicht in der Praxis verschwinden und sich dem allgemeinen Besten aufopfern [...]. Das Gegenteil ist kommunistisches Programm: daß die freie Entwicklung jedes Einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (Braun 1988b: 91) Dennoch wird die gewünschte Selbstbefreiung »durch die Angst vor dem ›Verrat‹« (Grauert 1995: 33) und durch die Überzeugung von der Aussichtslosigkeit direkter Opposition gebremst. »Wandeln – die Haltung ändern, die Art des Lebens. Noch bin ich eingemeindet in die Disziplin, die Hörigkeit. Noch übe ich Rücksicht, um der GEMEINSAMEN SACHE willen, bei der ich an die meine denke.« (Braun 1988a: 150) Seine pragmatische Loyalität zum real existierenden Sozialismus ist also »threatened with becoming decoupled from Braun’s own, idealist loyalty to the communist utopia.« (Grant 1995: 109) So verschiebt Braun schließlich den Bruch mit dem autoritären und repressiven Charakter des realsozialistischen Systems »von der Ebene der direkten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf die Ebene ästhetischer Imagination.« (Grauert 1995: 33) Er gestaltet demnach in seiner literarischen Produktion die programmatisch gewünschte Lösung seines Lebensdilemmas durch Selbstbefreiung und Emanzipation.

3. »K OMM

IN EIN WÄRMERES

L AND «

In den frühachtziger Jahren entwickelt Braun eine neue poetische Konzeption, die Literatur einerseits auf Subjektivität fundiert und ihre Funktion andererseits kritisch-operativ bestimmt. Das Gedicht DAS INNERSTE AFRIKA, das 1982 geschrieben wurde5 und 1987 im Gedichtband LANGSAMER KNIRSCHENDER MORGEN erschien, gilt als präzises Beispiel für Brauns neues literarisches Konzept. Durch die Inszenierung einer mehrfach wiederholten Aufforderung zu einer imaginierten Reise in ein utopisches Land drückt DAS INNERSTE AFRIKA die Hoffnung auf eine ideale Gesellschaft aus – dargestellt in den Verspassagen des Gedichts –, die im Kontrast zu einer negativ konnotierten gesellschaftlichen Wirklich-

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Das Gedicht DAS INNERSTE AFRIKA wurde im selben Jahr geschrieben, als das Stück DIE ÜBERGANGSGESELLSCHAFT entstand. In diesem Stück zeigt Braun »den Zerfall der DDR-Gesellschaft und imaginiert die Alternative eines Traums vom demokratischen Sozialismus, dessen utopische Dimension nur in einer dramatischen Konstruktion beschworen werden kann, die den genrespezifischen Konventionen einer Komödie entspricht – was den utopischen (und illusionären) Charakter dieser Problemlösung in aestheticis markiert.« (Grauert 1995: 17)

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keit – skizziert in den Prosapassagen – steht. Mittels Assoziationen mit dem Mythos des Südens wird in den Anfangszeilen die idyllisch-paradiesische Natur des utopischen Landes hervorgerufen: (vgl. Grauert 1995: 95)6 »Komm in ein wärmeres Land mit Rosenwetter Und grünen laubigen Türen Wo unverkleidete Männer Deine Genossen sind. Dahin! Dahin Möcht ich mit dir, Geliebter Komm« (Braun 1987: 61)7

Wärme, freie Lebensweise und schöne Landschaft sind Charakteristika des utopischen Ziel-Landes. Ein Zitat aus Goethes MIGNON-LIED – »Dahin! Dahin / Möcht ich mit dir, Geliebter« – und die Verbindung des Ausdrucks »Genossen« mit den »unverkleidete[n] Männer[n]« deuten auf die Gleichheit und brüderliche Gesinnung der menschlichen Beziehungen hin. Das skizzierte Utopia wird der in der ersten Prosapassage negativ dargestellten gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich als veränderungsbedürftig erweist, gegenübergestellt. Ihre Merkmale – Eingeschlossensein, Kälte, Stagnation und Unmenschlichkeit (vgl. Grauert 1995: 96) – lassen vermuten, dass es sich um die real existierende sozialistische Gesellschaft handelt: »aus deinem Bau deinem lebenslänglichen Planjahr ewigen Schnee / Wartesaal wo die Geschichte auf den vergilbten Fahrplan starrt die Reisenden ranzig / Truppengelände TRAUERN IST NICHT GESTATTET« (61). So kann das »innerste Afrika«, eine Metapher, die eher auf eine Lebensform als auf ein konkretes Land hinweist (vgl. Schuhmann 1988: 268), »als Bild für einen demokratischen Sozialismus bzw. einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz gelesen werden.« (Grauert 1995: 96) Der Anachronismus, die Stagnation und die Geschlossenheit der realsozialistischen Gesellschaft kontrastieren mit der Offenheit, Vitalität und Dynamik des Meeres, das zwischen dem Ausgangsland und dem Zielland liegt. Das »Meer« als Metapher des Zwischenraums muss überquert werden, um das utopische Land zu erreichen. Die Reise zum Zielland involviert notwendigerweise aber auch eine zeitliche Ebene – »Wenn du gehst, hebt die Zeit ihre Flügel« –, d. h. die Dimension des Geschichts-

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Vgl. auch folgende Kommentare zu »Das innerste Afrika«: Cosentino 1987: 178-180, Heukenkamp 1988: 184–196, Schuhmann 1988: 266-270, Visser 1994: 173ff., Egger 2003: 245-253.

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Seitenangaben fortlaufend im Text.

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prozesses und der gesellschaftlichen Entwicklung, die ebenfalls überschritten werden muss. »Sieh das Meer, das dagegen ist Mit fröhlichen Wellen, und ins Offene geht dahin Dahin führt kein Weg. Wenn du gehst, hebt die Zeit ihre Flügel. Nimm den Pfad gleich links durch die Brust Und überschreite die Grenze.« (62)

Die Reise in das »innerste Afrika« ist zugleich eine Reise ins Innere des Subjekts, eine Grenzüberschreitung im Sinne einer Befreiung der Subjektivität, die ein freies und glückliches Leben in einer regenerierten sozialistischen Gesellschaft ermöglichen soll: »Du mußt die Grenze überschreiten / Mit deinem gültigen Gesicht. / Dein rotes Spanien, dein Libanon« (62). Die geforderte Selbstverwirklichung und das Festhalten am utopischen Denken deuten auf die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einem anderen Leben unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen: »SIEH DAS MEER, DAS DAGEGEN IST. / ERREICHE ES VOR DER RENTE. / DU MUSST DIE GRENZE ÜBERSCHREITEN.« (63). Das Gedicht »Das innerste Afrika«, das eine Gegen-Position zur herrschenden ästhetischen Doktrin literarisch gestaltet, exemplifiziert mithin ein neues literarisches Konzept, das auf die Autonomie und die freie Entfaltung des Emanzipationspotentials des Subjekts zielt.

4. E INE P OETIK

DES

W IDERSTANDS

Im Essay RIMBAUD. EIN PSALM DER AKTUALITÄT, den Braun 1983 verfasste und am 4. Mai 1984 in der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz vortrug, skizziert er das neue poetische Konzept, das in seinen Werken der achtziger Jahre zu erkennen ist. In seinem Essay setzt sich Braun kritisch mit Arthur Rimbauds Œuvre und Leben auseinander und zieht zugleich Parallelen zu seiner eigenen Lage als Schriftsteller in der DDR und zu seiner neuen ästhetischen Konzeption. Rimbauds Leiden am Leben wegen einer schweren Kindheit und seine Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleicht Braun mit dem Bild einer autoritären und politisch erlahmten DDR-Gesellschaft, die die Bürger bevormundet und die freie Entfaltung

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des Individuums und der Subjektivität einschränkt. »Ich stecke im sozialistischen Kies. Provinz, das ist der leere Augenblick. Geschichte auf dem Abstellgleis. Status quo. Was uns ersticken machen kann: aus der bewegten Zeit in eine stehende zu fallen« (Braun 1985: 982), schreibt Braun desillusioniert und ohne Aussicht auf eine positive Entwicklung vor dem Hintergrund der Rückfälle und Stagnation des sozialistischen Aufbauprozesses. Braun bezieht sich auf die repressiven Mechanismen und Strukturen des autoritären Staates mit dem Wort »Panzer« als Inbegriff einer mächtigen Staatsgewalt, die die Meinungsfreiheit unterdrückt. »Aus welcher Tiefe heraus schreibe ich. In der Hülle aber lebe ich. In dem Panzer. Ich lebe in Ungeduld, unfähig, mich ganz hinzugeben. Daher rührt meine Obsession: auszubrechen aus den Zwängen. Aus den Panzern. Aber ich stehe ihnen auch gegenüber.« (Ebd.: 992) Aus der unterdrückten Subjektivität entsteht bei Braun das Gefühl des Aufbegehrens und der Selbstbehauptung, die Empfindung der Selbstbefreiung und der Emanzipation durch die ästhetische Revolte der »Gegensprache« im Sinne Rimbauds (Ebd.), die sich in einer radikalen Skepsis gegenüber dem real existierenden Sozialismus artikuliert. In Rimbauds Briefen an seinen Lehrer Izambard und seinen Freund Demeny entdeckt Braun ein poetisches Programm, das er zunächst als ein Modell für seine eigene literarische Produktion sieht. Durch »Entgrenzung aller Sinne« (Ebd.: 984) macht Rimbaud den Dichter zum Seher des Unsichtbaren (Ebd.: 985), der im Unbekannten ankommt. Ihm wird die Funktion des Entdeckers des Neuen und Verborgenen im Rahmen einer gründlichen Selbsterforschung zugewiesen. Die Methode Rimbauds lautet: »Langdauernde, unerhörte und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. Alle Formen der Liebe und des Leidens, des Wahnsinns; der Dichter durchforsche sich selbst, er schöpfe alle Gifte seines Wesens aus und bewahre nur ihre Quintessenz für sich. […] Er kommt im Unbekannten an, und wenn er schließlich, gestörten Geistes, seine Visionen nicht mehr begreift, so hat er sie doch gesehen!« (Ebd.: 984f.)8

Der Dichter kann die unter der Oberfläche verborgenen, bisher unbekannten Wahrheiten über die Wirklichkeit nur dann erkennen und somit zum Seher des Unsichtbaren werden, wenn er seine verdrängte Subjektivität (selbst)befreit und die sinnlichen Erfahrungen mithilfe der Emotionen, Träume, Impulse, Triebe oder der Vorstellungskraft erarbeitet und poetisch gestaltet. Indem die dichterisch geformten Visionen neue Varianten der Realität entwerfen und antizipieren, birgt die Dichtung ein utopisches Potential in sich und wirkt subversiv. »Der Dichter, der das Ausmaß des erwachten Unbekannten bestimmt und das Ungewöhnliche zum Gewöhnlichen

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Im Original hervorgehoben, d.h. Rimbaud-Zitat.

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macht, wird ein multiplicateur de progrès. Die Dichtung wird die Tat nicht mehr rhythmisieren, besingen, sie wird ihr vorauseilen. Die Gegensprache, sie wird auch Fürsprache sein.« (Ebd.: 985)9 Der Modellcharakter, den Rimbauds Konzeption über die Fundierung der Literatur auf radikale Subjektivität für Brauns eigenes poetisches Programm hat – selbst wenn er die Neigung zum Eskapismus des symbolistischen Dichters ablehnt –, signalisiert nicht nur seinen Bruch mit der »byzantinischen Ästhetik« (Braun 1988a: 146) des Offizialdiskurses, sondern auch einen Wandel seiner Literaturkonzeption. Braun entwickelt nun eine »Poetik des Widerstandes« (Grauert 1995: 80), eine Ästhetik der »Gegensprache« (Braun 1985: 982), eine engagiert-operative Dichtung, die »aus dem Verlust der politischen und zivilisatorischen Illusionen« (Grauert 1995: 81) hervorgeht. »Poesie entsteht im Widerstand und in der Solidarität« (Braun 1985: 996), betont Braun. Indem aber programmatisch die Literatur auf die Subjektivität des Autors fundiert und zugleich ihre Funktion gesellschafts- und zivilisationskritisch bestimmt wird, versucht die neue Konzeption, zwischen Autonomie und Engagement zu vermitteln. Von dem Optimismus früherer Positionen weit entfernt, wie Braun sie vor allem in dem Vortrag POLITIK UND POESIE (1971) ausführte, ergibt sich sein Positionswandel in den achtziger Jahren sowohl aus der Enttäuschung über den Gang des Aufbauprozesses der sozialistischen Gesellschaft als auch aus der Desillusionierung über den Verlauf der technisch-industriellen Zivilisation, der, wie er befürchtet, mit der ökologischen Katastrophe und der Vernichtung der Menschheit enden kann. 10 »Ernüchterung« ist nun für Volker Braun »die Arbeit unserer Literatur. Arbeit gegen die Deckgebirge der Verheißungen, wenn wir uns nicht zu ›Propheten von übermorgen‹ machen wollen«. (Braun 1985: 988) Ausgehend von subjektiver Erfahrung und Selbsterforschung und unter Anwendung einer Strategie der Ernüchterung und der desillusionierenden Darstellung hat die Literatur dann die Aufgabe, realistisch zu sein, Erkenntnisse über die Wirklichkeit und ihre Widersprüche zu vermitteln, sich auf die politische Auseinandersetzung einzulassen und die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Zustände anzustreben (vgl. Grauert 1995: 81f.). Explizit möchte Braun sich als Dichter in die Politik »einmischen« (Braun 1975c: 86). Deshalb steht für ihn die Wirkung der Literatur im Vordergrund. Poe-

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Im Original z. T. hervorgehoben, d. h. Rimbaud-Zitat.

10 Wie Wilftried Grauert behauptet, sei es »festzuhalten, daß die zivilisatorische Desillusionierung, die den möglichen Untergang der Gattung evoziert, seit Ende der siebziger / Anfang der achtziger Jahre unstrittig das bestimmende Moment in Brauns Gegenwartsbewußtsein und seiner Geschichtskonstruktion darstellt.« (Grauert 1995: 81) (Vgl. Jucker 2004: 21-42).

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sie, behauptet er, »ist nicht zu brauchen, wo man die vortrefflichen Verhältnisse nicht ändern will. Nicht die Einsamkeit des Rasierspiegels: das Brennglas der sozialen Erfahrungen. Die Metaphern werden sie nicht beschönigen oder schmücken für den jeweils ›Gegenwärtigen Parnaß‹, sie decken nicht zu: sie klären auf. Die decouvrierende, die sehende Metapher, die Metapher als Auge.« (Braun 1985: 986) Brauns Schaffen greift in die Wirklichkeit ein. Literatur als »Freizeitspaß« (Braun 1988c: 57) lehnt er prinzipiell ab. Braun beschreibt und erklärt nicht einfach die inneren Zusammenhänge der Realität, sondern er regt auch zu aktiver Weltveränderung an. Vom Rezipienten erwartet er eine aktive Teilnahme an der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse, d. h. eine praktische Haltung, die weit über eine bloße kritische Einstellung hinausgeht: »Den Zuschauern eine kritische Haltung – das genügt nicht mehr. Es muß eine praktische sein. Die Zuschauer, und nicht nur im Saal, müssen einbezogen sein – in ein ständiges öffentliches Proben gesellschaftlicher Lösungen« (Braun 1979b: 127), bemerkt Braun im Hinblick auf das Theater. Braun zog die unmittelbare und öffentliche Begegnung mit dem Publikum im Theater der privaten Lektüre vor. (vgl. Rosellini 1983: 20f., von Treskow 1996: 69) Deshalb ist das Drama seine bevorzugte Gattung.11 Aber auch von der Lyrik beansprucht Braun ihren Gebrauchswert und betont, genauso wie beim Drama oder Roman, ihre operative, nicht-affirmative Funktion (vgl. Braun 1975d: 72, von Treskow 1996: 70f.).

5. D IE P ARADOXIE

DES

E NGAGEMENTS

Mit seiner Poetik des Widerstands agiert Braun als der moderne Typus des kritisch intervenierenden Intellektuellen, der mit einem humanistischen Erziehungsauftrag die Wirklichkeit verbessern möchte. Eng verbunden mit universellen Prinzipien wie Menschenrechten, Autonomie, Emanzipation oder Wahrheit zeichnet die kritische Distanz zur politischen Macht das Engagement dieses Intellektuellentypus aus. Als wesentliche Funktion seiner Rolle gilt, »Störfaktor« zu sein (vgl. Schumpeter 1946: 237). In diesem Sinne ist der Intellektuelle »weder Friedensstifter noch Vermittler, sondern jemand, dessen ganzes Wesen auf einer kritischen Geisteshaltung beruht, einer Geisteshaltung, die nicht gewillt ist, gängige Formeln oder Klischees, geschweige denn die glatten, stets so entgegenkommenden Formulierungen und Gesten der Mächtigen und Erfolgreichen zu akzeptieren.« (Said 1997: 29f.) Der engagierte Intellektuelle entzieht sich nicht den großen gesellschaftlichen Fragen und Problemen seiner Zeit, die »immer ideologisch und politisch ausgerichtet« sind (Mittenzwei 2003: 16). Deshalb hat er »keine andere Wahl, als auf dem Kampfplatz

11 Braun betrachtet sich vor allem als Dramatiker. (Vgl. Rosellini 1983: 20)

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zu erscheinen. Er muß sich in die Hölle der Widersprüche begeben. Das ist der Ort, wo er bestehen muß.« (Ebd.) Sein Denken und sein Handeln verbleiben nicht im Niemandsland moralischer bzw. politischer Neutralität (vgl. Kraschl 2011: 337). »Die durch die Bewahrung der Autonomie erstrebte ›Reinheit‹, von der Bourdieu spricht, bleibt eine Utopie. Der eigentliche Verrat des literarischen Intellektuellen besteht daher in der Verweigerung seiner Eingriffsmöglichkeiten, dem Rückzug ins Abseits. Für die Verteidigung seiner Autonomie braucht er jedoch genügend Freiraum. Er muß die politischen Bewegungen jederzeit kritisieren, ja sich von ihnen trennen können, wenn sich deren Wege als verfehlt erweisen. Wendungen gehören zur geistigen Existenz der Intelligenz. Ihr universelles Vermögen besteht ja gerade darin, die Widersprüche zu signalisieren, bevor sie ausbrechen. In ihrer Kritik mag sich utopisches Denken mit dem Irrtum verschwistern. Der Irrtum bleibt der dunkle Teil ihres Talents, ihr ständiger Begleiter, der ihr wie ein Schatten folgt.« (Mittenzwei 2003: 16f.)

Dank seiner humanistischen Werte und der in die Zukunft weisenden kritischen Stimme spielt der engagierte Intellektuelle eine soziokulturell und gesellschaftspolitisch essenzielle Rolle und vermag somit als moralische Instanz, als Gewissen der Gesellschaft aufzutreten. In der DDR übte er auch noch eine eigentümliche kompensatorische Funktion aus, denn seine Texte sollten »dazu beitragen, eine Öffentlichkeit herzustellen, die nicht vorhanden war, sondern nur vorgetäuscht wurde.« (Ebd.: 278) Bekanntlich wurde der Literatur in der DDR offiziell eine zentrale Aufgabe »beim Aufbau und bei der Ausgestaltung des ›realen Sozialismus‹ zugewiesen. […] Ihr Stellenwert in der Gesellschaft war enorm. […] Sie hatte beträchtliche Möglichkeiten, auf Menschen zu wirken – und gleichzeitig waren diese Möglichkeiten kanalisiert, beschränkt, beschnitten durch die Zensur und andere repressive Maßnahmen«. (Emmerich 2000b: 41f.) Unter solchen Umständen, mangels einer politischen Opposition und freien Presse, übernahm die reformsozialistische Literatur die Ersatzfunktion der Systemkritik, d.h. sie wirkte als Korrektiv und als »Ersatzöffentlichkeit anstelle einer nicht zugelassenen Presse- und Medienöffentlichkeit« (Ebd.: 13)12. Vor allem ab Mitte der siebziger Jahre »[...] erwies sich die literarische und künstlerische Intelligenz als die stärkste und aussichtsreichste Oppositionskraft [...]. Diese Opposition wollte Veränderungen bei uneingeschränktem Bekenntnis zur sozialistischen Gesellschaftsordnung. [...] Genau betrachtet, hatte die SED die Schriftsteller in eine solche Position gedrängt. Einmal durch die Bedeutung, die sie der Poesie zumaß, und zum anderen durch die Unterdrückung einer pluralistischen Mei-

12 Vgl. dazu auch: Gansel 2007: 13–37, Gansel (Hg.) 2009.

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nungsbildung. [...] Je häufiger die Politiker die politische Aussprache über gesellschaftliche Widersprüche einschränkten, desto mehr Gewicht und Popularität bekam die literarische Wortmeldung.« (Mittenzwei 2003: 279f.)

Ähnlich wie bei anderen kritischen, reformsozialistischen Autoren – wie Christa Wolf, Heiner Müller oder Christoph Hein – übten die Texte Volker Brauns ab Ende der siebziger Jahre eine politisch-kompensatorische Funktion aus, die ihn in der Rolle des Intellektuellen als kritische, moralische Instanz gegenüber institutionalisierter Macht vor den Lesern und der gesamten Bevölkerung auftreten ließ. Allerdings war Brauns Engagement nicht nur bestimmt von scharfer Kritik an den realsozialistischen Umständen in der DDR und vom Streben nach gesellschaftlichen Veränderungen, sondern zugleich auch von bedingungsloser Loyalität zum Ideal eines humanistischen Sozialismus. Wie andere DDR-Schriftsteller glaubte Braun als überzeugter Marxist bis zum Ende an einen besseren Sozialismus und hoffte immer wieder darauf, dass das realsozialistische System von innen heraus umgeformt werden könnte. Da er die Utopie überhaupt nicht in Zweifel zog, ging es ihm in gar keinem Fall um die Abschaffung des Sozialismus, sondern um Reformen, vor allem um die Beseitigung der Zensur und um den Aufbau einer »Meinungspluralität innerhalb einer sozialistischen Machtstruktur« (Bathrick 2000: 240), d.h. um mehr Sozialismus. Brauns Hauptanliegen war, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen, der auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung basierte. Im Gegensatz zu den osteuropäischen oppositionellen Schriftstellern in der Tschechoslowakei, Polen oder Ungarn stellte Braun daher das System als Ganzes nicht in Frage. Die Widersprüche, die er zeigte, waren keiner antagonistischen Natur, d.h. es waren Gegensätze innerhalb des Sozialismus und nicht zwischen der sozialistischen Gesellschaft und ihren Gegnern. Die Mängel im real existierenden Sozialismus hängte er nicht der Utopie an, eine Grundeinstellung, die Braun mit anderen kritischmarxistischen Intellektuellen teilte. »Kritik und Opposition waren dabei nicht Anzeichen einer sich entwickelnden Dissidenz und Abtrünnigkeit, sondern gerade umgekehrt Anzeichen einer entschiedenen Loyalität. Man verteidigte den Sozialismus gegen seine Perversionen. Nicht das eigene Bewusstsein und das sozialistische Bewusstsein als solches wurden zum Problem, sondern der Abfall des Staates und der Partei von dem, was als wahrer Sozialismus festgehalten werden musste. Nicht Zweifel und Abtrünnigkeit waren die Ursache der Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Partei und literarischer Intelligenz, sondern gerade die Überzeugung, zum wahren Sozialismus vordringen zu müssen. Da man sich der Utopie verpflichtet fühlte, verhielt man sich auch loyal zum System.« (Klaus 2002: 74)

In der DDR der siebziger und achtziger Jahre gehörten mithin »radikale Kritik und latente Staatstreue« oft zusammen (Preußer 2013: 295), eine Haltung, die nicht nur

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Brauns ambivalente Beziehung zum Staat begründete, sondern auch die zwiespältige Verhaltensweise der Kulturfunktionäre. Als einer der Erstunterzeichner der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wurde Braun aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes ausgeschlossen, und dennoch blieb er Mitglied des Verbandes (bis 1982) und auch der SED. Trotz der erheblichen Schwierigkeiten mit der Zensur und der andauernden Überwachung von der Stasi erhielt er hohe Preise in der DDR, so 1971 den Heinrich-Heine-Preis des Ministeriums für Kultur, 1980 den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste, 1981 den Lessing-Preis und 1988 den Nationalpreis erster Klasse. Brauns paradoxe Situation in der DDR hat Jost Hermand deutlich zum Ausdruck gebracht: »Von allen ostdeutschen Autoren gehörte Volker Braun sicher zu denjenigen, die sich am ungestümsten, drangvollsten für die Durchsetzung wahrhaft kommunistischer Zustände in der DDR eingesetzt haben. Allerdings verschaffte er sich damit unter den Kulturfunktionären dieses Staats nicht nur Freunde. Im Gegenteil, jene alten SED-Genossen, welche in der Umwandlung des früheren Privateigentums in Gemeinbesitz bereits die entscheidende Verwirklichung des Sozialismus sahen, sperrten sich energisch gegen alle darüber hinausgehenden Tendenzen, nun auch die kulturellen und moralischen Überbauverhältnisse in einem sozialistischen Sinne umzugestalten. Die Folgen dieser Politik – Bevormundung oder gar Zensur – sind bekannt. Und gerade Volker Braun hatte unter solchen Maßnahmen vielfach zu leiden, da er den älteren ›Kulturverantwortlichen‹ im Zentralkomitee der SED als viel zu ›radikal‹ erschien. Im Sinne ihrer Vorstellungen hatten diese Funktionäre natürlich Recht. Sie wollten nach langen Jahren des Kampfes, der Verfolgung, des Exils und der Entbehrung endlich in jener von Walter Ulbricht so gern beschworenen ›sozialistischen Menschengemeinschaft‹ angekommen sein – und nicht mehr ständig weiterkämpfen.« (Hermand 2012: 245)

Ähnlich wie andere reformsozialistische DDR-Autoren befand sich Volker Braun in einer »dilemmatischen Situation« (Emmerich 2000a: 280), die seine Handlungsoptionen einengte. Die von den Gründungsvätern der DDR im Rahmen eines dualistischen Weltbildes als Staatsdoktrin dekretierte Entgegensetzung von »Antifaschismus« als das Gute und Wahre, als »Humanum schlechthin« und »Faschismus« als dem Menschenfeindlichen, dem »Bösen schlechthin« (vgl. Ebd.: 274f.) führte zur »ideologischen Klammer« (Ebd. 274) des Antifaschismus, die jenseits des Dafürseins oder Dagegenseins bei vielen Schriftsteller-Intellektuellen insbesondere der zweiten Generation, der Generation von Christa Wolf und Heiner Müller, und auch bei Autoren der nächsten, der Generation von Volker Braun, keine andere Alternative zuließ.13 Da der Sozialismus zum einzigen antifaschistischen und somit men-

13 Wolfgang Emmerich hat die »Generationen, die bis Mitte der 70er Jahre die DDRLiteratur repräsentieren«, wie folgt charakterisiert: »Am Anfang stehen die bis ca. 1915

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schenfreundlichen System avancierte, wer »nicht ›antifaschistisch‹ und für den Aufbau des Sozialismus war, wurde rasch dem unterstellten Gengenteil, dem ›Faschismus‹ (später gemildert zu ›feindlich-negativer Einstellung‹) zugeordnet.« (Emmerich 2000a: 275) Durch die Instrumentalisierung des Antifaschismus als Selbstrechtfertigungsmittel des Staates konnte jegliche kritische und oppositionelle Stimme systematisch diskreditiert werden. Für die Schriftstellergenerationen, denen Christa Wolf und Volker Braun angehörten, ergab sich daraus ein andauerndes Loyalitätsproblem gegenüber der älteren Generation, die sie mit Respekt betrachteten. Schließlich hatte diese Generation unter dem Nationalsozialismus sehr gelitten und ihn letztlich besiegt. Sie verkörperte auch die Hoffnung auf eine neue, bessere Welt. Die ältere Führungsschicht zu kritisieren oder sich gegen sie aufzulehnen wurde mit einer Verleugnung ihres Leidens gleichgesetzt. Auf die Bedeutung dieses »antifaschistischen Bonus« (Bathrick 2000: 242) für die kritischen Schriftsteller bezog sich Christa Wolf 1989 kurz nach der Wende folgendermaßen: »Wir fühlten eine starke Hemmung gegen Menschen Widerstand zu leisten, die in der Nazizeit im KZ gesessen hatten. Wir haben zwar intellektuellen Widerstand geleistet – das war bei mir seit Anfang der sechziger Jahre ganz klar – aber eine massenhafte oder nur nennenswerte politische Oppositionsbewegung hat sich nicht formiert – […]«. (Wolf 1990: 136)14 Wolfs Trennung zwischen intellektuellem und politischem

geborenen Autoren, in der Regel alte Antifaschisten, ob sie nun exiliert waren oder aus den Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nazis in die SBZ/DDR kamen. […] Neben diese Generation traten dann jene zwischen ca. 1915 und ca. 1930 Geborenen, die das NS-Regime und den Krieg als junge Männer und Frauen, oft noch als Kinder erlebt hatten – in der Regel als naiv Begeisterte oder als Mitläufer. Ihre Bekehrung erfuhren sie, sofern sie Soldaten gewesen waren, häufig in der Kriegsgefangenschaft oder dann zu Hause. Die Regel ist, daß ein alter Glaube durch einen neuen ersetzt wurde. Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR wurde, von Ausnahmen abgesehen, umstandslos übernommen und zur eigenen Sache gemacht. […] Anders schon die ab Anfang der 30er Jahre Geborenen: Sie waren vom Faschismus unbelastet und kannten vom Krieg gerade noch sein schreckliches Ende. In der Regel waren sie bereit, den Sozialismus als das Neue und Andere mit aufzubauen, formulierten aber auch Ansprüche an ihn und waren nicht bereit, ihn kritiklos hinzunehmen. Man denke nur an Biermann oder Braun.« (Emmerich 2000b: 403f.). Vgl. dazu auch: Luckscheiter 2000: 352ff. 14 Auch vor der Wende in einem 1984 vor Medizinern gehaltenen Vortrag zum Thema »Krankheit und Liebesentzug« äußerte sich Christa Wolf, diesmal im Rahmen des Problemkreises ›Selbstzensur‹, unmissverständlich dazu: »Immer, wenn mich ein besonders starker, besonders hartnäckiger und zugleich diffuser Widerstand daran hindert, zu einem bestimmten Thema ›etwas zu Papier zu bringen‹ – immer dann ist Angst am Werke,

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Wiederstand zeigt, wie die Loyalität zu einem retrospektiven oder nachgeholten Antifaschismus viele Schriftsteller trotz ihrer kritischen Disposition in die Situation des Sich-nicht-lösen-Könnens brachte, was bei manchen zu einem ernsthaften Konflikt mit dem eigenen Gewissen führte. Im Nachhinein erwies sich der antifaschistische Bonus als eine »Loyalitätsfalle«, wie ihn die 1952 geborene Psychotherapeutin Anette Simon, Tochter von Christa und Gerhard Wolf, treffend bezeichnet hat. In ihrem Beitrag »Antifaschismus als Loyalitätsfalle« erklärt Simon anhand ihrer eigenen Sozialisation in der DDR die Konsequenzen der Instrumentalisierung des Antifaschismus: »Der offiziell und bei jeder Gelegenheit verkündete Antifaschismus der DDR war eines der tragenden Argumente in der Selbstrechtfertigung des Staates. […] Manches spricht dafür, daß der Antifaschismus nicht nur Gründungslegende des Staates war, sondern eine Art Metaideologie, die dem Sozialismus noch übergeordnet war; denn auch dieser wurde Zweiflern mit dem Antifaschismus erklärt. Nur der Sozialismus sollte die Wiederkehr des Faschismus für immer verhindern können. […] Die Loyalität zur DDR, die uns ja wirklich eingehämmert wurde […], diese Loyalität hatte irrationale, fast könnte ich sagen: mystische Dimensionen. […] Ich glaube, daß die Leiden, welche die herrschenden Antifaschisten in der Zeit des Nationalsozialismus hatten erdulden müssen, einen solchen Widerhall in mir fanden, daß ich meinte, diesen Staat niemals verlassen zu dürfen, obwohl ich ihm als eine zeitweise sogar ›konspirativ arbeitende Oppositionelle‹ unversöhnlich gegenüberstand. Erst jetzt wird mir bewußt, daß sich meine Loyalität zur DDR tatsächlich auf die tief gefühlte Solidarität mit den Opfern des Faschismus gegründet hat, auf das Erleben einer Art Erbschuld, die ich wenigstens damit abzutragen hatte, daß ich die Überlebenden nicht verließ.« (Simon 1993: 27)15

Auch Volker Braun war gefangen in einer ähnlichen »Loyalitätsfalle«. Aufgrund seiner antifaschistischen und sozialistischen Gesinnung war es ihm unmöglich, den antifaschistischen Grundkonsens zu verlassen und in eine offene Konfrontation mit der Staatsmacht einzutreten. Er wollte oder besser gesagt konnte nicht solange die DDR bestand, infolge des innerlich ungelösten Dilemmas zwischen Selbstfesselung und Selbstbefreiung, aus der doppelten Loyalitätsfalle Antifaschismus/Sozialismus entkommen. So versuchte er immer wieder eine schwierige Balance zwischen »dem Anspruch ihres marxistischen Denkens und dem vorgefundenen Lebensumständen in der DDR« (Klaus 2002: 75) zu halten. Der daraus resultierende Konflikt bestand auch aus dem Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen dem Drang zur sozialen Pflichterfüllung und dem Wunsch nach privater Selbstverwirklichung. In

meist die Angst vor zu weitgehenden Einsichten oder/und die Angst vor der Verletzung von Tabus.« (Emmerich 2000b: 53). 15 Vgl. auch: Simon 1995: 48.

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seinem 1996 in der Zeitschrift »Sinn und Form« erschienenen Aufsatz DAS ENDE DER ›UNVOLLENDETEN GESCHICHTE‹ brachte Braun in prägnanter Form die Paradoxie seiner damaligen Situation in der DDR zum Ausdruck: »Eine Zugehörigkeit band mich an die Sache, die ich angriff; öffentlich kritisch und innerlich versöhnt. Das lag daran, daß wir die Wahrheit hatten, die nur erst Dichtung war, die BESSERE WELT; aber dichten hieß, die Wahrheit leugnen. Der Wahrheit schaden, schwieriger Beruf. Sie sollte sich ja erst behaupten. Aber auch den Sozialismus, der unglaubwürdig wurde, verteidigte ich insgeheim um der Wahrheit willen, die er nicht war: er zwang sie zu denken. Er zwang sie zu zerstören. Das war eine verlorene Position, nur im Text zu halten. […] Ich war ein Verräter und Genosse, geschirrt in die Geschichte von Absichten und Rücksichten. Von Hoffnung auf den Sinn der Sache. Absurde Gefangenschaft, die die Bedingung des Schreibens war, des rücksichtslosen Texts.« (Braun 1996: 590f.)

Aus der Ambivalenz zwischen radikaler Kritik und Staatstreue, zwischen Ablehnung und Loyalität resultierte die aporetische Spezifik, die Brauns Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus prägte. Durch die Auflösung der DDR fand Braun einen Ausweg aus seiner dilemmatischen Situation, gleichzeitig aber wurde der Boden für die utopische Projektion entzogen. Dann setzte sich eine »Verbitterung dem Gang der Geschichte gegenüber« durch (Preußer 2013: 296), die Christa Wolf in ihrem Buch STADT DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD dazu veranlasste, bedauernd von einem »untergangenen Staat« (Wolf 2010: 15), 16 vom »Untergang« »meines Landes« (Ebd.: 204), »dieses kleinere[n] Deutschland[s] […], mit all seinen Mängeln, ach was, mit seinen Gebrechen und Fehlern« (Ebd.) zu sprechen. Auch Volker Braun empfand eine ähnliche nostalgische Trauer über ein entschwundenes, verlorengegangenes Ideal.

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16 Vgl. dazu: PREUßER 2013: 289.

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III. Perspektiven in neuen (alten) Medien?

Wollt ihr das totale Medium? Die unterhaltsame Agonie des Realen und das weniger unterhaltsame Verstummen der Kritik in Marshall McLuhans DAS MEDIUM IST MASSAGE N ORMAN K ASPER Der echte Intellektuelle […] kann ohne Glauben an das Absolute leben. Er schätzt die Suche nach der Wahrheit genauso hoch ein wie die Wahrheit selbst. Er berauscht sich am Widerstreit der Gedanken. Und wenn er eine Philosophie oder eine Doktrin formuliert, so ist das mehr eine dialektische Übung und eine Demonstration seines Könnens und nicht sosehr ein Programm künftigen Tuns oder Gebot eines künftigen Glaubens. ERIC HOFFER/DER FANATIKER [THE TRUE BELIEVER]

I.

Z WEIERLEI H APPENING : V ON DER V ERSTÖRUNG ZUR E INÜBUNG IN DIE S TRUKTURALITÄT DER O BERFLÄCHE

Als Marshall McLuhans (1911–1980) gemeinsam mit Quentin Fiore (* 1920) vorgelegtes Heftchen DAS MEDIUM IST MASSAGE (THE MEDIUM IS THE MASSAGE, 1967) in der deutschen Ausgabe des Ullstein-Verlags vom Klappentext als »Happe-

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ning«1 beworben wurde, hatte der Begriff schon eine etwa zehnjährige Karriere hinter sich. Happening – das galt nicht nur als künstlerisches Verfahren, sondern als Versprechen, der Kunst auf dem Weg ihrer Überführung vom Werk zum (unvorhersehbaren) Ereignis wieder die politische Relevanz zukommen zu lassen, die der klassische Modernismus in seinem allzu einseitigen Interesse an den ästhetischen Mitteln verspielt hatte. Deutlich wird diese Politisierung etwa an den Bemühungen des Fluxus-Künstlers Allan Kaprow (1927–2006). Dieser kleidet die Beschreibung künstlerischer Aktionen in die Terminologie politischer Betätigung. Seine Bestandsaufname, Happenings in den späten 1950er und 1960er Jahren breiteten sich »wie eine schleichende Krankheit« aus, »wobei sie die vertrauten Lokalitäten listig mieden und immer da auftauchten, wo man sie am wenigsten erwartete« (Kaprow 1970: unpaginiert), erinnert an die Taktik sozialrevolutionär orientierter GuerillaBanden, da aufzukreuzen und für Unruhe zu sorgen, wo das machthabende (Staats)Militär am wenigsten damit rechnet. Fies und unerwartet; subversiv und doch direkt. Das Publikum konnte nie wissen: Soll man eingreifen? Was passiert da? Kommt jemand zu Schaden? Mit einem solchermaßen verstörenden Verständnis des Happenings kommt man McLuhans DAS MEDIUM IST MASSAGE nicht näher, und doch steckt in dieser Werk eine Menge performativer Energie. Zum einen gilt dies hinsichtlich des Umstandes, dass McLuhan hier nicht nur eine massentaugliche Fassung seines berühmten medienanalytischen Credos gibt, das Medium sei die Botschaft, wie er es in DIE MAGISCHEN KANÄLE (UNDERSTANDING MEDIA, 1964) formuliert (vgl. McLuhan 1995: 21–43), sondern vielmehr »das Experiment einer der Aussage entsprechenden Repräsentation« (Kloock/Spahr 2000: 45) veranstaltet: Der Leser/Betrachter soll mit eigenen Augen sehen, wie ihm unter der Hand das Medium zur Botschaft wird! Ersetzt man die doch zu sehr an die repräsentationslogischen Prämissen der – folgt man McLuhan: überwundenen – Buchkultur angelehnte Rede von der »Repräsentation« durch ›Performanz‹, so wird der Bezug zum Happening deutlich: In dem zum

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Aus der englischen Beschreibung des Buches, es sei »a look-around to see what’s happening – and why« (McLuhan/Fiore 1967) wird im Deutschen: »Hier liegt keine Abhandlung vor, sondern ein Happening«. (McLuhan/Fiore 1969) Bereits die 1966 veröffentlichte Werbung für THE MEDIUM IS THE MASSAGE spielt mit dem Begriff. Beworben wird dort ein Buch, »that will show what’s happening when what’s happening is happening.« (zit. nach Schnapp 2012: 55) McLuhan zieht die Form des Happenings ausdrücklich als Darstellungstechnik, die der Verbreitung seiner Ideen angemessen ist, in Betracht. Hinsichtlich seines Galaxis-Konzeptes etwa heißt es: »Die Idee, daß die ›Galaxis‹ als Ideogramm hätte dargestellt werden sollen, ist richtig. Das ist ihre eigentliche Form. Sie hätte auch als ein Happening zum Ausdruck gebracht werden können.« (McLuhan zit. nach Müller 1969: 74)

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besseren Verständnis der Texte und Bilder durchaus unabdingbaren Drehen und Wenden des Büchleins, dem ein Changieren zwischen Betrachten und Lesen, mehr noch jedoch eine Mischung aus lesendem Betrachten und betrachtendem Lesen entspricht, entwickelt das Medium seine eigene Botschaft. Deutlich wird der Happening-Bezug zum anderen in einem mit Blick auf die Themenstellung des Bandes viel wichtigeren Punkt: hinsichtlich des Selbstverständnisses des (postmodernen) Intellektuellen nämlich. Der HappeningIntellektuelle vom Typus McLuhans ist nicht mehr der kritische Aufklärer, sondern der affirmativ-launige Kommentator. Dabei greift McLuhan auf einen alten rhetorischen Trick zurück: In der kunstvollen Verbindung unterschiedlicher Text- (und Bild-)Sorten steht DAS MEDIUM IST MASSAGE in der Tradition der Gattungsmischung. Trotzdem seine Poetik der ›genera mixta‹, die unterschiedliche literarische und gebrauchsorientierte Textformen miteinander kombiniert, einen eindeutigen Wertungsstandort durch die inszenierte eklektische Multiperspektivität zu zerstreuen sucht, haftet ihr doch ein eigentümlich suggestiver und manifestiver Charakter an. In dem Punkt, wo der aufgeklärte Intellektuelle europäischer oder angloamerikanischer Prägung für eine Öffentlichkeit denkt und schreibt, die sich aus individuell-pluralistischen Interessen heraus konstituiert versteht – zumal nach den Verheerungen der Faschismen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, visiert McLuhan das »Massenpublikum« (McLuhan/Fiore 1969: 22) oder ganz einfach die »Masse« (Ebd.: 68) an, die mit den Bedingungen und Möglichkeiten elektronischer (Kommunikations-)Medien auf dem Weg der Verführung durch eben diese Medien versöhnt werden soll. Dies gelingt ihm umso konsequenter, als jene Verführung sozusagen in der menschlichen Natur wurzelt; denn Medien stellen bei McLuhan bekanntlich nichts anderes dar als Erweiterungen bereits vorhandener psychischer oder physischer Möglichkeiten. Die Natur des Menschen ist demnach seine potentielle mediale Anschlussfähigkeit. Es ist diese Denkfigur, die kontroverse Diskussionen über den ideologischen Gehalt seines Medienverständnisses und damit die Rolle des Intellektuellen in den westlichen Demokratien auslöste. Während die medienwissenschaftliche Disziplingeschichtsschreibung vor allen Dingen den hellsichtigen Analytiker McLuhan in den Mittelpunkt rückt und die Formalisierung der Analyse hin zu medienimmanenten Betrachtungsweisen als methodische Emanzipation von inhaltsbezogenen Ansätzen herausstreicht, ist der Status McLuhans als erster Computer-Intellektueller ungefährdet. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Verbindung von Technik- und Gesellschaftsanalyse, wie sie McLuhan popularisierte, zu dem wohl dominantesten Feuilleton-Thema unserer Tage geworden ist: kaum ein NetzIntellektueller, der sich nicht zu Fragen der Datensicherheit, dem Verhältnis von virtueller und tatsächlicher Identität bzw. Realität oder der Verbindung von social media und zivilgesellschaftlichem Engagement äußert. Es fällt nicht schwer, überall dort, wo der Einfluss computer- resp. netzbasierter Wahrnehmungs-, Aufzeich-

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nungs- und Distributionsstrukturen auf gesellschaftliche Prozesse verhandelt wird, wenigstens in einem Nebensatz – gern jedoch auch in konzeptioneller Hinsicht – auf McLuhan zu sprechen zu kommen. 2 Der emanzipatorische Impuls seines Denkens wurde Ende der 1960er Jahre jedoch keineswegs so hoch veranschlagt wie die Vorläuferschaftsrolle, die man gern mit ihm besetzt, glauben machen könnte; im Gegenteil: Vielen Zeitgenossen galt McLuhans Medienkonzept als ›totalitär‹, die Geste des performativen Neuerungsanspruches war politisch verdächtig. Neuere Arbeiten zur Geschichte medientheoretischer Entwürfe haben diesen Aspekt denn auch insofern thematisiert, als sie den transzendentalen Charakter, der dem Medium bei McLuhan zukommt, herausgearbeitet haben (vgl. Kloock/Spahr 2000: 48-59, Mersch 2006: 111-114, Yeh 2013: 126f.). Was im Gewand der Kritik an transzendental orientierter Medientheorie und an der Verabsolutierung des Mediums zum eigentlichen content (vgl. Buchmann 1995) als methodische Standortsuche einer kritischen Philosophie medialer Dispositive und ihrer materiellen, kulturtechnischen und praxeologischen Bedingungen daher kommt, scheint aus der problemgeschichtlichen Perspektive der späten 1960er Jahre eine andere Dringlichkeit zu haben. Denn hier geht es nicht um konstitutionstheoretische Finessen, sondern um die ganz konkreten Probleme, die der moderne Rechtsstaat mit einer absolut gesetzten – totalen – medialen Umwelt bekommen kann. Das Primat des Medialen bei McLuhan führt zum Ausschluss all dessen, das sich nicht auf seine strukturelle Funktionalität reduzieren lässt, etwa soziale und medienethische Belange. (Vgl. Winkler 2008) Es ist daher kein Zufall, dass McLuhan hinsichtlich der postulierten medialen Omnipotenz, die seit DIE MAGISCHEN KANÄLE für sein Denken charakteristisch ist,3 in den Einzugsbereich einer politikgeschichtlichen Analyse rückt, die eine solche Totalisierung des Medialen mit den immer noch virulenten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts konfrontiert. Verdeutlicht man sich die Engführung dieser beiden Aspekte, so ist auch deutlich, was gemeint ist, wenn McLuhans »medientechnische Kulturtheorie« als »dämonologische [...] Ideologie« (Müller 1969: 74) bezeichnet wird.

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Vgl. etwa Barichello/Carvalho 2013, die McLuhans Konzept der medialen Umwelt für eine Analyse der Funktionsweise sozialer Medien aktualisieren. Eberwein 2011 sieht McLuhan in der Rolle des Vordenkers in Sachen social web.

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Wolfgang Winkler weist darauf hin, dass jener affirmative, anti-medienkritische Gestus erst seit DIE MAGISCHEN KANÄLE (UNDERSTANDING MEDIA, 1964) für McLuhan charakteristisch ist; noch DIE MECHANISCHE BRAUT (THE MECHANICAL BRIDE, 1951) hatte »explizit wertend, moralisch und medienkritisch argumentiert.« (Winkler 2008: 158)

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Dass sich die Kritik in besonderem Maße an DAS MEDIUM IST MASSAGE entlädt, überrascht nicht. Recht zügig in mehrere Sprachen übersetzt4 und an ein weites Publikum, vornehmlich an die Jugend, adressiert, wird hier der Anspruch deutlich, das sozio-mediale Verhalten einer ganzen Generation junger Menschen bis in die Verrichtung alltäglicher und intimer Tätigkeiten hinein beobachten, bewerten und beeinflussen zu wollen. Im Ergebnis – und darin besteht die diagnostizierte Gefahr – gehen die sozialen und politischen Räume, die McLuhan der jungen Generation baut, in der medialen und sinnlichen Strukturalität ihrer Ermöglichungsbedingungen auf; wobei tatsächliche Konflikte (Gewalt, soziale Ungerechtigkeit etc.) lediglich auf der Oberfläche ihrer Präsentationsmedien bleiben und somit von der Form verschluckt werden, die sie angeblich zu allererst generiert. Das Happening DAS MEDIUM IST MASSAGE wird von seinen Kritikern somit als Einübung in die wirklichkeitsermöglichende Strukturalität medialer Oberflächen gelesen. Dass dieser Einübungsritus gleichzeitig als Werbung für ein anti-demokratisches, antipluralistisches und anti-individualistisches Umerziehungsprojekt interpretiert wird, zeigt, wie sensibel die liberale Öffentlichkeit der späten 1960er Jahre auf Totalisierungs(an)gebote – selbst solche nicht dezidiert politischer Natur – reagiert. Hinzu kommt der Umstand, dass McLuhan unter tatkräftiger Unterstützung von Quentin Fiore und Jerome Agel (1930–2007) mit DAS MEDIUM IST MASSAGE eine völlig neue Verbindung von Bild- und Letternsprache zu verantworten hat;5 eine intermediale Rhetorik mithin, die sich nur schwer mit jenen Kohärenzmaßstäben bewerten lässt, die der rein sachlichen, lediglich schriftinduzierten Argumentation verpflichtet sind.6 Daraus ergibt sich freilich auch eine andere Wirkungsabsicht, als sie etwa das ›klassische‹ politische Sachbuch intendiert. Diese Neuerung bleibt der Kritik nicht verborgen: Der persuasive Charakter, den bereits der Untertitel mit An Inventory of Effects andeutet, dient ihr vielmehr als Beweis für eine manipulative Überwältigungsstrategie, die in ihrer Zeitgeistigkeit – und trotz ihrer Neuheit – den

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1968 liegen französische und japanische Ausgaben vor, italienische und deutsche folgen 1969. Im selben Jahr erscheint DAS MEDIUM IST MASSAGE in Argentinien auch auf spanisch. 1967 ist zudem das Jahr, in dem DAS MEDIUM IST MASSAGE als Toncollage auf Schallplatte vorliegt und McLuhans Fernseh-Karriere beginnt (vgl. Marchand 1999: 273).

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Vgl. dazu ausführlich die entstehungs-, publikations- und designgeschichtlichen Hinweise bei Schnapp 2012: 48–91. Vgl. auch Lupton/Miller 1996.

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Michael McLuhan, der Sohn des Philosophen, hält die Frage nach einer kohärenten Argumentation mit Blick auf den medialen Status von DAS MEDIUM IST MASSAGE für nicht angemessen: »So is it [DAS MEDIUM IST MASSAGE – N.K.] coherent? I think people that are trying to find a book-like form in those books are ignoring the other stuff Jerome Agel had a hand in, like I SEEM TO BE A VERB by Bucky Fuller.« (McLuhan jun. 2013: 153)

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Rezeptionsgewohnheiten der Masse entgegenkommt: DAS MEDIUM IST MASSAGE sei nichts anderes als »McLuhan for the Consumer« (McCormack 1967), wie es Thelma McCormack im Gespräch mit Robert Fulford formuliert; gefährlicher Pop also, der performative Energie in politische umsetze. Ich möchte im Folgenden einen genaueren Blick auf das intellektuelle Profil McLuhans durch die Brille der Kritik an den totalitären Valenzen seines Medienverständnisses werfen. Komplementär und ergänzend zu einer »[i]deologiekritische[n] Kritik« an McLuhan (vgl. dazu Grampp 2011: 156-163) geht es mir um eine Engführung des politischen und medialen Totalitarismusvorwurfs.7

II. D AS M EDIUM

IST M ASSAGE – »E INE ART F IBEL DES TOTALEN I NFORMATIONSZEITALTERS «

Wer glaubt, der Kritik an McLuhan könne man unter Hinweisen auf den populärassoziativen, programmatisch-unsystematischen Charakter seiner Argumentation den Wind aus den Segeln nehmen, muss sich zumindest in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive eines Besseren belehren lassen. Denn – wie Helmut Heißenbüttel in einem Beitrag für den MERKUR 1968 schreibt – der »Zug des Aphoristischen, der Überraschungs- und Verblüffungseffekte, der sein ganzes Werk durchzieht und manchmal bis zur bewussten Clownerie geht« (Heißenbüttel 1968: 989), könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass McLuhan durchaus eine – kritikwürdige – Mission vertrete.8 »Alle Medien«, heißt es in DAS MEDIUM IST MASSAGE im Anschluss an die berühmten Ausführungen über die ›extensions of men‹ in DIE MAGISCHEN KANÄLE, »sind Erweiterungen bestimmter menschlicher Anlagen – seien sie psychisch oder physisch.« (McLuhan/Fiore 1969: 26) In dieser medialen Natur des Menschen liegt auch die Verfügungsgewalt der Medien über unser Wahrnehmungsund Bewusstseinssystem begründet, der man sich nicht entziehen kann. In diesem

7

Vgl. zu einer Kritik der Kritik an McLuhan: Baltes 2006: 156–158.

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Bereits Arthur M. Schlesinger, den der deutsche Klappentext von DAS MEDIUM IST MASSAGE mit seiner Antwort auf die Frage zitiert, was denn genau McLuhanismus sei, entdeckt hinter der populären Fassade einen argumentativen Kern. McLuhanismus, so Schlesinger, sei nichts anderes als »›[e]ine chaotische Kombination von blanker Behauptung, raffiniertem Raten, falschen Vergleichen, verblüffender Einsicht, hoffnungslosem Unsinn, gekonntem Schockieren und Schauabziehen, Witz und orakelhafter Mystifizierung; das alles frech und willkürlich zu einem endlosen und anmaßenden Monolog zusammengemixt. Doch meiner Ansicht nach ist darin auch eine tiefernste These enthalten.‹« (Schlesinger zit. nach McLuhan/Fiore 1969)

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Sinne kann McLuhan auch davon sprechen, dass alle Medien uns »gründlich« durchmassieren würden: »Sie sind dermaßen durchgreifend in ihren persönlichen, politischen, ökonomischen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Auswirkungen, daß sie kein Teil von uns unberührt lassen.« (Ebd.) Heißenbüttel kritisiert nun, ein so verstandenes Medium nivelliere den individuellen und sozialen Standort von Einzelnen und Gruppen, indem es einen solchen Ort nur in Relation zur medialen Apparatur als gleichsam verlängertem und doch ausgelagertem Teil menschlicher Sinnes- und Bewusstseinspotentialität ermögliche. Die Rede von der Medien-Massage (»massage«) klingt zwar – McLuhans anderen Wortspielen vergleichbar (»mass-age«, »mess-age«, McLuhan 2013: 142) – spaßig und harmlos, allein: Was dahintersteckt, bereitet Heißenbüttel durchaus Bauchschmerzen, denn es geht um nichts Geringeres als die Auflösung des abendländischen Individuums in der Masse. In dem Maße, wie »der Eine oder die Mehreren oder die Vielen immer schon und unausweichlich Alle sind im Namen des Mediums«, wird das Medium zum »einzigen und absoluten Bezug«. (Heißenbüttel 1968: 989, Hervorhebungen jeweils im Original) »Ich kann mich nicht denken als Mich (und als Mich in Beziehung zum Medium), sondern nur als das Absolute des Mediums, das heißt als etwas in übergeordneter Struktur Entpersönlichtes. McLuhans Versuch bedeutet also nicht nur topographische oder diagnostische Bestandsaufnahme, er bedeutet zugleich eine rigorose Neudefinition. Die Einheit, als die bisher das Individuum angesehen wurde, ist aufgelöst.« (Ebd.)

McLuhans Überlegungen wären für Heißenbüttel sicherlich kein Problem, würde er in ihnen nicht die »Grundlagen für praktische Einflußnahmen ausmachen.« (Ebd.): Beschreiben und Vorschreiben gehen hier Hand in Hand. Die Auflösung des Individuums ist nicht nur als Gedankenexperiment auf dem Papier zu lesen, sondern als tatsächliche Bedrohung.9 Das betrifft zum einen grundsätzliche Fragen der menschlichen Identität und Sozialität. Zum anderen geht es um ganz handfeste Probleme der politischen Willensbildung. Individuell wahrgenommene Freiheits- und Beteiligungsrechte bilden die Grundlage für eine demokratische Gemeinwohlfindung; diese ist also maßgeblich darauf angewiesen, dass unterschiedliche Interessen miteinander konkurrieren kön-

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Es sei an dieser Stelle nur am Rande vermerkt, dass sich hinsichtlich der Frage nach dem praktischen Umsetzungswillen McLuhans die Einschätzungen von Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger unterscheiden. Im Gegensatz zu Heißenbüttel, der in den praktischen Ambitionen McLuhans eine politische Dimension erkennt, wirft Enzensberger McLuhan vor, eine »apolitische Avantgarde« (Enzensberger 1970: 177) zu befördern.

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nen, ohne schon immer festzustehen. Dem Tod des Individuums in einer ihm korrespondierenden Medialität entspricht also auf der Ebene der politischen Willensbildung ein apriorisches Gemeinwohl, wie es vor allen Dingen totalitäre Regime – top-down – ihrer Bevölkerung vorgeben. Es ist interessant zu sehen, dass Heißenbüttel ausgerechnet zu dem Zeitpunkt das Individuum bei McLuhan »als etwas in übergeordneter Struktur Entpersönlichtes« aufgehen sieht, zu dem eben jenes Individuum in seiner grundlegenden Bedeutung für den politischen Willensbildungsprozess wiederentdeckt – man möchte sagen: wieder zum Leben erweckt – wird, etwa im Neopluralismus Ernst Fraenkels (1898–1975). Der Neopluralismus möchte das Individuum sozusagen vor der Entpersönlichung durch einen bevormundenden Staat schützen und verpflichtet es zu diesem Ziel auf die Arena der Öffentlichkeit, in der die Transformation gegensätzlicher Interessen in den politischen Entscheidungsprozess angebahnt werden soll. (Vgl. Fraenkel 1991: 204–260) Eine solche Öffentlichkeit gibt es bei McLuhan praktisch nicht mehr. Mit dem Ende der Gutenberg-Galaxy wird die Öffentlichkeit verabschiedet: »Die Technik des Buchdrucks schuf die Öffentlichkeit. Die Technik der Elektrizität schuf die Masse. Die Öffentlichkeit besteht aus einzelnen Individuen, die alle einen gesonderten festen Standpunkt einnehmen. Die neue Technik verlangt, daß wir auf den Luxus dieser Haltung, dieser bruchstückhaften Anschauung, verzichten.« (McLuhan/Fiore 1969: 68f.)

Das Provokative dieser Äußerung besteht zweifelsohne darin, dass McLuhan die für die Legitimität des modernen Verfassungsstaates unabdingbare ›bürgerliche‹ Öffentlichkeit, d.h. die geschützte Selbstverständigung einer politischen Gemeinschaft, als zu überwindenden Luxus bezeichnet. Hält man sich vor Augen, in welchem Maße gerade der Begriff der Öffentlichkeit zum Leitfaden einer Geschichte des sozialen Rechtstaates geeignet schien – etwa in Habermas’ 1962 vorgelegtem STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT –, so rechtfertigt McLuhans geschichtsphilosophisch motivierte Skepsis gegenüber der »bruchstückhaften Meinung« des Einzelnen durchaus jene Kritik, mit der man im gleichen Zeitraum auch gegen die Nivellierung fragmentarischer Einzelinteressen im Namen eines übergeordneten totalen Interesses vorging. Es lässt sich wohl nur mit der Denkfigur der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) fassen, dass Habermas’ Diagnose des Verfalls der kritischen Öffentlichkeit angesichts der Inanspruchnahme der Massenmedien durch ökonomische und politische Partialinteressen10 ausgerechnet zu dem

10 »Die durch Massenmedien verbreitete ›Kultur‹ ist […] eine Integrationskultur: sie integriert nicht nur Information und Räsonnement, die publizistischen Formen mit den literarischen Formen der psychologischen Belletristik zu einer von human interest bestimmen Unterhaltung und ›Lebenshilfe‹; sie ist elastisch genug, sich gleichzeitig auch Elemente

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Zeitpunkt gestellt wird, an dem McLuhan diese Öffentlichkeit leichten Herzens in eine entpolitisierte elektronische Zwangsgemeinschaft überführen möchte. Zugespitzt gefragt: Ist also der Medien-Totalitarismus McLuhans eine Spielart seines gefährlicheren großen politischen Bruders, des Totalitarismus? Blickt man auf die Aufnahme von DAS MEDIUM IST MASSAGE innerhalb der nordamerikanischen Diskussion, kann man durchaus diesen Eindruck gewinnen. Zumindest in dieser Hinsicht liegt die Kritik Heißenbüttels an den subjektphilosophischen Verwerfungen bei McLuhan nicht allzu weit von der gesellschaftspolitisch motivierten Kritik entfernt, wie sie etwa Thelma McCormack oder Dennis Braithwait in ihren Reaktionen auf McLuhans Büchlein zeigen. So verweist Braithwait hinsichtlich McLuhans Argumentation auf Eric Hoffers (1902–1983) DER FANATIKER (THE TRUE BELIEVER, 1951). Der amerikanische Philosoph liefert in diesem Buch eine Anatomie totalitärer Gefolgschaft. Braithwait, der McLuhan zunächst mit einem biblischen oder charismatisch-politischen Propheten vergleicht, weist im Anschluss an Hoffer auf die für totalitäre Herrschaft charakteristische Entfremdung der Anhängerschaft von ihrer natürlichen sozialen Bindung hin. Nichts anderes, so Braithwait weiter, habe McLuhan im Sinn. Während jedoch der Kommunismus seine Parteigänger aus ihren familialen Kontexten reiße, um ihnen die ›Idee‹ im Gewand der neuen Gemeinschaft besser vermitteln zu können, spielen die Rolle des Ideengebers bei McLuhan die »Bewegung« (»movement«) und die »totale Umwelt« (»total environment«, Braithwait 1967). Dies mag etwas überzogen klingen, jedoch macht ein Blick auf McLuhans DAS MEDIUM IST MASSAGE schnell deutlich, dass Braithwait nicht allzu falsch liegt. Bereits auf den ersten Seiten, auf denen es um die Programmierung der »neue[n] Umwelt« geht – »jetzt, da wir dermaßen ineinander verstrickt sind, jetzt, da wir alle unwissentlich zur Triebkraft des gesellschaftlichen Wandels geworden sind« (McLuhan/Fiore 1969: 12) –, werden Familie, Bildungsinstanzen und Regierung als Bezugs- und Orientierungspunkte des jungen Menschen für nicht mehr zuständig erklärt. (Vgl. Ebd.: 14–22) Vergleichbar heißt es bei Hoffer, dass die »aufkeimenden Massenbewegungen […] in ihren Anfängen familienfeindliche Züge zeigten«: »sie setzten alles daran, die Familie zu entwerten oder gar völlig zu zerstören.« (Hoffer 1965: 32) In den wie DAS MEDIUM IST MASSAGE 1967 veröffentlichten VERBI-VOCO-VISUAL EXPLORATIONS, einer erweiterten Neuauflage der Zeitschrift EXPLORATIONS (Vol. 8), spricht McLuhan explizit von der zerstörenden

der Werbung zu assimilieren, ja, selber als eine Art Super-Slogan zu dienen, der, gäbe es ihn nicht schon, zum Zwecke von public relation für den status quo schlechthin hätte erfunden werden können. Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im ganzen […].« (Habermas 1990: 267)

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Kraft, die die informationstechnologischen Veränderungen im Gebiet der sozialen Ordnung hinterlassen würden.11 Die Kohäsionskraft primärer sozialer Bindungen schwindet; doch das ist kein Problem, da die allumfassende Mediologisierung des Sozialen einer »alchemy of social change« (McLuhan 1967, unpaginiert, ›Item‹: 14) zuarbeitet, die ihren ganz eigenen Charme hat. Zur neuen Bezugsgröße psychosozialer Orientierung wird bei McLuhan die Umwelt (›environment‹) – ein anderes Wort für den im weiten Sinne gebrauchten Begriff des Mediums – stilisiert. Jack Behar hat darauf hingewiesen, dass McLuhan der Forderung nach einer zweifelsohne notwendigen kritischen Medien-Erziehung zwar grundsätzlich positiv gegenüberstehe: »Dennoch ist er (McLuhan – N.K.) der Idee von den unterbewußten Kräften der Medien, ihre Voraussetzungen bei der Strukturierung primärer gesellschaftlicher Prozesse denen, die sie gebrauchen oder von ihnen gebraucht werden, zu diktieren, so verfallen, daß er sich nicht zum Unvermeidlichen herablassen kann – einem recht zielstrebigen Erziehungsprogramm.« (Behar 1969: 257)

Medien-Erziehung, die vor den Folgen umweltmedialer Verführ- und Verfügbarkeit des Menschen warnt? Fehlanzeige. IN DAS MEDIUM IST MASSAGE werden vielmehr jene unterbewusst-transzendentalen Formierungskräfte als reich illustrierte Erweiterungskette ausbuchstabiert, die Körperteilen, Sinnesorganen und dem zentralen Nervensystem mediale Strukturen zuordnet. (Vgl. McLuhan/Fiore 1969: 30–41) Diese Strukturen lösen die alten sozialen Bezugsgrößen ab, absorbieren Individualität und führen im Ergebnis zu anderen – man kann auch sagen: neuen – Menschen.12 Unschwer zu erkennen ist, dass jener Neuerungsanspruch sein Pendant im Feld eines totalitären Menschenbildes hat. McCormack stimmt Braithwaits Einschätzung grundsätzlich zu, der Autor von DAS MEDIUM IST MASSAGE sei in diesem Sinne ein Demagoge. Der Meinung der amerikanisch-kanadischen Publizistin, Feministin und Kommunikationssoziologin

11 »When information moves instantly to all parts of the globe it is chemically explosive. Any chain-reaction which occurs rapidly is explosive, whether in personal or social life […] New ideas and new attitudes are disruptive. Today the normal movements of information have the effect of armed invasion on some culture or group […] It is the normal aspect of our information-flow which is revolutionary now. The new media normalize that state of revolution which is war.« (McLuhan 1967, unpaginiert, ›Item‹: 14) 12 Der Topos des ›neuen Menschen‹ hat bekanntlich seinen festen Platz in der säkularen Religionsgeschichte der Moderne (vgl. dazu Küenzlen 1997). McLuhans technoide Erneuerungsvorstellungen gehören zweifelsohne in die Tradition einer innerweltlichen Erlösung von »Handlungsunsicherheit und Daseinsohnmächtigkeit« (Ebd.: 39).

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nach besteht in Zeiten der sozialen Differenzierung, Erfahrungssegmentierung und Individualisierung die Hauptaufgabe der Massenmedien darin – sie arbeitet hier im Unterschied zu McLuhan mit einem ›engen‹ Medien-Begriff –, Gemeinschaft zu stiften.13 In dieser Hinsicht vertritt sie wie McLuhan eine affirmative Haltung gegenüber ›den Medien‹ und auch sie argumentiert funktionalistisch, jedoch könnten die Ergebnisse nicht verschiedener sein: Der Gemeinschaftsbildung kommt bei McCormack eine sozialintegrative Funktion zu; das Fernsehen stiftet eine Art imaginäre Identität. Damit ist Gemeinschaft nicht wie bei McLuhan das Produkt eines sozialanthropologisch begründeten Anschlusses des Menschen an ihm entsprechende mediale Prothesen (vgl. Mersch 2006: 109f.), sondern Teil einer medial vermittelten Öffentlichkeit. McCormacks Analyse des demagogischen Denkens McLuhans geht über Braithwaits Hoffer-Analogie hinaus. Sie macht hinter dem ostentativen AntiKohärenzdenken McLuhans einen Anti-Intellektualismus aus, dem es darum gehe, die ratio an sich abzuwerten (»downgrade thought itself«, McCormack 1967). Deutlich wird hier der antiaufklärerische Impuls McLuhans, der sich auch in Anleihen beim mythisch-prärationalen Denken zeigt; einem Denken, das die Linearität und Logizität der Bildung der Buchdruck-Ära durch eine neue ›elektrische Primitivität‹ überwinden will und zu diesem Zweck entwicklungsgeschichtlich zurückgreift.14 Im Grunde geht es darum, jenen »Hörraum«, in dem der Mensch in vorschriftlicher Zeit lebte – »ohne Grenzen, ohne Richtung, ohne Horizont, im Dunkel der Seele, im Bereich der Gefühle, mit Urahnungen« (MCLUHAN/FIORE 1969: 48) – unter den Bedingungen moderner Technik zu restituieren. Doch davon ist man, McLuhan folgend, noch weit entfernt. Zwar impliziert die Rede von der Umwelt jene den Menschen ganzheitlich umgebende, unfokussierte Totalität – Braithwait spricht hier zu Recht von einer »total environment« (Braithwait 1967) –, jedoch weigert sich die Schule, der Vermittlung eines solchen Umwelt-Bewusstseins zu dienen. Der moderne Schüler versteht es denn auch nicht, so McLuhan, »welchen Zusammenhang das Bildungssystem mit seiner mythischen Welt elektronisch verarbeiteter Fakten und Erfahrungen hat, wie sie seine Reaktionen deutlich und direkt anzeigen.« (McLuhan/Fiore 1969: 100) Auch wenn die Rückgewinnung des mythischen Raumes in McLuhans Epochenkonstruktion eigentlich nicht vorgesehen ist

13 »[T]he unique function of the mass media is to provide […] to the individual and to society a coherence, a synthesis of experience, an awareness of the whole which does not undermine the specialization which reality requires. The supreme test of the mass media, then, is […] how well it provides an integration of experience.« (McCormack 1961: 488) 14 Bei Enzensberger heißt es: »Er [McLuhan – N.K.] verkündet das Evangelium der neuen Primitiven, die, natürlich auf höherer Ebene, zum prähistorischen Stammesdasein zurückkehren sollen in das ›globale Dorf‹.« (Enzensberger 1970: 177)

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(vgl. die Übersicht bei Yeh 2013: 134), weist doch das dem elektronischen Zeitalter zugewiesene assoziative und antilineare Denken alle Merkmale des mythischen Vorstellens auf. Und dass McLuhans ›neuer Schüler‹ als Bewohner des globalen Dorfes seine Teilhabe an der neuen Zeit sich gleichsam selbst vom Leibe ablesen kann – während ihn seine schulische Bildungsumwelt anödet und von seiner medialen Disposition entfremdet –, ist dies nicht ein untrügliches Indiz dafür, dass die Verbindung von Körper und Medium bereits Realität ist? – Und mithin die existentielle Medialität des Menschen als erwiesen gewertet werden muss? McLuhan geht es zweifelsohne um eine historisch verbriefte Abkehr vom vernünftigen Denken – mit allen damit verbundenen Implikationen. »Der Vernunftmensch unserer westlichen Kultur«, schreibt er, »ist ein Augenmensch […] Vernunft und Augenscheinlichkeit sind seit langem austauschbare Begriffe, aber wir leben nicht mehr in einer primär visuellen Welt.« (McLuhan/Fiore 1969: 45) McLuhans Epistemologie diagnostiziert diese Entwicklung nicht nur, sie steht vielmehr in ihrer performativen Dimension selbst dafür ein. DAS MEDIUM IST MASSAGE ist in diesem Sinne als »Fibel des totalen Informationszeitalters« (Heißenbüttel 1968: 987) die pädagogische Probe auf das Exempel einer neu-mystischen Elektro-Primitivität.

III. S CHWINDENDE W IRKLICHKEIT IM S CHATTEN DES » NEO -N AZI -M OVEMENT «? Die Parallelisierung von Medialität und Politik im Topos des Totalitären, wie sie Tendenzen der zeitgenössischen Kritik charakterisiert, eröffnet den Blick auf das quasi notwendige Verschwinden einer handfesten gesellschaftlichen Wirklichkeit bei McLuhan. Jack Behar spricht diesbezüglich von der medialen Omnipotenz hinsichtlich der »Strukturierung primärer gesellschaftlicher Prozesse«. (Behar 1969: 257) Man kann daran anschließend grundsätzlich fragen: Sind diese Prozesse denn überhaupt noch primär oder erscheinen sie nicht vielmehr selbst als Effekte, die vollumfänglich durch die medialen Möglichkeitsbedingungen präformiert werden? Wie dem auch sei, das Verschwinden der Wirklichkeit im Raum der Simulacren kann zweifelsohne als ein Hauptthema medienphilosophischer Ideologiekritik der 1970er und 1980er Jahre gelten. Es ist interessant zu sehen, dass hier – etwa bei Jean Baudrillard (1929–2007) – unter veränderten Vorzeichen das ausbuchstabiert wird, was bei McLuhan angelegt ist: der Wirklichkeitsverlust in der Simulation. (Vgl. Baudrillard 1991: 112-119) Die Betonung muss jedoch auf den veränderten Vorzeichen liegen, denn vom affirmativen Grundtenor McLuhans (vgl. Grampp

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2011: 160f.) ist bei Baudrillard nicht mehr viel zu spüren. 15 Eine Lesart, die McLuhan, »the charismatic founder of a new media religion«, und Baudrillard, »his iconoclastic disciple« (Ferguson 2005: 31), allzu bruchlos aufeinander verweist – wie man sie z.B. bei Helmut Lethen finden kann (vgl. Lethen 2014: 39) –, verkennt den Umstand, dass Baudrillard mehr in der Tradition der Totalitarismuskritiker McLuhans steht, als er diesem selbst verpflichtet ist. In dem Punkt nämlich, wo der Kanadier noch einer Einübung in das mediale Regime das Wort redet und eine solche lustvoll und bildgewaltig inszeniert, bilanziert der Franzose die Kosten: »Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen«. (Baudrillard 1978: 9) Eine solche Zeichen-Realität ist bei McLuhan unproblematisch, da sie die Medien in ihrer präformativen Exzellenz zeigt; deren Massage-Charakter sogar noch besonders eindrucksvoll illustriert. Wenn Baudrillard hingegen von (medialen) Zeichen spricht, meint er nicht so sehr deren transzendentale Potentialität. Im Mittelpunkt stehen demgegenüber zwei Dinge: 1.), die Fähigkeit der Zeichen, sich von einem Bezeichneten zu lösen, sich – gleichsam referenzlos – an dessen Stelle zu setzen, indem sie Wirkliches simulieren; 2.), die durch einen solchen Zeichengebrauch herbeigeführte Obszönität der Kommunikation, »a […] pornography of information and communication«. (Baudrillard 1983: 130) »It is the obscenity of what no longer has any secret, of what dissolves completely in information and communication.« (Ebd.: 131) Die Verheißungen McLuhans wandeln sich auf diesem Weg in ein Bedrohungsszenario – darin liegt der (womöglich gar nicht so) feine Unterschied der intellektuellen Kulturen McLuhans und Baudrillards. Baudrillard illustriert seine Simulationsdiagnose anhand der Unzulänglichkeit des bisher tragfähigen Vergleichs von Karte und Territorium. (Post-)Moderne Karten bilden ein Gebiet nicht mehr ab, sie erlauben es nicht mehr, von einer »souveräne[n] Differenz« beider zu sprechen. »Die Karte ist nicht mehr der Spiegel des Seins und der Erscheinungen, des Realen und seines Begriffs«. (Baudrillard 1978: 8). Indem die Simulation den Platz der Wirklichkeit einnimmt – die »Ära der Simulation« ist durch die »Liquidierung aller Referentiale«, »schlimmer noch: durch deren künstliche Wiederauferstehung in verschiedenen Zeichensystemen« (Ebd.: 9) gekennzeichnet –, erzeugt sie eine ›unwirkliche Wirklichkeit‹, die Hyperrealität. Diese verschleiert Baudrillard folgend gesellschaftliche Konflikte und Gewaltursachen, denn sie nimmt nicht mehr auf die tatsächlichen sozialen und physischen Körper und deren Interaktionsmuster innerhalb »der Ordnung des Realen« (Ebd.)

15 »Baudrillard’s working hypothesis with respect to the slogan ›the medium is the message‹ is […] that McLuhan’s ›prophecy‹ has been realized. This acknowledgement does not mean that Baudrillard supports this state of affairs. On the contrary, this hypothesis is a first step towards pushing the terms of the slogan to the very limits of sense in order to describe the development of media in a society of simulations.« (Genosko 2005: 237)

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Bezug; sie setzt sich vielmehr an deren Stelle. Bereits bei McLuhan bekommen tatsächliche Konflikte mediale Ursachen zugewiesen. »Kriege, Revolutionen, Bürgeraufstände«, schreibt er etwa, »entstehen an den Reibeflächen der neuen Umwelten, welche die elektrischen Informationsmedien geschaffen haben.« (McLuhan/Fiore 1969: 9) Ursächlich verantwortlich für diese Konflikte sind also nicht soziale Ungleichheit, Hunger oder (zurückgewiesene) Forderungen nach politischer Beteiligung; im Mittelpunkt stehen demgegenüber mediale Konfliktlinien, allen voran die Ablösung der alten Buchkultur durch neue ganzheitliche Elektro-Umwelten. Man gewinnt so den Eindruck, die Kämpfe dieser Welt entzündeten sich – jenseits eigener Logiken und konform mit McLuhans Geschichtsphilosophie – entlang der Gretchenfrage: ›Nun sag, wie hast Du’s mit dem globalen Dorf?‹ In Baudrillards Simulation gibt es keine tatsächlichen Konflikte mehr, denen man Ursachen zuordnen könnte: Der simulierte – und damit machtstrategisch kontrollierte – Konflikt ist alles, was der Fall ist; die tatsächlichen sozialen Verwerfungen werden nicht zeichenhaft gespiegelt; an ihre Stelle tritt die referenzlose Simulation von Sozialität. Bereits bei McLuhan werden »das Subjekt und das Soziale« »abgespalten« (Winkler 2008: 164), das heißt aus dem Mediendiskurs ausgeschlossen. Was bei McLuhan noch als geschichtsphilosophische Errungenschaft firmiert, ist bei Baudrillard das Ergebnis einer Krisendiagnose, die finsterer nicht sein könnte: Die Wirklichkeit befindet sich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in einem Todeskampf, in dem die Simulation für die Gesundheit dieser Wirklichkeit vollumfänglich zu garantieren scheint. Es ist freilich eine Gesundheit zum Tode. Die Simulation als »Produktion des Realen« »muss nicht mehr vernünftig sein« (Baudrillard 1978: 9), schreibt Baudrillard. Man kann hinzufügen, dass es McLuhan gewesen ist, der der medial aufbereiteten Realität als erster jede Vernunft ausgetrieben hat. Die Überwindung rationalistischen Evidenzdenkens, wie es sich in der Abkehr von der Augenscheinlichkeit zeigt, ist dabei weniger gegen die neuzeitliche Buch(druck)kultur gerichtet. Hauptgegner ist vielmehr die historische Aufklärung, denn hier wurden die Rationalitätsstandards gesetzt, die es zu überwinden gilt. Dass anti-aufklärerisches Denken besonders in als prosaisch wahrgenommenen Zeiten Konjunktur hat, ist lange bekannt. McLuhans Medienmystizismus steht durchaus in dieser Tradition. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der »[m]etaphysische[..] Charakter der Medienwissenschaften« (Winkler 2008: 164), die sich auf McLuhan berufen, sehr schön mit diesem anti-aufklärerischen Impetus harmoniert. Im Endeffekt heißt das doch: Ein Teil der Kritik hat McLuhan diese ›aufklärungskritische Aufklärung‹ über den wahren Charakter der Medien krumm genommen – Helmut Heißenbüttel, Jack Behar, Thelma McCormack und Dennis Braithwait zählen dazu. Der Kolumnist des TORONTO DAILY STAR, Robert Fulford, der eine Radio-Gesprächsrunde anlässlich des Erscheinens von Das Medium ist Massage moderiert, aus der ich bereits einzelne Stellungnahmen herangezogen habe, sieht

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sich, trotz aller grundsätzlichen Sympathie für die Kritiker McLuhans, angehalten, den Kanadier vor einem allzu harschen Totalitarismusvorwurf zu schützen. Freilich, der Mann sei ein Dogmatiker, kommt er im Gespräch mit McCormack und Braithwait überein; doch führe es sicher zu weit, ihn in die Tradition der »neo-nazimovement« (Fulford 1967) einzureihen. Trotz aller zur Schau gestellter Inkohärenz, so Fulford, argumentiere er doch mit Autoren, die sehr wohl um Kohärenz bemüht seien (wie Harold Innis z.B.). Bei dem verweigerten Nazivergleich mögen auch Ironie und Aufmerksamkeitsökonomie im Spiel sein. Er sagt jedoch auch eine Menge über das intellektuelle Klima und die von einer liberalen Öffentlichkeit an einen Intellektuellen gerichteten Anforderungen aus (womöglich mehr als über McLuhan selbst). Es mag aus heutiger Sicht überraschen, dass der ungeheuere Pop-Appeal, der McLuhan gerade auch in Folge von DAS MEDIUM IST MASSAGE attestiert wurde, der den ästhetischen Kompass einer ganzen Generation nordete16 und der schließlich bis heute seinen Status als Intellektuellen prägt, bei seinen Totalitarismuskritikern nicht verfängt. Ein Hauptgrund für diese Resistenz ist sicherlich darin zu sehen, dass einige dieser zeitgenössischen Kritiker – hauptsächlich jene, für die die Spielarten real existierender Totalitarismen nicht nur eine geschichtliche Größe sind – zu allererst jene Öffentlichkeit zu verteidigen suchen, der sie ihre Berechtigung verdanken, für die sie arbeiten und durch die sie gehört werden. Steht sie zur Disposition – und sei es nur im Gewand einer augenzwinkernden Rhetorik der Masse, der (medialen) Gleichschaltung und einer »alchemy of social change« (McLuhan 1967, unpaginiert, ›Item‹: 14) –, avanciert der launige Kritiker zum prinzipientreuen Verfechter alter demokratischer Grundrechte. Nichts anderes erwartet man vom Intellektuellen. Auf die Frage: ›Wollt ihr das totale Medium?‹ gibt es bei totalitarismusskeptischen Kritikern und Intellektuellen – trotz aller Unterschiede hinsichtlich der politischen Kulturen – dies- und jenseits des Atlantiks Ende der 1960er Jahre also nur eine Antwort: lieber nicht. Es mag zwar um die Unterhaltsamkeit eines Intellektuellen-Typus’, der diesem antitotalitären Denken verpflichtet ist, nicht allzu gut bestellt sein, jedoch ist der obszöne Schizo in der Prägung Baudrillards (vgl. z.B. Baudrillard 1983: 132f.) Warnung genug davor, was passiert, wenn der Mensch an die Medien angeschlossen wird. Denn ein solcher Schizo, schreibt Baudrillard, wird zu einem »pure screen, a switching center for all the networks of influence.« (Ebd.: 133) Es handelt sich dann womöglich um Pop, die Sache kann jedoch auch genauso gut schiefgehen und ins Totalitäre kippen. Wer wollte da noch Beifall klatschen?

16 Vgl. exemplarisch zum Einfluss von McLuhans, Fiores und Agels experimenteller BildSchrift-Ästhetik auf die Popkultur der 1970er bis 1990er Jahre, vor allen Dingen auf Rolf Dieter Brinkmann, Ferdinand Kriwet und Rainald Goetz: Weingart 2003.

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Der moderne Intellektuelle? Der postmoderne Schizo? Wohl allein der postmoderne Schizo-Intellektuelle…

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Organisierender oder universaler Intellektueller? Alexander Kluges Medien-Arbeit M ATTHIAS U ECKER

Der westliche Intellektuelle zeichnet sich seit Zola dadurch aus, dass er (oder seltener sie) seine als Schriftsteller, Künstler, Publizist oder Wissenschaftler gewonnene öffentliche Stellung dazu benutzt, um vor der Öffentlichkeit seines Landes oder der ganzen Welt schwerwiegende Missstände anzuklagen oder vor drohenden Gefahren zu warnen. Seine Stellungnahmen beanspruchen sachliche und moralische Autorität, auch und gerade dann, wenn sie sich offenbar in Opposition zur herrschenden Meinung befinden. Zwar nimmt der Intellektuelle seine persönliche Leistung in Anspruch, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erlangen, doch beruft seine Autorität sich auf allgemeine Prinzipien, auf die Wahrheit, die Moral, die Gerechtigkeit oder die Menschenrechte, in deren Namen er zu sprechen beansprucht. Er richtet sich an die Herrschenden, die er zu Verhaltensänderungen aufruft, und zugleich an alle, die – entweder als Publikum oder als selbst Handelnde – seinen Forderungen Nachdruck verleihen und sie realisieren sollen. Typischerweise benutzt er zu diesem Zweck nicht die eigentlichen Formen seiner öffentlichen Arbeit – den Roman, den wissenschaftlichen Aufsatz, den Kinofilm – , sondern die Formen der politischen und publizistischen Öffentlichkeit, also den politischen Essay, den Aufruf, die öffentliche Rede, Formen, die ihren Fokus auf direkte Wirkung durch die Kombination von unmittelbarem, zumeist aktuellem Wirklichkeitsbezug und rhetorisch geformten Redemitteln realisieren sollen. Auch wenn einige dieser Formen sich an unmittelbar Anwesende wenden (oder dies zumindest simulieren), zielen sie doch grundsätzlich

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auf eine mediale Vermittlung, zunächst durch Zeitungen, vielleicht auch Flugblätter, später durch Radio und Fernsehen.1 In der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre, die die erste Bühne für den Intellektuellen Alexander Kluge liefert, sind die Intellektuellen dabei, vom grundsätzlichen, oft moralisch begründeten, gegen die Restaurations-Gesellschaft des Wirtschaftswunders gerichteten Nonkonformismus zu anscheinend pragmatischeren, auf spezifische politische und gesellschaftliche Veränderungen zielenden Positionen überzugehen. (Vgl. Uecker 2003: 273-293) Wegweisend in diesem Übergang war vor allem Hans Werner Richter, der zwar die Gruppe 47 von tagesaktuellen Stellungnahmen freihalten wollte, zugleich aber seine mit der Gruppe gewonnenen Kontakte dazu einsetzte, um außerhalb der Gruppe, aber gemeinsam mit anderen Intellektuellen politischen Einfluss auszuüben. (Vgl. Böttiger 2012: 218-220, 309-322) Daraus wurde eine Serie von öffentlichen Interventionen, in denen die Intellektuellen nicht als Einzelne auftraten, sondern zur Erzielung stärkerer Wirkung gemeinschaftlich agierten und die Autorität ihres Namens nicht nur einer gemeinsamen Sache, sondern immer häufiger auch einem von anderen formulierten Programm liehen. Nach der Protestbewegung gegen die geplante Atombewaffnung der Bundeswehr waren mehrere im Rowohlt-Verlag publizierte Essaybände, in denen vorwiegend jüngere Schriftsteller sich zum Bundestagswahlkampf und zum Bau der Berliner Mauer äußerten, die wichtigsten Beispiele dieser Neuorientierung. Im Herbst 1962 wurde darüber hinaus die Gruppe 47 unmittelbar in solche Aktivitäten einbezogen, als während einer Tagung der Gruppe Nachrichten über die Durchsuchung der Spiegel-Redaktion eintrafen und eine Reihe von Autoren sich nicht nur mit Rudolf Augstein solidarisierten, sondern »die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse« zu einer »sittliche[n] Pflicht, die sie jederzeit erfüllen würden«, erklärten. (Wagenbach/Stephan/Krüger 1979: 199) Auch Alexander Kluge, der 1962 mit LEBENSLÄUFEN sein erstes Buch veröffentlicht hatte, nahm an dieser Tagung teil, unterzeichnete das MANIFEST FÜR DEN SPIEGEL und rückte somit in die Reihen der öffentlichen Intellektuellen ein. Doch obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Thema und Tendenz dieser Protesterklärung von zentraler Bedeutung für Kluges Selbstverständnis als Intellektueller waren (und weiterhin sind), erscheint diese Form der Äußerung im Rückblick als gänzlich untypisch für seine Art der intellektuellen Intervention. In den Unterschriftskartellen, die die Protestbewegungen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre begleiteten, findet man ihn ebenso selten wie als Demonstrationsredner, Wahlkämpfer oder Verfasser von zeitdiagnostischen Meinungs-Aufsätzen.

1

Zur Theorie und Begriffsbestimmung vgl. Lepsius 1964: 75-91, Jung/Müller-Dohm 2008, Bering 2010.

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Was für ein öffentlicher Intellektueller ist also Alexander Kluge? Welche Formen hat er für sein öffentliches Auftreten als Intellektueller gewählt und wie haben sich diese Formen und die mit ihnen vermittelten Inhalte im Laufe der mehr als 50 Jahre entwickelt, die seit Kluges erstem öffentlichen Auftreten verstrichen sind? Obwohl Kluge, der mit Selbstbeschreibungen und Definitionen seiner Rolle durchaus nicht geizt, den Titel des Intellektuellen offenbar nicht in Anspruch nimmt und sich an den bekannten Ritualen öffentlicher Auftritte nur selten beteiligt, wird man ihn dennoch ohne Zögern als öffentlichen Intellektuellen bezeichnen können, denn weder an seiner öffentlichen Rolle noch an seinem kontinuierlichen Interesse an politischen und gesellschaftlichen Problemen kann ein Zweifel bestehen.2 Kluge gehört auch nicht zu jener Gruppe von Autoren und Künstlern, die auf öffentliche Auftritte und Äußerungen verzichten, um vollständig hinter ihrem künstlerischen Werk zurückzutreten. An persönlichen Äußerungen Kluges besteht kein Mangel – auch wenn man im Kontext von Kluges Werkkonzeption wohl mittlerweile annehmen muss, dass diese Äußerungen nicht als werkexterne, autoritative Kommentare, sondern eher als gleichberechtigte Teile seines Werkes verstanden werden sollten. (Vgl. Uecker 2014: 99-115) Den ersten Hinweis auf Kluges Konzeption seiner Rolle findet man einige Monate vor dem Spiegel-Manifest in einer öffentlichen Erklärung, die ebenfalls die Form eines von einer Gruppe getragenen Manifests annahm. Das OBERHAUSENER MANIFEST vom Februar 1962, in dem eine Gruppe junger Filmemacher das alte Kino für tot erklärten und den Anspruch erhoben, ein neues Kino zu schaffen, das von kommerzieller Bevormundung und Genreklischees frei sein sollte, gilt als Gründungserklärung des Jungen oder Neuen Deutschen Films. Doch auch wenn das Manifest mit seiner mehrfach wiederholten Ablehnung eines alten, bislang dominanten Wertesystems und der Forderung nach grundsätzlicher Veränderung eine Grundform des Intellektuellen-Appells inszeniert, unterscheidet es sich von diesem in wesentlichen Punkten. Anstelle eines expliziten Appells an die Herrschenden und die Öffentlichkeit kreist das Manifest um eine Tatsachenbehauptung und ein Glaubensbekenntnis: »Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.« 3 Das OBERHAUSENER MANIFEST ähnelt damit mehr den künstlerischen Programmen, mit denen Schriftsteller sich als Gruppen konstituieren und von ihren Konkurrenten absetzen, um eine klare Position im literarischen Markt einzunehmen, als den auf eine Verän-

2 3

Vgl. dazu zuletzt Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 387-407, Lämmle 2013. http://www.oberhausener-manifest.com/oberhausener-manifest/ (Zugriff am 1.11.2013) Kluge hat sich 2012 noch einmal zum Kontext des Manifests in einem Fernsehinterview geäußert:

http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=1&mode=play&obj=30191

(Zugriff am 1.11.2013).

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derung der Gesellschaft zielenden politischen Manifesten der universalen Intellektuellen. Dass mit dem OBERHAUSENER MANIFEST aber zumindest implizit auch ein Appell verbunden war, zeigte sich in den folgenden Jahren, als die Filmemacher, unter besonderem Einsatz Kluges, Lobbyarbeit für eine staatlich finanzierte, aber vom Staat unabhängige Filmförderung betrieben, die die finanzielle Grundlage für diesen neuen Film schaffen sollte. In oft scharfer Auseinandersetzung mit Politikern und Vertretern der Filmindustrie kämpfte Kluge für eine von externen kommerziellen Interessen weitgehend befreite Filmförderung im Interesse der Filmemacher, die von der kapitalistisch fundierten Industrie unabhängig gemacht werden sollten, um als Produzenten ihre eigenen Vorstellungen zu realisieren – ein Konzept, das als »Autorenfilm« identifiziert wurde.4 Kluge agierte hier als spezialisierter Intellektueller, der auf der Basis spezifischen Expertenwissens die besonderen Interessen einer sozialen Gruppe artikulierte, organisierte und in den realen politischen Entscheidungsprozess einzuspeisen versuchte. Dabei spielt der Gestus der Kritik oder des öffentlichen Protestes, der die Rolle des öffentlichen Intellektuellen sonst kennzeichnet, eine geringere Rolle als die Technik der Interessendurchsetzung und Konsensfindung.5 Daneben entwickelte Kluge in den folgenden Jahren aber auch eine Argumentation, die sich an eine breitere Öffentlichkeit wandte und die im Manifest und der daraus folgenden Lobbyarbeit artikulierten Interessen einer spezifischen Berufsgruppe als Interessen der gesamten Gesellschaft darstellte. Mit der Behauptung, dass der einzelne Autor oder Intellektuelle in der Verteidigung seiner Produktionsbedingungen zugleich die Interessen der Allgemeinheit und die Grundlagen der Demokratie verteidige, konnte Kluge den Repräsentationsanspruch des universalen Intellektuellen auf eine neue, in konkret benennbaren Interessen begründete Basis stellen. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Argumentation und für Kluges Profil als Intellektueller überhaupt ergibt sich aus der Tatsache, dass er sich zwar vorrangig als »Autor« versteht, seine Autorschaft jedoch an kein bestimmtes Medium bindet, sondern als Tätigkeit in der Öffentlichkeit konstruiert. Diese Öffentlichkeit hat in Kluges Verständnis mindestens zwei grundlegende Aspekte, an denen sich seine Interventionen als Intellektueller orientieren.6

4

Grundlegend weiterhin Elsaesser 1989.

5

Zur Unterscheidung von universalem und spezialisierten Intellektuellem vgl. etwa Foucault 2010: 301-307.

6

Vgl. zu Kluges Öffentlichkeitsbegriff und seinem theoretischen Kontext Uecker 2000: 28-48. Einen knappen Überblick zum weiteren Theorie-Konzept Kluges liefern Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 390-400.

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Einerseits ist die Öffentlichkeit jener Raum, in dem alle Individuen ihr SelbstBewusstsein und ihre Beziehungen zu allen anderen konstituieren. In der Öffentlichkeit entstehen die Gesellschaft und zugleich das Individuum, und die Struktur der Öffentlichkeit bestimmt über das Schicksal beider. Was wir denken können, was wir uns zutrauen und wie wir uns entwickeln, hängt davon ab, wie viel Zugang wir zur Öffentlichkeit haben und wie vielfältig diese Öffentlichkeit ist. Das Ideal solcher Öffentlichkeit ist die Kommunikation unter unmittelbar Anwesenden – aber in der Praxis ist sie fast immer (und wohl in wachsendem Maße) medial vermittelt. Deshalb ist der ungehinderte Zugang zu den Apparaten der Massenmedien ein zentrales Problem für das Funktionieren der Öffentlichkeit. Die Autoren – im Buch genauso wie im Film oder im Fernsehen – schaffen und besetzen kleine, unabhängige Nischen dieser Öffentlichkeit und injizieren ihr damit Vielfalt in »homöopathischen Dosen«. (Vgl. Kluge 1984a: 243-253, Uecker 2000: 49, Meyer 1993) Während der Medienbegriff für Kluge durchaus problematisch ist, ist sein Verständnis von Öffentlichkeit von großer Ernsthaftigkeit geprägt: es geht immer ums Ganze, wenn man in der Öffentlichkeit agiert. Unabhängigkeit ist ein zentrales Anliegen, in dem Kluges Position als Autor verschränkt ist mit seiner Konzeption von Öffentlichkeit. Bezeichnenderweise ist diese Unabhängigkeit aber nicht in erster Linie als Unabhängigkeit von politischer Kontrolle durch Regierungen oder große Organisationen konzipiert, sondern als Unabhängigkeit von den kommerziellen Interessen der Medienindustrie. Als grundlegendes Problem für die Herstellung und Bewahrung von öffentlicher Vielfalt hat Kluge die Vermachtung der »Medienindustrie« durch organisierte kommerzielle Interessen ausgemacht, die die kapitalintensive Produktion (und damit den Zugang zur Öffentlichkeit) steuern und zur Verbreitung homogener Produkte tendieren, die aus bewährten »Zutaten« zusammengesetzt sind. (Vgl. Kluge 1974: 326-337)7 Aus dieser Position erklärt sich vielleicht, warum Kluges Arbeit als Intellektueller weitgehend auf die Struktur der Öffentlichkeit konzentriert ist und erst in zweiter Linie spezifische, aktuelle Themen aufgreift. Vom Oberhausener Manifest und der Solidaritätserklärung für den Spiegel über die großen theoretischen Arbeiten mit Oskar Negt (vgl. Negt/Kluge 1972, Negt/Kluge 1981, Negt/Kluge 1993) bis hin zu einer Serie von Aufsätzen zum kommerziellen Fernsehen und neuerdings zum Internet (vgl. Kluge 2013), von der Lobbyarbeit für eine unabhängige Filmförderung bis zur Etablierung seiner Fernseh-Produktionsgesellschaft dctp in den achtziger Jahren hat Kluge sich für die Herstellung und Sicherung von Öffentlichkeitsformen

7

Zum Konzept des Zutatenfilms vgl. Kluge, Alexander: DIE UTOPIE FILM (1964) Abschnitt IV, http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/medienphilosophie/uploads/23/Alexander _Kluge_Utopie_Film1964.html (Zugriff am 10.2.2014).

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eingesetzt, die einerseits seine Ideale von Vielfalt und allgemeinem Zugang realisieren und zugleich ihm selbst die Fortsetzung seiner Produktion sichern sollten. Damit unterscheidet sich Kluges Konzeption der Intellektuellenrolle vom mainstream der westdeutschen Intelligenz dieser Periode, dessen Aktivitäten vor allem auf die Artikulation von Protest im Kontext verschiedener Massenbewegungen oder die pragmatische Wahlkampfarbeit für SPD, DKP oder Grüne gerichtet waren und die Medien-Öffentlichkeit als Instrument zur Verbreitung ihrer Botschaften zu benutzen versuchten.8 Obwohl die gemeinsam mit Oskar Negt entwickelten theoretischen Konzepte eine wesentliche Rolle in den Diskussionen der Neuen Linken spielten, kann Kluge auch nicht zu den mit Revolutionsrhetorik kokettierenden Intellektuellen gezählt werden. Zwar beschäftigte er sich in seinen Filmen und Erzählungen der sechziger und siebziger Jahre ebenfalls mit vielen der hier relevanten Themen, wandte aber der Organisation der Öffentlichkeit selbst größere Aufmerksamkeit zu als der Verbreitung seiner Meinungen. Vergangenheitsbewältigung, Abtreibung oder Hausbesetzungen sind wichtige Themen seiner Filme aus diesen Jahren, aber sie funktionieren selten als einfache Meinungsäußerungen oder Handlungsaufforderungen. Wo Kluge unmittelbar in aktuelle politische Auseinandersetzungen eingriff, tat er das erstens als organisierender Intellektueller, der seine Kollegen zur Zusammenarbeit anregte, und zweitens mit dem Ziel, eine alternative, oder »Gegenöffentlichkeit«, zu produzieren. Das bedeutete für ihn, die Formen öffentlicher Rede selbst zu verändern, statt ihnen bloß weitere Äußerungen hinzuzufügen. Die Vielfalt der Öffentlichkeit, um deren Herstellung es Kluge geht, besteht nicht bloß in der Meinungsvielfalt, sondern vor allem in der Vielfalt der Äußerungsformen und der Zusammenhänge, die aus ihnen erwachsen und in denen authentische Erfahrungen artikuliert werden können. Zwar lehnt Kluge die konventionellen Formen der politischen Rede nicht ab, aber eine Öffentlichkeit, die keine anderen Formen benutzt, hält er für verarmt und wirkungslos, da sie den realen Erfahrungen des Lebens keinen Platz bietet. Den »Autoren« – gleichgültig ob sie im Medium der Literatur, des Films oder der von Kluge besonders geschätzten Oper arbeiten – kommt eben die Aufgabe zu, in ihren Nischen diese sonst verdrängten Erfahrungen zur Sprache zu bringen, und Öffentlichkeit ist der Raum, in dem vielfältige Erfahrungen in einen neuen Zusammenhang treten. Wo die dominanten Diskurse und die Apparate der industriellen Öffentlichkeitsproduktion Erfahrungen unter abstrakte Oberbegriffe subsumieren und in strikt regulierte Genres einpassen, um sie verwertbar zu machen, will Kluges Gegenproduktion das sonst Verdrängte und scheinbar Unbrauchbare artikulieren. (Vgl. Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 392-400)

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Überblicke bei Schnell 1986, Parkes 2009.

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Was das praktisch bedeutet und welche Probleme mit einem solchen Verfahren verbunden sind, lässt sich am besten am Beispiel der drei aktuellen Kollektivfilme darstellen, die Alexander Kluge zwischen 1978 und 1983 produzierte. Diese Filme stellen Kluges Beitrag zu den damaligen Auseinandersetzungen um den Terrorismus der RAF, die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß und die Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre dar und repräsentieren zugleich seinen Versuch, aus der Zusammenarbeit mit Kollegen eine robuste Form von Gegenöffentlichkeit zu produzieren. Als intellektuelle Interventionen sind sie durch ihre scheinbar ganz auf aktuelle Ereignisse bezogene Orientierung zu erkennen, doch von den konventionellen Formen der öffentlichen politischen Rede wollen sie sich deutlich unterscheiden, um der existierenden Öffentlichkeit Elemente hinzuzufügen, die sonst fehlen. Der erste dieser Filme, DEUTSCHLAND IM HERBST von 1978, repräsentiert die breiteste Kooperation mit Beiträgen von Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Alf Brustellin und Bernhard Sinkel, Edgar Reitz, Katja Rupé und Hans Peter Cloos, Maximiliane Mainka und Peter Schubert, Heinrich Böll sowie Kluge selbst, der auch den Schnitt des Films überwachte und die Einzelbeiträge in einen Zusammenhang brachte.9 Am 1980 folgenden Wahlkampf-Film DER KANDIDAT waren neben Kluge nur noch Volker Schlöndorff, Stefan Aust und Alexander von Eschwege beteiligt.10 Für KRIEG UND FRIEDEN kam 1983 ein geplanter Beitrag Fassbinders wegen dessen Tod nicht mehr zustande, dafür lieferten Schlöndorff, Aust und Axel Engstfeld wesentliche Teile.11 Im Vergleich zu DEUTSCHLAND IM HERBST wirken die beiden späteren Filme insgesamt einfacher und ein wenig konventioneller. Insbesondere Stefan Austs lange Beiträge setzen in der Kombination von Reportage und historischer Faktenrecherche mit oft polemischem Sprecherkommentar die Traditionen des TV-Politmagazins fort (und bereiten das spätere Spiegel TV Format vor). Volker Schlöndorff, Alexander von Eschwege und Axel Engstfeld lieferten dagegen vor allem unkommentierte Ereignisreportagen – Filme von Parteitagen, Demonstrationen und Gipfeltreffen, die sich von normalen Nachrichtenbeiträgen dadurch unterscheiden, dass sie die Aufmerksamkeit tatsächlich auf das vor der

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Vgl. http://www.filmportal.de/film/deutschland-im-herbst_eff4418e07b442349ac9ceacc 84face8 (Zugriff am 1.11.2013); Zusatzinformationen in Kluge 1979: 11-37. »Deutschland im Herbst« ist mehrfach analysiert worden, vgl. etwa Scheunemann 2008: C69-78.

10 Vgl.

http://www.filmportal.de/film/der-kandidat_64a4628fe04948f9b53ec2b024bdb8ce

(Zugriff am 1.11.2013); Zusatzinformationen in Kluge 1984b: 274-292, Lewandowski 1980: 269-276. 11 Vgl. http://www.filmportal.de/film/krieg-und-frieden_bf80af0689324d42ba25c7801a2f3 854 (Zugriff am 1.11.2013); zu den Dreharbeiten vgl. Kluges Berichte in Kluge 1984b: 260-395.

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Kamera sichtbare Geschehen lenken und nicht bloß als Zugabe zu einem aus dem off verlesenen Kommentar fungieren. Ihre Beiträge wirken wie die Rohstoffe, aus denen sonst konventionelle Nachrichtenfilme kondensiert werden, die aber in ihrer scheinbar unverarbeiteten Form Dinge und Verhaltensweisen zeigen, denen normalerweise kein Nachrichtenwert zugeschrieben wird. An die formale Vielfalt des ersten Films knüpfte Schlöndorff noch einmal mit von Heinrich Böll geschrieben fiktionalen Spielszenen an, die in KRIEG UND FRIEDEN die verzweifelten Überlebenden eines Atomkriegs imaginieren. In DER KANDIDAT stellte Kluge mit insgesamt 20 Minuten Länge die Anfangsund Schlusssequenzen, hatte aber keine wesentliche Beteiligung am Schnitt der anderen Teile. Während Aust die Fakten von Strauss‘ skandalträchtiger Karriere aufbereitete, stellte Kluges Einleitung eine größere historische Dimension zur Verfügung: Von Bildern des Bonner Kanzleramts lässt er sich den Rhein hinauf zu jenem Hotel tragen, wo 1938 der britische Premier Chamberlain das Münchener Abkommen verhandelte und »ein ganzes Land an Adolf Hitler [verkauft]« (Kluge 1984b: 275). Der Kommentator – Kluge selbst, der in den siebziger Jahren seine Erzählerstimme zu einem wesentlichen Element seiner Filme machte – ergänzt grundsätzlich: »Nach wie vor geht es darum, daß der Mensch ein warmes sicheres Haus hat. Es geht um unser Leben...« (Ebd.: 276) Dieses Motiv nimmt er in der Schlusssequenz des Films noch einmal auf: »Wir, die Deutschen, 2000 Jahre alt, seit der Völkerwanderung in diesem schönen Lande ansässig, haben uns unsere Geschichte schon oft anders vorgestellt. Es waren aber immer jeweils keine Wahlen. Es geht um unser Leben.« (Ebd.: 285) Das Verfahren, eine aktuelle Situation in eine assoziativ aufgeladene Konstellation mit historischen Momenten zu bringen, gehört zum dauerhaften Repertoire Kluges. Man kann darin eine Umsetzung von Walter Benjamins Strategie des historischen Materialisten sehen, der sich »einer Erinnerung [bemächtigt], wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.« (Benjamin 1980: 253) Zugleich benutzt Kluge wohl die Historisierung im Sinne Martin Saars als eine Technik der Distanzierung und Perspektivierung, die die Gegenwart gerade durch unerwartete historische Verbindungen verfremdet und damit erst erkennbar macht (vgl. Saar 2008: 42f.). Ihre Positionierung am Beginn und Ende des Films verleiht diesen Stellen darüber hinaus die Aufgabe, den Ton des ganzen Films anzugeben und einen Rahmen auch für die Beiträge der anderen Autoren zu liefern. Eine ähnliche Strategie findet sich auch in KRIEG UND FRIEDEN, diesmal in Form von zwei Schrifttafeln, die das Problem des Films als die Suche nach einer angemessenen Haltung zu den behandelten Themen bestimmen: Am Anfang heißt es »Nichts entmutigt so sehr, als ein Spiel nicht zu überschauen, von dem das Leben

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abhängt...« (Kluge 1984b: 304)12 Darauf antwortet ganz am Schluss die Tafel: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« (Ebd.: 363)13 Das Pathos beider Rahmungen bekräftigt die Bedeutung der gewählten Themen und den Anspruch der Filme, Orientierungshilfe zu bieten. Doch was man normalerweise unter Orientierung versteht, wird in diesen Filmen nur in den journalistischen Teilen von Stefan Aust geliefert, von Kluge selbst aber eher unterlaufen. Zwar gibt es etwa am Ende des KANDIDATEN eine konventionell-polemische, fast kabarettistische Sequenz, in der Bilder des Kandidaten Strauß mit Zirkusmusik und einer Aufzählung der Anforderungen an die Kandidaten für römische Wahlämter kontrastiert werden, die Strauß offensichtlich nicht erfüllt (Ebd.: 287)14 – charakteristischer sind aber die thematische Ausweitung auf einen historischen Horizont und der Versuch einer Wahrnehmungsschärfung für andere, scheinbar nicht politische Erfahrungen. So endet beispielsweise KRIEG UND FRIEDEN mit einer für Kluges Werk typischen Zeittotalen, in der der Blick aus dem Autofenster während einer Fahrt von Frankfurt nach München in einer Minute gerafft ist, gefolgt von Bildern eines Gewitters. Die Sequenz soll dem Drehbuch zufolge »abschiednehmend« wirken. (Ebd.: 362) Über die Protagonistin seines Films DIE PATRIOTIN lässt Kluge den FilmErzähler sagen: »Die meiste Zeit ist Gabi Teichert eher verwirrt. Das ist eine Frage des Zusammenhangs.« (Kluge 1979: 168) Kluges Beiträge zur politischintellektuellen Debatte bestehen in diesen Jahren in einer Art doppelter Verfremdung: Während andere Mitarbeiter dieser Filme durchaus gewohnte Meinungen und Perspektiven auf die politischen Themen liefern, stellt Kluge durch die Montage und Rahmung der Sequenzen neue und eher ungewohnte, auf den ersten Blick rätselhafte Zusammenhänge her. Er erweitert den Blick auf gleichermaßen Grundsätzliches und (scheinbar) Abwegiges, das im normalen politischen Diskurs nicht berücksichtigt wird, und unterläuft zugleich die Erwartung nach klaren Parolen. Dass man Franz Josef Strauß nicht wählen sollte, wird den Zuschauern des Films auch ohne die Aufzählung größtenteils längst bekannter Details aus dessen Karriere eine Gewissheit gewesen sein. Deren Bekräftigung hielt Kluge durchaus für richtig und

12 Es handelt sich um ein Zitat von Auguste Blanqui, das Kluge wahrscheinlich aus Rudolf Bahros »Die Alternative« übernommen hat, vgl. Bahro 1980: 346. 13 Es handelt sich um ein Zitat aus Theodor W. Adornos »Minima moralia«; vgl. Adorno 1986: 63. 14 »Candidus: weißglänzend. Candidatus: in ein weißes, jungfräuliuches, frischgewaschenes Gewand gehüllt, zur Wahl antretend. Kein Korruptionsverdacht, daher wählbar. Mannbar, schiffbar, bargeldlos. So stellt sich der Römer, 80 vor Christus, zur Wahl. Ein Kandidat, weißglänzend.«

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legitim, doch darüber hinaus nutzte er die Aufmerksamkeit für das aktuelle Thema dazu, grundsätzlichere Fragen über die Organisation von Politik und Gemeinwesen zu stellen, für die in Wahlkämpfen sonst kein Raum ist. Ausdrücklich besteht er auf der Einbeziehung scheinbar zweckfreier Bilderfolgen, in denen Natur und Lebenswelten abgebildet werden, und verteidigt die unter den Mitarbeitern nicht zuletzt wegen ihrer Produktionskosten umstrittenen Spielszenen von Schlöndorff und Heinrich Böll gerade wegen ihrer Abwendung von der Aktualität. (Kluge 1984b: 389)15 Zugleich enttäuscht er die Erwartung auf klare Handlungsanweisungen und Appelle, wie sie gewöhnlich von politischen Intellektuellen geliefert werden. Den Zusammenhang nämlich, auf den Kluge zielt, stellt er nur durch die Lücken dar, die seine Montage zwischen den Bildern und Sequenzen lässt.16 Will man Kluges Arbeit in diesen Filmen als die eines Intellektuellen beschreiben (und von der ›bloß‹ künstlerischen unterscheiden) so läge sie in der Aufforderung an die Zuschauer, neue, viel weiter gespannte Zusammenhänge wahrzunehmen und herzustellen, als sie im politischen Diskurs und seiner Repräsentation durch die Medien sonst vorkommen. Er kritisiert nicht einen einzelnen Missstand oder ein Individuum von der Position moralischer Autorität aus, sondern stellt grundsätzliche Fragen nach der Funktionsweise und den Aufgaben der Politik, ohne zugleich schon Antworten mitzuliefern. Kluges Beitrag ist also wesentlich grundsätzlicher als die sonst übliche Intervention von Intellektuellen in Wahlkämpfen (vgl. Zimmermann 2008) – und zugleich auch vager und unbestimmter. Sie stellt nicht bloß den Kandidaten Strauß oder eine bestimmte rüstungspolitische Entscheidung in Frage, sondern adressiert das Selbstverständnis des Filmpublikums, das sich zunächst verwirrt und dann aufgefordert sieht, dieser Verwirrung durch die Herstellung neuer Zusammenhänge zu begegnen.17 Die Arbeit an KRIEG UND FRIEDEN hat Kluge als zunehmend problematisch empfunden, da einerseits die verbliebenen Mitarbeiter einer allzu engen Vorstellung von Tagesaktualität und einer engen thematischen Fokussierung anhingen (vgl. Kluge 1984b: 367f.) und andererseits zunehmend auf der Kontrolle über ihre Beiträge bestanden, sie als Privateigentum betrachteten, statt sie in den kollektiven Produktionsprozess einzubringen (Ebd.: 391). »Meine Arbeit bestand zuletzt hauptsächlich in der Grabpflege; für jede unserer erfolgversprechenden Ahnungen, die wir Konzept nennen [...] habe ich nämlich im Film irgendeine Totenehrung untergebracht. Man erkennt die Grabsteine daran, daß auf eine logische Verknüpfung verzichtet wird, also an den Rändern.« (Ebd.: 328)

15 Siehe auch die Luzifer-Idee, Ebd.: 385f. 16 Zu Kluges Montage-Konzeption vgl. UECKER 2000: 121-148, Sombroek 2005: 103-112. 17 Vgl. zur Strategie grundsätzlich Saar 2008: 44-45.

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Darüber hinaus sieht Kluge im Nachhinein in den Schwierigkeiten der Zusammenarbeit die Symptome externer Veränderungen, die das Projekt des Neuen Deutschen Films insgesamt an sein Ende bringen (vgl. Ebd.: 389). Der als Produzent des Films fungierende Filmverlag der Autoren, einst als Garant der Unabhängigkeit der FilmAutoren gegründet, sei auf Weisung des neuen Eigentümers Rudolf Augstein in seiner Substanz zerstört worden und habe offenbar an Vermarktungsgesichtspunkten orientierte Vorgaben für die Endfassung des Films durchgesetzt. Das war aber nur ein kleiner Teil der Umwälzungen, die die Basis für Kluges bisherige Öffentlichkeits-Arbeit veränderten. Tatsächlich kollabierten in den mittleren achtziger Jahren sowohl die von Kluge selbst mit aufgebauten Institutionen, auf die der Neue Deutsche Film sich gestützt hatte, als auch die Motivation der beteiligten Filmemacher. Während die starben, ins Ausland abwanderten oder sich auf große Fernsehproduktionen stürzten, propagierte eine jüngere Generation von Filmemachern die Orientierung am Publikums- und Kassenerfolg als wichtigstes Kriterium der Arbeit. Kluge selbst konzentrierte sich für einige Jahre auf eine Strategie, die die dezidierte öffentliche Kritik am kommerziellen Umbau der Öffentlichkeit verband mit einer Lobbyarbeit hinter den Kulissen, in der er eine neue Grundlage zur Fortsetzung seiner eigenen Arbeit herstellte. Deren Ergebnis ist die Produktionsgesellschaft dctp, ein Bündnis Kluges mit dem SPIEGEL, einer japanischen Werbeagentur und diversen anderen Zeitungen, die durch Kluges Verbindungen zur SPD Sendelizenzen im Rahmen des Programms der neuen kommerziellen Fernsehsender (und zeitweilig sogar einen eigenen Fernsehsender) erhält. Scheinbar über Nacht wird aus dem Kino-Nostalgiker und scharfen Kritiker des Fernsehens ein unabhängiger Produzent von Fernsehmagazinen. Während Kluges öffentliche Interventionen gegen die Privatisierung der Medien dem klassischen Modell des universalen Intellektuellen zu gehorchen scheinen, demonstriert seine im wesentlichen nicht-öffentliche Lobby- und Organisationsarbeit erneut die pragmatische Ader dieses so grundsätzlich argumentierenden Intellektuellen und folgt dessen spezifischen Interessen, nämlich der Sicherung einer Plattform für die eigene Produktion. Diese Plattform hat sich einerseits als bemerkenswert stabil erwiesen, auch wenn die Expansion der Aktivitäten von dctp in den neunziger Jahren nicht aufrecht erhalten werden konnte. Parallel zur Fernsehausstrahlung hat Kluge darüber hinaus in den letzten Jahren eine mit YOUTUBE verlinkte Internetplattform für seine Fernsehprogramme geschaffen, die neuerdings sogar über Werbeunterbrechungen finanziert wird.18 Ein weiteres Mal zeigt sich hier Kluges Bereitschaft zu pragmatischem Handeln und seine Hartnäckigkeit als Produ-

18 Vgl. www.dcpt.tv.

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zent. Allerdings hat er im Fernsehen nicht im Interesse aller Autoren gearbeitet, sondern einen Platz besetzt, den nun niemand anders mehr einnehmen kann. Zur Beurteilung seiner Rolle als Intellektueller in diesem Kontext liegt es nahe, die Themen von Alexander Kluges Fernsehmagazinen zu sichten. Die von ihm als »Kulturmagazine« beschriebenen Sendungen beschäftigen sich ebenso häufig mit Operninszenierungen oder historischen Ereignissen, wie mit naturwissenschaftlichen Entdeckungen oder der Filmgeschichte.19 In den letzten Jahren scheinen darüber hinaus aktuelle, im weitesten Sinne politische Themen stärker in den Vordergrund gerückt zu sein. So findet man auf der Internetseite von dctp.tv Themenblöcke wie »Kapitalismus ist keine Einbahnstraße«, »Der blinde Fleck im Auge der Banken«, »Tschernobyl und kein Ende« oder »Japan: Godzilla in Fukushima«. Zum Problem der Atomenergie, mit dem Kluges Sendungen sich regelmäßig beschäftigt haben, veröffentlichte er bereits 1996 eine Sammlung von TV-Gesprächen in Buchform (Kluge 1996). Legt diese Übersicht den Eindruck nahe, Kluge verhalte sich nun als Intellektueller wie ein politischer Journalist, so demonstriert schon ein Blick auf die Titel seiner Sendungen, dass seine Perspektive auf aktuelle politische Themen weiterhin quer zur gewöhnlichen Definition von Aktualität in den Medien steht. Der Themenblock zu Fukushima beispielsweise enthält neben einer Reportage von Spiegel TV, das für dctp konventionelle journalistische Formate produziert, unter anderem einen dreiminütigen Zusammenschnitt von Bildern aus dem japanischen Atomkraftwerk mit Szenen aus Godzilla-Filmen, ein Gespräch mit der Schriftstellerin Yoko Tawada über Gespenster oder die Sendung »Helge Schneider in Fukushima«, in der der häufig bei Kluge auftretende Komiker die Rolle eines Katastrophenhelfers spielt, der seiner Familie aus Fukushima kleine Dosen mit Strontium und Plutonium als Weihnachtsgeschenke mitgebracht hat.20 Zum 2013 aktuellen Thema der USÜberwachungspolitik hat Kluge mit einem weiteren regelmäßigen Gast, dem Schauspieler und Produzenten Peter Berling, ein Gespräch mit dem Titel YES, WE SCAN! produziert, in dem Berling kostümiert als Schweizer Rechtsanwalt, amerikanischer General und russischer Geheimdienstler unter anderem darüber spekuliert, wie Edward Snowden der Verfolgung durch die CIA entkommen kann. 21 Die zu Beginn des Programms gestellte Frage »Ist der Verrat eines illegalen Staatsgeheimnisses strafbar?« wird dagegen nicht ernsthaft diskutiert. Beide Sendungen repräsentieren mit ihrer absurden Clownerie und der offensichtlich fiktional-inszenierten Nachahmung von Experteninterviews eine wichtige Facette von Kluges Magazinen,

19 Vgl. zum thematischen Profil und zum Konzept des »Kulturmagazins« Uecker 2000: 82100. 20 http://www.dctp.tv/filme/helge-schneider-fukushima/ (Zugriff am 1.11.2013). 21 http://www.dctp.tv/filme/yes-we-scan-18082013/ (Zugriff am 1.11.2013).

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die gelegentlich unter dem Titel FACTS&FAKES beschrieben wird. (Vgl. Lämmle 2013: 95-96, 228-231)22 Während die meisten seiner Gespräche wirkliche Experten oder Augenzeugen in den Mittelpunkt stellen,23 werden in diesen Beispielen solche Experten mehr oder weniger ernsthaft nachgeahmt und parodiert, ohne dass daraus jedoch politisches Kabarett würde. Entscheidend ist aber, dass Kluge, ähnlich wie in den kooperativen Filmen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, nun im Internet Themenblöcke zusammenstellt, die eine Reihe von unterschiedlichen Formen und Zugangsweisen zu aktuellen Themen anbieten und dadurch als Alternative zum Format der aktuellen Nachrichten funktionieren. Als Intellektueller liefert Kluge also auch weiterhin keine klaren Handlungsanweisungen oder Meinungen, sondern er bemüht sich darum, Vielfalt und Komplexität des öffentlichen Diskurses zu steigern, um Realitäts- und Gefühlselemente zu artikulieren, die normalerweise nicht vorkommen. Verändert hat sich gegenüber den früheren Arbeitsformen zum einen die Darstellungsweise: Während die Kooperationsfilme im Kino auf große Formate setzten, da Kurzfilme im Kinoverleih keinen Platz fanden, erlaubt besonders die Arbeit im Internet die Zusammenstellung unterschiedlich langer und zum Teil sehr kurzer Formen. Die Themenblöcke auf der Internetseite von dctp wirken dementsprechend uneinheitlich, da sie den auch im Fernsehen noch geltenden Zwang zum fixen Format abgeworfen haben. Sie realisieren eine Form der »konstellativen Montage« (Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 402),24 in der die Zusammenstellung vielfältiger und gelegentlich disparater Materialien nicht – wie in Eisensteins Montage – neue Oberbegriffe produziert, sondern den Zuschauern selbst die Möglichkeit zur Bedeutungsproduktion gibt. Daneben stellt sich aber auch die Form der Kooperation anders dar als in den früheren Filmen. Es fehlen nun die Autoren wie Fassbinder oder Schlöndorff, die klar erkennbare eigene Zugangsweisen beisteuerten. Kluge produziert und kontrolliert das gesamte Programm. Doch da die Mehrzahl seiner Fernsehsendungen inzwischen das Format des Interviews benutzen, in dem Kluge zudem grundsätzlich unsichtbar bleibt und lediglich zu hören ist, rücken zunächst seine Gesprächspartner, die Experten, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Natürlich verschwindet Kluge nicht, da ja seine Stimme, die oft unerwartete und ungewöhnliche Fragen und Einfälle artikuliert, einen Großteil der Sendezeit einnimmt. Doch selbst wenn Kluge diese Gespräche häufig dominiert, weicht seine Performanz als Intellektueller er-

22 Die Bedeutung des »Absurd-Komische[n]« als wesentliches Merkmal von Kluges Arbeit betonen auch Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 398. 23 Zur Rolle von Experten in Kluges Fernsehmagazinen vgl. ausführlich Lämmle 2013: 9294, 139-165, 242-449. 24 Vgl. zum Montage-Konzept auch Uecker 2000: 131-138.

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neut vom etablierten Rollenmodell ab, da er in erster Linie als Fragender und Suchender auftritt und in seinen Gesprächen eine Form von Kooperation vorführt, in der er gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern – und auf der Basis ihrer Expertise – neue Ideen entwickelt. Kluge agiert also nicht als »Medienpromi« – auch wenn er in seinen Sendungen und in zahlreichen Gesprächen allgegenwärtig zu sein scheint und sich mit fast allen denkbaren Themen beschäftigt, sondern als Intellektueller, der gemeinsam mit seinen Gesprächspartnern unerwartete Ideen generiert, indem er deren spezialisiertes Expertenwissen mit neuen, oft spekulativen Kontexten konfrontiert und verknüpft. Damit gibt er ihnen die Gelegenheit, die zumeist disziplingestützten Kategorien ihrer Wissensproduktion in Richtung auf etwas Grundsätzliches hin zu überschreiten und von Experten zu Intellektuellen zu werden, die die Sicherheit ihrer jeweiligen Wissenschaften verlassen. (Vgl. Lämmle 2013: 247f.) Nicht um die Popularisierung von Spezialwissen geht es, sondern um seine Rekontextualisierung für eine kooperative Öffentlichkeit. Zwar tritt Kluge nicht, wie andere öffentliche Intellektuelle, als Meinungsmacher auf, doch seine ständige Präsenz als Autor, dessen Name und Stimme wie ein Markenzeichen wirken, signalisiert zumindest den regelmäßigen Zuschauern Erwartbares – etwa in der Kontinuität der Methoden und thematischen Motive, die die meisten dieser Beiträge kennzeichnen. Insofern ist es irreführend, Kluges Arbeitsweise die »persönliche Exposition in der öffentlichen Rede« (Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 401) abzusprechen. Gerade weil er auf der Bedeutung authentischer Erfahrung besteht, verweist er Gesprächspartner und Publikum immer wieder auf seine ganz persönlichen Motive, die denn auch einen roten Faden bilden, der sich durch alle seine Arbeiten zieht. Das ist am Ende womöglich persönlicher als die Berufung auf intellektuelle Autorität und universale Werte, die die Rolle des öffentlichen Intellektuellen normalerweise prägt. Gemessen an den etablierten Diskursen über aktuelle, politische Themen wirken Kluges Beiträge wegen ihrer Uneinheitlichkeit und schrägen Perspektive aber weiterhin verwirrend, obwohl das Verfahren selbst mittlerweile fest etabliert ist und die Abläufe einigermaßen vorhersagbar sind. Kathrin Lämmle hat Kluges Verfahren als ein »undoing« beschrieben, das durch »unermüdliches Rütteln an den selbstverständlich gewordenen [...] Ausdrucks- und Darstellungsweisen« die Aufmerksamkeit auf die »Bedingungen von Wahrheitsproduktion, deren Freiheitsgrade, Legitimation und Kommunikation« richte (Lämmle 2013: 243, 245). Diese negative, als praktisches Infragestellen der dominanten Formen von politischer Öffentlichkeit konzipierte Beschreibung greift jedoch zu kurz, weil sie einerseits ganz auf ein formales Verfahren konzentriert bleibt und darüber Kluges ethische Motive ignoriert, die Carlos Becker, Magnus Krümpelbeck und Florian Vietze als Kritik an allen »Strukturen der Gewalt [...], die das Einzelne und Subjektive, das Irrationale und Widerständige unartikuliert lassen«, identifiziert haben. (Vgl. Becker/Krümpelbeck/Vietze 2008: 394) Zum anderen ist jedes »undoing« zugleich

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auch ein »doing«, eine »Gegenproduktion« nämlich, die nicht nur dadurch definiert ist, dass sie etwas anderes kritisiert und die üblichen Abläufe stört, sondern die durch ihre Existenz auch eine Positivität annimmt und etwas eigenes tut. Die Wirksamkeit dieser Form von intellektueller Arbeit ist kaum zu messen. Der üblichen Konzentration der Medien auf streng gegeneinander isolierte aktuelle Themen setzt Kluge eine eher zerstreute Aufmerksamkeit entgegen, die erfassen will, wie die aktuellen Themen – und scheinbar nichtaktuelle Themen – miteinander vernetzt sind. Und wenn der Intellektuelle sich an Leser, Zuhörer oder Zuschauer wendet, die sich »als einzelne provozieren, herausfordern und zur Revision von bisher scheinbar natürlichen Urteilen und Haltungen auffordern lassen« (Saar 2008: 45), so verschärft Kluge diese Strategie des intellektuellen Störens, indem er die Verfahren der Wissens- und Urteilsbildung selbst befragt, statt lediglich einer akzeptierten Meinung eine andere entgegenzusetzen. So sehr es ihm um die Schaffung von Öffentlichkeit als eines Raums der gemeinsamen Kommunikation und Arbeit geht, so wenig wirkt diese Arbeit doch aktivierend, da sie klare Handlungsanweisungen nicht geben kann. Selbst wenn es verlässliche Daten darüber gäbe, wie viele Zuschauer Kluges Sendungen ansehen, wäre damit noch wenig gewonnen. Kluge selbst hat ja mehrfach seine Nischenarbeit mit dem umstrittenen Modell der homöopathischen Medizin verglichen, in der bis zur Unmessbarkeit verdünnte Wirkstoffe enorme, aber mit empirischen Methoden kaum verifizierbare Wirkungen entfalten sollen. (Vgl. Kluge 1984a: 243-253) Will man sich auf solche Spekulationen nicht einlassen, so kann man entweder am eigenen Denken überprüfen, ob und in welcher Weise die Beschäftigung mit Kluges Arbeit Wirkungen hinterlassen hat, oder akzeptieren, dass er zumindest in der Form seiner Produktionsgesellschaften, Texte und Filme eine vielfältige und überraschend stabile Produktion in die Öffentlichkeit gebracht hat. Als politischer Intellektueller hat Kluge wahrscheinlich in erster Linie Wirkungen durch seine Organisations- und Lobbyarbeit erzielt, die – wenn auch in verzerrter Form – bis in den Bereich der Gesetzgebung Spuren hinterlassen hat. Was für ein öffentlicher Intellektueller ist Alexander Kluge also? Sosehr er sich »an alle« richtet und in seinem Konzept der Öffentlichkeit ein ethisches Universalprinzip vertritt, das gegen Verkürzungen und Verzerrungen durch (kommerzielle) Einzelinteressen geschützt werden muss, so wenig tritt er als Autorität und Meinungsbildner auf, der seinem Publikum erklärt, wie die Missstände der Welt behoben werden sollen. Als Intellektueller ist seine Arbeit in erster Linie organisierend, indem er Orte in den Medien herstellt und besetzt, die gemeinschaftlich benutzt werden können, und indem er in seinen Filmen und Gesprächen vorführt, wie die kooperative Produktion von Wissen, Ideen und Orientierungen funktionieren könnte. Wie kaum ein anderer Intellektueller hat er sich als multimedial arbeitender Produzent auf die Bedingungen der Medien- und Kommunikationsgesellschaft einge-

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stellt, ohne sich aber an deren Vorgaben anzupassen. Vielmehr bleibt er hartnäckig er selbst – und immer offen für Neues.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1986): Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (=Gesammelte Schriften Band 4). Bahro, Rudolf (1980): Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Reinbek: Rowohlt. Becker, Carlos/Krümpelbeck, Magnus/Vietze, Florian (2008): »Antirealistische Parteinahme: Möglichkeiten des Subjektiven im Werk Alexander Kluges«, in: Jung, Thomas/Müller-Dohm, Stefan (Hg.): Fliegende Fische, S. 387-407. Benjamin, Walter (1980): Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bering, Dietz (2010): Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt, Begriff, Grabmahl, Berlin: Berlin University Press. Böttiger, Helmut (2012): Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, München: DVA. Elsaesser, Thomas (1989): New German Cinema. A History, London: BFI. Foucault, Michel (2010): »Die politische Funktion des Intellektuellen«, in: Foucault, Michel: Kritik des Regierens, Berlin: Suhrkamp, S. 301-307. http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=1&mode=play&obj=30191 (Zugriff am 1.11.2013). http://www.dctp.tv/filme/helge-schneider-fukushima/ (Zugriff am 1.11.2013). http://www.dctp.tv/filme/yes-we-scan-18082013/ (Zugriff am 1.11.2013). http://www.filmportal.de/film/der-kandidat_64a4628fe04948f9b53ec2b024bdb8ce (Zugriff am 1.11.2013). http://www.filmportal.de/film/deutschland-im-herbst_eff4418e07b442349ac9cea cc84face8 (Zugriff am 1.11.2013). http://www.filmportal.de/film/krieg-und-frieden_bf80af0689324d42ba25c7801a 2f3854 (Zugriff am 1.11.2013). http://www.oberhausener-manifest.com/oberhausener-manifest/ (Zugriff am 1.11. 2013). Jung, Thomas/Müller-Dohm, Stefan (Hg.) (2008): Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt a.M.: Fischer. Kluge, Alexander (1964): Die Utopie Film. (Zugriff am 10.2.2014). Ders. (1974): »Medienproduktion«, in: Hoffmann, Hilmar (Hg.): Perspektiven der kommunalen Kulturpolitik, Frankfurt a.M.: Ullstein, S. 326-337. Ders. (1979): Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins.

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Der Intellektuelle als Verweigerungskünstler? – Günter Eich, Ingo Schulze, Christian Kracht J ÖRG S CHUSTER

I M K ONTEXT DER G RUPPE 47 – H INWENDUNG ZUR W IRKLICHKEIT UND POLITISCHES E NGAGEMENT »[…] die Möglichkeit der Isolation schwindet. Die Verkapselung in die private Sphäre wird undicht. Die Atomkraft zertrümmert die starken Mauern, die sich die Seele errichtet hat; durch die Breschen pfeift der schneidend kalte Wind der unentrinnbaren Wirklichkeit.« (Eich 1994/4: 469) Diese Beschreibung liefert Günter Eich zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem programmatischen Essay zur »Situation des Schriftstellers«, den er für die – nicht veröffentlichte – Probenummer der von Hans Werner Richter im Kontext der Gruppe 47 geplanten Zeitschrift »Skorpion« verfasste. Aus dem Diktum sich der Realität gegenüber öffnen zu müssen, resultiert zugleich die Forderung nach dem politisch aktiven, engagierten Schriftsteller: »Da Schreiben ein Akt der Erkenntnis ist, ist die Situation des Schriftstellers die eines vorgeschobenen Postens. Im Treiben der Welt kann er sich der immer stärkeren Aktivierung nicht entziehen. Seine Aufgabe hat sich vom Ästhetischen zum Politischen gewandelt […]«. (Ebd.) Damit befindet sich Eich, der 1950 den erstmals verliehenen Preis der Gruppe 47 erhielt, in Übereinstimmung mit dem Leiter und mit repräsentativen Mitgliedern der Gruppe. So schreibt Hans Werner Richter rückblickend: »Ich wollte nach dem Krieg einen anderen, weltzugewandten, politisch […] engagierten Schriftsteller. Ich sah damals das Unglück

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Deutschlands nicht nur in der politischen Entwicklung, sondern auch in seiner geistigen und damit auch literarischen.«1 Beides, die Hinwendung zur zeitgenössischen Wirklichkeit und das politische Engagement, finden sich – partiell – in Günter Eichs Werk der unmittelbaren Nachkriegszeit. So wird in der Einleitung zum Hörspiel TRÄUME, das 1950 einen Publikumsskandal auslöste, darauf hingewiesen, »die Mißgeburten bei Menschen und Tieren hätten seit den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und seit dem Atomversuch von Bikini zugenommen.« (Eich 1994/2: 385) In der späteren Fassung des Hörspiels von 1953 finden sich dann der apodiktische Hinweis: »Alles, was geschieht, geht dich an« (Ebd.: 351) sowie der berühmt gewordene Appell: »Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!« (Ebd.: 384) Polemisch äußert sich Eich dagegen bereits 1947 in einem Essay unter dem Titel DIE HEUTIGE SITUATION DER LYRIK über Autoren, die in die Naturidylle und die »Behaglichkeit ihrer Gefühle« flüchteten: »Man [könne] sich nicht vorstellen,« so Eich, dass sie »in einer Welt lebt[en], die von Kriegen, Hunger, Verwüstung und Unsicherheit gepeinigt ist, in einer Welt tiefster sozialer, wirtschaftlicher und politischer Umschichtungen, in der Welt der Maschine, des Flugzeugs und der Atombombe.« (Ebd. 1994/4: 472) Die eigene Hinwendung zur Realität der Gegenwart nach 1945 wird auf vielleicht drastischste Weise durch den provokativen Traditionsbruch deutlich, den Eich im Gedicht LATRINE mit dem Reim »Hölderlin« – »Urin« vollzieht, womit er auf radikale Weise das Bedürfnis der Zeitgenossen nach kultureller Selbstversicherung, nach einem Rückzug in die Welt der schönen Kunst unterminiert: »Irr mir im Ohre schallen Verse von Hölderlin. In schneeiger Reinheit spiegeln Wolken sich im Urin.« (Ebd. 1994/1: 37, V. 9-12)

Mit der Schilderung der Rezeptionssituation, dem ›irren‹ Schallen der Verse des – ›irren‹ – Dichters Hölderlin wird auf jene Irritationspotentiale der Poesie hingewiesen, die die eigenen Verse zugleich verwirklichen, indem sie die Naturidylle durch den Kontrast von »schneeiger Reinheit« und »Urin« pervertieren. Auch in den anderen im Kriegsgefangenenlager situierten Gedichten der 1948 veröffentlichten Sammlung ABGELEGENE GEHÖFTE findet jene »Eroberung der Wirklichkeit« (Ebd. 1994/4: 474) statt, die Eich im Essay DIE HEUTIGE SITUATION DER LYRIK fordert.

1

Hans Werner Richter an Rudolf Walter Leonhardt, 11.11.1961, zit. nach Cofalla 1999: 74. Die von Richter verfolgte politische Ausrichtung ist dabei als »antifaschistisch, antimilitaristisch und demokratisch« zu charakterisieren (Ebd., S. 76).

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Die »Erweiterung des Wortschatzes« (Ebd.: 473), der »Schritt in die Bereiche des Zivilisatorischen« (Ebd.: 474), äußert sich in der Verwendung von Begriffen wie »Stacheldraht« (»Camp 16«, Ebd. 1994/1: 33, V. 1), »Trockenmilch der Firma Harrison Brothers, Chikago«, »Eipulver von Walkers, Merrymaker & Co., Kingstown, Alabama«, »Zuckerration« oder »Konservenbüchse« (PFANNKUCHENREZEPT, Ebd.: 31, V. 1-8). Besonders schonungslos wirkt das wohl berühmteste Gedicht der Sammlung, INVENTUR, das durch seine radikale inhaltliche und formale Reduktion, die basale Beschwörung des Besitzens und Benennens mittels einfacher, monoton wiederholter deiktischer Sätze eine tabula rasa-Situation evoziert: »Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel […]. Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.« (Ebd.: 35f.)

Die Inszenierung einer solchen tabula rasa-Situation hat allerdings eine entscheidende Kehrseite: Eine implizite oder explizite Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit der NS-Diktatur wird dadurch vermieden. Gerade aus diesem Grund wurde das Gedicht zum »Identifikationstext« (Kiesel 2009: 32) einer ganzen Generation. Vor diesem Hintergrund erscheinen die beiden Aspekte, die für Eichs literarisches Schaffen der unmittelbaren Nachkriegszeit – in Übereinstimmung mit maßgeblichen Vertretern der sogenannten ›jungen Generation‹ – von Bedeutung sind, die Konfrontation mit der Wirklichkeit und das politische Engagement, in einem anderen Licht. Die programmatische Hinwendung zur Realität findet nur bedingt statt, da allein die gegenwärtige, nicht aber die jüngst vergangene zeitgeschichtliche Realität thematisiert wird. Das kritische Sprechen über die aktuelle Situation kompensiert gewissermaßen das einstige Schweigen zu den Verbrechen des NSRegimes und ersetzt zugleich die Reflexion über das eigene Verhalten, im Falle Eichs also über die Rolle als erfolgreicher Hörspiel-Autor der NS-Zeit (vgl. Vieregg 1993). Dieser Sachverhalt ist nicht nur auf einer biographischen Ebene relevant, sondern auch im Hinblick auf Aspekte wie Werkgeschichte und Publikationskontext. Auffallend ist nämlich, dass die zeitkritischen Kahlschlags- und GefangenenlagerGedichte in Eichs Gedichtband ABGELEGENE GEHÖFTE von 1948 unvermittelt neben völlig andersartigen Texten stehen. Die Gedichtsammlung nimmt selbst – auf eine völlig andere Art und Weise als das gleichnamige Gedicht – eine Art ›Inventur‹ vor, eine Inventur von Eichs literarischer Produktion seit den 1930er-Jahren:

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Die weitaus größte Zahl der in den Band aufgenommenen Gedichte war entweder bereits in den 1930er-Jahren einzeln veröffentlicht worden oder schließt, obwohl erstmals publiziert, nahtlos an Eichs Vorkriegslyrik an. Bereits der Titel des Bands, ABGELEGENE GEHÖFTE, impliziert in diesem Sinne Archaik und Idyllik, die er im Essay DIE HEUTIGE SITUATION DER LYRIK doch anprangert.2 Das für die Lyrik der 1930er Jahre (im Umkreis der Zeitschrift DIE KOLONNE) typische Konzept der Naturmagie wird bruchlos fortgesetzt, Natur, Religion, Mythologie und Poesie sind zur weitgehend harmonischen Einheit verbunden. So führt im Gedicht WACHOLDERSCHLAF der »Zauberlaut der Ammer« (Eich 1994/1: 28, V. 9) zur Evokation der mythologischen Gestalten Thor und Wotan. In poetologischer Hinsicht wird ein religiös konnotiertes, neoromantisches Natursprachenkonzept propagiert: »Wer spricht ins Geäst die Gebete, / errät aus den Wurzeln den Text?« (DIE TOTENTROMPETE, Ebd.: 42, V. 3f.) Der Gedichtband als ganzer demonstriert somit exakt jene literaturhistorische Kontinuität, die ›Kahlschlaggedichte‹ wie INVENTUR mit ihrer Inszenierung eines Nullpunkts negieren.

»N ICHTEINVERSTÄNDNIS MIT DER W ELT « – AUTONOMIE ALS S UBVERSION

POETISCHE

Günter Eichs der zeitgenössischen Wirklichkeit zugewandte ›Kahlschlaggedichte‹ bleiben eine werkbiographische Episode und halten ihn, wie gerade gesehen, keineswegs davon ab, das naturmagische Konzept der Vorkriegszeit fortzusetzen. Noch 1953 formuliert er in seiner REDE VOR DEN KRIEGSBLINDEN das Credo: »Jedes Wort bewahrt einen Abglanz des magischen Zustandes, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins ist, wo es mit der Schöpfung identisch ist.« (Ebd. 1994/4: 612) Erst im Lyrikband BOTSCHAFTEN DES REGENS von 1955 wird das naturmagische Konzept dann ad absurdum geführt. Die Naturschrift wird als »Botschaft« auf dem »Ring der Vogelwarte« (WALDBLÖSSE, Ebd. 1994/1: 82, V. 10/7) ironisiert und als »Nachricht der Maulwurfshügel« (VERÄNDERTE LANDSCHAFT, Ebd.: 93, V. 13) subvertiert, oder sie erlangt ihre Bedeutung, wie im Titelgedicht des Bands, nur noch indem BOTSCHAFTEN DES REGENS als »Botschaften der Verzweiflung« interpretiert werden (Ebd.: 86, V. 13) Eich demonstriert nun gerade die Unzugänglichkeit der Natur – und inszeniert damit zugleich die Hermetik der poetischen Sprache (vgl. Waldschmidt 2011) Damit sind seine ›späten‹ Gedichte und Hörspiele seit der Mitte der 1950erJahre auf eine andere Weise radikal als die unmittelbar nach dem Kriegsende ver-

2

Die ursprüngliche Überschrift des Titelgedichts ZUFLUCHT DES DICHTERS verweist zudem gar auf eine fragwürdige Form der sogenannten ›Inneren Emigration‹.

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fassten ›Kahlschlaggedichte‹. Nicht durch inhaltliche Provokation (»Urin«), sondern durch ihre Machart und die ihnen immanente Poetologie wenden sich diese Gedichte gegen die Natur-Idylle. Die Naturmagie ist, jeden Sinn- und Einheitsversprechens entledigt, bis zum Widerruf ins Hermetische transformiert. Der SAND IM GETRIEBE wird hier somit nicht mehr nur propagiert, sondern auch poetologischästhetisch verwirklicht. Standen naturmagische Lyrik und Kahlschlaggedichte in Eichs Gedichtsammlung von 1948 noch unvermittelt, unreflektiert nebeneinander, so wird nun mittels intertextueller Verweise früher Geschriebenes reflektiert, kritisiert und überwunden.3 In einem »Maulwurf« – so nennt Eich ein von ihm in den 1960er-Jahren erfundenes Genre skurril-absurder Kurzprosa – unter dem programmatischen Titel IN EIGENER SACHE schreibt er in diesem Sinne 1969 explizit: »Viele meiner Gedichte hätte ich mir sparen können, ich hätte jetzt ein Kapital, könnte so ungereimt leben wie ich wollte. Das ewig nachgestammelte Naturgeheimnis. […] Nachtigallen kann auf die Dauer nur ertragen, wer schwerhörig ist.« (Eich 1994/1: 364) An die Stelle des früheren Konzepts einer harmonischen Einheit von Sprache, Natur und Geheimnis tritt der Befund der völligen Sinnlosigkeit. Eich spricht nunmehr von einem »Nichteinverständnis[…] mit der Welt« (Ebd. 1994/4: 508): »Ich bin wütend auf das Establishment«, formuliert er 1970, »und zwar nicht nur auf das politische, sondern auch auf das Establishment der Schöpfung.« (Ebd.: 528) Gerade in der ironischen Umdeutung des dem Vokabular der Studentenrevolte von 1968 entlehnten Schlagworts »Establishment« wirkt diese Wut unspezifisch und unverbindlich. Sie gewinnt ihre Exaktheit und ihre Radikalität aber daraus, dass es sich um die gezielte kritische Reflexion, die bewusste Zurücknahme eigener früherer Positionen handelt. Radikal ist Eichs fundamentale Verweigerungshaltung somit insbesondere in poetologischer Hinsicht. Sprache dient nun nicht mehr dazu, eine harmonisch-magische Einheit mit der Natur oder der Welt zu propagieren, sie dient aber auch nicht der kritischen Schilderung der zeitgenössischen Gegenwart oder dem konkreten politischen Engagement. Der subversive Charakter der poetischen Sprache besteht nun vielmehr darin, dass sie gar keinem Zweck mehr dient, sich jeder Nützlichkeit entzieht. Eichs Texte wollen nur mehr vorführen, »daß Sprache unbenutzbar sein sollte« (Ebd.: 509); oder, wie er 1968 bemerkt: »Lyrik ist überflüssig, unnütz, wirkungslos. Das legitimiert sie in einer utilitaristischen Welt.« (Ebd.: 514)

3

So stellt das Gedicht TAGE MIT HÄHERN aus dem Band BOTSCHAFTEN DES REGENS eine Zurücknahme des sieben Jahre zuvor im Band ABGELEGENE GEHÖFTE publizierten Gedichts DIE HÄHERFEDER dar, eine ähnliche Beziehung besteht zwischen den Texten WINTERLICHE FAHRT und VERÄNDERTE LANDSCHAFT (vgl. Schuster 2012: 51-64).

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E ICHS

ÄSTHETISCHE V ERWEIGERUNG IM K ONTEXT DER LITERARISCHEN M ODERNE (G OTTFRIED B ENN , T HEODOR W. ADORNO ) Eine solche Berufung auf die Autonomie der Poesie hat im literaturgeschichtlichen Kontext der Moderne des 20. Jahrhunderts ihre Tradition. Eine ähnliche, ebenso provokative wie produktive Verweigerungshaltung hatte etwa bereits 40 Jahre zuvor Gottfried Benn eingenommen, indem er sich, auch in polemischer Abgrenzung gegenüber der Neuen Sachlichkeit und einer zunehmenden Politisierung der Literatur in der Weimarer Republik, auf eine radikale l’art pour l’art-Position zurückzog und dem Anspruch einer Verantwortung vor der Zeit eine deutliche Absage erteilte. Die »Beteiligung des Dichters an der Diskussion von Zeitfragen« bezeichnet er im Rundfunkdialog KÖNNEN DICHTER DIE WELT ÄNDERN? 1930 als »Liebhaberei« (BENN 2003: 173). »Kunstwerke« seien »phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe.« (Ebd.: 174) Mutierte Benns Beharren auf der Autonomie der Kunst 1933 bekanntlich kurzzeitig zu einem Abdanken des Geists gegenüber den neuen Machthabern, so reüssierte er nach dem Zweiten Weltkrieg erneut, indem er – 1951 in seinem Marburger Vortrag PROBLEME DER LYRIK – artistisch-nihilistisch »das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht, an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren« (Benn 2001: 36), propagierte. Diese Position entwickelt Eich, wie Benn die Tradition der literarischen Moderne nach 1945 fortführend, weiter, indem er den Gegensatz zwischen Kunstautonomie und Engagement aufhebt. Die subversive Kraft der Poesie resultiert für ihn gerade aus ihrer Nutzlosigkeit, ihrer Verweigerungshaltung gegenüber Zweckvorstellungen und Machtansprüchen: »Lyrik spricht nicht die Sprache der Macht, – das ist ihr verborgener Sprengstoff.« (Eich 1994/4: 514) Diese Position ähnelt in gewisser Weise derjenigen Theodor W. Adornos, wie er sie etwa in einem Rundfunkvortrag zum Thema ENGAGEMENT aus dem Jahr 1962 vertritt. Adorno lehnt Jean Paul Sartres Konzept einer politisch engagierten Literatur radikal ab. Sein Ideal ist vielmehr, ganz wie vom späten Günter Eich realisiert, der Text, »in dem die Sprache an der Bedeutung rüttelt und durch ihre Sinnferne vorweg gegen die positive Unterstellung von Sinn rebelliert«. (Adorno 1974: 411) Die »Schwäche[…] der Debatte übers Engagement« sieht er darin, dass »sie nicht auch über die Wirkung reflektiert, welche von solchen Werken ausgeübt wird, deren eigenes Formgesetz auf Wirkungszusammenhänge keine Rücksicht nimmt« (Ebd.: 412); der Wert moderner, hermetischer Dichtung bestehe in dieser Hinsicht gerade in dem, »was im Schock der Unverständlichkeit sich mitteilt« (Ebd.). Nicht um inhaltliche Provokation und Kritik, sondern um ästhetische Radikalität geht es also in diesem – reichlich elitären – Konzept. Gerade durch den ästhetischen Frei-

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raum, den sie gegenüber der Wirklichkeit schafft, wirkt die Kunst widerständig: »Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.« (Ebd.: 413) Im – bis zur Sinnlosigkeit – gegenüber der Wirklichkeit ›ganz Anderen‹ der Kunst besteht bei Adorno wie beim späten Günter Eich der provokative Charakter und damit der gesellschaftlich-politische Wert der Kunst. Zwei Phasen sind also – grob gesprochen – im Nachkriegsschaffen Günter Eichs festzustellen, was das Widerspiel von Engagement und Verweigerung im Kontext der Ästhetik der literarischen Moderne und des Sich-Verhaltens zur zeitgeschichtlichen Realität nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft. Provoziert er die Leser und Hörer in den Jahren unmittelbar nach 1945 durch radikalen Realitätsbezug und politisches Engagement, etwa durch den in »Latrine« inszenierten Bruch mit der lyrischen Tradition oder die Schock-Effekte des Hörspiels TRÄUME, so begegnet er der gesellschaftlich-politischen Entwicklung im restaurativen Klima der 50er- und 60er-Jahre durch eine radikale ästhetische Verweigerungshaltung, die ›Rettung der Poesie im Unsinn‹.4

P ENETRANTE O BERFLÄCHEN -S PANNUNG : I NGO S CHULZE Heute ist der Typus des ›engagierten Intellektuellen‹, wie er von Günter Eich um 1950 und von vielen anderen Mitgliedern der ›Gruppe 47‹ von Heinrich Böll über Günter Grass bis hin zu Walter Jens noch Jahrzehnte später vertreten wurde, weitgehend aus der Mode gekommen. Aber auch hermetisch-unverständliche Texte, wie Eich sie seit der Mitte der 1950er-Jahre verfasste, haben nicht gerade Konjunktur, und die Frage, ob sie über ein subversiv-widerständiges Potential verfügen, gehört gewiss nicht zu den meistdiskutierten ästhetisch-literaturkritischen Problemen unserer Zeit. Dennoch besitzt die bei Günter Eich als diachronischer Wechsel seiner ästhetischen Konzepte zu beobachtende Spannung von Wirklichkeitsbezug und konkretem Engagement einerseits und radikaler, sich auf die Autonomie des Kunstwerks berufender Verweigerungshaltung andererseits durchaus eine Relevanz für eine Beschäftigung mit dem Feld der Gegenwartsliteratur. Übt ein solcher Gestus der ästhetischen Verweigerung nicht gerade im heutigen Literaturbetrieb einen Reiz aus? Ist der Kampf um Aufmerksamkeit innerhalb des literarischen Felds nur im Rahmen der modernen Massenmedien zu bestehen, so müssen deren Regeln eingehalten – oder eben, beinahe noch wirkungsvoller, bewusst missachtet werden. Vor diesem Hintergrund sollen abschließend gegenwärtige Formen ästhetischer Verweigerung exemplarisch anhand der beiden Autoren Ingo Schulze und Christian

4

Vgl. die immer noch als Standardwerk anzusehende Monographie von Neumann 1981.

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Kracht diskutiert werden. Wie im Falle Eichs die Zugehörigkeit zur Gruppe 47 und der durch sein Hörspiel TRÄUME ausgelöste Skandal einerseits sowie die ästhetischpoetologische Konzeption seines Werks andererseits zu berücksichtigen waren, so gilt es auch hier, Literatur als Handlungs- und als Symbolsystem in den Blick zu nehmen. Ingo Schulze erfüllt durchaus Kriterien, mittels derer traditionell die Rolle des ›engagierten Schriftstellers‹ oder Intellektuellen definiert wurde. In der DDR aufgewachsen, wirkte er dort 1989 im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung am friedlichen Umsturz mit. Als erfolgreicher ›gesamtdeutscher‹ Schriftsteller beteiligt er sich kontinuierlich an gesellschaftlich-politischen Debatten. Insbesondere kritisiert er, unter dem polemischen Stichwort »marktkonforme Demokratie«, den zügellosen Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung. »Mein Problem«, so äußerte er 2007 bei seiner Vorstellung vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, »ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens unter der Lawine einer selbstverschuldeten Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Begriffe wie Freiheit und Demokratie zunehmend zum Popanz macht.« (Schulze 2011: 21) Sensibilität für gesellschaftlich-politische Probleme demonstrierte Schulze auch ›in eigener Sache‹, als er bei der Verleihung des Thüringer Literaturpreises kritisierte, dass dieser durch den Energiekonzern E.ON gesponsert wurde. Dennoch würde man davor zurückschrecken, Ingo Schulze als einen »engagierten« Schriftsteller oder Intellektuellen im traditionellen Sinne zu bezeichnen. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass seine literarischen Texte – anders als etwa die Romane von Heinrich Böll oder Günter Grass – diesem Image widersprechen, da sie sich eher durch eine raffinierte Leichtigkeit und Unterhaltsamkeit als durch explizite gesellschaftskritische Aussagen auszeichnen (vgl. Stockinger 2012: 27-37). Von SIMPLE STORYS (1998) über den Wende-Roman NEUE LEBEN (2005) bis zum Erzählband HANDY. DREIZEHN GESCHICHTEN IN ALTER MANIER (2007) liefert Ingo Schulze zwar gesellschaftliche Skizzen der Wendezeit und des vereinigten Deutschland – allerdings ohne jemals offen Kritik zu üben. Ohne Wertung und – in der internen Fokalisierung teilweise beinahe genussvoll – schildert er immer wieder, wie aus ehemaligen DDR-Revolutionären sich glücklich in der westlichen Konsumwelt einrichtende Zeitgenossen werden. Exemplarisch kann dies an der Erzählung DIE VERWIRRUNGEN DER SILVESTERNACHT aus dem 2007 publizierten Prosaband HANDY nachvollzogen werden. Geschildert wird dort aus dem Rückblick die Zeitspanne zwischen dem Frühjahr 1989 und der Silvesternacht des Jahrs 1999. Es handelt sich dabei um eine Liebesgeschichte, die auf vertrackte Weise mit der Zeitgeschichte enggeführt wird. Der Ich-Erzähler lernt im Wendejahr 1989 mit der Schauspielerin Julia die Liebe seines Lebens kennen. Beide beteiligen sich an ihrem jeweiligen Wohnort in der Provinz an der friedlichen Revolution, zur gleichen Zeit kommt es jedoch bereits zur Entfremdung voneinander. Obwohl nach wie vor verzweifelt in Julia verliebt, lernt der

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Ich-Erzähler im oppositionellen ›Neuen Forum‹ eine andere Frau kennen, mit der er eine weitgehend auf sexuelle und geschäftliche Interessen begrenzte Beziehung eingeht. Vom Bürgerrechts-Engagement der beiden bleibt bald nicht viel mehr übrig als zwei aus dem Westen eingeschmuggelte Kopiergeräte, die den Grundstein für den gemeinsam geführten Kopierservice »Copy 2000« bilden. Der Betrieb läuft blendend, was der Ich-Erzähler rückblickend darauf zurückführt, dass er, auf Julias Rückkehr wartend, eine Existenz auf Abruf führt, die ihm in geschäftlichen Angelegenheiten spielerische Leichtigkeit verleiht. Zehn Jahre nach der Wende, am Silvesterabend 1999, kommt es zum Showdown der Erzählung, dem Wiedersehen mit Julia auf einer Party am Prenzlauer Berg in Berlin, das jedoch nicht zum ersehnten Neubeginn führt. An die Stelle der großen Liebe tritt vielmehr endgültig ein hedonistisches Spaß- und Freizeitleben. Auf den ersten Blick könnte es sich bei Schulzes »Die Verwirrungen der Silvesternacht« somit um eine glatte, oberflächliche Liebesgeschichte handeln. Tatsächlich zeichnet sie sich aber in besonderer Weise durch jene Mischung aus Leichtigkeit und Raffinesse aus, die grundsätzlich für Schulzes Erzählstil charakteristisch ist. Ein irritierendes Moment sind insbesondere die – für den Handlungsverlauf irrelevanten – scharfen Detailschilderungen, die, wie atmosphärische filmische Großaufnahmen, den Erzählfluss immer wieder stocken lassen. Minutiös wird etwa eine Baustelle am Prenzlauer Berg geschildert, auf der ein Bagger arbeitet. Auf Julia wartend, sieht der Ich-Erzähler »lange dem Bagger zu, der sich selbst die Schräge schuf, auf der er Stück für Stück tiefer fuhr« (Schulze 2009: 196) – ein Bild, das souverän die Schwebe zwischen reinem optischem Eindruck und einer (im Wortsinne) ›tieferen‹ Bedeutungsebene hält, die, würde man sie entschlüsseln, trivial wäre. In der Nacht sieht der Ich-Erzähler dann vom Wohnungsfenster aus erneut »den Bagger wie auf einer Bühne erleuchtet, die erhobene Kralle geöffnet.« (Ebd.: 197) Schließlich stößt der Bagger auf eine Fliegerbombe, die noch am Silvestertag entschärft wird. Im Kontext der Erzählung wirkt diese Episode, als werde mit der Fliegerbombe ein ganzes Jahrhundert entschärft. Auch der Ich-Erzähler ordnet vor dem Hintergrund des von der Wiederbegegnung mit Julia erwarteten Neubeginns nicht nur alle persönlichen Unterlagen und gibt seine Kleidung zur Altkleidersammlung, er bringt auch, was er »an Krimskrams aus dem Herbst 89 fand, […] ins Stadtmuseum.« (Ebd.: 191) Vor der Jahrhundertwende wird somit – in privater wie in zeitgeschichtlicher Hinsicht – tabula rasa gemacht; die Revolution vom November 1989 wird bereits der Musealisierung anheimgegeben, und mit der Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg werden die letzten prekären Reste der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts entschärft. Der Text zeichnet sich auf diese Weise durch ein ständiges irritierendes Changieren zwischen Trivialität und einer möglichen zeitgeschichtlichen Bedeutungsebene aus, die aber nie explizit benannt wird und sich dem Leser immer wieder ent-

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zieht. Gerade die penetrante Oberflächlichkeit und Banalität der Erzählung, gerade die Verweigerung einer tieferen Bedeutungsebene produzieren eine Spannung, die den Text als so explosiv wie die geschilderte Fliegerbombe wirken lassen. Auf völlig andere Weise als bei Günter Eich kommt es hier also zum Zusammenspiel von Verweigerung und gesellschaftlicher Funktion der Literatur. Ingo Schulzes Texte sind alles andere als hermetisch oder unverständlich, sie sind auf geradezu provozierende Weise eingängig und oberflächlich – in dem Maße, in dem sie zugleich irritierend, doppelbödig, abgründig sind. Wo explizite Gesellschaftskritik in der massenmedialen Überfütterung untergeht, so könnte man sagen, kann Aufmerksamkeit weit eher durch das Lauern des Unheimlichen hervorgerufen werden, das auf die Brüchigkeit der vertrauten Oberfläche verweist.

T OTALITÄT DER ÄSTHETISCHEN I NSZENIERUNG : C HRISTIAN K RACHT Wie Ingo Schulze, so würde man auch Christian Kracht bestimmt nicht als ›engagierten Intellektuellen‹ im herkömmlichen Sinne bezeichnen – allerdings aus genau entgegengesetzten Gründen. Seine Verweigerungshaltung bezieht sich auf das Handlungssystem ›Literatur‹. Bewusst nimmt er die Pose des Snobs an, der sich – von der Kleidung bis zur Champagnermarke – mit exklusiven Luxusgütern umgibt. Er trägt so, wie Lutz Hagestedt formuliert, gerade einen »ostentativen AntiIntellektualismus« (Hagestedt 2009: 131-149) zur Schau. Ebenso absichtsvoll spielt er die Rolle des Provokateurs, der mit seiner Sympathie für die Diktatur Kim Jong Ils in Nordkorea und dem Nueva-Germania Elisabeth Förster-Nietzsches kokettiert. Der wohl prägnanteste Zug Krachts ist sein Verschwinden – im deutschen Literaturbetrieb tritt er kaum öffentlich auf, in seinen wenigen Interviews praktiziert er häufig ironische Versteckspiele – legendär ist sein Auftritt in der Harald SchmidtShow im Oktober 2001, in der es ihm gelingt, den Moderator an Abgebrühtheit und Zynismus noch zu überbieten. Im Internet legt Kracht, wie Eckhard Schumacher gezeigt hat, Spuren aus, um sie sofort wieder zu verwischen (vgl. Schumacher 2009). All das könnte man als eine Strategie bezeichnen, gerade durch das Verschwinden, das Sich-Verweigern, Sich-Entziehen Aufmerksamkeit zu erlangen – Aufmerksamkeit für sich, aber auch für sein Werk. Dieses Werk aber steht in deutlichem Kontrast zur Pose des ›AntiIntellektuellen‹. Jenseits aller Klischees des Pop-Literaten – schon beim Erstlingsroman FASERLAND aus dem Jahr 1995 handelt es sich aufgrund zahlreicher zeitund literaturhistorischer Allusionen und Reflexionen um keine ›reine‹ Pop-Literatur –, aber auch jenseits der Skandalisierung seines 2012 erschienenen Romans IMPE-

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in Teilen des Feuilletons5 besitzen Krachts Texte enormes diagnostisches Potential in politisch-zeitgeschichtlicher Hinsicht – in der Darstellung des Totalitarismus einer fiktiven Schweizer Sowjetrepublik (ICH WERDE HIER SEIN IM SONNENSCHEIN UND IM SCHATTEN, 2008) ebenso wie in der poetisch aufgearbeiteten Vorgeschichte des Nationalsozialismus im deutschen Kaiserreich – gerade auch in der oppositionellen Lebensreformbewegung, die sich in Gestalt des Aussteigers, ›Kokosapostels‹ und Auto-Anthropophagen August Engelhardt als grausames Analogon zum preußischen Militarismus erweist. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass es sich hier eben gerade nicht um eine Darstellung der historischen Wirklichkeit, sondern um die Herstellung poetischer Evidenz handelt, die geschichtliche Fakten mit souveräner Willkür aufgreift und manipuliert – so in den fingierten Begegnungen realer historischer Personen wie Thomas Mann oder Franz Kafka mit dem Protagonisten August Engelhardt. Dieses Verfahren wird innerhalb des Romans explizit poetologisch reflektiert: Es blinkten, so heißt es, RIUM

»[...] im Erzählstrom, hell unter Wasser blitzenden, flinken Fischen gleich, Personen und Ereignisse auf, deren Existenz er sozusagen flankiert, als sei Engelhardt eines jener kleinen Wesen, die man Labrichthyini nennt, die anderen, größeren Raubfischen die Haut putzen, indem sie sie von Parasiten und Schmutz befreien.« (Kracht 2012: 77)

Mittels radikaler ästhetischer Experimente wie dem Auf-den-Kopf-Stellen des tatsächlichen historischen Verlaufs (ICH WERDE HIER SEIN IM SONNENSCHEIN UND IM SCHATTEN) oder dem Prinzip durchgehender Ironisierung und bewusster Manipulation von historischen Fakten in »Imperium« wird hier die Geschichte des 20. Jahrhunderts transparent gemacht. Der Gestus der Verweigerung im Zeichen ästhetischer Autonomie, der auf unterschiedliche Weise anhand der Hermetik des späten Günter Eich und anhand von Ingo Schulzes Herstellung einer explosiv glatten Oberfläche zu beobachten war, wird von Kracht somit auf die Spitze getrieben und zugleich in gewisser Weise in sein Gegenteil verkehrt. Die Totalität der ästhetischen Inszenierung erstreckt sich bei ihm einerseits bis hin zur Inszenierung des eigenen Subjekts als dandyeskes Gesamtkunstwerk, das aber andererseits zugleich die Aufmerksamkeit für ein anderes ästhetisches Experiment sichert: das Experiment, mittels ästhetischer Totalität den

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Im SPIEGEL erhob Georg Diez Kracht gegenüber den Vorwurf, er platziere sich »sehr bewusst außerhalb des demokratischen Diskurses« (Diez 2012: 101); IMPERIUM sei »von Anfang an durchdrungen von einer rassistischen Weltsicht.« (Ebd., S. 102) Die Vorwürfe wurden in der durch sie hervorgerufenen Feuilleton-Debatte weitgehend entkräftet, in einem Offenen Brief solidarisierten sich zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Elfriede Jelinek über Monika Maron bis zu Daniel Kehlmann mit Kracht.

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politischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts poetisch zu verarbeiten. Nimmt man Kracht als bedeutenden Vertreter einer neuen Generation von Autoren ernst, so scheint die Position des Schriftstellers zwischen Kunstautonomie und ›intellektuellem Engagement‹ zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu definiert werden zu müssen.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1974): Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften. hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 11, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Benn, Gottfried (2001): Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Bd. VI. hrsg. von Holger Hof, Stuttgart: Klett-Cotta. Ders. (2003): Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Bd. VII/1, hrsg. von Holger Hof. Stuttgart: Klett-Cotta. Cofalla, Sabine (1999): »Hans Werner Richter – Anmerkungen zum Habitus und zur sozialen Rolle des Leiters der Gruppe 47«, in: Braese, Stephan (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 6586. Diez, Georg (2012): »Die Methode Kracht. Seit ›Faserland‹ gilt Christian Kracht als wichtige Stimme der Gegenwart. Sein neuer Roman ›Imperium« zeigt vor allem die Nähe des Autors zu rechtem Gedankengut‹, in: Der Spiegel 7 (2012), S. 100-103. Eich, Günter (1994): Gesammelte Werke in vier Bänden, hrsg. von Axel Vieregg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Hagestedt, Lutz (2009): »Die absolute Freiheit und der Schrecken. Erinnerungskultur und Gegenwartsbezug bei Christian Kracht«, in: Birgfeld, Johannes/Conter, Claude D. (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 131-149. Kiesel, Helmuth (2009): »Zur Berühmtheit von Eichs ›Inventur‹«, in: Dutt, Carsten/von Petersdorff, Dirk (Hg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 25-32. Kracht, Christian (2012): Imperium, Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch. Neumann, Peter Horst (1981): Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich, Stuttgart: Klett-Cotta. Schulze, Ingo (2009): Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Ders. (2011): Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Schumacher, Eckhard (2009): »Omnipräsentes Verschwinden. Christian Kracht im Netz«, in: Birgfeld, Johannes/Conter, Claude D. (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 187-203.

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Schuster, Jörg (2012): »Sand im poetischen Getriebe. Praktiken des Hermetischen in Günter Eichs ›Botschaften des Regens‹ (1955)«, in: Flandziu. Halbjahresblätter für Literatur der Moderne. In Verbindung mit der Internationalen Wolfgang Koeppen Gesellschaft. N.F. Jg. 4, H. 2 (Deutsche Literatur 1945-1960 - 2 (1953-1960)), S. 51-64. Stockinger, Claudia (2012): »›Mit Leichtigkeit und Rafinesse‹. Ingo Schulzes poetisches Verfahren«, in: Text und Kritik 193, H. 1, S. 27-37. Vieregg, Axel (1993): Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945, Eggingen: Edition Isele. Waldschmidt, Christine (2011): »Dunkles zu sagen«: Deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert, Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Politische Publizistik und imaginierte Alternativen in scheinbar alternativlosen Zeiten Die Rückereroberung eines politischen Raumes durch linke Intellektuelle wie Dietmar Dath I NGA K ETELS

Die Figur des Intellektuellen ist eine Kippfigur, die zwischen den beiden Polen des distanzierten Blicks von außen und der engagierten Intervention changiert; dabei im Laufe der Geschichte nicht selten vom Leben in der reinen vita contemplativa in das der vita activa umschlug und dabei auf verschlungenen Wegen (Vgl. DIETZ 2010) die Figur des »engagierten Intellektuellen« hervorbrachte. Das 20. Jahrhundert ist von dieser Figur des engagierten Intellektuellen maßgeblich geprägt, der durch sein Wissen und sein Handeln dazu beitrug, das Verhältnis von Theorie und Praxis zu dynamisieren. Dieser Aufgabe hat sich auch der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath verschrieben, für den es auf die Herstellung einer »Verbindung der Produktion von Utopie und politischer Tätigkeit« (Hatzius/Dath: 2011: 73) ankommt. Sowohl in seinen Romanen als auch in seinen politischen Publikationen skizziert Dath Alternativen zum liberal-demokratischen kapitalistischen System, das seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Wegfall des Kommunismus als Gegenmodell allgemein für alternativlos gehalten wird. Das Changieren zwischen Analyse und Kritik zeichnet die intellektuelle Arbeit all jener aus, die sich mit dem auseinandersetzen, »was jahrzehntelang vergessen oder für irrelevant gehalten wurde: dass die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der reichen Demokratien immer noch eine kapitalistische und deshalb, wenn überhaupt, nur mit Hilfe der Theorie des Kapitalismus zu verstehen ist» (Streeck 2013: 9). Seinen Ausgangspunkt in der Überzeugung nehmend, dass der Kapitalismus eine historisch kontingente Möglichkeit unter vielen und als solche nicht nur gestaltbar, sondern möglicherweise auch durch eine andere Gesellschaftsordnung ersetzbar ist, geht Dath jedoch mit dem Ausformulieren von denk- und vorstellba-

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ren Alternativen einen Schritt weiter. Für ihn kommt es darauf an, den festgefahrenen Zustand der Gegenwart »wieder aufzubrechen, bevor alles in diesem Sumpf der totalen Alternativlosigkeit erstickt, die in uns rein geprügelt wird« (Dath/Hatzius 2011: 67). Nicht erst seit Angela Merkel und andere Konsorten es durch ihre inflationäre Verwendung als Universalbegründung für Banken-/Unternehmens- und Euro-Bailouts zum Unwort des Jahres 2011 machten, ist das Wort »alternativlos« das am häufigsten zur Begründung politischer Entscheidungen verwendete Wort. Keine Alternative schien es bereits in den 1980er Jahren zu dem neoliberalen Wirtschaftssystem und einer Politik der Austerität zu geben, wie sie Ronald Reagan und Margaret Thatcher implementierten und die Thatcher mit der prägnanten T.I.N.A.Formel zu begründen suchte: »There is no alternative«. Dass es dennoch Alternativen geben könnte, zeigt Dietmar Dath nicht nur in seiner politischen Publizistik, sondern auch in der Literatur auf, die es sich nicht nur als »Fantastik« oder als »Science Fiction« zur Aufgabe gemacht hat, alternative Welten darzustellen. 1 Dath zufolge »gewinnt man, wenn man Möglichkeitsräume erkundet statt die Tatsachensphäre, mehr Beinfreiheit für die Spekulation«. (Dath 2010). Die spekulative Fiktion nimmt ihren Ausgang im Durchdenken verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten der heutigen Welt, um diese dann auf ihre Vernünftigkeit zu überprüfen und sie in der Darstellung denk- und vorstellbarer anderer Gesellschafts- und Lebensformen zu überschreiten. Im Folgenden soll dementsprechend zunächst die Ausgangslage der politischwirtschaftlichen Situation der Gegenwart sowie deren Reflexion in der zeitgenössischen Politischen Theorie skizziert werden, um dann in einem nächsten Schritt die Frage nach der Funktion heutiger kritischer Intellektueller zu stellen. Inwiefern tragen sie dazu bei, den politischen Raum zu dynamisieren? Wie können alternative Gegenöffentlichkeiten sich gegenüber der Mainstream-Öffentlichkeit durchsetzen? Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Schaffen von Gedächtnisinstanzen ein erster Schritt zur Rückeroberung eines politischen Raumes sein kann, und welche Rolle das Verhältnis von Theorie und Praxis dabei spielt. Der Problematik, dass das kapitalistische System jede Form von Abweichung und Kritik früher oder später inkorporiert und durch diese Aneignung jegliches subversive Potenzial der Kritik neutralisiert, wird in einem weiteren Schritt nachgegangen. Wie kann

1

Dath steht damit in der Tradition der Aristotelischen Poetik, denn dieser definiert es gerade als die Rolle des Dichters, darzustellen, was möglich ist, und nicht etwa, dass Bestehende bloß widerzuspiegeln: »Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit (einfach) wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so (darzustellen), wie es gemäß (innerer) Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was (als eine Handlung eines bestimmten Charakters) möglich ist.« (Aristoteles 2008: 13)

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die Kritik damit umgehen? Die Auseinandersetzung mit der spekulativen Fiktion in Dietmar Daths Werk soll zeigen, dass »Phantasie ein spezifisches Produktionsmittel« (Negt/Kluge 1972: 73) ist, das die menschlichen Beziehungen untereinander zu gestalten vermag.

P OLITISCHE T HEORIEN DER G EGENWART : DIE AGONALE S PHÄRE ALS O RT DES S TREITS UM P OSITIONEN Zeitgenössische politische Theoretiker stimmen mit Colin Crouch (Crouch 2008) in der Annahme überein, wir befänden uns auf dem besten Wege in einen Zustand der »Postdemokratie«, in dem die Bürger jegliche Form des Einflusses auf die Politik verlieren und politische Entscheidungen nicht aus Vernunftgründen und im Hinblick auf das Allgemeinwohl getroffen werden, sondern aufgrund von wirtschaftlichen Partikularinteressen, die sich in der politischen Lobby-Arbeit vor allem durch ihre Finanzstärke durchsetzen können. Anstelle von autonomen Bürgern, die am politischen System, in dem sie leben, partizipieren und somit die politische Fähigkeit zur Realisierung von Nicht-Herrschaft durch ihre Teilnahme an der Politik immer wieder aufs Neue erproben können, werden wir immer mehr zu einer fremdbestimmten verwalteten Masse, die nur noch die Endresultate des politischen Prozesses vorgeworfen bekommt wie der Haushund seinen Knochen. Neben der Ausweitung der Kapitalmacht als einer ungehinderten, unkontrollierten und demokratisch nicht legitimierten politischen Kraft, ist es der im Rahmen der Globalisierung erfolgende Verlust der Souveränität von Nationalstaaten, die zu dieser Entwicklung beitragen und die Wendy Brown zufolge das Volk daran hindern, sich selbst regieren zu können, wie es in demokratischen Staaten eigentlich der Fall sein sollte: »[…] for the people to rule themselves, they must be a people and they must have access to the powers they would democratize. Globalization’s erosion of nation-state sovereignty undermines the former and neoliberalism’s unleashing of the power of capital as an unchecked world power eliminates the latter.« (Brown 2011: 50)

An diesem Punkt setzen zeitgenössische Theorien des Politischen an, die es als einen wichtigen Schritt zur Emanzipation der Bürger ansehen, dass sie sich nicht bloß verwalten lassen, sondern selbst politisch agieren. So unterschiedliche Denker wie Jacques Rancière, Claude Lefort, Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, Alain Badiou, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und Giorgio Agamben entwickeln in ihren Theorien eine »Differenzierung zwischen Politik (im Sinne z. B. von policy, polity oder ›Polizei‹) auf der einen Seite und dem emphatisch Politischen (im Sinne z.B.

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von ›Ereignis‹, Antagonismus oder Institution) auf der anderen« (Marchart 2010: 18), wobei die Politik das Verwalten von Ressourcen und Menschen im Sinne der Polizeiarbeit meint, und das Politische das Sich-Einbringen solcher Gruppen in den politischen Raum, die bisher kein Gehör gefunden haben und an der Macht nicht teilnehmen konnten. Letzteres geschieht oftmals als Revolte oder als Revolution, da das Erstreiten eines »Anteil[s] der Anteillosen« (Rancière 2002: 24) eines Bruchs mit dem Bestehenden bedarf. Damit Politik nicht bloße Verwaltung ist, sondern das aufklärerische Ideal der politischen Selbstgesetzgebung mündiger Bürger realisieren könne, komme es darauf, das Moment des Politischen zurückzuerobern. Die von Oliver Marchart unabhängig von der Nationalität ihrer Vertreter als »französischer[r] Linksheideggerianismus« (Marchart 2010: 19) bezeichnete Strömung innerhalb der politischen Theorie der Gegenwart besteht vor dem Hintergrund der Annahme eines »leere[n] Grund[s] der Macht« (Lefort, zitiert nach Marchart 2010: 119), der durch stete Verhandlungen immer wieder neu besetzt werden müsse, deshalb auf der Notwendigkeit eines öffentlich ausgetragenen Streits in einem in Anlehnung an die Agora der frühen griechischen Demokratie als »agonale Sphäre« (Mouffe 2007: 8) bezeichneten öffentlichen Raum. Durch diese Institutionalisierung des Streits im öffentlichen Raum wird der Kampf um Positionen transparent gemacht, anstatt unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinter geschlossenen Türen vonseiten diverser Lobbyisten zu erfolgen. Wird die Besetzung des leeren Grundes der Macht mit politischen Begriffen und Institutionen als immer wieder neu verhandelbar angesehen und wird von der Notwendigkeit ihrer ständigen Neuschöpfung ausgegangen, so gerät auch jener Ort verstärkt in den Fokus, an dem diese Rückeroberung des Politischen ausgetragen wird und die Gültigkeit jener Neuschöpfungen erkämpft wird: die Öffentlichkeit. Doch was ist das überhaupt, »die« »Öffentlichkeit«?

D IE Ö FFENTLICHKEIT ALS PLURALE : ALTERNATIVE G EGENÖFFENTLICHKEITEN VS . M AINSTREAM -M EDIEN -Ö FFENTLICHKEIT Seit der Veröffentlichung von Jürgen Habermas’ Habilitationsschrift zum STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT im Jahr 1962 avancierte der Begriff der Öffentlichkeit zu einem der zentralen Eckpfeiler der Demokratietheorie. Während Habermas den Begriff der Öffentlichkeit im Singular verwendet, und damit die bürgerliche Öffentlichkeit meint2, gehen andere Theoretiker von einer Pluralität von Öffent-

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In seinem Vorwort zur Neuauflage des Buches im Jahr 1990 nimmt Habermas von dieser Position Abstand. Sich auf Geoff Eley, einen marxistischen Kritiker der Habermasschen

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lichkeiten aus. So setzen etwa Oskar Negt und Alexander Kluge dem Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit denjenigen einer proletarischen Öffentlichkeit entgegen (vgl. Kluge/Negt 1972: 7). Für die amerikanische Politikwissenschaftlerin und Philosophin Nancy Fraser, eine zeitgenössische Vertreterin der Kritischen Theorie, existiert gar eine Vielzahl von Öffentlichkeiten, die sich in einem steten Wettstreit um Geltungsmacht befinden und durch diese Dynamisierung des öffentlichen Raumes erst das demokratische Ideal einer gleichberechtigten Teilhabe ermöglichen. Fraser zufolge sind es alternative Gegenöffentlichkeiten, sogenannte »subaltern counterpublics« (Fraser 1992: 123), die neue, bisher vom herrschenden Diskurs vernachlässigte Themen und Thesen in den öffentlichen Diskurs einbringen und diesen damit überhaupt erst herstellen. Diese Gegenöffentlichkeiten formieren sich etwa in politisch orientierten Zeitschriften, in kapitalismuskritischen Buchhandlungen, in Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und auf Webseiten, sie leben vom Austausch ihrer Hersteller auf Konferenzen und bei Lektürereihen.3 Dadurch, dass es nicht eine spezifische Gruppe allein ist, die das Privileg besitzt, darüber zu entscheiden, was als öffentlich relevant zu gelten hat, also weder die Bürger, noch die Politik, noch die Wissenschaft, noch der Journalismus, stellt sich die Frage der Legitimität der jeweiligen Form des Öffentlichen stets neu. Daraus ergibt sich ein Zwang zum Argument, zur verständlichen Darstellung der eigenen Position und zur Rechtfertigung der Annahme ihrer Richtigkeit. Die vielen Öffentlichkeiten liegen somit in einem steten Wettstreit um Wirkungsmacht und haben sich zur Rechtfertigung ihrer Legitimität dem Urteil Anderer zu öffnen. Will man an die zeitgenössischen Theorien der Öffentlichkeit als pluraler anschließen, so stellt sich jedoch die Frage der Vermittlung zwischen diesen verschiedenen Öffentlichkeiten: Wie kommt es, dass im bunten Stimmengewirr der Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten einzelne Stimmen überhaupt noch hörbar sind und nicht einfach eine Art weißes Rauschen entsteht, das die Zuhörenden mehr paralysiert als informiert und ihnen die Möglichkeit bietet, sich durch Übereinstimmung oder in Abgrenzung zu den einzelnen Stimmen ein eigenes Urteil zu bilden? Während die politischen Positionierungen von Politikern, Interessengruppen, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftlern, Institutionen und Konzernen zumeist unvermittelt nebeneinander stehen und damit zu dem beitragen, was Habermas als

Schrift beziehend, entfaltet Habermas nun einen Begriff der Öffentlichkeit als multipler (vgl. Habermas 1990: 11-50). 3

Als Beispiel einer solchen alternativen Öffentlichkeit nennt Nancy Fraser die »latetwentieth-century U.S. feminist subaltern counter-public with its variegated array of journals, bookstores, publishing companies, film and video distribution networks, lecture series, research centers, academic programs, conferences, conventions, festivals, and local meeting places.« (Fraser 1992: 123)

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die »Neue Unübersichtlichkeit« (Habermas 1985: 129) bezeichnet hat, ist es eine der zentralen Funktionen kritischer Intellektueller der Gegenwart, zwischen diesen verschiedenen Öffentlichkeiten zu vermitteln. Dadurch stehen sie für einen Austausch zwischen unterschiedlichen Öffentlichkeiten ein und ermöglichen mit ihren Interventionen Bewertungen einzelner Stimmen; damit drehen sie am Frequenzregler und lassen einzelne Töne (und Misstöne) aus dem allgemeinen Rauschen hervortreten.

D IETMAR D ATH : V ERMITTLER ZWISCHEN ALTERNATIVEN G EGENÖFFENTLICHKEITEN M AINSTREAM -Ö FFENTLICHKEIT

UND

Ein kritischer Intellektueller der Gegenwart, der zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten vermittelt, ist der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath. Dath war zunächst Teil der von Nancy Fraser als »subaltern counterpublics« ( Fraser 1992: 123) bezeichneten Gegenöffentlichkeiten. Seine Romane (oft Genre-Romane) erschienen in kleiner Auflage in kleinen Verlagen, bevor er Suhrkamp-Autor wurde. Zunächst erreichte Dath mit seinen Schriften somit nicht wesentlich mehr als »das kleine Publikum aus Freunden« (Dath/Hatzius 2011: 57), das er schon als schreibender Schüler im Visier hatte und das lange Zeit für ihn der wichtigste Schreibimpuls war. Ein Publikum zu haben, gelesen zu werden, ist auch ein bestimmendes Moment für Daths journalistisches Schreiben: »Solange es ein Publikum für den Journalismus gibt, hat man eine Rechtfertigung dafür, sich überhaupt an den Rechner oder an die Schreibmaschine zu setzen« (Ebd.), so Dath. Die journalistischen Texte Daths erschienen zunächst ebenfalls in Medien, die als Ausdrucksmittel von Gegenöffentlichkeiten bezeichnet werden können. Erste polemische, zeitkritische Artikel erschienen im Satiremagazin TITANIC, für die Kulturzeitschrift HEAVEN SENT schrieb er Texte, in denen er versuchte »popkulturelle und sogenannte hochkulturelle Dinge einigermaßen informiert kommensurabel zu machen« (Ebd.: 59) und bei der Popzeitschrift SPEX schrieb er neben Plattenkritiken anderes Popkulturelles. Von 2001 bis 2007 war Dath dann Feuilletonredakteur in Festanstellung bei der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG; 2011 kehrte er dorthin zurück und schreibt dort seitdem hauptsächlich im Bereich Film- und Musikkritik. Das journalistische Schreiben ist für Dath Teil dessen, was er mit Swantje Karich als »Ort« bezeichnet, eine »Gelegenheit für Begegnungen, für den Austausch von Signalen, für Veränderungen von Personen und Beziehungen zwischen Personen.« (Dath/Karich 2013: 9) Vor dem Hintergrund jüngerer Entwicklungen ist das journalistische Schreiben für ihn einer der wenigen geschützten Orte, die Raum für Reflexionen lassen:

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»Welche Bühnen gibt’s denn sonst noch, auf denen man sich öffentlich selbst erziehen und verbessern darf? Vom universitären Mittelbau bis zur städtischen Kulturarbeit wird im Zuge sinnlos um sich schlagender Exzellenzinitiativen, Marktanpassungen und Kürzungsmassaker in Deutschland wie überall sonst seit ein paar Jahren flächendeckend alles ausgeräuchert, trockengelegt und zugeschissen, was Platz zum Verschnaufen und Durchdenken des nicht gleich auf der Hand Liegenden bieten könnte.« (Dath 2007: 22)

Nicht gleich auf der Hand liegt das, was Dath in seinen Texten durchdenkt, in der Tat. Viele der Themen, die in seinen Publikationen im Zentrum stehen, waren vor seinem Eintreten für diese Themen nicht salonfähig. Mit seiner Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Szenen wie der der Science-Fiction-Literatur oder der Metal-Musik gewährt er in seinen Zeitungsartikeln oftmals Einblicke in die verschiedensten Subkulturen – was jedoch vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Sympathie für Populärkultur im Rahmen der sogenannten Postmoderne gerne toleriert wird. Umstritten hingegen ist sein Eintreten für radikal kapitalismuskritische Themen, wie er es in links orientierten Zeitungen und Zeitschriften wie der als radikal links geltenden Zeitschrift für Kultur und Politik KONKRET, im Magazin der antifaschistischen Linken PHASE 2 und in der linken Wochenzeitung JUNGLE WORLD, aber auch in der FAZ, immer wieder tut. Mit seiner Betonung der zentralen Bedeutung der Frage nach gesellschaftlicher Organisation und dem Bezug auf Lenin, der sich dieser Frage insbesondere in seinem Werk WAS TUN?4 widmete, ignoriert Dath seit Jahren bewusst das Tabu, radikal linke Politik als gangbaren Weg anzuerkennen. Das ist ungewöhnlich für einen Gegenwartsautoren eines Landes, das durch seine spezifischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert genuin linkes Denken schnell als demokratiefeindlich einstuft. Auf theoretischer Ebene ebneten in der Nachkriegszeit im Rahmen der spezifischen Positionierung der BRD innerhalb des Kalten Krieges sogenannte Totalitarismustheorien (vgl. Wippermann 1997) den Weg für ganz praktische politisch motivierte Aktionen zur Verteidigung der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« der BRD. Das Verbot der KPD von 1956 oder die Berufsverbote für linken Organisationen angehörende Lehrer in den 1970er Jahren 5 waren

4

Dath schrieb kürzlich das Vorwort zu einer aktuellen Neuauflage im Pocketformat dieses Buches: (DATH 2012: 7-28).

5

Daran, das auch Professoren von derartigen Einschüchterungsversuchen betroffen waren, erinnert sich Jürgen Habermas: »Ich erinnere mich an den Herbst 1977, als der ›Bund Freiheit der Wissenschaft‹ auf einer Pressekonferenz eine Liste mit Namen von Professoren bekannt machte, von denen man phantasiereich und denunziatorisch behauptete, sie würden Fäden zum terroristischen Untergrund spinnen.« (Habermas 1985: 62)

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nur die plakativsten dieser Aktionen, die der BRD bald den Titel einer »wehrhaften Demokratie« eintrugen. Durch diese Formen staatlicher Gewalt eingeschüchtert, verloren viele den Anschluss an die Tradition politischer Kämpfe und richteten sich im Gegebenen ein, das immer »alternativloser« zu werden schien und in dem klare politische Positionen und das Eintreten für diese selten wurden. Vor diesem Hintergrund erklären sich Phänomene wie dasjenige, das vor der letzten Bundestagswahl zu beobachten war, als mit den Piraten eine Partei zum Wahlkampf antrat, die zwar neue Ideen zur technischen Verbesserung des bestehenden Politikbetriebs hatte, jedoch keine eigenen Positionen zu politischen Fragen vertrat. Die Piraten versuchten, aus ihrem Mangel an Programmatik eine Tugend zu machen, indem sie immer wieder behaupten: dazu haben wir (noch) keine Position. Doch ohne die Dietmar Dath zufolge für die Besetzung eines politischen Raumes zentrale Trias aus »Programm, Strategie und Taktik«6 kann eine politische Kraft nicht wirken, wie sich an der Wahlniederlage der Piraten und dem Verlust ihrer Medienwirksamkeit gezeigt hat. Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen westlichen Ländern gelten die klassischen politischen Gruppierungen, die bisher mithilfe von Programm, Strategie und Taktik gezielte politische Aktionen durchgeführt haben, jedoch als veraltet, wie die englische Philosophin Nina Power herausstellt. Ihr zufolge hat es die »heutige ›materielle Basis‹ der Ideologien […] geschafft, klassische Organisationsformen (Gewerkschaften, Protestgruppen) auf einen Schlag überflüssig, veraltet und unmöglich erscheinen zu lassen (zumindest in den wohlhabenderen Gegenden der Welt).« (Power 2011: 10) Hier setzen Daths Interventionen an, der es als unerlässlich ansieht, an die verloren gegangene Theorie-Tradition wiederanzuknüpfen, um so überhaupt erst in die Lage zu kommen, informierte Urteile treffen und eine eigene Position entwickeln zu können.

D AS S CHAFFEN VON G EDÄCHTNISINSTANZEN ALS ERSTER S CHRITT ZUR R ÜCKEROBERUNG EINES POLITISCHEN R AUMES Die Entwicklung einer eigenen Position, einer Haltung wie sie Intellektuelle wie etwa der Schriftsteller Peter Hacks, den Dath immer wieder gerne zitiert, noch hat-

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Dietmar Dath in: Carsten Giese1: »Der Implex – Geschichte der sozialen Bewegungen – MarxisMuss-Kongreß -09-06.2012«. Video, veröff. bei YoutTube am 9.5.2013, URL: http://www.youtube.com/watch?v=dstaDfCn_BI (Stand: 15.12.2013), hier 0:46:550:48:45.

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ten7, und die er gegenwärtig etwa noch bei Peter Handke ausmacht, leitet sich für Dath aus einem profunden Geschichts- und Strategiewissen ab. Aus diesem Grund hat für Dath die Entwicklung einer neuen Wissenskultur höchste Priorität: »Wichtiger noch, als theoretische Instanzen zu schaffen finde ich, wenn ich mir die Geschichte angucke, Gedächtnisinstanzen zu schaffen«8. Einerseits verweist der Begriff der »Gedächtnisinstanzen« auf die Möglichkeit, sich an Denkern, an historischen Beispielen gelungener Kämpfe, an der Hervorhebung einer gemeinsamen Tradition zu orientieren. Andererseits zeigt dieser Begriff auch, dass vieles, was wir heute erleben, nicht so neu und nie dagewesen ist, wie es den Anschein hat, sondern dass es vergleichbare Ereignisse, Tendenzen und Entwicklungen in der Vergangenheit bereits gegeben hat und dass man so aus der Art und Weise, wie damals damit umgegangen wurde, lernen kann. Aus diesem Grund bezieht sich Dath immer wieder auf die Klassiker der Politischen Ökonomie, der Frauenbewegung oder der Aufklärung, die für ihn unumgängliches Rüstzeug für die Analyse und das Verstehen historischer Prozesse wie auch der Gegenwart sind. In seinen theoretischen Texten, beispielsweise in seinem politischen Essay MASCHINENWINTER. WISSEN, TECHNIK, SOZIALISMUS. EINE STREITSCHRIFT, aber auch in seinem zusammen mit Barbara Kirchner verfassten DER IMPLEX. SOZIALER FORTSCHRITT: GESCHICHTE UND IDEE bezieht Dath sich immer wieder auf diejenigen, »die inspirierte Fiktionen und irreduzible Taten beim Weltwerden der modernen Welt, beim Kampf um Emanzipation, beim Explizitmachen des Übersehenen oder von den jeweils zugelassenen Debatten Ausgeschlossenen riskiert haben.« (Dath/Kirchner 2012: 47) Auf den Bereich der inspirierten Fiktionen, und auf das, was er für Dath bedeutet, komme ich weiter unten zurück. Mit dem Bereich der irreduziblen Taten meinen Dath und Kirchner »[...] praktische menschliche Emanzipation, Arbeiterbewegung, Erringung von Frauenrechten, Antikolonialismus, die Ereignisgeschichte der Bauernkriege, der Katharer, der Indigenen im Widerstand gegen die weißen Eroberer, der Levellers, Diggers, Ranters, Sansculotten, Communarden, Bolschewiki, spanischen Anarchisten, Zapatistas, Machno-Anhänger, Rätere-

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»Der DDR-Dramatiker Peter Hacks sagte an einer Stelle, dass in guten Theaterstücken nicht Aussagen über die Welt mitgeteilt werden, sondern Haltungen. Die Haltung, die ich transportieren will, ist: Man kann die Welt verstehen. Es gibt Richtiges und Falsches. Und man ist verpflichtet, wenn man etwas rausgefunden hat, sich entsprechend zu verhalten.« (Dath 2006: 32-35).

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Dietmar Dath in: Carsten Giese1: »Der Implex - Geschichte der sozialen Bewegungen MarxisMuss-Kongreß -09-06.2012«. Video, veröff. bei YoutTube am 9.5.2013, URL: http://www.youtube.com/watch?v=dstaDfCn_BI (Stand: 15.12.2013), hier 0:35:18 0:35:26.

368 | I NGA K ETELS publikaner, unzufriedenen Greisinnen, unklassifizierbaren Sozialexperimentatoren, renitenten sexuellen Minderheiten [...]« (Ebd.: 47f.)

Die Schaffung von »Archive[n] für soziale Bewegungen«9, die diese Kämpfe um Emanzipation einem breiteren Publikum bekannt machen könnten, stellt für Dath eine weitere Möglichkeit dar, um eine Aufrüstung in Sachen Geschichts- und Strategiewissen zu ermöglichen, die politisches Handeln planbar und durch Vernunftgründe gestaltbar macht, um so einen politischen Raum zurückzuerobern, der der gegenwärtigen Situation konträr ist, in welcher (Real-)Politik zur ungeplanten, nur auf die nächste Wahl schielenden und so bloß auf kurzfristige Erfolge zielenden Verwaltung von Menschen und Dingen verkommt, die im Interesse wirtschaftlicher Partikularinteressen agiert und langfristige, geplante Entwicklungen zugunsten des Allgemeinwohls verunmöglicht.

Z UM V ERHÄLTNIS VON T HEORIE UND P RAXIS : FÜR EINE ENGE V ERBINDUNG VON B EWEGUNGEN UND T HEORIEBILDUNG Das Ankämpfen gegen die Erosion des Wissens und die damit einhergehende Wiederanknüpfung an eine lebendige, aber von der Mainstream-Öffentlichkeit vergessene linke Theorie-Tradition sind für Dath jedoch nur die ersten Schritte zur Rückeroberung eines politischen Raumes und der Beantwortung der Frage, wie politische Organisation heute aussehen könnte. Von zentraler Bedeutung ist für Dath die »enge Verbindung [zwischen sozialen] Bewegungen und dieser Art von Theoriebildung«10, die Dath in der Arbeiterschulung der Vergangenheit beobachtet und in der Gegenwart vermisst. Einzelheiten des weiteren Vorgehens werden sich ihm zufolge deshalb nicht bloß in der Theorie, sondern auch im konkreten politischen Kampf ergeben: »Wer an dergleichen teilnimmt […] wird sich früher oder später ein paar Phantasien darüber gestatten, wohin die Reise gehen könnte. Das muß gar nicht das ebenso großkotzige wie le-

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Dietmar Dath in: Carsten Giese1: »Der Implex - Geschichte der sozialen Bewegungen MarxisMuss-Kongreß -09-06.2012«. Video, veröff. bei YouTube am 9.5.2013, URL: http://www.youtube.com/watch?v=dstaDfCn_BI (Stand: 15.12.2013), hier 0:35:570:35:59.

10 Dietmar Dath in: DIE LINKE Bremen und Bremerhaven: Dietmar Dath in Bremen. Video, veröff. bei YouTube am 11.11.2013, URL: http://www.youtube.com/watch?v=w6q VaeCIjzs (Stand: 23. Februar 2014), hier: 005:03-005:08.

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benswichtige Abstraktum »Revolution« sein. Es genügt die angeregte, von konkreten Erlebnissen ausgehende, zunächst tastende und vage, dann womöglich romanhaft ausschweifende Phantasie darüber, wie man effektiv zuschlagen, einzelne und verstreute Aktionsformen ineinandergreifen lassen könnte - die Kommunikationswege des Feindes beschädigen, seine Versorgung und Verstärkung behindern oder das System zur overextension, zur ungeplanten Selbstüberdehnung seiner ordungsstiftenden und aufstandserstickenden Operationen zwingen. Wenn man sieht, wie kopflos der Apparat mitunter agiert, wo solche Phantasien keimen, macht das nicht nur Laune, sondern bringt auch auf weiterführende Ideen.« (Dath 2007: 310f.)

Solche in der Praxis, in einzelnen direkten politischen Kämpfen, erworbenen weiterführenden Ideen lassen sich Dath zufolge wiederum mithilfe der Theorie präzisieren. Dath beschreibt das Verhältnis von Theorie und Praxis als »eine Art Wippe oder eine Stromspannung an zwei Polen: Die Pläne - langfristige wie kurzfristige fokussieren die Aktionen unter Umständen; und die Aktionen helfen, die Pläne zu präzisieren.«11 Produktiv werden die fokussierten Aktionen und präzisierten Pläne aber nur dann, wenn ein Austausch zwischen unterschiedlichen politischen Gruppen stattfindet, und wenn diese sich dann an größere Öffentlichkeiten wenden. Solche größere Öffentlichkeiten könnten etwa Parlamente sein, die nicht nur für Meinungsbildung zuständig sind, sondern auch für die politische Umsetzung von Ideen. Demgemäß unterscheidet auch Nancy Fraser zwischen »weak publics, publics whose deliberative practice consists exclusively in opinion formation and does not also encompass decision making« (Fraser 1992: 134) und »strong publics, publics whose discourse encompasses both opinion formation and decision making.« (Ebd.) Die offene Frage bleibt dabei, wie der Einfluss der schwächeren Öffentlichkeiten auf die stärkeren Öffentlichkeiten vergrößert werden könnte. Als trügerisch haben sich in jüngerer Zeit Versuche erwiesen, eine größere Nähe zwischen sozialen Bewegungen und dem Staat in Form von Projekten zur Bürgerbeteiligung zu erzeugen, die der Kultursoziologe und Autor Thomas Wagner als »neoliberale Mitmachfalle« (Wagner 2013: 144) bezeichnet. Diese vonseiten des Staates oder von Konzernen organisierten Foren zur Bürgerbeteiligung sind für Wagner lediglich eines von vielen Beispielen dafür, wie das kapitalistische System jede Form von Abweichung und Kritik inkorporiert und durch diese Aneignung jegliches subversive Potential möglicher Gegenbewegungen neutralisiert. Diese Fähigkeit des kapitalistischen Systems zur Neutralisierung von abweichenden Ideen bestätigt die in der Linken seit Rosa Luxemburgs Eintreten gegen den Bernsteinschen Reformismus (Luxemburg 1970) bekannte Grundhaltung, dass mit Reformen allein gegen den Kapitalismus nichts auszurichten sei. Zudem wird hierdurch die Notwendigkeit der

11 Ebd.: 021:09-021:29.

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Rückbesinnung auf einen Kritik-Begriff ersichtlich, für den es ankommt, an der Wurzel anzusetzen, wie es für kritische Intellektuelle stets der Fall war. In diesem Fall heißt das, das kapitalistische System als Ganzes zu kritisieren, anstatt nur einige seiner extremen Ausuferungen und Exzesse und stets die Möglichkeit im Auge zu behalten, dass dieses kapitalistische System nur eine historisch kontingente Möglichkeit unter vielen ist – und dass es auch anders sein könnte.

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Im Falle Daths erschöpft sich der Versuch, dem scheinbar alternativlosen Zustand der kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart etwas entgegenzusetzen, dementsprechend nicht darin, das Bestehende zu analysieren und zu kritisieren und das Bestehen eines »Spannungsverhältnisses zwischen dem sozialen Leben einerseits und einer von Imperativen der Kapitalverwertung und Kapitalvermehrung beherrschten Ökonomie andererseits« (Streeck 2013: 11) bloß zu konstatieren. Zwar nimmt die Suche nach Alternativen ihren Ausgang in einer derartigen Analyse und Kritik der bestehenden Verhältnisse, doch zeichnet es die Figur des kritischen Intellektuellen aus, dass dieser aus seiner Verzweiflung am status quo heraus versucht, dem »Meer von Plagen«12 der Gegenwart den Entwurf einer anderen Welt entgegenzuhalten – eine Gesellschaft freier Menschen. Dath steht damit in der Tradition Sartres, demzufolge es die Aufgabe des kritischen Intellektuellen ist, zu erahnen, wie eine Gesellschaft freier Menschen aussehen könnte: »[S]ein Ziel ist die Verwirklichung des praktischen Subjekts und die Freilegung der Prinzipien einer Gesellschaft, die dieses hervorbringen und stützen würde […] Das bedeutet, er will, im Rahmen des Möglichen, bei sich und bei den anderen die tatsächliche Einheit der Person schaffen, die Wiederaneignung der Ziele, die jedem in seiner Aktivität gesetzt sind (und die damit andere würden), die Aufhebung der Entfremdung, die tatsächliche Freiheit des Denkens erreichen, indem nach außen die aus den Klassenstrukturen entstandenen gesellschaftlichen Verbote und nach innen die Verdrängungen und Selbstzensuren abgeschafft werden. […] so ist seine Infragestellung nur negatives Moment einer Praxis, die er allein nicht in Angriff nehmen kann und deren positiver Inhalt – selbst wenn er ihn nur erahnt – die in einer fernen Zukunft liegende Verwirklichung einer Gesellschaft freier Menschen ist.« (Sartre 1995:112f.)

12 Dietmar Dath in: DIE LINKE Bremen und Bremerhaven: Dietmar Dath in Bremen. Video, veröff. bei YouTube am 11.11.2013, URL: http://www.youtube.com/watch?v=w6q VaeCIjzs (Stand: 23. Februar 2014), hier: 016:42.

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Die Ahnung der Möglichkeit einer Gesellschaft freier Menschen als positiver Inhalt der intellektuellen Praxis, deren negatives Moment die Infragestellung des Bestehenden ist, kulminiert im Falle Daths in der Ausformulierung eines Gegenentwurfs zum derzeitigen Gesellschaftsmodell in seinem Essay KLASSENKAMPF IM DUNKELN. ZEHN ZEITGEMÄßE SOZIALISTISCHE ÜBUNGEN. Darin skizziert Dath die Möglichkeit einer »Gesellschaft, die sich für Kultur und Zivilisation, für Schönheit und Gerechtigkeit ernsthaft interessieren würde« (Dath 2014: 9). Ein »auf dieses Ziel hin organisiertes Gemeinwesen« (Ebd.) zeichnet sich für Dath durch »eine zentrale Rechtsbestimmung [aus] die das ganze Gedankenexperiment zusammenhalten kann» (Dath 2014: 10): »Die Rechtsbestimmung lautet: Niemand darf in diesem Gemeinwesen über die Arbeitszeit einer anderen Person so verfügen, daß damit ein Zugewinn an Konsumzeit, politischer Zeit oder unbestimmter Zeit für diejenige Person erwirtschaftet wird, die fremde Arbeitszeit kommandiert und ihre Ergebnisse aneignet.« (Dath 2014: 15)

Die in Anknüpfung an Moishe Postones Hauptwerk ZEIT, ARBEIT UND GESELLSCHAFTLICHE HERRSCHAFT (2003) erfolgende Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Zeit nimmt bei Dath die Form einer vierfachen Kategorisierung an; er unterscheidet zwischen Arbeitszeit (die der Herstellung von Sachen dient), Konsumzeit (in der Sachen und Dienste gebraucht und verbraucht werden), politischer Zeit (diese wird für Absprachen und Handlungen gesellschaftlicher Gruppen sowie zur Einteilung der vier Zeitsorten innerhalb eines Gemeinwesens genutzt) sowie unbestimmter Zeit (diese entzieht sich der sonstigen Kategorisierung und ist sozusagen offene, freie Zeit). Dath ist der Überzeugung, dass die die von ihm imaginierte Gesellschaftsform begründende Rechtsbestimmung, die »die Umbuchung der Arbeitszeit von B – das heißt also etwa: die Aneignung ihrer Produkte oder die Zuweisung ihrer Leistungen an C […] – auf politische, konsumbezogene oder freie Zeitkonten von A« (Dath 2014: 15) verunmöglicht, eine emanzipative Kraft hat, die freiere Menschen hervorbringt, die »selbstbewusst mit ihrer Lebenszeit wirtschaften dürfen und müssen« (Ebd.).

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In seinen Romanen entwirft Dath ebenfalls alternative Gesellschaftsmodelle, die ein ganz anderes menschliches Miteinander vorstellbar machen. Für ihn ergeben sich daraus »neue Formen von Luxus […], gemeinschaftliche[r] Luxus, Reichtum an menschlichen Beziehungen.« (Dath 2014: 18), die die Möglichkeit von Emanzipation und vom Vorhandensein wirklich freier Menschen in sich bergen. Kontrastiert

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werden diese denk- und vorstellbaren Lebensformen mit dem Zustand der Gegenwart, in der sich fortschrittlichere Geister der in seinen Romanen nicht nur einmal aufgeworfenen Frage »Wann werden wir frei sein?« zu stellen haben. Daths Romane lassen immer wieder mögliche Antworten auf diese Frage aufblitzen. In DIE ABSCHAFFUNG DER ARTEN aus dem Jahr 2008, für den Dath den KurdLaßwitz-Preis als Auszeichnung für den besten Roman erhielt, entwickelt er nicht nur ein ganz neues politisches System, sondern er imaginiert gleich eine neue Form der biologischen Existenz, in der die Menschen durch sogenannte »Gente« abgelöst werden: denkende und sprechende Tiere, die ihr Erbgut modifizieren und dadurch sowohl ihre Gattung als auch ihr Geschlecht wechseln können. Diese extreme Form der Freiheit zur Veränderung und Beweglichkeit entspricht Daths Vorstellung davon, was er als »Wesen des Geistigen« versteht: Bewegung und Lebendigkeit. Der größte Horror für Dath ist es deshalb, »was für mich das Wesen des Geistigen ist, nämlich Bewegung, und auch das Wesen des Lebendigen und auch das Wesen des Ungeistigen, einfach das Wesen des überhaupt Vorhandenen, stillzustellen nach irgendeiner Seite« (Hatzius/Dath 2011: 73). Einen solchen albtraumartigen Zustand imaginiert Dath hingegen in seinem 1035 Seiten schweren Roman aus dem Jahr 2005, FÜR IMMER IN HONIG, worin er leblose, energielose Mischwesen aus Mensch und Zombie auftreten lässt, die sogenannten »Zombotiker«, die von der US-Präsidentin Hilary Clinton mithilfe internationaler Organisationen und in Camps in Israel ausgebildeten Kämpfern gejagt werden. Mit der Dynamisierung der Imaginationskraft des Lesers durch die Ausgestaltung solcher alternativen Welten schafft Dath ein imaginäres Übungsfeld für mögliches politisches Handeln, mit dem er die zerrissene Verbindung zwischen Utopie und politischer Praxis wiederherstellen will: »Welcher ungeheure Prozentsatz der Populärkultur von überhaupt nichts anderem handelt als von anderen Welten und Utopien, ist glaube ich klar. Aber die Verbindung der Produktion von Utopie und politischer Tätigkeit ist zerrissener denn je. […] Es gibt ein paar Leute, die wissen, was ist, und ganz viele Leute, die sich nur ausmalen, wie es sein könnte. Ich würde das gerne wieder näher aneinander ranholen. Und dafür scheinen mir die ganzen Erfahrungen, die man mit den Fantastik-Genres gemacht hat, sehr geeignet. Spätestens seit Edgar Allen Poe erforschen diese Leute nichts anderes als eben diese Verbindung.« (Dath 2006: 33)

Dath unterscheidet drei unterschiedliche Formen der Phantastik: die Fantasy, die er als »eher spirituelle, religiöse, mystische Phantastik« charakterisiert; die Science Fiction, für ihn »die eher spekulative, auf Kalkül und auf dem Gedankenexperiment aufbauende, die wissenschaftlichen Möglichkeiten plausibel durchspielende Phantastik« und »die viszerale, also auf die Körpersensationen zielende, die Möglichkeiten des Körpers durchspielende Phantastik – das heißt den Horror und die Pornographie.« (Dath 2007: 459f.) Dath hat in seinen eigenen Romanen und Erzählungen

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alle drei Formen durchgespielt; jedoch verortet er sich selbst zumeist in der Science Fiction, die für ihn seit seiner Kindheit auch als Leser die größte Rolle gespielt hat (Ebd.: 444ff.). Den besonderen Reiz sieht Dath für diejenigen, die »sich gleichermaßen für Reflexion, für Erfahrung und ästhetische Techniken« (Ebd.: 447) interessieren, darin, dass es in der Science Fiction möglich sei, »Sachen, von denen man annimmt, dass man sie nicht mehr erzählen kann, eben doch noch zu erzählen.« (Ebd.) In Anlehnung an die populäreren Erscheinungsformen der Science Fiction, wie sie die SF-Fangemeinde besonders in den USA vor allem im 20. Jahrhundert konsumierte und die oftmals in Zeitschriften als wöchentlich erscheinende unterhaltsame und kurzweilige Episodenerzählungen gedruckt und deshalb entsprechend schnell herunter geschrieben wurden, definiert Dath die Science Fiction als »[...] das Genre, in dem das 20. Jahrhundert die politischen und wissenschaftlichen Fragen der Epoche – die eben auch die zwei vorherigen Jahrhunderte umfasst – auf populäre Weise als ästhetische behandeln gelernt hat.«13 Dath betont, dass es neben den populären und für den schnellen Konsum verfassten Science-Fiction-Literatur aber auch durchaus anspruchsvollere, in Form und Stil der Literatur der Moderne in nichts nachstehende Science-Fiction-Romane gibt: »Die erfahrene SF-Leserin kann sich [...] an Sprache berauschen wie sonst nur die Mallarméund Valéry-Freunde. Die besten SF-Autorinnen und -Autoren, Leute wie Samuel R. Delany, Joanna Russ oder Harlan Ellison, nehmen diesen Genuss als Lockmittel, Treibstoff und Medium für linguistisch bis in Kleinigkeiten durch gebildete Versuche der Überprüfung einiger Voraussetzungen, unter denen Menschen leben und miteinander umgehen - wirtschaftlicher, politischer, biologischer, physikalischer Art, selbst solcher des Erkenntnisvermögens und der denkbaren Wahrheitstafeln für alle Sorten von Aussagen überhaupt.« (Dath/Karich 2013: 122)

Es ist diese Überprüfung der Voraussetzungen, unter denen Menschen leben und miteinander umgehen, die die spekulative Fiktion zu einem Bindeglied zwischen der Erfahrung einer entfremdeten kapitalistischen Realität und einer möglichen anderen Zukunft macht. Mithilfe der Phantasietätigkeit, die als ein »spezifisches Produktionsmittel« (Negt/Kluge 1972: 73) fungiert, werden alternative Lebens- und Arbeitsformen vorstellbar, die mögliche Auswege aus den vielfältigen Krisen und Sackgassen des kapitalistischen Systems der Gegenwart weisen.

13 Dietmar Dath: Dietmar Dath im Interview: »In Lenins Schriften ist viel Nützliches«, Die WELT, Ausgabe vom 28.08.08, http://www.welt.de/2359438, letzter Zugriff am 10.11.2013.

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The Rise of the Third Culture. Transnationale Überlegungen zur Erschaffung eines intellektuellen Mythos P ATRICIA A. G WOZDZ

Als Studentin geisteswissenschaftlicher Fächerkombinationen mag es einen zu Anfang seines Studiums erstaunen, wenn Texte von Autoren, die längst schon zum Theoriekanon literaturwissenschaftlichen Forschens gehören, zwar gelesen werden, diese Autoren aber in ihrer gesellschaftlichen Wirkungskraft als Intellektuelle wenig beachtet werden. Was von ihnen auf ihre Nachfolger abfärbte, verebbte am Ufer gesellschaftspolitischer Folgenlosigkeit, die am Wohlfühlzeitgeist der BesserAngepassten scheiterte. Als Studentin sieht man sich noch lange nicht als Akademikerin, als Akademikerin mit einem Hochschulzeugnis sieht man sich noch lange nicht als Intellektuelle und sobald man Doktoren- und Professorentitel trägt, scheint man sich auch schon bald wieder vom utopischen Bild eines kritischen Intellektuellen verabschiedet zu haben. Man überspringt die Seinsverfasstheit dieses sozialen Status im Glauben an die Trägerschaft von Titeln und genießt den Status einer gewissen Auserwähltheit, die einem gewisse Zugänge durch das Bildungskapital ermöglicht, die freilich ohne die Summe akademischer Zertifikate auch nicht erschlossen werden könnten. Der Homo academicus glaubt an die illusio seines Feldes, mit dessen Hilfe er wissenschaftliches, institutionelles/universitäres Kapital und ebenso intellektuelles Prestige anhäufen kann.1 Die Frage ist, wie gut er innerhalb und außerhalb des akademischen Feldes zu spielen weiß. Lothar Peter hat ihn unter den modernen Figuren des Gesellschaftsspiels als »Homo academicus oeconomicus« gekennzeichnet: »Was der Homo academicus tut, wird nicht von den Erfordernissen des wissenschaftlichen Diskurses bestimmt, sondern von den ubiquitären Zwängen sozialer Macht« (Peter 2010: 210). Sich von diesen Zwängen zu lö-

1

Siehe hierzu Bourdieu (1992).

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sen, kann nicht Aufgabe eines kritischen Intellektuellen sein, der akademisches Bildungskapital inkorporiert, vielmehr muss es darum gehen, diese Zwänge als Bedingung der Möglichkeit seines Bestehens anzuerkennen und gleichzeitig offenzulegen, wie man innerhalb dieser Zwänge am effektivsten seine gesellschaftliche Wirkungskraft entfalten kann. Soziologen wie Stephan Möbius sehen den Einflussradius dieser Kräfte allerdings begrenzt, wenn nicht sogar im Zeitalter gestiegener Medienaufmerksamkeit drastisch okkupiert, sodass er offen bekundet: »Die Figur des kritischen Intellektuellen ist in der Krise. [...] Als Rädchen im Getriebe des Medienapparats ist er völlig von der ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹ absorbiert. Sein Ansehen steht und fällt mit dem Erfolg seiner medialen Performance«. (Möbius 2010: 39) Man mag diese Entwicklungen betrauern, rückgängig zu machen sind sie nicht, denn bereits die Historizität und Interkulturalität des Intellektuellenbegriffs bezeugt, dass es sich beim Typus des Intellektuellen immer schon um eine Vielzahl von divergenten Intellektuellentypen gehandelt hat. Den gemeinsamen Nenner dieser Typen charakterisiert Möbius wie folgt: »Die ›Geburt des Intellektuellen‹ ist eng mit dem Kampf um universalistische Werte der Menschenrechte verbunden. [...] Als ›Intellektuelle‹ sind Menschen zu bezeichnen, die wissenschaftlich, künstlerisch, religiös oder journalistisch tätig sind, dort Kompetenzen erworben haben und qualitativ ausgewiesen sind und die in die öffentlichen Auseinandersetzungen und Diskurse kritisch oder affirmativ intervenieren und Position beziehen; sie sind dabei nicht notwendig an einen bestimmten politischen, ideologischen oder moralischen Standort gebunden; folglich kann es sie in unterschiedlichen politischen Lagern oder Strömungen sowie innerhalb und außerhalb institutioneller Bindungen geben.« (Ebd.: 42)

Ebenso hält der französische Historiker Michel Winock in seiner Intellektuellenhistorie des französischen Intellektuellen seit Émile Zolas »J’accuse« fest, dass die heterogene Zersplitterung seiner Wesensart – wenn man denn einen solchen sozialen Essentialismus suggerieren möchte – in ein Bündel von unterschiedlichen Herkunfts- und Tätigkeitsbereichen ohne festen Wohnsitz durch die symbolischen Benennungskämpfe im intellektuellen Feld bedingt war. 2 Jedes Wort, das gegen einen Mitspieler erhoben wurde, war immer auch schon ein Wort von Beherrschten unter Herrschenden, deren Ziel es war, eine größtmögliche Distinktion zu ihren Mitspielern und ihren Macht-Diskursen zu gewinnen. Bereits die Intellektuellen-Akte »Zola« bezeuge, wie hart umkämpft das Bild des engagierten, verantwortungsgebewussten und gebildeten Geistes war, der soziales Unrecht bekämpfte und Figuren institutioneller Autorität offen herausforderte. Seine Anhänger sprachen von einer »meinungsbildenden Bewegung, die über allen unterschiedlichen Interessen« stand,

2

Siehe hierzu Winock (2003).

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sie wurde als »friedliche Revolte des französischen Geistes« angepriesen, seine Gegner brandmarkten ihn dagegen als unmoralisch, eingebildet, anmaßend, als »groteske Oligarchie von Graduierten«. (Winock 2003: 37) Die in dieser Nachfolge etablierten Figuren des ›universellen‹ (Sartre) und ›spezifischen‹ (Foucault) Intellektuellen mögen eine Zeit lang Bestand gehabt haben, allerdings kamen auch sie bereits zu Anfang der 1980er Jahre aus der Pariser Mode. (Ebd.: 784) ›Orakelnde Intellektuelle‹ brauchte man nicht mehr, Propheten und Priester hatten ausgedient, das Fernsehen wurde zu einer neuen Bühne, die aus ihnen weniger anklagende Figuren der Störung gesellschaftlicher Prozesse machte als sie zu Funktionären pseudo-aufklärerischer Unterhaltungsindustrie werden zu lassen. Winock merkt kritisch an: »De facto interessiert sich das Fernsehen weniger für den Inhalt der Reden als für die Person derer, die sie halten. Der kleine Bildschirm ist zu einem Instrument des persönlichen Aufstiegs geworden, der medienwirksame Intellektuelle zur letzten Verpuppung der Zunft« (Ebd.: 785). Die Person des Intellektuellen wird zu seiner persona, seiner Maske, die medial generiert und daher auch medial inszeniert ist. Allerdings scheint die gegenwärtige Konstellation die Historizität dieser Medialität zu unterschlagen, denn bereits im 19. Jahrhundert erschuf die expandierende Massenpresse nicht nur die Nachfrage für kontroverse Pamphlete und Manifeste, das Printmedium erschuf auch die konsumierende, interessierte Öffentlichkeit gleich mit. Der Intellektuelle ist und bleibt damit das Produkt einer kapitalistischen Nachrichten- und Neuigkeitsindustrie, die nur darauf wartet bis abtrünnige Akademiker, provozierend-schockierende Schriftsteller oder populärwissenschaftliche Aufklärer aus ihren wohldefinierten Feldgrenzen ausbrechen, um anzuklagen, zu debattieren, zu verleumden, kritisch in Frage zu stellen oder einfach nur ihre Meinung zu äußern. Das offene Spektakel wird zum Gerichtshof, und das macht sich bezahlt. So konstatierte bereits Julian Benda in seinem essayistischen Pamphlet DER VERRAT DER INTELLEKTUELLEN (La trahison de clercs) von 1927, dass der allgemeinste und wesentlichste Charakterzug dieser Kaste vor allem darin besteht, eine Mobilisierung leidenschaftlich-politischer Kräfte zu bewirken, um alle Menschen ohne Ausnahme in ein Geflecht politischer Interessen einzubeziehen. (vgl. Benda 1988: 204) In Deutschland ist erst kürzlich einer von ihnen verstorben: der Publizist, Feuilletonchef und Mitherausgeber der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Frank Schirrmacher. In dem Nachruf des stellvertretenden Feuilletonleiters Edo Reents wird Schirrmacher als ›Verteidiger des freien Denkens‹ gerühmt, als »sprach- und wirkmächtiger Kulturjournalist« mit einem Sinn für Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten, der es ihm erlaubte, gegenteilige Meinungen zu einem bestimmten Themenkomplex vorwegzunehmen, was seine Gegner entrüstete. (Reents 2014) Zuletzt jedoch werden nicht so sehr seine schriftstellerischen Fähigkeiten gelobt und auch getadelt, vielmehr wird gerade sein publizistisch-wirtschaftliches Gespür für Debatten und Paradigmenwechsel hervorgehoben:

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»Frank Schirrmacher dachte in Zusammenhängen, die immer auch das Ganze und das Kommende betrafen. Deswegen gab es unter ihm, wenn man so will, auch mehrere Paradigmenwechsel, die auch Ausdruck seiner Überzeugung waren, dass unser Leben selbst ständig einem Wandel unterworfen ist. Von der Literatur, die er in dieser Zeitung von 1989 (mit kaum dreißig) bis 1994 verantwortete, wandte er sich irgendwann ab, weil er zu spüren schien, dass das Entscheidende inzwischen woanders gedacht wird – zuletzt eben in den IT-Debatten, die er prägte wie kein anderer.« (Reents 2014)

Dass es die Debatten sind, die Geschichten machen, war in den 1990er Jahren der Einwurf des amerikanischen Literaturagenten John Brockman, der mit seinem Manifest THE THIRD CULTURE: BEYOND THE SCIENTIFIC REVOLUTION (Brockman 1995) in die Offensive gegen die literarische Intelligentsia trat. Frank Schirrmacher trat diesem Denkkollektiv bei. Obwohl der Romanist Frank Schirrmacher sich noch als Doktorand für dekonstruktivistische Spielereien von literarischen Texten interessierte, galt seine Aufmerksamkeit mit dem Aufkommen der »Science Wars« 3 in den USA und der Absage an die Geisteswissenschaften durch den medienwissenschaftlichen Paradigmenwechsel des Germanisten Friedrich Kittler schon bald der digitalen Intelligentsia und namentlich dem naturwissenschaftlichen Intellektuellen. Schirrmachers Ziel war es, ein angloamerikanisches Modell in den intellektuellen Boden deutschen Gelehrtentums zu verpflanzen. Die Etablierung einer deutschen Dritten Kultur ist fehlgeschlagen, dennoch installierte sich Schirrmacher als Vermittler zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften und versuchte Dietmar Dath in eben diesem Sinne als kritischen Vermittler zwischen den interessierten und ggf. beteiligten Öffentlichkeiten für sein Projekt der DARWIN AG (Schirrmacher 2001) in der FAZ zu gewinnen.4 Seiner Meinung nach dürfe die Erfolgslinie der »wissenschaftlichen Bestseller«, wie sie von Ernst Haeckel initiiert und Stephen Hawking weitergeführt wurde, nicht abbrechen, sondern müsse auch weiterhin gefördert werden, denn ihre Erfolgsgeschichten naturwissenschaftlichen Wissens veränderten sowohl die Öffentlichkeit als auch die Wissenschaft. (Schirrmacher 2001: 19) Er positionierte sich dabei als begeisterter Befürworter der naturwissenschaftlichen Intelligentsia: »Kaum je zuvor freilich stand Naturwissenschaft so nah am Rand von Erkenntnissen und Praktiken, die die Gesellschaft durchrütteln und umordnen werden. Hier liegt der Sinn der Wissenschaftsvermittlung. Sie muß von den Wissenschaftlern selbst ausgehen. Sie müssen

3

Siehe hierzu der Sammelband BEYOND THE SCIENCE WARS. The missing discourse about Science and Society (Segerstråle: 2000).

4

Siehe zu Dath den Beitrag von Inga Ketels in diesem Band.

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mit dem Mut zur Popularisierung ihre Vision der Zukunft erzählen oder von anderen erzählen lassen.« (Schirrmacher 2001: 21)

Populärwissenschaftler aus naturwissenschaftlichen Disziplinen formieren sich in dieser Sichtweise als die Avantgarde der neuen Medienintellektuellen, geisteswissenschaftliche Popularisierer fungieren als ihre Mentoren, Moderatoren und Promoter. Populäre Wissenschaftsvermittlung ist jedoch weit mehr geworden als eine bloße gemeinsame Utopie eines Denkkollektivs, das sich transnational bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts in Konstellation zu einer breiten interessierten Öffentlichkeit abzeichnete. Sie ist kein ungeregelter Interdiskurs, sondern ein ökonomisch durchkalkuliertes Spiel des journalistischen Feldes und des Feldes der Verleger, großer Verlagshäuser und investitionsfreudiger Chefredakteure mit der Vision eines expandierenden akademischen Wissensmarktes, der nicht exkludierend vorgeht, sondern inkludierend. Die Gründung des Nationalen Instituts für Verständliche Wissenschaft in Karlsruhe ist der jüngste Beweis dafür, dass das Public Understanding of Science auch in Deutschland – wenn auch mit etwas Verspätung – Früchte getragen hat.5 In deren Sicht ist Populärwissenschaft nicht das Andere der Wissenschaft, sondern das Kernstück naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung. Das Undisziplinierte und Ungeregelte wird so mit Hilfe neuer Studienfächer wie der Wissenschaftskommunikation diszipliniert und reglementiert, damit es im Gelehrtenstaat der Popularisatoren mit rechten Dingen zugeht. Ihren Sinn fürs Wissensgeschäft haben sie jedoch einem bestimmten mentalitätsgeschichtlichen Intellektuellentypus zu verdanken: dem praktischen Mann der Tat, demjenigen, der Praxis bezogene Ideen erfindet, um aus Ideen Geld zu machen und mit mehr Kapital weitere Ideen in Umlauf zu bringen. Ihr Herz schlägt für den amerikanischen businessscientist, der geistiges Eigentum in pures Gold verwandelt.

1. S MARTER , BETTER , T HIRD C ULTURE : D ER ANGLOAMERIKANISCHE E XPORTSCHLAGER »Money is just an abstraction. These people were doing something important. They are artists. They see through years of conditioned responses«, dies bekundete der junge Kunstökonom John Brockman 1966 in einem Interview für die New York

5

Das Institut wurde 2012 u.a. von Carsten Könneker, dem Chefredakteur von Spektrum Wissenschaft, ins Leben gerufen. Innerhalb des KIT bildet das Institut Naturwissenschaftler zu Botschaftern ihres Faches aus. Online: http://www.nawik.de/das-nawik/, abgerufen am: 01.08.2015.

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Times, die über das künstlerische Feld der Pop Art und ihre Akteure berichtete.6 Der damalige New Yorker Direktor des Filmfestivals Amos Vogel beauftragte den jungen Ökonomie-Studenten an diesem wichtigen Event teilzuhaben und ihn mit innovativen Ideen zu bereichern. Brockman antwortet mit einem »Intermedia Kinetic Environment«, das die ästhetische und aisthetische Wahrnehmung des amerikanischen »independent cinema« in der Öffentlichkeit auf dramatische Weise verändern sollte. Mit seinem bloß privaten Interesse am Kino wurde er zum Kommerzialisierer experimenteller Kunst in einer »unlikely marriage between mixed media and commercial discotéques«. Bereits 1965 führte ein Journalist der Tageszeitung THE NATION in seinem Artikel über die UNDERGROUND RENAISSANCE John Brockman als einen Kenner der Vermarktung amerikanischer Independent Künstler ein: »In Brockman, for the first time, the Underground is represented and organized by someone with buisness sense. He has tried to eliminate bohemian sloppiness, clubhouse paranoia and avant-garde incest«. (Junker 1965) Einer unter den vielen jungen Künstlern dieses »independent cinemas« war auch Andy Worhol, mit dem sich John Brockman auch noch später vielfach in der Öffentlichkeit sehen ließ und deren Beziehung im journalistischen Feld stets kommuniziert wurde. Dieser junge KunstÖkonom prophezeite, dass die experimentellen Künstler den Blick für die Welt für immer verändern würden: »Only the hippest, most aware artists are able to make a statement about our world today«. (Ebd.) Dieser junge 26 jährige Intellektuelle, der sich in der Factory von Warhol herumtrieb, der auf der Seite des Künstlers stand und für den Geld bloß eine Abstraktion war, sollte wenig später im amerikanischen Almanach THE COMPUTER ENTREPRENEURS unter den neuesten StartupUnternehmern im amerikanischen Computerbusiness folgende Aussage tätigen: »I’m not in business to help people. I’m not in business to make friends. I’m in business to make money« (Levering/Katz/Moskowitz 1984: 135). 1973 gründete John Brockman sein Startup-Unternehmen John Brockman Associates Inc. Er wurde zum Head-Hunter für die ersten kommerziellen Software-Writer, die den Personal Computer Markt erstürmen sollten. Mit insgesamt 200 Klienten und einem jährlichen Einkommen von 20 Millionen Dollar (Zahlen von 1983; Ebd.: 136f.) begann er jene Schritte einzuleiten, für die ihn das journalistische Feld New Yorks bereits vorbereitet hatten, indem die Journalisten seinen Werdegang nie aus den Augen verloren hatte und behutsam von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kommentierten. Die Herausgeber des Almanachs präsentieren den Werdegang eines »avant-garde philosophers« zum Agenten für Autoren von »serious non-fiction« und Computer-

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Am 4. September 1966 erschien in der New York Times ein Artikel mit dem Titel »So what happens after Happenings?« über John Brockman, der sich damals mit der medienrevolutionären Doktrin Marshall McLuhans »the medium is the message« einen Namen im künstlerischen Feld New Yorks machen wollte. (Lester 1966).

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Software. Damit schien sich das zu bestätigten, was der Journalist John Gruen des HARALD TRIBUNE in seinem Artikel THE POP SCENE (1967) prophezeit hatte: »They are all waking up to the fact that America’s youth-quake is truly a Combine Generation – indeed, a generation of costumers who will respond to the environmental and multimedia approach to products, to learning, to leisure, and to entertainment. Men like John Brockman will be the arbiters and impresarios who will guide these four-square world into the tastes and thoughts of this youngest and largest of up-coming generations.« (Gruen 1967)

In den 1970er Jahren schien er von der intellektuellen Bildfläche New Yorks zu verschwinden und hinter den Kulissen des amerikanischen Publikationswesens, besonders in seinen Verhandlungen mit dem Verlagshaus Simon & Schuster, seinen langsamen Aufstieg als Literaturagent der angloamerikanischen Popular Science vorzubereiten. 1987 erscheint dann in der Zeitschrift WHOLE EARTH, die Brockman selbst mitfinanziert hat, ein Beitrag, der in einem Interview einen neuen Salon für die naturwissenschaftlichen Intellektuellen der Zukunft vorstellt. Der Name dieses elitären Clubs ist schlicht und einfach »Reality Club«. Die Mission dieser »elitist gang« beschreibt Brockman wie folgt: »The Reality Club encourages people who can take the materials of the culture in the arts, literature, and science and put them together in their own way. We live in a mass-produced culture where most people, even many established cultural arbiters, limit themselves to second hand ideas, thoughts, opinions. The way this culture is going, most Americans are the mental equivalent of shopping malls. I believe that a tiny minority of people in the world do the significant thinking for everyone else. We are elitist if that is construed as a group of people who create their own reality and not an ersatz reality. Our members are out there doing it rather than talking about and analyzing the people who are doing it.« (Levy 1987)

Damals war es noch eine bunte Mischung von Akteuren aus sehr unterschiedlichen sozialen Feldern, von Psychologen über Zen-Meister zu Schriftstellern und Computerspezialisten. Brockman veranstaltete derartige Zusammenkünfte bereits 1981. Geplant waren sie als subversive Diskussionsforen zu den etablierten akademischen Konferenzen. Die freie Evolution sich widersprechender Ideen stand hierbei im Vordergrund. Gesetztes und Gegebenes sollte in Frage gestellt, die Realität sollte mit ihren Ideen herausgefordert werden. Indem er an den »materials of the culture in the arts, literature and science« und ihren kulturellen Vermittlern (»established cultural arbiters«) Kritik übte, versuchte er im Umkehrschluss seine elitäre ›gang‹ von subversiven Denkern von der literarischen Intelligentsia zu distanzieren, da die Professoren der Humanities und Liberal Arts selbst keine Ideen produzierten, sondern die Ideen anderer bloß weiterverwerteten. Dieses Recyclen von Second-HandGedanken sei den »Reality Club« Intellektuellen fremd. Sie seien eben keine Pa-

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pierkorb-Intellektuelle, sondern Denker, die aus erster Hand Ideen kreierten und damit die Sicht auf die Welt revolutionierten. Brockman übte in diesem Interview bereits jene Manifest-Rhetorik ein, die Mitte der 1990er Jahre zu seinem Markenkennzeichen werden sollte. Brockman ist nicht nur der Initiator dieser Veranstaltung gewesen, sondern auch ihr Geldgeber, der sie finanziell unterstützte, sodass für die Mitglieder der freie Fluss von Informationen und die Evolution der Ideen ohne finanziellen Aufwand erfolgen konnte. Doch auch dieses Prinzip steht nur einmal mehr unter den Vorgaben einer Ökonomie des Unökonomischen, was sich erst nach einigen Jahren für Brockman und seine Klienten auszahlen sollte. Der erste Schritt auf diesem Weg von der Exklusivität des Clubs zur Inklusivität der Öffentlichkeit wurde durch das Interview in der WHOLE EARTH REVIEW selbst in die Wege geleitet. Das journalistische Feld New Yorks sorgte für genügend öffentliche Aufmerksamkeit, die es der neuen intellektuellen Schicht amerikanischer Realitätsforscher zugleich erlaubte, eine soziale Identität zu erzeugen, die sie wiedererkennbar machte. Als schließlich 1991 die Los Angeles Times von einem »manifesto challenging our national intelligentsia« sprach, begann die PR-Arbeit Früchte zu tragen. Der kurze Essay, der als NewsletterManifest in der dritten Ausgabe der Zeitschrift EDGE im September 1991 erschien und später in einer längeren Version von der LOS ANGELES TIMES, THE NEW STATESMAN und in der Kopenhagener Tageszeitung INFORMATION veröffentlicht wurde, begann in den USA und über Dänemark auch in Europa zu zirkulieren. Dies kann man als die offizielle Geburtsstunde der angloamerikanischen Third Culture ansehen und das Manifest als Gründungsnarrativ einer neuen intellektuellen Schicht. In diesem Essay, das schließlich 1995 die Popular Science Writing Anthologie THE THIRD CULTURE. SCIENTISTS ON THE EDGE einleitete, werden die »established cultural arbiters« nun beim Namen genannt: die »men of letters«, die »literary intellectuals«. Im LOS ANGELES TIMES-Interview mit dem Journalisten Peter Catalano beschimpft Brockman sie als »literary intellectual crowd«. (Catalano 2014) Kurz darauf berichtete die SUNDAY TIMES von Brockmans Erfolg im »Popular Science Publishing« unter dem Titel EUREKA! THEY LIKE SCIENCE. (White 2014) Damit wurde auch das britische Verlagswesen auf den amerikanischen Literaturagenten aufmerksam. Zwei Jahre später veröffentlichte die SUNDAY TIMES erneut einen ausführlichen Artikel über die geschäftlichen Beziehungen zwischen London und New York. In dem Artikel SCIENCE DOUBTFUL ADVANCE berichtet John Cornwell von John Brockmans »Third Culture« im Kontext des Cheltenham Literaturfestivals, auf dem die SCIENCE MASTERS BOOK SERIES des Verlagshauses Weidenfeld & Nicolson vorgestellt werden sollte. (Cornwell 1994) Dem Bericht zufolge, erhielt Brockman zwei Jahre zuvor einen Anruf von der Londoner Publishing Group Orion und dem japanischen Verlagshaus Soshi Sha, um eine solche Serie mit einem ausgewählten Stab von bereits veröffentlichten und erfolgreichen Popular Science Autoren aus

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dem wissenschaftlichen Feld in die Wege zu leiten. 1994 wählte Brockman 12 dieser Autoren aus seiner Klientenliste aus und verkaufte die Copyright-Rechte als »package« in über 50 Länder. Damit sprengte er gleichsam den lokalen Rahmen der New Yorker Clique und vergrößerte ihren Zirkulationsradius durch den Verkauf ihrer Publikationsrechte auf globaler Ebene. Zu seinen »brand names« zählten in dieser Zeit vor allem Richard Dawkins, Daniel C. Dennett, Colin Blakemore, Stephen Jay Gould, Nicholas Humphrey. Der Literaturagent selbst verdiente an jedem vereinbarten und ausgehandelten Deal zwischen Autor und Verlagshaus 15% des Gesamtbetrages. So sieht also die rechtlich-ökonomische Lage eines solchen Vorgehens aus. Doch der Journalist der SUNDAY TIMES weist auch auf den ideellen Wert der Marke John Brockman hin: »The genesis of Brockman’s »package«, the marriage of authors and themes, patently has less to do with editorial inspiration than the brokering of the deals. The Science Masters may well be the first series of its kind to have been created by a literary agent rather than a publisher or freelance general editor: the choice of authors, and therefore intellectual bias, is dictated not so much by editorial policy as by membership of Brockman’s client list, or, at least, his ability to cut a deal with other agents’ clients.« (Cornwell 1994)

John Cornwell kritisierte BROCKMAN’S SCIENCE MASTERS, denn viele Autoren, die in dieser Reihe veröffentlichten, seien eben nicht deckungsgleich mit der ideologischen Intention ihres Agenten. Bücher des Evolutionsbiologen Richard Dawkins, des Neurophilosophen Daniel C. Dennett und des Physikers Stephen Hawking müssten vor einer möglichen falschen Etikettierung in Schutz genommen werden. Dem gegenüber schreibt er sie in das Archiv der »history and philosophy of science« ein und begründet seine Wahl wie folgt: »Even though such authors habitually endow their utterances with the oracular certitude of a proven experiment, they are engaged in a highly contentious intellectual exercise in which there is no such thing as a monopoly of the truth.« (Cornwell 1994)

Auch andere populäre Wissenschaftsautoren, auch wenn sie nicht bei Brockman unter Vertrag stünden, seien intellektuell mit seinem Klientenstab kompetitiv und stünden den radikal-reduktionistischen Sichtweisen fern.7

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Cornwells Kritik zielt darauf ab, das neu erschienene Buch des mittlerweile ebenfalls als Star-Autor (und Star-Dozenten) angepriesenen Harvard Psychologen Steven Pinker, The Language Instinct, davor zu schützen, zu diesem ideologischen Kult einer neuen intellektuellen Kaste beizutragen, bevor es mit dem »pap«, also dem ›Brei‹, wie den ›Science Masters‹ in Verbindung gebracht werde. Die ironische Wende an dieser Kritik erübrigt

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Die Kritik bezieht sich auf Brockmans willkürliche Auswahl seiner Autoren, da er eben nur diejenigen Wissenschaftler in die Series aufnahm, die sich bereit erklärten zu unterschreiben. Dass einige Autoren diese verlagsrechtliche Vormundschaft ablehnten, liegt daran, dass eine solche Signatur vielmehr ist als die bloße Unterschrift unter einen Vertrag, der die Publikationsrechte sichert. Diese Signatur trägt bereits das soziale Stigma einer neuen intellektuellen Schicht, die nicht nur wissenschaftliche Ideen in den medialen Kanälen verbreiten möchte, sondern sich einem ganz bestimmten System von Ideen zu verschreiben hat. Mit seiner Unterschrift verschreibt man sich hier einem Programm, einer Schule, einer Ideologie. In diesem Fall einer naturwissenschaftlichen Doktrin von der Ersetzung des traditionellen Intellektuellen europäischer Herkunft durch die »men of science« aus Amerika. Kritiker aus dem journalistischen Feld bleiben in Bourdieus Sicht jedoch machtlos gegenüber dem Feld der internationalen Verlagsbeziehungen, weil auch ihr medienkulturelles Dasein von diesem Feld abhängt. Auch Kulturjournalisten bleiben Beherrschte unter Herrschenden. Zwischen dem akademisch-wissenschaftlichen Feld und den Subfeldern kultureller Massenproduktion etablierte sich das intellektuelle Feld der Populärwissenschaftler als erweitertes Subfeld akademischer Wissensproduktion, dessen gegenwärtige Struktur größtenteils aus der historischen Genese der Disziplinentwicklung des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist.8 Was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts emergiert, ist ein Subfeld akademischer Wissensproduktion, das damit zwar aus der Geschichte der Populärwissenschaft des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist, jedoch nunmehr eine ganz andere Struktur aufweist. Denn mit dem Akteur John Brockman kommt eine soziale Figur ins Spiel, die die Regeln des Spiels neu definiert. Als kaufmännischer Vernetzer von Intellektuellen erschafft er dort, wo er interveniert, keine neuen Intellektuellen oder gar neue Bücher mit neuen Ideen. Er erschafft Subfelder innerhalb von Feldern, im Grunde also Interessenfelder, die sich multiplizieren, weil seine Fähigkeit/Funktion darin besteht, symbolisches in ökonomisches Kapital zu transferieren, und dort, wo ihm das gelingt, eröffnen sich neue Märkte, sowohl im ideellen als auch im materiellen Sinne: »I’m in business to make money for myself and my clients. Publishers are in business to make money. There are two powerful forces at work, and where they meet, there’s the market«. (Levering/Katz/Moskowitz 1984: 135) John Brockman ist ein transarealer Vektor von Copyrights und damit ein Kaufmann des Wissens, dessen eigentliche Träger die Naturwissenschaftler sind, die bei

sich, wie der Journalist selbst zugestehen muss, denn Steven Pinkers Signatur reiht sich ebenfalls in die lange Liste der Brockmans Science Masters ein. Pinker gehört nicht nur zum Kreis der Third Culture, sondern hat sich bereits als eigenständiger Verfechter polemischer Manifeste in ScienceBlogs etabliert. 8

Siehe hierzu Gwozdz 2015.

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ihm mit ihrer Unterschrift das prometheische Versprechen eingegangen sind, das Licht der Erkenntnis vom akademisch-wissenschaftlichen Olymp in die Straßen der »general list readers« zu bringen. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Popular Science Writer kein Produkt von Brockman sind, sondern das Produkt der Geschichte des populärwissenschaftlichen Feldes, das aus einem Zusammenschluss des journalistischen Feldes, dem Feld der Verleger und dem akademischen Feld hervorgegangen ist und dessen institutionelles Gründungsnarrativ seit 1831 durch die American Association for the Advancement of Science verbürgt wird und mit dem ARDEN HOUSE STATEMENT 1951 erneuert wurde.9 John Brockman war lediglich jener soziale Akteur, der sich die historische Formwerdung dieser Gruppe von popularisierenden Naturwissenschaftlern zu Nutze gemacht hat, um sich selbst ein höheres intellektuelles Ansehen zu verschaffen und seinen Klienten eine angemessene Werbeplattform für ihre Bücher zu bieten. Nach 1989 mit der transnationalen Etablierung des »Public Understanding of Science« konnte John Brockman die »Science Wars« (Segerstrale 2000) zwischen den Humanities und den Natural Sciences verkünden. Für die deutsche Leserschaft schildert er seine Kampfansage im SPIEGEL-Bericht wie folgt: »Das Gehabe jener Menschen, die das Wort Intellektueller für sich okkupiert haben, ist das Problem!« (Blech/Grolle 2000)

2. V ON DER I NTELLIGENZ DES I DEEN -K APITALS

DER

E IERKÖPFE

ZUM

K ALKÜL

Als sich der Kybernetik-Forscher Norbert Wiener als Homo academicus im akademischen Feld der Naturwissenschaften in den USA etabliert hatte und auf diese Weise auch Einblicke in den Typus des amerikanischen Intellektuellen bekam, wurde ihm schnell klar, dass naturwissenschaftliche, amerikanische Akademiker wenig auf eine kulturelle Allgemeinbildung im »Maschinenzeitalter« setzen. (Wiener 1952) In seinem Essay DER INTELLEKTUELLE UND DER NATURWISSENSCHAFTLER beanstandete er, dass kein Wert auf humanistische Bildung in den Naturwissenschaften gelegt werde, daher verkümmere das intellektuelle Leben. (Ebd.: 132f.) Seine Kritik zielt hierbei jedoch nicht allein auf die Ausbildung der Naturwissenschaftler, sondern auf beide Lager der »Two-Cultures« (Snow 1961) gleichermaßen: Weil weder die Geisteswissenschaftler noch die Naturwissenschaftler in der Lage seien, eine fruchtbare Kommunikation zwischen den Disziplinen zu initiieren,

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Siehe hierzu THE ESTABLISHMENT OF SCIENCE IN AMERICA. 150 YEARS OF THE AMERICAN ASSOCIATION FOR THE ADVANCEMENT OF SCIENCE.

Hrsg. von Sally Gregory Kohl-

stedt, Michael M. Sokal und Bruce V. Lewenstein. New Brunswick, New Jersey, London: Rutgers University Press 1999. Siehe hierzu auch Gwozdz (Anm. 7), S. 274ff.

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seien auch beide Parteien dafür verantwortlich, dass ihre ›Priesterschaft‹ sich vom Rest der Gesellschaft abspalte. Sie blieben damit »zwei Orden der Priester der Kommunikation«, doch gerade weil die Kommunikation der »Mörtel der Gesellschaft« sei, müsse diese besonders zwischen den Wissenschaftlern gefördert werden, damit sie nachhaltiger auf die Gesellschaft zurückwirken könne. (Ebd.: 132) Wiener bedauert daher vor allem die Sophisterei, die sich daraus ergebe, dass humanistisches Bildungsgut auf einen »Überblickslehrgang« reduziert werde. Den Studenten fehle es nicht am ›Bildungsdrang‹, sondern an den richtigen Richtlinien, um den ›überfeinerten Menschen der Elfenbein-Kultur‹ gesellschaftsfähiger zu machen und seine »privaten Schätze« zum allgemeinen Kulturgut umzugestalten. (Ebd.: 144) Motiviert ist diese Reaktivierung des naturwissenschaftlichen Intellektuellen auch durch die Eigenwerbung für mehr Akzeptanz des »Maschinenzeitalters« in der US-amerikanischen Gesellschaft des 1950er Jahre. Daher sollten auch die Geistwissenschaftler keine Kultur-Kritiker werden, die Wiener selbst als »unbefriedigte Menschen« stigmatisiert, sondern Lehrer der Technologie-Elite.10 Anders ausgedrückt, geisteswissenschaftliche Fächer sollen so zu Hilfswissenschaften der naturwissenschaftlichen Eliteausbildung werden. Wiener spricht hier also zwar von ›Kommunikation‹, meint jedoch Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens durch geisteswissenschaftlich ausgebildete Technokraten. Wieners synthetisches Intellektuellenmodell eines Mannes der Tat, der aus dem Humanismus westeuropäischer Prägung und dem US-amerikanischen Idealbild zusammengesetzt ist, wollte Ideen in unmittelbare Praxis verwandeln, um auf diese Weise die Gesellschaft zu verändern. Diese Vorstellung entsprach der damaligen Zeitdiagnose, die der Historiker Richard Hofstadter in seinem Buch ANTI-INTELLECTUALISM IN AMERICAN LIFE vorgenommen hatte. Er definierte den amerikanischen »Egghead«, wie er damals in der Presse genannt wurde, wie folgt: »A person of spurious intellectual pretensions, often a professor or the protégé of a professor. Fundamentally superficial. Over-emotional and feminine in reactions to any problem. Supercilious and surfeited with conceit and contempt for the experience of more sound and able men. Essentially confused on thought and immersed in mixture of sentimentality and violent evangelism. A doctrinaire supporter of Middle-European socialism as opposed to GrecoFrench-American ideas of democracy and liberalism. Subject to the old-fashioned philosophical morality of Nietzsche which frequently leads him into jail or disgrace. A self-conscious prig, so given to examining all sides of a question that he becomes thoroughly addled while remaining always in the same spot. An anemic bleeding heart.« (Hofstadter 1963: 9f.)

10 Siehe hierzu auch Snow 1961: 30f.

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Dieser sentimentale, weibliche, mitteleuropäisch sozialistische Einschlag der intellektuellen Natur werde ergänzt durch eine zutiefst linke Gesinnung, jene kommunistisch-sozialistische Ader, deren Puls am stärksten in den Ivy League Universitäten schlage. Grundlegend für diesen Denk- und Handlungstypus der amerikanischen Elite sei die Unterscheidung zwischen »intellect« und »intelligence«: »Intellect, [...], is the critical, creative, and contemplative side of mind. Whereas intelligence seeks to grasp, manipulate, re-order, adjust, intellect examines, ponders, wonders, theorizes, critizes, imagines. Intelligence will seize the immediate meaning in a situation and evaluate it. Intellect evaluates evaluations, and looks for the meanings of situations as a whole. Intelligence can be praised as a quality in animals; intellect, being a unique manifestation of human dignity, is both praised and assailed as a quality in men.« (Ebd.: 25)

Der akademische Grad oder »professional skills« machen jedoch noch keinen Intellektuellen aus, denn er kann seinen aristokratischen Status nicht allein auf der »intelligence« gründen. Sie stellt bloß eine hinreichende Bedingung dar. Die notwendige Bedingung gründet vielmehr in der persönlichen Einstellung des Intellektuellen gegenüber den Ideen, die er verkörpern will. Seine einzige Lebensform, die er kennt und anerkennt, widmet er seinen Ideen. Dieser Pietät gegenüber dem Intellekt und der Funktion des Intellektuellen, die gleichsam als groteskes Nachspiel in Selbstvernarrtheit mündet, stellt Hofstadter, mit Verweis auf Friedrich Schiller, den Sinn für »playfulness« gegenüber, eine anthropologische Konstante allgemeinmenschlicher Handlungen. Dennoch sei auch dieser »playfullness« ein dialektisches Moment eingeschrieben, denn die Befriedigung des Spieltriebs mache den Intellektuellen selbst zum Spielball seiner Gedanken, während er in der frommen, anbetenden Haltung dem Göttlichen der Ideen entsage, indem er sich selbst als Gott von Ideen setze. Der Anbetende permutiert zum Angebeteten. Dies könne sowohl auf den Intellektuellen in der Rolle des Experten als auch in der Rolle des Ideologen zutreffen. Intellektuelle könnten damit sowohl in sakralen als auch profanen Orten auftreten: Als Gelehrter, Künstler oder Prophet trete der Intellektuelle immer an einem geweihten Ort auf, der ihm seine Anonymität, seine Privatheit und Zurückgezogenheit gewähre. Das beste Beispiel sei die Alma Mater, die Universität, falls er eine akademische Laufbahn genossen habe und dieser immer noch zugehöre; sobald er diesen sakralen Raum verlasse und in die »public culture« einziehe und sich an den »public affairs« beteilige, werde er zu einer »public figure«, gebunden an den Sprechstil und die ethischen Maximen politischer Kontroversen der »populistic culture«. (Ebd.: 37) Der Spieltrieb des amerikanischen anti-intellektuellen Intellektuellen werde daher durch keinen anderen Typus verkörpert als den »businessman«:

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»The businessman is everywhere; he fills the coffers of the political parties; he owns or controls the influential press and the agencies of mass culture; he sits on university boards of trustees and on local school boards; he mobilizes and finances cultural vigilants; his voice dominates the rooms in which the real decisions are made.« (Ebd.: 235)

Die soziale Gestalt des ›businessman‹ beruhe auf dem nationalen Konstrukt einer amerikanischen Gesellschaft, deren Hauptaugenmerk auf jenen Männern liege, die sich aufs Geschäftemachen verstanden, denn »business is the most powerful and pervasive interest in American life«. (Ebd.: 237) Die Betonung liegt also auf der Tatkraft. Sich allein auf die Kraft des Intellekts zu berufen, stehe immer unter dem Verdacht im bloß Geistigen zu verharren, während der ›businessman‹ sich immer auf die »practicality« seiner Ideen konzentriere. (Ebd.: 236) Der amerikanische »businessman« kritisiere gerade die »experts«, weil diese ausschließlich in geschlossen Wissensräumen wie Laboratorien, Universitäten oder diplomatischen Regierungshäusern hausten. (Ebd.: 12) Sein gesellschaftlicher Counterpart sei daher nicht der »Egghead«, sondern die sogenannte »Expertise«. Das Spezialisierungsbestreben der Gesellschaft hätte zur Folge, dass sich die Beziehungen zwischen »power« und »knowledge« anders formierten und daher die Ausbildung einer »expertise« natürliche Begleiterscheinung dieses Prozesses sei: »Today knowledge and power are differentiated functions. When power resorts to knowledge, as it increasingly must, it looks not for intellect, considered as a freely speculative and critical function, but for expertise, for something that will serve its needs.« (Ebd.: 428)

Aus dieser hybriden Kreuzung zwischen dem »businessman« und dem Repräsentanten einer »expertise« entstand die dienende Intelligenz der »Third Culture«, von denen einige Akteure die freie Spekulation bevorzugen, um eigene Theorien jenseits des akademischen Feldes in Umlauf zu bringen.11 Andere wiederum nutzen das kritische Potential ihrer Texte, um spekulative Thesen anderer Popular Science Writer zu revidieren oder aber um durch das polemische Streitgespräch aus öffentlichen Debatten erzählbaren Wissensstoff zu machen, mit dessen Hilfe sich die Autoren intellektuelles Kapital in der populären Massenkultur erschreiben wollen. Das Selbstverständnis der »Third Culture« Autoren beruht damit auf der heiligen Trinität akademischer Ideen-Verwertbarkeit: Spekuliere, Kritisiere, Animiere, um als Dienstleister der Wissensgesellschaft zu agieren.

11 Siehe hierzu Gwozdz (2015), insbesondere Teil III: Das Populärwissenschaftler Feld der Life Sciences. Ein kritischer Streifzug.

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3. M ÖGLICHKEITEN UND G RENZEN EINER » SOZIAL FREI SCHWEBENDEN I NTELLIGENZ « IM 21. J AHRHUNDERT Ob man den kritischen Intellektuellen nun als amerikanischen ›egg-head‹ (Richard Hofstadter), den französischen »clerc« (Julian Benda) als Ankläger (»J’accuse«) hegemonialer Machtansprüche, den deutschen Gelehrten als Verfechter geistiger Eigentümer, der den Begriff des Intellektuellen eher als Schimpfwort erachtet (Dietz Bering), und den britischen »gentleman« als Akteur im fairen Wettbewerb der Ideen, im Debattieren um den »common sense« (Richard Münch) versteht, hängt davon ab, in welcher akademischen Wissenskultur man sich bewegt und welche Beziehungen die Intellektuellen des akademischen Feldes zum Feld kultureller Massengüter unterhalten.12 Aus historisch-komparatistischer Perspektive haben sich nationalspezifische Differenzen des kritischen Intellektuellen und ebenso des Medienprominenten ausgeprägt, die nur schwer zu einem Gesamttypus des Intellektuellen zu synthetisieren sind. Tatsächlich gibt es nicht den Typus des Intellektuellen, sondern nur intellektuelle Typen. Diese heterogene Zersplitterung des Intellektuellen in ein Bündel von unterschiedlichen Herkunfts- und Tätigkeitsbereichen ohne festen Wohnsitz installiert ihn als Nomaden innerhalb von in Bewegung geratenen globalisierten und massenmedial vernetzten Öffentlichkeiten und zugleich als Überwachungsinstanz der zirkulierenden Informationen. Das ist wohl die allgemeinste Definition, die man heute im Kontext einer globalisierten Wissensgesellschaft festhalten kann. Eines kann jedoch als Gemeinsamkeit all dieser unterschiedlichen Ausprägungen gesehen werden. Eine Vorstellung des Intellektuellen als einer »sozial freischwebenden Intelligenz« (Mannheim 1995), wie sie Karl Mannheim formulierte, ist dieser neuen Expertise so fremd, wie ideologiekritisches Denken. Sie selbst sieht sich nicht als ›Figuration der Störung‹, sondern als Märtyrer des Wissens, das sie der profanen Welt preisgibt, aus rein demokratischen Gefühlen, weil dieses biomedizinische, physikalische, neurowissenschaftliche Wissen ihr aller Leben verändern wird. Die populäre Wissenschaftsrhetorik des »Je suis responsable« (Monod: 1970), wie sie der Molekularbiologe Jacques Monod formuliert hat, mimt das »J’accuse« der literarischen Intelligentsia. Doch darin besteht ja gerade die Kraft und Macht der Rhetorik, das sie uns mehr verheißt und verspricht, mit Worten Ideen verschleiert, oder um es mit Walter Benjamin zu sagen, ›den Gedanken an die Mode verschachert‹ (vgl. Benjamin 1991a: 109). Der Wissenssoziologe Karl Mannheim versteht hingegen die »sozial freischwebende Intelligenz« als eine experimentierende, soziale Sensibilität in sich entwi-

12 Siehe hierzu Münch 1986: 199. Zum Begriff des Intellektuellen in Deutschland vgl. Bering (1978).

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ckelnde und auf die Dynamik und Ganzheit ausgerichtete Haltung, die aus MultiStrata bestehend die Vielstimmigkeit ihrer sozialen Determinanten bewahrt. (Ebd.: 135f.) Mannheim hält dazu fest: »Sie bildet eine Mitte, aber keine klassenmäßige Mitte. Nicht als ob sie gleichsam im luftleeren Raume über diesen Klassen schweben würde, ganz im Gegenteil vereinigt sie in sich alle jene Impulse, die den sozialen Raum durchdringen. Aus je mehr Klassen und Schichten sich die einzelnen Gruppen der Intelligenzschicht rekrutieren, umso vielgestaltiger und polarer wird in ihren Tendenzen die Bildungsebene, die sie verbindet. Der Einzelne nimmt dann mehr oder minder an der Gesamtheit der sich bekämpfenden Tendenzen teil.« (Ebd.: 137)

Dieser heterogene Verbund von Intellektuellen könne zwei Wege einschlagen: Entweder man entscheide sich aus freier Wahl, sich einer der bekämpfenden Klassen anzuschließen, oder man besinne sich auf die Herkunft seiner eigenen sozialen Wurzeln und Positionen und der daraus entstehenden Mission. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu konstatiert ein ähnliches Bild des Intellektuellen: »Wenn wir uns als Intellektuelle äußern, das heißt mit dem Ehrgeiz, universell Gültiges auszusprechen, spricht in jedem Augenblick auch das in der Erfahrung eines besonderen intellektuellen Feldes gelagerte historische Unbewusste aus uns. Ich glaube, wir haben nur dann eine gewisse Chance, zu einer echten Kommunikation zu gelangen, wenn wir die uns trennenden Spielarten des historischen Unbewußten, daß heißt die jeweils spezifische Geschichte der intellektuellen Universen, deren Produkt unsere Wahrnehmungs- und Denkkategorien sind, objektivieren und meistern.« (Bourdieu 2001: 529f.)

Auch der Intellektuelle in Bourdieus Sozialtopologie ist und bleibt ein »Beherrschter unter Herrschenden« in verschiedenen sozialen Feldern innerhalb des Feldes der Macht. Den Konzeptionen Sartres und Foucaults, also den Ideen des allgemeinen und des spezifischen Intellektuellen, setzt Bourdieu den »Korporativismus des Universellen« entgegen, der darin gründet, größere Allianzen von Akteur-Netzwerken aufzubauen, um den Kult des einzelnen Intellektuellen zu unterbinden. Mit Bourdieu ließe sich also sagen, man besinnt sich auf die Struktur und Genese seines Habitus, um seinen Spielsinn und seinen Einsatz in einem Feld zu ermitteln und von da aus seine intellektuelle Aufgabe als ›kollektiver Intellektueller‹ neu zu formulieren und seine kritische Kraft zu mobilisieren, sodass eine freie Rede möglich wird. Natürlich nur unter der Bedingung, dass die Grenzen als Zwänge und Kontrollen anerkannt werden, »denen jeder Schriftsteller und jeder Wissenschaftler, gestützt auf die Errungenschaften seiner Vorgänger, sich selbst und die anderen unterwirft«. (Ebd.: 524) Lässt sich aus den bisher skizzierten intellektuellen Typen ein gemeinsamer Typus des Intellektuellen erfassen?

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Der Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser hat den Versuch unternommen, einen transnationalen und transhistorischen Typus des Intellektuellen zu entwerfen. In seinem Aufsatz zur URBANITÄT UND INTELLEKTUALITÄT, in dem Flusser die Genese des modernen Intellektuellen in der Metropole von der griechischen Antike bis zur Gegenwart nachzeichnet, stellt er unter anderem die morphologische Wandlungsfähigkeit des intellektuellen Aufgabenspektrums dar, die sich vom Philosophen, Magister, Minister, Mönch, Bischof, Wissenschaftler, Künstler, Techniker, Werkzeugmacher und Software-Hersteller unter den neuen technischen und medialen Gegebenheiten transformiert. (Flusser 1989: 100) Doch der Kern seiner Handlungen scheint transhistorisch die unterschiedlichen Transformationen zu überdauern: »Sich mit Formen (Ideen) befassen, heißt: mit Symbolen laut Regeln zu spielen. Denn Ideen sind etwas bedeutende Behälter (Begriffe), sie sind Symbole, und sich mit ihnen befassen, heißt sie zu Systemen, zu Codes zu ordnen. Daher können Intellektuelle als Leute definiert werden, welche Codes manipulieren, und man kann die Intellektuellen aufgrund der von ihnen manipulierten Codes klassifizieren.« (Ebd.: 101)

In der phylogenetischen Perspektive des Intellektuellen als Symbolanalytiker und Symbolmanipulierer bleibt der Prozess der hermetischen Abschließung zu einem Baumdiskurs transhistorisch. Flusser versucht dies, auf das klassische platonische Stadtbild zurück zu projizieren, um die gegenwärtige Lage des Intellektuellen neu zu überdenken. Ausgehend vom platonisch-antiken Stadtbild, das in drei Räume, den ökonomischen, politischen und sakralen, eingeteilt ist, weist Flusser jedem der drei Räume verschiedene Akteure zu: »der ökonomische Raum wird von Robotern besetzt, der politische Raum von künstlichen Intelligenzen, und die menschlichen Stadtbewohner ziehen auf den Tempelberg (ins dialogische Netz), um von dort aus die Stadt zu beherrschen«. (Ebd.: 104) Tatsächlich sind jedoch die Tempelbergintellektuellen von den Intellektuellen der alten Stadt, die sich nun im Ghetto befinden und bloß mit überholten Codes arbeiten können, abgeschottet: Sie kontrollieren die Ghetto-Intellektuellen als »seien sie Roboter und künstliche Intelligenzen«. Im Gegenzug ergibt sich daraus der Vorwurf, die Tempelbergintellektuellen seien Verräter. Flusser sieht jedoch gerade in diesem transhistorischen Abschließungsmechanismus auch eine Möglichkeit des Dialogs auf der Grundlage einer neuen existentiellen Anthropologie, die zuallererst in der »Selbstaufgabe des Intellektuellen« besteht: »Das dialogische Netz, das dort gewoben wird, kann auch ganz anders geschaltet werden. Nämlich so, daß die Fäden nicht vom Tempelberg hinunter in die Stadt weisen, um die dort Verbliebenen zu Empfängern von Informationen (zu Robotern und künstlichen Intelligenzen) zu degradieren, sondern im Gegenteil so, daß die Fäden die Menschen aus der Stadt auf den

394 | P ATRICIA A. GWOZDZ Tempelberg hinaufziehen. Das dialogische Netz kann so geschaltet werden, daß die menschlichen Stadtbewohner von Ökonomie und Politik emanzipiert werden (diese Räume verlassen und sie Maschinen überlassen), um am allgemeinen theoretischen Dialog teilzunehmen. Für so einen Umbau des Tempelbergs (und nicht mehr den Umbau der darunter liegenden Stadt) sollte sich der gegenwärtige Intellektuelle engagieren, und als ein derartiger Umbauer sollte er sich selbst verstehen. [...] Wir haben, als Intellektuelle, aus der Stadt auf den Tempelberg auszuwandern, um andere nachzuziehen. Und dies nicht aus eleganten und noblen Motiven, sondern ganz einfach darum, weil wir überhaupt nicht da sind, wenn wir die anderen nicht nachziehen.« (Ebd.: 105)

Ein kritischer Intellektueller, der es sich zur Aufgabe macht, sich selbst aufzugeben, inszeniert vor dem Hintergrund seiner historischen Genese das Schauspiel der Masken, die ihn tarnen und schützen. Das ›Opfer der eigenen Person‹, wie es einmal Walter Benjamin in Bezug auf Karl Krauss formulierte, um den vollkommenen Kritiker zu beschreiben, wird heutzutage von niemandem mehr verlangt. (Benjamin 1991b: 175) Daher ist auch seine Wandlungsfähigkeit zum ›Medienpromi‹ nicht die letzte Stufenleiter seiner Genealogie, sondern das Vixierbild seiner ständig wiederkehrenden Berufung zum Medium der Massen. Aus diesem Grund glaubte auch Flusser an die Utopie einer demokratischen Kommunizierbarkeit unterschiedlichster Informationen zwischen »elitärer Senderkultur« und »massifizierter Empfängerkultur«, um die Quellen der Information transparenter zu machen. Die kulturwissenschaftliche Bildungsaufgabe bestehe daher vor allem darin, dass »wissenschaftliche Bewusstseinsniveau« auf alle Formen alltäglichen, wie politischen und ästhetischen Lebens auszudehnen, sodass einem medialen Totalitarismus Einhalt geboten wird. (Flusser 1998: 168) Die Namen des Intellektuellen mögen sich ändern und ersetzen, wie die Masken, die er auf- und wieder absetzt. Entscheidend ist, dass er die Maske und nicht dass die Maske ihn trägt. Wenn er die ›playfullness‹, die illusio, seines sozialen Standes und seines Interessenfeldes anerkennt, wird es ihm vergönnt sein, die sozialen Bedingungen zu durchschauen, die sein Dasein konstituieren. Kritik wird selbst dann noch möglich, wenn man längst schon den Status eines Medienprominenten erreicht hat. Tritt er in das performative Stadium eines selbstreflexiven Spiels mit jenen Medien ein, die seine Position ermöglicht haben, dann eröffnet sich die Chance einer Selbstkritik, die die ›massifizierte Empfängerkultur‹ nicht verurteilt, indem sie von einer politischen, moralischen oder gar künstlerischen Position aus richtet, sondern aufnehmen kann, indem sie die Fäden vom Tempelberg der Medienintellektuellen herunterlässt und die anderen zu sich zieht, von denen sie ihre Existenzberechtigung zu allererst verliehen bekommen hat. Damit der geisteswissenschaftliche Kritiker nicht erneut mit dem ›unbefriedigten Kulturmenschen‹ identifiziert wird, darf er seine Befriedigung nicht im Urteilen finden, sondern darin, anderen Menschen die Möglichkeiten zu bieten, ein eigenes

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kritisches Urteilsvermögen auszubilden, um sich nicht von Demagogen verführen zu lassen, die davon ausgehen, dass Kritik ohne Anspruch auf Macht möglich ist. Auf diese Weise tarnen sich die »Third Culture« -Intellektuellen als Kritiker der im Elfenbeinturm gefangenen literarischen Intelligentsia, ohne jedoch ihre eigene Position kritisch zu hinterfragen. Sie sind selten im Stande, mit den Instrumenten der Kritik selbst zu brechen, um dadurch wiederum eine Kritik der Kritik zu ermöglichen. Nicht die Vermittlung kritisierter Inhalte, sondern die Vermittlung eines kritischen Urteilsvermögens sollte jedoch die letzte Aufgabe des kritischen Intellektuellen und die erste Aufgabe des Medienprominenten sein. Wird diese verfehlt, verbindet sich Macht und Medium im Promi zur gesellschaftlichen Figur des StarIntellektuellen, der – geblendet vom Schein seines vermeintlichen Ruhms – zum öffentlichen Idealbild des Experten mutiert. Doch sein Schein wirft einen langen Schatten auf all jene, die am Fuße des medialen Tempelbergs auf Befreiung warten. Sie huldigen in Wahrheit einem Trugbilde, das nur durch den Schein des Feuers in der Höhle wie ein Schauspiel der Schatten auf die Wände projiziert wird. Das platonische Höhlengleichnis bleibt die mediale Urszene von Schein und Sein. Aus diesem Grund ist der Medienintellektuelle bzw. der Medienpromi dem kritischen Intellektuellen nicht entgegengesetzt, er ist vielmehr aus ihnen hervorgegangen. Das transhistorische und transnationale Merkmal des Intellektuellen ist, dass er als Medium von ›elitärer Sender- und massifizierter Empfängerkultur‹ agiert. Als Exemplare des Homo academicus sind wir sowohl Akteure auf der Bühne als auch Zuschauer im Saal. Wir starren gebannt auf die Inszenierung und zeigen mit dem Finger auf die Quelle und das Medium.

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Autorenverzeichnis

Braun, Matthias, Dr. phil., Studium der Theologie, Theater- und Literaturwissenschaft in Ostberlin und Leipzig. Von 1977-1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bertolt-Brecht-Archiv und von 1992-2015 in der Forschungsabteilung der StasiUnterlagenbehörde; Redakteur der wissenschaftlichen Reihe der BStU in Berlin und Lehrtätigkeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Beiratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur. Braun, Peter, Dr. phil. habil., studierte Deutsche Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Ethnologie an der Universität Hamburg. Promotion 1996, Habilitation 2003. Von 1997 bis 2009 war er als Assistent und Hochschuldozent an der Universität Konstanz tätig. Seit 2010 hat er das Schreibzentrum SchreibenLernen der Friedrich-Schiller-Universität, Jena, aufgebaut, dessen Leiter er ist. In dieser Funktion unterrichtet er wissenschaftliches, aber auch journalistisches und kreatives Schreiben und ist als Schreibberater tätig. Zudem lehrt er in der Germanistik und Medienwissenschaft – mit einem speziellen Interesse für schreibintensive Lehrformate und Portfolioarbeit. Bröckling, Ulrich, Prof. Dr. phil., studierte zunächst Heilpädagogik, danach Soziologie, Geschichte und Philosophie in Freiburg. Promotion (1996), Habilitation (2006); lehrt seit 2011 Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br. Zwischen 1984 und 2001 war er Bearbeiter des Archivs und Sekretär des Publizisten Walter Dirks. Fernández Pérez, José, studierte Germanistik an der Philologischen Fakultät der Universität von Santiago de Compostela (Spanien) und an der Justus-LiebigUniversität Gießen, ist seit 2014 als Studienrat im Hochschuldienst an der JustusLiebig-Universität Gießen tätig.

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Gansel, Carsten, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik, Slawistik und Pädagogik in Güstrow, Rostock und Berlin. Promotion (1981), Habilitation (1989). Seit 1995 Prof. für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitglied des Kuratoriums für den Uwe-Johnson-Preis und des PEN-Zentrums; Gastprofessuren in Calgary (Kanada) und Havana (Kuba); zahlreiche Veröffentlichungen zur Gegenwartsliteratur, zur Literatur- und Mediendidaktik sowie zu Lessing im Kulturraum Schule und zur deutschsprachigen Literatur des 19.-21. Jahrhunderts. Gwozdz, Patricia A., Dr. phil., studierte Germanistik/Komparatistik, Psychologie und Philosophie an den Universitäten Paderborn und Münster. 2011-2014 DFGStipendiatin des Graduiertenkollegs Lebensformen + Lebenswissen, 2013 Guest Researcher am Comparative Literature Department der NYU. 02/2015 Promotion zum Dr. phil. mit der Dissertation Homo academicus goes Pop, seit 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Jabłkowska, Joanna, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik in Łódź und Greifswald. Promotion (1984), Habilitation (1993), ordentliche Professur (2002); lehrt seit 1977 an der Universität Łódź (Polen) deutsche Literaturwissenschaft. Seit 2001 Leiterin des Lehrstuhls für deutschsprachige Literatur und Kultur. Längere Stipendienaufenthalte an den Universitäten in Gießen, Passau und Berlin. 2006/2007 Gastprofessur an der Otto v. Guericke Universität Magdeburg. Kasper, Norman, Dr. phil., studierte Germanistische Literaturwissenschaft, DaF, Politikwissenschaft und Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Promotion (2011); 2006-2008 Promotionsstipendiat des Cusanuswerks, seit 2009 wiss. Mitarbeiter am Germanistischen Institut der MLU Halle-Wittenberg. Ketels, Inga, Wirtschaftsjournalistin, studierte Philosophie und Komparatistik in Mainz, Frankfurt a.M. und Montréal. Maldonado-Alemán, Manuel, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Köln. Promotion (1994), Habilitation (1996); lehrt seit 1996 an der Universität Sevilla Neuere deutsche Literatur. Nell, Werner, Prof. Dr. phil., studierte Komparatistik, Sozialwissenschaften und Philosophie in Mainz, Frankfurt a.M. und Dijon. Promotion (1985), Habilitation (1995); lehrt seit 1998 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vorstand des Instituts für sozial-

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pädagogische Forschung Mainz (ism e.V.); Adjunct Associate Prof. an der Queen’s University in Kingston ON (Kanada). Peitsch, Helmut, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik, Politologie und Philosophie an der FU Berlin, Promotion (1976), Habilitation (1983); Lecturer in Leeds und Swansea, Professor an der New York University und an der Cardiff University, seit 2001 in Potsdam für Neuere deutsche Literatur. Porath, Mike, M. A., studierte Germanistik und Allgemeine Geschichte in Rostock. Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik von Prof. Dr. Carsten Gansel an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Schepers, Hannah, Dr. phil., Studium der Politischen Wissenschaft, Neueren deutschen Literatur und Neueren Geschichte an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn (2005-2010), Promotion im Fach Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (2010-2013), Veröffentlichung der Dissertation unter dem Titel »Volker Braun. Leben und Schreiben in der DDR« im Dezember 2014. Schult, Maike, Priv.-Doz. Dr. phil., studierte Ostslavistik (Russische Literatur), Germanistik und Politikwissenschaft (M. A.) sowie Evangelische Theologie (Erstes Theologisches Examen) im Doppelstudium in Hamburg, St. Petersburg, Berlin und Halle/Saale. Promotion 2008 in Halle/Saale, Habilitation 2014 in Kiel; Vertretungsprofessur für Praktische Theologie in Tübingen und Akademische Rätin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Schuster, Jörg, PD Dr. phil. studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie; 1997-2000 am DFG-Graduiertenkolleg »Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext. Die ästhetische Erfindung der Moderne« an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Promotion 2001 in Tübingen, Habilitation 2012 an der Philipps-Universität Marburg; WS 2014/15 Vertretungsprofessur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; SoSe 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der TU Braunschweig; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts und der Zeit um 1800; Literatur und Kultur der Jahrhundertwende 1900; Kulturpoetik der deutschen Literatur 1930-1960; Gegenwartsliteratur, Internetliteratur; Lyrik und Lyriktheorie; Brief; Tagebuch; Editionswissenschaft; Rhetorik; Creative Writing. Uecker, Matthias, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Universität Essen, Promotion 1993, lehrt seit 1992

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Germanistik an britischen Universitäten, seit 2005 Professor of German Studies an der University of Nottingham. Wolting, Monika, Dr. phil. hab., studierte Germanistik in Danzig, Warschau und Düsseldorf. Promotion (2002), Habilitation (2010); lehrt seit 2003 an der Universität Wrocław Deutsche Gegenwartsliteratur. Vorstand der Goethe Gesellschaft Polen, Sprecherin des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur, Gastprofessur an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Lettre Jenny Bauer Geschlechterdiskurse um 1900 Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion April 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3208-8

Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns März 2016, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Februar 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Jennifer Clare Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968 Februar 2016, ca. 334 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3283-5

Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 Januar 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen August 2015, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3179-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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