Vom Konzern zum Einheitsunternehmen: Aktuelle Entwicklungsperspektiven des deutschen und europäischen Konzernrechts 9783110698077, 9783110698015

To what extent are German parent companies responsible for their foreign subsidiaries? In cases of misconduct on the par

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Vom Konzern zum Einheitsunternehmen: Aktuelle Entwicklungsperspektiven des deutschen und europäischen Konzernrechts
 9783110698077, 9783110698015

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Vom Konzern zum Einheitsunternehmen ZGR-Sonderheft 22

ZEITSCHRIFT FÜR UNTERNEHMENSUND GESELLSCHAFTSRECHT Begründet von Marcus Lutter und Herbert Wiedemann Herausgegeben von Alfred Bergmann, Ingo Drescher, Holger Fleischer, Wulf Goette, Stephan Harbarth, Peter Hommelhoff, Gerd Krieger, Hanno Merkt, Christoph Teichmann, Jochen Vetter, Marc-Philippe Weller, Hartmut Wicke

Sonderheft 22

Vom Konzern zum Einheitsunternehmen

Aktuelle Entwicklungsperspektiven des deutschen und europäischen Konzernrechts

ISBN 978-3-11-069801-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069807-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069810-7 Library of Congress Control Number: 2020932544 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Hanno Merkt Begrüßung zum ZGR-Sondersymposium „Vom Konzern zum Einheitsunternehmen“ VII Jan Thiessen Der Konzern – eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz Julia Rebecca Kohler Bericht über die Diskussion

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Rolf Uwe Fülbier und Joachim Gassen Kosten und Nutzen des faktischen Konzerns

41

Andreas Engert Vom Schutzrecht zum schützenden Organisationsrecht Nina Benz Bericht über die Diskussion

1

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Georg Seyfarth Handlungspflichten der Konzernverwaltung im nachgeordneten Bereich am Beispiel Compliance im Konzern 87 Marc-Philippe Weller und Laura Nasse Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle Systemkohärenz einer Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten? 107 Simon Bahlinger Bericht über die Diskussion

137

Heike Schweitzer und Kai Woeste Die Haftung von Konzerngesellschaften im europäischen Wettbewerbsrecht Der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff und seine 141 Legitimationsgrundlagen

VI

Inhalt

Jens Prütting Wettbewerbs- und Konzernrecht Ein Konfliktfeld rechtsgebietsübergreifender Normenkollisionen im Unionsrecht 173 Julia Rebecca Kohler und Anton Stefan Zimmermann 209 Bericht über die Diskussion Peter Hommelhoff Rettet den Konzern!

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Angaben zu den Verfassern Namensregister Sachregister

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Hanno Merkt*

Begrüßung zum ZGR-Sondersymposium „Vom Konzern zum Einheitsunternehmen“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Namen aller ZGR-Herausgeber möchte ich Sie sehr herzlich zum ZGR-Sondersymposium „Vom Konzern zum Einheitsunternehmen“ begrüßen. Das Generalthema unseres Sondersymposiums müsste eigentlich mit einem großen Fragezeichen versehen sein. Ist es wirklich schon soweit? Ersetzt das Einheitsunternehmen europäischer Provenienz den Konzern, den wir als rechtskulturelle Errungenschaft erster Güte vornehmlich deutscher Herkunft kennen und schätzen, wie es uns Jan Thiessen in diesem Sammelband mit seinem einleitenden Grundlagenbeitrag im Rahmen der Max-Hachenburg-Gedächtnisvorlesung in Erinnerung ruft, war es doch Hachenburg, der sich bereits in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik im HGB-Kommentar von Düringer/Hachenburg mit dem Kernproblem des Konzernrechts, der Abhängigkeit und ihrer rechtlichen Einhegung, insbesondere zum Schutz der Minderheitsaktionäre, auseinandersetzte? Konzernrecht ist brandaktuell, das zeigen die seit längerem geführten Diskussionen um Lieferketten-Verantwortung ebenso wie die jüngsten Presseberichte über Internierungslager an chinesischen Standorten deutscher Tochtergesellschaften etwa von Volkswagen und BASF in der Provinz Xinjiang. Immer wieder geht es um die Frage: In welchem Maße sind deutsche Konzernmütter für ihre ausländischen Tochtergesellschaften verantwortlich? Während die einen darauf pochen, bei Fehlverhalten der Tochtergesellschaft stets den gesamten Unternehmensverbund in den Blick und auch in die Haftung zu nehmen, weil der Gesamtverband von der wirtschaftlichen Tätigkeit der Einzelgesellschaft profitiert, sehen die anderen den Trennungsgrundsatz, der eine zentrale ökonomische Funktion und Legitimation des Unternehmensverbunds ist, in Gefahr. Es besteht die reale Befürchtung, dass die im Kartell- und Wettbewerbsrecht entwickelte Theorie vom Einheitsunternehmen wie ein Flächenbrand auf andere Bereiche übergreift, nur als ein Beispiel genannt sei die internationale Zuständigkeit, die durch die Einheitsbetrachtung in ungeahnte Dimensionen geführt wird. Auch in anderen Bereichen erhöht der vertikale Durchgriff von den Töchtern auf die * Der Autor ist Direktor des Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht, Abt. II, an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe. https://doi.org/10.1515/9783110698077-001

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Hanno Merkt

Mutter oder umgekehrt bzw. der horizontale Durchgriff die Risiken im Verbund ganz erheblich. Der Konzern als Organisationsform gerät unter gewaltigen Druck und könnte an Attraktivität verlieren. Und aus Berlin und Brüssel ist zu vernehmen, dass das Konzernrecht und insbesondere die Konzern-Compliance ganz oben auf der Agenda der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr stehen werden. Die ZGR-Herausgeber denken, dass es angesichts dieser Aktualität des Konzernrechts dringend notwendig ist, der Frage nach der Zukunft des Konzernrechts nachzugehen, sich einerseits der Grundlagen des Konzernrechts zu vergewissern und andererseits seine Entwicklungsperspektiven auszuloten. Dazu haben wir vier Themenkomplexe zusammengestellt. Erstens: Der Konzern als solcher, als Organisationsform aus der Praxis für die Praxis, steht nicht in Frage, auch wenn das Konzernrecht eine hoch kontroverse Materie ist und bleiben wird. Er ist als Organisationsstruktur aus dem modernen Wirtschaftsleben nicht wegzudenken, wenngleich sein Ansehen in der öffentlichen Wahrnehmung in jüngerer Zeit arg gelitten hat und etwa der Begriff „Bankenkonzerne“ ausgesprochen negativ besetzt ist. Welche ökonomische Legitimation und Leistungsfähigkeit hinter der Konzernstruktur steckt, soll uns der ökonomische Grundlagenbeitrag von Joachim Gassen von der Humboldt-Universität zu Berlin und Rolf Uwe Fülbier von der Universität Bayreuth noch einmal deutlich machen. Zweitens: Die Entwicklung der Funktion des Konzernrechts hier in Deutschland verläuft in großen Wendungen. Angefangen als unkodifiziertes Organisationsrecht in der Vorkriegszeit, fortentwickelt nach dem Krieg vor allem als Recht zum Schutz vor dem Konzern, den der Gesetzgeber 1965 vor allem als Agglomeration mit qualifiziertem Schädigungspotential verstand, verbindet das Konzernrecht heute beide Ansätze zu einem schützenden Organisationsrecht. Diesem Funktionswandel wird der Beitrag von Andreas Engert von der Freien Universität Berlin nachgehen. Drittens: Zentralthema gegenwärtig ist natürlich, es klang schon an, die Konzern-Compliance. Welche Pflichten treffen die Muttergesellschaft hinsichtlich ihrer Töchter? Ketzerisch gefragt: Sollte die Mutter auf Compliance in der Tochter verzichten, weil sie im Einheitsunternehmen auch ohne eigenes Verschulden für Verstöße der Tochter haftet? Oder gibt es Dämme, die durch angemessene Compliance-Maßnahmen der Mutter gehalten werden können? Zu diesem Themenkomplex werden wir Georg Seyfarth von Hengeler Mueller Düsseldorf hören. Eng zusammen mit den Compliance-Pflichten hängen die zivilrechtlichen Einstandspflichten der Muttergesellschaft insbesondere in Lieferketten. Gerade dieses Thema hat, angefacht durch das Bekanntwerden von Missständen an ausländischen Produktionsstandorten, für große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesorgt. Während viele Unternehmen erkannt haben, welche Bedeutung

Begrüßung zum ZGR-Sondersymposium „Vom Konzern zum Einheitsunternehmen“

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die Überwachung in der Lieferkette für ihre Reputation hat, sind die rechtlichen Dimensionen dieser Problematik noch nicht ansatzweise ausgeleuchtet. Dazu wird Marc-Philippe Weller von der Universität Heidelberg vortragen. Und schließlich viertens: Besondere Brisanz erlangt im konzernrechtlichen Kontext natürlich das Kartellrecht, denn nirgendwo sonst wird das konzernrechtliche Trennungsprinzip mit vergleichbarer Schärfe und massiv getrieben von europäischen Vorgaben und EuGH-Rechtsprechung durch das Modell der wirtschaftlichen Einheit in Frage gestellt. Der wettbewerblichen Konzernhaftung und ihren Legitimationsgrundlagen wird sich Heike Schweizer von der HumboldtUniversität zu Berlin widmen, während das Konfliktfeld zwischen Wettbewerbsund Konzernrecht von Jens Prütting von der Bucerius Law School in Hamburg ausgeleuchtet wird. Soweit unser Programm. Erlauben Sie mir schließlich noch, Herrn Kollegen Weller und seinem Team, allen voran Julia Rebecca Kohler, für die hervorragende Vorbereitung und Organisation dieses Symposiums sehr herzlich zu danken. Und nun wünsche ich uns allen interessante Referate und anregende Diskussionen! Hanno Merkt

Jan Thiessen*

Der Konzern – eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz**

Zusammenfassung: In den 1920er Jahren publizierten die Rechtsanwälte Heinrich Friedländer, Fritz Haußmann und Richard Rosendorff sehr einflussreiche Untersuchungen zum Konzernrecht. Ihr Gegenstand war zu dieser Zeit noch nicht kodifiziert. Regeln über Konzerne waren verankert in Verträgen, die Rechtsanwälte nach den Bedürfnissen ihrer Mandanten entworfen hatten. In der Tradition der Historischen Rechtsschule wollten Friedländer, Haußmann und Rosendorff allgemeine Prinzipien des Konzernrechts entwickeln. Diese Prinzipien beruhten auf ‚Digesten’ verbreiteter Vertragsklauseln. Als die Nazis im Gefolge der Weltwirtschaftskrise an die Macht kamen, entrechteten und vertrieben sie die drei Anwälte. Als schließlich das Konzernrecht 1937 und 1965 kodifiziert wurde, blieben die Beiträge von Friedländer, Haußmann und Rosendorff unbeachtet. Abstract: In the 1920s, the Berlin lawyers Heinrich Friedländer, Fritz Haußmann and Richard Rosendorff published very influential surveys on the law of corporate groups. At that time, their subject had not yet been codified. Provisions on corporate groups were enshrined in contracts designed by lawyers to meet the interests of their clients. In the tradition of the German Historical School of Law, Friedländer, Haußmann and Rosendorff aimed to elaborate general principles of the law of corporate groups. Those principles were based on ‚Digesta’ of widespread contractual provisions.When the Nazis came to power in the wake of the Great Depression, the three lawyers were disenfranchised and expelled from Germany. Once the law of corporate groups was codified in 1937 and 1965, the contributions of Friedländer, Haußmann and Rosendorff were neglected.

Inhaltsübersicht  I. „Konzerndämmerung?“ II. Drei Berliner Rechtsanwälte  . Vom Kaiserreich nach Weimar



* Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Juristische Zeitgeschichte und Wirtschaftsrechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. ** Schriftfassung der Max-Hachenburg-Gedächtnisvorlesung in Heidelberg am 20. Februar 2020. Die Vortragsform wurde beibehalten. https://doi.org/10.1515/9783110698077-002

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Jan Thiessen

. Entrechtung und Emigration  a) „nach schweren inneren Kämpfen“  b) „gerade in den heutigen Zeiten mein Allerbestes im Interesse des Staates leisten“  III. Praktischer Geist und wissenschaftliche Methode  . „von der besonderen Erscheinung zu dem Gesamtkomplex“  . „weit mehr als nur ein Handlanger der Wirtschaft“  . „Versuch eines Allgemeinen Teils des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen“  IV. „Watchman! What’s of the Night?“ 

I. „Konzerndämmerung?“ Vor dem Basler Juristenverein hielt der Berliner Rechtsanwalt Richard Rosendorff im Herbst 1932 einen Vortrag unter dem unheilkündenden Titel „Konzerndämmerung“ – immerhin versehen mit einem Fragezeichen.¹ Es gab in Deutschland noch kein kodifiziertes Konzernrecht.² Es gab auch noch kein Europäisches Wettbewerbsrecht, das die heute vertrauten rechtlichen Schranken des deutschen Konzernrechts in Frage stellte.³ Aber es gab eine dramatische Weltwirtschaftskrise von bis dahin unbekannten Ausmaßen.⁴ Als deren wesentliche Ursache hatten Politiker verschiedener Couleur die Konzerne ausgemacht. Der im Gefolge der Krise an die Macht gelangende künftige Reichskanzler Hitler ⁵ und sein „Kampf“Buch galten in der Konzernrechtsdebatte noch nicht als zitierwürdig⁶ – anders als die Tiraden seines bereits seit zehn Jahren in Italien regierenden faschistischen Bruders im Ungeiste⁷. Rosendorff meinte gar, die Rede Benito Mussolinis zur Weltwirtschaftskrise sei „in der ganzen Welt berühmt geworden“. Darin hatte  Rosendorff, Konzerndämmerung? Die Konzerne im Zeichen der Wirtschaftskrise und die Stellung des Gesetzgebers zu ihnen (Italien, Grossbritannien, Deutschland, Vereinigte Staaten von Amerika). Abdruck eines am 26. Oktober 1932 im Basler Juristenverein in Basel gehaltenen Vortrags, 1932.  Zu dessen Entstehung Dettling, Die Entstehungsgeschichte des Konzernrechts im Aktiengesetz von 1965, 1997, S. 76 ff., 83 ff.  Dazu die Beiträge von Schweitzer/Woeste und Prütting in diesem Heft.  Zur unterschiedlichen Betroffenheit einzelner Länder und Regionen der Welt Hesse/Köster/ Plumpe, Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929 – 1939, 2014, S. 53 ff.; Patel, The New Deal. A Global History, 2016, S. 24 ff.  Straumann, 1931. Debt, Crisis, and the Rise of Hitler, 2019, S. 190 ff.  Siehe aber zur sonstigen, vielfach kritischen Publizistik und Tagespresse von 1932 Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922– 1945, 2. Aufl. 2011, S. 232 ff.  Dazu Goeschel, Mussolini und Hitler. Die Inszenierung einer faschistischen Allianz, 2019, S. 25 ff.

Der Konzern – eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz

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Mussolini erklärt, „für jene Finanz- und Industrieakrobaten, die ihren Wirkungskreis vom Zement bis zur Schokolade, vom Blei bis zur Kunstseide ausdehnten und Konzerne mit unzähligen Kettengesellschaften, Strohmännern und fiktiven Dividenden gründeten, sei auch die schwerste Strafe noch zu gering“.⁸ Rosendorff verwies außerdem auf den noch amtierenden Reichskanzler Heinrich Brüning, der im Reichstag vor einer „Konzerndämmerung“ gewarnt hatte⁹ – und darauf, dass der Begriff keineswegs neu war¹⁰. Wie Rosendorff anhand der EddaSage erläuterte, ging es um nichts weniger als den „Untergang[…] der alten Welt und ihrer Götter, verursacht durch das Streben nach dem Golde“.¹¹ In der Sage hieß es dazu: „Die Sonne wird schwarz, die Erde sinkt ins Meer, vom Himmel verschwinden die heiteren Sterne“.¹² Wurde die Sonne des Konzerns am hellen Tag schwarz, musste sie zuvor aufgegangen sein, hatte im Zenit gestanden – was sie nun offenbar nicht mehr tat. Es war ein Rechtsanwalt, der hier schrieb. Also

 Rosendorff, aaO (Fn. 1), S. 4. Rosendorff bezog sich auf eine Rede Mussolinis vom 1. Oktober 1930 (nach Rosendorff vom 2. Oktober 1930), abgedruckt in Mussolini, Scritti e discorsi dal 1929 al 1931, 1934, S. 213, 216: „[…] acrobati dellʼindustria e della finanza, supremamente e disinvoltamente enciclopedici nelle iniziative; la loro gamma va dal cemento alla cioccolata; dal più pesante come il piombo, al più leggero come la seta artificiale. / Veri Cagliostro del mondo economico, essi complicano tutto ciò con le innumerevoli società a catena che sono altre facce dello stesso prisma, con Consigli di amministrazione che essendo composti di semplici piantoni non amministrano e non consigliano; con bilanci allegri, con dividendi inventati. Questa è la vera, l’autentica, la più pericolosa genia antifascista, di truffatori della buona fede del pubblico, per i quali la galera è poca cosa; in quanto lʼinfinito male che essi provocano li renderebbe, nella loro qualità di seminatori di rovina e di miseria, passibili e meritevoli della pena di morte!“ Zeitgenössische Übersetzung in: Mussolini, Schriften und Reden 1929 – 1931, 1934, S. 217, 220.  Reichskanzler Heinrich Brüning in der Reichstagsplenarsitzung vom 11. Mai 1932, bezogen auf die Rede des Abgeordneten Otto Hugo (DVP) vom gleichen Tag, jeweils in: Verhandlungen des Reichstags, Band 446, V. Wahlperiode 1930, Stenographische Berichte von der 53. Sitzung am 13. Oktober 1931 bis zur 64. Sitzung am 12. Mai 1932, 1932, S. 2583 (Hugo), 2600 (Brüning): „[W]enn eine Konzerndämmerung kommt, die ein massenhaftes völliges Zusammenbrechen der großen Konzerne aus einen Schlag zur Folge haben würde, so kann das Deutschland unter keinen Umständen aushalten. Wir müssen mit allen Mitteln – das sind finanziell wenige, aber, wenn sie organisatorisch richtig gehandhabt werden, starke Mittel –, die Decke, die hier und da […] gewisse Risse hat, so lange stützen, bis unter allen Umständen von unten bereits ein neuer und zukunftsreicherer Typ der Unternehmungen aufgewachsen ist.“  Rosendorff, aaO (Fn. 1), S. 3, zitierte hier sich selbst, Rosendorff, Die rechtliche Organisation der Konzerne. Erweiterter Abdruck eines in dem Zürcherischen Juristenverein zu Zürich und in der Juristischen Gesellschaft zu Frankfurt/Main gehalten Vortrags nebst einem Anhange enthaltend Aktenstücke aus der Konzernpraxis sowie eine Tabelle über die im Jahre 1926 vorgenommenen Zusammenschlüsse, 1927, S. 12.  Rosendorff, aaO (Fn. 1), S. 3.  See/La Farge/Schulz, Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 1 Teil 1, 2019, S. 406.

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Jan Thiessen

mussten Rechtsanwälte etwas mit dem Lebenszyklus des Konzerns zu tun haben; einem Lebenszyklus, der – Rosendorffs Frage zum Trotz – 1932 dann doch noch nicht endete. Konzerne gibt es immer noch. Aber wo kamen sie her? Das von den Veranstaltern der Max-Hachenburg-Gedächtnisvorlesung gestellte Thema diesses Beitrags bietet hierzu eine These an. Der Konzern sei eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz.¹³ Im Kontext einer Max-Hachenburg-Gedächtnisvorlesung darf man annehmen: eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz zu Zeiten von Wilhelm und Weimar. Diese Schöpfungsgeschichte soll im folgenden erzählt werden. Zur Konzernrechtsgeschichte gerade dieser Epoche fehlt es nicht grundlegenden Vorarbeiten. Schon in den 1980er Jahren hat Knut Wolfgang Nörr eine kurze Geschichte des Konzernrechts in Weimar geschrieben, zuerst in der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht¹⁴, dann in seiner Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik „Zwischen den Mühlsteinen“¹⁵. Zuvor bereits hatte Peter Hommelhoff in seiner grundlegenden Monographie zur „Konzernleitungspflicht“ die erste moderne Problemgeschichte des Konzernrechts von den Anfängen in Rechtsprechung und Anwaltschaft bis zur Kodifikation von 1965 präsentiert.¹⁶ Bald darauf hat Gerald Spindler seine große Studie zur vergleichenden Konzernrechtsgeschichte vorgelegt¹⁷, die er ein Jahrzehnt später für „Aktienrecht im Wandel“ aktualisiert hat¹⁸. Zuletzt hat Daniel Damler in „Konzern und Moderne“ synästhetisch unser optisches, sprachliches und juristisches Bild des Konzerns erweitert.¹⁹ Die zweite Komponente des Themas hat Holger Fleischer in Rabels Zeitschrift behandelt, mit einem Längsschnitt zur Ge-

 Ähnlich bereits Rasch, Richtige und falsche Wege der Aktienrechtsreform. Der Regierungsentwurf eines neuen Aktiengesetzes, 1960, S. 33: „Konzernrecht ist in weitestem Umfang selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft, Recht der Kautelarjurisprudenz, wie etwa Konsortialverträge, Gewinn- und Verlustübernahmeverträge, Konzernklauseln in zahlreichen Vereinbarungen zeigen.“ Daran anknüpfend Fleischer, RabelsZ 82 (2018), 239, 259. Zu Rasch siehe noch unten bei Fn. 175.  Nörr, ZHR 150 (1986), 155 – 181.  Nörr, Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik, 1988, S. 121 ff.  Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht. Zentrale Aspekte eines Konzernverfassungsrechts, 1982, S. 2 ff., 12 ff.  Spindler, Recht und Konzern. Interdependenzen der Rechts- und Unternehmensentwicklung in Deutschland und den USA zwischen 1870 und 1933, 1993.  Spindler, in: Bayer/Habersack, Aktienrecht im Wandel, Bd. 1, 2007, S. 441, 515 ff., 13. Kapitel Rn. 146 ff.  Damler, Konzern und Moderne. Die verbundene juristische Person in der visuellen Kultur 1880 – 1980, 2016.

Der Konzern – eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz

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schichte der Kautelarjurisprudenz seit der frühen Neuzeit und Anwendungsbeispielen im Gesellschaftsrecht.²⁰ Angesichts dieses komfortablen Forschungsstandes soll es hier zurück zu den Quellen gehen. Der Akzent liegt auf wichtigen Publikationen von drei der produktivsten Weimarer Konzernrechtsanwälte, verbunden mit der Frage, was daran spezifisch kautelarjuristisch ist. Ergänzt wird das Quellenkorpus um biographische Hintergrundinformationen.

II. Drei Berliner Rechtsanwälte Der wohl bedeutendste deutsche Wirtschaftsanwalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Max Hachenburg.²¹ Um ihn geht es hier jedoch nur insofern, als es auf sein Urteil ankommt. Hachenburg äußerte sich relativ selten zum Konzernrecht.²² Natürlich verfolgte er die Debatten seiner Zeitgenossen um das Konzernrecht²³ und widmete in seinem Kommentar den „Verflochtene[n] Gesellschaften“ und „Organgesellschaften“ mehr als dreißig Seiten.²⁴ Im übrigen überließ Hachenburg das Konzernrecht seinen Kollegen, die, obwohl selbst re Fleischer, RabelsZ 82 (2018), 239, 243 ff., 253 ff.  Landau, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 133, 152 f., 156; Scherner, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis, aaO, S. 415, 418 f.; Hommelhoff, in: Lutter/Stiefel/Höflich, Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland.Vorträge und Referate des Bonner Symposions im September 1991, 1993, S. 213, 216; Kleindiek, in: Hommelhoff/Rowedder/Ulmer, Max Hachenburg. Fünfte Gedächtnisvorlesung 2002, 2003, S. 83 ff. Siehe demnächst Hachenburg, „Wie eine Riesenwoge rauscht das Schicksal auf uns zu“. Kolumnen in der Deutschen Juristen-Zeitung von 1918 – 1933. Ausgewählt und kommentiert von Ulrich Krüger und Benjamin Lahusen, erscheint 2020.  Dazu bereits Schilling, in: Schubert/Hommelhoff, Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik. Die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats unter dem Vorsitz von Max Hachenburg, 1986, S. 1, 7.  Schilling, aaO (Fn. 22), S. 7 zitiert Hachenburg, JW 1932, 2591; Dens., in: Düringer/Hachenburg, HGB, Bd. III/1, Einleitung: Die Aktiengesellschaft im Leben der Wirtschaft, 1933, Anm. 139 f. Die Einleitung erschien zunächst als separate Lieferung 1933, die gebundenen Ausgaben einschließlich der Kommentierung der §§ 178 – 230a HGB tragen dann das Publikationsdatum 1934.  Hachenburg, in: Düringer/Hachenburg, aaO (Fn. 23), Anm. 126 – 157. Im Übrigen verwies Hachenburg in Anm. 126 Fn. 2 auf Flechtheim, in: Düringer/Hachenburg, aaO (Fn. 23), § 226 Anm. 43 – 49 und die Kommentierung der §§ 260a, 261a HGB a.F., die jedoch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr erschien. Zur Umbenennung und „Arisierung“ des Bensheimer-Verlags, in welchem der Kommentar erschien, Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“. Entrechtung und Verfolgung, 2. Aufl. 1990, S. 377; Thiessen, in: Battis, Privatrecht gestern, heute und morgen. Festkolloquium für Rainer Schröder zum 60. Geburtstag, 2008, S. 52 f.

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nommiert, Hachenburgs Bekanntheitsgrad wohl auch zu ihren Lebzeiten nicht erreichten. Neben dem bereits erwähnten Richard Rosendorff geht es um Heinrich Friedländer und Fritz Haußmann. Führt man das gedruckte Werk dieser drei Anwälte auf einem Tisch zusammen, ergibt sich ein Bild, das an den Eingangsbereich mancher Großkanzlei erinnert. Dort werden bisweilen die Werke der Anwälte ausgestellt, um die Mandanten zu beeindrucken. Zugegeben – nicht alle dieser Bücher behandeln unmittelbar das Konzernrecht. Aber Konzernrecht konnte auch damals nicht gedacht werden ohne Kartellrecht, ohne Steuerrecht, ohne Bilanzrecht, ohne Umwandlungsrecht.²⁵ So füllt sich der Tisch, so füllten sich damals die Bibliotheksregale. Die zahlreichen Aufsätze unserer Autoren sind hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Ob Zufall oder nicht – alle drei Anwälte praktizierten und lebten in Berlin. Anders als heute war Berlin damals – wir sprechen vor allem über die goldenen zwanziger Jahre – noch reich an Unternehmen mit erheblichem Rechtsberatungsbedarf.²⁶ Die Anwälte Friedländer, Haußmann und Rosendorff hatten gewiss alle Hände voll zu tun. Obwohl sie durch ihre Mandate mehr als ausgelastet gewesen sein dürften, genügte ihnen die Beratung, Vertragsgestaltung, Prozessführung, Schiedsrichtertätigkeit etc. nicht. Allen drei Anwälten war gemeinsam, dass sie ihr Wissen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen wollten. Das war nicht nur Imagepflege oder Akquise, sondern der wissenschaftliche Beitrag von gelehrten Juristen, denen die Wissenschaftslaufbahn allenfalls mit Hindernissen offengestanden hätte.

 Neben den in diesem Beitrag näher ausgewerteten Texten sei exemplarisch verwiesen auf Friedländer, Das Kartellaufsichtsgesetz, 1924; dens., Anleihestockgesetz und Umwandlungsgesetz nebst Durchführungsbestimmungen, 1935; Haußmann, Die neue Steuerreform und die Bedeutung für die Wirtschaft, 1925; Rosendorff, Die stillen Reserven der Aktiengesellschaften, ihre rechtliche Zulässigkeit, wirtschaftliche Bedeutung und steuerliche Behandlung, 2. Aufl. 1917; dens., Steuerersparung – Steuerumgehung – Steuerhinterziehung. Ein Beitrag zum Rechte der Reichsabgabenordnung, 2. Aufl. 1920; dens., Goldbilanzierungsgesetz. Systematische Darstellung der Verordnung über Goldbilanzen vom 28. Dezember 1923, der Durchführungsverordnungen vom 5. Februar und vom 28. März 1924, 2. Aufl. 1924; dens., Das Körperschaftsteuergesetz vom 10. August 1925 unter Berücksichtigung der Anwendung findenden Bestimmungen des Einkommensteuergesetzes und der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs. Für den praktischen Gebrauch erläuterte Handausgabe, 1925.  Vgl. Hertz, Die Industrie- und Handelskammer zu Berlin. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Berlins, 2008, S. 42.

Der Konzern – eine Schöpfung der Kautelarjurisprudenz

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1. Vom Kaiserreich nach Weimar Damit sind wir bei den Lebensdaten unserer drei Anwälte.²⁷ Heinrich Friedländer und Fritz Haußmann wurden 1885 geboren, Richard Rosendorff war zehn Jahre älter. Nach der üblichen Ausbildung an Universitäten und im Referendariat verbrachten sie eine kurze Zeit als unbesoldete Gerichtsassessoren, bevor sie als Rechtsanwälte zugelassen und (im Fall von Rosendorff und Friedländer) etwas später zum Notar bestellt wurden. Alle drei wurden promoviert. Bis hierhin ist daran nichts ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist auch nicht, dass alle drei Anwälte zumindest anfänglich als Konfession „mosaisch“ angaben; ebenso wenig, dass zwei von ihnen (Friedländer und Haußmann) zum Christentum konvertierten. Die Anwaltschaft, in Berlin das Anwaltsnotariat, gehörten zu den Berufen, die Juristen jüdischer Konfession oder ursprünglich jüdischer Konfession in Kaiserreich und Weimarer Republik offenstanden.²⁸ Ungewöhnlich für Praktiker ist jedoch die hohe wissenschaftliche Produktivität. Sie ist der Grund, warum wir die drei Namen heute noch kennen. Eine Universitätskarriere mit dem Konfessionseintrag „mosaisch“ war angesichts des allgegenwärtigen Antisemitismus deutlich seltener.²⁹ Dies dürfte ein Grund sein, warum wir die drei Autoren nicht als Professoren kennen. Eine Universitätskarriere angestrebt hat von den drei hier ausgewählten Anwälten soweit ersichtlich nur Fritz Haußmann. Er wollte sich an der Handelshochschule Berlin habilitieren³⁰, zog sein Habilitationsgesuch jedoch wieder zurück³¹ und wurde statt dessen im gleichen Jahr Syndikus (später Vorstands-

 Die folgenden Angaben nach den insoweit unpaginierten Personalakten, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R3001/56388 (Friedländer); R3001/59306 (Haußmann); Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 7567 (Friedländer); 4 A KG Pers 8892 (Rosendorff).  Krach, Jüdische Rechtsanwälte in Preußen. Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus, 1991, S. 14 ff., 25 ff., 36 ff.  Vgl. zu antisemitischen Einflüssen auf Universitätskarrieren im Kaiserreich Henne, in: Henne/ Schröder/Thiessen, Anwalt – Kommentator – ‚Entdecker’. Festschrift für Hermann Staub zum 150. Geburtstag am 21. März 2006, 2006, S. 9, 12 ff.  Fritz Haußmann an die Königliche Prüfungskommission beim preußischen Justizministerium vom 4. März 1916, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R3001/59306, Bl. 6.  Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Akten der Wirtschaftshochschule Berlin Nr. 546, darin Lebenslauf, Schriftwechsel mit der Fakultät, Auszüge aus den Sitzungsprotokollen des Dozenten-Kollegiums, u. a. Habilitationsgesuch vom 31. Januar 1916, Zulassung zur Habilitation am 9. Februar 1916, Zulassung zur Probevorlesung am 10. Mai 1916, Festlegung des Datums der Probevorlesung am 24. Mai 1916 auf den 21. Juni 1916, Zurückziehung des Habilitationsgesuchs vom 12. Juni 1916.

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mitglied) der Deutschen Erdöl-Aktiengesellschaft³². Anders als die bedeutenden Konzernrechtspraktiker und ‐wissenschaftler Julius Flechtheim³³, Karl Geiler³⁴ und Heinrich Kronstein³⁵ wurde Haußmann nicht zum (Honorar‐)Professor ernannt, ebensowenig wie seine Kollegen Friedländer und Rosendorff. Für Heinrich Friedländer sah es kurzzeitig so aus, als würde er eine Ministerialkarriere anstreben.³⁶ Unmittelbar nach Krieg und Revolution schickte der Unterstaaatsekretär im Reichswirtschaftsamt Wichard von Moellendorff³⁷ ein Telegramm an das Preußische Justizministerium mit dem drängenden Text: „Geschäftslage Reichswirtschaftsamts erfordert sofortige Überweisung des Gerichtsassessors Dr. Friedländer […], den ich mir sobald als möglich zur Verfügung zu stellen bitte.“³⁸ Friedländer wurde dreimal für sechs Monate von seinem Dienst im Landgericht Brieg in Schlesien beurlaubt.³⁹ Das Reichswirtschaftsministerium, wie das ehemalige Reichswirtschaftsamt nun hieß, entsandte Friedländer als Vertreter in Ausschüsse des Reichsrats und der Weimarer Nationalversammlung. Ein Gerichtsassessor als Vertreter eines Reichsministeriums erschien aber als nicht standesgemäß. Staatssekretär Julius Hirsch⁴⁰ schrieb deshalb an das Preußische Justizministerium, es würde für ihn „außerordentlich erwünscht sein“, wenn Friedländer „zum Amtsrichter befördert werden könnte“.⁴¹ Die preußische Justiz kam jedoch dem Wunsch des Ministeriums nicht nach; offiziell aus Gründen der Kapazität und des Dienstalters.⁴² Zuletzt wollte das Ministerium

 Röhn u. a., Jüdische Schicksale: Ein Gedenkbuch für die Stadt Werder (Havel) und ihre Ortsteile, 2016, S. 63.  Heymann, Der Jurist Julius Flechtheim. Leben und Werk, 1990, S. 27 ff.  Weis, Leben und Werk des Juristen Karl Hermann Friederich Julius Geiler (1878 – 1953). Ein Rechtswissenschaftler in Zeiten des Umbruchs, 2013, S. 81, 86 ff., 165 ff.  Biedenkopf, in: Grundmann/Riesenhuber, Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. 1, 2007, S. 187, 190 f.  Die folgenden Angaben nach Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 8 ff.  Zu dessen Person Barclay, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17, 1994, S. 632 f.  Wichard von Moellendorff an Preußisches Justizministerium, dort eingegangen am 16. Februar 1919, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 12.  Preußisches Justizministerium, Urlaubsverfügungen vom 17. Februar 1919, 22. August 1919 und 14. Februar 1920, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 13, 15, 20.  Zu dessen Person Becker, in: Hagemann/Krohn, Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Bd. 1, 1999, S. 271 ff.  Reichswirtschaftsministerium an Preußisches Justizministerium vom 7. Oktober 1919, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 14; nochmalige Intervention: Reichswirtschaftsministerium an Preußisches Justizministerium vom 24. Dezember 1919, aaO, Bl. 16.  Preußisches Justizministerium an Reichswirtschaftsministerium vom 1. November 1919, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 14v; in gleichem Sinn Preußisches Justizmi-

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selbst Friedländer zum Regierungsrat ernennen⁴³, doch da zog es Friedländer bereits in die Anwaltschaft und zum Notariat⁴⁴, für das er vom preußischen Justizminister „mit Rücksicht auf seine wissenschaftlichen Leistungen“ vorzeitig berücksichtigt wurde⁴⁵. Über Friedländers Motive für seinen Rückzug aus der Ministerialbürokratie kann nur spekuliert werden. Nach den frühen Weimarer Sozialisierungsdebatten schwand schnell die Gestaltungsmacht der staatlichen Wirtschaftspolitik⁴⁶. Gestalten konnte Friedländer als Anwalt (und Notar) umso mehr. Dies verband ihn mit Haußmann und Rosendorff.

2. Entrechtung und Emigration Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verloren die drei Anwälte ihre berufliche Existenz in Deutschland.⁴⁷ Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mit seiner Dritten Durchführungsverordnung sah vor, dass

nisterium an Reichswirtschaftsministerium vom 6. Januar 1919, aaO, Bl. 17. Zur Berücksichtigung jüdischer Juristen für Richterstellen in Preußen nach 1919 Krach, aaO (Fn. 28), S. 36 ff.  Reichswirtschaftsministerium an Preußisches Justizministerium vom 16. Februar 2020, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 21.  Kammergerichtspräsident an Preußisches Justizministerium vom 6. Juni 1922, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 28 – 29v; MdR Hermann Fischer an Preußischen Justizminister Hugo am Zehnhoff vom 30. November 1923, 11. April 1924 und 4. Juni 1924, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 35 – 36, 39 – 40. Der Reichstagsabgeordnete, Anwaltsnotar und frühere Bankier Fischer setzte sich hierin für seinen Sozius Friedländer ein. Zur Person Fischers Schumacher, MdR. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933 – 1945. Eine biographische Dokumentation, 3. Aufl. 1994, S. 131 Biogramm Nr. 377; Reitmayer, Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, 1999, S. 284; zur Person am Zehnhoffs Mann, Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867– 1918, 1988, S. 427 f.  Preußischer Justizminister Hugo am Zehnhoff an MdR Hermann Fischer vom 8. Dezember 1923, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 37. Um die Jahrhundertwende mussten Anwälte jüdischer Konfession etwa doppelt so lange wie Anwälte christlicher Konfession auf ihre Ernennung zum Notar warten, Krach, aaO (Fn. 28), S. 25 ff.  Vgl. zeitgenössisch Friedländer, Kaliwirtschaft. Gesetz (über die Regelung der Kaliwirtschaft) vom 24. April 1919 nebst Durchführungs- und Ausführungsbestimmungen, 1920, S. 18 ff., Haußmann, Grundlegung des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen, 1926, S. 40; näher zum Kontext Nörr, aaO (Fn 15), S. 16 ff.; Fisch, in: Holtfrerich u. a. (Hrsg.), Das Reichswirtschaftsministerium der Weimarer Republik und seine Vorläufer. Strukturen, Akteure, Handlungsfelder, 2016, S. 96 ff., 129 ff.; Homburg, in: Holtfrerich aaO, S. 190 ff.  Ladwig-Winters, Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, 2. Aufl. 2007, S. 157, 171 f., 247.

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jüdische Notare in den Ruhestand zu versetzen seien; für Anwälte und Anwaltsnotare traf das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ eine entsprechende Regelung.⁴⁸

a) „nach schweren inneren Kämpfen“ Richard Rosendorff wurde bereits im Sommer 1933 „als Notar verabschiedet“, wie es lapidar in seinem Personalbogen hieß.⁴⁹ Rosendorff durfte, da er bereits vor dem ersten Weltkrieg zugelassen worden war, zunächst als Anwalt weiter praktizieren⁵⁰ und publizierte noch vereinzelt in Deutschland⁵¹. Seit Herbst 1934 lebten Rosendorff und seine Frau in Arosa in der Schweiz. Im Monatstakt zeigte Rosendorff dem Landgerichtspräsidenten an, dass er seinen Urlaub verlängern müsse.⁵² In Berlin wurde man hellhörig: „Die ständigen Anzeigen des RA. Dr. Rosendorff, daß er von Berlin abwesend sei, […] begründen den Verdacht, daß er seinen Wohnsitz in Berlin aufgegeben habe. Ermittlungen nach dieser Richtung

 § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, RGBl. I, S. 175, iVm der Dritten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 6. Mai 1933, RGBl. I, S. 245, Ziff. 2 Satz 3 zu § 2 des Gesetzes; § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933, RGBl. I, S. 188. Überblick zur Entrechtung der jüdischen Notare Gsänger, in: Schmoeckel/Schubert, Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotarordnung von 1512, 2012, S. 169, 188 f.; näher Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933 – 1940, 3. Aufl. 2001, S. 124 ff., 134 ff.; Krach, Jüdische Rechtsanwälte in Preußen. Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus, 1991, S. 165 ff., 184 ff., 202 ff., 247 ff., 271 ff.; Ladwig-Winters, in: Deutscher Anwaltverein, Anwälte und ihre Geschichte. Zum 140. Gründungsjahr des Deutschen Anwaltvereins, 2010, S. 285, 287 ff.  Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, unpaginiert.  § 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933, RGBl. I, S. 188, nahm Anwälte aus, deren Zulassung vor dem 1. August 1914 erteilt worden war. Rosendorff war seit 1906 Anwalt, aber erst seit 1920 Notar, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, unpaginiert. Zum „Frontkämpferprivileg“ sogleich bei Fn. 66.  Rosendorff, Die Körperschaftsteuererklärung 1932 in ihren Besonderheiten unter Berücksichtigung der Abschreibungen im Bergbau und einiger Spezialfragen der Einkommen- und Kapitalverkehrsteuer. Erweiteter Abdruck eines im Deutschen Kaliverein zu Berlin am 20. Februar 1933 gehaltenen Vortrags, 1933; ders., Nachtrag zu Das neue deutsche Aktienrecht unter besonderer Berücksichtigung seiner Auswirkungen auf die Praxis des Aktienwesens, 1933; ders., Die Pflichtprüfung (audit) des Jahresabschlusses im englischen Aktienrecht, 1933.  Richard Rosendorff an den Präsidenten des Landgerichts Berlin vom 10.10.1934, 15.11.1934, 13.12.1934, 16.12.1934, 31.1.1935, 27. 2.1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 1– 5, 10.

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erscheinen daher angebracht.“⁵³ Gab ein Rechtsanwalt seinen Wohnsitz auf, konnte seine Zulassung im betreffenden Gerichtsbezirk zurückgenommen werden (§ 21 Nr. 2 RAO 1878). Die Ermittlungen des Landgerichts dienten daher vordergründig dem neutralen Zweck der staatlichen Aufsicht über einen freien Beruf, wie sie schon im Kaiserreich bestanden hatte, um die Residenzpflicht des Anwalts am Ort der Zulassung durchzusetzen.⁵⁴ Zeitbedingt waren jedoch die Gründe für Rosendorffs Abwesenheit. Die antisemitische Verachtung des zuvor hochgeschätzten Juristen in Deutschland lastete schwer auf Rosendorff und seiner Frau. Seinen langen Aufenthalt in der Schweiz begründete Rosendorff damit, dass „seine Frau […] an Gemütsstörungen leide“. Rosendorff selbst litt „seit längerer Zeit an perniziöser Anämie“ und war „zeitweilig infolge dieser Krankheit schon erblindet gewesen“. Deshalb hatte ihm sein Arzt „Aufenthalt in höheren Lagen verordnet“. Er selbst sei „mit der Bearbeitung eines wissenschaftlichen Werkes über internationales Steuerrecht beschäftigt“ und könne „in der Schweiz, wo er mit einem Schweizer Kollegen daran zusammenarbeite“, besonders gut auf das nötige Material zugreifen.“⁵⁵ Rosendorff lebte im Haus des Zürcher Rechtsanwalts Josef Henggeler ⁵⁶, mit dem er ab 1936 die Sammlung „Das Internationale Steuerrecht des Erdballs“ herausgab⁵⁷. Rosendorffs Abschied von Berlin hatte jedoch nicht allein gesundheitliche oder publikationspraktische Gründe. Ungeachtet seiner noch bestehenden Anwaltszulassung fand Rosendorff in Deutschland kein Auskommen mehr.⁵⁸ Seine Villa in Berlin-Schmargendorf, die seine Wohnung und Kanzlei beherbergte, musste Rosendorff aufgeben, weil sie zu teuer geworden war. „Ein Teil der Möbel“

 Landgericht Berlin,Verfügung vom 4. 2.1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 6; Landgerichtspräsident an Polizeipräsident vom 4. 2.1935 und 17.4.1935, aaO, Bl. 7v, 22v.  Zu den Gründen der für die Residenzpflicht vorgreiflichen Lokalisierung der zugelassenen Anwälte Schubert, Entstehung und Quellen Rechtsanwaltsordnung von 1878, 1985, S. 47 ff., 177 ff.  Mitteilung von Rechtsanwalt und Notar Dr. Arthur [?] Barczinski gegenüber dem Landgericht Berlin vom 4. März 1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 11– 11v; Mitteilung der Hausangestellten Marie Hirschberg gegenüber dem Landgericht Berlin vom 7. März 1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 15 – 15.  Vermerk der Schutzpolizei Berlin-Schmargendorf vom 12. Februar 1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 7. Zur Person Henggelers http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/9136.htm (27. 2. 2020).  Rosendorff/Henggeler, Das internationale Steuerrecht des Erdballs nebst sämtlichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, 8 Bde. 1936 – 1946.  Zum wirtschaftlichen Niedergang von Kanzleien jüdischer Anwaltsnotare Ladwig-Winters, aaO (Fn. 48), S. 298.

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wurde „im Auftrage der Steuerbehörde versteigert“.⁵⁹ Der Steuerrechtler Rosendorff wusste allzu gut, was „Reichsfluchtsteuer“ bedeutete.⁶⁰ Rosendorff kam der angekündigten Rücknahme seiner Zulassung⁶¹ zuvor. Er teilte dem Landgerichtspräsidenten mit, dass er „zu [s]einem grössten Bedauern gezwungen“ sei, „vorläufig [s]einen Wohnsitz in Deutschland und damit [s]eine Zulassung als Rechtsanwalt aufzugeben“. Rosendorff gab an, er habe sich „hierzu nach schweren inneren Kämpfen entschliessen müssen“, weil er „aus wirtschaftlichen Gründen keine Möglichkeit“ sah, „gleichzeitig Wohnung und Büro in Berlin wie [s]einen Aufenthalt hier [in der Schweiz] zu bestreiten“. Rosendorffs Kanzlei habe „bereits im Jahre 1934“ die „Unkosten nicht mehr gedeckt“. Infolge seiner „Erkrankung und langen Abwesenheit von Berlin ha[tt]en sich die Einnahmen noch weiter verringert“. Die „Wiederherstellung [s]einer schwer erschütterten Gesundheit“ war „Voraussetzung für jede Tätigkeit“, ob als Autor oder als Anwalt.⁶² Zumindest konnte er in der Emigration weiter publizieren; „gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit“, wie Rosendorff und sein Schweizer Gastgeber Josef Henggeler es sich in Anlehnung an Nietzsches „Unzeitgemäße Betrachtungen“⁶³ wünschten: „In einer Zeit, in der zwischen den Ländern geradezu Stacheldrähte von Gesetzesparagraphen und Barrieren aufgerichtet sind, durch die der lebendige Strom der Wirtschaft, soweit er nicht verschüttet und versiegt ist, sich nur mühsam seinen Weg bahnt, könnte ein solches Werk fast als ‚unzeitgemäße Betrachtung’ erscheinen. Allein wir hoffen, daß die jetzigen Zustände nur vorübergehende Erscheinungen sind, immer noch Nachwirkungen des Weltkrieges, die über kurz oder  Mitteilung der Hausangestellten Marie Hirschberg gegenüber dem Landgericht Berlin vom 7. Mrz 1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 15 – 15v. Akten des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg zu Rosendorff sind im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam nicht überliefert.  Siebenter Teil Kapitel III der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931, RGBl. I, S. 699, 731; Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer vom 18. Mai 1934, RGBl. I, S. 392. Näher dazu Mußgnug, Die Reichsfluchtsteuer 1931– 1953, 1993, S. 30 ff.; Drecoll, Der Fiskus als Verfolger. Die steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern 1933 – 1941/42, 2009, S. 125 ff.; Kuller, Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, 2013, S. 133 ff., 185 ff.  Landgerichtspräsident an Richard Rosendorff vom 4. Mai 1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 20.  Richard Rosendorff an den Präsidenten des Landgerichts Berlin vom 31. März 1935, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 27.  Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, 1874, S. VI.

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lang in allen Ländern als Selbstmordgedanken qualifiziert und einem normalen Güteraustausch und Kapitalverkehr wieder Platz machen werden. Aus allen Ländern wären Aussprüche von namhaften Persönlichkeiten der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik zu zitieren, die sich alle in dem einen Punkt begegnen: so kann es nicht weitergehen, wir richten uns zugrunde und schaffen für die folgende Generation eine unmögliche Lebensbasis.“⁶⁴ Das hier zitierte Vorwort im ersten Band des „Internationalen Steuerrechts“ von 1936 verzeichnet Rosendorff als „vorm. Rechtsanwalt und Notar zu Berlin, Beograd“. Über die jugoslawische Hauptstadt emigrierte Rosendorff nach Australien, die Heimat seiner ersten Frau, Zuflucht auch für seinen Sohn.⁶⁵

b) „gerade in den heutigen Zeiten mein Allerbestes im Interesse des Staates leisten“ Heinrich Friedländer und Fritz Haußmann half zunächst das sogenannte „Frontkämpferprivileg“⁶⁶, das Reichspräsident Hindenburg bei Hitler durchgesetzt hatte⁶⁷. Anders als Hindenburg und Hitler lehnte jedoch der kommissarische preußische Justizminister Hanns Kerrl „schöne Gesten […] wie Ausnahmen für Frontkämpfer oder dergleichen“ kategorisch ab; „Sentimentalität sei nicht am Platze, sondern Brutalität“. In gleichem Sinn erklärte der bayerische Justizminister Hans Frank, „[j]üdische Kriegsteilnehmer erkenne er nicht als schutzbedürftig an. Diese Ansicht sei nur ein Ausfluss der Dekadenzsentimentalität“. Frank wolle sich nicht von derart „weichlichen Billigkeitserwägungen leiten lassen“.⁶⁸ Am Vorabend des antijüdischen Boykotts vom 1. April 1933 hatten Kerrl und Frank in Bayern und Preußen jüdischen Rechtsanwälten kurzerhand Haus-

 Auch für die folgenden Zitate Rosendorff/Henggeler, aaO (Fn. 57), Abteilung I: Europa, Bd. 1, 1936, S. VII f., X.  Röhn u. a., aaO (Fn. 32), S. 92 f.  § 3 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, RGBl. I, S. 175; § 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933, RGBl. I, S. 188.  Die oft zitierten Quellen sind nachgewiesen bei Gruchmann, aaO (Fn. 48), S. 134; Krach, aaO (Fn. 48), S.203 ff.  Besprechung von Reichsjustizminister Franz Gürtner und Justizsstaatssekretär Franz Schlegelberger mit Vertretern der Landesjustizministerien vom 7. April 1933, Bundesarchiv BerlinLichterfelde R3001/4394, Bl. 1n, S. 2 f., 5, wiedergegeben bei Schubert, ZRG GA 126 (2009), 281, 284 f.

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verbot in den Gerichtsgebäuden erteilen lassen.⁶⁹ Die für Friedländer und Haußmann zuständigen NS-Funktionäre, neben dem kommissarischen preußischen Justizminister Kerrl dessen ebenso kommissarischer Ministerialdirektor Roland Freisler, ließen jüdische Rechtsanwälte nur zu, wenn diese den durch die Nationalsozialisten geschaffenen rechtlosen Zustand ausdrücklich als „rechtsverbindlich“ anerkannten.⁷⁰ Friedländer und Haußmann versicherten den neuen Staat ihrer Loyalität und ihres Patriotismus. Friedländer gab im vorgeschriebenen Wortlaut die von ihm verlangte „Erklärung ab, daß [er] die jetzt bestehende Lage als für [s]ich rechtsverbindlich anerkenne“.⁷¹ Haußmann beschränkte sich nicht darauf. Auch er gab „selbstverständlich“ die erwartete „Loyalitätserklärung ohne Einschränkung ab“. Aber er ergänzte: „Ich gehöre seit 20 Jahren der evangelischen Kirche an und kann aufgrund meines ganzen bisherigen Verhaltens wie meiner Leistungen durch zahlreiche Beweise erhärten, dass ich gerade in den heutigen Zeiten mein Allerbestes im Interesse des Staates leisten und darnach [sic] handeln werde.“⁷² Dass Haußmann dem NS-Staat dienen wollte, der ihm dies höchst widerwillig als besonderen Gnadenerweis gestattete, erstaunt nur aus heutiger Sicht. Damals entsprach Haußmanns Selbstverständnis demjenigen seines Altersgenossen Victor Klemperer, wie Haußmann seit Jahrzehnten Protestant, „für immer Deutscher, deutscher ‚Nationalist’“: „Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran festhalten: Ich bin deutsch, die anderen [die Nazis] sind undeutsch; ich muß daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut. Ich muß daran festhalten: Komödie wäre von meiner Seite der Zionismus – die Taufe ist nicht Komödie gewesen. […]

 Reichskommissar für das preußische Justizministerium Hanns Kerrl an Oberlandesgerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälte und Präsidenten der Strafvollzugsämter vom 31. März 1933, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/4394, Bl. 1 g; Bayerischer Justizminister Hans Frank an Reichsjustizminister vom 4. April 1933, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/4394, Bl. 13, auszugsweise wiedergegeben bei Schubert, ZRG GA 126 (2009), 281.  Reichskommissar für das preußische Justizministerium Hanns Kerrl an Oberlandesgerichtspräsidenten vom 5. April 1933, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/4394, Bl. 1 m; dazu Schubert, ZRG GA 126 (2009), 281, 288; Gruchmann, aaO (Fn. 48), S. 135, 142; Krach, aaO (Fn. 48), S. 240 ff.  Heinrich Friedländer an Preußisches Justizministerium vom 10. April 1933, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 42.  Fritz Haußmann an Kammergerichtspräsidenten vom 10.4.1933, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R3001/59306, Bl. 7.

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Und wenn ich auch Deutschland haßte, ich würde deshalb nicht undeutsch, ich könnte mir das Deutsche nicht ausreißen. Und ich möchte hier wieder aufbauen helfen.“⁷³ In diesem Sinne blieb Haußmann bis 1938 deutscher „Nationalist“, als im Baseler „Verlag für Recht und Gesellschaft“ sein Buch „Rechtsstaat und ‚Wirtschaftslenkung’“ erschien.⁷⁴ Haußmanns Text war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Schon Ende 1931 hatte Haußmann den Auftrag erhalten, für den Deutschen Juristentag 1933 ein Gutachten zum „Hauptthema“, nämlich „Die Sicherung der rechtsstaatlichen Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens“, zu erstatten. Ende 1932 hatte er das Gutachten, „das naturgemäß auch die staatsrechtlichen Grundlagen erörtern mußte“, abgeschlossen. Das Gutachten stand jedoch nicht mehr auf der Tagesordnung: „Anfang 1933 schien der Umbruch die Sachlage grundsätzlich verändert zu haben. Ein völliger Neuaufbau der staatlichen und rechtlichen und in gewissem Abstande auch der wirtschaftlichen Gesamtgrundlagen unter radikalem Bruch mit dem, was man als die ‚liberalistische’ Vergangenheit bezeichnete, wurde für erforderlich gehalten. Auch die Veranstaltung des Deutschen Juristentages 1933, der Ende September 1933 stattfand[⁷⁵], erfuhr demgemäß einen völligen Umbau und stand unter den Auspizien der Einleitung einer neuen Aera der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsbildung.“⁷⁶ Danach erschien Haußmann sein Gutachten zunächst „überholt“. Zwischen 1933 und 1938 hatte Haußmann jedoch Hoffnung geschöpft: „Der scheinbar fast der Vergessenheit anheimgefallene Rechtsstaatsbegriff wurde intensiv erörtert und hat eine offizielle Auferstehung gefeiert.“⁷⁷ Hiermit spielte Haußmann auf eine scheinbar pluralistische Debatte an, die paradoxerweise einen nationalsozialistischen Rechtsstaatsbegriff hervorbringen sollte.⁷⁸ Haußmann hielt es des-

 Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, hier zitiert nach der 8. Aufl. 1996, Bd. 1, Tagebücher 1933 – 1941, S. 210, Eintrag vom 21. Juli 1935; Bd. 2: Tagebücher 1942– 1945, S. 83 f., 148, Einträge vom 11. Mai und 28. Juni 1942, siehe aber auch S. 140 f., Eintrag vom 23. Juni 1942: „An das ganz undeutsche Wesen des Nationalsozialismus kann ich nicht mehr glauben; er ist ein deutsches Eigengewächs, ein Karzinom aus deutschem Fleisch, eine Spielart des Krebses, wie es eine spanische Grippe gibt.“  Haußmann, Rechtsstaat und „Wirtschaftslenkung“. Ein Beitrag zum Problem: Staat, Recht und Wirtschaft, 1938, S. 1 ff., daraus die folgenden Zitate.  Zum Kontext Landau, Die deutschen Juristen und der nationalsozialistische Juristentag 1933, 1996.  Haußmann, aaO (Fn. 74), S. 1.  Haußmann, aaO (Fn. 74), S. 1 f.  Näher dazu Stolleis, Nahes Unrecht, fernes Recht: Zur Juristischen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert, 2014, S. 7, 9 f., 15 ff.

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halb für möglich, dass – „trotzdem alle mit der Weimarer Verfassung zusammenhängenden Probleme märchenhaft weit hinter uns zu liegen scheinen“ – auch „diejenigen Teile des Gutachtens, die heute nur noch einen historischen Wert zu haben scheinen, wie die Erörterungen über die ‚wirtschaftlichen Grundrechte’ in der Weimarer Verfassung, sowie das ziemlich wirre Bild der […] damaligen ‚Wirtschaftsprogramme’ wiedergegeben werden, weil hier zugleich Fragen berührt werden, die für Länder, welche noch heute auf einer ‚Grundrechtsverfassung’ aufgebaut sind, ähnliche Problemstellungen bieten, und die Notwendigkeit einer gewissen autoritären Wirtschaftslenkung in Notzeiten durch nichts besser veranschaulicht werden kann, als durch die hoffnungslose Zersplitterung der damaligen parteipolitischen Wirtschaftsprogramme und ihre unübersehbare Mannigfaltigkeit und Nuancierung“. Bestätigt fand Haußmann deshalb auch seine kritischen „Gedankengänge […], die in dem auch heute noch anklingenden Begriff des nationalen Rechtsstaates, sowie in dem Ruf nach zielbewußter Führung der damals reichlich direktionslosen Wirtschaft durch einen starken Staat spätere Entwicklungen voraussehen ließen. Nur eine nach allen Seiten hin objektive Darstellung der hoffnungslosen Niedergangszeit in Deutschland in den Nachkriegsjahren und die Darlegung ihrer wirklichen Gründe wird einmal auch diejenigen, welche in den heutigen offiziellen Darstellungen der damaligen Zeit nur Übertreibungen erblicken, davon überzeugen, daß diese Zustände bei einem innerlich gesund gebliebenen, wenn auch besiegten Volke schärfste Reaktionen hervorrufen mußten.“ Die Publikation seines fortgeschriebenen Juristentagsgutachtens sei deshalb „im Sinne des Versuchs eines Weiterbaues zu verstehen, der erkennt, daß Ströme – auch geistige Strömungen – niemals dazu zu bewegen sind, in Richtung ihres Ursprungs wieder zurückfließen, und daß nur der Krebs, aber nie die Geschichte den Naturtrieb hat, auf früher bezogene Positionen, z. B. einen nur unwesentlich ‚renovierten’ liberalistischen Staatsbegriff des achtzehnten oder neunzehnten Jahrhunderts oder einen nur am Rande ‚verbesserten’ Kapitalismus zurückzugehen. Ein solcher Neuaufbau muß ja wohl für eine Zeit – die vielleicht einmal in einigen Monaten, Jahren oder Jahrzehnten kommen mag – ins Auge gefaßt werden, die erkennen wird, daß selbst so starr und scheinbar unversöhnlich bezogene Positionen und Antithesen, wie: Gemeinschaft oder Individuum, autoritäre Staatsallmacht oder liberale Staatsentmachtung, Staatsherrschaft über das Recht oder Rechtsherrschaft über den Staat, straffste Wirtschaftslenkung oder freischwebender Wirtschaftsautomatismus irgendwie in der künftigen Entwicklung einer praktischen Auflösung bedür-

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fen, wenn die Welt nicht an der Unversöhnlichkeit dieser Gegensätze in Zwietracht zugrunde gehen soll.“⁷⁹ Auch Haußmann wünschte sich Weimar nicht zurück. In einer Zeit, da die demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika, das faschistische Italien, das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion gleichermaßen an einer staatlich gelenkten Wirtschaft arbeiteten⁸⁰, hoffte Haußmann, dass wenn ähnliche wirtschaftliche Probleme ähnliche wirtschaftspolitische Lösungen hervorbrachten, dies helfen könne, die unversöhnlichen politischen Gegensätze aufzuheben. Haußmann hoffte vergeblich – so vergeblich, wie er hoffte, „in den heutigen Zeiten“ seinen Platz im neuen Deutschland zu behaupten. Damit kommen wir zurück zum Frühjahr 1933. Noch half es Friedländer und Haußmann in ihrer beruflichen Position, dass Friedländer die „jetzige Lage“ für sich als „rechtsverbindlich“ anerkannte, dass Haußmann gerade jetzt sein „Allerbestes“ für sein Vaterland geben wollte, dass beide der Deutschen Volkspartei angehört hatten⁸¹, dass Friedländer den Amtseid auf den „Führer“ schwor, dass Friedländers Vorfahren „seit unvordenklicher Zeit“ in Deutschland gelebt hatten, in mehreren Generationen Stadträte gewesen waren, Friedländers Vater Ehrenbürger seiner Heimatstadt. Noch half es, dass die Friedländers in zwei Kriegen gedient hatten, dass Friedländer das Eiserne Kreuz sowie das Ritterkreuz des Hausordens der Hohenzollern mit Schwertern verliehen worden war, letzteres, weil er sechs englische Panzer außer Gefecht gesetzt und die Besatzungen festgenommen hatte. Noch halfen Leumundszeugnisse höchster Stellen aus Politik und Wirtschaft. So berief sich Haußmann ausgerechnet auf Reichsjustizstaatssekretär Franz Schlegelberger.⁸² Dieser tat angesichts der Berufsverbotsbestrebungen seiner nationalsozialistischen Kollegen aus den Ländern freilich kaum etwas, „um das Vertrauen in die rechtsstaatlichen Grundlagen des neuen jungen Deutschland zu festigen und zu verstärken“. Im Gegenteil beeilte sich Schlegelberger, „den Verdacht zurück[zu]weisen, dass das RJM. an anderer Stelle stehe“ als die von Hans Frank vertretene „erste[…] Linie der revolutionären Kämpfer“, die erwarteten, „daß das Reichsjustizministerium sich seine Legimation, im Namen

 Haußmann, aaO (Fn. 74), S. 2 ff.  Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933 – 1939, 2005, S. 23 ff.  Auch für die folgenden Angaben die von Friedländer und Haußmann ab 10. April 1933 vorgelegten Gesuche und Dokumente an den Kammergerichtspräsidenten und das preußische Justizministerium Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 41– 73v; R3001/59306, Bl. 7– 18.  Fritz Haußmann an preußisches Justizministerium vom 4. Mai 1933, Bundesarchiv BerlinLichterfelde, R3001/59306, Bl. 9.

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der nationalsozialistischen Justizverwaltungen zu sprechen, durch Aufnahme der bei diesen herrschenden Gedanken verdiene“.⁸³ Mit der „Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ von 1935 endete der begrenzte Schutz des „Frontkämpferprivilegs“.⁸⁴ Friedländer wurde aus dem Notariat entlassen.⁸⁵ Die theoretisch noch mögliche Ausnahme vom Verbot, als Notar zu arbeiten, wurde auch dem hochdekorierten Offizier nicht zugestanden, da hierfür „keine schwerwiegenden Gründe vom Gesichtspunkt der Allgemeinheit gegeben seien“.⁸⁶ Mit der „Fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz“⁸⁷ verloren Friedländer und Haußmann dann 1938 auch ihre Anwaltszulassung⁸⁸. Haußmann hatte bereits 1936 den Vorstand der Deutschen Erdöl-Aktiengesellschaft verlassen müssen, welche Haußmann das ihm nach zwanzigjähriger Tätigkeit für das Unternehmen zustehende Ruhegehalt in Form der vereinbarten Abfindung verweigerte.⁸⁹ Wie zuvor Richard Rosendorff nach Australien, so emigrierten Heinrich Friedländer und Fritz Haußmann in die Vereinigten Staaten.⁹⁰

 Besprechung von Reichsjustizminister Franz Gürtner und Justizsstaatssekretär Franz Schlegelberger mit Vertretern der Landesjustizministerien vom 7. April 1933, Bundesarchiv BerlinLichterfelde R3001/4394, Bl. 1n, S. 1, 5 f., wiedergegeben bei Schubert, ZRG GA 126 (2009), 281, 283 f., 286.  Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, RGBl. I, S. 1146; § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 2, HS. 2, Abs. 2 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, RGBl. I, S. 1333; näher Gruchmann, aaO (Fn. 48), S. 168 ff.; Krach, aaO (Fn. 48), S. 383 ff.  Reichsjustizministerium, Abteilungsleiter Personalsachen und Gerichtsorganisation Max Nadler, an Heinrich Friedländer vom 25. Januar 1936, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/ 56388, Bl. 173.  Unleserlich gezeichneter Bericht an den Kammergerichtspräsidenten vom 27. Juni 1936, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, 4 A KG Pers. 7567, Bl. 171.  § 1 der Fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27. September 1938, RGBl. I, S. 1403; näher dazu Gruchmann, aaO (Fn. 48), S. 175 ff.; Krach, aaO (Fn. 48), S.388 ff.  Reichsjustizministerium, Abteilungsleiter Personalsachen und Gerichtsorganisation Max Nadler an Kammegerichtspräsidenten „Betrifft: die Juden in der Anwaltschaft“, Erlass vom 17. Oktober 1938, gleichlautend in den Personalakten von Friedländer und Haußmann, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/56388, Bl. 80; R3001/59306, Bl. 19.  RWE-DEA Aktiengesellschaft für Mineralöl und Chemie, Hamburg, 1899 – 1999. 100 Jahre RWE-DEA, 1999, S. 205, 209 f.; Karlsch, in: Karlsch/Stokes, „Faktor Öl“. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859 – 1974, 2003, S. 162. Eine Anfrage an das heute zuständige Historische Konzernarchiv RWE blieb bislang ergebnislos.  Röhn u. a., aaO (Fn. 32), 63 f.; Dörinkel, NJW 1960, 25. Zum Verbleib des von Haußmann in Deutschland zurückgelassenen Vermögens Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg, Nr. 4485; Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II), Nr. 13999.

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Ob sie einander persönlich gekannt haben? Berufliche Kontakte sind nachweisbar. So wirkten Friedländer und Rosendorff als Gutachter in einem Streit um die rechtlichen Wirkungen der „Interessengemeinschaft Ostwerke-SchultheissPatzenhofer-Kahlbaum“⁹¹, die seinerzeit nicht nur die aktienrechtliche Publizistik beschäftigte⁹² – auch Haußmann schrieb dazu⁹³ –, sondern die in einen jener Wirtschaftsskandale verwickelt war⁹⁴, die zur eingangs angesprochenen Debatte um eine „Konzerndämmerung“ führten⁹⁵. Zudem wohnten Friedländer und Rosendorff in Berlin-Schmargendorf nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Haußmann und Rosendorff hatten Sommerhäuser im brandenburgischen Werder⁹⁶; für Rosendorff ein Platz auch zum Schreiben.⁹⁷ Vielleicht gingen sie während der Obstblüte gemeinsam spazieren und diskutierten über Konzernrecht.

III. Praktischer Geist und wissenschaftliche Methode Die Werke der drei Anwälte zum Konzernrecht können hier schon aus Platzgründen nicht im Detail vorgestellt werden. Statt dessen lohnt eine Betrachtung der Arbeitsmethode, da diese von den Anwälten als Autoren selbst beschrieben

 Rosendorff, Die rechtliche Organisation der Konzerne. Erweiterter Abdruck eines in dem Zürcherischen Juristenverein zu Zürich und in der Juristischen Gesellschaft zu Frankfurt/Main gehalten Vortrags nebst einem Anhange enthaltend Aktenstücke aus der Konzernpraxis sowie eine Tabelle über die im Jahre 1926 vorgenommenen Zusammenschlüsse, 1927, S. 147 ff.; Friedländer, Bank-Archiv 25 (1925/26), 406 ff.  Siehe nur die Nachweise bei Rieg, Synthetische Fusionen. Dual listed companies-Strukturen als Ersatz für grenzüberschreitende Fusionen im deutschen Recht, 2006, S. 171 ff., 368 ff.; zu den damit verknüpften Rechtsproblemen auch Spindler, aaO (Fn. 17), S. 54 f., 69, 71 f.  Haußmann, in: FS Heinitz, 1926, S. 200 ff.  Fiedler, in: Ziegler, Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, 2000, S. 93, 96 ff.  Rosendorff, aaO (Fn. 1), S. 5.  Röhn u. a., aaO (Fn. 32), S. 63 f., 92 f., 135 ff.  Siehe die Vorworte in Rosendorff, Goldbilanzierungsgesetz. Systematische Darstellung der Verordnung über Goldbilanzen vom 28. Dezember 1923, der Durchführungsverordnungen vom 5. Februar und vom 28. März 1924, 2. Aufl. 1924, S. 13; ders., Das Körperschaftsteuergesetz vom 10. August 1925 unter Berücksichtigung der Anwendung findenden Bestimmungen des Einkommensteuergesetzes und der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs. Für den praktischen Gebrauch erläuterte Handausgabe, 1925, S. XVIII, jeweils mit der Ortsangabe „Werder a[n der] H[avel], Haus Bagatelle“.

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und zumindest von einem ihrer Leser – Max Hachenburg – zeitgenössisch auch wahrgenommen wurde. Der methodische Anspruch ist auf den ersten Blick ebenso vertraut wie banal, legt man zugrunde, was Richard Rosendorff im Vorwort des „Internationalem Steuerrechts“ beschrieb, das er gemeinsam mit seinem Schweizer Gastgeber Josef Henggeler herausgab: „Die Verfasser haben sich bemüht, praktischen Geist mit wissenschaftlicher Methode zu verbinden.“⁹⁸ So oder ähnlich liest man das noch heute in jedem besseren Kommentar. Was ist bei unseren drei Konzernanwälten anders? Was ist ihr Weg, „praktischen Geist mit wissenschaftlicher Methode zu verbinden“? Die meisten Anwälte hinterlassen kein wissenschaftliches Oeuvre.Von Berufs wegen sind sie zunächst für ihre Mandanten da. Dies beschränkt sich nicht auf Rechtsverfolgung und Prozessvertretung. Ein Schwerpunkt lag für Rosendorff, Friedländer und Haußmann auf der vorsorgenden Rechtspflege, vor allem also auf der Vertragsgestaltung. Mit den Verträgen setzten sie Standards für die Praxis. Aus diesen zunächst punktuellen Verträgen entwickelten sie ein System des Konzernrechts. Dies schlug sich in ihren Publikationen nieder. Gemessen nach Seitenzahlen, hat Richard Rosendorff wohl mehr publiziert als seine Kollegen Friedländer und Haußmann. Allerdings ist Rosendorffs Oeuvre mit dem Makel behaftet, dass ihm ein Plagiat vorgeworfen wurde.⁹⁹ Im ehrengerichtlichen Verfahren wurde er nur deshalb freigesprochen, weil ihm kein Vorsatz nachzuweisen war. Sein Buch zur Reform des englischen Companies Act 1929¹⁰⁰ sei wesentlich von Hilfsarbeitern verfasst worden, die Rosendorff aufgrund seiner Krankheit¹⁰¹ nicht hinreichend habe überprüfen können. Zwar hatte Rosendorff „gegenüber den Geschädigten die Tatsache des Plagiats zugegeben und eine Busse [sic] von 2500,– RM geleistet“. Dennoch wird es kein Zufall sein, dass der Plagiatsvorwurf gegen Rosendorff ebenso wie ein Vorwurf der Untreue, mutmaßlich begangen 1931 als Vorstandsmitglied der bergrechtlichen Gewerkschaft „Reichsland“ durch Mitwirkung am Tausch von Reichsschuldbuchforderungen

 Rosendorff/Henggeler, aaO (Fn. 57), Abteilung I: Europa, Bd. 1, 1936, S. IX.  Die folgenden Angaben nach Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam 4 A KG Pers 8892, Bl. 30 – 30v.  Rosendorff, Die Reform des englischen Aktienrechts durch den Companies Act 1929, 1930; englische Übersetzung: Rosendorff, Journal of Comparative Legislation and International Law 14 (1932), 94– 100; 15 (1933), 112– 116; 242– 254. Welche Werke Rosendorff ohne hinreichenden Nachweis zitierte, wurde hier nicht ermittelt.  Dazu oben nach Fn. 57.

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gegen seinerzeit wertlose Aktien der Iduna Holding AG¹⁰², erst 1933 und damit mehrere Jahre nach den beanstandeten Vorgängen erhoben wurden. Als Ministerialdirektor im preußischen Justizministerium behauptete Roland Freisler, „Veruntreuungen jüdischer Rechtsanwälte“ seien als „[b]esonders zahlreich“ aufgefallen; es liege „im Interesse des Volkes als Ganzem [sic] wie des Anwaltsund Notarstandes, daß solche Schädlinge unerbittlich und mit größter Beschleunigung ausgemerzt“ würden. Deshalb seien „Dienststrafverfahren gegen Rechtsanwälte und Notare wegen Veruntreuungen von Geldern und aus ähnlichen Anlässen mit der allergrößten Beschleunigung durchzuführen“. Denn „[i]n der Anwaltschaft und im Notariat“ sei „Platz nur für saubere, ehrenwerte Männer, die das in den Notar gesetzte Vertrauen rechtfertigen. Die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen Volk und Justiz und das Ansehen der Anwaltschaft und Notare fordert schärfstes Vorgehen, sobald dringender Verdacht in der angebenen Richtung besteht.“¹⁰³ Angesichts dieses drängenden Aufrufs zur Denunziation sollte man sich scheuen, Rosendorffs Arbeiten gegenüber denjenigen von Friedländer und Haußmann abzuwerten.

1. „von der besonderen Erscheinung zu dem Gesamtkomplex“ Rosendorff wandte sich relativ spät, vom Steuer- und Bilanzrecht kommend, dem eigentlichen Konzernrecht zu, legte dann aber sogleich eine Gesamtdarstellung vor.¹⁰⁴ Von Friedländer und Haußmann erschienen vor den großen Synthesen¹⁰⁵ zunächst Einzelstudien zu speziellen Konzernfragen¹⁰⁶. Sieht man von der Publikationsreihenfolge ab, unterscheidet sich die Arbeitsweise der drei Anwälte

 Zum Hintergrund RG, Urteil vom 19. November 1935 – II 200/35 – RGZ 149, 305; Spindler, aaO (Fn. 17), S. 192 Fn. 56, unter Hinweis auf die eingehende Darstellung bei Hülss, Die Holdinggesellschaft. Ihre Sonderstellung als privatwirtschaftliche Unternehmung unter besonderer Berücksichtigung deutscher Verhältnisse und Interessen, 1934, S. 88 ff. Die Prozessakten im Bundesarchiv Berlin, R3002/116494 und R3002/128289, konnten noch nicht eingesehen werden.  Preußisches Justizministerium, Roland Freisler, an den Kammergerichtspräsidenten und die übrigen Oberlandesgerichtspräsidenten vom 4. April 1933, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R3001/4394, Bl. 1 h.  Siehe die Nachweise in Fn. 10 und 25.  Friedländer, Konzernrecht. Das Recht der Betriebs- und Unternehmenszusammenfassungen, 1. Aufl. 1927; Haußmann, aaO (Fn. 46).  Friedländer, Die Interessengemeinschaft als Rechtsform der Konzernbildung unter besonderer Berücksichtigung der bilanztechnischen und steuerrechtlichen Fragen, 1921; Haußmann, Die Tochtergesellschaft. Eine rechtliche Studie zur modernen Konzernbildung und zum Effektenkapitalismus, 1923.

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aber kaum voneinander. Schon Max Hachenburg meinte 1932 in seiner Rezension zu Haußmanns „System und Praxis des Konzern- und Kartellrechts“¹⁰⁷, man könne beobachten, wie Haußmann „von der besonderen Erscheinung zu dem Gesamtkomplex gelangte“.¹⁰⁸ Das gleiche gilt für die Konzernrechtsbücher von Friedländer und Rosendorff. Rechtliche Erörterungen bezogen sich auf reale Vertragsmuster aus der Praxis¹⁰⁹, die zumindest Haußmann für die wissenschaftliche Darstellung überarbeitet hatte¹¹⁰. Dennoch handelt es sich hier nicht um bloße Praktikerhandbücher, sondern um traditionelle Rechtswissenschaft. Von den Einzelfällen ging es induktiv zum Prinzip, das so formuliert sein musste, dass weitere Einzelfälle darunter Platz fanden, oder das anderenfalls den weiteren Einzelfällen entsprechend reformuliert werden musste.¹¹¹ Unsere drei Anwälte hatten diese Arbeitsweise nicht erfunden, sie hatten sie erlernt.¹¹² Dies war die Arbeitsweise, welche die gar nicht so lebens- und praxisfremden Pandektenwissenschaftler des 19. Jahrhunderts im Hörsaal, am Schreibtisch und auf dem Richterstuhl vorgemacht hatten.¹¹³ Kaum anders arbeitete der germanistische Zweig der historischen Rechtsschule bis hin zu Systemen des Deutschen Privatrechts.¹¹⁴ Die Methode der „Prinzipienjurisprudenz“ teilten die Professoren mit den Richtern und den Advokaten und Prokuratoren.¹¹⁵ Über die verwissenschaftlichte Juristenausbildung fand diese Methode ihren Weg bis zur Gesetzgebung des BGB.¹¹⁶ Nun waren Rechtswissenschaftler zwar im Normalfall nicht anwaltlich tätig. Wenn sie prak-

 Haußmann, Das Recht der Unternehmenszusammenfassungen. System und Praxis des Konzern- und Kartellrechts und der sonstigen Unternehmensverbindungen, Zweiter Teil: Die Praxis des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen, 1932.  Hachenburg, JW 1932, 2591.  Siehe den besonders umfangreichen Anhang bei Rosendorff, aaO (Fn. 91), S. 120 ff.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 1 f.  Zu den Ursprüngen dieser Methode am Beginn des 19. Jahrhunderts J. Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500 – 1933), 2. Aufl. 2012, S. 247 ff., 252 ff., dort S. 406 ff., 413 ff. zu den Veränderungen im späten 19. Jahrhundert.  Bei wem genau, wäre zu prüfen; die ermittelten Personalakten enthalten leider keine Studienbuchauszüge. Die Promotionsakte Heinrich Friedländers im Universitätsarchiv Jena, K Nr. 273, konnte noch nicht eingesehen werden.  Haferkamp, Die Historische Rechtsschule, 2018, S. 31 ff., 228 ff., 257 ff., 280 ff.  Lewinski, Deutschrechtliche Systembildung im 19. Jahrhundert, 2001, S. 32 ff., 86 ff.; Schäfer, Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht, 2008, S. 517 ff.  Oestmann, Zur Gerichtspraxis im 19. Jahrhundert. Ein Schmuggeleiprozess am Oberappellationsgericht Lübeck, Bd. 1, 2019, S. 55 ff.  Rückert, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, 2003, vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien Rn. 54.

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tizierten, dann als Richter.¹¹⁷ Entscheidend war aber, dass namentlich die Pandektisten von Fallfragmenten ausgingen, die nach Systematisierung drängten – nicht zuletzt, weil die Praxis nach Systematisierung drängte. Ähnlich erging es auch unseren Konzernrechtsanwälten. So war Friedländers Buch zum Konzernrecht „aus der Praxis geboren“ und wollte „der Praxis dienen. […] Als Ziel schwebte vor, eine zusammenfassende Darstellung der konzernrechtlichen Fragen zu geben, die Bedeutung der Probleme und ihre Auswirkung durch die verschiedenen Rechtszweige zu verfolgen, Zusammenhänge aufzudecken, Begriffe zu klären, ein System aufzubauen.“¹¹⁸ Wie die Pandektisten-Richter des 19. Jahrhunderts, so konnten auch die Kautelarjuristen des 20. Jahrhunderts die Anwendung ihrer Rechtsquellen in eigener Praxis beeinflussen, aus denen sie dann ein System entwickelten oder auch ein vorgefundenes System fortentwickelten.¹¹⁹ In seiner Haußmann-Rezension schrieb Hachenburg: „Die ‚Praxis’ baut auf dem System auf. Haußmann ist der letzte, der es als Praktiker beiseite schieben möchte. Keiner weiß besser als er, daß eine juristische Behandlung jeder Materie nur durch die Erfassung der begrifflichen Momente und durch das Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen fruchtbar ist. […] Die papierenen Verträge sind für ihn Wirklichkeit, abgeschlossen von Menschen von Fleisch und Blut, oft mit widerstrebenden Interessen, aber gedrängt von der Notwendigkeit des Zusammenschlusses. In dieser Mannigfaltigkeit sieht Haußmann ein einheitliches Gesetz. Es wirkt sich in verschiedenen Farben und Formen aus. Alle aber streben dem gleichen wirtschaftlichen Ziele zu.“¹²⁰ Praxis bedeutete jedoch nicht nur Vertragsgestaltung. Wie den Pandektisten¹²¹, so standen auch den Konzernrechtsanwälten die Gerichte zur Seite, wenn es unvermeidbar wurde, sie einzuschalten. Reichsgericht und Reichsfinanzhof (zuvor das preußische Oberverwaltungsgericht), lösten die Fälle, die mit vorsorgender Rechtspflege nicht mehr zu bewältigen waren.¹²² Leider ließ sich bislang anhand von Stichproben der höchstrichterlichen Prozessakten nicht rekonstruieren, in welchem Umfang Rosendorff, Friedländer und Haußmann selbst solche Fälle zu Gericht brachten. Kamen aber die Gerichte in Privatrecht und Steuerrecht zu unterschiedlichen Ergebnissen, waren unsere drei Anwälte als Autoren gefragt. So hielt es das Reichsgericht noch 1913 für sittenwidrig, dass sich die „Deutsche

 Haferkamp, aaO (Fn. 113), S. 280 ff.  Friedländer, aaO (Fn. 105), Vorwort.  Zur Kautelarpraxis Fleischer, RabelsZ 82 (2018), 239, 250 ff.  Hachenburg, JW 1932, 2591, im Original hervorgehoben.  Haferkamp, aaO (Fn. 113), S. 299 ff.  Zur Entwicklung der Steuerrechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte und des Reichsfinanzhofs Friedländer, aaO (Fn. 105), S. 359 ff.

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Petroleumverkaufsgesellschaft m.b.H.“ vollständig dem Willen der „DeutschAmerikanischen Petroleumgesellschaft“ unterwarf, auch wenn sie hierfür entschädigt wurde: „Eine Gesellschaft kann sich auflösen, aber nicht selbst entmündigen, so wenig sich eine physische Person selbst entmündigen kann.“¹²³ Umgekehrt war es für die steuerrechtliche Rechtsprechung kein Problem, dass eine juristische Person „als unselbständige Gesellschaft, als Organ, Angestellte eines anderen Unternehmens anerkannt werden“ könne.¹²⁴ Haußmann erklärte dies mit einem spezifisch steuerrechtlichen Quantensprung: „Die Unselbständigkeit kann so stark werden, daß die steuerrechtliche Betrachtung sich von der privatrechtlichen loslöst und die Abhängigkeit in eine Einheit des abhängigen mit dem beherrschenden Körper umdeutet.“¹²⁵ Aus Widersprüchen wie diesen entstand der Wunsch nach einem System: leitende Prinzipien, klare Begriffe, kohärente Regeln mit definierten Ausnahmen. Es überrascht gleichwohl nicht, dass unsere drei Anwälte schon im Ringen um den Konzernbegriff unterschiedliche Akzente setzten.¹²⁶ Friedländer betonte die „rechtliche Zweckeinheit“ des Konzerns als eines „Gesamtunternehmens“¹²⁷, Haußmann die „vermögensrechtliche Bindung“ einer „Mehrheit von Unternehmungen“ an eine „beherrschende Gesamtgewalt“¹²⁸ und Rosendorff die „Rechtsbeziehungen zur Zusammenfassung der Konzernglieder“¹²⁹. Alle drei behandelten dieselben vielfältigen Vertragsgestaltungen, stellten aber jeder für sich andere übergreifende Strukturmerkmale in den Vordergrund.

2. „weit mehr als nur ein Handlanger der Wirtschaft“ Was ist an alledem nun kautelarjuristisch? Lesen wir einen etwas bösartigen Befund, der nicht von einem Konzernrechtsanwalt stammt. Der Volkswirt Herbert von Beckerath schrieb 1921 einen langen Beitrag über „Kräfte, Ziele und Gestaltungen in der deutschen Industriewirtschaft“. Diese sei wesentlich gekennzeichnet durch eine fortschreitende Konzernbildung. Die Rolle der Juristen schätzte Beckerath freilich nicht als besonders hoch ein:

 RG, Urteil vom 27. 5.1913 – II 625/12 – RGZ 82, 308, 317.  RFH, Urteil vom 11.11.1927 – I A 75/27 – RFHE 22, 183, 187.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 152.  Zu diesem „konzernrechtlichen Generalthema“ der damaligen Zeit und zum Systematisierungsanspruch Hommelhoff, aaO (Fn. 16), S. 10 ff.  Friedländer, aaO (Fn. 105), S. 42 ff.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 87 ff.  Rosendorff, aaO (Fn. 91), S. 20 ff.

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„Die Rechtsform ist […] Nebensache. Es dürfte schwer fallen, die ratio für die verschiedenartigen Rechtsformen zu finden, in denen sich die jetzige Konzernbewegung vollzieht. Rücksichtnahme auf persönliche Wünsche der nächstbeteiligten Unternehmer und Direktoren, mehr oder weniger glückliche Anpassung an die wechselnde Steuergesetzgebung und nicht zuletzt Nachahmungstrieb und Mode spielen eine große Rolle.“¹³⁰ Ist dies nicht eine treffende Definition von Kautelarjurisprudenz? Folgen die Anwälte etwa nicht den Launen der Manager, den Volten des Steuerrechts und dem Vorbild der Konkurrenz? Fritz Haußmann wies dies empört zurück: „Das Recht ist […] weit mehr als nur ein Handlanger der Wirtschaft.“¹³¹ Vor Ärger konnte Haußmann nicht einmal richtig abschreiben. Aus der „mehr oder weniger glückliche[n] Anpassung“ wurde eine „mehr oder weniger größere Anpassung“.¹³² Allerdings räumte Haußmann ein, das Konzernrecht sei ein „Gebiet[…], das in der Rechtsliteratur trotz einer außerordentlichen praktischen Bedeutung noch immer in weitestgehendem Umfange Neuland geblieben ist“.¹³³ Beckeraths flagrante „Unterschätzung des Rechtselements in der ganzen Zusammenfassungsbewegung“ sei „nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Vorarbeiten für einen juristischen Gesamtüberblick selbst in der Literatur des im Unternehmensaufbau überaus differenziert entwickelten Deutschland spärlich genannt werden müssen“. Haußmann hatte deshalb ein leicht hochnäsiges Verständnis dafür, „daß es unter diesen Umständen dem Volkswirtschaftler um so schwerer fällt, zugleich die rechtlich ausschlaggebenden Motive der Entwicklung zu erkennen und auf diesem Wege zu einer fortschreitenden Erkenntnis zu gelangen“.¹³⁴ Zugleich gab er sich bescheiden: „Die einzige Ueberhebung, die im Verhältnis zu den anderen Geisteswissenschaften und den Kultur- und Persönlichkeitswerten der Jurist verantworten kann, ist, daß er sich über sich selbst erhebt.“¹³⁵ Was Haußmann hier 1926 als stark erweiterten Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft publizierte, fügte sich für ihn „gewissermaßen zu einem  Beckerath, Weltwirtschaftliches Archiv 2 (1921), 205, 207.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 173.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 1 f., unter Hinweis auf die abgeschwächte Formulierung bei Beckerath, Kräfte, Ziele und Gestaltungen in der deutschen Industriewirtschaft, 2. Aufl. 1924, S. 52: „Die Wahl der Rechtsformen bei der Konzernbildung ist immer in hohem Maße von Zufälligkeiten, insbesondere bei der Rücksichtnahme auf die Wünsche und Anschauungen der bei den beteiligten Unternehmungen maßgeblichen Persönlichkeiten beeinflußt. In den letzten Jahren steht dieselbe stark unter dem Einfluß der Steuergesetzgebung.“  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 1.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 2, im Original hervorgehoben.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 169.

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Entwurf eines noch ungeschriebenen Rechtsbuches der modernen Unternehmenszusammenfassungen“.¹³⁶ Das geschriebene „Rechtsbuch“ wollte er ab 1932 nachliefern: „Wenn es mir die Zeitverhältnisse gestatten, soll der […] Arbeit über die Praxis des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen das System dieses Rechtsgebietes folgen.“¹³⁷ Die Zeitverhältnisse gestatteten es Haußmann nicht, auch wenn Hachenburg gemahnt hatte, „das ‚System’ darf er uns nicht schuldig bleiben“.¹³⁸ Verweilen wir aber einen Moment bei dem Wort „Rechtsbuch“.¹³⁹ Ein Rechtsbuch ist nicht einfach ein Buch über Recht. Ein Rechtsbuch ist seit dem Mittelalter die private Aufzeichnung von Rechtsgewohnheiten, im Gegensatz zur obrigkeitlichen Normsetzung. Ein Rechtsbuch gibt vor, das bestehende Recht lediglich auf Pergament oder Papier zu spiegeln; man denke an allererster Stelle an den Sachsenspiegel. Dennoch gewinnt ein Rechtsbuch eine besondere Autorität, wenn es gelesen und der weiteren Praxis zugrunde gelegt wird. Diesen Anspruch hatte Haußmann.

3. „Versuch eines Allgemeinen Teils des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen“ Mit der Autorität des „ungeschriebenen Rechtsbuches“ drängte es Haußmann zur Königsdisziplin deutscher Juristen, der Ausarbeitung eines Allgemeinen Teils.¹⁴⁰ Nur sollte Haußmanns Allgemeiner Teil außerhalb einer Kodifikation entstehen. Unausgesprochener Anlass hierfür war paradoxerweise die zeitgenössische Wahrnehmung einer neuen Kodifikation, die nicht nur einen Allgemeinen Teil, sondern in jedem der weiteren vier Bücher kleine allgemeine Teile hatte¹⁴¹: das damals noch junge BGB von 1900. Zwei Jahrzehnte lang herbeigesehnt¹⁴², hatte es in den zwei Jahrzehnten nach seinem Inkrafttreten scheinbar kläglich versagt,

 Haußmann, aaO (Fn. 46), S. VI.  Haußmann, aaO (Fn. 107), Vorwort.  Hachenburg, JW 1932, 2591, 2592.  Zum nachfolgend skizzierten Begriff Munzel, in: Erler/Kaufmann/Schmidt-Wiegand, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 277 ff.; Olberg-Haverkate, Die Textsorte Rechtsbücher. Die Entwicklung der Handschriften und Drucke des Sachsenspiegels und weiterer ausgewählter Rechtsbücherhandschriften vom 13.–16. Jahrhundert, 2017, S. 11 ff.  Dazu Schmoeckel, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann, aaO (Fn. 116), vor § 1: Der Allgemeine Teil in der Ordnung des BGB Rn. 14 ff., 24 ff.  Rückert, aaO (Fn. 116), vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien Rn. 19.  Zimmermann, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann, aaO (Fn. 116), vor § 1: Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Entwicklung des Bürgerlichen Rechts Rn. 9; Rückert, aaO (Fn. 116), vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien Rn. 25.

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indem es offenbarte, was es alles nicht geregelt hatte. Zugleich fühlte sich die vormals selbstbewusste Rechtswissenschaft – von den BGB-Verfassern unbeabsichtigt¹⁴³ – in die „Gefängniszellen“ des positiven Rechts gesperrt¹⁴⁴. Dabei hatte das BGB nicht einmal für einen geordneten Gefängnisalltag gesorgt. Das soll heißen: Für neue Rechtsprobleme wie das Kartellrecht oder das Konzernrecht boten die Kodifikationen keine ausbuchstabierten Lösungen, weder die neue des BGB¹⁴⁵ noch die ältere des HGB. Die „wirtschaftlichen Interessen“ waren unter den „wechselnden Lebensverhältnissen“¹⁴⁶ in eine andere Richtung gegangen. Gegenüber Politik und Wirtschaft stand das Recht unter Rechtfertigungsdruck, jedenfalls unter Anpassungsdruck. Unter diesem Druck suchte Haußmann nach allgemeinen Rechtssätzen, als Alternative zu Tatsachenforschung und freier Rechtsfindung. So erklärte sich auch sein etwas prätentiöser „Versuch eines Allgemeinen Teils des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen“. Haußmann ging aus von der „Vorstellung bestimmter Komplexe wirtschaftlicher Tatsachen, juristisch gegliedert unter Anwendung bekannter Rechtsinstitute und deren Kombinationen. […] Aber die Erfüllung der Rechtsforschung wird nicht in Erkenntnis der Tatsachen und deren rechtlicher Konstruktion allein bestehen können. […] Nicht das Ablesen des Tatbestandes ist mehr die Aufgabe, sondern seine Betrachtung im Rahmen der Entwicklung. Hier beginnen aber erst die eigentlichen Probleme sich aufzurollen. Die wirtschaftlichen Tatsachen wandeln sich nach den Zeitverhältnissen, und ihre Wandlungen unterliegen besonderen Gesetzen. Damit tritt der Gegensatz zwischen der geschichtlichen Betrachtung und der Suche nach allgemeingültigen Gesetzen, die sich von den historischen Tatsachen loslösen, in Erscheinung. Die Befreiung von der Tatsachen, von der zufälligen Wirtschaftserscheinung, das Hinaufsteigen zu allgemeinen Begriffen wird zum Bedürfnis.“ Dieses Bedürfnis richtete sich nach Haußmann aber nicht auf „allgemeine Begriffe der Volkswirtschaftslehre“. Im Gegenteil: „Auf dem Rechtsgebiet können nur rechtliche Grundlagen und Grundbegriffe erheblich sein. Solche Grundlagen trotz des untrennbaren Zusammenhanges der wirtschaftlichen und der rechtlichen Erscheinungen zu suchen, ist die Aufgabe einer tiefergehenden Betrachtung, die ihrer-

 Schmoeckel, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann, aaO (Fn. 116), vor § 1: Der Allgemeine Teil in der Ordnung des BGB Rn. 6.  Wüstendörfer, AcP 110 (1913), 219, 224.  R. Schröder, in: Falk/Mohnhaupt, Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896 – 1914), 2000, S. 538 ff.  Rosendorff, aaO (Fn. 91), S. 118 f. Näher zu diesem Zitat unten bei Fn. 157.

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seits den Stoff für den ‚Allgemeinen Teil’ des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen abzugeben geeignet ist.“¹⁴⁷ Man fragt sich nun etwas besorgt, wo es Haußmann mit diesen Überlegungen hintreibt. Die Antwort ist einigermaßen enttäuschend. Den allgemeinen Teil des Konzernrechts fand Haußmann in den Generalklauseln – und damit letztlich doch im BGB. Mit ihnen werde die „Rechtskonstruktion“ um die Ebene der „Rechtsausübung“ ergänzt. Treu und Glauben begrenzten die Mehrheitsherrschaft des Großaktionärs. Die guten Sitten stünden einer Selbstentmündigung der abhängigen Gesellschaft entgegen. Ein wichtiger Grund berechtige dazu, die Konzernbeziehung zu lösen. Der Grundsatz der „Gleichmäßigkeit“ sorgte für Gleichbehandlung im Aktienrecht.¹⁴⁸ Haußmanns „Versuch eines Allgemeinen Teils“ war freilich deshalb schwer verdaulich, weil er den Anspruch hatte, sich zur (mutmaßlich) neukantianischen Philosophie eines Rudolf Stammler zu positionieren.¹⁴⁹ Hierzu wollte er das „formale Recht“, das von historischen Zufälligkeiten unabhängig sein sollte, mit den Generalklauseln retten, rückblickend also mit dem klassischen Vehikel der Materialisierung des Rechts.¹⁵⁰ Erweitert um die Generalklauseln, war das Gesetz, jedenfalls aber das Recht vollständig, wenn auch nicht systematisch vollkommen.¹⁵¹ Haußmann war deswegen um die Rolle des Rechts nicht bang: „Das scheinbare Nachhinken des Rechts [hinter den wirtschaftlichen Tatsachen] beruht nicht zum geringen Teil auf der grundsätzlichen Stellung gesetzestechnischer Art, welche das Recht zu diesen im Fluß befindlichen Erscheinungen einnimmt. […] Wir sehen die Entwicklung und die Entscheidung der grundsätzlichen Rechtsprobleme in Rechtssprüchen der ordentlichen Gerichte, des Kartellgerichts und der Steuerrechtsprechung sich klären; wir sehen grundsätzliche Rechtsgedanken mit scheinbaren Schwankungen in der Praxis an Hand besonders gelagerter Fälle sich entwickeln und vermissen die Krücken des Paragraphenhandwerkzeugs, wie sie die Gesetzgebungsmaschine auf vielen Gebieten reichlich und willig produziert. Aber diese ungebundenere Form der Aeußerung bewegender Rechtsgedanken in der praktischen Entwicklung, wie sie sich im Recht der Unternehmenszusammenfassungen dem Betrachter darbietet, er-

 Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 143 f.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 145 ff., 160 ff.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 146, 155, 158, 160, 165 ff. Zum Neukantianismus im rechtshistorischen Kontext Haferkamp, in: Senn/Puskás, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft? Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, 15. und 16. Juni 2007, Universität Zürich, 2007, S. 105, 108 f., 111 ff.  Haferkamp, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann (Fn. 116), Bd. 2, 2007, § 242 Rn. 21.  Vgl. J. Schröder, aaO (Fn. 111), S. 249 f., 316 ff., 336 f., 416 ff.

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scheint nicht als ein Nachteil, als etwas Minderwertiges gegenüber dem geschriebenen Recht, vielmehr als ein Vorzug, ja vielleicht die einzig mögliche Form, in der sich der Rechtsgedanke gegenüber Wirtschaftsproblemen äußern kann, wie sie die modernen Unternehmenszusammenfassungen mit sich bringen. […] Das Ausdenken einer bestimmten, gesetzlich geregelten Konzernform, oder etwa die gesetzliche Regelungen der verschiedenen Formen der Unternehmenszusammenfassungen in einem geschlossenen System erweist sich […] als eine ganz offensichtliche Unmöglichkeit.“¹⁵² Haußmann bevorzugte demgegenüber ein offenes System. Kodifiziertes Konzernrecht brauchte er dazu nicht, sondern Vertragsfreiheit und Generalklauseln, wie sie das BGB bot. Der scheinbare Mangel der Kodifikation war also zugleich ihr Vorteil. Friedländer sah das im Ergebnis alles ganz genauso, die Rolle der Generalklauseln, die Dominanz der Praxis, die begrenzte Rolle des Gesetzgebers, die Warnung vor übereilter Gesetzgebung. Für Friedländer boten die Generalklauseln eine Handhabe, um konzernrechtliche Konflikte zu entscheiden, für die es an vertraglicher Vorsorge fehlte. Friedländer meinte deshalb, was Haußmann „in dieser Richtung mehr skizzierend andeutet, gehört […] im wesentlichen in die einzelnen Abschnitte des Konzernrechts“¹⁵³ – und nicht in einen Allgemeinen Teil. Auch Friedländers Konzernrecht hatte einen Allgemeinen Teil. Nur bestand Friedländers Allgemeiner Teil nicht aus Generalklauseln – wofür gab es schließlich das BGB? –, sondern aus Rechtsquellenlehre, Geschichte, typischen Organisationsformen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, Grundbegriffen der Wirtschaftswissenschaft, Grundbegriffen wie Betrieb, Unternehmen und Gesamtunternehmen – dem Konzern – und dem Kernproblem des Vertragskonzernrechts, wie sich die rechtliche Selbständigkeit der einzelnen juristischen Personen im körperschaftsübergreifenden Schuldvertragsrecht behauptet.¹⁵⁴ Da die Vorstellung, jede einzelne Gesellschaft sei eine selbständige juristische Person, auch damals dem gesetzlichen Aktienrecht zugrunde lag, musste jede vertragliche Konstruktion eines Konzerns als Abweichung vom gesetzlichen Ideal erscheinen: „Die Schutzvorschriften zur Erhaltung des Grundkapitals, die den Kern des Aktienrechts darstellen und deren folgerichtige Durchbildung mit Recht als Ruhmesblatt deutscher Gesetzgebungskunst angesehen werden, sind eine

 Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 174 f.  Friedländer, aaO (Fn. 105), S. 3.  Siehe das Inhaltsverzeichnis in Friedländer, aaO (Fn. 105), S. IX.

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stumpfe Waffe geworden, weil das, was der eigenen Gesellschaft verboten ist, durch Tochter- und Konzerngesellschaften geleistet werden kann. Die Gewinnfestsetzung vollzieht sich in Stadien, die vor der Beschlußfassung durch die Generalversammlung liegen. (lnteressengemeinschafts-, Pacht-Verträge). Die Kompetenzen der Organe der Gesellschaft sind verschoben, ihre Verfassung zeigt durchweg oligarchische Züge. Die Bilanzgrundsätze sind durch die Verschachtelung umgestülpt, die Finanzierungsbedürfnisse haben zu neuen Formen (Obligationen und Aktien mit Umtausch- und Bezugsrecht) geführt. Man sieht: allenthalben rührt die Wandlung der Wirtschaftsverhältnisse an die Grundfesten des Aktienrechts. Für die Praxis ist es naturgemäß eine schwere Aufgabe, mit den vorhandenen Rechtssätzen diese Dinge zu meistern. Kein Wunder, wenn manche Entscheidung befremdet. Ist doch gerade auf diesem Gebiet die Jurisprudenz (Rechtsprechung wie Rechtswissenschaft) arg ins Hintertreffen geraten. Sie steckt noch im Vorstadium der Problemstellung. Erstaunlich ist allerdings, daß auch bei den zahlreichen Versuchen einer Gesetzesreform noch in alten Gleisen gefahren wird und daß man nur einzelne Fragen, welche die Konzernbildung berühren, herausgreift. […] Eine Reform erscheint notwendig; sie bedarf aber sorgsamer Vorbereitung.“¹⁵⁵ Solange man auf die Reform warten musste, konnte Friedländer ebenso wie Haußmann mit dem von der Kautelarjurisprudenz geschaffenen Provisorium gut leben. Er schrieb aber zu alledem viel schnörkelloser als Haußmann: „Rechtsquellen des Konzernrechts sind nur zum geringen Teil Sondergesetze. […] In der Hauptsache hat sich […] die Rechtsbildung in der Praxis vollzogen. Seit Jahrzehnten sind die Haupttypen der Konzernformen (Interessengemeinschaft, Pacht-, Betriebsüberlassungsverträge, Beteiligungsverhältnisse, Konsortialabmachungen) in der Kautelar-Praxis bekannt und formularmäßig bis in die Einzelheiten ausgebildet. […] Die Konzerne sprengen den Rahmen, in dem sich der Gedankenkreis des Gesetzgebers bewegte. Mit all den Hilfsmitteln, die dem Juristen geläufig sind, mit Analogie-Schluß, ausdehnender oder einschränkender Auslegung, mit der Erkenntnis, daß ‚die Sache über der Form steht’, sucht man den neuen Erscheinungen auf dem Boden des geltenden Rechts beizukommen. […] Solange es an einer Regelung durch Sondergesetz fehlt (und man wird in diesem Stadium dies sicherlich einem nicht durchdachten Eingriff des Gesetzgebers vorziehen), müssen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen (Treu und Glau-

 Friedländer, aaO (Fn. 105), S. 269 f.

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ben, Sittenwidrigkeit, Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mitteln) die Folgerungen für den Einzelfall gezogen werden.“¹⁵⁶ Rosendorff stimmte in diesen Reigen bereitwillig ein, wenngleich er in der Argumentation Friedländer näher stand als Haußmann. Die Fragen, die durch neuere Entwicklungen der Unternehmenskonzentration aufgeworfen waren, „[a]lle diese und ähnliche Fragen lassen sich nicht mit den Mitteln einer veralteten Formaljurisprudenz lösen. Zu einer befriedigenden Lösung kann man hierbei vielmehr nur gelangen, wenn man sich stets den auch bereits vom Reichsgericht […] zum Ausdruck gebrachten Grundsatz vor Augen hält, daß die Auslegung des Rechts in erster Linie unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen zu erfolgen hat, und daß das Recht diesen so weit als möglich elastisch angepaßt werden muß, um seiner wahren Aufgabe, den wechselnden Lebensverhältnissen zu dienen, gerecht zu werden.“¹⁵⁷ Dass das Recht „dem Leben [zu] dienen“¹⁵⁸ habe, war der deutschen Rechtswissenschaft und ‐praxis nicht neu.¹⁵⁹ Neu war auch nicht, dass das Recht zu diesem Zweck „elastisch angepaßt werden“ müsse.¹⁶⁰ Nicht zufällig verwies Rosendorff hier auf prominente Entscheidungen des Reichsgerichts zur Nachkriegs- und Inflationszeit. Darin schützten die Richter eine Vertragspartei vor „wirtschaftlichen Veränderungen“, die „geradezu ruinös“ seien. Denn es sei „die erste und vornehmste Aufgabe des Richters […], in seiner Rechtsprechung den unabweislichen Bedürfnissen des Lebens gerecht zu werden und sich […] von den Erfahrungen des Lebens leiten zu lassen“, die er „seiner verständnisinnigen Beurteilung“ der Verhältnisse zugrunde legen müsse, „wenn anders nicht ein Treu und Glauben und jedem Gebote von Gerechtigkeit und Billigkeit hohnsprechender, einfach nicht zu ertragender Zustand geschaffen werden soll“.¹⁶¹

 Friedländer, aaO (Fn. 105), S. 1– 3.  Rosendorff, aaO (Fn. 91), S. 118 f.  Später prominent formuliert durch den BGH-Richter Georg Kuhn in BGH, Urteil vom 1.4.1953 – II ZR 235/52 – BGHZ 9, 157, 164, dazu Thiessen, in: Fleischer/Thiessen, Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, S. 99, 104 ff.  Haferkamp, in: Breneselović, Gedächtnisschrift für Valtazar Bogošić. Zur 100. Wiederkehr seines Todestages, Bd. 1, 2011, S. 301 ff.  Vgl. Rückert, aaO (Fn. 116), vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien Rn. 18, 35.  Rosendorff, aaO (Fn. 91), S. 118, nannte RG, Urteil vom 2.1.1909 – I 51/08 – RGZ 70, 165, 166; Urteil vom 8.7.1920 – III 89/20 – RGZ 99, 258, 260; Urteil vom 21.9.1920 – III 143/20 – RGZ 100, 129, 132 f.; zu den beiden letztgenannten Urteilen, denen die Zitate entnommen sind, näher Thiessen, in: Fox/Ernst, Money in the Western Legal Tradition. Middle Ages to Bretton Woods, 2016, S. 735, 745 ff. Die erstgenannte Entscheidung betrifft die Anpassung von Ansprüchen aus einem Syndikatsvertrag „aus der Natur der Sache“, keineswegs ein neuer Begriff, dazu J. Schröder, aaO (Fn. 111), S. 265 ff.

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Die Konzernrechtsanwälte der Weimarer Republik konnten jedoch allenfalls ahnen, wie „elastisch“ das Recht den Verhältnissen „angepaßt“ werden konnte. In einem Diskurs mit seinem Kollegen Hermann Isay¹⁶² warnte Haußmann „den betrachtenden wie den praktischen Juristen davor, die Erscheinungen von seinem Standpunkt aus allein entscheidend lenken zu wollen“¹⁶³. Isay hatte in einem Vortrag vor der Berliner Juristischen Gesellschaft hellsichtig dafür plädiert, dass „in dem Kampf des Geistes über die brutale Gewalt die Vertreter der Rechtswissenschaft die geborenen Führer seien, und daß der Menschheit Würde in ihre Hand gegeben sei“.¹⁶⁴ Haußmann führte diese Forderung auf den „Schwung des Schlußwortes“ zurück, dem er entgegenhielt: „Es sind eben außer der Rechtswissenschaft noch andere Kräfte vorhanden, die den deutschen Geist lenken […].“¹⁶⁵ Ganz andere Kräfte, als Haußmann gedacht hatte, kamen 1933 an die Macht. Der nun sehr laut vernehmbare antisemitisch-antikapitalistische Aktienrechtskritiker Hitler ¹⁶⁶ sicherte der Rechtsprechung noch in einer seiner ersten

 Zu dessen Person Hederer, in: Apel/Pahlow/Wießner, Biographisches Handbuch des Geistigen Eigentums, 2017, S. 150 ff.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 169.  So das scheinbar wörtliche Isay-Zitat bei Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 169; geringfügig länger Isay, Die Isolierung des deutschen Rechtsdenkens. Ein Vortrag gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 8. Dezember 1923, 1924, S. 54: „Wer der Ueberzeugung lebt, daß der Weg der Menschheit aufwärts führt, für den ist der Sieg des Rechts über die Macht, der Sieg des Geistes über die brutale Gewalt das Ziel, für das er freudig kämpft. In diesem Kampf sind die Vertreter der Rechtswissenschaft die geborenen Führer. Auch für sie und für sie besonders gelten die Worte, die Deutschlands großer Freiheitsdichter [Friedrich Schiller 1789] den Künstlern zugerufen hat: Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben, Bewahret sie!“. Zum Kontext des Vortrags Nörr, aaO (Fn. 15), S. 102 f.  Haußmann, aaO (Fn. 46), S. 169.  Kommentierte Beispiele für die antisemitisch motivierten Äußerungen Hitlers zu Aktiengesellschaften und Börse in Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, 2016 (erstmals 1925), S. 625 ff., 823: „Eine schwere wirtschaftliche Verfallserscheinung war das langsame Ausscheiden des persönlichen Besitzrechtes und allmählige [sic] Übergehen der gesamten Wirtschaft in das Eigentum von Aktiengesellschaften. […] Die Börse begann zu triumphieren und schickte sich an, langsam aber sicher, das Leben der Nation in ihre Obhut und Kontrolle zu nehmen. Die Verinternationalisierung der deutschen Wirtschaft war schon vor dem Kriege über dem Umwege der Aktie in die Wege geleitet worden. Freilich versuchte ein Teil der deutschen Industrie, sich noch mit Entschiedenheit vor diesem Schicksale zu bewahren; dafür aber verfiel diese dann auch dem vereinigten Angriff des gierigen Finanzkapitals […]. […] Über dem Umwege der Aktie schiebt er [der Jude] sich in den Kreislauf der nationalen Produktion ein, macht diese zum käuflichen, besser wandelbaren Schacherobjekt und raubt damit den Betrieben die Grundlage einer persönlichen Besitzherrschaft. […] Endlich aber wächst der jüdische Einfluß durch die Börse in wirtschaftlichen Belangen nun unheimlich schnell an. Er wird zum Besitzer oder doch zum Kontrolleur der nationalen Arbeitskraft.“

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Reichstagsreden als Reichskanzler zu, ihre Unabhängigkeit nicht anzutasten – wenn sie „elastisch“ auf die Forderungen des neuen Staates eingehe.¹⁶⁷ Das tat sie dann auch, nicht zuletzt mit Generalklauseln.¹⁶⁸

IV. „Watchman! What’s of the Night?“ Seinem Buch über „Rechtsstaat und ‚Wirtschaftslenkung’“ stellte Fritz Haußmann 1938 ein Bibelzitat voran: „Watchman! What’s of the Night?“¹⁶⁹ Die Stelle aus dem Buch des Propheten Jesaja fragt, wie viel von der Nacht noch übrig sei. Die Antwort, die Haußmann nicht zitiert, ist ambivalent: Der Morgen wird kommen, aber die Nacht wird bleiben.¹⁷⁰ Wir beobachten beim Konzernrecht ein vertrautes Muster.¹⁷¹ Erst kommt das Bedürfnis der Unternehmer, dann die pragmatische Idee der Rechtsberater, sodann die erprobte Praxis, häufig die gerichtliche Klärung mancher Streitfragen, zuletzt die gesetzliche Anerkennung der Praxis ebenso wie die gesetzliche Eindämmung von Missständen. Was Anwalte, Notare und Gerichte nicht schafften, versuchte der Gesetzgeber, als die „Konzerndämmerung“ einsetzte. Die Aktiennotverordnung von 1931 beschränkte sich auf wenige Vorschriften insbesondere zur Publizität von Konzernverhältnissen.¹⁷² Der Aktienrechtsausschuss der Aka-

 Hitler in der Reichstagsplenarsitzung vom 23. März 1933, Verhandlungen des Reichstags, Band 457, VIII. Wahlperiode 1933, 1934, S. 28: „Unser Rechtswesen muß in erster Linie der Erhaltung [der] Volksgemeinschaft dienen. Der Unabsetzbarkeit der Richter auf der einen Seite muß die Elastizität der Urteilsfindung zum Zweck der Erhaltung der Gesellschaft entsprechen. Nicht das Individuum kann der Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk! […] Der Boden der Existenz der Justiz kann kein anderer sein als der Boden der Existenz der Nation. Möge diese daher auch stets die Schwere der Entscheidungen derer berücksichtigen, die unter dem harten Zwang der Wirklichkeit das Leben der Nation verantwortlich zu gestalten haben.“  Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 7. Aufl. 2012, S. 216 ff.; J. Schröder, Rechtswissenschaft in Diktaturen. Die juristische Methodenlehre im NS-Staat und in der DDR, 2016, S. 21 ff.  Haußmann, aaO (Fn. 74), S. 1.  Jesaja 21:11– 12.  Thiessen, Rechtsgeschichte – Rg 25 (2017), 46, 68.  Friedländer, Aktienrecht mit Einschluß der NotVO. vom 19.9.31 und 6.10.31 und der Durchführungsbestimmungen (Stand vom 1. 3.1932) unter besonderer Berücksichtigung der Konzernverhältnisse. Handkommentar, 1932, S. 6, 79 ff., 112, 192 ff., 287 f.; Rosendorff, Das neue deutsche Aktienrecht unter besonderer Berücksichtigung seiner Auswirkungen auf die Praxis des Aktienwesens. Systematische Darstellung der Vorschriften über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien nach den Verordnungen vom 19. September und 6. Oktober 1931 nebst Durchführungsbestimmungen, 2. Aufl. 1932, S. 392 ff.

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demie für Deutsches Recht beriet ab 1934 in Anlehnung an die Weimarer Reformdebatten¹⁷³ über Konzernbilanzen sowie über Konzern- und Vertragsdefinitionen, die in das Aktiengesetz von 1937 eingingen. Die Krisenerscheinungen wurden adressiert durch das an den herrschenden Aktionär gerichtete Verbot, die abhängige Gesellschaft ohne Rücksicht auf das Gesamtkonzerninteresse zu schädigen.¹⁷⁴ Rosendorff, Friedländer und Haußmann waren zu diesem Zeitpunkt – obwohl immer noch publizistisch aktiv – bestenfalls noch Zaungäste. Ihre Werke wurden nur noch vereinzelt „ohne Rücksicht auf die völkische Zugehörigkeit ihrer Verfasser“ als „überholt“ zitiert.¹⁷⁵ Das Konzernrecht als „selbst geschaffenes Recht der Wirtschaft, Recht der Kautelarjurisprudenz“¹⁷⁶ hatte keinen guten Klang mehr. Als defizitär sah man nun aber weniger das Konzernrecht als vielmehr dessen Juristen an. Der antisemitische Autor, der die Formel „Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“ geprägt hatte¹⁷⁷, bezeichnete die Kautelarjuristen als die „allzu willfährig“ den „Augenblicksinteressen und ‐wünschen“ der Unternehmer „dienenden Geschäftsjuristen, deren einziges Ziel ist, alle ihren Auftraggebern irgend unbequemen Regeln der staatlichen Rechtsordnung aus dem Wege zu räumen, welche [in der Universität] das staatliche Recht einst nur erlernt haben, um später dem staatlichen BGB. ein ebenso sauber gearbeitetes Anti-BGB. entgegensetzen zu können, für welche klare, wohlerwogene und weise Entscheidungen des

 Schubert, Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik (1926 – 1931), 1999, S. 14, 17, zur Beteiligung von Haußmann und Friedländer; näher zu den zentralen Themen der Reformdebatte Hommelhoff, aaO (Fn. 16), S. 13 ff.  Schubert, Ausschuß für Aktienrecht, in: Schubert/Schmid/Regge, Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. 1, 1986, S. 209 ff., 402 ff., 441 ff., 510 ff., 519 ff.; Friedländer, Konzernrecht unter Berücksichtigung der amerikanischen Praxis, 2. Aufl. 1954, S. 9 ff., 150 ff.  Rasch, Deutsches Konzernrecht, 1. Aufl. 1944, S. 331 (Vorbemerkung zum „Schrifttum“), dort S. 10 f.: „Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit und der lebhaften Diskussion über grundsätzliche Fragen des Aktienrechts, die die zwanziger Jahre brachten, wurden dann fast zu gleicher Zeit drei größere Monographien veröffentlicht [hier nannte Rasch die wichtigsten Werke von Friedländer, Haußmann und Rosendorff], sämtlich bezeichnenderweise von Berliner Anwälten mit großer Wirtschaftspraxis. Sie versuchten in verschiedener Weise, eine gewisse Systematik in die Fülle der Erscheinungen zu bringen, denen wir auf dem Gebiet des Konzernrechts begegnen. Heute [1944] müssen sie, auch im Hinblick auf die zwischenzeitliche Entwicklung des Steuerrechts, als überholt gelten.“  Rasch, aaO (Fn. 13), S. 33.  Großmann-Doerth, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht, 1933, S. 15 ff., daraus die folgenden Zitate. Zu antisemitischen Aussagen Großmann-Doerths Hollerbach, in: Blaurock/Goldschmidt/Hollerbach, Das selbstgeschaffene Recht der Wirtschaft. Zum Gedenken an Hans Großmann-Doerth (1894– 1944), 2005, S. 35 f. mit Fn. 64 f.

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obersten Gerichtshofs nichts als lästige Hemmungen sind, die man in skrupelloser Weise aus dem Wege zu räumen hat!“ Die „Geschäftsjuristen“ hätten „nicht geruht, bis sie [im Aktienrecht] das zwingende staatliche Recht mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatten. Wie stolz waren sie darauf, solche Instrumente wie die ‚Verschachtelung’ immer feiner und feiner auszubilden, bis es möglich war, die letzte Vorschrift des staatlichen Rechtes mit ihrer Hilfe ungestraft, weil heimlich, zu übertreten. Und was stellte sich dann heraus, als jene Zusammenbrüche der Großunternehmungen die deutsche Wirtschaft durch und durch erschütterten? Keiner dieser Zusammenbrüche wäre möglich gewesen ohne die Tochtergesellschaft, ohne die Verschachtelung, Vorhänge, von den Geschäftsjuristen als den Dienern des Tagesinteresses allzu geschäftig gewebt, hinter denen sich jahrelang die dunklen Dinge abspielen konnten, denen auf die Dauer kein Wirtschaftsorganismus gewachsen ist.“ Das staatliche Recht holte sich das verlorene Terrain von den „Geschäftsjuristen“ zurück. Die Domäne unserer Konzernanwälte, das Vertragskonzernrecht, wurde nach langer Reformdiskussion erst 1965 umfassend kodifiziert.¹⁷⁸ Spürbaren Anteil daran hatten sie nicht; den Ton gaben nun andere an.¹⁷⁹ Gesetzgebung war freilich methodisch nicht dasselbe wie Kautelarjurisprudenz.¹⁸⁰ Konzernrecht war auch nicht mehr die „Schwester des Kartellrechts“¹⁸¹, das seit 1957 Kartelle verbietet, während Konzerne erlaubt sind¹⁸². Als Kartellrecht und Konzernrecht im Bundesgesetzblatt getrennte Wege gingen, hatten Friedländer und Haußmann bereits ihre Alterswerke vorgelegt.¹⁸³

 Dettling, aaO (Fn. 2), S. 77, 218 ff., 276 ff.  Dettling, aaO (Fn. 2), S. 89 ff.  Fleischer, RabelsZ 82 (2018), 239, 264.  So die Formulierung von Friedländer, aaO (Fn. 105), S. 1.  Näher dazu Nörr, Die Leiden des Privatrechts. Kartelle in Deutschland von der Holzstiffkartellentscheidung zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 1994, S. 185 ff. Die Entwicklung wurde insbesondere begleitet von Haussmann, Die wirtschaftliche Konzentration an ihrer Schicksalswende. Grundlagen und Aufgaben einer künftigen Trust- und Kartellgestaltung, 1940; dems., Der Wandel des internationalen Kartellbegriffs. Amerikanische Kartelldoktrin und World Trade Charter, 1947; dems., Der Antitrustgedanke im Wirtschaftssystem. Zugleich ein Beitrag zu den europäischen Antitrust-Problemen, 1950; dems., Das Dilemma eines deutschen Antitrustgesetzes. Hindernisse und Lösungsmöglichkeiten, 1956. In der Emigration änderte Fritz Haußmann die Schreibweise seines Namens zu Frederick Haussmann.  Neben den in diesem Beitrag an anderer Stelle genannten Werken vor allem Friedländer/ Oser, Economic History of Modern Europe, 1953; Haussmann, Die öffentliche Hand in der Wirtschaft. Eine allgemeine Betrachtung unter Berücksichtigung der deutschen Wirtschaft, 1954; ders., Public Utilities und gemischtwirtschaftliche Unternehmungen in nationaler und internationaler Sicht, 1955.

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Jan Thiessen

Die hier exemplarisch behandelten drei Anwälte haben zum Rechtsbildungsprozess des Konzernrechts nach Kräften beigetragen. Sie waren für das deutsche Recht trotz ihrer Vertreibung nicht verloren, weil sie nicht verstummten. Friedländer kehrte nach 1945 sogar nach Deutschland zurück und praktizierte in Frankfurt.¹⁸⁴ Ebenso wie Max Hachenburg etablierten sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Berufsbild des deutschen Wirtschaftsanwalts, das auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Bestand hatte.¹⁸⁵ Erosionsprozesse sind freilich in unseren Tagen unübersehbar.¹⁸⁶ Können wir uns vorstellen, dass Friedländer, Haußmann und Rosendorff – oder Hachenburg – im Rahmen der steuerlichen Beratung ihren Mandanten ein Modell vorgeschlagen hätten, das die doppelte Erstattung einer Steuer vorsieht, die nur einmal erhoben wurde?¹⁸⁷ Haben wir jetzt auch eine Anwaltsdämmerung? Oder nur eine neue Konzerndämmerung? Haben wir wieder Weimarer Verhältnisse? Max Hachenburg warnte davor, allzu unreflektiert aus der Geschichte lernen zu wollen. „Man kann nicht schematisch geschichtliche Parallelen ziehen. Aber die Erinnerung an das, was war, lehrt uns das, was ist, verstehen und ertragen.“¹⁸⁸

 Dörinkel, NJW 1960, 25 f.  Pöllath, in: Deutscher Anwaltverein, aaO (Fn. 48), S. 899, 905; ders., in: Pöllath/Saenger, 200 Jahre Wirtschaftsanwälte in Deutschland, 2009, S. 7 ff.  HellwIg, Berufsrecht und Berufsehtik der Anwaltschaft in Deutschland und Europa, 2015, S. 241 ff.  Vgl. DER SPIEGEL 4/2020, S. 57 ff.  Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts, 1927, S. 25.

Julia Rebecca Kohler

Bericht über die Diskussion

In der Diskussionsrunde im Anschluss an die von Jan Thiessen gehaltene Hachenburg-Gedächtnisvorlesung wurden die von den Anwälten Heinrich Friedländer, Fritz Haußmann und Richard Rosendorff entwickelten Konzepte eines Konzernrechts insbesondere unter den Gesichtspunkten des Einflusses auf das heutige Konzernrecht und der Rolle des Gesetzgebers (dazu I.) sowie das Rechtsverständnis und die Praktikabilität (dazu II.) in Augenschein genommen.

I. Zunächst stellte ein Diskussionsteilnehmer die Frage, ob die Kodifikation des heutigen Konzernrechts von 1965 an die Theorien von Friedländer, Haußmann und Rosendorff angelehnt worden sei. Diesbezüglich wurde erwidert, dass es sich bei dem heutigen Konzernrecht im Grundsatz um einen Neuanfang handele. Die von Friedländer, Haußmann und Rosendorff entwickelten Vertragsmuster wurden bei der Kodifikation des heutigen Konzernrechts weitgehend beiseitegelassen. Dies lasse sich darauf zurückführen, dass es sich bei der Gesetzgebung um ein gänzlich anderes Umfeld handele als bei der Kautelarpraxis. So denken Anwälte bei dem Entwurf von Vertragsmuster typischerweise in erster Linie an die Interessen ihrer Mandanten, so auch Friedländer, Haußmann und Rosendorff. Der Gesetzgeber hingegen habe auch Minderheiten- und Gläubigerschutz zu berücksichtigen. Ferner seien die handelnden Personen andere gewesen. Allerdings wurde auf die Vorüberlegungen, wo die Probleme konkret liegen, zurückgegriffen. Auch blieben die Folgen der Konzepte, namentlich die einschlägige Rechtsprechung von Reichsgericht und Reichsfinanzhof, als Anknüpfungspunkt erhalten. Ein anderer Diskutant dachte darüber nach, welche Rolle der Gesetzgeber bei der Kodifikation des Konzernrechts damals wie heute spielte. Interessant sei, wie der Gesetzgeber beispielsweise damit umgegangen ist, dass im Rahmen des unlauteren Wettbewerbs der Beauftragte auch eine Konzerntochter sein könne. Zudem wurde gefragt, wie sich das 1937 kodifizierte Schädigungsverbot praktisch ausgewirkt habe. Entgegnet wurde dieser Frage, dass es sich um eine ebenso interessante wie schwierige handele. Man müsse sich überlegen, welche Reaktionsmöglichkeiten der Gesetzgeber üblicherweise habe. Würde er alle denkbaren Fälle regeln, auch solche, die in der Praxis völlig unproblematisch seien, hätte er viel zu tun. Daher https://doi.org/10.1515/9783110698077-003

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Julia Rebecca Kohler

handele es sich bei Gesetzen oft um die punktuelle Reaktion auf Missbrauchsfälle. Die Kartellverordnung wurde beispielsweise erlassen, nachdem bestimmte nachteilige Folgen der damals an sich zulässigen Kartelle erkannt wurden. Das Aktiengesetz von 1937 hatte gegenläufige Tendenzen: Auf der einen Seite habe die Angst bestanden, dass die Aktiengesellschaft unter politischem Druck abgeschafft werde, dem man mit der Kodifikation entgegen wirken wollte; auf der anderen Seite habe die Weltwirtschaftskrise dazu geführt, dass man gerade den Konzernen sehr kritisch gegenüber stand. Die Praxis des Schädigungsverbots lohne eine nähere Untersuchung. Mutmaßlich habe aber bereits die bloße Existenz der Norm den gewünschten Effekt gehabt, wie es Justizstaatssekretär Franz Schlegelberger seinerzeit für die Gemeinwohlbindung des Vorstands prophezeit hatte. Daran anknüpfend wurde der Blick auf die Geltung von Generalklauseln gelenkt. Fraglich sei, ob es so verfehlt war, Generalklauseln zu nutzen und zu konkretisieren. Warum habe man 1965 nicht mehr der generalklauselartigen Erfassung von Konzernproblemen vertraut und statt dessen das Konzernrecht umfassend reguliert? Angemerkt wurde, dass es sich bei der verbreiteten Anwendung der Generalklauseln im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts um eine Reaktion auf wirtschaftliche Veränderungen handele. Ursprünglich waren Generalklauseln ein neuer Schritt für das Bürgerliche Gesetzbuch. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seien die Richter zunehmend selbstbewusst gewesen; die Gesetzgebung hingegen zögerlich im Hinblick auf solche Rechtsgebiete, die durch eine fließende Entwicklung gekennzeichnet waren. Vor diesem Hintergrund wurden Generalklauseln zunächst als positives Vehikel angesehen, die der Gesetzgeber der Verantwortung der Richter anvertraute. In der NS-Zeit wurden diese dann jedoch vielfach missbraucht. Dass die als Juden verfolgten Anwälte Friedländer, Haußmann und Rosendorff die Generalklauseln im Konzernrecht hochgehalten hätten, sei deshalb besonders tragisch, da die Generalklauseln schließlich gerade als Instrument der antisemitischen Entrechtung verwandt wurden. Unabhängig von solchem Missbrauch erfolge häufig eine stärkere Regulierung von Materien, mit denen die Praxis – auch unter Anwendung von Generalklauseln – hinreichend Erfahrungen gesammelt habe.

II. Angesprochen wurde auch das den Konzepten von Friedländer, Haußmann und Rosendorff zugrunde gelegte Rechtsverständnis. Ein Diskutant befasste sich mit der Vertragsfreiheit, die Grundlage jeder Gestaltung war und ist. Diese stehe nicht

Bericht über die Diskussion

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im Gesetz, sondern werde vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz abgeleitet, sodass sich die Frage stelle, auf welcher Basis früher aufgebaut wurde. Betont wurde, dass die Vertragsfreiheit vorausgesetzt wurde. Eine gesetzliche Grundlage habe man nicht gebraucht. Dennoch habe man die Vertragsfreiheit hochgeschätzt und als bewahrungswürdig angesehen. Gerade Anwälte seien von Berufs wegen auf die Vertragsfreiheit angewiesen. Ein anderer Diskussionsteilnehmer merkte an, dass offenbar die Gleichberechtigung der Vertragspartner bei den damaligen Vereinbarungen im Vordergrund gestanden habe. Fraglich sei, ob es auch schon damals den Vertrag als Beherrschungsmodell gab. In der vorgestellten Literatur überwiege zwar der Eindruck, dass die Interessengemeinschaft vorherrschend war. Die Vertragspartner hätten sich einen entsprechenden Ausgleich beispielsweise im Rahmen der Gewinnverteilung versprochen. Im Angesicht von Beherrschungssituationen wurden aber auch PoolVerträge geschlossen, mit denen man die Stimmrechte gegen den Großaktionär gebündelt habe. Ergänzend wurde die Diskussion auf das Verständnis der juristischen Person gelenkt. Fraglich sei, ob es sich hierbei um ein anthropomorphes Verständnis handele. Diesbezüglich wurde erwidert, dass die Rechtsprechung die gesetzgeberische Entscheidung respektiert habe, die juristische Person der natürlichen Person gleichzustellen. So blieb das Reichsgericht bei der These der Selbständigkeit der einzelnen juristischen Personen auch im Konzern. In der Literatur hingegen sei dieses Verständnis von allen Seiten kritisiert worden: Es komme nicht auf das Institut der juristischen Person an sich an, sondern darauf, wie man dieses in den einzelnen Rechtsgebieten ausgestalte. Ein Diskutant erkundigte sich ferner, was die juristischen Fragen und Kernstreitigkeiten waren, mit denen sich Friedländer, Hausmann und Rosendorff auseinandergesetzt haben. Juristische Fragen hätten eine große Rolle gespielt; diese seien allerdings nicht im Ausgangspunkt als Konflikt verstanden worden, wie dies bei Gerichtsstreitigkeiten der Fall sei. Konflikte seien selbstverständlich Hintergrund der juristischen Fragen gewesen. Bei Friedländer, Hausmann und Rosendorff als Vertragsanwälten sei dies aber nicht allzu deutlich geworden, da Verträge in einem Zeitpunkt geschlossen werden, zu dem Einverständnis zwischen den Parteien besteht. Als Vertragsanwälte hätten sie im Falle eines Konflikts üblicherweise eine neue vertragliche Vereinbarung, insbesondere Vergleiche geschlossen, oder sie hätten mittels einer Schiedsklausel Vorsorge getroffen, auch als Schiedsrichter oder Schiedsgutachter fungiert. Problematisch sei insbesondere gewesen, dass durch Konzernverträge den Leitungs- oder Aufsichtsorganen einer Konzernge-

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sellschaft Befugnisse eingeräumt wurden, die nach dem Gesetz den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer anderen Konzerngesellschaft zustanden. Hier hätten die Anwälte versucht, durch schuldrechtliche Verträge Konstruktionen zu schaffen, die von den Gerichten nicht beanstandet wurden. Wie praxisnah die Konzernrechtsbücher von Friedländer, Hausmann und Rosendorff gestaltet waren, war eine weitere Frage, da die Methode doch sehr abstrakt wirke. Repliziert wurde darauf, dass es sich um dezidiert praktische Bücher handele. Aufgenommen worden seien Vertragsmuster, die oftmals echten Verträgen entsprachen. Vor diesem Hintergrund könne man sich aus heutiger Sicht die Frage nach der Beachtung von Datenschutz und Verschwiegenheitspflicht stellen, aber es seien wohl Fälle gewesen, die ohnehin öffentlich diskutiert wurden. Interessant sei auch, weshalb Friedländer, Hausmann und Rosendorff ihre Vertragsmuster überhaupt veröffentlichten. Als Anwälte könne man diese ja auch mit guten Gründen für sich behalten. Allerdings seien Friedländer, Hausmann und Rosendorff „verhinderte Rechtsprofessoren“ gewesen, denen an einer wissenschaftlichen Verbreitung und Diskussion ihrer Thesen gelegen war. Ein anderer Diskutant wies auf die internationalen Zusammenhänge hin, die früher wie heute bestanden haben müssen. Diesbezüglich wurde angemerkt, dass in den Monographien von Friedländer, Hausmann und Rosendorff sehr umfassend auch von internationalen Zusammenhängen die Rede sei. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sei bereits eine starke internationale Verflechtung zu beobachten gewesen, die von den Anwälten adressiert wurde. Insbesondere sei es möglich gewesen, Verträge grenzüberschreitend zu gestalten. Eine extrem starke Globalisierung sei um 1900 mit Höhepunkt in den 1920er Jahren erkennbar gewesen. Zu diesem Zeitpunkt seien in vielen Ländern gesetzgeberische Reformprojekte angestoßen worden, die von den Anwälten berücksichtigt wurden.

Rolf Uwe Fülbier* und Joachim Gassen**

Kosten und Nutzen des faktischen Konzerns

Zusammenfassung: Der faktische Konzern als bedeutende Organisationsform wirtschaftlichen Handelns steht im Spannungsfeld zwischen effizienter rechtlicher Separation und Ausbeutungsrisiken. Der Beitrag charakterisiert den Konzern als hybride Organisationsform zwischen Markt und Hierarchie und untersucht dessen Verteilungswirkungen auf Basis einer ökonomischen Kosten- und Nutzenanalyse. Aufbauend hierauf werden Durchbrechungen der Haftungsseparation analysiert und eine Stärkung der Organisationstransparenz als alternative Strategie zur Sicherung des gesellschaftlichen Nutzens faktischer Konzerne diskutiert. Abstract: Business groups are paramount. Their organizational design has to balance the efficiency gains from delegated decision rights with the potential societal costs of rent extraction. We characterize business groups as hybrid organizations located between markets and hierarchies and use cost-benefit analysis to study their distributional effects. Based on this we discuss the effects of piercing the corporate veil and suggest increasing organizational transparency as an alternative mechanism to strengthen the societal benefit of business groups.

Inhaltsübersicht I. II. III. IV. V.

 Einführung Wirtschaftstheoretische Einordnung des Konzerns als hybride Organisationsform Versuch einer Kosten-Nutzen-Analyse des faktischen Konzerns  Schutzmechanismen und höhere Organisationstransparenz  Zusammenfassende Thesen 



I. Einführung Seit Jahrzehnten sind Konzerne als Organisationsform wirtschaftlichen Handelns empirische Realität. Gerade für deutsche Aktiengesellschaften, insbesondere in * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Rechnungslegung an der Universität Bayreuth. ** Der Autor ist Professor für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung an der Humboldt-Universität zu Berlin. https://doi.org/10.1515/9783110698077-004

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der börsennotierten Variante, ist der hohe Grad der Konzernierung bereits vor Jahren aufgezeigt worden¹. Dabei scheint die aktienrechtliche Variante des faktischen Konzerns dominant². Auf Basis aktueller, rechtsform- und länderübergreifender Daten kann zudem die große wirtschaftliche Bedeutung der Konzerne belegt werden. Für das Jahr 2015 werden in Tab. 1 Unternehmensdaten 13 europäischer Staaten aufgezeigt, die Hunderttausende europäische Unternehmen (nicht konzernierte Einzelunternehmen und Konzernmuttergesellschaften) abbilden. Es zeigt sich, dass, auch wenn ein Großteil der Unternehmungen als Einzelunternehmen organisiert ist, der Anteil der Konzerne sowohl bei den Beschäftigten als auch bei der Bilanzsumme dominiert. Dies macht deutlich, dass der Großteil der privatwirtschaftlichen Wertschöpfung in Europa von Konzernen erbracht wird. Auch wenn unklar ist, wie die Konzerne in Tab. 1 rechtlich organisiert sind, ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl von ihnen als faktische Konzerne ausgestaltet sind. Faktische Konzerne sind durch eine grundsätzliche Haftungsseparation gekennzeichnet. In jüngster Zeit mehren sich indes die Durchbrechungen dieser Haftungsseparation³. Vor diesem Hintergrund erscheint fraglich, was die Vor- und Nachteile eines faktischen Konzerns sind, wie sich mögliche Durchbrechungen der Haftungsseparation auf diese auswirken und welche alternativen Mechanismen zur Stärkung der Organisationsform des faktischen Konzerns denkbar erscheinen. Das Ziel dieses Beitrags ist es, aus ökonomischer Sicht Denkanstöße zu diesen Diskussionspunkten zu liefern. Tab. 1: Wirtschaftliche Bedeutung von Konzernen in Europa Land Belgien Dänemark Deutschland Finnland

Anzahl der Unternehmungen im Sample . . . .

Anteil der Anteil der Konzerne Anteil der Konzerne an Konzerne an Bilanzsumme den Beschäftigten , % , % , % , %

, % , % , % , %

, % , % , % , %

 Vgl. z. B. Ordelheide, BFuP 1986, S. 293 ff.; Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, 1994, S. 120 f.; Prantl, Konzernbildung, Konzernrecht und Minderheitenschutz in Deutschland, 1994, S. 32 ff. Zur internationalen Geschichte und Evidenz der Business Groups u. a. Jones/Colpan, in: Colpan/Hikino/Lincoln, The Oxford Handbook of Business Groups, 2010, S. 67 ff. Zur juristischen Sicht der „Unternehmensgruppe als Normalfall“ vgl. z. B. Windbichler, in: Albach, Konzernmanagement (VHB Jahrestagung 2000), 2001, S. 60 ff.  Vgl. Prantl, Konzernbildung, Konzernrecht und Minderheitenschutz in Deutschland, 1994, S. 32.  Vgl. stellvertretend Hommelhoff, ZGR 2019, 379 ff.

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Tab. : Wirtschaftliche Bedeutung von Konzernen in Europa (Fortsetzung) Land Frankreich Griechenland Irland Italien Niederlande Polen Schweden Spanien Vereinigtes Königreich

Anzahl der Unternehmungen im Sample . . . . . . . . .

Anteil der Anteil der Konzerne Anteil der Konzerne an Konzerne an Bilanzsumme den Beschäftigten , % , % , % , % , % , % , % , % , %

, % , % , % , % , % , % , % , % , %

, % , % , % , % , % , % , % , % , %

(Daten des Jahres 2015 der Amadeus Datenbank von Bureau van Dijk. Einbezogen sind aktive Muttergesellschaften und Einzelunternehmen, die nicht Teil eines Konzerns sind. Bilanzsummen und Beschäftigtenzahlen basieren auf Konzernabschlüssen für Muttergesellschaften und Jahresabschlüssen für Einzelunternehmen. Unternehmen des finanziellen Sektors wurden eliminiert, um Doppelzählungen der Bilanzsummen zu vermeiden.)

Hierfür gilt es, zunächst die Organisationsform Konzern ökonomisch einzuordnen und hinsichtlich ihrer aktienrechtlichen Ausgestaltung zu differenzieren⁴. Anschließend werden die Kosten und Nutzen einer Konzernorganisation vergleichend analysiert. In einem Konzern schließen sich verschiedene Beteiligte (Vertragspartner) zusammen, um bestimmte ökonomische Vorteile (Nutzen) zu generieren. Die ökonomischen Wirkungen für die Vertragspartner sind allerdings nicht nur vorteilhaft. Nachteile (Kosten) sind ebenso denkbar. Die empirische Evidenz und evolutorische Stabilität des Konzernphänomens lässt vermuten, dass die Konzernorganisation für eine Vielzahl von Unternehmungen insgesamt vorteilhaft ist. Um dies besser zu verstehen, wird anschließend diskutiert, wie sich die Kosten und Nutzen auf die Beteiligten verteilen und welche Verteilungswirkungen Durchbrechungen der Haftungsseparation induzieren.

 Die aktienrechtliche Ausgestaltung des Konzerns ist nur eine der möglichen Differenzierungen des Konzerns. So ließen sich Konzernorganisationen z. B. auch nach Art der Einflussnahme, Rechtsform des Mutterunternehmens, Aufbauorganisation und Holdingkonzept, Größe, geographischer Ausdehnung, Eigentümerstruktur oder Inanspruchnahme der Kapitalmärkte differenzieren.Vgl. zu diesen Differenzierungen ausführlicher Theisen, Der Konzern, 2. Aufl., S. 1 ff., 62 ff., 127 ff. Für die internationale Perspektive Colpan/Hikino/Lincoln (Hrsg.), The Oxford Handbook of Business Groups, 2010.

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Ausgehend von diesen Ergebnissen wird zum Schluss des Beitrags eruiert, inwiefern eine Erhöhung der Organisationstransparenz eine Alternative zur Durchbrechung der Haftungsseparation darstellen könnte. Auch hierfür wird die Auswirkung von Organisationstransparenz auf die Kosten und Nutzen der Beteiligten skizziert. Als Ergebnis der ökonomischen Analyse ist festzuhalten, dass eine kluge Steuerung der Organisationstransparenz im Sinne der Etablierung eines „transparent corporate veil“ den gesellschaftlichen Nutzen des Konzerns stärken kann.Wir hoffen, mit dieser Analyse zur interdisziplinären Diskussion des Konzerns und seiner gesellschaftlichen Funktion beizutragen. Dies wiederum dürfte die rechtspolitische Debatte über die Legitimierung des (faktischen) Konzerns⁵ bereichern.

II. Wirtschaftstheoretische Einordnung des Konzerns als hybride Organisationsform Um die Organisationsform eines Konzerns ökonomisch greifen zu können, bedarf es eines wirtschaftstheoretischen Instrumentariums. Lange Zeit hat die Wirtschaftstheorie ein solches Instrumentarium nicht zur Verfügung gestellt. In der Klassik, d. h. im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, konzentrierte sich die ökonomische Analyse sehr stark auf den Markt- und Preismechanismus zur Lösung des volkswirtschaftlichen Allokations- und Koordinationsproblems⁶. Das änderte sich auch nicht in der bis heute einflussreichen Neoklassik, die in ihrer stärker quantitativ ausgerichteten Marginalanalyse auf Märkte im Gleichgewicht zielt, die für viele Optimierungsaufgaben die geeignete und letztlich einzig tiefergehend betrachtete Organisationsform darstellen. Im Vordergrund stehen hier regelmäßig zwei Marktakteure (Institutionen), nämlich Haushalte und Unternehmen, die unter den jeweiligen Modellbedingungen ihre Nutzen- bzw. Gewinnfunktionen optimieren⁷. Die oft auf Produktionsfunktionen reduzierten Unternehmen sind dabei selbst nicht tiefergehender Gegenstand der Analyse. So fehlte es lange Zeit an einer Erklärung, warum es Unternehmen überhaupt gibt oder warum sie eine bestimmte Größe erreichen. Der Konzern als bestimmte

 Vgl. jüngst wieder Hommelhoff, ZGR 2019, 379 ff.  Vgl. stellvertretend Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776; Mill, Principles of Political Economy, 1848.  Vgl. insb. Jevons, The Theory of Political Economy, 1871; Marshall, Principles of Economics, 1890; Menger, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, 1871; Walras, Eléments d’économie politique pure, 1874.

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Verbindung verschiedener Unternehmen (wirtschaftliche Einheit mit rechtlicher Separierung⁸) stand erst recht außerhalb der Analyse. Im 20. Jahrhundert ist das idealtypische Annahmegerüst der Neoklassik zunehmend erweitert und realitätsnäher gestaltet worden. Zusammen mit der Hinwendung zum methodologischen Individualismus⁹ fokussierte die Wirtschaftstheorie stärker auf Individuen mit ihren jeweiligen Präferenzen und Beschränkungen. Schon die Aufgabe der Annahme vollkommener Information ließ den Markt- und Preismechanismus nur noch friktionsbehaftet funktionieren (z. B. durch Informationssuchkosten unvollkommen informierter Marktteilnehmer). In seinem Frühwerk zur Transaktionskostentheorie und Neuen Institutionenökonomik hat Coase 1937 die vorher ausgeblendeten Friktionen am Markt („costs of using the price mechanism“) zum ersten Mal als Erklärung für die Existenz eines Unternehmens angeführt. Unternehmen rückten damit selbst als Organisationsform in den Mittelpunkt der Analyse, da sich Individuen dort kostengünstiger organisieren können, zumindest solange die unternehmensinternen Organisationkosten geringer ausfallen als die Marktfriktionen, die man später Transaktionskosten genannt hat¹⁰. Der eher binäre Institutionenvergleich zwischen Markt und Unternehmung ist gegen Ende des 20. Jahrhundert sehr viel stärker ausdifferenziert worden. Nach Williamson sind es die Spezifika einer Transaktion (Faktorspezifität, Häufigkeit) und die Verhaltensannahmen der beteiligten Individuen (begrenzte Rationalität, Opportunismus), die zusammen mit der Frage der Unsicherheit in den Rahmenbedingungen (Rechtssicherheit, etc.) alternative Organisationsformen effizient erscheinen lassen¹¹. Eine Organisationsform ist in diesem Sinne effizient, wenn sie Güter und Dienstleistungen zu geringeren Transaktionskosten bereitstellt als alle anderen Organisationsformen. Markt und Hierarchie (Unternehmen) haben weiterhin Existenzberechtigung: Während Märkte für Transaktionen mit niedriger Faktorspezifität, also für Standardprodukte, effizient bleiben, eignen sich Hierarchien besser für hochspezifische Transaktionen (z. B. spezielle Zulieferprodukte, Spezialmaschinen oder auch sehr spezifisches Knowhow), vor allem bei häufiger Durchführung der Transaktion und unsicheren Rahmenbedingungen. Zwischen diesen beiden Polen werden auch hybride Organisationsformen als

 Vgl. hierzu und den vielen Definitionen des Konzerns in der Literatur m.w.N. Theisen, Der Konzern, 2. Aufl., 2000, S. 15 ff.  Vgl. insb. Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 1908, I. Teil, Kap. VI.  Vgl. Coase, Economica 1937, 386, 390, 395.  Vgl. Williamson, Markets and Hierarchies, 1975; ders., The Economic Institutions of Capitalism, 1985; ders., Administrative Science Quarterly 1991, 269 ff.

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effizient angesehen, vor allem wenn es um Transaktionen mit mittlerer Faktorspezifität bei mittlerer Unsicherheit geht¹². Abb. 1 visualisiert diesen Zusammenhang. Wenn die Faktorspezifität niedrig ist, führt die marktwirtschaftliche Koordination zu den niedrigsten Transaktionskosten. Steigt die Faktorspezifität, so werden ab einem gewissen Umfang hybride Organisationsformen vorteilhaft. Bei hoher Faktorspezifität erscheint lediglich die hierarchische Organisation noch effizient.

Abb. 1: Hybride Organisationsformen zwischen Markt und Hierarchie (Quelle i.A.an Williamson, Administrative Science Quarterly 1991, 284 f.; Ménard, Journal of Institutional and Theoretical Economics 2004, 369)

Der Konzern ist Ausdruck einer hybriden Organisationsform. Er hat keinen klaren hierarchischen Aufbau mit strikter Weisungsbefugnis, aber er ist auch noch kein Markt mit Transaktionen zwischen unabhängigen Partnern. Stattdessen verbindet er hierarchische Mechanismen, wie zum Beispiel Entscheidungen über Eigentümerabstimmungen mit marktwirtschaftlicher Koordination wie der Möglichkeit zur Eigentumsübertragung auf dem Sekundärmarkt. Auch ist er nicht die einzig denkbare Hybridform, weil andere Varianten wie strategische Allianzen,

 Vgl. Williamson, Administrative Science Quarterly 1991, 280 ff.; dazu u. a. auch Ménard, Journal of Institutional and Theoretical Economics 2004, 345 ff.; Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 54 f. Die vergleichsweise niedrigere wirtschaftliche Bedeutung der Konzerne in südeuropäischen Ländern (Tab. 1) könnte eventuell über die höhere Unsicherheit in den meist süd-/osteuropäischen Ländern z. B. in der Rechtsdurchsetzung begründet werden, so dass spezifische Transaktionen dort eher in Hierarchien organisiert werden.

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Kartelle, Joint Ventures o. ä. zwischen Markt und Unternehmen ebenfalls denkbar sind und effizient sein können. Zudem ist er selbst keineswegs homogen organisiert. Die aktienrechtlichen Konzernformen sind in Abb. 1 aufgetragen und deuten die Vielfalt dieser Organisationsform an, die mit weiterer Differenzierung z. B. nach Art der Aufbauorganisation und des Managementkonzepts (z. B. Finanzholding versus Geschäftsführungsholding) ergänzt werden könnte¹³. Deutlich wird jedoch auch in Abb. 1, dass der Vertragskonzern vor allem in seiner Sonderform des Eingliederungskonzerns wegen seiner hierarchischen Weisungsbefugnisse schon recht nahe an der Hierarchie liegt, während der faktische Konzern demgegenüber marktnäher ausgestaltet ist.Vor diesem Hintergrund ist es auch ökonomisch korrekt, dass die Durchbrechung oder gar Aufhebung der Haftungsseparation den faktischen Konzern näher an die Hierarchie (an das Einheitsunternehmen) heranrückt¹⁴. Während die Transaktionskostentheorie auf den Institutionen- bzw. Organisationsvergleich abstellt, werden organisationsinterne Effizienzanalysen indes stärker von der Agency- und Vertragstheorie aufgegriffen¹⁵. Auch hier sind Organisationen dann effizient, wenn sie möglichst geringe Transaktionskosten verursachten. Die Transaktionskosten werden nun präzisiert als „agency costs“, also als Kosten der Vertragsbeziehung. Die Analyse fokussiert somit auf Vertragsund Auftragsbeziehungen der Beteiligten untereinander, die auch den Konzern in seinen unterschiedlichen Ausgestaltungen prägen. Die klassische Auftragsbeziehung zwischen dem weisungsabhängigen, aber besser informierten Agenten und dem Prinzipal ist auf viele Verträge in einem Konzern anwendbar (z. B. Eigentümer-Management, Fremdkapitalgeber-Management, Management in Mutter- und Tochterunternehmen). Vor- und nachvertragliche Probleme induzieren Vertragskosten. Ihre Analyse ermöglicht die Entwicklung von privatvertraglichen und gesetzlichen Mechanismen, die effiziente Organisationsformen ermöglichen. Im Folgenden wird dieses Instrumentarium konzeptionell angewandt, um die aktuellen Diskussionen um den faktischen Konzern besser zu verstehen.  Vgl. Theisen, Der Konzern, 2. Aufl., S. 153 ff.; zu den Integrationsunterschieden in Business Groups als hybriden Organisationsformen auch Kali, Journal of Interdisciplinary Economics 2013, 147 ff.  Vgl. bereits Ordelheide, BFuP 1986, 300; jüngst wieder Hommelhoff, ZGR 2019, 380.  Vgl. grundlegend u. a. Jensen/Meckling, Journal of Financial Economics 1976, 305 ff. (überarbeitet in dies., in Jensen, A Theory of the Firm, 2000, S. 83 ff.); Grossman/Hart, Econometrica 1983, 7 ff.; dies., Journal of Political Economy 1986, 691 ff. Obwohl die moderne Organisationstheorie stark institutionenökonomisch verankert ist, bedient sie sich auch anderer wirtschaftstheoretischer Ansätze wie z. B. die Evolutorik oder ist sogar interdisziplinär ausgerichtet mit soziologischen, verhaltenswissenschaftlichen oder linguistischen Theorieansätzen; vgl. zu dieser hier ausgeblendeten Breite z. B. Kieser/Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien, 8. Aufl., 2019.

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III. Versuch einer Kosten-Nutzen-Analyse des faktischen Konzerns Eine ökonomische Analyse der Kosten und Nutzen des faktischen Konzerns dient der Identifikation von allgemeinen Wirkungsmustern. Dies dient dem generellen Verständnis, ermöglicht aber keine kategorische Aussage über die Vorteilhaftigkeit der Organisationsform an sich. Jeder Konzern ist speziell. Ob eine bestimmte Organisation besser als Konzern oder in einer anderen Form geführt wird, hängt vom Einzelfall ab. Für die Entwicklung von kluger Regulierung ist es indes nötig, vom Einzelfall zu abstrahieren und generelle Aussagen zu treffen. Dementsprechend wird im Folgenden die Nettovorteilhaftigkeit des faktischen Konzerns systematisch analysiert. Da Nutzen und Kosten immer personenspezifisch sind, wird für die Betrachtung zwischen konzerninternen und konzernexternen Beteiligten differenziert. Konzernintern sind hierbei die Gesellschaften und ihre Vertreter sowie die kontrollierenden Eigentümer der Mutter. Konzernextern sind alle anderen Beteiligten wie sonstige Mitarbeiter des Konzerns, Kreditgeber, Minderheitsgesellschafter, Kunden, Lieferanten, der Staat und auch die allgemeine Öffentlichkeit. Aus Sicht der konzerninternen Akteure liegt der wesentliche Nutzen des faktischen Konzernes darin, dass Entscheidungen an die organisatorischen Einheiten delegiert werden können, welche über die spezifische Information und Kompetenz für die Entscheidungen verfügen. Zum Beispiel kann eine lokale Vertriebsgesellschaft kompetenter über Absatzmaßnahmen vor Ort entscheiden als eine Muttergesellschaft auf einem anderen Kontinent. Allgemein können haftungsseparierte Tochtergesellschaften helfen, untergeordnete Managementebenen stärker in die Verantwortung zu nehmen und in eine stärkere, gesellschaftsrechtlich abgesicherte Governance-Struktur einzubinden, gegebenenfalls kombiniert mit der Kontrolle durch außenstehende Minderheitsgesellschafter¹⁶. Des Weiteren reduziert die Haftungsseparation innerhalb des faktischen Konzerns die Unterinvestitionsprobleme einer Gesellschaft durch Auslagerung von Investitionen in eine separierte Tochtergesellschaft. Diese Auslagerung kann z. B. helfen, eine tendenziell risikoaverse Unternehmensleitung zu Mehrinvestitionen im Sinne der Anteilseigner zu verleiten, genauso wie durch die bessere Zuordnung und Trennung der Ansprüche Eigner-Gläubiger- und Alteigner-Neueigner-Konflikte (bei

 Vgl. Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 59 ff., 111 ff. m.w.N.; Schildbach, Der Konzernabschluss nach HGB, IFRS und US-GAAP, 7. Aufl., 2008, S. 7 ff.

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Kapitalerhöhungen) gemildert werden können¹⁷. Während diese Beispiele die Vorteilhaftigkeit eines faktischen Konzerns gegenüber einem hierarchisch strukturierten, globalen Einzelunternehmen verdeutlichen, gibt es auch Vorteile gegenüber einer denkbaren Marktlösung. So kann der Konzernverbund spezifische Vermögensgegenstände, wie z. B. einen Markennamen oder Produktwissen, effizienter und dauerhafter zur Verfügung stellen als der Markt¹⁸. Dem konzerninternen Nutzen stehen hier allerdings auch Kosten gegenüber. Zunächst bedingt die gesellschaftsrechtliche Komplexität des Konzerns direkte Organisations- und Administrationskosten, z. B. duplizierte gesellschaftsrechtliche Kosten, Kosten für erweiterte Rechnungslegungs-, Publizitäts- und Prüfungspflichten und daraus resultierende Verhaltensänderungen anderer Vertragsparteien. Des Weiteren entstehen durch die Delegation von Entscheidungen Vertragskosten im vertragstheoretischen Sinn, da die Akteure innerhalb des Konzerns zu einem effizienten Verhalten angereizt werden müssen. Des Weiteren werden durch faktische Konzernierung auch neue Agency-Konflikte geschaffen. So haben unter Umständen die (kontrollierenden) Anteilseigner der Muttergesellschaft durch die Konzernierung Nachteile hinsichtlich ihrer Vermögens-, aber auch Herrschafts- und Informationsrechte zu befürchten, insbesondere wenn es der Konzernleitung gelingt, Vermögenswerte in Tochtergesellschaften zu verlagern¹⁹. Aus Sicht der konzernexternen Vertragspartner besteht zunächst die Möglichkeit, dass sie anteilig an dem oben geschilderten Effizienzgewinn des Konzerns partizipieren, z. B. durch höhere Gewinnausschüttungen, geringeres Kreditrisiko, höhere Löhne oder bessere und billigere Produkte und Dienstleistungen. Ob und inwieweit dies der Fall sein wird, hängt aber ganz wesentlich von der Marktmacht des betrachteten Konzerns ab.Verfügt er über eine starke Marktposition, so besteht die Möglichkeit, dass ein Großteil der Effizienzvorteile des Konzerns bei den konzerninternen Beteiligten verbleibt. Die potentiellen Kosten der Konzernierung aus Sicht von konzernexternen Beteiligten resultieren im Wesentlichen aus möglichen Vermögensverlagerungen. Die Minderheitsgesellschafter sind ein typisches Beispiel einer „ausbeutungsof-

 Vgl. Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 74 ff. m.w.N., insb. Myers/Majluf, Journal of Financial Economics 1984, 187 ff.; Nanda, Journal of Finance 1991, 1717 ff.  Vgl. hierzu und zu weiteren Vorteilen der Konzernbildung gegenüber dem Markt ausführlicher u. a. Prantl, Konzernbildung, Konzernrecht und Minderheitenschutz in Deutschland, 1994, S. 38 ff.; Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 53 ff.; Schildbach, Der Konzernabschluss nach HGB, IFRS und US-GAAP, 7. Aufl., 2008, S. 7 ff.  Vgl. Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, 1994, S. 46 ff.

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fenen“ Gruppe²⁰, die ebenso wie andere Vertragsparteien der Mutter- und vor allem auch der Tochtergesellschaften von Vermögensverlagerungen in andere Gesellschaften betroffen sein können²¹. Der Ausbeutungseffekt der Vermögensverlagerung wirkt vor allem in Verbindung mit der Haftungsseparation, die vertragliche Ansprüche auf die kontrahierende Gesellschaft reduziert und gegen andere Konzerngesellschaften begrenzt. Denkbar sind sogar Leidtragende ohne explizite Vertragsbeziehung, die z. B. als Anwohner der Produktionsstätte einer Tochtergesellschaft unter den Umweltbelastungen leiden, ohne Mitspracherechte oder einen Kompensationsanspruch auf das Vermögen anderer Konzerngesellschaften zu haben. Die Gefahr der Vermögensverlagerung wird bei rationalen Marktteilnehmern dazu führen, dass sie nicht oder nur zu für sie besseren Konditionen bereit sind, mit dem Konzern und seinen Gesellschaften zu kontrahieren. Dieses Phänomen wird in der Ökonomie als „Negativauslese“ bezeichnet. Es führt auf Seiten der konzerninternen Beteiligten wiederum zu Kosten, da diese dann entweder mit suboptimalen Vertragspartnern kontrahieren oder die höheren Kosten tragen müssen. Zusammengefasst wird deutlich, dass faktische Konzerne einerseits erhebliche Nutzenpotentiale bieten, da sie effiziente hybride Organisationsformen ermöglichen. Andererseits können Vermögensverlagerungen dazu führen, dass diese Vorteile durch Negativauslese weitgehend wieder aufgezehrt werden. Aus verteilungspolitischer Sicht erscheint primär bedeutend, dass sich alle betroffenen Akteure, also Konzerngesellschaften, deren Organe sowie deren Vertragspartner, möglichst auf Augenhöhe begegnen, um zu verhindern, dass Marktmacht zu langfristig negativen Vermögensverlagerungen führt. Eine Aufweichung der Haftungsseparation führt konzeptionell dazu, dass der faktische Konzern hierarchischer wird. Dies bedingt einerseits, dass die oben diskutierten Effizienzvorteile des faktischen Konzerns gegenüber Hierarchien leiden. Es wird schwerer, Organisationen zu strukturieren, die von wesentlichen internen Informationsasymmetrien geprägt oder die in einem riskanten Investitionsumfeld tätig sind. Andererseits reduziert eine Durchbrechung der Haftungsseparation die inhärenten Ausbeutungsrisiken des faktischen Konzerns und die damit verbundene Negativauslese. Zusammengefasst steht zu befürchten, dass eine Durchbrechung der Haftungsseparation tendenziell die gesellschaftli-

 Vgl. hierzu insb. Prantl, Konzernbildung, Konzernrecht und Minderheitenschutz in Deutschland, 1994, S. 65 ff. Den Begriff der Ausbeutungsoffenheit benutzt Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 147.  Vgl.; Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 132 ff.

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che Wertschöpfung vor allem in riskanten, investitionsintensiven und dynamischen Wirtschaftsbereichen negativ beeinflussen könnte. In diesem Zusammenhang erscheint auch die gegenwärtig hohe Dynamik in der Organisation wirtschaftlichen Handelns bedeutend. Während der Konzern in seinen aktienrechtlichen Ausprägungen eher „klassisch“ anmutet, können innerhalb oder neben den Konzernen neue, „agile“ Organisationsformen zwischen Markt und Unternehmen beobachtet werden, die letztlich ähnliche, wenn auch deutlich verstärkte Kosten-Nutzen-Wirkungen entfalten. Zweckgesellschaften (Special Purpose Entities), Plattformgeschäftsmodelle oder „Open Collaboration“ Modelle gehen in einem schnelllebigen wirtschaftlichen Umfeld zwar mit hohem Nutzen, aber auch hohen Kosten, d. h. Ausbeutungspotenzialen, einher. Während Vermögensverlagerungsrisiken bei Zweckgesellschaften über die gewollte Intransparenz gesellschaftsrechtlicher Zusammenhänge geradezu typisch sind, scheinen neue Geschäftsmodelle in ihren extremen Wirkungen lediglich weniger offensichtlich. Wenn sich aber Unternehmen nur noch als Plattform für die Kontaktanbahnung von Angebot und Nachfrage verstehen und unternehmerische Verantwortung nicht immer sichtbar auf viele kleine Anbieter delegieren²², wenn Unternehmen der „Gig Economy“ Arbeitnehmerpositionen ebenfalls nicht immer transparent in Richtung selbst haftender Entrepreneure ausgestalten²³ und durch „Open Collaboration“ entwickelte F&E-Projekte der Öffentlichkeit und anderen Produzenten unter weitgehendem Haftungsausschluss zur Verfügung stehen²⁴, erscheint das Ausbeutungsrisiko nach Zahl der Betroffenen und Höhe der Kosten unter Umständen immens. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur hinsichtlich faktischer Konzernstrukturen, sondern auch mit ihnen möglicherweise einhergehender neuerer, „agiler“ Geschäfts- und Organisationsmodelle zu fragen, wie man drohender Vermögensverlagerungen wirkungsvoll(er) begegnen kann, um die Effizienzvorteile hybrider Organisationformen wie der faktischen Konzerne auch künftig realisieren zu können.²⁵

 Vgl. beispielhaft den Fall Oberdorf versus Amazon, Busch, EuCML 2019, 173 f.  Vgl. hierzu das Vorgehen von Essenslieferdiensten, Degner/Kocher, KJ 2018, 247 ff.  Vgl. z. B. Jaeger/Metzger, Open Souce Software: Rechtliche Rahmenbedingungen der Freien Software, 5. Aufl., 2020.  Vor diesem Hintergrund erscheint auch fraglich, wie die „wirtschaftliche Einheit Unternehmen“ zukünftig in anderen Rechtsbereichen, wie z. B. dem Wettbewerbsrecht zu definieren sein wird. Vgl. hierzu den Beitrag von Schweitzer/Woeste in diesem Heft.

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IV. Schutzmechanismen und höhere Organisationstransparenz Wie im Vorabschnitt herausgearbeitet wurde, bedrohen Vermögensverlagerungen innerhalb des Konzerns bzw. zwischen konzerninternen und konzernexternen Vertragspartnern das Effizienzpotential des faktischen Konzerns. Allerdings sind diese Verlagerungen und die aus ihnen resultierenden Kosten keineswegs zwingend. In erster Linie werden die betroffenen Vertragspartner wohl selbst versuchen, Vermögensverlagerungen zu vermeiden und hierfür einzelvertragliche Schutzmechanismen anzustreben. Diese Mechanismen sind allerdings an Voraussetzungen gebunden, die realiter nicht immer vorliegen²⁶. Zum einen müssen die Betroffenen ihre Kosten-Nutzen-Situation und damit die Ausbeutungsrisiken kennen. Zum anderen bedarf es einer Vertragsposition „auf Augenhöhe“, um Schutzmechanismen überhaupt erst bilateral aushandeln zu können. Umgekehrt formuliert, im Falle von Informationsnachteilen und/oder geringerer Marktmacht fehlt es den Betroffenen an Selbstschutzmöglichkeiten. Offensichtlich fehlt es auch an einzelvertraglichem Schutz, wenn die Betroffenen noch nicht einmal in einer Vertragsbeziehung stehen, wie z. B. die von Umweltbelangen betroffene Öffentlichkeit. Der ökonomischen Regulierungstheorie folgend, wäre an dieser Stelle ein mögliches Einfallstor für gesetzlich regulierte Schutzmechanismen denkbar²⁷. Die gesellschaftsübergreifende Haftungsdurchbrechung im faktischen Konzern dürfte hierbei zumindest als latente Drohung in Gesetz und Rechtsprechung eine gewisse Rolle spielen. Um dem marktwirtschaftlichen Primat privatvertraglicher Lösungen stärker Rechnung zu tragen, sollten aber die regulatorischen Maßnahmen im Vordergrund stehen, die erst einmal die privaten Selbstschutzmöglichkeiten der Vertragsparteien stärken. Neben Maßnahmen zur Verbesserung der Verhandlungsposition, wie z. B. verbesserte Klagerechte, dürften hier insbesondere Informationspflichten eine wesentliche Rolle spielen. Schließlich ist es ja eine wesentliche Voraussetzung für die Selbstschutzmöglichkeit, die eigene Kosten-Nutzen-Situation aufgrund entsprechender Informationen einschätzen zu können. Auch wenn private Anreize existieren, konzernexternen Vertragsparteien

 Vgl. zur privatvertraglichen Governance in Hybridstrukturen z. B. Ménard, Journal of Institutional and Theoretical Economics 2004, 360 ff., 365 ff.; zur Beurteilung der Selbstschutzmöglichkeiten diverser Vertragsparteien im Konzern vgl. Schenk, Konzernbildung, Interessenkonflikte und ökonomische Effizienz, 1997, S. 147 ff.  Vgl. zur normativen Rechtfertigung staatlicher Regulierungseingriffe im Überblick z. B. Fülbier, WiSt 1999, 468, 469 ff.

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des Konzerns diese Informationen zur Verfügung zu stellen, z. B. um die schon erwähnte Negativauslese zu unterbinden, dürfte hier wahrscheinlich noch Raum für gesetzliche Publizitätspflichten sein²⁸ – auch vor dem Hintergrund, dass freiwillige Publizitätsanreize regelmäßig nach Vertragsabschluss schwächer werden. Das Ziel dieser Informationspflichten läge in einer verbesserten Organisationstransparenz. Organisationstransparenz bedeutet, dass interne und externe Organisationsbeteiligte über die Auswirkungen der Organisationsstruktur auf ihre vertragliche Position informiert sind und somit ihre Kosten-Nutzen-Situation und die damit einhergehenden Ausbeutungsrisiken einschätzen können. Hierfür bedarf es zum einen der Informationen über den Konzern als wirtschaftliche Einheit, an dem alle Vertragsparteien ökonomisch partizipieren können. Zum anderen bedarf es der Informationen über die Gesellschaft, mit der rechtstechnisch eine Vertragsbeziehung besteht. Zum dritten sind Informationen über die Rechtsverhältnisse im Konzern vonnöten, die insbesondere auch über die anderen Konzerngesellschaften, über konzerninterne Rechtsgeschäfte, Haftungsseparationen und Haftungsverbünde Auskunft geben²⁹. Teile dieser Informationspflichten sind bereits gegenwärtig Realität. So gibt es die Konzernrechnungslegung nach HGB oder IFRS, die über den Konzern³⁰ als solchen Auskunft gibt, als wäre er ein einheitliches Unternehmen („Fiktion der rechtlichen Einheit“³¹). Dies allein reicht allerdings nicht aus, um die „Disharmonie zwischen Konzernwirklichkeit (rechtliche Vielfalt) und Konzernrechnungslegung (Fiktion der rechtlichen Einheit)“³² transparent abzubilden. Ergänzende Informationen sind notwendig, über die kontrahierende Gesellschaft und über die Rechts- und Anspruchsverhältnisse im Konzern. Die existierende Einzelabschlusspublizität nach §§ 238 ff., 325 ff. HGB zielt zwar in die Richtung einer Information über die einzelne, kontrahierende Gesellschaft, ist aber an sich durch die Abbildung konzerninterner Geschäfte und entsprechender Vermögens- und Erfolgsverlagerungen verzerrt. Hier eine transparentere Sicht auf die einzelnen

 Vgl. bereits Kirchner, ZGR 1985, 214, 229, der sich fragt, ob „der Marktpartner das Haftungsrisiko einschätzen kann und es bei der Aushandlung der Vertragskonditionen entsprechend in Ansatz bringen kann“ und hier insb. das „Rechnungslegungsrecht“ in der Verantwortung sieht. Vgl. zu Innenwirkungen von Offenlegungspflichten (als Corporate Governance Device) auch Windbichler, in: Grundmann et al., Festschrift Klaus J. Hopt, 2010, S. 1505 ff.  Vgl. zu einem früheren Vorschlag zur Stärkung der Informations- und Kontrollrechte im Konzern bereits Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, 1994, S. 110 ff.  Hierbei soll nicht problematisiert werden, dass die Abgrenzung des (Voll‐)Konsolidierungskreises nach HGB oder IFRS nicht zwingend mit der aktienrechtlichen Konzernabgrenzung (und -definition) übereinstimmt.  Busse von Colbe/Ordelheide/Gebhardt/Pellens, Konzernabschlüsse, 9. Aufl., 2010, S. 38.  Pellens, Aktionärsschutz im Konzern, Wiesbaden 1994, S. 110.

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Gesellschaften zuzulassen, ist keineswegs trivial, bedarf es doch einer entsprechenden Zurechnung des Konzernvermögens und -erfolgs. Die jahrelange Diskussion zur EU-Gruppenbesteuerung (Common Consolidated Corporate Tax Base) zeigt die Schwierigkeit dieser Vermögens- und Erfolgslokalisation in einem Gebilde ökonomisch verflochtener und voneinander abhängiger Unternehmen auf ³³. Zudem fehlt es, abgesehen von partiellen Ausnahmen wie der Anteilsliste im Konzernanhang gem. § 313 Abs. 2 HGB oder dem Abhängigkeitsbericht gem. § 312 AktG, an vollumfänglichen Informationen über die konzerninternen Rechtsverhältnisse. Wie würde nun eine derart ausgestaltete Organisationstransparenz im faktischen Konzern wirken? Naheliegend ist erst einmal die Kostenzunahme auf konzerninterner Ebene durch direkte organisatorische Kosten der Informationsgenerierung, -offenlegung und -prüfung. Auch die indirekten organisatorischen Kosten insbesondere durch wettbewerbsinduzierte Nachteile der Mehr-Information (Proprietary Costs³⁴) dürften steigen. Demgegenüber steht, wie beabsichtigt, ein deutlich positiver Effekt bei den konzernexternen Vertragspartnern, die durch mehr Transparenz in die Lage versetzt werden, ihre Kosten durch Vermögensverlagerungen einzelvertraglich einzudämmen. Dies dürfte im Übrigen der Negativauslese entgegenwirken, so dass auch die konzerninternen Beteiligten profitieren, weil Transaktionen wieder häufiger und zu günstigeren Konditionen zustande kommen. Unklar verbleiben indes die Wirkungen auf der bisherigen Nutzenseite des faktischen Konzerns; hier scheinen positive und negative Effekte gleichermaßen denkbar. Fraglich ist vor allem, ob und wie der transaktionskosten- bzw. agencytheoretische Nutzen des faktischen Konzerns durch mehr (interne) Transparenz tangiert würde, schließlich ist doch die Integration in hybride oder hierarchische Organisationsformen eine Antwort auf (äußere) Unsicherheit. Durch mehr Organisationstransparenz könnte allerdings der durch die Konzernierung geschaffene Effizienzgewinn fairer unter den internen und externen Konzernbeteiligten aufgeteilt werden. Wie lässt sich nun vor diesem Hintergrund ein gesellschaftlich optimales Level von Organisationstransparenz für den Regulierer konzeptionell abschätzen? Hierfür erscheint zunächst bedeutend, dass Kosten und Nutzen der Organisationstransparenz über die Beteiligten ungleich verteilt sein dürften. Während konzernexterne Beteiligte von mehr Transparenz im Wesentlichen profitieren sollten, da Vermögensumverteilungsrisiken sinken und ihre Verhandlungsmacht auf Basis eines besseren Informationsstandes steigt, dürfte sich der Nettonutzen

 Vgl. dazu m.w.N. Fülbier, Konzernbesteuerung nach IFRS, 2006, S. 166 ff.  Vgl. grundlegend Verrecchia, Journal of Accounting and Economics 1983, 179 ff.

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Abb. 2: Ökonomische Wirkung der Organisationstransparenz im faktischen Konzern

von konzerninternen Beteiligten nicht stetig entwickeln. Ein typisierter, beispielhafter Verlauf dieser Funktionen ist in Abb. 2 dargestellt. Zur Vereinfachung der Visualisierung wird hierbei unterstellt, dass konzernexterne Beteiligte stets Nettokosten aus der Konzernorganisation haben, während konzerninterne Beteiligte stets einen Nettonutzen hieraus ziehen. Letzteres liegt in der Natur der Sache, denn ansonsten würden sie auf die Konzernbildung wohl verzichten. Die monoton fallende Kostenfunktion für konzernexterne Beteiligte visualisiert das oben skizzierte Argument, dass zunehmende Organisationstransparenz auf konzernexterner Seite das Vermögensverlagerungsproblem kontinuierlich reduziert. Es ist durchaus denkbar und auch realistisch, dass ab einem gewissen Transparenzniveau auch konzernexterne Beteiligte einen positiven Nutzen aus der Konzernorganisation ziehen. Konzernintern bewirkt die Organisationstransparenz erst einmal deutliche Nutzensteigerungen, insbesondere durch das Eindämmen der (externen und internen) Negativauslese sowie reduzierter Agency-Konflikte, ehe die direkten sowie indirekten organisatorischen Kosten diese Nutzenwirkungen zunehmend kompensieren. Sobald sich die Nettonutzen- und Nettokostenkurven der beteiligten Gruppen erstmalig schneiden und ein Gesamtvorteil entsteht, wird eine Konzernorganisation aus gesellschaftlicher Sicht, also aus Sicht des Regulierers, sinnvoll. Ob dies indes ohne Regulierung zu einer Konzernorganisation führt, ist unklar, denn hierfür müssten die konzerninternen

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Beteiligten die Kosten auf konzernexterner Seite kompensieren. Ein konzeptionelles gesellschaftliches Optimum ist gekennzeichnet durch diejenige Organisationstransparenz, welche die Differenz zwischen dem Nutzen der konzerninternen und den Kosten der konzernexternen Beteiligten maximiert, wo also der Abstand zwischen den beiden Kurven maximal wird. Ohne Regulierung wäre zu erwarten, dass die konzerninternen Beteiligten eine Organisationstransparenz anstreben, die für sie individuell rational ist, die also dem Maximum ihrer Kurve entspricht. Der gesellschaftliche Optimalbereich dürfte sich rechts davon befinden. Das Treffen des gesellschaftlichen Optimums dürfte indes für den Regulierer schwierig sein. Egal, ob er in diesem Bereich die Transparenz erhöht oder reduziert, eine Gruppe von Beteiligten wird stets opponieren. Abschließend soll erneut betont werden, dass das oben Gesagte nur konzeptionellen Charakter hat. So ist bereits die Konkretisierung der direkten organisatorischen Kosten der Transparenz schwierig, geschweige denn die Konkretisierung sämtlicher Kosten-Nutzenwirkungen. Zudem stehen die Organisationsvielfalt der faktischen Konzernierung und die dadurch heterogenen Kosten- und Nutzenverläufe dem Auffinden eines Gesamtoptimums entgegen. Insofern dienen die obigen Argumente lediglich der grundsätzlichen Beschreibung der Wirkungsweise der Organisationstransparenz und der Verdeutlichung des resultierenden Entscheidungsproblems für den Regulierer. Vielleicht zeigt aber die gegenwärtige Diskussion über Haftungsdurchbrechungen im faktischen Konzern, dass eine Steigerung der Organisationstransparenz noch sinnvoll sein könnte, wir uns also gegenwärtig eher links von dem Optimum befinden.

V. Zusammenfassende Thesen 1.

2.

3.

Konzerne sind hybride Organisationsformen zwischen Markt und Hierarchie, die unter bestimmten Voraussetzungen (insb. bei mittlerer Faktorspezifität und mittlerer Unsicherheit) transaktionskostengünstig, d. h. effizient sind. Konzerne, gerade auch faktische Konzerne, erfüllen einen ökonomischen Zweck. Ihre empirische Evidenz und ihre (weltweite) evolutorische Stabilität über mehr als 100 Jahre können hierfür als Indiz gewertet werden. Dies impliziert indes nicht, dass der faktische Konzern immer gesellschaftlich effizient ist. Die relative Vorteilhaftigkeit von Organisationsformen hängt immer auch vom Einzelfall ab. Konzeptionell stehen den erheblichen positiven Effizienzwirkungen faktischer Konzerne potenziell hohe Kosten insbesondere in Form von Vermögensverlagerungen gegenüber. Diese Kosten treffen insbesondere, aber nicht nur, konzernexterne Beteiligte. Vermögensverlagerungen zum Nachteil kon-

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zerninterner Anspruchsgruppen, z. B. der kontrollierenden Mehrheitsgesellschafter, sind ebenso denkbar wie konzerninterne Nachteile in Folge einer externen Negativauslese. 4. Eine Aufweichung der Haftungsseparation führt konzeptionell dazu, dass der faktische Konzern hierarchischer wird. Dies bedingt einerseits, dass Effizienzvorteile des faktischen Konzerns gegenüber Hierarchien leiden. Andererseits reduziert eine Durchbrechung der Haftungsseparation die inhärenten Ausbeutungsrisiken des faktischen Konzerns und die damit verbundene Negativauslese. 5. Neue, agile Organisationsformen scheinen den Nutzen von Konzernorganisationen noch zu erhöhen. Gleiches gilt aber auch für die Kosten in Form deutlich zunehmender Ausbeutungsrisiken. 6. Die Selbstschutzmöglichkeiten der betroffenen Vertragsparteien hängen von ihrer jeweiligen Verhandlungsmacht und Informationsausstattung ab. Für viele insbesondere konzernexterne Beteiligte lassen sich hier systematische Nachteile erwarten. Insofern gibt es hier ein Einfallstor für staatliche Regulierung zum Schutze potenziell benachteiligten Vertragsparteien, z. B. auch durch drohende Haftungsdurchbrechungen. 7. Um dem marktwirtschaftlichen Primat privatvertraglicher Lösungen Rechnung zu tragen, sollten aber vor allem die Selbstschutzmöglichkeiten der Vertragsparteien gestärkt werden. Dies bedingt insbesondere eine kluge Organisationstransparenz, also die Schaffung eines „transparent corporate veil“, um die Kosten-Nutzen-Situation und die damit einhergehenden Ausbeutungsrisiken der Vertragsparteien im faktischen Konzern besser zu verdeutlichen. 8. Teile dieser Organisationstransparenz sind bereits heute Realität. Einzel- und Konzernabschlüsse werden erstellt und offengelegt, ergänzt durch vereinzelte Rechtsverhältnis-Informationen wie dem Abhängigkeitsbericht bei Aktiengesellschaften. Ob der Status quo angesichts der gegenwärtig zu beobachtenden Haftungsdurchbrüche das regulatorische Optimum markiert, bleibt allerdings fraglich.

Andreas Engert*

Vom Schutzrecht zum schützenden Organisationsrecht Zusammenfassung: Der Beitrag betrachtet die gesellschaftsrechtliche Zulassung der Konzernbildung aus dem Blickwinkel der Organpflichten. Der Einfluss des herrschenden Unternehmens erzeugt einen Interessenkonflikt der Organwalter in der abhängigen Gesellschaft. Ein unternehmerisches Ermessen zur Unterordnung im Konzern wäre damit ausgeschlossen; der Interessenkonflikt muss normativ ausgeblendet werden, um eine Konzernöffnung zu ermöglichen. Im deutschen Konzernrecht ist diese Wertung nicht § 317 II AktG, sondern § 311 I, II AktG zu entnehmen. Das damit eingeräumte unternehmerische Ermessen wird durch das Verbot von (nicht ausgeglichenen) Nachteilen begrenzt. Dieses verlangt eine – gerichtlich voll überprüfbare – angemessene Wertaufteilung bei konzerninternen Transaktionen zwischen der abhängigen Gesellschaft und dem übrigen Konzern. Auf diese Weise unterbindet es Interessenkonflikte des herrschenden Unternehmens und erübrigt eine weitergehende inhaltliche Kontrolle der Konzernleitung. Abstract: The article investigates the formation of groups from the perspective of directors’ fiduciary duties. The influence of the controlling company creates a conflict of interest for the directors of the subsidiary. This would normally preclude directors from invoking the business judgment rule. If the law is to enable the formation of groups, it must abstract from the conflict of interest. German company law does so through § 311(1), (2) Stock Corporation Act, rather than § 317(2) Stock Corporation Act. The business judgment rule applies as long as the subsidiary is fully compensated for the cost of accomodating the parent’s interest. The law thus mandates a fair division of value in intra-group transactions between the subsidiary and other group entities, subject to full review by the courts. This requirement eliminates conflicts of interest on the part of the parent, thereby eliminating the need for a substantive review of business decisions made on behalf of the group.

* Der Autor ist Professor für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht und Grundlagen des Rechts an der Freien Universität Berlin. https://doi.org/10.1515/9783110698077-005

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Inhaltsübersicht  I. Einführung II. Ökonomische Funktionen des Konzerns  III. Konzernrecht als ermöglichendes Organisationsrecht: unternehmerisches Ermessen trotz Beherrschung  . Beherrschung als Interessenkonflikt der Organwalter  . Unternehmerisches Ermessen als Einfallstor der Konzernöffnung  IV. Konzernrecht als schützendes Organisationsrecht   . Schutzziel: Bindung an Konzerninteresse, nicht Kompensation a) Definition des Konzerninteresses  b) Begründung des Konzerninteresses als alleiniges Schutzziel  . Tatbestandliches Schutzkonzept  a) Pflicht zur Wahrung des Konzerninteresses?  b) Pflicht zu angemessener Wertaufteilung bei konzerninternen Transaktionen  . Kontrolle der Wertaufteilung  V. Thesen 

I. Einführung Die Rechtsordnung hat den Konzern nicht erdacht, sondern vorgefunden.¹ Das „Konzernproblem“ stellte sich damit zuerst als Irritation der gesellschaftsrechtlichen Ordnung dar. In der Nachkriegszeit wurde das Konzernrecht vor allem als Schutzrecht gegen Konzerngefahren verstanden.² Erst vergleichsweise spät erkannte man, dass die besondere Organisationsform des Konzerns über die Einhegung der Mehrheitsmacht hinaus dem Gesellschaftsrecht noch weitere, positive Aufgaben stellt.³ Rechtlich auszugestalten ist insbesondere die Rolle des herrschenden Unternehmens und seiner Organwalter. Aber auch die Einflussnahme auf die abhängige Gesellschaft muss überhaupt erst zugelassen werden.⁴ Diese ermöglichende Funktion des Konzernrechts steht seit einigen Jahren im Mittel-

 Vgl. Friedländer, Konzernrecht, 1927, S. 2 f. („In der Hauptsache hat sich aber die Rechtsbildung in der Praxis vollzogen. […] Die Rechtssätze passen nicht mehr auf Wirtschaftskörper dieses Formats.“); Haußmann, Grundlegung des Rechts der Unternehmenszusammenfassungen, 1926, S. 143 ff. (Bedeutung der Praxis und der Generalklauseln für das Konzernrecht).  Stellvertretend für diese Sichtweise vor dem Aktiengesetz 1965 Mestmäcker, Verwaltung, Konzerngewalt und Rechte der Aktionäre, 1958, S. 209 ff. Knappe Zusammenfassung der Entwicklung bei Renner, Bankkonzernrecht, 2019, S. 15 ff.  Häufig unter dem Stichwort eines Konzernverfassungsrechts, wegweisend insbesondere Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982; Schneider, BB 1981, 249; Timm, AG 1980, 172.  Bekanntlich war dies für den faktischen Aktienkonzern lange umstritten, dazu unten Fn. 23.

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punkt europäischer Reformüberlegungen:⁵ Erleichtert und gefördert werden soll die grenzüberschreitende Betätigung über Tochtergesellschaften in der jeweiligen Aufnahmerechtsordnung.⁶ Dazu sollen Geschäftsleiter eine haftungssichere Grundlage erhalten, um die Tochter im Interesse des Mutterkonzerns führen zu können.⁷ Diesem bekannten Bild des Konzernrechts sollen im Folgenden einige Pinselstriche hinzugefügt werden. Dazu wird die Dogmatik der organschaftlichen Pflichten herangezogen, die sich seit der ausdrücklichen Anerkennung des unternehmerischen Ermessens ausgebildet hat.⁸ Leitend für sie ist die Unterscheidung von Sorgfalts- und Treuepflichten, wobei das Vorliegen eines Interessenkonflikts die Trennlinie zwischen großzügigen Entscheidungsspielräumen im Bereich der unternehmerischen Sorgfalt einerseits und einer strengen Treuebindung andererseits markiert. Dieses geschärfte analytische Instrument soll im Folgenden genutzt werden, um das Konzernrecht als „schützendes Organisationsrecht“ zu rekonstruieren. Die organisationsrechtliche Seite hat dabei den sachlichen Vorrang; das Gesellschaftsrecht muss die Konzernbildung überhaupt erlauben. Einen konkretisierenden Ertrag für das geltende deutsche und das künftige europäische Recht liefert die Untersuchung vor allem für die Schutzaufgabe. Die Gliederung folgt dieser sachlichen Ordnung.Vorangestellt ist ein Blick auf die ökonomischen Funktionen des Konzerns, die das Bedürfnis nach rechtlicher Anerkennung dieser Organisationsform untermauern (Abschnitt II.). Die organisationsrechtliche Betrachtung ergibt, dass die organschaftlichen Treuepflichten der Verwaltungsmitglieder in der Untergesellschaft einer Konzernöffnung eigentlich entgegenstehen. Erst die Überwindung dieses Hindernisses ermöglicht gesellschaftsrechtlich den Konzern (Abschnitt III.). Ist eine Konzernlenkung zugelassen, verschiebt sich das Regelungsproblem von einem Interessenkonflikt auf Ebene der Tochter zu drohenden Fehlanreizen bei der Leitung des Konzernunternehmens. Der in Abschnitt IV. entworfene Regelungsansatz bewältigt diesen

 Ausdrücklich von „enabling law“ spricht Teichmann, AG 2013, 184, 189 ff.  Schön, ZGR 2019, 343, 349 ff.; Armour u. a. (Informal Company Law Expert Group), Report on the recognition of the interest of the group, 2016, S. 29 ff.  Insbesondere Böckli u. a. (European Company Law Experts), EBOR 18 (2017), 1, 14 ff.; Andersen u. a., European Model Companies Act (EMCA), First Edition, 2017, abrufbar unter https://ssrn.com/ abstract=2929348, Chapter 15, S. 369 ff.; Armour u. a. (Fn. 6), S. 40 ff. (allerdings beschränkt auf Tochtergesellschaften ohne Minderheit); Conac u. a. (Forum Europaeum on Company Groups), ZGR 2015, 507; Antunes u. a. (Reflection Group on the Future of EU Company Law), Report, 2011, S. 60 ff.  Der Einfluss des US-amerikanischen Rechts war dabei prägend. Hellsichtig dazu im konzernrechtlichen Zusammenhang bereits Mestmäcker (Fn. 2), S. 128 ff., 209 ff.

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Interessenkonflikt allein über eine Äquivalenzkontrolle bei Transaktionen zwischen der abhängigen Gesellschaft und dem übrigen Konzern. Abschnitt V. fasst die Ergebnisse in Thesen zusammen. Aus Platzgründen beschränkt sich der Beitrag auf den faktischen Aktienkonzern, bei dem der Interessenkonflikt in der abhängigen Gesellschaft und dann bei der Konzernleitung besonders deutlich hervortritt.

II. Ökonomische Funktionen des Konzerns Der Konzern wird oft als Hybrid bezeichnet: Er steht zwischen dem vertraglichen Austausch unter eigenständigen Marktteilnehmern und der Vollintegration in eine Unternehmensorganisation. Seine ökonomische Funktion ist daher in zweierlei Richtung zu begründen: Einerseits ist zu erklären, weshalb – und unter welchen Umständen – die zentralisierte Kontrolle wirtschaftlicher Aktivitäten dem Markt als Koordinationsmechanismus ökonomisch überlegen ist. Andererseits stellt sich die umgekehrte Frage, warum die Konzernintegration verschiedene Rechtsträger bestehen lässt und damit auf halber Strecke stehen bleibt. Das zweite Problem ist insoweit reizvoller, als es das Spezifikum des Konzerns gegenüber dem Einheitsunternehmen als naheliegender Alternative betrifft. Die Lösung dürfte in verschiedenen Gründen liegen: Unternehmen können sich auf verschiedene Rechtsträger aufteilen, um ihr Vermögen und ihre Haftung zu segmentieren; neben opportunistischen Motiven kann dies die Überwachung durch Kapitalgeber erleichtern.⁹ Darüber hinaus begünstigt die rechtliche Trennung von Unternehmensteilen dezentrale Anreizstrukturen.¹⁰ Ein dritter Zweck kann darin liegen, zusammengehörige Vermögensgegenstände und Rechtsverhältnisse für künftige, mögliche Veräußerungen zu bündeln.¹¹ Die Liste ließe sich verlängern, etwa um die Vorteile gesonderter Tochtergesellschaften in fremden Rechtsordnungen.¹² Der vorliegende Beitrag betrifft indes nicht so sehr den ökonomischen Sinn des Konzerns als Organisationsform überhaupt als vielmehr die Ein- und Unterordnung rechtlich selbständiger Gesellschaften in den Konzernverbund. Dies

 Dafür bereits R. Posner, U. Chi. L. Rev. 43 (1976), 499, 516 f. Skeptisches Resümee zu dieser Erklärung aber bei Hansmann/Squire, External and Internal Asset Partitioning, in Gordon/Ringe (Hrsg.), Oxford Handbook of Corporate Law and Governance, 2018, S. 251, 259 ff.  Dazu etwa Engert, Wozu Konzerne?, FS Baums, 2017, S. 385, 397 ff.  Hierfür Ayotte/Hansmann, Mich. L. Rev. 111 (2013), 715.  Oben Fn. 6.

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rührt an die zuerst gestellte Frage nach den Vorteilen unternehmerischer Integration im Vergleich zum Markt. Auf Coase geht insoweit die grundsätzliche Einsicht zurück, dass verschiedene Kooperationsformen ihre je eigenen Transaktionskosten hervorrufen. Manche Austauschgelegenheiten lassen sich besser am Markt, andere innerhalb hierarchischer Organisationen wahrnehmen.¹³ Die Transaktionskosten des Marktes beruhen darauf, dass jede Partei nur den eigenen Vertragsgewinn, aber nicht den der Gegenseite berücksichtigt. Eine wichtige Konsequenz besteht darin, dass private (asymmetrische) Information mögliche Kooperationsgewinne verhindern oder schmälern kann. Trägt zum Beispiel ein Lieferant eine unverzichtbare Komponente zu dem Produkt eines Herstellers bei, so wird er als unabhängiges Unternehmen bei seiner Preispolitik die Auswirkungen auf den Gewinn des Herstellers nicht berücksichtigen; umgekehrt wird auch der Hersteller beim Preis des Endprodukts nicht in Rechnung stellen, dass ein niedrigerer Preis nicht nur seinen Absatz, sondern auch den des Lieferanten erhöhen könnte. Die daraus folgende unkoordinierte Preissetzung ist als „doppelte Marginalisierung“ bekannt. Sie verringert den Absatz und den Gesamtgewinn beider Unternehmen.¹⁴ Übt hingegen eines der Unternehmen beherrschenden Einfluss auf das andere aus, kann es sich Einblick in dessen Kosten verschaffen und die Preisgestaltung so steuern, dass der Gewinn des Gesamtkonzerns maximiert wird.¹⁵ Der Marktaustausch kann einer hierarchischen Organisation noch in einer weiteren Hinsicht unterlegen sein: Die erreichbaren Kooperationsgewinne hängen häufig davon ab, wie stark die Parteien in den Austausch gerade mit dem jeweiligen Kooperationspartner investieren. In dem eben skizzierten Beispiel von Lieferant und Hersteller müssen vermutlich beide Seiten ihre betrieblichen Abläufe und ihr jeweiliges Produkt auf die andere Seite einstellen. Derartige Spezialisierung erhöht den möglichen Kooperationsgewinn, verschlechtert aber zugleich die eigene Verhandlungsposition: Je mehr man sich auf den Geschäftspartner einrichtet, desto abhängiger wird man von ihm. Bei eigenständig handelnden Unternehmen verringert dies die Bereitschaft zu derartiger Spezialisierung. Demgegenüber kann ein Konzern die Spezialisierung der Tochter über das Maß dessen hinaustreiben, was ein unabhängig geführtes Unternehmen zulassen würde. Ein deutliches Beispiel ist die Zusammenführung unternehmerischer Kernfunktionen wie Personalwesen, Finanzierung oder Datenverarbeitung in zentralen Dienstleistungsgesellschaften des Konzerns.  Coase, Economica 4 (1937), 386, 390 ff. Vgl. Schön, ZGR 2019, 343, 351, 354 f.  Tirole, The Theory of Industrial Organization, 1988, S. 174 ff.; im Zusammenhang mit Konzernen bereits Engert, FS Baums, 2017, S. 385, 392 f.  Die niedrigeren Preise und höheren Mengen kommen auch den Kunden zugute.

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III. Konzernrecht als ermöglichendes Organisationsrecht: unternehmerisches Ermessen trotz Beherrschung Gesellschaftsrechtlich versteht es sich nicht von selbst, dass verschiedene Rechtsträger als Unternehmensverbund geführt werden können. Um die gesellschaftsrechtliche Zulassung einer Konzernierung zu würdigen, empfiehlt sich ein Blick gleichsam auf den gesellschaftsrechtlichen Naturzustand vor einer Konzernöffnung. Dies soll im Folgenden anhand der Organpflichten in der Untergesellschaft geschehen. Die zugehörige Dogmatik hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten wesentlich weiterentwickelt, indem das unternehmerische Ermessen der Organwalter einerseits anerkannt, andererseits von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht worden ist. Zunächst ist darzulegen, dass diese Struktur der Organpflichten eine Konzernierung nahezu ausschließt (Abschnitt 1.). Die gesellschaftsrechtliche Ermöglichung des Konzerns besteht darin, diese Ausgangslage zu überwinden (Abschnitt 2.).

1. Beherrschung als Interessenkonflikt der Organwalter Die Pflichten von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern verändern sich entscheidend, wenn der jeweilige Organwalter einem Interessenkonflikte ausgesetzt ist:¹⁶ Erstens erwächst die besondere Treuepflicht, den Interessenkonflikt zu neutralisieren oder zu mildern, indem der Organwalter ihn offengelegt und vielleicht sogar die Zustimmung eines anderen Organs – insbesondere des Aufsichtsrats – einholt.¹⁷ Potentiell einschneidender ist die zweite Folge eines Interessenkonflikts: Der Organwalter kann sich nicht mehr in den sicheren Hafen

 Versuch einer rechtsökonomischen Fundierung bei Engert, Private Macht im Gesellschaftsrecht: Die Macht der Verwaltung und ihre Kontrolle, in Möslein (Hrsg.), Private Macht, 2016, S. 381, 406 ff.  Fleischer, in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rn. 130a (Offenlegung); Hopt/Roth, in Großkommentar z. AktG¸ 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rn. 275 (Offenlegung), Rn. 276 (Einwilligungserfordernis analog § 88 AktG); Spindler, in Münchener Kommentar z. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rn. 125; Koch, Die Anwendung der Business Judgment Rule bei Interessenkonflikten innerhalb des Vorstands, FS Säcker, 2011, S. 403, 404; Kumpan, Der Interessenkonflikt im deutschen Privatrecht, 2014, S. 257 ff.; KG Berlin, AG 2005, 737. Siehe auch Nr. 4.3.3. Satz 1, 5.5.3. DCGK 2017 = E.1 Satz 1, E.2 DCGK 2020 (Offenlegung als Empfehlung i.S.d. § 161 I 1 AktG).

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des unternehmerischen Ermessen retten.¹⁸ Seine Entscheidung unterliegt der uneingeschränkten Prüfung, ob sie im Zeitpunkt der Vornahme der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters entsprach (§ 93 I 1 AktG).¹⁹ Angesichts der Unbestimmtheit der unternehmerischen Sorgfalt trifft dieser Verlust des Haftungsfreiraums den Organwalter hart. Ein Interessenkonflikt ist zu bejahen, wenn der Organwalter selbst oder eine ihm nahestehende Person ein erhebliches finanzielles Eigeninteresse hat und dieses dem Interesse der Gesellschaft zuwiderläuft.²⁰ Im Konzern kann sich ein Interessenkonflikt des Vorstands oder Aufsichtsrats aus einem Näheverhältnis zum herrschenden Unternehmen ergeben. Zu den Näheverhältnissen zählen familiär-persönliche oder geschäftliche Beziehungen von gewisser Dauerhaftigkeit, aufgrund derer ein Interessengleichlauf zu erwarten steht. Beispiele finden sich in § 89 III 1, IV 1 AktG, nämlich Ehegatten, Lebenspartner, minderjährige Kinder sowie Gesellschaften, deren Geschäftsleiter, Aufsichtsratsmitglied oder OHG-

 Die Freiheit von Interessenkonflikten hat der Gesetzgeber des § 93 I 2 AktG in das Merkmal gekleidet, ein Vorstandsmitglied müsse „vernünftigerweise annehmen [dürfen, …] zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“, BT-Drs. 15/5092, S. 11.  Koch, ZGR 2014, 697, 702 f. („erhöht[e …] gerichtliche Prüfdichte“); Kuntz, DB 2017, 37, 38 ff. (inhaltliche Prüfung mit Blick auf Unternehmenswohl); Lutter, Interessenkonflikte und Business Judgment Rule, FS Canaris, 2007, S. 245, 247 („im Haftungsprozeß voll nachzuprüfen“); Spindler (Fn. 17), § 93 AktG Rn. 47 („Begründungslast [verschiebt sich] in erheblichem Maße zulasten des Vorstandsmitglieds“); vgl. ferner BGH NJW 2017, 578, Rn. 31 (indizierte Pflichtverletzung, allerdings nicht bei Interessenkonflikt, sondern bei Verstoß gegen Informationsanforderungen des § 93 I 2 AktG); milder demgegenüber Harbarth, Unternehmerisches Ermessen des Vorstands im Interessenkonflikt, FS Hommelhoff, 2012, S. 323, 338 ff. (eingeschränktes Ermessen). Deutlich zu großzügig hingegen Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 799 („allenfalls marginal[er]“ Unterschied).  Zum „Besorgnis eines Interessenkonflikts“ in §§ 107 III 6, 111b II AktG nun RegE ARUG II, BTDrs. 19/9739, S. 76 f. („nach Ansicht eines verständigen, vernünftig und objektiv urteilenden Dritten […] bei einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls die begründete Besorgnis besteht, dass das Mitglied des Aufsichtsrats nicht in der Lage sein wird, die Abstimmung […] unbefangen, unparteiisch und unbeeinflusst von jeder Rücksichtnahme auf [die …] Interessen [des Geschäftspartners] wahrzunehmen“); dort S. 77 f. Erörterung möglicher Konstellationen. Ferner Lutter, Verhaltenspflichten von Organmitgliedern bei Interessenkonflikten, FS Priester, 2007, S. 417, 423 („Situation weiterer und einander objektiv entgegenstehender Interessen in der Person eines Organmitglieds einschließlich der ihm nahestehenden Personen und Unternehmen, von denen man bei objektiver Betrachtung nicht sicher sein kann, dass das betreffende Organmitglied dennoch und unbedingt allein die Interessen seiner Gesellschaft verfolgen wird.“). Rechtsvergleichendes Vorbild: American Law Institute, Principles of Corporate Governance, 1994, § 1.23 (unter anderem „material pecuniary interest in the transaction or conduct“ des Organmitglieds selbst oder einer Person, mit der es in geschäftlicher, finanzieller oder familiärer Beziehung steht, wenn vernünftigerweise zu erwarten ist, dass dadurch Entscheidungen des Organmitglieds zum Nachteil der Gesellschaft beeinflusst werden).

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oder KG-Gesellschafter der Organwalter ist. Jenseits dieser Fälle wird man unter Umständen bereits aus der Stellung als Organwalter einer abhängigen Gesellschaft ein Näheverhältnis zum herrschenden Unternehmen folgern. So dürfte der Geschäftsleiter einer Konzerngesellschaft zumeist nicht unbefangen im Bezug auf die Interessen der Muttergesellschaft sein.²¹ Darüber hinaus haben die Organwalter der abhängigen Gesellschaft in der Regel ein Eigeninteresse, sich dem herrschenden Unternehmen zu fügen. Karriereaussichten haben für Führungskräfte finanziell erhebliches Gewicht. Auch wenn Vorstandsmitglieder in der Aktiengesellschaft vergleichsweise schwer abzuberufen sind, lohnt es zumeist nicht, gegen den Willen des Mehrheitsgesellschafters im Amt bleiben zu wollen. Organwalter tun sich deshalb schwer, das Gesellschaftsinteresse gegen ein herrschendes Unternehmen entschieden zu verteidigen. Wäre es anders, bräuchte man sich um „Konzerngefahren“ nicht zu sorgen.²² Im Ergebnis ist am Vorliegen eines Interessenkonflikts bei Organwaltern der Untergesellschaft typischerweise nicht zu zweifeln.

2. Unternehmerisches Ermessen als Einfallstor der Konzernöffnung Soll eine Konzernierung einigermaßen reibungsfrei möglich sein, bedürfen die Organwalter der abhängigen Gesellschaft trotz des bestehenden Interessenkonflikts eines haftungsfreien Entscheidungsspielraums, wenn sie sich den Konzernbedürfnissen anpassen. Teleologisch lässt sich dies mit den oben skizzierten Vorteilen einer Konzernintegration begründen. Dieser ökonomischen Erkenntnis entspricht es, dass der Gesetzgeber der §§ 311 ff. AktG in seinen eigenen Worten „in Kauf genommen [hat], daß das herrschende Unternehmen […] auch außerhalb der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung auf die Geschäftsführung der abhän-

 Vgl. BGH NZG 2009, 1310, Rn. 5 (Stimmrechtsverbot nach § 47 IV GmbHG, wenn Verbotsgrund bei einem Anteilsinhaber des Gesellschafters mit maßgebendem Einfluss vorliegt); American Law Institute (Fn. 20), § 1.23, Comment (Konzern bei Feststellung eines Näheverhältnisses in der Regel als eine Person zu werten). Eine andere Frage ist, wie sich dies zur möglichen Unabhängigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds vom herrschenden Gesellschafter verhält, etwa im Sinne von Nr. 13.1 Empfehlung 2005/162/EG zu nicht geschäftsführenden Direktoren.Wenn diese Anforderung ihren Sinn behalten soll, darf sie nicht bereits durch die Beherrschung der Gesellschaft verletzt sein.  Dem entspricht der Interessenkonflikt von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern bei potentiell feindlichen Übernahmeangeboten, der juristisch mehr thematisiert worden ist, dazu etwa Holtkamp, Interessenkonflikte im Vorstand der Aktiengesellschaft, 2016, S. 270 („Bei lebensnaher Betrachtung […] keines der Vorstandsmitglieder unbefangen“); Mertens/Cahn, Kölner-Kommentar z. AktG, 3. Aufl. 2010, § 93 Rn. 26.

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gigen Gesellschaft einwirkt.“²³ Allerdings stand dem Gesetzgeber von 1965 die Bedeutung eines kontrollfreien unternehmerischen Ermessens noch ebenso wenig vor Augen wie dessen Vorbedingung, das Fehlen eines Interessenkonflikts. Die herrschende Meinung verschafft den Organwaltern den benötigten Freiraum mittels eines argumentativen Tricks: Als Pflichtenmaßstab für den Vorstand der Tochter wird das Handeln eines „ordentliche[n] und gewissenhafte[n] Geschäftsleiter[s] einer unabhängigen Gesellschaft“ herangezogen (§ 317 II AktG). Ein solcher hypothetischer Vorstand könnte sich bei geschäftlichen Entscheidungen auf das unternehmerische Ermessen des § 93 I 2 AktG stützen. Die herrschende Auffassung folgert daraus, dass auch die am Maßstab des § 317 II AktG zu prüfende Entscheidung des wirklichen Vorstands der abhängigen Gesellschaft in den Genuss dieses unternehmerischen Entscheidungsspielraums komme.²⁴ Die tatsächlich getroffenen Entscheidungen eines konfliktbelasteten Vorstandsmitglieds sollen zum Beleg dafür dienen, was ein nicht konfliktbelastetes Vorstandsmitglied entschieden hätte.²⁵ Das ist nicht nur offensichtlich ein Fehlschluss,²⁶ sondern widerspricht auch dem Wertungsgrund des unternehmerischen Ermessens in § 93 I 2 AktG: Von gerichtlicher Kontrolle befreit werden unternehmerische Entscheidungen, wenn

 RegE AktG 1965, BT-Drs. IV/171, S. 215. Zu §§ 311 ff. als Konzernöffnung BGH NZG 2008, 831, Rn. 17 (Züblin/Strabag) („grundsätzliche Konzernoffenheit der Aktiengesellschaft“); Altmeppen, in MünchKomm z. AktG, 5. Aufl. 2020, § 311 AktG Rn. 20; Habersack, Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 311 AktG Rn. 5, 8 m.w.N.; Koppensteiner, Kölner Kommentar z. AktG,Vor § 311 AktG Rn. 5; J. Vetter, K. Schmidt/Lutter AktG, 3. Aufl. 2015, § 311 AktG Rn. 6; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 272 ff. insbesondere S. 280 ff.; Mülbert, ZHR 163 (1999), 1, 23 f., 26 f. Zurückhaltend gegen eine gesetzliche Konzernöffnung noch Geßler, Leitungsmacht und Verantwortlichkeit im faktischen Konzern, FS H. Westermann, 1974, S. 145, 146 ff.; ablehnend Mestmäcker, Zur Systematik des Rechts der verbundenen Unternehmen im neuen Aktiengesetz, FS Kronstein, 1967, S. 129, 142 ff.; Bälz, Einheit und Vielheit im Konzern, FS Raiser, 1974, S. 287, 306 ff.  BGHZ 190, 7, Rn. 32 (Telekom Börsengang III); BGHZ 175, 365, Rn. 11 f. (UMTS-Auktion); BGHZ 141, 79, 89; ferner erwähnt in BGH NZG 2013, 233 Rn. 31 (T.O.I.); aus der Literatur: Habersack (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 53; Habersack, Geschäftschancen im Recht der verbundenen Unternehmen, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 421, 426 f.; Müller, in Spindler/Stilz AktG, 4. Aufl. 2019, § 311 AktG Rn. 31; J. Vetter (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 40a, 48; vorsichtiger Altmeppen (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 193 (Ermessen begrenzt durch besondere Verhaltenspflichten des Vorstands einer abhängigen Gesellschaft).  Ähnliche Ederle, AG 2010, 273, 277. Dass es sich eher um eine Setzung als eine Begründung handelt, klingt bei Befürworten durchaus an, etwa Habersack (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 53 („ungeachtet des nicht zu leugnenden Konzernkonflikts“); J. Vetter (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 40a („Entscheidung nicht frei von Sonderinteressen“).  Dieser ist allerdings in der Gesetzesbegründung angelegt, die den Verhaltensmaßstab des § 317 II AktG als Einfallstor für die Einwirkung des herrschenden Unternehmens beschreibt, RegE AktG 1965, BT-Drs. IV/171, S. 215.

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und weil sie unbefangen getroffen sind und darum eine ausreichende Richtigkeitsgewähr bieten. Die Voraussetzung der Unbefangenheit ist bei dem Vorstand einer abhängigen Gesellschaft aber nicht erfüllt. Nach dem Willen des herrschenden Unternehmens soll der Vorstand anders handeln, als er es ohne Berücksichtigung von dessen Sonderinteresse getan hätte.²⁷ Richtigerweise ist der Freiraum des Vorstands zur Unterordnung unmittelbar § 311 I, II AktG zu entnehmen. Die Möglichkeit, Nachteile zunächst zu veranlassen, um sie dann auszugleichen, dürfte zwar kaum praktische Bedeutung haben.²⁸ Die entscheidende Aussage der Norm liegt aber darin, dass der Vorstand überhaupt der Veranlassung des herrschenden Unternehmens folgen darf; entgegen § 317 II AktG braucht er sich nicht zu verhalten wie ein unbeeinflusster Vorstand.²⁹ Nach heutigem Stand der Organpflichtendogmatik bedeutet dies, dass er trotz des Interessenkonflikts aus der Beherrschung „annehmen durfte, […] zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ und das unternehmerische Ermessen des § 93 I 2 AktG genießt.³⁰ Zugestanden wird dieser Freiraum aber nur mit der Maßgabe des § 311 I AktG, dass der abhängigen Gesellschaft keine (nicht ausgeglichenen) Nachteile entstehen. Der Nachteilsbegriff begrenzt also das unternehmerische Ermessen. Die herrschende Auffassung verkehrt diesen Zusammenhang, indem sie den Nachteilsbegriff aus dem unternehmerischen Ermessen eines Vorstands bestimmen

 Die Beurteilung ändert sich nicht, wenn man beim Vergleich mit einer unabhängigen Gesellschaft nur die berufliche Abhängigkeit der Vorstandsmitglieder, nicht aber die wirtschaftliche Einbindung in den Konzernverbund ausblendet, dafür Altmeppen (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 191; J. Vetter (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 41; Koppensteiner (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 46 f. Im oben (Fn. 14 f.) angeführten Beispiel der doppelten Marginalisierung würde gerade die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit zu einer konzernschädlichen Preispolitik führen, wenn der Vorstand eigenständig agieren könnte; eine zentrale Konzernleitung soll dies verhindern.  Nachteile können in aller Regel leicht in dem fraglichen Rechtsgeschäft vermieden werden. Empirischer Anhaltspunkt für die geringe Bedeutung bei Ekkenga/Weinbrenner/Schütz, DK 2005, 261, 272 (zu durchgeführten Nachteilsausgleichen machten viele der befragten Berater keine Angaben, viele gaben an, dies sei in weniger als 25 % der beratenen Gesellschaften vorgekommen).  Hommelhoff (Fn. 3), S. 113 (Dispens von der Pflicht zu eigenverantwortlicher Leitung); Mülbert (Fn. 23), S. 280 f. (Modifizierung des Verbandszwecks hinsichtlich Unterstellung unter fremde Leitung). Mit § 317 II AktG wollte der Gesetzgeber vor allem eine Erfolgshaftung des herrschenden Unternehmens ausschließen, dazu RegE AktG 1965, BT-Drs. IV/171, S. 234 („Diese Einschränkung der Haftung beläßt für den […] faktischen Konzern Raum, in dem die Konzernleitung ausgeübt werden kann, ohne eine Haftung für fehlgeschlagene Geschäfte oder Maßnahmen auszulösen.“).  Vgl. Habersack (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 5 („§ 311 [akzeptiert] nicht nur den Interessenkonflikt in der Person des herrschenden Unternehmens […], sondern auch den bei den Organwaltern der abhängigen Gesellschaft anzutreffenden Interessenkonflikt“).

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will, der sich dem herrschenden Unternehmen unterordnet. Dieses würde so selbst über die Grenzen seines Einflusses disponieren. Das kann konstruktiv nicht richtig sein. Zuzugestehen ist der herrschenden Meinung nur, dass der Nachteilsbegriff einschränkend ausgelegt werden muss, um den von § 311 I, II AktG geschaffenen Spielraum zur Konzernierung nicht gleich wieder aufzugeben. Der richtige Weg dorthin führt über eine funktional-teleologische Deutung des Nachteilsbegriffs aus der Zielsetzung, Interessenkonflikte des herrschenden Unternehmens bei der Konzernleitung auszuschließen. Damit ist die Schutzaufgabe des Konzernrechts erreicht.

IV. Konzernrecht als schützendes Organisationsrecht Nachdem § 311 I, II AktG die abhängige Gesellschaft dem Einfluss des herrschenden Unternehmens geöffnet hat, muss das Konzernrecht dem Missbrauch dieser Machtstellung vorbauen. Da nun mittelbar die Mutter die unternehmerischen Entscheidungen trifft, darf ihr ein Ermessensspielraum nur zugestanden werden, soweit sie ihrerseits keinem Interessenkonflikt unterliegt. Die Übertragung dieser Pflichtenstruktur auf das herrschende Unternehmen hat zunächst zu klären, welche Interessen die Konzernführung wahrnehmen soll. Die Antwort liegt im Konzerninteresse als Gesamtwert des im Konzern zusammengefassten Unternehmens (Abschnitt 1.). Auf dieser Grundlage erklärt sich der konzernrechtliche Schutz und insbesondere der Nachteilsbegriff des § 311 I, II AktG als Instrument zum Ausschluss von Interessenkonflikten des herrschenden Unternehmens bei der Konzernleitung (Abschnitt 2.). Den Abschluss bilden Überlegungen zur Durchsetzung dieses Schutzkonzepts (Abschnitt 3.).

1. Schutzziel: Bindung an Konzerninteresse, nicht Kompensation a) Definition des Konzerninteresses Das Konzern- oder Gruppeninteresse ist ein vielgestaltiger Begriff.³¹ Will man es nicht mit dem Interesse der Konzernspitze in eins setzen und damit überflüssig  Die unterschiedlichen Begriffsverständnisse versammelt Hoffmann-Becking, Gibt es das Konzerninteresse?, FS Hommelhoff, 2012, S. 433, 434 ff.

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machen, muss man es als Aggregation der von der Konzernierung berührten Belange auffassen. Die Zusammenführung zu einem einheitlichen Interesse – einer „Zielfunktion“ – erfordert eine Gewichtung und wechselseitige Abwägung. Im Unternehmensrecht liegt dabei eine ökonomische Betrachtung nahe. Danach besteht das Konzerninteresse in der Summe der Werte aller konzernangehörigen Gesellschaften;³² gerichtet ist es auf die größtmögliche Steigerung dieser Wertsumme. Es ist ohne weiteres einzuräumen, dass diese Zielgröße nur schwer messbar ist. Das Konzerninteresse eignet sich daher nicht als rechtlicher Pflichtenmaßstab.³³ In der hier verwendeten ökonomischen Formulierung ist es aber zumindest begrifflich eindeutig bestimmt.³⁴ Damit liefert es einen Maßstab für konzernrechtliche Schutzregelungen: Diese lassen sich darauf überprüfen, ob sie das Konzerninteresse fördern, indem sie die Anreize der Konzernspitze auf die Maximierung des Gesamtwertes des Konzerns – im Gegensatz des Wertes nur einzelner Konzernglieder – ausrichten. Insofern taugt das Konzerninteresse zur Zielsetzung einer Schutzregelung, wenn auch nicht als deren Inhalt.

b) Begründung des Konzerninteresses als alleiniges Schutzziel Die Wahl des Konzerninteresses als Zielsetzung wäre leicht zu begründen, wenn Einbußen der einzelnen Konzernglieder stets voll ausgeglichen und diese vielleicht sogar an Wertsteigerungen beteiligt würden. In rechtsökonomischer Terminologie wäre von Pareto-Verbesserungen zu sprechen, bei denen ein oder mehrere Beteiligte Vorteile erreichen, während niemand schlechter steht als zuvor. § 311 I, II AktG scheint genau dies zu verheißen, indem er Nachteile der abhängigen Gesellschaft ausschließt. Da das herrschende Unternehmen für seine eigenen Interessen sorgen kann, scheint es allenfalls Gewinner, aber keine Verlierer zu geben. Indes verspräche § 311 AktG damit mehr, als er halten kann. Augenfällig wird dies an der strategischen Ausrichtung der abhängigen Gesellschaft. Ein selbständiges Unternehmen strebt danach, die eigenen Gewinnchancen am Markt zu maximieren. Es spezialisiert seine Investitionen möglichst wenig auf bestimmte

 Ebenso Schön, ZGR 2019, 343, 355 („konzernweite Wertmaximierung“, allerdings beschränkt auf Gesellschafter). Für Berücksichtigung nicht nur der Gesellschafter, sondern sämtlicher Unternehmensbeteiligter (Stakeholder) von Werder, DK 2015, 362, 363 ff.; im Unternehmensrecht allgemein Engert, Eine juristische Theorie des Unternehmens, FS Heldrich, 2005, S. 87, 91 ff.; hierfür  Unten IV.2.a). Insofern im Ergebnis wie Hoffmann-Becking (Fn. 31), S. 438 ff.  Zur ökonomischen Bewertung von Arbeitsplätzen als Beispiel Engert (Fn. 32), S. 105 ff.

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Geschäftspartner, um sich nicht ausbeutbar zu machen.³⁵ Umgekehrt versucht es, sich selbst von Wettbewerbern abzusetzen und damit seinerseits Spielräume zur Preissetzung zu erlangen. Seine Investitionen zielen auf Wettbewerbsvorsprünge in vielversprechenden Märkten, darunter auch erst entstehenden, künftigen Märkten. Diese strategische Eigenständigkeit und die damit verbundenen Gewinnchancen verliert die Gesellschaft, soweit sie sich einem Konzern unterordnet.³⁶ Wenn die §§ 311 ff. AktG die wirtschaftlichen Nachteile der Konzernierung vollständig erfassen und ausgleichen sollten, müssten sie die Vermögensentwicklung der abhängigen Gesellschaft mit der einer hypothetischen, unabhängig geführten Gesellschaft vergleichen. Ein solcher Vergleich über die Dauer der Konzernbindung müsste feststellen, welche Strategien ein unabhängig geführtes Unternehmen verfolgt hätte und wie sie sich ausgewirkt hätten; das ist nicht sinnvoll zu leisten.³⁷ Die Aufgabe des strategischen Eigeninteresses kann daher nicht im Konzernrecht, sondern nur einmalig im Rahmen eines Konzerneingangsschutzes – etwa im Übernahmerecht – kompensiert werden.³⁸ Ist die Gesellschaft erst einmal einheitlicher Leitung unterworfen, können die möglichen Verlierer – namentlich die Minderheit – nicht mehr umfassend entschädigt werden. Dann ist es weder erforderlich noch sinnvoll, den Ausgleich von Einbußen weiter als eigenständiges Regelungsziel zu führen. Der Nachteilsausgleich des § 311 AktG verkörpert daher kein eigenständiges Schutzziel, sondern ist eine Regelungstechnik, um die Bindung der Mutter an das Konzerninteresse sicherzustellen. Dies ist im Folgenden zu entfalten.

 In der Ermöglichung und Erzwingung stärkerer Spezialisierung liegt ein möglicher Vorteil der Integration in ein Unternehmen, dazu oben II.  Häufig wird formuliert, die abhängige Gesellschaft verliere ihren „Eigenwillen“, aber nicht ihr „Eigeninteresse“, Koppensteiner (Fn. 23), Vor § 311 AktG Rn. 6 m.w.N. Sofern man unternehmerisches Handeln nicht für wirtschaftlich unsinnig hält, liegt darin aber eine Einbuße.  Vgl. RegE AktG 1965, BT-Drs. IV/171, S. 229 f. (Abwägung „der Gesamtheit der Vor- und Nachteile aus dem Beherrschungsverhältnis“ als „uferlos[er]“ Maßstab, der Abschlussprüfer, Richter und Vorstand überfordern würde).  Mittelbar wird dies anerkannt, wenn es nicht als Nachteil i.S.d. § 311 AktG gewertet wird, dass der Vorstand der Untergesellschaft der wirtschaftlichen Abhängigkeit Rechnung trägt, die das herrschende Unternehmen selbst erzwungen hat, dazu oben Fn. 27.

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2. Tatbestandliches Schutzkonzept a) Pflicht zur Wahrung des Konzerninteresses? Wenn die konzernrechtlichen Regelungen das Konzerninteresse fördern sollen, läge es nahe, eben diesen Maßstab an das Verhalten von Vorstand und herrschendem Unternehmen anzulegen. In diese Richtung weisen manche Vorschläge auf europäischer Ebene, die auf ein Abwägungserfordernis zwischen den Belangen der Mutter und der Tochter hinauslaufen. So soll es nach der bekannten Rozenblum-Formel unter anderem darauf ankommen, ob eine unternehmerische Integration ein gemeinsames Interesse des Konzerns erkennbar werden lässt und die dafür erbrachten Opfer einzelner Gesellschaften zumindest langfristig ausgeglichen werden.³⁹ Ein Gericht müsste dazu die möglichen Folgen für alle Konzernteile und ihre jeweiligen Wahrscheinlichkeiten aus der Sicht der Entscheidungssituation rekonstruieren. Eine solche umfassende Beurteilung ist aufwendig und fehlerträchtig.⁴⁰ Je nach Haftungsfolgen kann sie unerwünschte Anreize setzen, etwa dazu, die Eingehung von Risiken oder die Ausübung von Leitungsmacht zu unterlassen. Das Gesellschaftsrecht vermeidet es zumeist, unternehmerisches Handeln einer gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen.⁴¹ Diese Zurückhaltung kann sich die Rechtsordnung freilich nur erlauben, wenn andere Anreizgründe genügend Gewähr für die Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen bieten. Bei einem drohenden Interessenkonflikt des herrschenden Unternehmens fällt diese Bedingung aus. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass sich derartige Interessenkonflikte hinreichend neutralisieren lassen, indem das Konzernrecht eine angemessene Wertaufteilung bei konzerninternen Transaktionen sicherstellt. Wenn dieser Nachweis gelingt, kann für die Konzernleitung im Übrigen unternehmerisches Ermessen gewährt werden.⁴²

 Conac, ECFR 2013, 194, 218; vgl. auch Conac u. a. (Forum Europaeum on Company Groups), ZGR 2015, 507, 512 f.; Drygala, AG 2013, 198, 204. Ähnlich § 15.16 EMCA (Fn. 7); der Kommentar formuliert dann aber die Erwartung: „judges usually do not tend to second-guess the business decisions of management, as long as the company has not filed for bankruptcy“.  Skeptisch zur Unbestimmtheit der europäischen Vorschläge Schön, ZGR 2019, 343, 367 f.; Teichmann, AG 2013, 184, 196. Zur ablehnenden Haltung des Gesetzgebers von 1965 bereits Fn. 37.  Zur rechtsökonomischen Begründung des unternehmerischen Ermessens Spamann, J. Legal Anal. 8 (2016), 337, 354 ff.; Engert/Goldlücke, Rev. L. & Econ. 13 (2017); Engert (Fn. 16), S. 400 ff.; im Kontext der Finanzkrise Engert, Why manager liability fails at controlling systemic risk, in Lomfeld/Somma/Zumbansen (Hrsg.), Reshaping Markets, 2016, S. 161, 174 ff.  Für unternehmerisches Ermessen als Mittel einer Konzernöffnung im europäischen Gesellschaftsrecht Teichmann, AG 2013, 184, 196 f.

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b) Pflicht zu angemessener Wertaufteilung bei konzerninternen Transaktionen Fragt man nach Interessenkonflikten bei der Konzernleitung, so steht zu Beginn ein beruhigender Befund: Allen „Konzerngefahren“ zum Trotz unterliegt das herrschende Unternehmen im Regelfall keinem Interessenkonflikt. Als Mehrheitsaktionär ist ihm mehr als jedem anderen Beteiligten daran gelegen, das Vermögen der abhängigen Gesellschaft zu mehren. Die hohe Beteiligung der Mutter bietet der Tochter zunächst einmal den Vorteil eines besonders aufmerksamen Eigentümers, der im Interesse auch seiner Mitgesellschafter handelt. Gemessen am Konzerninteresse liegt ein Interessenkonflikt des herrschenden Unternehmens nur vor, wenn Anreize für eine Minderung des konzernweiten Gesamtunternehmenswertes bestehen, zum Beispiel indem eine Maßnahme einer Konzerngesellschaft mehr schadet, als sie einer anderen nutzt. Die im Folgenden zu begründende These lautet, dass solche Interessenkonflikte stets in möglichen Wertverschiebungen aus dem Vermögen der abhängigen Gesellschaft wurzeln. Der konzernrechtliche Schutz kann sich deshalb auf konzerninterne Transaktionen und dabei auf die Wertaufteilung zwischen Mutter und Tochter beschränken. Rechtliche Anforderungen sind nur für Transaktionen der Tochter mit anderen Rechtsträgern im Konzern erforderlich, und auch insoweit nur für die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung, also die Preisgestaltung. In allen anderen Hinsichten sollte die Mutter frei schalten und walten können, namentlich im Bezug auf das Verhalten der Tochter gegenüber konzernexternen Geschäftspartnern, bei Investitionsentscheidungen sowie auch bei Art und Umfang der konzerninternen Transaktionen; allein deren Äquivalenz unterliegt der Kontrolle. Diese Konzeption konkretisiert den Nachteilsbegriff des § 311 I, II AktG: Nachteilig ist eine Maßnahme, wenn sie erstens als konzerninterne Transaktion einzustufen ist und dabei zweitens die Wertaufteilung zulasten der Tochter unangemessen ist. Im Weiteren ist zu begründen, dass eine so beschränkte Kontrolle Interessenkonflikte bei der Konzernleitung umfassend ausschließt; zugleich wird damit präzisiert, welche Anforderungen an eine angemessene Wertaufteilung zu stellen sind. Beleuchtet werden sollen zunächst Transaktionen (Abschnitt (1)) und sodann die Investitionspolitik der Tochter (Abschnitt (2)). Einen Grenzfall bildet die Verortung von Geschäftstätigkeiten im Konzern, insbesondere bei Geschäftsverlagerungen (Abschnitt (3)).

(1) Interessenkonflikte bei Transaktionen Hält die Mutter bzw. der Konzern nicht sämtliche Anteile an der Tochter, dann ist der Anreiz zur Wertsteigerung im Bezug auf die Tochter zwar schwächer als bei einem Einheitsunternehmen, er weist aber grundsätzlich in die richtige Richtung:

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Vorteile der Tochter liegen im Interesse der Mutter. Bei Transaktionen der Tochter mit Außenstehenden – ohne besondere Beziehung zur Mutter – kann es zu keinem Interessenkonflikt kommen, weil die Mutter an jedem Gewinn partizipiert, den die Tochter außerhalb des Konzerns erzielt. Problematisch sind konzerninterne Transaktionen. Mit einem anschaulichen Bild können sie als „Tunnel“ dienen,⁴³ durch den die Mutter Vermögenswerte in andere Konzernbereiche schafft. Hält die Mutter eine Beteiligung von 70 % an der Tochter, so ist ein Euro im Vermögen der Tochter für sie nur 70 Cent wert. Die Verschiebung des Euros in ihr eigenes Vermögen erbringt aus ihrer Sicht einen Gewinn von 30 Cent, ohne damit für den Konzern insgesamt einen Wertzuwachs zu erzielen. Zumeist kommt es sogar zu Wertverlusten, etwa weil der Transfer als Austauschgeschäft getarnt wird, das anderenfalls nicht oder anders getätigt worden wäre. Ökonomisch handelt es sich um einen Anwendungsfall der Regel, dass ein Kampf um vorhandene Werte – das Streben nach „Renten“ – fast immer mit Verlusten einhergeht.⁴⁴ Konzerninterne Transaktionen stehen somit im Verdacht, dem Werttransfer von der Tochter zur Mutter zu dienen. Statt nun aber im Konzerninteresse gebotene von missbräuchlichen Transaktionen unterscheiden zu wollen, bietet sich die Regelungstechnik eines „Dulde und liquidiere“ an;⁴⁵ rechtsökonomisch spricht man von einer „Haftungsregel“, die – im Gegensatz zu einer „Eigentumsregel“ – den einseitigen Zugriff auf ein fremdes Gut gegen Kompensation erlaubt.⁴⁶ Indem das Konzernrecht die Tochter vor einer finanziellen Vermögenseinbuße schützt, unterbindet es Werttransfers unter dem Deckmantel des konzerninternen Leistungstauschs. Die Transaktion lohnt sich für die Mutter nur noch, wenn nach Abzug der Kompensation – ohne Zufügung eines „Nachteils“ im Sinne des § 311 I AktG – ein Wertzuwachs verbleibt. Eine wirksame Kontrolle der Wertaufteilung verhindert also missbräuchliche Transaktionen. Alle übrigen Pa-

 Siehe etwa Atanasov/Beck/Ciccotello, U. Ill. L. Rev. 2014, 1697. Der Ausdruck wird Johnson/La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, Am. Econ. Rev. 90 (2000), 22 zugeschrieben, die ihn aus dem Tschechien der Nachwendejahre übernommen haben.  Grundlegend zu Rentenstreben Tullock, W. Econ. J. 5 (1967), 224; der Begriff geht zurück auf Krueger, Am. Econ. Rev. 64 (1974), 291; zur daraus abzuleitenden ökonomischen Ineffizienz von Diebstahl Hasen/McAdams, Int. Rev. L. & Econ. 17 (1997), 367.  Dazu jüngst im Zusammenhang mit dem Konzern Schön, ZGR 2019, 343, 356 f. und 362 („Trennung der organisatorischen von der finanziellen Dimension“); ähnlich bereits Engert,Wozu Konzerne?, FS Baums, 2017, S. 385, 395 („folge und liquidiere“).  Für die Unterscheidung zwischen liability rules und property rules grundlegend Calabresi/ Melamed, Harv. L. Rev. 85 (1972), 1089. Zu Entlastung der gerichtlichen Normkonkretisierung durch Haftungsregeln Engert, Der effiziente Rechtsbruch, in P. Bydlinski (Hrsg.), Prävention und Strafsanktion im Privatrecht, 2016, S. 95, 101 ff.

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rameter können den Parteien und damit dem unternehmerischen Ermessen der Mutter überlassen bleiben.⁴⁷ Was die Feststellung eines unzulässigen bzw. auszugleichenden Nachteils anbelangt, ziehen die einschlägigen Kommentierungen einen Fremdvergleich oder Marktpreise heran.⁴⁸ Erfasst werden damit die Opportunitätskosten der Tochter, die auf eine entsprechende externe Transaktion verzichtet. Die Spezialisierung der Tochter auf den übrigen Konzern kann allerdings dazu führen, dass die Leistungen der Tochter für einen konzerninternen Empfänger wertvoller sind als für außenstehende Dritte. Die Marktbewertung könnte dann sogar die Selbstkosten der Tochter für die Leistungserbringung unterschreiten.⁴⁹ Um eine vollständige Internalisierung bei der Mutter zu erreichen, bilden daher die Selbstkosten einschließlich aller zurechenbaren Gemeinkosten eine Untergrenze der Bewertung. Auf den Gewinn des Konzerns aus der Transaktion kommt es hingegen nicht an.⁵⁰ Müsste die Mutter Verbundvorteile teilen, würde dies ihren Anreiz schmälern, alle werterhöhenden Transaktionen durchzuführen.⁵¹ Die von § 311 I, II AktG geforderte angemessene Wertaufteilung spiegelt also kein hypothetisches Verhandlungsergebnis zwischen unabhängigen Parteien wider, die jeweils eine Beteiligung am Vertragsgewinn durchsetzen könnten. Erreicht werden soll nur die Internalisierung von Kosten („Nachteilen“) der Tochter.

 Nicht hingegen die Äquivalenz bzw. Nachteiligkeit; ausdrücklich a.A. Habersack (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 56.  Etwa Altmeppen (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 208 ff.  Wie gleich zu zeigen ist, sind darüber hinaus die Kapitalkosten der Tochter zu berücksichtigen.  Koppensteiner (Fn. 23), § 311 AktG Rn. 49. Für Beteiligung der Minderheit an Verbundvorteilen aber offenbar Drygala, AG 2013, 198, 204. Auf den ersten Blick nicht richtig BGHZ 141, 79, 84 ff. (Buderus/Metallgesellschaft): Das herrschende Unternehmen hatte den Steuervorteil aus einer gewerbesteuerlichen Organschaft vollständig selbst vereinnahmt und die Tochter dieselbe Steuerlast tragen lassen wie ohne Organschaft. Der BGH verlangte demgegenüber, die Tochter am steuerlichen Verbundvorteil zu beteiligen. Man kann die Abweichung vom hier befürworteten Grundsatz damit erklären, dass der BGH außerhalb der §§ 311 ff. AktG nach § 426 I BGB eine gleichmäßige Verteilung der tatsächlich entstandenen Steuerlast verlangt, BGHZ 120, 50, 55 ff.; BGH NZG 2013, 298, Rn. 11 f. Nimmt man diese gesetzliche Aufteilungsregel für einen kraft Gesetzes eintretenden steuerlichen Verbundvorteil als Referenzpunkt, so ist jede Abweichung eine Vermögensverschiebung und damit nachteilig im Sinne des § 311 I AktG.  Genauer: Zwar können bestimmte Aufteilungsformeln für Verbundvorteile diese Gefahr ausschließen, doch bildet dies eine zusätzliche, vermeidbare Schwierigkeit.

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(2) Interessenkonflikte bei Investitionen Zu fragen ist weiter, ob eine Äquivalenzkontrolle bei konzerninternen Transaktionen Interessenkonflikte in Bezug auf die Investitionspolitik der Tochter ausschließen kann. Das herrschende Unternehmen kann den Umfang des Kapitaleinsatzes steuern, indem es die abhängige Gesellschaft Mittelzuflüsse entweder einbehalten oder ausschütten lässt; zudem kann die Tochter Fremdkapital aufnehmen oder verringern. Ein Interessenkonflikt tritt dabei auf, wenn das Kapital der Tochter aus Sicht der Mutter gegenüber sonstigen Finanzierungsmöglichkeiten des Konzerns künstlich verbilligt ist. Dazu kommt es, wenn die (Minderheits‐) Aktionäre weniger als eine marktgerechte, risikoangepasste Rendite erhalten und die Renditedifferenz der Mutter zufällt. In diesem Fall entsteht ein Anreiz, das Kapital der Tochter einzusetzen, auch wenn aus Sicht des Konzerninteresses – das die Belange der Minderheit einschließt – die erwarteten Rückflüsse der Investition die Kapitalkosten nicht vollständigen decken. Es handelt sich um eine konzernbezogene Spielart des bekannten Agenturproblems, dass den Anlegern – hier: den Minderheitsaktionären der Tochter – verfügbares, überschüssiges Kapital (excess free cash-flows) vorenthalten wird.⁵² Die künstliche Verbilligung der Kapitalkosten setzt voraus, dass die Mutter die Eigenkapitalrendite der Tochter schmälern kann, indem sie Gewinne auf sich selbst verlagert. Möglich ist das nur mittels konzerninterner Transaktionen.⁵³ Die Berücksichtigung der Investitionspolitik liefert dabei den zusätzlichen Hinweis, dass eine angemessene Wertaufteilung bei Transaktionen die Eigenkapitalkosten der Tochter berücksichtigen muss. Die abhängige Gesellschaft ist also zwar nicht an Verbundvorteilen zu beteiligen, sie muss jedoch einen Gewinnzuschlag erhalten, der ihren Aktionären eine marktgerechte, risikoangepasste Rendite als Kapitalkosten sichert.⁵⁴ Umgekehrt sollte die konzernrechtliche Kontrolle aber keine höhere als eine marktgerechte Eigenkapitalrendite der Tochter fordern. Denn in der Folge würde die Konzernspitze versuchen, das aus ihrer Sicht nun überteuerte Kapital der Tochter zurückzuführen und den für sie verlustreichen konzerninternen Leistungsaustausch zu verringern.

 Aufgestellt wurde diese These ursprünglich für Manager US-amerikanischer Publikumsgesellschaften: Jensen, Am. Econ. Rev. Papers & Proceedings 76 (1986), 323; Jensen, J. Appl. Corp. Fin. 22 (2010), 77, 78, 80 (Nachdruck von 1989).  Eine naheliegende Transaktion besteht darin, überschüssige Mittel innerhalb des Konzerns über zu gering verzinste Kredite weiterzureichen. Zu denken ist nicht zuletzt an ein Cash-Pooling.  Die Einbeziehung von Kapitalkosten verlangt in ganz anderem Kontext, aber aus ökonomisch vergleichbaren Gründen § 32 I, III TKG.

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(3) Interessenkonflikte bei der Zuordnung von Geschäftstätigkeiten Die größten Schwierigkeiten bereiten mögliche Interessenkonflikte bei der Zuordnung beschränkter Geschäfts- und Gewinnmöglichkeiten zwischen der Tochter und dem übrigen Konzern. Marktchancen sind für Unternehmen allentscheidende, knappe Güter.Wenn allerdings verschiedene Konzernglieder um dieselben Geschäftsgelegenheiten konkurrieren, liegt es im Gewinninteresse des Gesamtunternehmens, den konzerneigenen Wettbewerb zu beschränken, vielleicht sogar ganz zu unterbinden. Dann stellt sich die Frage, wo im Konzern das jeweilige Geschäftsfeld angesiedelt wird. Ein Interessenkonflikt der Konzernleitung kann in diesem Fall dazu führen, dass Geschäftstätigkeiten innerhalb des Konzerns nicht nach Profitabilität, sondern aufgrund unterschiedlicher Beteiligungshöhen verortet werden. Ein frei erdachtes Zahlenbeispiel veranschaulicht das: Mutter und Tochter betreiben konkurrierende Fabriken. Werden beide fortgeführt, hat die Fabrik der Mutter einen Ertragswert von 10, die der Tochter von 15. Die Schließung einer Fabrik reduziert deren Wert auf null; für die verbleibende Fabrik steigt der Ertragswert bei der Mutter auf 30, bei der Tochter auf 40. Aus Sicht des Gesamtkonzerns sollte unter diesen Umständen die Mutter ihre Produktion aufgeben, weil dies eine Wertsteigerung von 25 (Fortführung beider Fabriken) auf 40 (Tochter als einziger Anbieter) erbringt. Hält die Mutter aber eine Beteiligung von 60 % an der Tochter, erscheint es aus ihrer Sicht vorteilhaft, die eigene Fabrik fortzuführen, weil dies für sie zu einer Wertsteigerung auf 30 statt auf 24 führt.⁵⁵ In dem eben gebildeten Zahlenbeispiel würde die Mutter den Interessenkonflikt allerdings mittels einer konzerninternen Transaktion überwinden: Sie würde der Tochter die effizientere Fabrik für den Ertragswert von 15 abkaufen und fortführen, ihre eigene hingegen stilllegen.⁵⁶ Mit etwas abgewandelten Werten löst sich der Interessenkonflikt indes nicht von selbst.⁵⁷ Zudem verursacht eine solche Transaktion zusätzliche Kosten, etwa aufgrund einer Besteuerung stiller Reserven. Die Möglichkeit eines freiwilligen Kaufs verdeutlicht aber, wie die Problematik einzuordnen ist, nämlich als Übertragung von Markt- und Gewinnchancen zwischen Mutter und Tochter, mithin als konzerninterne Transaktion, die § 311 I

 Der anteilige Ertragswert bei Fortführung der Fabrik der Tochter errechnet sich mit 0,6 × 40 = 24.  Dies würde der Mutter einen Wertgewinn von 40 – 0,4 × 15 = 34 verschaffen und damit mehr als die 30, die sie erreichen könnte, indem sie die Produktion der Tochter beendet.  So etwa, wenn der der Wert der allein fortgeführten Produktion der Tochter nur 35 statt 40 beträgt. Dann würde die Mutter bei einer Übernahme nur noch einen Wertzuwachs auf 35 – 0,4 × 15 = 29 erzielen, womit sie schlechter stünde als mit der Stilllegung des Betriebs der Tochter.

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AktG als „Maßnahme“ erfasst.⁵⁸ Verzichtet die abhängige Gesellschaft zugunsten des Konzerns auf eine gewinnbringende Geschäftstätigkeit, müssen ihr die Opportunitätskosten erstattet werden, also der Ertragswert des aufzugebenden Unternehmensteils.⁵⁹

3. Kontrolle der Wertaufteilung Die Wertaufteilung wird in Verträgen zwischen den beteiligten Konzerngesellschaften geregelt. Dabei verhandeln die Parteien „im Schatten“ der konzernrechtlichen Forderung nach angemessener Wertaufteilung bzw. Nachteilsvermeidung (§ 311 I AktG). Wie diese konzernrechtliche Vorgabe durchgesetzt wird, bleibt eine Optimierungsaufgabe. Ein Kontrollregime sollte einerseits dem Interessenkonflikt der Konzernspitze wirksam begegnen. Andererseits müssen gerichtliche Bewertungsstreitigkeiten auf seltene Einzelfälle beschränkt bleiben, wenn die juristischen Betriebskosten eines Konzerns tragbar bleiben sollen. Eine wichtige Stellschraube liegt in der Intensität der rechtlichen Durchsetzung. Bedient wird sie über Verfahren und Anreize zur gerichtlichen Geltendmachung. Trotz der erheblichen Kosten derartiger Rechtsstreitigkeiten dürfte die Durchsetzungsintensität im deutschen Konzernrecht derzeit zu gering sein.⁶⁰ Wie sie maßvoll verstärkt werden könnte, wird schon länger diskutiert.⁶¹ Hier soll stattdessen ein weiterer Ansatz beleuchtet werden, Effektivität und Aufwand in ein günstiges Verhältnis zu bringen. Er beruht auf der Annahme, dass Rechtsstreitigkeiten weniger häufig geführt werden und zugleich weniger kostspielig sind, wenn der gerichtliche Prüfungsmaßstab den Akteuren einen Beurteilungsspielraum zugesteht.⁶² Es liegt deshalb nahe, die rechtliche Kontrolldichte an der

 Ebenso Schön, ZGR 2019, 343, 371 f.  Soll umgekehrt die Mutter eine Geschäftstätigkeit aufgeben, kann eine Ausgleichszahlung der Tochter erforderlich sein, um die Schließung nicht nur für den Konzern insgesamt, sondern auch für die Mutter selbst lohnend zu machen. Die Schließungsprämie kann so hoch bemessen werden, dass der Tochter nur der Ertragswert ihrer Geschäftstätigkeit unter den bisherigen Wettbewerbsbedingungen verbleibt.  Bekannt etwa die Frage von Kropff, Der konzernrechtliche Ersatzanspruch – ein zahnloser Tiger?, FS Bezzenberger, 2000, S. 233; informativ Habersack (Fn. 23), § 317 AktG Rn. 3.  Dass auch hier die Gefahr einer missbräuchlichen, systematischen Ausnutzung von Minderheitenrechten droht, belegen Bayer/Hoffmann, AG 2018, 337.  Ein solcher Sicherheitsaufschlag trägt Bewertungsfehlern der Beteiligten, aber auch der gerichtlichen Prüfung Rechnung. Je geringer er ist, desto eher bestehen für einen Kläger auch dann Erfolgsaussichten, wenn die Wertaufteilung eigentlich angemessen ist bzw. sich herrschendes Unternehmen und Vorstand redlich darum bemüht haben.

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Stärke des Interessenkonflikts auszurichten: Je schwächer der Fehlanreiz oder je mehr ihm andere Mechanismen entgegenwirken, desto großzügiger kann die gerichtliche Überprüfung ausfallen. Eine offensichtliche Messgröße ist die Beteiligungshöhe des herrschenden Unternehmens: Vermögensverlagerungen sind für die Mutter umso gewinnträchtiger, je weniger sie am Vermögen der Tochter partizipiert. Ein herrschendes Unternehmen mit einem Anteil von 95 % an der abhängigen Gesellschaft verdient weit mehr Vertrauen als eines mit knapp über 50 %. Daneben können verfahrensmäßige Vorkehrungen die Richtigkeitsgewähr erhöhen. Hier lässt sich der Abhängigkeitsbericht und seine Prüfung einordnen,⁶³ ebenso aber die neuen Zustimmungs- und Offenlegungspflichten für Geschäfte mit nahestehenden Personen nach den §§ 111a ff. AktG. Wenn ein Geschäft nach § 111b I, III AktG der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf, stellt das Gesetz besondere Anforderungen an die Einhegung von Interessenkonflikten: Entscheidet der gesamte Aufsichtsrat, gilt ein Stimmrechtsverbot für Aufsichtsratsmitglieder, für die eine „Besorgnis eines Interessenkonflikts auf Grund ihrer Beziehungen“ zum herrschenden Unternehmen besteht (§ 111 II AktG).⁶⁴ Alternativ kann der Aufsichtsrat einen beschließenden Ausschuss einrichten, dessen Mehrheit frei von der „Besorgnis eines Interessenkonflikts“ ist (§ 107 III 4– 6 AktG). Bei der Kontrolle einer angemessenen Wertaufteilung – der substantive fairness – sollten Gerichte in Betracht ziehen, wie gut der Konzern diesen Anforderungen gerecht geworden ist. Die verfahrensmäßigen Vorkehrungen – die procedural fairness – kann mehr oder weniger ausgeprägt sein und so eine größere oder geringere Lockerung der Prüfungsdichte rechtfertigen.

V. Thesen Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich in den folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Organisationsrechtlich besteht die erste Aufgabe des Konzernrechts darin, eine Konzernierung überhaupt zu ermöglichen. Nach allgemeinem Gesellschaftsrecht unterliegen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gegenüber dem Mehrheitsaktionär in der Regel einem Interessenkonflikt, der ein unternehmerisches Ermessen ausschließt und eine uneingeschränkte gericht-

 Zu seiner Wirkung Hommelhoff, ZHR 156 (1992), 295, 301, 313 (Aufnahme in den Abhängigkeitsbericht als Argument des Tochtervorstands gegenüber der Mutter).  Zum Begriff der „Besorgnis eines Interessenkonflikts“ BT-Drs. 19/9739, S. 76 ff.

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liche Überprüfung bedingt. Die Konzernöffnung der abhängigen Gesellschaft setzt voraus, dass der bestehende Interessenkonflikt normativ ausgeblendet wird. Im geltenden Recht ergibt sich diese Rechtsfolge aus § 311 I, II AktG. Die Regelung verlangt aber, dass der abhängigen Gesellschaft keine (nicht ausgeglichenen) Nachteile entstehen dürfen. Entgegen der herrschenden Auffassung unterliegt die Einhaltung dieser Anforderung – das Vorliegen eines Nachteils – keinem unternehmerischen Ermessen. Sie ist gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar. Die Schutzaufgabe des Konzernrechts besteht darin, die Bindung der Konzernleitung an das Konzerninteresse sicherzustellen. Das Konzerninteresse liegt in der Steigerung der Summe der Werte aller Konzerngesellschaften. Interessenkonflikte in der Konzernleitung treten auf, wenn das Eigeninteresse des herrschenden Unternehmens vom Konzerninteresse abweicht. Sie lassen sich umfassend vermeiden, indem das Konzernrecht eine angemessene Wertaufteilung bei konzerninternen Transaktionen sicherstellt. Für die Konzernleitung bedeutet dies positiv, dass bei konzernexternen Transaktionen, der Investitionspolitik und bei Art und Umfang konzerninterner Transaktionen unternehmerisches Ermessen besteht. Nur die Äquivalenz unterliegt gerichtlicher Kontrolle am Maßstab des Nachteilsbegriffs in § 311 I, II AktG. Die gerichtliche Prüfdichte der Nachteiligkeit bzw. angemessenen Wertaufteilung sollte davon abhängen, wie ausgeprägt der Interessenkonflikt ist und inwieweit die Aushandlung der Wertaufteilung (procedural fairness) bereits eine Richtigkeitsgewähr bietet.

Nina Benz

Bericht über die Diskussion An die Referate schloss sich eine lebhafte Diskussion an, die auf beide Vorträ ge intensiv einging. Nachstehend sind den Diskussionsbeiträ gen die zugehö rigen Antworten, soweit mö glich, gegenü bergestellt; die Wortmeldungen aus der Zuhö rerschaft sind teils abweichend von der chronologischen Reihenfolge thematisch geordnet. Einige Beiträge hatten referatsübergreifende Grundfragen des Konzerns zum Gegenstand und werden daher gesondert dargestellt.

I. Referat Fülbier / Gassen Die Diskussion des Referats von Fülbier und Gassen umfasste zahlreiche Aspekte. Ein Diskussionsteilnehmer aus der Wissenschaft fragte zunächst, warum die Ökonomie erst mit Coase und der Transaktionskostentheorie den Konzern zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht habe. Fülbier erläuterte, in der Neoklassik habe man Unternehmen zwar als kontrahierende Einheit am Markt begriffen, jedoch nicht erklären können, warum manche Unternehmen wachsen und andere nicht. Erst mit den Transaktionskosten habe man schließlich im 20. Jahrhundert die Gründe hierfür erkannt – und damit zugleich die Vorteile der Konzernierung verstanden. Ferner wurde die Frage in den Raum gestellt, aus welchen ökonomischen Beweggründen heraus Unternehmen bei neuer Vorstandsbesetzung so häufig umstrukturiert würden. Gassen erklärte hierauf, Organisationen würden sich nicht kontinuierlich entwickeln, sondern hätten ein Beharrungsstreben. Mit einem neuen Vorstand würde diese Stagnation meist behoben, was den Eindruck radikaler Umstrukturierungen vermittle, tatsächlich aber nur Ausgleich für mangelnde Entwicklung in den Vorjahren sei. Ein Diskutant aus der Wissenschaft fragte anschließend, wie sich die dargestellten Kurven verändern würden, wenn man AI (Artificial Intelligence) hinzunähme. Fülbier antwortete hierauf, Digitalisierung im Allgemeinen erhöhe Transparenz und reduziere Organisationskosten, sorge zugleich aber auch für viele neue Probleme. Gassen ergänzte, die Steilheit der Kurven werde sich ändern, zudem sei ein erhöhter lobbyistischer Druck wahrscheinlich. Daneben äußerte sich der Diskutant kritisch zu der These, mehr Transparenz sei im Konzern wünschenswert – immerhin habe man es häufig mit beschränkten Informationsverarbeitungskompetenzen zu tun. Gassen stimmte dieser Beobachtung zu und führte aus, man müsse in der Tat verstehen, welche Art von Inhttps://doi.org/10.1515/9783110698077-006

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formationen überhaupt verarbeitet werden könne und gebraucht werde. Gerade die Unternehmenspublizität komme häufig nicht bei den Rezipienten an. Auf Anstoß eines weiteren Diskutanten aus der Wissenschaft wurde im Anschluss über die Frage gesprochen, ob der Konzern tatsächlich ein Phänomen der Weimarer Republik sei. Der Diskutant regte an, in diesem Zusammenhang die Medici zu untersuchen. Die Referenten bestätigten die Beobachtung, die Wurzeln des Konzerns lägen vermutlich schon vor der Weimarer Republik begründet. Gassen ergänzte, er habe daneben auch Assoziationen zur Gründerzeitkrise sowie zu den Rechnungslegungssystemen der Schifffahrtsgesellschaften gehabt. Ein Schwerpunkt der Diskussion war die Frage, wie die Konzentrationsrendite des Konzerns aus ökonomischer Sicht zu verteilen sei. Fülbier antwortete darauf, dass eine klare Beantwortung der Verteilungsfrage nur mit mehr Organisationstransparenz in Bezug auf wirtschaftliche Lage und Haftungsverhältnis der Konzerngesellschaften zu erreichen sei. Er wies aber auch auf die Schwächen der Rechnungslegung in diesem Kontext hin: Einzelabschlüsse seien zu beeinflussbar, um Transparenz für den Vertragspartner herzustellen, Konzernabschlüsse wiederum könnten die Verteilung nicht darstellen. Es gebe demnach keine Königslösung, sofern man die potentiell verzerrenden Einzelabschlüsse nicht verwenden wolle. Er plädierte dennoch dafür, vom konsolidierten Erfolg auszugehen, und stellte die Frage in den Raum, ob der Abhängigkeitsbericht in seiner gegenwärtigen Form wirklich umfassend sei. Gassen ergänzte, dass Nutzen und Kosten des Konzerns asymmetrisch anfielen, was das Verteilungsthema in der Tat virulent mache. Es bestünde hierdurch sogar die Gefahr, dass das economic narrative, der Konzern verstärke Einkommensungleichheiten, sich als Theorie durchsetze und den Konzern ernsthaft gefährde. Ein Diskussionsteilnehmer fragte nach, inwiefern die geschilderte Schwierigkeit, ein Optimum zwischen den Interessen der Stakeholder und der Mehrheitsaktionäre zu finden, normative Aussagen nach sich zöge. Fülbier betonte in diesem Zusammenhang, man wisse nie, in welchem in der Grafik skizzierten Zustand man sich befinde; möglicherweise sei das Optimum gegenwärtig sogar erreicht. Gassen antwortete, normativ könne der Regulierer sicherstellen, dass einzelvertragliche Lösungen realisiert würden und Selbstschutz ermöglicht werde (market discipline). Kernproblem der Vermögensumverteilung sei das Risikoshifting: Die Rechnungslegung sei schwach darin, Risiken der künftigen Entwicklung darzustellen und zu vergleichen, wie Risiken allokiert würden. Hiermit beantwortete er zugleich auch die Frage eines Diskussionsteilnehmers, worin genau der Verbesserungsbedarf im Hinblick auf Transparenz liege. Engert merkte zu dieser Frage an, die Bilanz bilde zwar Beteiligungen ab, aber nicht die jeweiligen Ertragspotentiale.

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II. Referat Engert Ein wesentlicher Diskussionspunkt war die These Engerts, nur Vermögensverschiebungen seien relevante Interessenkonflikte, die gerichtlich zu überprüfen seien. Engert entgegnete auf diesbezügliche Einwände der Diskutanten, ernstzunehmende Konflikte könnten nur eintreten, wenn tatsächlich ein Zugriff auf Gelder der Gesellschaft erfolge. Umstrukturierungen als solche hätten nicht dasselbe Gefahrenpotential für die Gesellschaft. Als Anschauungsbeispiel für Umstrukturierungen diente mehreren Diskutanten der Konzern Procter & Gamble. Daneben kreiste die Diskussion rund um die Frage, ob das arm’s lengthPrinzip ein tauglicher Maßstab für Transaktionen sei. Engert lehnte dieses Kriterium schon konzeptionell ab: In dem Moment, in dem man die Verschiedenheit der Konzernstruktur vom Einheitsunternehmen betone, sei es widersinnig, den Vertragsschluss eines Einheitsunternehmens als Vergleichsgruppe heranzuziehen, und betonte daher den in seinem Referat entwickelten „Kosten plus angemessene Gewinnbeteiligung“-Ansatz. Auf die Frage eines Diskutanten aus der Beratungspraxis, ob ein Geschäft at arm‘s length eine materielle gerichtliche Kontrolle wenigstens obsolet mache, antwortete Engert, die Kontrolle sei auch dann durchzuführen, allerdings (ähnlich wie beim Spruchverfahren) in zurückgenommener Form. Zur von Engert als zu weitgehend erachteten RozenblumDoktrin ergänzte ein Diskussionsteilnehmer aus der Wissenschaft, sie sei bei näherem Hinsehen keine echte materielle Überprüfung, sondern eher ein bloß prozeduraler Test: Bei guter Dokumentation komme man aus der „RozenblumFalle“ heraus; insofern sei die Doktrin nicht so weit weg von Engerts Vorschlag, wie es auf den ersten Blick den Anschein habe. Der nächste Diskussionsschwerpunkt lag in der Reichweite der business judgment rule im Konzern. Ein Diskussionsteilnehmer aus der Praxis stellte die Frage, ob vielleicht schon kein Interessenkonflikt bestehe, weil es im Interesse von herrschenden und abhängigen Gesellschaften sei, sich rechtskonform zu verhalten – konkret also, die §§ 311 ff. AktG zu beachten. Insofern könne die Legalitätspflicht die business judgment rule von vornherein begrenzen. Hierauf entgegnete Engert, die §§ 311 ff. AktG schlössen mit § 317 Abs. 2 AktG den Begriff des „Nachteils“ ein, in dessen Rahmen wiederum die business judgment rule greife. Die §§ 311 ff. AktG seien daher gerade keine wirksame Begrenzung der business judgment rule. Dieser Befund wurde durch einen Diskutanten aus der Wissenschaft bestätigt. Daneben brachte der Diskutant die UMTS-Entscheidung des BGH in die Diskussion ein und stellte die Frage, warum der BGH hier trotz des Interessenkonflikts des Tochtervorstandes die business judgment rule angewandt habe. Engert betonte hierauf, er spreche sich für die klare Regel aus, die business

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judgment rule in der gesamten Geschäftspolitik anzuwenden – mit Ausnahme der Wertverteilung. Der BGH sei in seinem UMTS-Urteil zu unspezifisch gewesen; sein Beitrag sei letztlich ein Versuch, die Begründung nachzuliefern, die das Urteil vermissen lasse. Im Anschluss erhob ein Diskussionsteilnehmer aus der Wissenschaft den Einwand, bei der zitierten Buderus-Entscheidung, in welcher der BGH nicht nur die Kosten, sondern auch einen angemessenen Anteil am Gesamtgewinn der Transaktion als maßgebliche Wertaufteilung angesehen hatte, habe es sich um den Sonderfall der Steuerumlagen gehandelt. Ansonsten gäbe es nach h.M. keinen Anspruch der Aktionäre auf Rendite. Hierauf erwiderte Engert, er habe die Buderus-Entscheidung alleinstehend analysieren wollen. In jedem Fall habe der BGH hiermit an der großen Frage gerührt, ob ein Interessenkonflikt nur ausgeschaltet werden könne, wenn eine Gewinnbeteiligung zugebilligt würde. Ein Diskussionsteilnehmer aus der Wissenschaft stellte eine provokante These in den Raum: Wenn der ökonomische Anreiz einer Wertverschiebung die Beteiligung an einem anderen Unternehmen sei, seien hundertprozentige Töchter dann generell besser und sinnvoller? Fülbier setzte dem aus ökonomischer Sicht entgegen, Minderheiten seien nicht nur Friktionen, sondern auch ein Vehikel zur Stärkung der Corporate Governance; es gehe zudem auch um Finanzierungsquellen. Engert ergänzte, hundertprozentige Töchter seien unter Gläubigerschutzgesichtspunkten relevant, und erwähnte darüber hinaus das Cash-Pooling als Konzernprivileg. Schließlich griff ein Diskussionsteilnehmer aus der Wissenschaft die neuen Regelungen zu den related party transactions auf, deren Ziel die Neutralisierung von Interessenkonflikten bei Geschäften mit nahestehenden Unternehmen und Personen sei. Konkret werde dies durch die Zustimmungspflicht des Aufsichtsrats sowie das erweiterte Stimmverbot im Plenum erreicht. Dieses Stimmverbot gelte aber nicht für den Aufsichtsratsausschuss, sodass hier die Möglichkeit bestünde, dass unabhängige Ausschussmitglieder beeinflusst würden. Hieraus leitete er die Frage ab, ob die Richtigkeitsgewähr des Mechanismus trotzdem bestehe. Engert antwortete hierauf, er sehe die Regelungen zu related party transactions als Erhöhung der Richtigkeitsgewähr, aber nicht als volle „Reinigung“ der Transaktion.

III. Übergreifende Aspekte Ein erster Gegenstand referatsübergreifender Diskussion war die Frage eines Diskutanten, welche Vorteile die Konzernierung gegenüber Einzelunternehmen aufweise. Fülbier erläuterte, der entscheidende Grund bestehe in den Transaktionskosten. Konkret sei immer dann, wenn Transaktionen von mittlerer Faktorspezifität

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getätigt würden, ein Konzern schlicht flexibler; zudem produziere er weniger Kontrollkosten, da die untere Management-Ebene im Tochterunternehmen einfacher zu führen sei. Gassen betonte später, die charakteristische Haftungsbeschränkung sei nicht durch private Verträge zu erreichen, sondern erfordere einen Konzern. Demgegenüber wies Engert die These eines Diskussionsteilnehmers aus der Wissenschaft, die Haftungsbeschränkung sei der einzige Aspekt des Konzerns, der nicht anderweitig erreicht werden könne, unter Verweis auf weitere Spezifika des Konzernrechts, vor allem die Bündelung von Vermögensteilen, zurück. Thematisch verwandt war die Frage eines Diskussionsteilnehmers aus der Wissenschaft an Engert, ob Tochterunternehmen gegebenfalls auch durch Boni incentiviert werden könnten, sich regelkonform zu verhalten. Engert entgegnete, auch hier sei der Konzern gerade die Antwort darauf, dass andere Anreizsysteme offenbar nicht funktionieren. Daneben hatten mehrere Wortbeiträge die Legitimationsgrundlage des Konzerns zum Gegenstand. Ein Diskussionsteilnehmer aus der Wissenschaft merkte an, die Zeit des Beherrschungsvertrags sei vorbei, die Zukunft gehöre dem faktischen Konzern. Dieser führe zwei Tendenzen zusammen: die Risikodiversität bei Produkten und Dienstleistungen und die Kulturdifferenzierung in Bezug auf die Stakeholder. Dabei entstünden keineswegs nur normale Skaleneffekte, sondern auch positive Verbundeffekte, die sich am Markt nicht einkaufen ließen. Als Beispiele hierfür führte er neben der Informationsnutzung auch das Kartellrecht und den Datenschutz als den faktischen Konzern besonders privilegierende Rechtsgebiete an. Zwar bestünde durch die Konzernierung auch ein Risiko für die Reputation, diesem lasse sich aber durch Transparenz in Bezug auf Corporate Governance entgegenwirken. Ein Diskussionsteilnehmer aus der Beratungspraxis betonte, der von Konzernen bediente Markt bestehe neben den Kunden auch in den Arbeitnehmern. Dabei ließen sich Mitarbeiter deutlich leichter motivieren, wenn sie statt einer „regulären“ Anstellung (etwa als Prokurist) Konzernverantwortung (etwa als Tochtergeschäftsführer) übernehmen dürften. Einigkeit bestand, auch wenn einige Diskussionsteilnehmer Engerts Referat in dieser Hinsicht zunächst anders verstanden hatten, in Bezug auf die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Haftungsbeschränkung. Ein Diskutant aus der Wissenschaft warf aber die Frage auf, ob die Kombination aus Haftungsbeschränkung und Privatautonomie zu Nachteilen führen könne. Zwei Diskutanten aus der Wissenschaft betonten in ihren Wortbeiträgen die volkswirtschaftliche Sinnhaftigkeit der Haftungsbeschränkung: Insbesondere im grenzüberschreitenden Bereich ermögliche sie häufig erst, dass Unternehmen entstünden und geführt würden; sie diene schließlich der Absicherung und der Vermeidung von Unsicherheiten. Dem stimmte Fülbier zu und ergänzte, dass die Haftungsbeschränkung nicht nur Unsicherheiten beseitige, sondern auch mehr Information

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erfordere. Dies entspreche auch der Wertung der §§ 264 ff. HGB, die für Kapitalgesellschaften eine detailliertere Rechnungslegung und damit ein Mehr an Transparenz vorsähen. Dies begründe auch die übergreifende These von Fülbier und Gassen, dass mehr Information das Korrelat zur Haftungsbeschränkung sei.

Georg Seyfarth*

Handlungspflichten der Konzernverwaltung im nachgeordneten Bereich am Beispiel Compliance im Konzern** Zusammenfassung: Das konzernspezifische Trennungsprinzip entfaltet zunehmend keine haftungsabschottende Wirkung mehr. Das ist in einer Vielzahl von Rechtsgebieten zu beobachten, nicht nur im europäischen Kartellrecht. Auch für die konzernweite Compliance-Verantwortung der Konzernobergesellschaft kann das Folgen haben. Zwar ist eine generelle Pflicht zur Aufgabe des Trennungsprinzips, mithin ein Ende der Konzernbildungsfreiheit, nicht angezeigt. Die aufgezeigte Entwicklung führt aber zu einer graduellen Verschärfung der Pflichten der Konzernverwaltung im Bereich Compliance. Denn es ist absehbar, dass in einem Haftungsfall der Verbandsvorbehalt auch im faktischen Konzern nur ein schwaches Verteidigungsargument ist. Abstract: The group-specific principle of segmentation increasingly no longer limits liability. This tendency is to be seen in various areas of law, not only in European competition law. It has also consequences for the group-wide compliance responsibility for the leading entity of the group of companies. Though there is no necessity to generally abandon the principle of segmentation, and hence give up the liberty to organize the business in a group of companies, the development will lead to a gradually increased duty of the group management in the area of compliance. This increased duty of care is due to the prediction that in liability cases even in the de facto group the reservation of the legal segmentation of entities shall serve only as a weak defense argument.

Inhaltsübersicht  I. Basisphänomen und Paradigmenwechsel . Kartellrecht  . Aufsichtsrecht der Finanzdienstleistungsinstitute und Versicherungsunternehmen  . Kapitalmarktrecht 

* Dr. Georg Seyfarth, Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Hengeler Mueller in Düsseldorf. ** Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser auf dem ZGR-Sondersymposion zum Konzernrecht am 6. Dezember 2019 gehalten hat. https://doi.org/10.1515/9783110698077-007

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. Datenschutzrecht  . Atomrecht  . Deliktsrecht  . Verbandssanktionengesetz  . Menschenrechtsverantwortlichkeit  . Weitere Entwicklungsstränge  . Paradigmenwechsel und Fragestellung  Aktueller Diskussionsstand zu Compliance-Pflichten der Konzernverwaltung . Dogmatische Begründung der Compliance-Pflichten der Konzernverwaltung . Konkrete Anforderungen der Compliance-Pflichten im Konzern  . Verbandsvorbehalt für Compliance-Pflichten im Konzern  a) Befund nach dem Schrifttum  b) Rechtsprechung  Praxis der Durchsetzung von Compliance-Maßnahmen im Konzern  . Unterschiede zwischen regulierten Branchen und allgemeiner Industrie . Konzerndimension der Compliance-Maßnahmen  . Keine Durchsetzungsprobleme im faktischen Konzern  Neujustierungen der Compliance-Verantwortung der Konzernverwaltung  . Dogmatische Begründung   . Kein Grund zur Aufgabe des Trennungsprinzips . Verbandsvorbehalt als schwaches Verteidigungsargument  Schluss 

 



I. Basisphänomen und Paradigmenwechsel In der konzernrechtlichen Diskussion tauchen seit geraumer Zeit Redewendungen auf, die alle auf das gleiche Basisphänomen hindeuten. Es sind die Redewendungen von der „Entwicklung des Konzerns hin zum Einheitsunternehmen“¹, von der „Konzernstrukturhaftung“², von der „Zustandshaftung“ im Konzern³, die Haftungsbegründung durch eine „culpa in dominando“⁴, oder auch im deliktsrechtlichen Kontext die Rede von der „Unternehmensinhaberhaftung“⁵ oder vom „eigentlichen Gefahrveranlasser“⁶. Das Basisphänomen ist die Beobachtung, dass

 Titel des ZGR Sondersymposions 2019.  Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 406.  Schön, FS Hommelhoff, 2012, S. 1037, 1057 mit der Warnung, dass eine „deliktische Haftung ohne Zurechnungszusammenhang, eine bloße Zustandshaftung oder weitreichende Vermutungswirkungen“ den europarechtlich aus der Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit abgeleiteten „Anspruch auf Haftungsbeschränkung“ verletzten.  Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 1001 ff.  König, AcP 217 (2017), 611, 651.  Habersack/Zickgraf, ZHR 182 (2018), 252, 254 f.

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durch die Praxis der Behörden, allzumal der Europäischen Kommission, durch die Rechtsprechung, namentlich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, aber auch durch die Gesetzgebung auf europäischer und nationaler Ebene die vertraute – und mancher würde wohl sagen: die bewährte – Haftungsabgrenzung und Haftungsabschottung im faktischen Konzern nicht mehr funktioniert und jedenfalls in vielfältiger Weise unter Beschuss geraten ist. Anknüpfungspunkt für die Haftung ist nicht mehr die konkrete nachgewiesene Rechtsverletzung, sondern die vermutete Einflussnahme durch Tun oder Unterlassen, die sich allein aus der konzernrechtlichen Verbundenheit ergibt.⁷ Dieses Basisphänomen ist mittlerweile vielfach beschrieben und lässt sich in verschiedenen Rechtsgebieten beobachten.

1. Kartellrecht Die Durchbrechung der Haftungsabgrenzung im Konzern ist besonders eindrücklich im Kartellrecht. Das europäische Kartellverbot nach Art. 101 AEUV richtet sich gegen die Konzernobergesellschaft und das Tochterunternehmen als „wirtschaftliche Einheit“. Selbst wenn der Kartellverstoß nur im Tochterunternehmen lokalisiert ist, bebußt die Kommission auch das Mutterunternehmen als Gesamtschuldnerin, mit bis zu 10 % des Konzernumsatzes. Der Europäische Gerichtshof billigt diese Kommissionspraxis in ständiger Rechtsprechung und vermutet, dass das Mutterunternehmen einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten seines Tochterunternehmens ausübt, wenn das Mutterunternehmen alle Anteile an der Tochtergesellschaft hält. Der leading case ist die Akzo Nobel-Entscheidung aus dem Jahr 2009.⁸ Jüngst hat der EuGH in dem Fall Skanska – es ging um ein Kartell im finnischen Asphaltmarkt – seine Rechtsprechung zum europäischen Unternehmensbegriff ausdrücklich auch auf das Kartellschadensersatzrecht und die Auslegung der Europäischen Kartellschadensersatzrichtlinie angewandt.⁹ Das ist ein weiterer Schritt zur kartellrechtlichen Konzernaußenhaftung. Im deutschen Kartellrecht begründet § 81 Abs. 3a GWB, der 2017 im Zuge der 9. GWB-Novelle in das Gesetz kam, eine bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit des

 Vgl. dazu jüngst monographisch Beck, Konzernhaftung in Deutschland und Europa, 2019.  EuGH, Urt. v. 10.09. 2009, C 97/08 P, EuZW 2009, 816 – Akzo Nobel; zu der Frage, ob auch Schwester- und Tochtergesellschaften untereinander und für die Muttergesellschaft kartellrechtlich haften Kersting, ZHR 182 (2018), 8.  EuGH, Urt. v. 14.03. 2019, C-724/17, NJW 2019, 1197 – Skanska; vgl. dazu Kersting, WuW 2019, 290; Richter, BB 2019, 1154.

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Mutterunternehmens für Kartellverstöße des Tochterunternehmens, wenn das Mutterunternehmen „unmittelbar oder mittelbar einen bestimmenden Einfluss ausgeübt“ hat.¹⁰ Zwar soll hierfür ausweislich der Gesetzesbegründung die AkzoVermutung nicht gelten¹¹, aber die Kommentarliteratur lässt wenig Zweifel daran, dass der bestimmende Einfluss in der Regel immer schon dann angenommen wird, wenn das Mutterunternehmen auch ohne Beherrschungsvertrag annähernd alle Anteile der Tochtergesellschaft hält.¹² Im kartellrechtlichen Schrifttum wird die Existenz eines konzernweiten Compliance-Systems dabei gerade als Beleg für den bestimmenden Einfluss angesehen.¹³

2. Aufsichtsrecht der Finanzdienstleistungsinstitute und Versicherungsunternehmen Im Aufsichtsrecht der Finanzdienstleistungsinstitute und Versicherungsunternehmen besteht seit einigen Jahren die Pflicht der Geschäftsleiter der Konzernobergesellschaften, durch eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation für die Einhaltung der Compliance in der gesamten Institutsgruppe zu sorgen (§ 25a Abs. 1 KWG, § 275 VAG i.V.m. §§ 23, 26 VAG). Diese Aufsichtspflicht gilt ohne Rücksicht auf die gesellschaftsrechtlichen Strukturen. Bei einer Verletzung haftet nicht nur der Geschäftsleiter, sondern auch die Konzernobergesellschaft. Die Situation ist insoweit formell anders als im Kartellrecht, weil die Haftung hier nicht aus dem Konzept der „wirtschaftlichen Einheit“ im Konzern folgt, sondern an die Verletzung einer explizit im Gesetz statuierten Aufsichtspflicht anknüpft. Materiell führen gruppenweite Aufsichtspflicht und Aufgabe des Verbandsvorbehalts indes auch zu einer Perforierung des konzernrechtlichen Trennungsprinzips.¹⁴

 Dazu Thomas, AG 2017, 637.  Vgl. Bechtold/Bosch, GWB, 9. Aufl. 2018, § 81 Rdn. 82.  Raum, in: Langen/Bunte, Kartellrecht Komm. Bd. 1, 13. Aufl. 2018, § 81 GWB, Rdn. 167.  Raum, aaO (Fn. 12), § 81 GWB, Rdn. 167; Mäger/von Schreitter, NZKart 2017, 264; Meyer-Lindemann, in: Kersting/Podszun, 9. GWB-Novelle, Kap. 17 Rdn. 62; jeweils im Anschluss an BRegEntw. 9. GWB-Novelle 2017, 90; auch Bosch, ZHR 177 (2015), 454, 466 ff.; Löbbe, ZHR 177 (2015), 518, 553.  Vgl. dazu nur Tröger, ZHR 177 (2013), 475 (dort auch mit der Einschätzung, dass die normativen Fundamente des kartell- und aufsichtsrechtlichen Verantwortungsregimes trotz der Unterschiede im dogmatisch-konstruktiven Ausgangspunkt durchaus vergleichbar seien, vgl. S. 476).

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3. Kapitalmarktrecht Das Kapitalmarktsanktionsrecht knüpft in verschiedenen Normen für die Bestimmung der Bußgeldhöchstgrenzen an den Konzernumsatz an (§ 120 Abs. 18 und Abs. 23 Satz 2 WpHG). Das führt für sich genommen zwar nicht zu einer Haftungsverantwortung der Konzernobergesellschaft.¹⁵ Gleichwohl zeigt auch diese europarechtlich angestoßene Entwicklung¹⁶, dass zunehmend nicht die einzelne Gesellschaft, sondern der Konzern Bezugspunkt von sanktionsbewehrten Pflichten ist. Ungeachtet der Diskussion, wie weit derzeit schon eine Haftung der Konzernobergesellschaft nach § 130 OWiG reicht¹⁷, deutet auch diese Entwicklung im Kapitalmarktrecht dahin, das konzernrechtliche Trennungsprinzip nicht mehr als feste Schranke anzusehen.

4. Datenschutzrecht Nach der DS-GVO bleibt zwar jede Konzerngesellschaft für sich als „Verantwortlicher“ (Art. 4 Nr. 7 DS-GVO) oder „Auftragsverarbeiter“ (Art. 4 Nr. 8 DS-GVO) Adressatin der datenschutzrechtlichen Pflichten. Das Unternehmen (Art. 4 Nr. 18 DS-GVO) wird folglich definitorisch von der Unternehmensgruppe (Art. 4 Nr. 19 DS-GVO) unterschieden. Im Zusammenhang mit den Sanktionen verweist aber Erwägungsgrund 150 Satz 3 DS-GVO auf den Unternehmensbegriff i.S.d. Art. 101 und 102 AEUV. Es erscheint daher nicht ausgeschlossen, dass das Datenschutzrecht eine ähnliche Entwicklung nimmt wie das Kartellrecht, indem die Konzernunternehmen als „wirtschaftliche Einheit“ gesehen werden, in der die Konzernobergesellschaft für Rechtsverstöße ihrer Tochtergesellschaften unmittelbar selbst einzustehen hat.¹⁸

 Poelzig, VGR – Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, 2018, 83, 93.  Dazu Veil, ZGR 2016, 305.  Vgl. nur Koch, WM 2009, 1013, 1017 f.; Rönnau, ZGR 2016, 277; Poelzig, aaO (Fn. 15), 93 f.; Theurer, ZWH 2018, 59  Im Einzelnen ist noch viel ungeklärt, vgl. nur Eckhardt, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, DS-GVO Art 83 Rdn. 62 ff. und 70 ff.

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5. Atomrecht Im Atomrecht ist das konzernrechtliche Trennungsprinzip durch das sogenannte Nachhaftungsgesetz aus dem Jahr 2017 durchbrochen.¹⁹ Es regelt die Haftung des herrschenden Unternehmens mit dem gesamten Konzernvermögen für die Rückbau- und Entsorgungskosten von Kernkraftwerken. Es mag den Besonderheiten der Neuordnung der Atomenergie geschuldet sein, dass der Gesetzgeber die Konzernobergesellschaft neben der eigentlichen Betreibergesellschaft in Haftung nimmt, aber jedenfalls stellt das einen weiteren eindrücklichen Fall der Durchbrechung des konzernrechtlichen Trennungsprinzips dar.²⁰

6. Deliktsrecht Im Deliktsrecht werden die Voraussetzungen und Grenzen von haftungsrelevanten Sorgfalts- und Verkehrspflichten der Konzernobergesellschaft zunehmend unter dem Stichwort Konzerndeliktsrecht erörtert.²¹ Dogmatische Ansatzpunkte können eine Geschäftsherrenhaftung im Konzern nach § 831 BGB²² oder eine auf § 823 Abs. 1 BGB beruhende Haftung wegen Verletzung von konzerndimensionalen Unternehmensorganisationspflichten sein. Auch wenn das Schrifttum überwiegend (zu Recht) um eine sinnvolle Einschränkung und klare Konturierung entsprechender Haftungskonzepte bemüht ist²³, zeigt allein die Diskussion um ein Konzerndeliktsrecht, dass das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip auch in diesem Kontext alles andere als sakrosankt ist.

 Gesetz zur Nachhaftung für Abbau- und Entsorgungskosten im Kernenergiebereich (Nachhaftungsgesetz) vom 27. Januar 2017, BGBl. I S. 114, 127.  Krieger, ZfU 2017, 25.  Vgl. hierzu nur König, aaO (Fn. 5); Habersack/Zickgraf, aaO (Fn. 6); Fleischer/Korch, DB 2019, 1944.  Die Rechtsprechung hat eine Geschäftsherrenhaftung im Konzern bislang freilich abgelehnt, vgl. BGH Urt. v. 6.11. 2012 – VI ZR 174/11, NJW 2013, 1002; auch Grunewald, NZG 2018, 481.  Fleischer/Korch, aaO (Fn. 21), S. 1952 empfehlen, „bei der Entwicklung konzernübergreifender Sorgfaltspflichten mit großer Behutsamkeit vorzugehen“; in der Tendenz ebenso Habersack/ Zickgraf, aaO (Fn. 6).

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7. Verbandssanktionengesetz Von Interesse sind auch die Diskussionen im Strafrecht zum geplanten Verbandssanktionengesetz.²⁴ Ausweislich des ersten Referentenentwurfs nimmt das Gesetz jedenfalls auf der Sanktionsseite den Konzern wie ein Einheitsunternehmen als Anknüpfungspunkt.²⁵

8. Menschenrechtsverantwortlichkeit Tradierte konzernrechtliche Strukturen verschwimmen ferner in der Diskussion über die haftungsrelevante „Menschenrechtsverantwortlichkeit“ von Konzernobergesellschaften, die insbesondere im Zusammenhang mit internationalen Lieferketten thematisiert wird.²⁶

9. Weitere Entwicklungsstränge Das Steuerrecht²⁷ und das Insolvenzrecht²⁸ bieten weiteres Anschauungsmaterial. Spezialgesetzliche Vorschriften der Rechtsfolgenzurechnung im MarkenG, UWG,

 Dazu Baur/Holle, ZRP 2019, 186; Ott/Lüneborg, NZG 2019, 1361; unabhängig vom Verbandssanktionengesetz ist hinzuweisen auf ein jüngst erschienenes Handbuch von Minkoff/Sahan/ Wittig (Hrsg.), Konzernstrafrecht, 2020, das für sich genommen bezeugt, dass der Konzern als solcher Gegenstand strafrechtlichen Interesses ist.  Vgl. § 9 Abs. 2 VerSanG (Referentenentwurf v. 15.8. 2019).  Mansel, ZGR 2018, 439; Schall, ZGR 2018, 479; B. Schneider, NZG 2019, 1369; monographisch Nordhues, Die Haftung der Muttergesellschaft und ihres Vorstandes für Menschenrechtsverletzungen im Konzern, 2018.  Erst kürzlich hat der Gesetzgeber eher versteckt in dem Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 12.12. 2019 (BGBl. I S. 2451) in § 73 AO einen neuen Satz 2 eingefügt, der eine umfassende gesamtschuldnerische Haftung aller Organgesellschaften in der steuerlichen Organschaft statuiert, womit die (vermeintliche) Haftungslücke im Konzern, welche nach dem Arcandor-Urteil des BFH v. 31.5. 2017 – R 54/15, DStR 2017, 2214 bestand, geschlossen werden sollte, vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks. 19/13436, S. 188 f. Rechtspolitisch interessant ist, wie der deutsche Gesetzgeber konzernrechtliche Besonderheiten bei der anstehenden Umsetzung der europäischen AntiSteuervermeidungs-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 – ATAD) berücksichtigen wird, vgl. dazu den im Dezember 2019 vorgelegten Referentenentwurf des BMF.  Es gibt bekanntlich keine „Konzerninsolvenz“, vgl. Kindler, in: MüKo BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 7 EuInsVO Rdn. 104, aber immerhin (auch unabhängig von der Europäischen Insolvenzrechts-VO)

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UrhG, DesignG oder UKlaG bilden ein Sonderdeliktsrecht, das insgesamt eine Haftungserweiterung für den Betriebsinhaber, mithin die Konzernobergesellschaft, mit sich bringt.²⁹ Selbst im Prozessrecht gibt es Tendenzen, Gerichtsstandsvereinbarungen und Schiedsvereinbarungen extensiv auf alle Konzernunternehmen zu erstrecken.³⁰ Auch die Wissenschaft entwickelt und begründet konzernrechtliche Haftungskonzepte, die das tradierte konzernrechtliche Trennungsprinzip aufweichen. Aus arbeitsrechtlicher Perspektive erwähnenswert ist die Habilitationsschrift von Temming, der sowohl einen konzernweiten Kündigungsschutz propagiert, als auch unter Berufung auf sogenannte „drittbeherrschte Schuldverhältnisse und Sonderverbindungen“ ein Konzept nicht nur der Konzerninnenhaftung, sondern auch der Konzernaußenhaftung entwickelt hat.³¹

10. Paradigmenwechsel und Fragestellung Die genannten Stichworte mögen genügen. Im Folgenden geht es daher nicht um eine weitere Beschreibung und Ausdifferenzierung dieses Basisphänomens, auch nicht um die gesellschaftsrechtliche Fundamentalkritik an diesen Entwicklungen, die an anderer Stelle bereits erfolgt ist.³² Die Frage ist vielmehr, was daraus für die Konzernverwaltung folgt, und zwar mit Blick auf Compliance. Welche Handlungspflichten gibt es und wie verändern sich die Handlungspflichten der Konzernverwaltung im Lichte des beschriebenen Basisphänomens? Wenn man die Frage so stellt, geht damit allerdings ein erstaunlicher Paradigmenwechsel der konzernrechtlichen Diskussion einher. Während die traditionelle Diskussion im faktischen Konzern danach fragt, unter welchen Umständen eine Haftung des Mutterunternehmens aus der tatsächlich erfolgten

eine intensive Diskussion über einen insolvenzrechtlichen Konzerngerichtsstand, vgl. auch dazu Kindler, aaO, Art. 3 EuInsVO Rdn. 30 ff.  Vgl. dazu die Hinweise bei König, aaO (Fn. 5), S. 652.  Vgl. Jürschik, Die Ausdehnung der Schiedsvereinbarung auf konzernabhängige Unternehmen, 2010; Mansel, FS Maier-Reimer, 2010, S. 407, 410 (gegen eine Konzernerstreckung im deutschen Schiedsverfahrensrecht); interessant auch die Überlegungen zum Vermögensgerichtsstand des § 23 ZPO als „Konzerntochtergerichtsstand“ bei Weller/Benz/Zimmermann, NZG 2019, 1121.  Temming, aaO (Fn. 4).  Krieger, aaO (Fn. 20), S. 25, 36 ff.; eindringlich Hommelhoff, aaO (Fn. 2), dessen Ausführungen sich in ihrem ersten Teil als Hommage an den faktischen Konzern, in ihrem zweiten Teil als das gesellschaftsrechtliche „J’accuse“ gegen das beschriebene Basisphänomen lesen lassen.

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Einflussnahme auf die abhängigen Gesellschaften folgt³³, stellt sich nun die ganz andere Frage, ob nämlich aus der Haftungsbedrohung der Muttergesellschaft umgekehrt gerade entsprechende Handlungs- und Einwirkungspflichten für deren Geschäftsleitung, auch und gerade im faktischen Konzern, entstehen. Plakativ lässt sich dieser Paradigmenwechsel so formulieren: In Frage steht nicht mehr, welche Haftungslage aus der Handlung folgt, sondern vielmehr, welche Handlung die Haftungslage erfordert.

II. Aktueller Diskussionsstand zu Compliance-Pflichten der Konzernverwaltung Es lohnt, zunächst den aktuellen Diskussionsstand zu den Compliance-Pflichten der Konzernverwaltung in den Blick zu nehmen. Dabei ist es im Ansatz unstreitig, dass die Compliance-Pflichten des Vorstands³⁴ eine konzernweite Dimension haben.³⁵ Es geht um das „Wie“, nicht um das „Ob.³⁶ Selbst diejenigen, die – wie etwa Koch ³⁷ oder Kort ³⁸ – eine Pflicht zur Konzern-Compliance nur eingeschränkt und mit Vorbehalten akzeptieren, lehnen die Konzerndimensionalität der Compliance-Verantwortung des Vorstands keineswegs rundherum ab. Umstritten ist aber die dogmatische Begründung für eine solche Pflichtenbindung, unklar ist ferner die konkrete Ausgestaltung der Compliance-Pflichten im Konzern, und im Kontext der konzernrechtlichen Fragestellung ist es von Interesse, inwieweit mit Blick auf die Pflichten des Vorstands der Verbandsvorbehalt greift.

 Die klassische Formulierung der konzernrechtlichen Fragestellung prägnant bei Schön, ZGR 2019, 343, 346: „Letztlich steht eine Frage im Vordergrund allen Nachdenkens über die rechtliche Behandlung von Konzernen: In welchem Umfang darf ein Mutterunternehmen durch Weisungen in das geschäftliche Handeln des Tochterunternehmens eingreifen, ihm gegebenenfalls sogar finanzielle Nachteile zufügen, und unter welchen Umständen führen derartige Instruktionen zu einer Haftung der Muttergesellschaft oder der beteiligten Gesellschaftsorgane – sei es zu einer Verpflichtung zum Ausgleich von Einzelnachteilen, sei es zu einer umfassenden Einstandspflicht für die (externen) Verbindlichkeiten und (internen) Verluste der Tochtergesellschaft.“  Im Folgenden wird nur der Vorstand der AG behandelt, weil die konzernrechtlichen Fragen sich für die GF der GmbH oder den Aufsichtsrat nicht wesentlich anders darstellen; vgl. zur Arbeitsteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat Bürgers, ZHR 179 (2015), 173.  So auch die Einschätzung aus der Unternehmenspraxis: Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401.  Vgl. allerdings Harbarth, ZHR 179 (2015), 136, 151 ff., der darauf hinweist, dass auch die Frage des „Ob“ dem unternehmerischen Ermessen unterliege.  Koch, aaO (Fn. 17); Koch, AG 2009, 564; Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rdn. 20 f.  Kort, in: Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 91 Rdn. 170; Kort, NZG 2018, 641, 646 f.

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1. Dogmatische Begründung der Compliance-Pflichten der Konzernverwaltung Dogmatisch gibt es zwei Begründungsmuster für die konzernweite CompliancePflicht des Vorstands der Obergesellschaft. Zum einen wird vom Eigeninteresse der Konzernobergesellschaft her argumentiert, aus dem sich eine Pflicht zum sorgsamen Umgang mit dem Gesellschaftsvermögen ergibt. Die einschlägigen Schlagworte sind „Schadensabwendungspflicht“ oder „pfleglicher Umgang mit dem Beteiligungsvermögen“. Dieser dogmatische Ansatz, den etwa Verse ausgeleuchtet und vertreten hat³⁹, stützt sich auf die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften, § 93 AktG und § 43 GmbHG, bisweilen auch auf § 91 Abs. 2 AktG, der gemeinhin konzernweit ausgelegt wird.⁴⁰ Zum anderen gibt es den Begründungsansatz, der von der Legalitätspflicht her argumentiert und diese konzernweit interpretiert, die „konzernweite Legalitätskontrollpflicht“. Fleischer ⁴¹, Lutter ⁴² und Uwe H. Schneider ⁴³ vertreten, jeweils mit Nuancen, diesen Ansatz.⁴⁴ Die dogmatische Ableitung ist umstritten, sie erfolgt bisweilen aus der Leitungsverantwortung nach § 76 AktG, vielfach wird mit der Aufsichtspflicht des Unternehmensinhabers nach § 130 OWiG argumentiert.⁴⁵ Ferner wird die konzernweite Legalitätskontrollpflicht aus den internationalen Anforderungen abgeleitet. In der Tat lässt es sich kaum bestreiten, dass aus Sicht der US-amerikanischen Behörden (DOJ, OFAC oder SEC) der Konzern als wirtschaftliche Einheit gesehen wird, und die Legalitätspflicht des Top-Managements daher selbstverständlich konzernweit gilt. Diese Entwicklung ist auch in Europa zu beobachten.⁴⁶ Auch der DCGK stellt es als geltende Gesetzesanforderung dar, dass der Vorstand auf die Beachtung der Compliance „im Unternehmen“ hinwirkt

 Verse, ZHR 175 (2011), 401.  Ebenso Habersack, FS Möschel, 2011, S. 1175; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl. 2015, § 76 Rdn. 28.  Fleischer, CCZ 2008, 1.  Lutter, FS Goette, 2011, S. 289.  Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider, ZIP 2007, 2061.  Vgl. ferner Bicker, AG 2012, 542.  Seibt, aaO (Fn. 40), § 76 Rdn. 28, der sich gegen eine über die Schadens- und Nachteilsabwendungspflicht hinausgehende konzernweite Legalitätskontrollpflicht ausspricht, sieht allerdings in den Anforderungen, die § 130 OWiG stellt, die „Mindestanforderungen der vom Vorstand gegenüber der herrschenden Gesellschaft geschuldeten Compliance-Maßnahmen“.  Vgl. aus Frankreich das „Loi de vigilance“ aus dem Jahr 2017, das eine konzernweite Sorgfaltsverantwortung des Mutterunternehmens für die Einhaltung der Menschenrechte vorsieht: Loi n° 2017– 399 de 27 mars 2017 relative au devour de vigilance des sociétes mères et des entreprises donneuses d’ordre; dazu Nasse, ZEuP 2019, 774.

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(Grundsatz 5), womit nach der neuen Kodex-Terminologie die Konzernunternehmen gemeint sind. Ist es eine rein akademische Frage, ob man die Pflicht der Konzernmutter für gruppenweite Compliance-Anstrengungen mit der Schadensabwendungspflicht auf der einen oder der konzernweiten Legalitätskontrollpflicht auf der anderen Seite begründet? Das wird man nicht sagen können. Denn im ersten Fall stehen die konkreten Anforderungen viel stärker im Ermessen des Konzernvorstands, der insoweit die Privilegien der Business Judgment Rule in Anspruch nehmen und – wie Verse es pointiert formuliert hat ‐ danach fragen darf, ob „sich die Kontrollmaßnahmen rechnen’“⁴⁷, während im zweiten Fall das Abwägungsfenster, jedenfalls in der Theorie, nicht eröffnet ist, weil die Legalitätspflicht unbedingt gilt und nützliche Pflichtverletzungen, oder vielmehr: das nützliche, weil kostensparende Unterlassen von Compliance-Maßnahmen nicht geduldet ist.⁴⁸

2. Konkrete Anforderungen der Compliance-Pflichten im Konzern Blickt man auf die konkreten Anforderungen in Bezug auf die Konzern-Compliance, bietet sich als Ausgangspunkt das Pflichtenprogramm des Vorstands gegenüber der eigenen Gesellschaft an, über das mittlerweile weitgehend Konsens besteht.⁴⁹ Bei der Einrichtung eines Compliance-Systems ist der Dreiklang von Prevention, Investigation und Reaction („Prevent, Detect, Respond“) der Maßstab. Das gilt unabhängig davon, ob man auf die Einzelgesellschaft oder den Konzern schaut. Erstens muss der Konzern-Vorstand mithin überhaupt ein konzernweites Compliance-System einrichten. Er muss also Vorkehrungen dafür treffen, dass sich alle Unternehmen im Konzern an Recht und Gesetz und die unternehmensinternen Richtlinien halten. Tone from the top, Identifizierung von Risikofeldern, konzernweite Verhaltensvorgaben und -richtlinien, Schulungsmaßnahmen, Ein-

 Verse, aaO (Fn. 39), S. 413.  Der Grundsatz, dass Legalitätspflichten keiner unternehmerischen Abwägung offenstehen, ist von Brock, Legalitätsprinzip und Nützlichkeitserwägungen, 2017, thematisiert und grundsätzlich in Frage gestellt worden. Das überzeugt nicht und wird von der h.M. auch abgelehnt, vgl. nur Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 Rdn. 36; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 23 Rdn. 21.  Vgl. aus dem unübersehbaren Schrifttum nur Bicker, aaO (Fn. 44), 549 ff.; Kremer/Klahold, in: Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 25; Seibt/Ciupka, DB 2014, 766; Arnold/Geiger, DB 2018, 2306.

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richtung einer Whistleblower-Hotline⁵⁰ und klare Berichtslinien sowie Zuteilung von Verantwortlichkeiten sind die entsprechenden Schlagwörter. Auch die Notwendigkeit einer ausreichenden personellen und sachlichen Ressourcenausstattung der Konzern-Compliance-Abteilung wird immer wieder betont.⁵¹ Bei diesen präventiven Maßnahmen ist es nicht zweifelhaft, dass der Vorstand der Konzernobergesellschaft den gesamten Konzern in den Blick nehmen muss. Allerdings wird stets betont, dass es im Ermessen des Vorstands liege, ob er eine zentrale oder dezentrale Compliance-Organisation im Konzern einrichte.⁵² Zweitens verlangt ein wirksames Compliance-Programm, dass Verdachtsfälle frühzeitig identifiziert werden und etwaigen Rechtsverletzungen auch tatsächlich nachgegangen wird. In der Compliance-Literatur wird insoweit allerdings nicht explizit gefordert, dass die entsprechenden Maßnahmen, etwa im Rahmen einer „Internal Investigation“, stets von der Konzernobergesellschaft selbst durchgeführt werden müssen. Wichtig erscheint aus Sicht der Konzernmutter, an die entsprechenden Informationen zu gelangen, weshalb entsprechende direkte Berichtslinien einzurichten sind.⁵³ Drittens muss ein wirksames Compliance-System nicht nur präventive Maßnahmen ergreifen, sondern auch sanktionieren, falls sich ein Fehlverhalten gezeigt hat und manifestiert. In Betracht kommen vor allem arbeitsrechtliche Maßnahmen sowie die Geltendmachung von Schadensersatz. Es ist klar, dass diese Maßnahmen in erster Linie von der jeweiligen Anstellungsgesellschaft zu ergreifen sind. Im Konzern muss die Konzernmutter aber darauf hinwirken, dass dies auch tatsächlich geschieht.

3. Verbandsvorbehalt für Compliance-Pflichten im Konzern a) Befund nach dem Schrifttum Es fragt sich, ob und welchen Grenzen der Konzernvorstand bei diesem Pflichtenprogramm unterliegt. Das ist die Frage nach dem Verbandsvorbehalt, die sich vor allem im faktischen AG-Konzern stellt, aber auch bei Tochtergesellschaften in ausländischen Jurisdiktionen. Die gängige Antwort ist schlicht und rechtlich

 Zu den rechtlichen Herausforderungen bei der Regulierung von Whistleblowing zuletzt Schmolke, ZGR 2019, 876.  Bicker, aaO (Fn. 44), 550.  Schockenhoff, ZHR 180 (2016), 197, 206; Uwe H. Schneider, NZG 2009, 1321, 1325.  Zu Berichtswegen in Konzernen mit Matrixstrukturen Harbarth, FS Bergmann, 2018, S. 243; generell zur Wissenszurechnung im Konzern Schürnbrand, ZHR 181 (2017), 357.

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kaum zu kritisieren. Sie lautet, dass dem Konzernvorstand keine Pflichten zugemutet werden können, welche das rechtliche Dürfen überschreiten. Fleischer schreibt im Kommentar: „Das Pflichtenprogramm des Vorstands kann nicht weiter reichen als seine rechtlichen Einflussmöglichkeiten.“⁵⁴ Diese Feststellung ist im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum unbestritten, und der Rechtssatz, dass eine Pflicht nicht weiter reichen kann als die Möglichkeit der Einflussnahme, ist für sich genommen auch kaum zu kritisieren. Zu prüfen ist indes, ob der Verbandsvorbehalt in der gerichtlichen Praxis tatsächlich eine haftungseinschränkende Wirkung entfaltet.

b) Rechtsprechung Das Siemens/Neubürger-Urteil des Landgerichts München aus dem Jahr 2013⁵⁵ buchstabiert die Compliance-Verantwortung des Vorstands bekanntlich wie einen Kanon aus. Das Gericht betont die strenge Legalitätspflicht des Vorstands und jedes einzelnen Vorstandsmitglieds, leitet daraus die Pflicht ab, das Unternehmen so zu organisieren und zu beaufsichtigen, dass keine Gesetzesverletzungen stattfinden, und stellt fest, dass der Vorstand dieser Organisationspflicht nur dann nachkommt, wenn er eine auf Schadensprävention und Risikokontrolle angelegte Compliance-Organisation einrichtet. Entscheidend für den Umfang der Compliance-Organisation im Einzelnen seien Art, Organisation und Größe des Unternehmens, zu beachtende Vorschriften, geographische Präsenz wie auch Verdachtsfälle aus der Vergangenheit. Bachmann hat das Urteil als „Paukenschlag“ bezeichnet.⁵⁶ War es auch ein konzernrechtlicher Paukenschlag? Die eigentlichen Rechtsverletzungen, um die es damals ging, spielten sich in Tochtergesellschaften der Siemens AG ab. Gleichwohl gibt das Siemens/Neubürger-Urteil erstaunlich wenig her an konzernrechtlicher Argumentation. Im Grunde genommen ist es ein einziger Absatz.⁵⁷ Zwar hatte der Beklagte, Neubürger, durchaus eingewandt, dass er kein Weisungsrecht gegenüber den Einzelpersonen und Konzerneinheiten in den betroffenen Regionen und Geschäftsbereichen gehabt habe und daher nicht für

 Fleischer, aaO (Fn. 48), § 91 Rdn. 74; vgl. ebenso Arnold/Geiger, aaO (Fn. 49), 2307.  LG München, Urt. v. 10.12. 2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570; zum Hintergrund und Sachverhalt siehe Bachmann, in: Fleischer/Thiessen (Hrsg.), Gesellschaftsrechts-Geschichten, 2018, S. 691, 693 ff. (Der Fall), 707 ff. (Tatbestand); aus der Vielzahl von Urteilsbesprechungen nur Fleischer, NZG 2014, 321.  Bachmann, aaO (Fn. 55), S. 707; ders. bereits in ZIP 2014, 580.  LG München, aaO (Fn. 55), S. 574.

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deren Pflichtvergessenheit verantwortlich gemacht werden könne. Das Landgericht geht darauf aber nicht näher ein, sondern dreht dieses Verteidigungsargument um und argumentiert, dass gerade dieser Umstand – die fehlenden Weisungsrechte – für den Vorstand hätten Anlass sein müssen, für eine entsprechende Organisationsstruktur zu sorgen.⁵⁸ Wenn man diese Feststellung im Siemens/Neubürger-Urteil wörtlich nimmt, dann könnte man auf die Idee kommen, das Gericht habe es im konkreten Fall als Pflichtverletzung angesehen, dass der Vorstand den Siemens-Konzern nicht als durchgängigen Vertragskonzern oder GmbH-Konzern mit entsprechenden Weisungsrechten organisiert hat. Das wäre sicher eine überschießende Interpretation von Siemens/Neubürger. Festhalten lässt sich aber, dass dieses wichtige, geradezu kanonische Urteil erstens die konzernrechtliche Dimension erstaunlich kurz behandelt, und zweitens das Gericht im Lichte des damals zu entscheidenden Falls den Konzernvorbehalt als Verteidigungsargument schlicht kurzerhand zurückweist. Sicher kein Paukenschlag, allenfalls ein leichter konzernrechtlicher Trommelwirbel. Interessant ist auch das Porsche-Urteil des Landgerichts Stuttgart vom Dezember 2017.⁵⁹ Das Landgericht vertritt darin die Auffassung, aus der Konzerndimensionalität ergebe sich, dass der Vorstand der Obergesellschaft im Konzern sich nicht mit der Annahme begnügen dürfe, Geschäftsrisiken würden von den Tochtergesellschaften erfasst und im Übrigen habe man im faktischen Konzern Zugriff auf Informationen nur wie jeder andere Aktionär. Vielmehr müsse bei der Obergesellschaft ein eigenes Überwachungssystem nach § 91 Abs. 2 AktG eingerichtet werden.⁶⁰ Das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig.⁶¹ Allerdings hat das Oberlandesgericht die Zurückweisung der Berufung allein auf die Nichtbeantwortung von Fragen gestützt und alle anderen Fragen, insbesondere auch zur konzernweiten Compliance-Verantwortung, dahinstehen lassen. Das ist bedauerlich. Denn letztlich bleibt es, worauf Kort in seiner Urteilsbesprechung⁶² hingewiesen hat, unklar, was das Landgericht eigentlich meint, ob es ihm wirklich um ein Risiko-Frühwarnsystem nach § 91 Abs. 2 AktG oder um konzernweite Compliance-Pflichten geht. Eine Erkenntnis bleibt aber auf jeden Fall: Ist der

 LG München, aaO (Fn. 55), S. 574.  LG Stuttgart, Urt. v. 19.12. 2017– 31 O 33/16, NZG 2018, 665; dazu Kort, NZG 2018, 641; Mayer/ Richter, AG 2018, 220.  LG Stuttgart, Urt. v. 19.12. 2017– 31 O 33/16, NZG 2018, 665, 677 Rz. 217.  OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 7.10. 2019 – 20 U 2/18, BeckRS 2019, 34367 sowie Beschl. v. 18.11. 2019 – 20 U 2/18, BeckRS 2019, 34369.  Kort, NZG 2018, 641, 646.

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Skandal groß genug (Korruption oder Diesel), dann hilft der Konzerneinwand offenbar nur wenig.

III. Praxis der Durchsetzung von Compliance-Maßnahmen im Konzern Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Anforderungen lohnt es, die Praxis der Unternehmen in den Blick zu nehmen. Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Erfahrungen aus der Beratung von Rechts- und Compliance-Abteilungen. Es handelt sich hierbei freilich um eine anekdotische Wiedergabe aus einer Vielzahl von Gesprächen und Beratungssituationen, nicht um empirisch abgesicherte Daten. Es mag andere Erfahrungen geben. Drei Beobachtungen erscheinen indes vielleicht verallgemeinerungsfähig.

1. Unterschiede zwischen regulierten Branchen und allgemeiner Industrie Es gibt einen Unterschied, auch in der Praxis, zwischen den regulierten Unternehmen der Finanz- und Versicherungsbranche und den Konzernen der allgemeinen Industrie und Dienstleistung. Im regulierten Bereich ist ungeachtet von § 25a Abs. 1 KWG, § 275 VAG i.V.m. §§ 23, 26 VAG die Eigenverantwortung der jeweiligen Rechtseinheit im Konzern, die ihrerseits reguliert ist, stärker ausgeprägt. In klassischen Industrie- oder Handelskonzernen hat dagegen der sogenannte „Management View“, der weniger von den rechtlichen Einheiten als von sachlichen Themen her agiert, stärkere Verbreitung.

2. Konzerndimension der Compliance-Maßnahmen Gerade in den Industrieunternehmen, zumal wenn sie einmal mit ComplianceProblemen konfrontiert waren, ist es selbstverständlich, dass Compliance-Programme konzernweit ausgerollt werden. Konzernrichtlinien werden mehr oder weniger ex cathedra verordnet. Berichtslinien werden ohne Rücksicht auf rechtliche Einheiten vielfach direkt aus den verschiedenen Konzerngesellschaften hin zur zentralen Compliance-Organisation etabliert. Bisweilen findet sich noch eine Unterscheidung zwischen der funktionalen Berichtslinie und der disziplinarischen Berichtslinie (sogenannte dotted lines und solid lines). Es lässt sich aber

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kaum feststellen, dass die Konzernobergesellschaft sich auf Aufsicht oder Schadensabwendung im engeren Sinn beschränkte, sondern in der Praxis behandeln die Konzernobergesellschaften mit Blick auf Compliance ihre Konzernunternehmen in aller Regel wie ein Einheitsunternehmen, und zwar auch dann, wenn der Konzern im Übrigen relativ dezentral geführt wird.

3. Keine Durchsetzungsprobleme im faktischen Konzern Führt dies zu einem Umsetzungsproblem in den Tochtergesellschaften? Im Schrifttum wird vertreten, dass konzernweite Compliance-Pflichten „zwangsläufig im Falle faktischer Konzernierung an größere Durchsetzungsgrenzen“ stoßen.⁶³ Hierbei handelt es sich vermutlich eher um eine normative als um eine deskriptive Aussage. Denn das rechtliche Dürfen eines Durchgriffs im Bereich Compliance als solches wird allenfalls in Ausnahmefällen, etwa bei einer sehr selbstbewussten und auf ihre Eigenständigkeit bedachten Landeseinheit, in Frage gestellt. Weder die Umsetzung der Konzern-Compliance-Vorgaben von oben nach unten noch der Erhalt der Informationen aus dem nachgeordneten Bereich von unten nach oben stellen in der Praxis ein größeres Problem dar.⁶⁴ Allenfalls in Form einer Kostendiskussion werden die von der Konzernmutter aufgegebenen Compliance-Maßnahmen bisweilen in Frage gestellt.

IV. Neujustierungen der Compliance-Verantwortung der Konzernverwaltung Wenn man den Befund der Praxis als grundsätzlich zutreffend unterstellt, dann kann man daraus die Rechtsfrage ableiten, ob der Satz, wonach die Pflichtenbindung nicht weiter gehen dürfe als das rechtliche Dürfen, eigentlich stimmt, wenn die faktischen Möglichkeiten im Konzern dieses rechtliche Dürfen offenbar in aller Regel weit hinter sich lassen. Diese Frage erhält besonderes Gewicht im Lichte des beschriebenen Basisphänomens und des sich daraus ergebenden Pa-

 Seibt, aaO (Fn. 40), § 76 Rdn. 28; ähnlich Kort, aaO (Fn. 38), § 91 Rdn. 171.  Christine Windbichler hat in der Diskussion unter Hinweis auf den Honeywell-Fall (BAG, Beschl. v. 22.7. 2008 – 1 ABR 40/07, NZA 2008, 1248) indes zu Recht darauf hingewiesen, dass die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats im Einzelfall sehr wohl eine Schranke für die konzernweite Durchsetzung von Compliance-Richtlinien darstellen können; vgl. dazu auch Reinhard, NZA 2016, 1233.

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radigmenwechsels. Ist eine Neujustierung der Pflichten der Konzernverwaltung im Bereich Compliance angezeigt? Drei Thesen sollen zur Diskussion gestellt werden.

1. Dogmatische Begründung Die Frage der dogmatischen Begründung der Compliance-Pflichten, welche die Konzernverwaltung zu erfüllen hat, ob also Schadensabwendungspflicht oder konzernweite Legalitätskontrollpflicht, kann und sollte angesichts des Basisphänomens keine größere Rolle mehr spielen. Wenn es richtig ist, dass nicht nur im Kartellrecht, sondern zunehmend in mehr und mehr Compliance-relevanten Bereichen der Haftungsdurchgriff nach oben erfolgt, dann ist es ein Gebot sowohl der Schadensabwendungspflicht als auch der Legalitätskontrollpflicht, dass der Vorstand der Konzernobergesellschaft alle notwendigen und angemessenen Vorkehrungen dafür trifft, um systematische Compliance-Verstöße in den Tochtergesellschaften zu verhindern. Soweit es um notwendige und angemessene Compliance-Maßnahmen geht, sei es im präventiven, investigativen oder reaktiven Bereich, darf der Vorstand auch keine Kosten-Nutzen-Analyse anstellen, schon deshalb, weil er – so die These – in der Praxis nur selten den Schaden, der bei unterlassenen Compliance-Maßnahmen durch den Rechtsbruch eintreten könnte, seriös abschätzen kann, und zwar finanziell ebenso wie mit Blick auf die Reputation.⁶⁵ Das sollte nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Vorstand keine Handlungs- und Ermessensspielräume mehr hätte, wie es bisweilen mit dem Begriff der „konzernweiten Legalitätskontrollpflicht“ verbunden und suggeriert wird. Denn was notwendig und angemessen ist, ist seinerseits nicht gesetzlich vorgegeben, sondern eine Frage der Beurteilung. Die gebotene Konvergenz der beiden pflichtenbegründenden Ansätze hat indes zur Folge, dass sich die Pflichtenbindung der Konzernverwaltung gegenüber der bislang herrschenden Auffassung zwar nicht signifikant, aber wohl doch graduell verschärft.⁶⁶

 Zur Reputation als Gesichtspunkt unternehmerischen Handelns: Seibt, DB 2015, 171; Eger, Unternehmensreputation als rechtlicher Parameter, 2020.  In der Tendenz ähnliche Einschätzung bei Seibt, FS K. Schmidt, 2019, S. 431, 434, wonach sich die allgemeine Pflicht zur konzernweiten Compliance-Organisation jedenfalls im Kartell- und Datenschutzrecht zu einer intensiven, tatsächlich effektiv ausgeübten Kontrolle beim abhängigen Börsenunternehmen verdichtet.

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2. Kein Grund zur Aufgabe des Trennungsprinzips Es besteht kein Anlass, zur Durchsetzung der Compliance generell die Konzernbildungsfreiheit und das sie tragende Trennungsprinzip aufzugeben. Darüber nachdenken könnte man allerdings schon. Die Überlegung wäre, dass der Vorstand, damit er im gesamten Konzern auch wirklich für die Einhaltung von Gesetz und Recht sorgen kann, das Unternehmen eben auch rechtlich als eine Einheit, als Einheitsunternehmen zu organisieren hat. Das wäre eine sehr radikale Konsequenz. Was wäre die Rechtfertigung für eine solche Radikallösung? Die Rechtfertigung könnte eigentlich nur sein, dass Compliance etwas Anderes ist als sonstige unternehmerische Entscheidungen, die sich positiv oder negativ auf ihre Umwelt auswirken. Schon diese denkbare rechtfertigende Prämisse ist indes wenig überzeugend. Ist es wirklich schlimmer, wenn ein Unternehmen wegen fehlender Compliance-Maßnahmen gegen die Regeln des fairen Wettbewerbs verstößt oder das Geldwäschegesetz verletzt, im Vergleich zu einer verfehlten unternehmerischen Investition, die womöglich tausende von Arbeitsplätzen kostet? Und selbst wenn man die Prämisse, um des Argumentes willen, als richtig unterstellte, verlangt die Durchsetzung von Compliance wirklich das „Einheitsunternehmen“ und die Aufgabe des konzernrechtlichen Trennungsprinzips? Der Blick auf die Praxis spricht dagegen. Denn offenbar ist es auch im tiefgestaffelten und dezentralen Konzern der Konzernverwaltung möglich, insgesamt für Compliance zu sorgen, auch im faktischen Konzern und bei Tochtergesellschaften in der Rechtsform der AG.⁶⁷ Man muss das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, und man muss die Konzernbildungsfreiheit nicht um der Compliance willen aufgeben.

3. Verbandsvorbehalt als schwaches Verteidigungsargument Daraus folgt zugleich die dritte These: Im Lichte des beschriebenen Basisphänomens wird sich der Vorstand noch weniger als schon bisher im Streitfall damit verteidigen können, er habe angesichts der faktischen Konzernstruktur Compliance-Maßnahmen nicht durchsetzen oder nicht die relevanten Informationen beschaffen können. Soweit der Konzernvorstand sich nicht ohnehin faktisch durchsetzen kann, muss er zumindest alles versuchen, damit Recht und Gesetz auch in den Konzernunternehmen eingehalten werden. Das kann so weit gehen, bei An Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an das relativ neue Instrument des Konzernkoordinierungsvertrags (Relationship Agreement), mit dem entsprechende Berichtslinien und Einflussmöglichkeiten vertraglich geregelt und abgesichert werden, vgl. dazu Seibt, aaO (Fn. 66), S. 431.

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zeichen für Compliance-Probleme oder in besonders risikobehafteten Bereichen personelle Maßnahmen zu ergreifen, also entweder in Form eines Doppelmandats selbst in die Verantwortung zu gehen oder bei einer renitenten Geschäftsführung einen Austausch vorzunehmen. Der (vermeintlich haftungsentlastende) Satz, das rechtliche Dürfen beschränke die Pflichtenlage, stimmt im Bereich Compliance jedenfalls dann nicht, wenn die faktischen Möglichkeiten zum Eingreifen das rechtliche Dürfen überschreiten und ernsthafte Anzeichen für Pflichtverletzungen im nachgeordneten Bereich vorliegen.

V. Schluss Es ist kaum zweifelhaft, dass tradierte konzernrechtliche Gewissheiten ins Wanken geraten sind. Die Compliance-Diskussion hatte indes von Anfang an eine konzernrechtliche Dimension. Dogmatische Begründung und konkrete Ausgestaltung sind allerdings umstritten, jedenfalls im Schrifttum. Die Rechtsprechung hat bislang nicht differenziert zwischen Compliance-Pflichten auf Ebene der Einzelgesellschaft und auf Ebene des Konzerns. In der Praxis bereitet das offenbar ebenfalls keine allzu großen Probleme. Und doch mag das beschriebene Basisphänomen Anlass sein, über eine Neujustierung der Compliance-Verantwortung des Konzernvorstands nachzudenken. Freilich sollte man dabei den Einzelfall im Blick halten und Augenmaß bewahren. Das wusste schon kein Geringerer als Max Hachenburg. Er berichtet in seinen Lebenserinnerungen über den Landgerichtsdirektor Ullrich aus Mannheim: „Er kannte das Leben […]. Er besaß kein Buchwissen. Das Gesetz kannte er, aber Kommentare hatte er nicht studiert. Er suchte, wenn nötig, im Einzelfalle das Rüstzeug. Dagegen war er mit einem untrüglichen Gefühl für das Rechte ausgestattet. Er sagte mir mehrfach: ’Ich frage mich immer erst, wohin meine Empfindung geht, das ist mein bester Kompaß. Die Gründe suche ich mir nachher. Machen Sie’s nur auch so.’ Ich habe [so schreibt Hachenburg] danach gehandelt und tue es auch heute noch.“⁶⁸ Das ist auch eine weise Richtschnur für die Neujustierung der Compliance-Pflichten des Konzernvorstands.

 Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts und Briefe aus der Emigration, S. 89.

Marc-Philippe Weller und Laura Nasse*

Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle Systemkohärenz einer Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten?** Zusammenfassung: Der Referentenentwurf für ein Lieferkettengesetz aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sieht die Einführung einer deliktsrechtlichen Sorgfaltspflicht von inländischen Muttergesellschaften bzw. Großauftraggebern für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Tochtergesellschaften oder Zulieferer vor. Anhand dieses Entwurfs wird im Folgenden überprüft, ob sich eine solche Verkehrspflicht in das System des Gesellschaftsrechts sowie des Deliktsrechts einfügt. Die Anerkennung einer menschenrechtlichen Verkehrsplicht durch judikative Rechtsfortbildung wird in der Diskussion um die „Menschenrechtsverantwortung von Unternehmen“ bislang überwiegend abgelehnt. Mit Blick auf die Internationalität der paradigmatischen Fälle stellt der folgende Beitrag mit der Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle ein weiteres Argument für eine Verkehrspflicht zur Diskussion. Abstract: The draft supply chain act provides for the introduction of an unprecedented duty of care in tort law. Domestic parent companies shall be held liable for human rights violations committed by foreign subsidiaries or suppliers. Based on the draft prepared by the Federal Ministry for Economic Cooperation and Development, this contribution examines whether such a duty of care complies with the rationales of company law and tort law. While the judicial development of a human rights due diligence has been largely rejected, the following article argues for a duty of care on the basis of human rights arbitrage as a cause of risk.

* Prof. Dr. Marc-Philippe Weller, Licencié en droit (Montpellier) ist Direktor am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, Wiss. Ass. Laura Nasse, Heidelberg, promoviert an diesem Institut rechtsvergleichend zur Lieferkettenverantwortung im französischen Recht („Devoir de vigilance“). ** Der Beitrag beruht auf einem Vortrag des Erstverf. auf dem ZGR-Sondersymposium zur „Zukunft des Konzernrechts“ im Dezember 2019 an der Universität Heidelberg. Der Vortragsstil wurde teilweise beibehalten. https://doi.org/10.1515/9783110698077-008

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Inhaltsübersicht I.

II. III. IV. V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

 Einführung . Konzernprinzipien versus Menschenrechtsverantwortung?  . Lieferkette und Konzern: eine vergleichbare Problematik  Gang der Untersuchung  Menschenrechtsverletzungen in der Praxis  Judikative Rechtsfortbildung: Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten?   Legislatives Sonderdeliktsrecht zur Menschenrechtssicherung . Rechtsvergleichende Umschau  a) Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz  b) Loi de vigilance in Frankreich ()  . Referentenentwurf eines Lieferkettengesetzes ()  Systemkohärenz mit dem Gesellschaftsstatut  . Trennungsprinzip  . Haftungsbeschränkung  a) Deliktsorganisationshaftung, keine Durchgriffshaftung  b) Abgrenzung Gesellschafts- und Deliktsstatut  Systemkohärenz mit dem Deliktsstatut  . Keine Haftung für Dritte  . Ausnahmen  . Sicherstellungshaftung  . Lieferkettendimensionale Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung  Thesen: Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle  . Berücksichtigung der Internationalität  . Sachrechtliches Regelungs- oder Durchsetzungsdefizit  . Kollisionsrechtliche Grenzen der Rechtsarbitrage: ordre public, fraus legis, Eingriffsnormen  . Kollisionsrechtliches Schutzdefizit bei Kettenrechtsverhältnissen  . Kombinationsdefizit: Defizitäres Auslandssachrecht und defizitäres Inlandskollisionsrecht  . Missbräuchliche Rechtsarbitrage  . Von der Sachgefahr zur Rechtsarbitragegefahr  . Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle  . Exkulpation bei hinreichender Organisation (Vertragsgestaltung)  Kollisionsrechtliche Absicherung der Menschenrechtssicherung via Eingriffsnorm  . Problem: Anwendbarkeit ausländischen Rechts (Art.  Abs.  Rom II-VO)  . Ausweg: Eingriffsnorm (Art.  Rom II-VO)  . „Kleine“ oder „große“ Eingriffslösung?  Anhang 

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I. Einführung 1. Konzernprinzipien versus Menschenrechtsverantwortung? Ist der faktische Konzern und mit ihm das Prinzip der beschränkten Haftung im Kapitalgesellschaftsrecht durch zunehmende Haftungsdurchbrechungen in Gefahr? Diese Sorge treibt große Teile der Unternehmenspraxis um. In der Kritik steht neben dem Kartellrecht, das bei der Sanktionierung von Kartellverstößen einer Tochtergesellschaft auch auf die Muttergesellschaft durchgreift, namentlich die Corporate Social Responsibility. Unter dem Stichwort „Menschenrechtsverantwortung bei Auslandsaktivitäten“ werden insbesondere deliktsrechtliche Verkehrspflichten der Konzernmutter für Menschenrechtsverletzungen durch Tochtergesellschaften diskutiert.¹ Bejahte man diese, liefe dies – so etwa Habersack/Zickgraf – funktional auf eine Aushöhlung der Haftungsbeschränkung hinaus.² Beispielhaft angeführt sei insofern die Medienberichterstattung über die Bevölkerungsgruppe der Uiguren, die von China unterdrückt würden und von deren Arbeitskraft möglicherweise europäische Unternehmen profitierten. Die darauf angesprochene Volkswagen AG hat unmittelbar reagiert: Wir stehen „zu unserer Verantwortung zur Wahrung der Menschenrechte – in allen Geschäftsbereichen, die wir direkt kontrollieren können.“³ Im Folgenden liegt der Fokus auf der Verantwortung der inländischen Muttergesellschaft (in Konzernkonstellationen) bzw. dem inländischen Großauftraggeber (in Lieferketten). Kann eine Person, die eigentlich nur in einer vertraglichen Verbindung zu einer Konzerntochter oder Enkelgesellschaft steht (z. B. ein Arbeitnehmer), im Schadensfall die Muttergesellschaft unmittelbar in Anspruch nehmen? Falls ja, ist ein solcher Direktanspruch kompatibel mit dem Konzernrecht? Oder muss man nicht vielmehr einräumen, dass das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip und das Prinzip der Haftungsbeschränkung (vgl. § 1 AktG, § 13 GmbHG) einer solchen Verkehrspflicht entgegenstehen?⁴

 ECCHR/Brot für die Welt/MISEREOR, Unternehmen zur Verantwortung ziehen, 2014.  Habersack/Zickgraf, Deliktsrechtliche Verkehrs- und Organisationspflichten im Konzern, ZHR 182 (2018), 252, 259.  Zitiert nach Tagesschau, Sendung vom 25.11. 2019, Video abrufbar unter https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/china-cables-wirtschaft-101.html (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020); vgl. auch den Code of Conduct des Volkswagen Konzerns, S. 9 sowie den Code of Conduct für Geschäftspartner der Volkswagen AG, S. 16 ff., beide abrufbar unter https://www.volkswagenag.com/ de/sustainability/business-and-human-rights.html (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Vgl. Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 759 ff.

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Die Fragestellung hat Prinzipiencharakter: So wird der Konzern als „Kulturgut aus Privatautonomie“ (Hommelhoff) bezeichnet.⁵ Manche meinen, der Konzern sei „die organisatorische Schöpfung des 20. Jahrhunderts“ (Druey).⁶ Hinzu kommt die Ansicht, das Konzernrecht sei nicht nur als Schutzrecht, sondern als enabling law zu sehen (Teichmann); betont wird insofern die Ermöglichungsfunktion des Konzernrechts, was wiederum die Risiko- und Haftungssegmentierung voraussetzt, weil sonst rechtssicheres Handeln nicht denkbar ist.⁷ Kann man vor diesem Hintergrund in § 823 Abs. 1 BGB überhaupt eine Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung verorten, ohne einen Systembruch mit dem Gesellschafts- und Deliktsrecht herbeizuführen? Dies soll im Folgenden eruiert werden.

2. Lieferkette und Konzern: eine vergleichbare Problematik Dabei wird nicht nur auf Konzernkonstellationen abgestellt, sondern zugleich auf Lieferketten, bei denen es um die Haftung der inländischen Auftraggebergesellschaft für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Subunternehmer oder Lieferanten geht. Denn könnten in der Lieferkette Verkehrspflichten über die vertragsrechtlich verknüpften Rechtsträger hinweg – gleichsam lieferkettendimensional – begründet werden, existierten solche Verkehrspflichten erst recht konzerndimensional zwischen Konzerngesellschaften, da zwischen Mutter-, Tochter- und Enkelgesellschaften nicht nur eine schuldrechtliche Verbindung über einen Werk- oder Kaufvertrag, sondern eine (intensivere) mitgliedschaftliche Verbindung besteht. Insofern liegen die beiden Phänomene nah beieinander: die deliktsrechtliche Verantwortung an der Spitze der Lieferkette und diejenige an der Spitze des Konzerns. Wenn nachfolgend eine Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten thematisiert wird, haben die Ausführungen mithin zugleich Bedeutung für Konzernverhältnisse.

 Hommelhoff, Konzernorganisation und Haftungsbeschränkung – Zur Legitimität des faktischen Konzerns, ZGR 2019, 379, 398 f.  Druey, SZW 2012, 414, 416.  Teichmann, Europäisches Konzernrecht: Vom Schutzrecht zum Enabling Law, AG 2013, 184 ff.

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II. Gang der Untersuchung Zunächst sollen Beispiele skizziert werden, die im Zusammenhang mit der Verantwortung von Inlandsunternehmen für Menschenrechtsverletzungen diskutiert werden (unter III.). Sodann geht es um die Frage, ob die Judikative § 823 Abs. 1 BGB dergestalt fortbilden könnte, dass sie eine lieferkettendimensionale Verkehrspflicht zur Menschenrechtsverantwortung kreiert (unter IV.). Das verneint die h. M. bislang.⁸ Der Gesetzgeber könnte allerdings eine solche Verkehrspflicht statuieren, indem er ein entsprechendes Sonderdeliktsrecht verabschiedet. Die Rechtsvergleichung gibt uns hier gewisse Impulse (unter V.). Es liegt auch schon ein Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: BMZ) vor.⁹ Dieser soll exemplarisch herangezogen und auf seine Systemkohärenz hin überprüft werden: zum einen mit dem Gesellschaftsstatut (unter VI.) und sodann mit dem Deliktsstatut (unter VII.). Als weiteres Argument für eine lieferkettendimensionale Verkehrspflicht soll dabei die Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle zur Diskussion gestellt werden (unter VIII.). Überlegungen zum anwendbaren Recht – kleine oder große Eingriffslösung – runden den Beitrag ab (unter IX.).

III. Menschenrechtsverletzungen in der Praxis Menschenrechtsverletzungen sind in unterschiedlichen Wirtschaftsbranchen und Wertschöpfungsketten zu beklagen, häufig in der Textil- und Rohstoffindustrie. An Allerheiligen berichtete etwa die Rhein-Neckar-Zeitung über verbreitete Kinderarbeit in indischen Steinbrüchen: Kinder würden eingesetzt zur Herstellung der Grabsteine; sie arbeiteten ohne Gehörschutz, ohne Arbeitsschuhe, ohne Atemmasken, ohne Hitzeschutz, die Lebenserwartung liege bei 40 Jahren.¹⁰ Wenn in diesem Zusammenhang von Menschenrechtsverletzungen die Rede ist, dann geht es um gewisse Kernmenschenrechte. Dazu gehören diejenigen der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labor Organisation, sog. ILO-

 Siehe infra unter IV.  Entwurf eines Gesetzes zur Regelung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz – SorgfaltspflichtenG) vom 1. 2. 2019, abrufbar unter https://www.business-humanrights.org/sites/default/files/documents/ SorgfaltGesetzentwurf_0.pdf (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020). Ein Auszug des Entwurfs ist am Ende des Beitrages abgedruckt.  Giertz, Das traurige Geheimnis der Grabsteine, RNZ, 31.10. 2019.

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Kernarbeitsnormen).¹¹ Eines der von Deutschland ratifizierten Übereinkommen betrifft das Verbot der Kinderarbeit und die Bekämpfung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit (im Folgenden: Übereinkommen Nr. 182).¹² Laut Art. 7 Nr. 2 dieses Übereinkommens verpflichten sich die Mitgliedstaaten, den Einsatz von Kindern bei den schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu verhindern, zu denen die skizzierte Arbeit im Steinbruch gehört.¹³ Allerdings sind nach Art. 10 Nr. 1 des Übereinkommens Nr. 182 nur die Signatarstaaten der jeweiligen Übereinkommen die Adressaten der völkerrechtlichen Pflichten.¹⁴ Private Akteure und namentlich Unternehmen werden durch völkerrechtliche Verträge hingegen nicht unmittelbar gebunden und verpflichtet.¹⁵ In Betracht kommt indes eine mittelbare Bindung der Unternehmen über Generalklauseln und offene Rechtsbegriffe des kollisionsrechtlich anwendbaren nationalen Zivilrechts, wie sie in Deutschland von der Grundrechtsdogmatik bekannt ist und wie sie auch in Europa bei der horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten teilweise diskutiert wird.¹⁶ Man kann insofern von einem private enforcement der Menschenrechte sprechen.¹⁷

 Der Begriff der Kernarbeitsnormen steht für vier Grundprinzipien der ILO, die in acht Übereinkommen ausgestaltet sind: Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen, Beseitigung der Zwangsarbeit, Abschaffung der Kinderarbeit, Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, vgl. ILO, Kernarbeitsnormen, abrufbar unter https://www.ilo.org/berlin/ arbeits-und-standards/kernarbeitsnormen/lang–de/index.htm (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  ILO, Übereinkommen Nr. 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, 1999, abrufbar unter https://www.ilo.org/berlin/ar beits-und-standards/kernarbeitsnormen/lang-de/index.htm (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Art. 7 Nr. 2 Übereinkommen Nr. 182: „Jedes Mitglied hat unter Berücksichtigung der Bedeutung der Schuldbildung für die Beseitigung der Kinderarbeit wirksame Maßnahmen (…) zu treffen, um: a) den Einsatz von Kindern bei den schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu verhindern;“.  Art. 10 Nr. 1 Übereinkommen Nr. 182: „Dieses Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Ratifikation durch den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes eingetragen ist.“.  Speziell hinsichtlich einer Bindung von Unternehmen an die Menschenrechte Krajewski, Die Menschenrechtsbindung transnationaler Unterehmen, MRM 2012, 66, 71; Peters, Jenseits der Menschenrechte, 2014, S. 91.  Zur mittelbaren Menschenrechtsbindung Peters, Jenseits der Menschenrechte, 2014, S. 60 ff.; Schmalenbach, Multinationale Unternehmen und Menschenrechte, AVR 39 (2001), 57, 63 ff.  Vgl. Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 190; zum Begriff des private law enforcement Kern, Private Law Enforcement versus Public Law Enforcement, ZZPInt 12 (2007), 351, 352 ff.

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IV. Judikative Rechtsfortbildung: Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten? Es stellt sich die Frage, ob die Judikative eine mittelbare Menschenrechtsbindung privater Akteure rechtsfortbildend über eine neue Fallgruppe der deliktsrechtlichen Verkehrspflichten – eine Pflicht zur Sicherung der Menschenrechte in der Lieferkette – begründen könnte. § 823 Abs. 1 BGB erfasst zunächst nur die Verletzung absoluter Rechte und Rechtsgüter.¹⁸ Hier zeigt sich eine Filterfunktion dieser sog. kleinen deliktsrechtlichen Generalklausel zugunsten der Unternehmen.¹⁹ Deliktsrechtlich würden nur solche Menschenrechtsverletzungen sanktioniert, die tatsächlich zu einer absoluten Rechtsgutsverletzung geführt haben, z. B. zu einer Gesundheitsschädigung oder einer Freiheitsberaubung (etwa bei manchen modernen Formen von Sklaverei²⁰). Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen (z. B. Hitze, überlange Arbeitszeiten) als solche reichen hingegen nicht aus; vielmehr müssten sie sich erst in einer absoluten Rechtsgutsverletzung niedergeschlagen haben, um über § 823 Abs. 1 BGB zu Schadensersatz führen zu können.²¹ Die eigentliche Haftungshürde ist indes das Tatbestandsmerkmal der Verkehrssicherungspflicht auf Ebene der Rechtswidrigkeit. Bei den hier typischerweise vorliegenden Organisationsdefiziten (Unterlassen) muss die Rechtswidrigkeit positiv festgestellt werden, indem man im Lichte einer Gefahrenquelle zunächst das Bestehen einer Verkehrspflicht identifiziert und sodann deren Verletzung prüft.²² Verkehrssicherungspflichten entstehen grundsätzlich bei der Schaffung oder Unterhaltung einer Gefahrenquelle für denjenigen, der Einfluss auf diese Gefahrenquelle hat.²³ Ganz herrschend ist dabei die Ansicht, dass die Gefahrenquelle –

 Palandt/Sprau, 79. Aufl. 2020, § 823 BGB Rn. 2, 11.  Weller/Thomale, Menschenrechtsklagen gegen deutsche Unternehmen, ZGR 2017, 509, 521.  Siehe den UK Modern Slavery Act, 2015.  Weller/Kaller/Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387, 400; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 754.  Siehe zu diesem „Prüfungsaufbau“ auch Fleischer/Korch, Zur deliktsrechtlichen Verantwortlichkeit von Auftraggebern in der Lieferkette, ZIP 2019, 2181, 2188.  St. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 6. 3.1990 – VI ZR 246/89, NJW-RR 1990, 789; Urteil vom 8.11. 2005 – VI ZR 332/04, NJW 2006, 610, 611 Rn. 9; Urteil vom 2. 3. 2010 – VI ZR 223/09, NJW 2010, 1967 Rn. 5; Urteil vom 2.10. 2012 – VI ZR 311/11, NJW 2013, 48 Rn. 6; Urteil vom 1.10. 2013 – VI ZR 369/12,VersR 2014, 78, 79 Rn. 13; Urteil vom 25. 2. 2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104, 2105 Rn. 8; Palandt/Sprau, 79. Aufl. 2020, § 823 BGB Rn. 46; Wagner in MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 397, 403.

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etwa im vorerwähnten Beispiel des Steinbruchs in Indien – (nur) von demjenigen Unternehmen ausgeht, das diesen Steinbruch unmittelbar im Ausland betreibt, d. h. die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen im Ausland unmittelbar schafft oder zulässt, z. B. in der Textil- oder Rohstoffbranche.²⁴ Dies ist Konsequenz des Trennungsprinzips, das im Rahmen der Verkehrspflichten grundsätzlich zu berücksichtigen ist. Vor dem Hintergrund der (primären) Verkehrspflichtigkeit des ausländischen Sub- oder Tochterunternehmens verneint die h. M. eine daneben bestehende (weitere) Verkehrspflicht des inländischen Auftraggeber- oder Mutterunternehmens.²⁵

V. Legislatives Sonderdeliktsrecht zur Menschenrechtssicherung 1. Rechtsvergleichende Umschau Dem Gesetzgeber steht es allerdings frei anzuordnen, dass neben dem primär Verkehrssicherungspflichtigen noch eine weitere verkehrssicherungspflichtige Person einzutreten hat. Dies zeigt rechtsvergleichend das Beispiel des DoddFrank Acts in den USA, der – sektoriell beschränkt – Sorgfaltspflichten für Importeure sog. Konfliktmineralien aus dem Kongo statuiert.²⁶ Die US-Regelung ist

 Weller/Kaller/Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387, 401 f.; Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 201; Koch, Compliance-Pflichten im Unternehmensverbund?, WM 2009, 1013, 1019; Spindler, Unternehmensorganisationspflichten, 2. Aufl. 2011, S. 948 f.; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 757 f.  Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 196 ff.; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen RabelsZ 80 (2016), 717, 766; ders. in MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 100; ebenfalls de lege lata (noch) skeptisch Weller/Kaller/ Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387, 401 f.  Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act, 2010 (U.S. Act H.R. 4173), Section 1502, abrufbar unter https://www.sec.gov/answers/about-lawsshtml.html#df2010 (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).

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das Vorbild für die Europäische Konfliktmineralienverordnung, die im Januar 2021 in Kraft treten wird.²⁷

a) Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz In der Schweiz wird derzeit sehr kontrovers die Konzernverantwortungsinitiative debattiert.²⁸ Der Gesetzentwurf, der inzwischen im Gesetzgebungsverfahren schon mehrfach modifiziert wurde, sieht als Grundsätze vor: (1.) Inländische Unternehmen haben auch im Ausland die Menschenrechte zu respektieren.²⁹ Die herrschende Völkerrechtsdogmatik, wonach nur die Staaten an Menschenrechte gebunden sind, würde hier mithin legislativ überformt; der Gesetzgeber ordnet eine Menschenrechtsbindung der Unternehmen explizit an. Das kann ein Gesetzgeber ohne Weiteres tun für Unternehmen, die in seinem territorialen Einflussbereich sind.³⁰ (2.) Inländische Unternehmen haben dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte auch von den durch sie kontrollierten Unternehmen respektiert werden.³¹

 Verordnung (EU) 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal,Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten.Vgl. dazu Heße/Klimke, Die EU-Verordnung zu Konfliktmineralien: Ein stumpfes Schwert?, EuZW 2017, 446 ff.; Teicke/Rust, Gesetzliche Vorgaben für Supply Chain Compliance – Die neue Konfliktmineralien-Verordnung, CCZ 2018, 39 ff.  Vgl. https://konzern-initiative.ch/ (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020); Bueno, The Swiss Popular Initiative on Responsible Business, in: L.F.H. Enneking, et al. (Hrsg.), Accountability and International Business Operations: Providing Justice for Corporate Violations of Human Rights and Environmental Standards, im Erscheinen, S. 1, 15 f., abrufbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/ papers.cfm?abstract_id=3125672 (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020); Geisser, Die Konzernverantwortungsinitiative, AJP/PJA 2017, 943 ff.; krit. Böckli/Bühler, Zur Konzernverantwortungsinititiative, in Schriften zum Aktienrecht, 2018, S. 69; dies., Konzernverantwortung ohne Grenzen, in Kunz/Arter/Jörg (Hrsg.), Entwicklungen im Gesellschaftsrecht XII, 2017, S. 146 ff.; Bühler, Konzernhaftungsrisiken und mögliche Vorkehrungen zu deren Minimierung, in Grolimund/Koller/ Loacker/Portmann (Hrsg.), FS Schnyder, 2018, S. 989, 1002 ff.  Art. 101a Abs. 2 Buchst. a) S. 1 Schweizer Bundesverfassung (Entwurf): „Die Unternehmen haben auch im Ausland die international anerkannten Menschenrechte sowie die internationalen Umweltstandards zu respektieren;“, abrufbar unter https://konzern-initiative.ch/downloads/ (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Vgl. zum Ganzen Weilert, Transnationale Unternehmen im rechtsfreien Raum? Geltung und Reichweite völkerrechtlicher Standards, ZaöRV 69 (2009), 883, 890 ff.  Art. 101a Abs. 2 Buchst. a) S. 2 Schweizer Bundesverfassung (Entwurf): „(S)ie [die Unternehmen] haben dafür zu sorgen, dass die international anerkannten Menschenrechte und die

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Hier also hätte man eine gesetzliche Anordnung der rechtsträgerübergreifenden (konzerndimensionalen) Verkehrssicherungspflicht im Konzern. Die deliktsrechtliche Außenhaftung der Muttergesellschaft gegenüber etwaigen Geschädigten im Ausland wäre die denkbare Folge. (3.) Erfasst werden nicht nur gesellschaftsrechtliche Konzernverbindungen, sondern auch schuldrechtliche Lieferketten. Denn ob ein Unternehmen kontrolliert wird, bestimme sich, so der Gesetzentwurf, nach den tatsächlichen Verhältnissen.³² Eine Kontrolle könne auch durch schlicht wirtschaftliche Machtausübung erfolgen.³³ Insofern löst sich der Schweizer Entwurf von der mitgliedschaftlichen Verbindung, d. h. vom Konzernrecht, und erstreckt ihn auch auf Lieferanten und Subunternehmer, soweit hier eine enge Geschäftsbeziehung und wirtschaftliche Einflussnahme besteht.³⁴ (4.) Abgerundet wird der Schweizer Regelungsentwurf durch die Anordnung einer Haftungsfolge, die an die vorherige Pflichtenstatuierung anknüpft.³⁵ Das Inlandsunternehmen soll für Menschenrechtsverletzungen durch Auslandsunternehmen haften, die in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtung begangen wurden. Angespielt wird insoweit auf die Figur des Verrichtungsgehilfen.³⁶ Nach deutscher Dogmatik sind das freilich nur Personen, die weisungsgebunden und sozial abhängig sind, typischerweise Arbeitnehmer, aber jedenfalls keine selbständigen Gesellschaften.³⁷

internationalen Umweltstandards auch von den durch sie kontrollierten Unternehmen respektiert werden;“.  Art. 101a Abs. 2 Buchst. a) S. 3 Schweizer Bundesverfassung (Entwurf): „(O)b ein Unternehmen ein anderes kontrolliert, bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen; eine Kontrolle kann faktisch auch durch wirtschaftliche Machtausübung erfolgen;“.  Ebd.  Vgl. zum Begriff der „Kontrolle“ auch die Erläuterungen zur Eidgenössischen Volksinitiative „Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt“, S. 43 f., ebenfalls abrufbar unter https://konzern-initiative.ch/downloads/ (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Art. 101a Abs. 2 Buchst. c) Schweizer Bundesverfassung (Entwurf): „Die Unternehmen haften auch für den Schaden, den durch sie kontrollierte Unternehmen aufgrund der Verletzung von international anerkannten Menschenrechten oder internationalen Umweltstandards in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtung verursacht haben; sie haften dann nicht nach dieser Bestimmung, wenn sie beweisen, dass sie alle gebotene Sorgfalt (…) angewendet haben, um den Schaden zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.“  Die Haftungsnorm ist der Geschäftsherrenhaftung im schweizerischen Obligationenrecht gemäß Art. 55 OR nachgebildet, vgl. die Erläuterungen zur Eidgenössischen Volksinitiative (Fn. 34), S. 41 ff.  Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 193 f.;

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Die Schweizer Konzernverantwortungsinitiative wurde aus Unternehmenssicht im Gesetzgebungsverfahren inzwischen deutlich „entschärft“.³⁸ Als rechtsvergleichende Folie ist der ursprüngliche Entwurf für Deutschland dennoch problemerhellend.

b) Loi de vigilance in Frankreich (2017) In Frankreich wurde im Jahr 2017 bereits die sog. „Loi de vigilance“ verabschiedet.³⁹ Inländische Großunternehmen haben hiernach einen auf Menschenrechte und Umweltschutz ausgerichteten Risiko- und Maßnahmenplan zu etablieren.⁴⁰ Die Menschenrechtssicherung bezieht sich nicht nur auf die Aktivitäten der Muttergesellschaft selbst, sondern auch auf die von ihr kontrollierten Gesellschaften (sociétés contrôlées).⁴¹ Ebenso sollen die Aktivitäten der „sous-traitants ou fournisseurs“, mithin der Subunternehmer und Lieferanten einbezogen wer-

Wagner in MüKoBGB, § 831 BGB Rn. 14 ff.; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 759; Weller/Kaller/Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387, 407.  Ein Vergleich des ursprünglichen Entwurfs der Volksinitiative mit dem Gegenvorschlag des Nationalrats und der Rechtskommission Ständerat ist abrufbar unter https://www.kvi-gegenvorschlag.ch/app/download/7453979064/2– 1-Vergleich%20Initiative%20vs%20RKS-Gegenvorschlag_DE.pdf?t=1576492580 (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Vgl. zum Gesetz und zur Rechtslage vor dessen Inkfrafttreten Nasse, Devoir de vigilance – Die neue Sorgfaltspflicht zur Menschenrechtsverantwortung für Großunternehmen in Frankreich, ZEuP 2019, 773 ff.; für eine deutsche Übersetzung der Normen vgl. Fleischer/Danninger, Konzernhaftung für Menschenrechtsverletzungen, DB 2017, 2849, 2851; Mansel, Internationales Privatrecht de lege lata wie de lege ferenda und Menschenrechtsverantwortlichkeit deutscher Unternehmen, ZGR 2018, 439, 474 ff.  Art. L. 225 – 102– 4 I Abs. 1 Code de commerce: „Toute société qui emploie, à la clôture de deux exercices consécutifs, au moins cinq mille salariés en son sein et dans ses filiales directes ou indirectes dont le siège social est fixé sur le territoire français, ou au moins dix mille salariés en son sein et dans ses filiales directes ou indirectes dont le siège social est fixé sur le territoire français ou à l’étranger, établit et met en œuvre de manière effective un plan de vigilance.“ (Hervorhebungen durch Verf.). Vgl. Brabant/Michon/Savourey, Le plan de vigilance, Revue international de la compliance et de l’éthique des affaires 2017, 93, S. 26 ff.  Art. L. 225 – 102– 4 I Abs. 3 Code de commerce: „Le plan comporte les mesures de vigilance raisonnable propres à identifier les risques et à prévenir les atteintes graves envers les droits humains et les libertés fondamentales, la santé et la sécurité des personnes ainsi que l’environnement, résultant des activités de la société et de celles des sociétés qu’elle contrôle (…), ainsi que des activités des sous-traitants ou fournisseurs avec lesquels est entretenue une relation commerciale établie, lorsque ces activités sont rattachées à cette relation.“ (Hervorhebungen durch Verf.).

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den, mit denen eine „relation commerciale établie“, d. h. eine laufende Geschäftsbeziehung, besteht.⁴² Über einen Verweis auf die deliktsrechtliche Generalklausel in Art. 1240, 1241 Code civil wird im Falle einer Verletzung der neuen Sorgfaltspflicht – sei es durch gänzliches Fehlen eines Überwachungsplans, unzureichende Aufstellung oder mangelhafte Umsetzung eines bestehenden Plans –, die kausal zu einer Menschenrechtsverletzung führt, die deliktsrechtliche Haftung angeordnet.⁴³ Nach deutscher Terminologie wurde mit der „Loi de vigilance“ also eine Unternehmensorganisationspflicht eingeführt.⁴⁴ In Paris ist derzeit das erste Verfahren auf Grundlage des neuen Sorgfaltspflichtengesetzes rechtshängig: Als Teil zweier Großprojekte des französischen Ölunternehmes Total S.A. in Uganda („Tilenga“ und „EACOP“) sollen in einem Naturschutzgebiet Bohrungen stattfinden und eine Pipeline durch Tansania bis zum indischen Ozean gebaut werden.⁴⁵ Im Bohrgebiet leben jedoch Menschen, die zuvor umgesiedelt werden müssen. Die Betroffenen wehren sich nun mithilfe von NGOs gegen Total. Sie stützen sich u. a. auf ein Übereinkommen der ILO über Rechte von in Stämmen lebenden Völkern in unabhängigen Ländern.⁴⁶ Hiernach haben indigene Völker das Recht, bei der Aufstellung von Rohstoffabbauplänen Einfluss zu nehmen.⁴⁷ Ein solches Beteiligungsrecht sei auch im Sorgfaltsplan von Total vorgesehen.⁴⁸ Die Betroffenen rügen jedoch, sie seien beim Tilenga-Projekt nicht hinreichend einbezogen worden.⁴⁹ Ferner berücksichtige der Sorgfaltsplan

 Art. L. 225 – 102– 4 I Abs. 3 Code de commerce. Zum Begriff der relation commerciale établie vgl. Nasse, Devoir de vigilance – Die neue Sorgfaltspflicht zur Menschenrechtsverantwortung für Großunternehmen in Frankreich, ZEuP 2017, 773, 792 f. m.w.N.  Art. L. 225 – 102– 5 Abs. 1 Code de commerce: „Dans les conditions prévues aux articles 1240 et 1241 du code civil, le manquement aux obligations définies à l’article L. 225 – 102– 4 du présent code engage la responsabilité de son auteur et l’oblige à réparer le préjudice que l’exécution de ces obligations aurait permis d’éviter.“.  Vgl. zur Unternehmensorganisationspflicht im deutschen Recht statt vieler Spindler, Unternehmensorganisationspflichten, 2. Aufl. 2011; Wagner in MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 97 ff.  Vgl. zum Sachverhalt den Rapport der französischen NGOs Les Amis de la Terre France/Survie, Manquements graves à la loi sur le devoir de vigilance: Le cas TOTAL en Ouganda (im Folgenden: Rapport), abrufbar unter https://www.totalautribunal.org/ (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020). Die Bezeichnung „EACOP“ steht für „East African Crude Oil Pipeline“, s. Rapport, S. 6.  ILO, Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, 1989, abrufbar unter https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@nor mes/documents/publication/wcms_100900.pdf (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Vgl. Art. 7 des Übereinkommens Nr. 169.  Les Amis de la Terre France/Survie, Rapport (Fn. 45), S. 26.  Les Amis de la Terre France/Survie, Rapport (Fn. 45), S. 27 f.

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von Total die Auswirkungen des Projekts auf die Umwelt nicht in ausreichendem Maße.⁵⁰ Die rechtliche Struktur des Falls ist etwas komplex: Total S.A., die Muttergesellschaft in Paris, hat eine 100 %-ige Tochtergesellschaft in Uganda. Diese wiederum bedient sich einiger Subunternehmen (in der Rechtsform ugandischer Limiteds) in laufender Geschäftsbeziehung.⁵¹ Die NGOs verlangen von Total präventiv (nach deutschem Recht würde man an § 1004 BGB als Anspruchsgrundlage denken), einen Plan zu etablieren, welcher der französischen „devoir de vigilance“ entspricht.⁵² Konkret bedeutete das, zugunsten der dortigen Bevölkerung weitergehende Entschädigungsmaßnahmen und Umsiedlungsmaßnahmen vorzusehen und diese effektiv umzusetzen. Der Rechtsstreit zeichnet sich durch eine in praxi typische Kombination aus Konzern und Lieferkette aus: Zunächst geht es um die Menschenrechtssicherung durch Total S.A. in der ugandischen Tochtergesellschaft (société contrôlée), darüber hinaus aber auch um die Menschenrechtssicherung in der Lieferkette/ Subunternehmerkette, die bei der ugandischen Tochter ihren Ausgangspunkt nimmt. Ob sich die Pflicht zur Menschenrechtssicherung der Muttergesellschaft auch auf solche Konzern-Lieferkettenstrukturen erstreckt, ist bislang nicht geklärt.⁵³ Es ist jedenfalls nicht per se ausgeschlossen, denn das französische Gesetz ist passivisch formuliert („ainsi que des activités des sous-traitants ou fournisseurs avec lesquelles est entretenue une relation commerciale établie“). Der Wortlaut setzt also nicht voraus, dass die Subunternehmer eine laufende Geschäftsbeziehung unmittelbar mit der Muttergesellschaft haben; vielmehr lässt er Spielraum für eine Interpretation, nach der die Lieferkette erst auf Ebene der Tochtergesellschaft beginnt.⁵⁴

 Les Amis de la Terre France/Survie, Rapport (Fn. 45), S. 30 ff.  Les Amis de la Terre France/Survie, Rapport (Fn. 45), S. 9.  Vgl. dazu auch Tribunal de grande instance (TGI) de Nanterre, Ordonnance de référé vom 30.1. 2020, S. 3 ff., abrufbar unter http://www.amisdelaterre.org/IMG/pdf/decision_tgi_nanterre_ 30012020_-_adt_survie_c._total.pdf (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Brabant/Michon/Savourey, Le plan de vigilance, Revue international de la compliance et de l’éthique des affaires 2017, 93, S. 26, 28 f. m.w.N.; Jazottes, Sous-traitance et relation commerciale établie au sens de l’article L. 442– 6 du Code de commerce : quelle pertinence pour le plan de vigilance ?, Revue Lamy droit des affaires 2018, n° 139; Nasse, Devoir de vigilance – Die neue Sorgfaltspflicht zur Menschenrechtsverantwortung für Großunternehmen in Frankreich, ZEuP 2019, 773, 792 f.  Brabant/Michon/Savourey, Le plan de vigilance, Revue international de la compliance et de l’éthique des affaires 2017, 93, S. 26, 28 f. m.w.N.

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Man darf gespannt sein, wie die französischen Gerichte in dem ersten (Pilot‐) Verfahren auf Grundlage der „Loi de vigilance“ entscheiden werden.⁵⁵

2. Referentenentwurf eines Lieferkettengesetzes (2019) In Deutschland war man bisher sehr zurückhaltend, was die Einführung einer „Loi de vigilance“ angeht. Inzwischen hat indessen auch⁵⁶ die CDU auf ihrem Parteitag beschlossen, die Durchsetzung von Menschenrechten in der Lieferkette zu regeln.⁵⁷ Freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft seien unzureichend. Vielmehr seien gesetzliche Regelungen für die Wertschöpfungskette notwendig, die auch Sanktionen für den Verletzungsfall enthalten sollten. Eine rechtspolitisch interessante Wendung aus unerwarteter Richtung, die einem inländischen Lieferkettengesetz Momentum verleihen dürfte. Der Referentenentwurf eines Lieferkettengesetzes aus dem BMZ sieht die Statuierung einer menschenrechtlichen (und umweltbezogenen) Sorgfaltspflicht vor, mithin eine besondere (gesetzlich angeordnete) Verkehrspflicht im Rahmen des Deliktsrechts.⁵⁸ Der Zweck dieses Gesetzes geht dahin, „den Schutz der international anerkannten Menschenrechte in globalen Wertschöpfungsketten si-

 Der Tribunal de grande instance de Nanterre hat sich am 30.1. 2020 in der Sache für unzuständig erklärt, und hat die Klage an den Tribunal de commerce de Nanterre verwiesen, TGI Nanterre, Ordonnance de référé vom 30.1. 2020 (Fn. 52), S. 6 ff. Die NGOs erwägen, dagegen Berufung einzulegen, Amis de la Terre France, Total Ouganda: le TGI se déclare incompétent au profit du tribunal de commerce, 30.1. 2020, abrufbar unter http://www.amisdelaterre.org/TotalOuganda-le-TGI-se-declare-incompetent-au-profit-du-tribunal-de-commerce.html (zuletzt abgerufen am 4. 2. 2020).  Siehe zuvor bereits der Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, „Transnationale Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen“, vom 12.6. 2013, BTDrs. 17/13916.  CDU, Sonstige Beschlüsse des 32. Parteitags der CDU Deutschlands, 22.-23.11. 2019, Beschluss Nr. C 29 „Verantwortung für Menschenrechte und Umwelt in Lieferketten weltweit durchsetzen“: „(…) Die CDU Deutschlands fordert ein engagiertes Eintreten der Bundesregierung für die Einhaltung und Durchsetzung von Menschenrechten sowie von Sozial- und Umweltstandards entlang der gesamten Lieferkette von Produkten. (…) Freiwillige Selbstverpflichtungen erreichen oft nicht die Breitenwirkung und den Grad an Verbindlichkeit, die notwendig sind, um zu nachhaltigen Veränderungen zu kommen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, (…) gesetzliche Regelungen für die Wertschöpfungskette zu entwickeln. Der Kreis der einzubeziehenden Unternehmen muss dabei alle relevanten Akteure und Sanktionen enthalten. (…)“ (Hervorhebungen durch Verf.).  § 4 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.

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cherzustellen“.⁵⁹ Jedes in den Anwendungsbereich des Lieferkettengesetzes fallende Großunternehmen wird zur Beachtung der besonderen Sorgfalt nach Maßgabe spezieller Bestimmungen (§§ 5 – 11 SorgfaltspflichtenG (Entwurf)) verpflichtet.⁶⁰ Der Inhalt der Sorgfaltspflicht ähnelt der „Loi de vigiliance“ in Frankreich. Die Inlandsgesellschaft hat zunächst eine Risikoanalyse durchzuführen.⁶¹ Die Unternehmen müssten jeweils für ihre Branche spezifisch die Risiken mit Blick auf Menschenrechte und Umweltverschmutzung ermitteln. Das müssen sie ohnehin im Rahmen der nicht-finanziellen Erklärung nach § 289 b HGB. Allerdings geht das Lieferkettengesetz über die CSR-Reportingpflichten im HGB hinaus: So müssen auch Präventionsmaßnahmen in der Geschäftspolitik verankert werden.⁶² Gedacht ist u. a. an privatautonome Gestaltungen im Zuge der Vertragsverhandlungen mit Subunternehmern und Lieferanten. Hier soll das Auftraggeberunternehmen durch entsprechende Vertragsklauseln darauf hinwirken, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden (z. B. durch Vertragsstrafenregelungen, Zertifizierungen oder Audit-Befugnisse).⁶³ Man verpflichtet die Unternehmen in der Lieferkette, keine Kinderarbeit einzusetzen bei der Textilproduktion oder angemessene Arbeitsbedingungen vorzusehen. Schließlich verlangt das Gesetz die Einrichtung von Abhilfemechanismen.⁶⁴ Wenn sich eine Menschenrechtsverletzung herausstellt, müssen angemessene Maßnahmen zur Abmilderung oder zur Verhinderung ergriffen werden.

VI. Systemkohärenz mit dem Gesellschaftsstatut 1. Trennungsprinzip Fraglich ist, ob eine solche lieferketten- oder konzerndimensionale Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung mit einer Haftungsfolge im Verletzungsfall mit dem Gesellschaftsstatut im Einklang steht. Konkret geht es zunächst um die Kompatibilität mit dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip.

 § 1 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.  Der Anwendungsbereich beschränkt sich auf Großunternehmen und sonstige Unternnehmen, die in einem Hochrisikosektor oder in Konflikt- und Hochrisikogebieten tätig sind. Kleinunternehmen sind ausgeschlossen, vgl. § 2 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.  § 5 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.  § 6 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.  § 6 Abs. 2 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.  § 7 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.

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Das Trennungsprinzip besagt, dass die Rechtsträger im Konzern ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Einheit juristisch getrennt behandelt werden.⁶⁵ Konzerngesellschaften sind jeweils ein autonomer Zuordnungspunkt von Rechten und Pflichten. Diese Trennung setzt sich fort bis in die Insolvenz, wo getrennte Insolvenzverfahren über die jeweiligen Konzerngesellschaften stattfinden und gerade keine Konsolidierung der Vermögensmassen aller Konzerngesellschaften vorgenommen wird.⁶⁶ Durchbricht eine konzerndimensionale Verkehrssicherungspflicht dieses Trennungsprinzip? Unseres Erachtens nein, denn es bleibt dabei, dass primär verkehrssicherungspflichtig die Tochtergesellschaft ist. Es geht nur um die Frage, ob eine zusätzliche (originäre) Überwachungs- und Kontrollpflicht der Muttergesellschaft etabliert wird. Ähnlich meinen etwa Fleischer/Korch, dass „das konzernrechtliche Trennungsprinzip in der Lieferkette keine argumentative Hürde“ für eine solche Verkehrssicherungspflicht bilde.⁶⁷

2. Haftungsbeschränkung a) Deliktsorganisationshaftung, keine Durchgriffshaftung Das Prinzip der Haftungsbeschränkung, statuiert in § 1 AktG und § 13 GmbHG, erfährt gewisse Durchbrechungen bei der Durchgriffshaftung.⁶⁸ Allerdings handelt es sich bei einer Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung nicht um eine Fallgruppe der Durchgriffshaftung. Bei letzterer handelt es sich um eine akzessorische Haftung der Gesellschafter (Muttergesellschaft) für Verbindlichkeiten der

 Bayer in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 15 AktG Rn. 49; Heider in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 1 AktG Rn. 46; Wilhelmi in BeckOK GmbHG, Stand: 1. 8. 2019, § 13 GmbHG Rn. 2 ff.; Fleischer/Korch, DB 2019, 1944, 1950 f.  Eidenmüller, Verfahrenskoordination bei Konzerninsolvenzen, ZHR 169 (2005) 528, 529; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 759 f.; Wolfer in BeckOK InsO, 16. Edition, Stand: 15.10. 2019, § 11 InsO Rn. 3; vgl. auch EuGH, Urteil vom 15.12. 2011 – C-191/ 10 – Rastelli Davide e C. Snc/Jean-Charles Hidoux.  Fleischer/Korch, Zur deliktsrechtlichen Verantwortlichkeit von Auftraggebern in der Lieferkette, ZIP 2019, 2181, 2188.  Grigoleit in Grigoleit, Aktiengesetz, 1. Aufl. 2013, § 1 AktG Rn. 90 ff.; Heider in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 1 AktG Rn. 46, 63 ff.; Lieder in Michalski et al. (Hrsg.), GmbH-Gesetz, 3. Aufl. 2017, § 13 GmbHG Rn. 376 ff.

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(Tochter‐)Gesellschaft.⁶⁹ Zwar schwächt eine Deliktsaußenhaftung der Muttergesellschaft das Prinzip der beschränkten Haftung funktional ab, wie Habersack und Zickgraf es treffend formulieren.⁷⁰ Eine Deliktsorganisationshaftung stellt gleichwohl eine eigene originäre Haftung der Muttergesellschaft dar, welche sich von der Verkehrspflicht der Tochtergesellschaft grundlegend unterscheidet: Auf Ebene der Muttergesellschaft geht es um eine Überwachungs- und Organisationspflicht, während die Tochtergesellschaft die unmittelbare Sicherung der Gefahrenquelle schuldet.

b) Abgrenzung Gesellschafts- und Deliktsstatut Dass eine solche deliktsrechtliche Organisationspflicht aber nicht inkompatibel ist mit dem Prinzip der Haftungsbeschränkung, erhellt das IPR. Das Kollisionsrecht trennt nämlich scharf zwischen dem Gesellschaftsrecht und dem Deliktsrecht. Das Gesellschaftsrecht umfasst nach der negativen Qualifikationsnorm des Art. 1 Abs. 2 lit. d) Rom II-VO (nur) die Fälle der persönlichen Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Das sind die Durchgriffsfälle (derivative Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft) oder die akzessorische Haftung bei Personengesellschaften.⁷¹ Dagegen regelt das Deliktsstatut nach Art. 15 lit. a) Rom II-VO den Umfang der Haftung und benennt diejenigen Personen, die originär (!) für ihre Handlungen haftbar gemacht werden können.⁷² Besonders anschaulich zeigt sich die Trennung von Gesellschaftsstatut und Deliktsstatut am Beispiel der englischen LLP (Limited Liability Partnership).⁷³ Die LLP ist eine Partnerschaftsgesellschaft englischen Rechts, die umfassend haftungsbeschränkt ist („bulletproof“), also anders als unsere deutsche Partner-

 Heider in MüKoAktG, 5. Aufl. 2019, § 1 AktG Rn. 63; Weller/Kaller/Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387, 409; Wilhelmi in BeckOK GmbHG, Stand: 1.8. 2019, § 13 GmbHG Rn. 141.  Habersack/Zickgraf, Deliktsrechtliche Verkehrs- und Organisationspflichten im Konzern, ZHR 182 (2018), 252, 259.  V. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 191; Paulus in BeckOGK, Stand: 1.10. 2019, Art. 1 Rom I-VO Rn. 60.  Junker in MüKoBGB, 7. Aufl. 2018, Art. 15 Rom II-VO Rn. 7 ff.; Spickhoff in BeckOK BGB, 52. Edition, Stand: 1.8. 2019, Art. 15 Rom II-VO Rn. 3 f.  Vgl. dazu auch Hübner, Eine Rom-VO für das Internationale Gesellschaftsrecht, ZGR 2018, 149, 156 ff.

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schaftsgesellschaft keine Haftung für (eigene) Berufsfehler kennt.⁷⁴ Allerdings sieht das englische Recht eine deliktsrechtliche Haftung von Anwälten für berufliches Fehlverhalten („malpractice“) vor, d. h. nach englischem Deliktsrecht würde man handelnde Partner haftbar machen können, nicht aber nach englischem Gesellschaftsrecht.⁷⁵ Zahlreiche Anwaltskanzleien in Deutschland haben vor dem Brexit die LLP als Organisationsform genutzt: Sie profitieren dabei gesellschaftsrechtlich von der umfassenden Haftungsbeschränkung des englischen Rechts (das nach der Gründungstheorie auf die LLP Anwendung findet). Zugleich profitieren sie vom nach Art. 4 Rom II-VO anwendbaren deutschen Deliktrecht, das in § 823 Abs. 1 BGB gerade keine Fahrlässigkeitshaftung für Berufsfehler und damit Vermögensschäden vorsieht. Das Kollisionsrecht unterscheidet mithin scharf zwischen der gesellschaftsrechtlichen Haftung und der deliktsrechtlichen Haftung. Das IPR zeigt überdies, dass die gesellschaftsrechtlichen Prinzipien keine Argumente gegen eine – autonom zu würdigende (siehe Art. 15 Rom II-VO) – deliktsrechtliche Haftung zu liefern vermögen.⁷⁶ Diese kollisionsrechtlichen Wertungen sind – im Sinne einer Einheit der (Privat‐)Rechtsordnung – auch für das (deutsche) Sachrecht maßgeblich.

VII. Systemkohärenz mit dem Deliktsstatut 1. Keine Haftung für Dritte Eine lieferketten- und konzerndimensionale Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung könnte allerdings in Widerspruch zu deliktsrechtlichen Prinzipien stehen. Nach deutschem Deliktsrecht haftet man nicht für Dritte, man haftet nur für sein eigenes Fehlverhalten und für seine eigene Sphäre.⁷⁷

 Siehe Weller/Kienle, Die Anwalts-LLP in Deutschland: Anerkennung – Postulationsfähigkeit – Haftung (Teil I), DStR 2005, 1060 ff.  Weller/Kienle, Die Anwalts-LLP in Deutschland: Anerkennung – Postulationsfähigkeit – Haftung (Teil II), DStR 2005, 1102, 1105 f.  Zur autonomen Qualifikation vgl. J. Schmidt in BeckOGK, Stand 1.8. 2018, Art. 1 Rom II-VO Rn. 45; Knöfel in Hüßtege/Mansel (Hrsg.), NomosKommentarBGB, Bd. 6, 3. Aufl. 2019, Art. 1 Rom II-VO Rn. 34.  Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 758; Habersack/ Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 197; Weller/Kaller/

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2. Ausnahmen Allerdings kennt das deutsche Deliktsrecht Auflockerungen dieses Prinzips: So wird beim Verrichtungsgehilfen dessen rechtswidriges Handeln dem überwachungsverschuldenden Geschäftsherrn immerhin über § 831 BGB zugerechnet. Die Rechtsprechung hat überdies die Figur des Organisationsverschuldens kreiert, um Lücken des Deliktsrechts mit Blick auf das Fehlverhalten Dritter zu erfassen.⁷⁸ Dazu zählt namentlich die Produzentenhaftung. Hier unterläuft einem Angestellten ein Fehler, weil er ein Produkt nicht hinreichend kontrolliert etc.; nach § 831 BGB wird die Haftung des Produzenten regelmäßig wegen Exkulpation ausgeschlossen sein: Der Angestellte ist typischerweise zuverlässig, so dass § 831 BGB leerläuft. Die Rechtsprechung schließt diese Lücke zumindest partiell, indem sie dem Unternehmen selbst gewisse Organisationspflichten auferlegt. Die „Hühnerpest-Entscheidung“ als Leitentscheidung verpflichtet den Produzenten zu weitgehenden Planungs- und Kontrollpflichten.⁷⁹ Nach der EU-Produkthaftungsrichtlinie haftet ein Importeur für Produkte, die der Hersteller fehlerhaft hergestellt hat;⁸⁰ in der Sache wird hier eine Haftung für einen anderen Rechtsträger statuiert, also auch eine Art Lieferkettenhaftung. Auch in der Rechtsprechung zu den Verkehrspflichten gibt es bereits Fälle der Haftung für Dritte. So sei ein Gewässeranlieger haftbar für Abwässer, die ein anderer Anlieger weiter oben am Bach eingeleitet habe: Aus 823 Abs. 1 BGB ergebe sich „für jeden, der in seinem Verantwortungsbereich (…) eine Sachlage, von der eine Gefahr für Dritte ausgeht, schafft oder andauern lässt, die Verpflichtung, die ihm zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer tunlichst abzuwenden“.⁸¹

Schulz, Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland, AcP 216 (2016), 387, 401; Palandt/Sprau, 79. Aufl. 2020, § 823 BGB Rn. 46.  Wagner in MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rn. 97 ff., 778, 783.  BGH, Urteil vom 26.11.1968 – VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91, NJW 1969, 269.  Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedschaften über die Haftung für fehlerhafte Produkte, in Deutschland umgesetzt durch das Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ProdukthaftungsG). Vgl. § 4 Abs. 2 ProdukthaftungsG: „Als Hersteller gilt ferner, wer ein Produkt zum Zweck des Verkaufs, (…) im Rahmen seiner geschäftlichen Tätigkeit in den Geltungsbereich des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum einführt oder verbringt.“.  BGH, Urteil vom 23.10.1975 – III ZR 108/73, BGHZ 65, 221 (Hervorhebung durch Verf.).

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3. Sicherstellungshaftung Koziol hat die Fälle der Produkthaftung jüngst unter dem Stichwort der „Sicherstellungshaftung“ dogmatisch konturiert.⁸² Der tragende Gedanke sei, der Importeur müsse sicherstellen, dass in der Kette vor ihm (beim Hersteller) keine Fehler aufgetreten seien und die eingeführten Produkte den inländischen Sicherheitsstandards entsprächen.⁸³ Dieser Gedanke der Sicherstellungshaftung lässt sich unseres Erachtens auf die Menschenrechtsverletzungen übertragen. Das Inlandsunternehmen muss sicherstellen, dass in der Lieferkette keine Verkehrspflichten verletzt werden.

4. Lieferkettendimensionale Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung In der Literatur gibt es bereits eine Reihe von Stimmen, die für eine eng begrenzte lieferkettendimensionale Menschenrechtssicherung plädieren: Habersack/Ehrl etwa meinen, wenn der Importeur sichere Kenntnis davon habe, dass es beim Zulieferer zu Rechtsgutverletzungen komme, entstehe eine solche Verkehrssicherungspflicht.⁸⁴ Fleischer/Korch greifen rechtsvergleichend auf in den USA diskutierte Fallgruppen zurück: Zum einen sei eine Verkehrspflicht denkbar, wenn der Auftraggeber „erheblichen Einfluss im Sinne eines „immediate level of day-to-day control“ auf das operative Geschäft des Zulieferers“ habe.⁸⁵ Das sind natürlich nur wenige Fälle, in denen das Inlandsunternehmen sich tatsächlich in das Tagesgeschäft der Auslandsgesellschaft einmischt. Zum anderen bestünde eine rechtsträgerübergreifende Sorgfaltspflicht bei „hochgefährliche(n) (highly dangerous) Tätigkeiten, die auch bei sorgfältiger Ausführung risikoträchtig bleiben, und solche(n), die entweder wesensmäßig gefährlich (inherently dangerous) oder

 Koziol, Die Sicherstellungshaftung – eine weitere Spur im Haftungsrecht?, AcP 219 (2019), 376 ff.  Koziol, Die Sicherstellungshaftung – eine weitere Spur im Haftungsrecht?, AcP 219 (2019), 376, 386.  Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 203.  Fleischer/Korch, Zur deliktsrechtlichen Verantwortlichkeit von Auftraggebern in der Lieferkette, ZIP 2019, 2181, 2191.

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mit einem ungewöhnlichen Risiko (peculiar risk) behaftet sind und daher besonderer Schutzvorkehrungen bedürfen.“⁸⁶

VIII. Thesen: Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle 1. Berücksichtigung der Internationalität Den aus den USA stammenden Gedanken der Risikoträchtigkeit möchten wir aufgreifen und ein weiteres Argument in Anlehnung an die schon diskutierten Ausnahmefälle entwickeln. Was bisher in der gesamten Diskussion um eine Menschenrechtsverantwortung von Unternehmen noch nicht hinreichend fruchtbar gemacht wurde, ist der internationale Aspekt. Denn wir reden natürlich nicht über die Menschenrechtsverantwortung in der inländischen Lieferkette. Es geht um die Ausnutzung eines Menschenrechts(schutz)gefälles in grenzüberschreitenden Konstellationen, eine Menschenrechtsarbitrage.

2. Sachrechtliches Regelungs- oder Durchsetzungsdefizit Bei der Rechtsarbitrage werden sachrechtliche Unterschiede zwischen Jurisdiktionen zum eigenen Vorteil (z. B. höherer Profit) ausgenutzt: Das Inlandsunternehmen profitiert von niedrigeren Regelungsstandards des ausländischen Sachrechts (z. B. Arbeitsrecht, Brandschutz, Gefahrenabwehrrecht, Gesundheitsschutz, Hygiene etc.) und/oder aber Rechtsdurchsetzungsdefiziten im Ausland (formal existierende Menschenrechtsstandards werden de facto nicht gewährleistet, etwa in Fällen von Korruption, willkürlicher Gewalt, Bürgerkrieg etc.).⁸⁷ Die Wahl vorteilhafterer Sachrechtsordnungen ist grundsätzlich legal. Verwiesen sei insofern etwa auf die EuGH-Entscheidung Centros, wonach jeder das Rechtssystem eines anderen (EU‐)Staates zu seinem Vorteil nutzen könne.⁸⁸ Auch das europäische und inländische IPR gestatten die Rechtswahlfreiheit.⁸⁹  Ebd.  Vgl. hierzu Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, 2002, S. 12; Eidenmüller, Recht als Produkt, JZ 2009, 641 ff.; Weller, Insolvenzrechtsarbitrage, IPRax 2011, 150 ff.  EuGH, Urteil vom 9. 3.1999 – C-212/97 – Centros Ltd/Erhvervs- og Selskabsstyrelsen; näher zur daraus folgenden Möglichkeit, das Gesellschaftsstatut indirekt zu wählen Weller/Benz/Thomale, Rechtsgeschäftsähnliche Parteiautonomie, ZEuP 2017, 250, 253 ff.

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3. Kollisionsrechtliche Grenzen der Rechtsarbitrage: ordre public, fraus legis, Eingriffsnormen Allerdings stehen die Centros-Judikatur des EuGH und das IPR beide unter gewissen Basiseinschränkungen, die das inländische Kollisionsrecht statuiert: Ordre public, fraus legis und die Eingriffsnormen bilden die kollisionsrechtlichen Grenztatbestände, die einer Anwendung des verweisungsrechtlich an sich anwendbaren ausländischen Sachrechts und damit auch der Rechtsarbitrage entgegenstehen, soweit das ausländische Sachrecht inkompatibel ist mit inländischen Grundwertungen (vgl. Art. 6 EGBGB).

4. Kollisionsrechtliches Schutzdefizit bei Kettenrechtsverhältnissen Das Problem dieser kollisionsrechtlichen Absicherungen ist, dass sie – als Ausdruck der auf das Rechtsverhältnis (zwischen einem Gläubiger und einem Schuldner) konzentrierten analytischen Methode des IPR – jeweils auf Zwei-Personen-Verhältnisse zugeschnitten sind. Wenn man dagegen durch Zwischenschalten weiterer Rechtspersonen (ausländische Tochter-, Enkelgesellschaften, Lieferanten etc.) eine Kette im Ausland bildet, greifen diese Instrumente nicht für die nachgeordneten Kettenrechtsverhältnisse. Der ordre public kann (nur) ein insuffizientes ausländisches Sachrecht korrigieren, das im direkten Verhältnis zur Inlandsgesellschaft gilt. Im entfernteren Verhältnis zwischen ausländischer Enkelgesellschaft und im Ausland domizilierendem Geschädigtem (Arbeitnehmer etc.) greift der inländische ordre public hingegen mangels hinreichenden Inlandsbezuges nicht mehr ein.⁹⁰

 Vgl. nur Kohler, Autonomie de la volonté en droit international privé : un principe universel entre libéralisme et étatisme, Recueil des Cours 359 (2012), 303 ff.; Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht, 2013, 7 ff.; Mansel, Parteiautonomie, Rechtsgeschäftslehre und Allgemeiner Teil des Kollisionsrechts, in Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-VO?, 2013, S. 241, 256 ff.; Weller/Benz/Thomale, Rechtsgeschäftsähnliche Parteiautonomie, ZEuP 2017, 250, 257 f.  Zum erforderlichen Inlandsbezug vgl. Junker in MüKoBGB, 7. Aufl. 2018, Art. 26 Rom II-VO Rn. 20; Stürner in BeckOGK, Stand: 1.10. 2019, Art. 26 Rom II-VO Rn. 33 ff.

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5. Kombinationsdefizit: Defizitäres Auslandssachrecht und defizitäres Inlandskollisionsrecht Bei Kettenrechtsgeschäften kommt es bei Lichte besehen zu einer fatalen Kombination aus defizitärem ausländischem Sachrecht (Regelungs- oder Durchsetzungsdefizit) und defizitärem inländischem Kollisionsrecht: Die niedrigen Menschenrechtsstandards im Ausland vermag das inländische Kollisionsrecht nicht zu korrigieren, weil in der Lieferkette zu viele juristische Entitäten dazwischengeschaltet wurden, die – aus Sicht des Kollisionsrechts – die Problematik zu weit ins Ausland verlagern. Das inländische Korrekturinstrumentarium (orde public, Eingriffsnormen, fraus legis) greift mangels hinreichenden Inlandsbezuges „am Ende der Lieferkette“ nicht mehr ein.

6. Missbräuchliche Rechtsarbitrage Das kautelarjuristische Ausnutzen dieser Kombination aus defizitärem ausländischen Sachrecht und defizitärem inländischen Kollisionsrecht durch die Etablierung von Kettenrechtsverhältnissen ist unseres Erachtens eine missbräuchliche Rechtsarbitrage. Inländische Basisstandards können vom Inlandsunternehmen jenseits der unmittelbaren Zwei-Personen-Beziehung zum ersten Lieferkettenglied unterlaufen werden, indem weitere Kettenglieder eingeschaltet werden. Solche kautelarjuristischen Gestaltungen (z. B. durch Gründung von ausländischen Zwischenholdings) sind Rechtarbitrage und entsprechen jedenfalls dann der Eröffnung einer Gefahrenquelle im Sinne der deliktischen Verkehrspflichten, soweit es um das Unterlaufen von Menschenrechten geht, welche die absoluten Rechtsgüter Gesundheit und Leben schützen. Anders gewendet: Wenn man als Inlandsunternehmen erkennen kann, dass es eine evidente Missachtung der Menschrechte „weiter unten“ in der Lieferkette gibt und dadurch absolute Rechtsgüter gefährdet werden, dann ist das Ausnutzen dieses Regelungs- oder Rechtsdurchsetzungsgefälles gefahrträchtig.

7. Von der Sachgefahr zur Rechtsarbitragegefahr Unseres Erachtens muss man die Verkehrspflichten im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB, die an Sachgefahren entwickelt wurden – man denke an den herabfallenden Ziegelstein (§ 836 BGB) oder den Hund, der einen anderen beißt (§ 833 BGB) – mithin haptische oder physische Gefahren, künftig „moderner“ denken: Sie könnten z. B. ausgeweitet werden auf digitale Phänomene.

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8. Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle Vor allem aber sind sie unseres Erachtens auf das Recht als Gefahrenquelle zu erstrecken, genauer auf grenzüberschreitende Kombinationsdefizite aus defizitärem Auslandssachrecht und defizitärem Inlandskollisionsrecht, soweit durch dieses Kombinationsdefizit absolute Rechtsgüter gefährdet werden. Erfasst würde mithin (nur) das Unterlaufen solcher Menschenrechte, die dem absoluten Rechtsgüterschutz verpflichtet sind. Argumentiert man im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB mit einer neuen Fallgruppe der Verkehrspflichten in Gestalt der „Menschenrechtsarbitrage als Gefahrenquelle“, hätte dies den Vorteil, die Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten und Konzernverhältnissen auf grenzüberschreitende Sachverhalte zu begrenzen. Inlandssachverhalte blieben ausgeklammert, weil innerhalb einer Jurisdiktion keine Rechtsarbitrage betrieben werden kann.⁹¹

9. Exkulpation bei hinreichender Organisation (Vertragsgestaltung) Hinzu käme ein weiterer Vorteil, der generell bei deliktischen Organisationspflichten im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB gilt. Unternehmen, die sich hinreichend organisieren, gewinnen dadurch Rechtssicherheit und können sich dann auch für sog. „Ausreißer“ exkulpieren.⁹² Im vorliegenden Kontext würde dies bedeuten: Die Inlandsunternehmen an der Spitze der Lieferkette müssen kautelarjuristische Vorsorge dahingehend treffen, dass in der Lieferkette keine absolut rechtsgüterrelevanten Menschenrechte verletzt werden (z. B. durch entsprechende vertragliche Standards, abgesichert durch Vertragsstrafenregelungen, Due DiligenceKlauseln etc.; die jeweiligen Vertragspartner müssten sich überdies dazu verpflichten, diese Standards ihren Vertragspartnern „weiter unten“ in der Lieferkette ebenfalls aufzuerlegen).⁹³

 Vgl. insofern die Bedenken Wagners, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 776: „Angesichts der Ubiquität der Menschenrechte führte die Anerkennung einer Verpflichtung, andere mit zumutbaren Mitteln von Rechtsgutsverletzungen abzuhalten, zu einer dysfunktionalen Haftung ‚jeder für jeden‘.“.  Angeführt sei das bekannte Supermarktbeispiel: Wer im Supermarkt regelmäßig die Gänge säubern lässt, haftet auch dann nicht, wenn in der Zwischenzeit ausnahmsweise eine Bananenschale herumliegt und ein Passant ausrutscht, vgl. den Gemüseblattfall BGH, Urteil vom 28.1. 1976 – VIII ZR 246/774, BGHZ 66, 51.  Vgl. dazu Spießhofer, Corporate Social Responsibility und AGB-Recht, BB 2015, 75 ff.

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Verkehrspflichten finden dabei indes ihre Grenzen in der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Maßnahmen: Unrealistische Standards müssen mithin nicht vereinbart werden. Ist vom Inlandsunternehmen durch eine solche Vertragsgestaltung eine hinreichende Menschenrechtssicherung in der Lieferkette vereinbart worden, ist der Verkehrspflicht genüge getan; eine Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet dann aus.

IX. Kollisionsrechtliche Absicherung der Menschenrechtssicherung via Eingriffsnorm 1. Problem: Anwendbarkeit ausländischen Rechts (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO) Abschließend bleibt zu klären, ob auf eine Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung in Lieferketten überhaupt deutsches Recht Anwendung findet, § 823 Abs. 1 BGB mithin die richtige Anspruchsgrundlage aus Sicht etwaiger Geschädigter ist. Nach der Grundkollisionsnorm des Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist der Anknüpfungspunkt der Ort des Schadenseintritts (Ort der Rechtsgutsverletzung), das wäre in unseren Konstellationen regelmäßig im Ausland. Hiernach wäre ausländisches Recht zur Anwendung berufen. Der Paradefall ist der KiK-Fall, der mittlerweile rechtskräftig abgeschlossen wurde. Es ging um einen Brand in einer pakistanischen Textilfabrik, die von einem Zulieferer von KiK betrieben wurde. KiK als Auftraggebergesellschaft wurde von den Geschädigten direkt in Anspruch genommen. Die Klage wurde abgewiesen. Auf den Fall wendeten die deutschen Gerichte pakistanisches Recht an. Dies erwies sich insofern als problematisch, als die geltend gemachten Ansprüche nach pakistanischem Recht verjährt waren, was die Beteiligten wohl übersehen hatten.

2. Ausweg: Eingriffsnorm (Art. 16 Rom II-VO) Wenn man inländisches Recht zur Anwendung bringen und nicht mit einer Mindermeinung die Ausnahmevorschrift des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO aktivieren

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will,⁹⁴ muss der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Eingriffsnorm gestützt auf Art. 16 Rom II-VO statuieren.⁹⁵ Eine Eingriffsnorm ist nach kollisionsrechtlicher Dogmatik eine Norm, die nicht nur privatrechtliche Interessen sondern zugleich auch öffentliche Interessen verwirklichen will.⁹⁶ Eine Eingriffsnorm setzt sich auch gegen ein ausländisches Statut durch. Im Entwurf des Bundesentwicklungsministeriums ist eine solche Eingriffslösung richtigerweise vorgesehen.⁹⁷

3. „Kleine“ oder „große“ Eingriffslösung? Umstritten unter Kollisionsrechtlern ist, ob man eine „kleine“ oder eine „große“ Eingriffslösung wählen sollte. Nach der bislang im Entwurf (vgl. § 15 SorgfaltspflichtenG) vorgesehenen „kleinen“ Eingriffslösung statuiert der inländische Gesetzgeber nur die Sorgfaltspflicht. Diese deutsche Sorgfaltspflicht würde dann in dem nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO anwendbaren ausländischen Deliktstatbestand „implantiert“. So würde etwa in einer KiK-Konstellation das deutsche Sorgfaltspflichten- oder Lieferkettengesetz im Rahmen des pakistanischen Deliktsrechts angewendet werden. Das wäre ohne Weiteres im Einklang mit Art. 17 Rom II-VO, wonach deliktsstatutsfremde Verhaltens- und Sicherheitsregeln im Rahmen des Deliktssta-

 Thomale/Hübner, Zivilgerichtliche Durchsetzung völkerrechtlicher Unternehmensverantwortung, JZ 2017, 385, 391 f.; Weller/Thomale, Menschenrechtsklagen gegen deutsche Unternehmen, ZGR 2017, 509, 524 f.; ablehnend Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 184 ff.; Mansel, Internationales Privatrecht de lege lata wie de lege ferenda und Menschenrechtsverantwortlichkeit deutscher Unternehmen, ZGR 2018, 439, 457 ff.; Wagner, Haftung für Menschenrechtsverletzungen, RabelsZ 80 (2016), 717, 740 f.  Skeptisch hinsichtlich der nötigen Bestimmtheit einer entsprechenden Eingriffsnorm Habersack/Ehrl, Verantwortlichkeit inländischer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zulieferer – de lege lata und de lege ferenda, AcP 219 (2019), 155, 203 ff.; Mansel, Internationales Privatrecht de lege lata wie de lege ferenda und Menschenrechtsverantwortlichkeit deutscher Unternehmen, ZGR 2018, 439, 470 ff.  Vgl. die Definition in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO: „Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.“ Diese Definition gilt auch für Eingriffsnormen i.S.v. Art. 16 Rom II-VO, EuGH, Urteil vom 31.1. 2019 – C-149/18, Rn. 27 f. – da Silva Martins/Dekra Claims Services Portugal SA.  § 15 SorgfaltspflichtenG (Entwurf), s. Anhang.

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tuts zur Anwendung gebracht werden können (paradigmatisch: Verkehrsregeln bei einem Verkehrsunfall im Ausland bei inländischem Deliktsstatut). Unseres Erachtens wäre eine solche „kleine“ Eingriffslösung indes nicht effizient. Sie ist in der Rechtsanwendung zu komplex, hätte sie doch einen Normenmix aus Inlandsrecht und Auslandsrecht zur Folge. Vorzugswürdig ist daher die „große“ Eingriffslösung, die (wohl) auch der französische Gesetzgeber gewählt hat.⁹⁸ Hiernach würden neben der Verkehrspflicht zugleich auch die Haftungsfolge als Eingriffsnorm mitgeregelt, so dass einheitlich nur ein (deutsches) Recht auf Tatbestand und Rechtsfolge der Verkehrspflicht zur Menschenrechtssicherung zur Anwendung käme. Damit würde Rechtssicherheit hergestellt, auf die die Unternehmen bei der Organisation ihrer Lieferbeziehungen dann auch bauen könnten.

X. Anhang Entwurf eines Gesetzes zur Regelung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz – SorgfaltspflichtenG) Stand 1. 2. 2019 (Auszug)

1. Abschnitt: Allgemeine Vorschriften § 1 Zweck 1 Zweck dieses Gesetzes ist es, den Schutz der international anerkannten Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten sicherzustellen. 2 Der Schutz erfolgt sowohl im öffentlichen Interesse als auch im individuellen Interesse der Menschen, die in globalen Wertschöpfungsketten tätig oder von deren Auswirkungen in sonstiger Weise unmittelbar betroffen sind.

 Vgl. Mansel, Internationales Privatrecht de lege lata wie de lege ferenda und Menschenrechtsverantwortlichkeit deutscher Unternehmen, ZGR 2018, 439, 470; Muir Watt, Devoir de vigilance et droit international privé, Revue international de la compliance et de l’éthique des affaires 2017, 95, S. 48, 51 ff.; Nasse, Devoir de vigilance – Die neue Sorgfaltspflicht zur Menschenrechtsverantwortung für Großunternehmen in Frankreich, ZEuP 2019, 773, 795 ff.; a.A. D’Avout/Bollée, Panorama Droit du commerce international, Recueil Dalloz 2017, 2054, 2060.

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§ 2 Anwendungsbereich (1) 1Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle 1. Großunternehmen und 2. sonstige Unternehmen, die selbst oder durch beherrschte Unternehmen a) in einem Hochrisikosektor oder b) in Konflikt- und Hochrisikogebieten tätig sind mit satzungsmäßigem Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in Deutschland. 2 Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Kleinunternehmen. (2) Die Pflichten aus diesem Gesetz erstrecken sich auch auf die Geschäftstätigkeit im Ausland. (…)

2. Abschnitt: Menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflicht § 4 Sorgfaltspflicht (1) Jedes Unternehmen im Sinne des § 2 Absatz 1 ist zur Beachtung der besonderen Sorgfalt nach Maßgabe der §§ 5 bis 11 verpflichtet. (2) Gegenstand der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht ist der Schutz der international anerkannten Menschenrechte (§ 3 Nummer 1). (3) Gegenstand der umweltbezogenen Sorgfaltspflicht sind die Einhaltung grundlegender Anforderungen des Umweltschutzes (§ 3 Nummer 8) und die Vermeidung von Umweltschädigungen (§ 3 Nummer 9).

§ 5 Risikoanalyse (1) Zur Einhaltung der Sorgfaltspflicht ist eine Risikoanalyse nach Maßgabe der Absätze 2 bis 5 durchzuführen. (2) 1Im Rahmen der Risikoanalyse ist in angemessener Weise zu ermitteln, zu bewerten und, falls erforderlich, zu priorisieren, welche Risiken bestehen, dass das Unternehmen zu Verletzungen (§ 3 Nummer 10) beiträgt. 2Die Angemessenheit richtet sich nach den länder- und sektorspezifischen Risiken, der typischerweise zu erwartenden Schwere und Wahrscheinlichkeit möglicher Verletzungen, der Unmittelbarkeit des Verursachungsbeitrages sowie der Größe des Unternehmens und dem tatsächlichen und wirtschaftlichen Einfluss des Unternehmens auf den unmittelbaren Verursacher. (3) 1Werden dem Unternehmen aufgrund der Risikoanalyse oder in sonstiger Weise Anhaltspunkte für Risiken bekannt, dass das Unternehmen zu einer Verletzung (§ 3 Nummer 10) beiträgt, hat es anhand der konkreten Umstände des

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Einzelfalls die identifizierten spezifischen Risiken angemessen vertieft zu analysieren; die Betroffenen sind hierbei in der Regel miteinzubeziehen. 2Absatz 2 Satz 2 gilt entsprechend. (4) 1Ein Beitrag des Unternehmens zu einer Verletzung (§ 3 Nummer 10) kann auch darin liegen, dass 1. Dritte, insbesondere Unternehmen in der Wertschöpfungskette und staatliche Stellen, oder 2. Produkte oder Dienstleistungen des Unternehmens infolge der Geschäftstätigkeit des Unternehmens zu einer Verletzung rechtswidrig beitragen. (5) 1Die Risikoanalyse ist, soweit dazu Anlass besteht, in angemessener Weise fortlaufend zu aktualisieren. 2Absatz 2 Satz 2 gilt entsprechend. 3Sie ist zudem jährlich anlassunabhängig umfassend zu wiederholen. 4Darüber hinaus ist die Risikoanalyse vor jeder strategischen Unternehmensentscheidung (§ 3 Nummer 11) durchzuführen. 5In diesem Fall erstreckt sich die Risikoanalyse auf die mit der geplanten Entscheidung verbundenen Risiken.

§ 6 Präventionsmaßnahmen (1) Stellt das Unternehmen ein Risiko fest, zu Verletzungen (§ 3 Nummer 10) beizutragen, so hat es angemessene Präventionsmaßnahmen in der Geschäftspolitik zu verankern, in die Geschäftsabläufe zu integrieren und ihre Wirksamkeit zu evaluieren und zu überwachen. (2) 1Insbesondere ist in der Regel bei Vertragsanbahnung, Vertragsverhandlung und Vertragsschluss hinsichtlich strategischer Unternehmensentscheidungen durch angemessene Vereinbarungen auf die Vermeidung von Verletzungen hinzuwirken. 2Zu den angemessenen Präventionsmaßnahmen zählt es in der Regel auch, eine menschenrechts- und umweltbezogene Geschäfts- und Wertschöpfungskettenpolitik festzulegen und diese gegenüber Mitarbeitern, Geschäftspartnern und der Öffentlichkeit zu kommunizieren. (3) § 5 Absatz 2 Satz 2 und § 5 Absatz 4 gelten entsprechend.

§ 7 Abhilfemaßnahmen Stellt das Unternehmen fest, dass eine Verletzung (§ 3 Nummer 10), zu der es beiträgt, bereits eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht, so ergreift es unverzüglich angemessene Maßnahmen, um diese zu verhindern oder abzumildern. 2 § 5 Absatz 2 Satz 2 und § 5 Absatz 4 gelten entsprechend. (…)

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3. Abschnitt: Durchsetzung und Sanktionen (…)

§ 15 Zivilrechtliche Haftung, Eingriffsnorm Im Rahmen außervertraglicher Haftungsansprüche regeln die Pflichten aus §§ 4 bis 10 die zu beachtenden Sorgfaltsanforderungen zwingend und ohne Rücksicht auf das nach internationalem Privatrecht für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht.

4. Abschnitt: Schlussbestimmungen (…)

Anhang – Katalog der international anerkannten Menschenrechtsübereinkommen im Sinne von § 3 Nummer 1 (…)

Simon Bahlinger

Bericht über die Diskussion Die Diskussion zu den Referaten von Georg Seyfahrt und Marc-Philippe Weller fand unter der Leitung von Holger Fleischer statt. Sämtliche Beiträge richteten sich an einen der beiden Referenten, sodass für die nachfolgende Darstellung zwischen den Vorträgen getrennt werden kann. Zur besseren Lesbarkeit wird den Beiträgen aus dem Auditorium die Antwort des jeweiligen Referenten unmittelbar angefügt.

I. Referat Seyfarth Die Diskussion begann mit dem Hinweis einer Teilnehmerin auf die jüngere Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, deren strikter „bottom up“-Ansatz die praktische Umsetzbarkeit einer konzernweiten Compliance-Organisation gefährde. Nach der Kompetenzzuweisung des Betriebsverfassungsgesetzes sei für die Wahrnehmung von Mitbestimmungsrechten grundsätzlich der lokale Betriebsrat zuständig. Die Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats werde nur höchst selten angenommen; der Wunsch des Arbeitsgebers nach einer konzerneinheitlichen Regelung reiche nach der Honeywell-Entscheidung des BAG¹ allein nicht aus. In diese Linie füge sich auch eine kürzlich ergangene Entscheidung des LAG Kiel ein, das für eine Datenschutz-Compliance-Maßnahme die Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats verneint hatte.² Insgesamt schrumpfe damit der Spielraum für konzerneinheitliche Regelungen. Ein anderer Diskussionsteilnehmer knüpfte an die Ausführungen des Referenten zur dogmatischen Herleitung konzernweiter Compliance-Pflichten an. Für ihn seien dabei zwei Fragen offen geblieben: erstens, wem gegenüber die Pflichten bestehen und zweitens, welchen konkreten Inhalt sie haben. Von entscheidender Bedeutung sei letztlich, ob man im Konzern dieselben Maßstäbe anlege wie im Einheitsunternehmen. Seyfahrt antwortete, er gehe grundsätzlich von einer Binnenpflicht gemäß § 93 Abs. 1 AktG aus. Der Umfang der Compliance-Pflicht im Konzern müsse an dem neuen „Basisphänomen“ ansetzen, wonach das Trennungsprinzip brüchiger werde und die Haftung häufiger „von unten nach oben“ durchgreife. Der Vorstand der Obergesellschaft müsse schon aus der Verantwortung gegenüber der eigenen

 BAG, Beschluss vom 22.7. 2008 – 1 ABR 40/07, NZA 2008, 1248 Rn. 66.  LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6.8. 2019 – 2 TaBV 9/19, NZA-RR 2019, 647. https://doi.org/10.1515/9783110698077-009

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Gesellschaft auf diese veränderten Bedingungen reagieren. Bei Aufsichtspflichten könne es nicht bleiben. Letzten Endes dürfe es schlicht „nicht schief gehen“. Ein weiterer Diskussionsteilnehmer führte aus, dass eine Pflichtenbindung nur im Rahmen des Möglichen bestehen könne. Die Grenzen des rechtlichen Dürfens blieben maßgeblich, hier sei vor allem die Eigenverantwortlichkeit der Konzernunternehmen zu nennen. Ihrem Inhalt nach sei die konzernweite Compliance-Pflicht richtigerweise eine Systemkontrollpflicht: Die Konzernspitze habe das Vorhandensein ausreichender und gut funktionierender Sicherheitsund Kontrollsysteme in den Töchtern zu gewährleisten. Auf diese Weise könne auch eine Konvergenz mit dem Prüfauftrag des Abschlussprüfers gemäß § 317 Abs. 4 HGB hergestellt werden. Seyfahrt stimmte dem im Grundsatz zu. Er gehe jedoch von weitergehenden Pflichten aus, sobald Anzeichen für Compliance-Verstöße vorlägen. Dann müssten auch personelle Maßnahmen folgen, womöglich sogar die Entscheidung, sich aus einem schwierigen Umfeld ganz zurückzuziehen. Schließlich wies ein Diskussionsteilnehmer darauf hin, dass das Trennungsprinzip in den regulierten Industrien vor allem aufgrund des § 25a Abs. 3 KWG in noch viel stärkerem Maße durchbrochen werde. Von der Vorschrift gehe eine klare „normativ intendierte Steuerungswirkung“ aus – ihr Sinn und Zweck liege darin, die Konzernspitze zu aktivieren. Dieses aufsichtsrechtliche Konzept konkurriere mit dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip. Der Diskussionsteilnehmer plädierte dafür, die Normkollision zuzulassen und für Wertungsentscheidungen zugänglich zu machen. Seyfahrt antwortete, er habe diesen Aspekt nicht in Abrede stellen wollen. In der Praxis sei gleichwohl zu beobachten, dass in den regulierten Industrien Dokumentation und eigene Compliance-Verantwortung auf Ebene der einzelnen Konzernunternehmen stärker ausgeprägt sind.

II. Referat Weller Der erste Diskutant rief dazu auf, sich die deliktsrechtliche Ausgangslage zu vergegenwärtigen: Eine Verkehrssicherungspflicht trifft denjenigen, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält. Es sei fragwürdig, ob ein bloßes Verhalten am Markt – der Ankauf von Produkten – ausreicht, um eine Kontrollverantwortung zu begründen. Darüber hinaus sei Skepsis angebracht, ob sich deliktsrechtliche Einstandspflichten in der Lieferkette – wie von Weller gefordert – auf Großunternehmen beschränken lassen. Erst kürzlich sei der Fall eines Weihnachtsschmuckhändlers aus Bayern bekannt geworden, der auf deutschen Weihnachtsmärkten Produkte anbot, die in Indien unter Verstößen gegen den

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Arbeitsschutz hergestellt wurden.³ Obwohl sich das Traditionsunternehmen von seinen Lieferanten Mindeststandards bei der Entlohnung und dem Arbeitsschutz sowie den Verzicht auf Kinderarbeit versprechen ließ, konnten die Menschenrechtsverletzungen im Ausland nicht verhindert werden. Insoweit müsse man die Frage zulassen, ob das Deliktsrecht hier nicht an seine Grenzen stoße. Möglicherweise wäre eine Schärfung der Transparenzpflichten der geeignetere regulatorische Ansatz. Weller antwortete, dass eine Verkehrssicherungspflicht in der Tat entsprechende Einwirkungsmöglichkeiten auf die Gefahrenquelle voraussetze. Daraus ergebe sich faktisch eine Beschränkung der deliktsrechtlichen Verantwortlichkeit in der Lieferkette auf Großunternehmen. Denn in der Praxis könnten nur Unternehmen mit hinreichender Marktmacht effektive Mechanismen zur Einhaltung der Menschenrechte in die Vertragswerke mit Lieferanten hineinverhandeln. Ein weiterer Diskussionsteilnehmer regte an, nicht nur auf das Deliktsrecht zu setzen, sondern auch andere potentielle Kläger zu aktivieren. Konkret könne er sich vorstellen, das Wettbewerbsrecht fruchtbar zu machen, indem man die Missachtung der Menschenrechtsstandards in der Lieferkette als unlautere Geschäftspraktik i.S.v. § 3 UWG einstuft. Dies hätte auf kollisionsrechtlicher Ebene den Vorteil, dass die Anwendbarkeit deutschen Rechts aufgrund der Anknüpfung an den Marktort gemäß Art. 6 Rom II-VO sichergestellt wäre. Weller pflichtete dem bei, betonte jedoch zugleich, dass sich beide Wege über das Delikts- und das Lauterkeitsrecht nicht gegenseitig ausschließen. Zu Recht werde in der Literatur ein „smart mix“ aus verschiedenen freiwilligen und rechtsverbindlichen Maßnahmen gefordert. Ferner unterstrich Weller das Potenzial des private enforcement: Im Europarecht hätten die Grundfreiheiten ihre heutige praktische Bedeutung nicht zuletzt durch die EuGH-Entscheidung van Gend & Loos ⁴ erlangt, die den einzelnen Bürger zu einem Akteur der Rechtsdurchsetzung machte. Es bleibe abzuwarten, ob sich hinsichtlich der Verbürgung der Menschenrechte im Völkerrecht eine ähnliche Entwicklung einstelle („private human rights enforcement“). Eine Diskutantin aus der Wissenschaft hegte Zweifel, ob die Anwendbarkeit deutschen Rechts auf Menschenrechtsklagen überhaupt – wie vielfach unterstellt – per se im Interesse der Geschädigten liege. Diesbezüglich könnten aus zwei

 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/handel-rothenburg-ob-der-tauber-irritation-umweihnachtsartikel-wohlfahrt-kuendigt-lieferant-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101– 191204– 99 – 06536.  EuGH, Urt. v. 5. 2.1963, Rs. 26/62, ECLI ECLI:EU:C:1963:1 – van Gend & Loos.

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Verfahren vor englischen Gerichten⁵ interessante Erkenntnisse abgeleitet werden: Dort sei erstens festgestellt worden, dass das materielle Recht Sambias bzw. Nigerias dem englischen Recht inhaltlich sehr nahe komme. Zweitens kämen – englisches Recht zugrunde gelegt – deliktische Ansprüche der Geschädigten gegen die (englische) Konzernmutter durchaus in Betracht, nämlich dann, wenn das Mutterunternehmen konzernweite CSR-Richtlinien zur Einhaltung von Menschenrechtsstandards verabschiedet habe und die Tochtergesellschaften in dieser Hinsicht in hinreichendem Maße aktiv kontrolliere. Letztlich liege das Problem somit weniger in einem Rechtsgefälle zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden (und damit in der Gefahr der Rechtsarbitrage) als vielmehr in den unzureichenden Chancen der Rechtsdurchsetzung vor Ort. Weller stimmte zu, dass ausländisches Recht aus Sicht des Geschädigten in der Theorie freilich besser sein kann. Dies sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass in der Praxis deutsche Gerichte mit der Anwendung sambischen oder nigerianischen Rechts in all seinen Einzelheiten (z. B. bei Fragen der Schadensberechnung) überfordert wären. Man habe dies nicht zuletzt am KiK-Verfahren vor dem LG Dortmund⁶ sehen können, wo sämtliche Verfahrensbeteiligte die Verjährung der Ansprüche nach pakistanischem Recht übersehen hatten. Ferner sei nicht zu erwarten, dass vor deutschen Gerichten sambisches oder nigerianisches Recht schlicht mit englischem Recht gleichgesetzt würde. Schließlich äußerte sich ein Diskussionsteilnehmer zu dem von Weller vorgestellten Referentenentwurf des BMZ für ein Sorgfaltspflichtengesetz:⁷ Es sei „bare Selbstverständlichkeit“, dass der Gesetzgeber den Unternehmen die Pflicht auferlegen kann, die Einhaltung der Menschenrechte in der gesamten globalen Wertschöpfungskette sicherzustellen. Viel problematischer sei aber die Frage, welche Instrumente den Unternehmen tatsächlich offenstehen. Denkbar wäre, sich gegenüber den Lieferanten ein vertragliches Weisungsrecht einräumen zu lassen, als ultima ratio bliebe jedoch vielfach nur die Kündigung. In seiner Antwort hob Weller die Bedeutung der Vertragsgestaltung hervor. Die Vertragsfreiheit eröffne ein breites Spektrum an Optionen, unter anderem die Vereinbarung von Vertragsstrafen.

 UK Supreme Court, Urt. v. 10.4. 2019, Vedanta Resources PLC & Anor v Lungowe & Ors [2019] UKSC 20; Court of Appeal (Civil Division), Urt. v. 17. 2. 2018, HRH Emere Godwin Bebe Okpabi and others v. Royal Dutch Shell plc and another [2018] EWCA Civ 191 (dieses Verfahren ist derzeit noch am UK Supreme Court anhängig).  LG Dortmund, Urt. v. 10.1. 2019, 7 O 95/15, IPRax 2019, 317 ff.  Abrufbar unter: https://die-korrespondenten.de/fileadmin/user_upload/die-korrespondenten. de/SorgfaltGesetzentwurf.pdf.

Heike Schweitzer und Kai Woeste*

Die Haftung von Konzerngesellschaften im europäischen Wettbewerbsrecht Der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff und seine Legitimationsgrundlagen Zusammenfassung: Für Verstöße gegen europäische Wettbewerbsregeln muss nach ständiger Praxis der Kommission und der Unionsgerichte nicht nur der unmittelbar am Verstoß beteiligte Rechtsträger einstehen. Es haftet auch die Muttergesellschaft, sofern sie „bestimmenden Einfluss“ ausgeübt hat. Die Haftung auch anderer der „wirtschaftlichen Einheit“ zuzurechnender Rechtsträger wird diskutiert. Unter Gesellschaftsrechtlern stößt diese wettbewerbsrechtliche Praxis auf vehemente Kritik, weil sie den Grundsatz der Haftungsseparierung zwischen Rechtsträgern durchbricht. Der vorliegende Beitrag erörtert, welchen Rechtsträgern der Verstoß eines „Unternehmens“ auf Sanktionsebene zugerechnet werden kann und geht der Frage nach, ob der Bruch mit dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip und dem Grundprinzip der Haftungsbeschränkung aus rechtsökonomischer Perspektive gerechtfertigt ist. Abstract: According to a consistent practice of both the EU Commission and Union courts, it is not only the legal entity that directly violated competition law that can be held liable, but also the parent company, provided it has exerted „decisive influence“. The liability of other legal entities that are part of the infringing „undertaking“ is debated. Company lawyers have sharply criticized this practice, as it amounts to a „piercing of the corporate veil“ beyond established company law principles. In our contribution, we discuss which legal entities can be held liable – both with regard to fines and in the context of private cartel damage claims – and we ask whether the observed break with the company law principles of separate and limited liability can be justified on efficiency grounds.

* Prof. Dr. Heike Schweitzer, LL.M. (Yale) ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kai Woeste ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Lehrstuhl. https://doi.org/10.1515/9783110698077-010

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Heike Schweitzer und Kai Woeste

Inhaltsübersicht  I. Der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff – Grundlagen . Der Unternehmensbegriff auf Verbotsebene  a) Unternehmensbegriff und wirtschaftliche Einheit  b) „Bestimmender Einfluss“ als Grundlage wirtschaftlicher Einheit  . Der Unternehmensbegriff auf Sanktionsebene  a) Die Zurechnung zum Rechtsträger auf Sanktionsebene – Grundprinzipien  b) Drei Zurechnungsmodelle  II. Die wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung – auf der Suche nach dem sanktionsrechtlichen Zurechnungskriterium  . Rechtsprechung zur Zurechnung gegenüber Muttergesellschaften  . Rechtsprechung zur Zurechnung gegenüber Schwestergesellschaften: Fälle der Wiederholungstäterschaft  . Zwischenfazit  . Die Biogaran-Entscheidung des EuG  a) Sachverhalt  b) Keine Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit  c) Keine Zurechnung kraft bestimmenden Einflusses  . Die Manifestation der Einheit im Kontext des Verstoßes als Zurechnungskriterium  . Konsequenzen für die Bestimmung der Haftungsadressaten im Kartellschadensersatzrecht und die bußgeldrechtliche Zurechnung auf mitgliedstaatlicher Ebene  III. Legitimationsgrundlagen der wettbewerbsrechtlichen Haftung vor dem Hintergrund der gesellschaftsrechtlichen Haftungsseparierung  . Gründe für die Haftungsseparierung im Kapitalgesellschaftsrecht im Überblick  . Wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung auf dem rechtsökonomischen Prüfstand  a) Ausgangspunkte  b) Keine Gefährdung der Trennung von Eigentum und Kontrolle und der Vorteile der Portfoliodiversifikation für Minderheitsgesellschafter und reine Finanzinvestoren  c) Steigerung der Kosten für die Überwachung von Mitgesellschaftern?  d) Erhöhte Informationskosten für Kreditgeber und Vertragsgläubiger von Konzerngesellschaften  e) Negative Beeinflussung von Investitions- und Innovationsanreizen?  f) Zwischenfazit  g) Kosten und Nutzen der wettbewerbsrechtlichen Unternehmenshaftung in der Bilanz  IV. Zusammenfassung 

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I. Der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff – Grundlagen 1. Der Unternehmensbegriff auf Verbotsebene a) Unternehmensbegriff und wirtschaftliche Einheit Zu den grundlegenden – aus gesellschafts- und konzernrechtlicher Sicht aber bis heute kontroversen – Konzepten des Wettbewerbsrechts zählt der Unternehmensbegriff: Die europäischen Wettbewerbsregeln richten sich durchgängig an „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“. Nach ständiger Rechtsprechung knüpft der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff nicht an eine bestimmte Rechtsform¹ oder überhaupt an eine rechtliche Verfasstheit der fraglichen Einheit an, sondern ist vielmehr weit und funktional zu verstehen: Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts – und damit Adressat der Wettbewerbsregeln – ist, unabhängig von einer eigenständigen Rechtssubjektivität, jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, nämlich Güter oder Dienstleistungen am Markt anbietet² (sog. funktionaler Unternehmensbegriff).³ Das Abstellen auf die wirtschaftliche Einheit bedeutet, dass mehrere Rechtsträger Bestandteil ein und desselben Unternehmens sein können.⁴ Die wirtschaftliche Einheit als solche ist dann Verbotsadressat. Daraus folgt zugleich, dass Verein-

 Abweichend noch EuGH, Urt. v. 13.7.1962, C-17/61 u. C-20/61, ECLI:EU:C:1962:30, Slg 1962, 655, 687 f. – Klöckner: Der EuGH hat hier das Unternehmen i.S.d. Wettbewerbsrechts mit derjenigen juristischen oder natürlichen Person gleichgesetzt, aus der heraus eine Zuwiderhandlung begangen wurde. Für die Unerheblichkeit der Rechtsform hingegen: EuGH, Urt. v. 23.4.1991, C-41/90, ECLI:EU:C:1991:161, Rn. 21 – Höfner u. Elser und seither st. Rspr.  EuGH, Urt. v. 18.6.1998, C-35/96, ECLI:EU:C:1998:303, Rn. 36 – Kommission/Italien; EuGH, Urt. v. 12.9. 2000, C-180/98 bis C-184/98, ECLI:EU:C:2000:428, Rn. 75 – Pavlov. Die Frage, ob auch eine nicht-private Nachfrage am Markt eine wirtschaftliche Tätigkeit begründen kann, wird im EUWettbewerbsrecht und im deutschen Recht unterschiedlich beantwortet, siehe für das EU-Wettbewerbsrecht: EuGH, Urt. v. 11.7. 2006, C-205/03, ECLI:EU:C:2006:453, Rn. 25 – FENIN; für das deutsche Wettbewerbsrecht: BGH, Urt. v. 16.6. 2015, KZR 83/13, Rn. 35 ff. = NJW 2016, 74, 77 m.w.N. Dazu ausführlich: Mestmäcker/Schweitzer, § 9 Rn. 7.  St. Rspr. seit EuGH, Urt. v. 23.4.1991, C-41/90, ECLI:EU:C:1991:161, Rn. 21 – Höfner und Elser.  Siehe nur EuGH, Urt. v. 19.7. 2012, C-628/10 P u. C-14/11 P, ECLI:EU:C:2012:479, Rn. 42 – Alliance One.

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barungen zwischen diesen Rechtsträgern nicht vom Verbot des Art. 101 AEUV erfasst werden (sog. Konzernprivileg).⁵ Die Loslösung der Normadressatenschaft von der Rechtssubjektivität ist eine Besonderheit des Wettbewerbsrechts.⁶ Rechtsregeln richten sich normalerweise an rechtsfähige natürliche oder juristische Personen. Das Wettbewerbsrecht zielt jedoch auf einen effektiven Schutz des Wettbewerbs als Mechanismus zur dezentralen Koordination unabhängiger Unternehmenspläne auf Märkten ab.⁷ Es ist mit der wirtschaftlichen Realität konfrontiert, dass die Reichweite der einheitlichen unternehmerischen Planung – zumal im Konzern – nicht mit den Grenzen der juristischen Person übereinstimmen muss: Verschiedene juristische Personen können in der Umsetzung eines regelmäßig von der Muttergesellschaft vorgegebenen Plans verbunden sein. Unabhängig von der konkreten juristischen Verfasstheit richten sich die Wettbewerbsregeln dann an diese Einheit.⁸

b) „Bestimmender Einfluss“ als Grundlage wirtschaftlicher Einheit Für die Bestimmung der Grenzen der wirtschaftlichen Einheit und damit des Verbotsadressaten ist maßgeblich, welche Rechtsträger in der Umsetzung eines gemeinsamen Plans miteinander verbunden sind. Über die Verbindung entscheidet das Kriterium des bestimmenden Einflusses:⁹ Teil einer wirtschaftlichen

 Mestmäcker/Schweitzer, § 9 Rn. 73. Das Konzept der wirtschaftlichen Einheit gilt im Wettbewerbsrecht umfassend, so wird z. B. auch im Rahmen von Marktanteilsberechnungen auf das gesamte Unternehmen abgestellt (hierzu Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 31).  Siehe dazu die scharfe Kritik von Thomas, JCELP 2012, 14: „As a matter of law it is not possible that legal prohibitions (such as the competition rules) are infringed by an ‚economic entity‘, which has no legal personality of its own“. Der Einwand geht indes ins Leere. Dass das „Unternehmen“, obwohl kein eigenständiger Rechtsträger, trotzdem Adressat wettbewerbsrechtlicher Pflichten (mit anderen Worten: „kartellrechtsfähig“) ist, ergibt sich aus den wettbewerbsrechtlichen Normen selbst. Das Wettbewerbsrecht geht gerade nicht vom gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip aus. So zutreffend Heinichen, Unternehmensbegriff und Haftungsnachfolge im Europäischen Kartellrecht, 2011, S. 76; Ackermann, ZWeR 2012, 3, 14; Ost, NZKart 2013, 25, 26.  Für diesen Schutzzweck: Mestmäcker/Schweitzer, § 9 Rn. 6.  Deutlich EuGH, Urt. v. 10.4. 2014, C-231/11 P bis C-233/11 P, ECLI:EU:C:2014:256, Rn. 42 – Siemens Österreich: „Um den Urheber einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zu bestimmen, dem gemäß den Art. 81 EG und 82 EG [= Art. 101 und 102 AEUV] eine Sanktion auferlegt werden kann, haben sich die Verfasser der Verträge dafür entschieden, den Unternehmensbegriff zu verwenden und keine anderen Begriffe wie den u. a. in Art. 48 EG verwendeten Begriff der Gesellschaft oder der juristischen Person“.  Instruktiv zur Anwendung dieses Kriteriums Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 22 ff.

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Einheit sind neben dem unmittelbar tatbeteiligten Rechtsträger (a) in „aufsteigender Linie“ alle Rechtsträger, die bestimmenden Einfluss auf den unmittelbar tatbeteiligten Rechtsträger ausüben und die Rechtsträger, von denen diese Rechtsträger (unmittelbar oder mittelbar) bestimmend beeinflusst werden und (b) in „absteigender Linie“ alle Rechtsträger, die von diesen Rechtsträgern (unmittelbar oder mittelbar) bestimmend beeinflusst werden.¹⁰ Typischerweise ist es die Muttergesellschaft, die kraft ihrer Stimmrechte die Tochtergesellschaft(en) kontrolliert. In Ausnahmefällen kann auch eine Tochter bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten der Mutter oder einer Schwester¹¹ ausüben.

aa) „Bestimmender Einfluss“ und konzernrechtliche Abhängigkeit Der wettbewerbsrechtlich maßgebliche „bestimmende Einfluss“ erinnert an das konzernrechtliche Konzept des „abhängigen Unternehmens“ (§ 17 AktG), ist mit diesem jedoch nicht deckungsgleich. Den unterschiedlichen Zielsetzungen – das Wettbewerbsrecht will die konkret in der unternehmerischen Planung verbundene Einheit, das Konzernrecht hingegen besondere Gefahrenlagen für Gläubiger und Anteilseigner der beherrschten Gesellschaft erfassen – entspricht eine unterschiedliche Auslegung der Konzepte. Für die Erfassung der konzernrechtlich maßgeblichen Gefahrenlage der Abhängigkeit im faktischen Konzern genügt die bloße Möglichkeit der Ausübung beherrschenden Einflusses,¹² die bei Mehrheitsbesitz vermutet wird (§ 17 Abs. 2 AktG). Eine wirtschaftliche Einheit im wettbewerbsrechtlichen Sinne liegt hingegen nur dann vor, wenn eine juristische oder natürliche Person erstens die Möglichkeit hat, bestimmenden Einfluss auszuüben¹³ und zweitens von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch gemacht hat.¹⁴ Die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses wird nur bei

 In diesem Sinne (in Bezug auf Mutter- und Tochtergesellschaft) z. B. EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C97/08 P, ECLI:EU:C:2009:536, Rn. 37 – Akzo Nobel; EuG, Urt. v. 30.9. 2003, T-203/01, ECLI:EU: T:2003:250, Rn. 282 ff., Rn. 290 – Michelin; EuGH, Urt. v. 29.9. 2011, C-521/09 P, ECLI:EU:C:2011:620, Rn. 54 f. – Elf Aquitaine.  Für einen Fall einer Tochtergesellschaft, die bestimmenden Einfluss auf ihre Schwestergesellschaft ausübte, siehe EuG, Urt. v. 27.9. 2006, T-43/02, ECLI:EU:T:2006:270, Rn. 129 – Jungbunzlauer.  AllgA, siehe nur BGH, Urt. v. 4. 3.1974, II ZR 89/72 = NJW 1974, 855, 857; Bayer, in: MüKo-AktG, § 17 Rn. 11.  Hierfür genügt regelmäßig eine Mehrheitsbeteiligung, siehe EuGH, Urt. v. 12.7. 2011, T-132/07, ECLI:EU:T:2011:344, Rn. 182 – Fuji Electrics.  Siehe z. B. EuGH, Urt. v. 19.7. 2012, C-628/10 P u. C-14/11 P, ECLI:EU:C:2012:479, Rn. 46 – Alliance One; EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14, ECLI:EU:T:2018:445, Rn. 84 – Goldman Sachs. Für das

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einer (nahezu) 100 %-igen Beteiligung widerleglich vermutet (sog. „Akzo-Vermutung“, näher dazu s.u., I. 1 b) bb)). Im Übrigen ist sie von der Kommission, der nationalen Wettbewerbsbehörde oder dem Kläger nachzuweisen.¹⁵ Nicht jeder faktische Konzern ist damit zugleich auch eine wirtschaftliche Einheit im wettbewerbsrechtlichen Sinne. Dementsprechend kann die wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung auch nicht mit einer „Konzernhaftung“ gleichgesetzt werden. Zentraler Bezugspunkt des wettbewerbsrechtlich maßgeblichen bestimmenden Einflusses ist das Marktverhalten des beeinflussten Rechtsträgers¹⁶ bzw. seine „Wirtschafts- und Handelsstrategie“¹⁷. Gemeint ist damit die Geschäftspolitik in einem weiten Sinne. Die Ausübung bestimmenden Einflusses scheidet also nicht schon deswegen aus, weil eine Tochtergesellschaft einzelne spezifische Aspekte ihrer Geschäftspolitik wie die Preis- und Vertriebsstrategie autonom bestimmt.¹⁸ Auch wenn die operative Führung allein in der Hand der Tochter liegt, kann die Mutter die Unternehmensstrategie am Markt festlegen.¹⁹ Wo die Akzo-Vermutung nicht greift, kann sich ein bestimmender Einfluss aus dem Zusammentreffen einer kapitalmäßigen Verflechtung zwischen den Rechtsträgern mit einzelfallabhängig zu konkretisierenden weiteren Indizien ergeben, die eine Einflussnahme auf die Geschäftspolitik nahelegen.²⁰ Berichtspflichten der potentiell kontrollierten Gesellschaft, die Einflussnahme auf die personelle Besetzung der Geschäftsleitung oder konkret nachweisbare Weisungen an die Entscheidungsträger können hierbei eine Rolle spielen.²¹ Anders als im Konzernrecht²² kommt es für die wettbewerbsrechtlich maßgebliche Einflussnahme nicht nur auf (gesellschafts‐)rechtliche Beherrschungsmittel, sondern auf „sämtliche im Zusammenhang mit […] wirtschaftlichen, organisatorischen und

„Konzernprivileg“ (s.o., I. 1. a)) genügt hingegen nach hM die bloße Einflussmöglichkeit, siehe Mestmäcker/Schweitzer, § 9 Rn. 73.  Zur Möglichkeit, sich neben/statt der Vermutung auf konkrete Beweismittel zu stützen siehe EuGH, Urt. v. 19.7. 2012, C-628/10 P u. C-14/11 P, ECLI:EU:C:2012:479, Rn. 49 f. – Alliance One.  EuGH, Urt. v. 12.7. 2011, T-132/07, ECLI:EU:T:2011:344, Rn. 182 – Fuji Electrics.  EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14, ECLI:EU:T:2018:445, Rn. 50 – Goldman Sachs.  EuG, Urt. v. 15.7. 2015, T-436/10, ECLI:EU:T:2015:514, Rn. 127 – HIT Groep.  EuG, Urt. v. 15.7. 2015, T-436/10, ECLI:EU:T:2015:514, Rn. 128 – HIT Groep; EuG, Urt. v. 16.6. 2011, T-197/06, EU:T:2011:282, Rn. 145 – FMC.  Näher: EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14, ECLI:EU:T:2018:445, Rn. 82 – Goldman Sachs.  Für einen Rechtsprechungsüberblick siehe Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Vorbem. zu Art. 23 f. VO 1/2003, Rn. 89 ff.  Die hM zum Konzernrecht fordert, dass der beherrschende Einfluss gesellschaftsrechtlich vermittelt wird, siehe BGH, Urt. v. 26. 3.1984, II ZR 171/83 = NJW 1984, 1893, 1896 f. Für einen Überblick zum Meinungsstand siehe Bayer, in: MüKo-AktG, § 17 Rn. 21 ff.

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rechtlichen Verbindungen […] relevanten Gesichtspunkte“²³ an. Ein einheitsbegründender Einfluss kann auch aus der rein personellen Verflechtung zweier Gesellschaften oder anders begründeten Machtlagen²⁴ resultieren.

bb) Die „Akzo-Vermutung“ und ihre Widerlegung Die sog. „Akzo-Vermutung“ eines bestimmenden Einflusses – also die widerlegliche Vermutung, dass eine Muttergesellschaft, die 100 %²⁵ oder nahezu 100 %²⁶ des Kapitals einer Tochtergesellschaft hält, tatsächlich bestimmenden Einfluss auf diese ausgeübt hat, bleibt deutlich hinter der Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG zurück (s.o.). Sie wird gleichwohl immer wieder scharf kritisiert.²⁷ Ihre Grundlage findet sie einerseits in dem Erfahrungssatz, „dass – von außergewöhnlichen Umständen abgesehen – eine Gesellschaft, die die Gesamtheit des Kapitals einer Tochtergesellschaft hält, allein aufgrund dieser Beteiligung einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben kann“²⁸ und von dieser Möglichkeit regelmäßig Gebrauch machen wird, andererseits in der notorischen Beweisnot von Wettbewerbsbehörden und Klägern, wenn es um rein interne und ggfs. informelle Formen der Einflussnahme geht. In solchen Konstellationen ist es „normalerweise am zweckmäßigsten […], in der Sphäre der Einheiten, denen gegenüber diese Vermutung eingreift, zu ermitteln, ob diese Befugnis zur Einflussnahme tatsächlich nicht ausgeübt wurde“.²⁹ Im Einklang mit der Unschuldsvermutung (siehe Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 48 Abs. 1 EU-GRCh) führt die 100 %-Vermutung nicht zu einer vollen Beweislast-

 EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14, ECLI:EU:T:2018:445, Rn. 82 – Goldman Sachs.  Eine Muttergesellschaft kann z. B. ihre Möglichkeit zur Ausübung bestimmenden Einflusses auf eine Tochtergesellschaft auf eine andere Tochtergesellschaft übertragen, siehe hierzu EuG, Urt. v. 27.9. 2006, T-43/02, ECLI:EU:T:2006:270, Rn. 129 – Jungbunzlauer.  St. Rspr. (spätestens) seit EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:536, Rn. 60 – Akzo Nobel; zuvor bereits in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 16.11. 2000, C-286/98 P, ECLI:EU: C:2000:630, Rn. 29 – Stora; ähnlich EuGH, Urt. v. 25.10.1983, 107/82, ECLI:EU:C:1983:293, Rn. 50 – AEG.  Siehe z. B. EuGH, Urteil v. 22. 5. 2014, C-36/12 P, ECLI:EU:C:2014:349, Rn. 18 – Armando Álvarez (98,6 %). Bei einer Beteiligung zwischen 92 und 95 % offenlassend: EuG, Urt. v. 16.9. 2013, T-379/10, ECLI:EU:T:2013:457, Rn. 315 – Keramag; implizit ablehnend bei einem Anteil i.H.v. 76 %: EuGH, Urt. v. 4.9. 2014, C-408/12 P, ECLI:EU:C:2014:2153, Rn. 60 ff. – YKK.  Siehe z. B. Voet van Vormizeele, WuW 2010, 1008, 1013 f.; Zandler, NZKart 2016, 98, 100 f.  EuGH, Urt. v. 29.9. 2011, C-521/09 P, ECLI:EU:C:2011:620, Rn. 60 – Elf Aquitaine.  EuGH, Urt. v. 29.9. 2011, C-521/09 P, ECLI:EU:C:2011:620, Rn. 60 – Elf Aquitaine.

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umkehr, sondern begründet lediglich eine tatsächliche Vermutung.³⁰ Zu ihrer Widerlegung muss somit „nur“ der Erfahrungssatz entkräftet, nicht aber das Fehlen eines bestimmenden Einflusses nachgewiesen werden. Dennoch ist die Widerlegung der Akzo-Vermutung in der Praxis schwer. In Betracht kommt sie etwa dann, wenn eine Muttergesellschaft eine reine Finanzinvestorin ist und von jeglicher Mitwirkung bei der Geschäftsführung und Kontrolle abgesehen hat,³¹ oder wenn die Muttergesellschaft nur vorübergehend und für eine kurze Zeit (nahezu) 100 % der Anteile hält.³² Der Umstand, dass sich in der Rechtsprechung bislang keine Beispiele einer gelungenen Widerlegung finden, muss kein Beleg für eine übermäßig rigide Handhabung der Widerlegungsanforderungen sein, sondern steht für die Belastbarkeit des Erfahrungssatzes, dass ein 100 %-iger Anteilseigner in aller Regel von seinen Einflussmöglichkeiten Gebrauch machen wird.³³

2. Der Unternehmensbegriff auf Sanktionsebene a) Die Zurechnung zum Rechtsträger auf Sanktionsebene – Grundprinzipien Die bisherigen Ausführungen zum Unternehmensbegriff bezogen sich auf die Bestimmung des Verbotsadressaten (Verbotsebene). Gesondert zu erörtern ist, welche Rechtsträger die an eine Zuwiderhandlung anknüpfenden Rechtsfolgen in Form behördlicher Entscheidungen und privatrechtlicher Ansprüche treffen können (Sanktions-, Haftungs-, oder Durchsetzungsebene).³⁴ Auch dies ist durch

 EuG, Urt. v. 13.7. 2011, T-144/07 u. a., ECLI:EU:T:2011:364, Rn. 114 – ThyssenKrupp; GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:262, Rn. 74 – Akzo Nobel; aA jedoch Voet van Vormizeele, WuW 2010, 1008, 1013 („besonders evident[er]“ Verstoß gegen die Unschuldsvermutung).  EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14, ECLI:EU:T:2018:445, Rn. 151 – Goldman Sachs; GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:262, Rn. 67 – Akzo Nobel.  GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:262, Rn. 67 – Akzo Nobel.  Dies räumen teils auch die Kritiker der wettbewerbsrechtlichen Haftung eine, siehe z. B. Voet van Vormizeele, WuW 2010, 1008, 1014: „Auf die Einflussnahme auf die strategische Richtung einer Tochtergesellschaft wird eine Obergesellschaft schon im Interesse legitimer Konzernführung überhaupt nicht verzichten können“.  Die besonderen Zurechnungsfragen, die sich in Fällen der Rechtsnachfolge stellen (für seitens der Mitgliedstaaten verhängte Bußgelder geregelt in Art. 13 Abs. 5 der ECN-Plus-RL, § 81 Abs. 3b und 3c GWB), sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. Für einen Überblick siehe Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Vorbem. zu Art. 23 f. VO 1/2003, Rn. 111 ff.

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den unionsrechtlichen Unternehmensbegriff vorgegeben:³⁵ Nach ständiger Rechtsprechung hat die wirtschaftliche Einheit (d. h.: das „Unternehmen“), die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen hat, nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit auch für die Zuwiderhandlung einzustehen.³⁶ Allerdings benötigt das Wettbewerbsrecht auf der Rechtsdurchsetzungsebene einen konkreten Haftungsadressaten mit Rechtssubjektsqualität. Die Verhängung von Bußgeldern oder anderen behördlichen Maßnahmen und ihre Vollstreckung setzen eine natürliche oder juristische Person als Entscheidungsadressaten voraus.³⁷ Auch für die gerichtliche Durchsetzung der zivilrechtlichen Haftung auf Schadensersatz, Beseitigung und Unterlassung braucht es einen rechtsfähigen Klagegegner bzw. Vollstreckungsschuldner. Für die Zwecke der Rechtsdurchsetzung muss der Wettbewerbsrechtsverstoß eines Unternehmens daher einem oder mehreren Rechtssubjekten zugerechnet werden. Aus dem Kreis der der wirtschaftlichen Einheit zugehörigen Rechtssubjekte sind diejenigen zu identifizieren, die letztendlich für den Wettbewerbsverstoß des Unternehmens einstehen müssen. Außerhalb des Wettbewerbsrechts erfolgt diese Eingrenzung bereits auf der Ebene des Verbotstatbestands, sodass sich auf Sanktionsebene keine Zurechnungsfragen mehr stellen. Im Wettbewerbsrecht ist über Verbotsadressat (das Unternehmen) und Sanktionsadressat (die natürliche oder juristische Person) hingegen separat zu entscheiden. Während eine breite Rechtsprechungspraxis dem wettbewerbsrechtlichen Unternehmensbegriff auf Verbotsebene mittlerweile klare Konturen verliehen hat, ist die Frage, nach welchen Kriterien ein Verstoß konkreten Sanktionsadressaten zuzurechnen ist, erstaunlicherweise offen geblieben. Dies ist nicht zuletzt auf eine tendenziell vorsichtige Zurechnungspraxis der EU-Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden zurückzuführen. Angesichts der wachsenden Bedeutung privater Schadensersatzklagen bedarf es allerdings für die Zukunft einer Klärung der primärrechtlichen Vorgaben.

 EuGH, Urt. v. 14. 3. 2019, C-724/17, ECLI:EU:C:2019:204, Rn. 28 ff. – Skanska. Näher s.u., II. 6.  Siehe z. B. EuGH, Urt. v. 29.1. 2011, C-90/09 P, ECLI:EU:C:2011:21, Rn. 36 – General Química; EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 89 – Versalis.  GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:262, Rn. 37 – Akzo Nobel; Kokott/Dittert, WuW 2012, 670, 671; siehe auch EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 89 – Versalis.

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b) Drei Zurechnungsmodelle Drei verschiedene Ansätze wurden bislang für die Zurechnung des Verstoßes zu einem konkreten Sanktionsadressaten vorgeschlagen.

aa) Zurechnung kraft Sorgfaltspflichtverstoßes Teilweise wird für eine Haftung nur derjenigen Rechtssubjekte plädiert, die (a) den Verstoß unmittelbar (selbst oder durch Organe/Angestellte) begangen haben oder (b) denen in Bezug auf den konkreten Wettbewerbsverstoß die Verletzung einer Sorgfaltspflicht vorgeworfen werden kann.³⁸ Eine Muttergesellschaft würde danach für eine Zuwiderhandlung, die unmittelbar durch ihre Tochtergesellschaft begangen wurde, z. B. dann haften, wenn sie keine ausreichenden ComplianceMaßnahmen getroffen hat. Könnte ihr dagegen kein eigener Sorgfaltspflichtverstoß nachgewiesen werden, würde die haftungsbegründende Zurechnung scheitern. Vertreter dieser Ansicht berufen sich insbesondere auf das Schuldprinzip, das nach ihrer Auffassung eine Zurechnung ohne Sorgfaltspflichtverstoß des haftenden Rechtsträgers verbiete.³⁹ Der EuGH hat diesem Zurechnungsmodell für die wettbewerbsrechtliche Haftung jedoch schon früh eine Absage erteilt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH muss die Muttergesellschaft, wenn sie bestimmenden Einfluss ausübt (dazu s.o., I. 1. b)), auch ohne eigene Pflichtverletzung für Wettbewerbsverstöße ihrer Tochtergesellschaften haften.⁴⁰ Der Schuldgrundsatz bzw. das Prinzip persönlicher Verantwortlichkeit wird nicht auf einzelne Rechtsträger, sondern auf das Unternehmen als Verbotsadressat bezogen.⁴¹

 Thomas, JZ 2011, 485, 493 f.; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 166 f.; Kling, ZWeR 2011, 169, 178 f.; Voet van Vormizeele, WuW 2010, 1008, 1012 ff.  Der wettbewerbsrechtlichen Zurechnungspraxis auf Sanktionsebene wird vorgeworfen, sie beruhe auf dem Gedankengang: „A hat das Gesetz verletzt. A und B bilden eine Gruppe. Also haftet die Gruppe. Also haften A und B. Also haftet B“ (Thomas, JZ 2011, 485, 492) – und stelle damit einen logischen Fehlschluss oder gar einen Rückfall in Zeiten der Sippenhaft dar (in diesem Sinne z. B. Thomas, JZ 2011, 485, 492; Soyez, EuZW 2007, 596, 597; Kling, ZWeR 2011, 169, 178). Diese Kritik verkennt die Eigenart des wettbewerbsrechtlichen Unternehmensbegriffs: Adressat der Wettbewerbsregeln und „Täter“ eines Verstoßes ist, wie bereits dargelegt, von vornherein die wirtschaftliche Einheit. Es steht eben nicht eine „Haftung der Mutter für ihre Tochter“ oder „Tochter für ihre Mutter/Schwester“ in Frage.  EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:536, Rn. 77 – Akzo Nobel.  EuGH, Urt. v. 10.4. 2014, C-231/11 P bis C-233/11 P, ECLI:EU:C:2014:256, Rn. 55 f. – Siemens Österreich u. a.; Ackermann, ZWeR 2012, 3, 17 f.; aA Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 166 f.; Thomas, JZ 2011, 485, 493 f.

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bb) Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit Für das Wettbewerbsrecht werden vor diesem Hintergrund zwei andere Grundpositionen vertreten. Nach einer insbesondere von Kersting vertretenen ersten Ansicht soll für die Zurechnung eines Verstoßes die bloße Zugehörigkeit eines Rechtsträgers zur wirtschaftlichen Einheit genügen.⁴² Gesellschaften, die Teil des Unternehmens im wettbewerbsrechtlichen Sinne sind, müssten danach ohne Weiteres für die aus ihrer Muttergesellschaft oder einer Schwestergesellschaft heraus begangenen Zuwiderhandlungen einstehen.

cc) Zurechnung kraft bestimmenden Einflusses Weite Teile der Literatur⁴³ und auch einige Instanzgerichte⁴⁴ machen die Zurechnung auf Sanktionsebene dagegen von höheren Anforderungen abhängig. Als Haftungsadressat kommen nach dieser Ansicht nur natürliche oder juristische Personen in Betracht, die (a) den Verstoß unmittelbar begangen haben oder (b) bestimmenden Einfluss auf die Rechtssubjekte ausgeübt haben, die den Verstoß unmittelbar begangen haben. Damit wird das auf Verbotsebene zur Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit maßgebliche Merkmal des bestimmenden Einflusses auf Zurechnungsebene wieder aufgegriffen. Mangels bestimmenden Einflusses haftet eine Tochtergesellschaft danach regelmäßig nicht für Verstöße, an denen nur ihre Mutter- oder Schwestergesellschaft direkt beteiligt waren.

 Kersting, ZHR 182 (2018), 8 ff.; Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff u. a., § 33 GWB Rn. 41. Siehe ferner eine Entscheidung aus den Niederlanden: Gerechtshof Arnhem Leeuwarden, Urt. v. 26.11. 2019, ECLI:NL:GHARL:2019:10165.  Monopolkommission, Strafrechtliche Sanktionen bei Kartellverstößen (Sondergutachten 72), 2015, Rn. 37; Braun/Kellerbauer, NZKart 2015, 175, 179 f.; Ost/Kallfaß/Roesen, NZKRT 447, 449.  In Bezug auf das deutsche Kartellschadensersatzrecht: LG Mannheim, 24.4. 2019, 14 O 117/18 – LKW-Kartell; LG München I, 7.6. 2019 − 37 O 6039/18 – Löschfahrzeug-Kartell.

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II. Die wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung – auf der Suche nach dem sanktionsrechtlichen Zurechnungskriterium Das europäische Wettbewerbsrecht verwendet in allen Wettbewerbsregeln einen einheitlichen Unternehmensbegriff.⁴⁵ Die Praxis der Unionsorgane auf der Zurechnungsebene unterscheidet sich jedoch je nach Zurechnungszweck. Bescheide können mit Wirkung gegen das gesamte Unternehmen jeder natürlichen oder juristischen Person zugestellt werden, die der wirtschaftlichen Einheit angehört. Damit wird den Hürden Rechnung getragen, die einer hoheitlichen Zustellung an Rechtsträger mit Sitz im außereuropäischen Ausland entgegenstehen.⁴⁶ Für die Berechnung der bußgeldrechtlichen Kappungsgrenze⁴⁷ i.H.v. 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes des Unternehmens (Art. 23 Abs. 4 S. 5 VO 1/2003) wird nach vergleichbarem Muster grds. auf alle unternehmensangehörigen Rechtsträger abgestellt.⁴⁸ Im Zentrum der weiteren Überlegungen soll die Bestimmung des/der tauglichen Adressaten behördlicher Entscheidungen (insbes. Bußgeldentscheidungen nach Art. 23 VO 1/2003) und privatrechtlicher Ansprüche (insbes. Schadensersatz, in Deutschland gem. § 33a GWB) stehen. Eine Auswertung der einschlägigen Praxis legt nahe, dass das Unionsprimärrecht im Ausgangspunkt von der „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ ausgeht, eine Zurechnung im Einzelfall jedoch voraussetzt, dass sich die Zugehörigkeit des Rechtsträgers zur wirtschaftlichen Einheit im Kontext des Verstoßes manifestiert hat (s.u., II. 5.).

 Mestmäcker/Schweitzer, § 9 Rn. 6; Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 9.  Roth/Ackermann, in: FK, Grundfragen des Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 111; Schröter, in: v. d. Groeben/ Schwarze/Hatje, Vorbem. zu Art. 101– 105 Rn. 40 jeweils mit Nachweisen zur Kommissionspraxis.  Die Grenze wird von den Unionsgerichten nicht im Sinne einer Obergrenze des Bußgeldrahmens interpretiert, der in Abhängigkeit von Schwere und Dauer des Verstoßes ausgeschöpft werden kann. Im Rahmen der Berechnung der angemessenen Bußgeldhöhe können Zwischenbeträge daher ohne Weiteres die 10 %-Grenze überschreiten, die erst in einem nachgelagerten Schritt die Bußgeldhöhe begrenzt. Näher hierzu (und zur abweichenden Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB durch die deutsche Rspr.) Ackermann, ZWeR 2010, 329, 336 f.  EuGH, Urt. v. 26.11. 2013, C-58/12 P, ECLI:EU:C:2013:768, Rn. 52 – Groupe Gascogne.

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1. Rechtsprechung zur Zurechnung gegenüber Muttergesellschaften Unbestritten ist die Haftung derjenigen Rechtsträger, die entweder selbst oder durch ihre Organe bzw. Angestellte unmittelbar an der Zuwiderhandlung der wirtschaftlichen Einheit beteiligt waren. Wenn also der Vorstand einer konzernangehörigen juristischen Person eine Kartellvereinbarung trifft, kann diese ohne Weiteres Adressatin eines Bußgelds der Kommission sein. Die Entscheidungen der Unionsgerichte zur Haftung von Rechtsträgern, die nicht selbst oder durch Organe/Angestellte unmittelbar am Verstoß beteiligt waren, betreffen nahezu ausnahmslos die Haftung einer nicht kartellbeteiligten Muttergesellschaft für Verstöße, die aus einer Tochtergesellschaft heraus begangen wurden. Nach ständiger Rechtsprechung haftet die Mutter in einer solchen Konstellation im Ergebnis gesamtschuldnerisch für die Zahlung des gegen die Tochter verhängten Bußgelds, sofern sie auf diese einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat und folglich mit der Tochtergesellschaft in einer wirtschaftlichen Einheit verbunden ist.⁴⁹ Terminologisch changieren die Urteile des EuGH in ihrer Begründung zwischen den beiden Zurechnungsgründen der Einheitszugehörigkeit und des bestimmenden Einflusses.⁵⁰ Oft heißt es, dass „einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden [kann], wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt“.⁵¹ Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Haftung eines nicht direkt am Verstoß beteiligten Rechtsträgers davon abhängt, ob dieser auf den direkt beteiligten Rechtsträger einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat. Unmittelbar anschließend wird dann aber häufig nahegelegt, dass mithilfe des Kriteriums des bestimmenden Einflusses lediglich die Grenzen der wirtschaftlichen Einheit abgesteckt werden, es also nicht dazu dient zu ermitteln, welche der Einheit zugehörigen Rechtsträger haften sollen. Immer wieder betont der EuGH, dass die Muttergesellschaft deshalb hafte, weil sie „und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen […] bilden. Weil eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft ein Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG [= Art. 101 AEUV] bilden, kann die Kommission demnach eine Entscheidung, mit der Bußgelder  St. Rspr. seit EuGH, Urt. v. 14.7.1972, C-48/69, ECLI:EU:C:1972:70 – ICI.  Für eine Analyse der Rspr. siehe Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 16 ff.  Siehe nur EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:536, Rn. 58 – Akzo Nobel; EuGH, Urt. v. 29.9. 2011, C-521/09 P, ECLI:EU:C:2011:620, Rn. 54 – Elf Aquitaine; EuGH, Urt. v. 16.11. 2000, C286/98 P, ECLI:EU:C:2000:630, Rn. 79 – Stora.

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verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre.“⁵²

2. Rechtsprechung zur Zurechnung gegenüber Schwestergesellschaften: Fälle der Wiederholungstäterschaft Wird die Muttergesellschaft zur Haftung herangezogen, so kann – da sie regelmäßig auch bestimmenden Einfluss ausübt – die Frage nach dem haftungsrechtlichen Zurechnungskriterium meist offenbleiben. Virulent wird die Diskussion hingegen, wenn eine Tochtergesellschaft für einen Verstoß einstehen soll, der unmittelbar entweder von ihrer Schwester- oder ihrer Muttergesellschaft begangen wurde; denn Tochtergesellschaften üben regelmäßig keinen bestimmenden Einfluss auf die Mutter oder auf Schwestergesellschaften aus. Bis vor Kurzem (siehe sogleich zum Biogaran-Urteil II. 4.) gab es keinen Fall, in dem eine nicht direkt beteiligte Tochter für einen unmittelbar durch ihre Mutter bzw. ihre Schwester begangene Zuwiderhandlung bebußt worden wäre, ohne dass zugleich auch ein bestimmender Einfluss seitens der Tochter festgestellt werden konnte. In der Sache Jungbunzlauer, in der das EuG die Haftung einer Gesellschaft für den

 EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P, ECLI:EU:C:2009:536, Rn. 59 – Akzo Nobel. Ähnlich z. B. EuGH, Urt. v. 29.9. 2011, C-521/09 P, ECLI:EU:C:2011:620, Rn. 88 – Elf Aquitaine: Wenn eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft zu einem einzigen „Unternehmen“ im Sinne des Art. 101 AEUV gehören, ergebe sich „die Befugnis der Kommission, die Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft zu richten […] aus dem Umstand, dass die betroffenen Gesellschaften ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV darstellen.“ Siehe auch die Formulierung in EuGH, 11.7. 2013, C-440/11 P, ECLI:EU:C:2013:514, Rn. 44 – Stichting Administratiekantoor Portielje: „Zu Sanktionszwecken ausschlaggebend ist allein, dass alle rechtlichen Einheiten, die gesamtschuldnerisch ganz oder teilweise für die Zahlung derselben Geldbuße haften, zusammen mit der Einrichtung, deren unmittelbare Beteiligung an der Zuwiderhandlung erwiesen ist […], ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG darstellen. Insoweit ist […] die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf die Zuwiderhandelnde durch die übergeordnete Einrichtung maßgeblich“. EuGH, Urt. v. 29.1. 2011, C-90/09 P, ECLI:EU:C:2011:21, Rn. 38 – General Química: „[…] Da nämlich in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG [= Art. 101 AEUV] bilden, kann die Kommission eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre“.

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unmittelbar von ihrer Schwester begangenen Verstoß bestätigte, wurde ausnahmsweise ein unmittelbarer Einfluss Ersterer auf die Letztere angenommen.⁵³ Allerdings haben die Unionsgerichte in zwei Entscheidungen zur Bußgeldzumessung einer Tochtergesellschaft die Verstöße einer Schwester der Sache nach zugerechnet. In den Rechtssachen Versalis und Michelin ging es jeweils um die Frage, ob die bebußte juristische Person – deren Haftbarkeit für den Verstoß als solche nicht in Zweifel stand – als Wiederholungstäterin mit einem erhöhten Bußgeld belegt werden durfte, da bereits eine Schwestergesellschaft einen gleichartigen oder ähnlichen Verstoß begangen hatte.⁵⁴ Voraussetzung für die Wiederholungstäterschaft ist, dass die vorausgegangene Tat und die potentielle Wiederholungstat vom selben Unternehmen begangen wurden. In Michelin bestätigte das EuG eine Kommissionsentscheidung, nach der die Klägerin zur Zahlung eines aufgrund von Wiederholungstäterschaft erhöhten Bußgelds verpflichtet wurde, obwohl die Vortat aus einer ihrer Schwestergesellschaften heraus begangen worden war, auf welche die Klägerin keinen bestimmenden Einfluss ausübte. Dennoch durfte die Kommission davon ausgehen, „dass dasselbe Unternehmen bereits […] für die gleiche Art Zuwiderhandlung verurteilt wurde“ und den Grundbetrag des gegen die Klägerin verhängten Bußgelds erhöhen.⁵⁵ In eine ähnliche Richtung deutet die Versalis-Entscheidung⁵⁶ des EuGH zum Chloropren-Kautschuk-Kartell. Die Kommission hatte ein Bußgeld gegen Eni und ihre Tochtergesellschaft Polimeri Europa (später: Versalis) verhängt, deren Grundbetrag aufgrund zweier vergleichbarer Vortaten von Töchtern der Eni, die eine unmittelbar begangen durch EniChem (Polypropylen-Kartell⁵⁷) und die andere durch Anic (PVC-Kartell⁵⁸), erhöht wurde. Anic war nicht direkt an der Wiederholungstat, also am Kartellverstoß beteiligt, welcher der Versalis-Entscheidung zugrunde lag. Die Wiederholungstäterschaft wurde jedoch auf beide Vortaten gestützt, also auch auf die unmittelbar von Anic begangene Tat. In den zentralen Passagen der Urteilsbegründung stellte der EuGH klar, dass eine Mutter

 EuG, Urt. v. 27.9. 2006, T-43/02, ECLI:EU:T:2006:270, Rn. 102 ff., 123 ff., insbes. Rn. 129 – Jungbunzlauer.  Gegenüber Wiederholungstätern wird der Grundbetrag des Bußgelds nach Ziffer 28 (1. Spiegelstrich) der Bußgeldleitlinien der Kommission um bis zu 100 % erhöht. Für eine ausführliche Analyse dieser beiden Fälle siehe Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 26 ff.; Heinrich, Rechtsfragen der wirtschaftlichen Haftungseinheit des europäischen Kartellbußgeldrechts, 2016, S. 164 ff.  EuG, Urt. v. 30.9. 2003, T-203/01, ECLI:EU:T:2003:250, Rn. 282 ff., insbes. Rn. 290 – Michelin.  EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150 – Versalis.  Kommission, Entscheidung vom 23.4.1986, IV/31.149 – Polypropylen.  Kommission, Entscheidung vom 27.7.1994, IV/31.865 – PVC.

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als Wiederholungstäterin haften könne, wenn „die frühere Feststellung einer ersten Zuwiderhandlung durch das Verhalten einer Tochtergesellschaft [erfolgte], mit der die an einer zweiten Zuwiderhandlung beteiligte Muttergesellschaft schon zum Zeitpunkt der ersten Zuwiderhandlung ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG [= Art. 101 AEUV] gebildet hat“.⁵⁹ Ausdrücklich wurde also nur im Verhältnis Tochter-Mutter „zugerechnet“.⁶⁰ Die Kommission hatte das Bußgeld jedoch gegenüber der gesamten wirtschaftlichen Einheit, folglich auch gegenüber der Tochter Polimeri Europa erhöht, was eine Zurechnung (auch) im Verhältnis Schwester-Schwester bedeutet. Der EuGH vermied es, sich dazu explizit zu äußern.⁶¹ Der Sache nach nimmt der EuGH zum Zwecke der effektiven Bekämpfung von Kartellrechtsverstößen aber die wirtschaftliche Einheit als Ganze in den Blick: „Das Ziel, gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrags verstoßende Verhaltensweisen zu ahnden und ihrer Wiederholung durch abschreckende Sanktionen vorzubeugen […], würde beeinträchtigt, wenn ein Unternehmen, das eine an einer ersten Zuwiderhandlung beteiligte Tochtergesellschaft umfasst, in der Lage wäre, die Sanktionierung des Wiederholungsfalls dadurch unmöglich zu machen oder besonders zu erschweren und damit abzuwenden, dass es seine Rechtsstruktur ändert, indem es neue Tochtergesellschaften gründet, gegen die nicht wegen der ersten Zuwiderhandlung ermittelt werden konnte, die aber an der neuen Zuwiderhandlung beteiligt sind“.⁶² Soll sich die Veränderung der rechtlichen Struktur einer wirtschaftlichen Einheit nicht auf das Vorliegen einer Wiederholungstäter-

 EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 91– Versalis.  EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 91– Versalis: „Somit wird für die Feststellung des erschwerenden Umstands des Wiederholungsfalls bei der Muttergesellschaft nicht verlangt, dass gegen sie bereits früher ermittelt wurde und daraufhin eine Mitteilung der Beschwerdepunkte und eine Entscheidung ergingen. Entscheidend ist insoweit insbesondere die frühere Feststellung einer ersten Zuwiderhandlung durch das Verhalten einer Tochtergesellschaft, mit der die an einer zweiten Zuwiderhandlung beteiligte Muttergesellschaft schon zum Zeitpunkt der ersten Zuwiderhandlung ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG gebildet hat“ [Hervorhebung der Verf.]. Siehe auch Rn. 86: „Der erste Rechtsmittelgrund der Kommission betrifft den erschwerenden Umstand des Wiederholungsfalls, der Eni angelastet wurde, weil Anic und EniChem durch die Polypropylen- und die PVC-II-Entscheidung wegen ihrer Beteiligung an Kartellen mit Sanktionen belegt worden waren“ [Hervorhebung der Verf.]. Ähnlich auch Rn. 96, 99.  Dies war deshalb möglich, weil die Entscheidung des EuG, den Wiederholungsfall zu verneinen, sich aus anderen Gründen als richtig erwies. Die Kommission hatte nämlich nicht hinreichend begründet, dass Anic und EniChem bei den Vortaten unter bestimmendem Einfluss standen. Auch insoweit wurde lediglich im Hinblick auf eine Wiederholungstäterschaft von Eni argumentiert. Siehe EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 99 ff. – Versalis.  EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 92 – Versalis.

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schaft auswirken,⁶³ so ist eine Behandlung jedes unternehmenszugehörigen Rechtsträgers als Wiederholungstäter konsequent. Die Rechtsprechung zur Wiederholungstäterschaft betrifft zwar nicht unmittelbar die Sanktionsadressatenschaft. Unter Zurechnungsgesichtspunkten macht es jedoch keinen grundlegenden Unterschied, ob die Haftung eines Rechtsträgers erstmalig begründet (Sanktionsadressatenschaft) oder die gegen ihn zu verhängende Sanktion verschärft wird (Wiederholungstäterschaft). Die Rechtsprechung zur Wiederholungstäterschaft ist somit als Hinweis darauf zu werten, dass die wettbewerbsrechtliche Haftung nach Ansicht der Unionsgerichte auf dem Prinzip „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ fußt.⁶⁴

3. Zwischenfazit Die bisherige Rechtsprechung ist, was das sanktionsrechtliche Zurechnungskriterium betrifft, uneindeutig. Die verwendeten Formulierungen können häufig sowohl als Beleg für die Theorie der „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ als auch als Beleg für die Theorie der „Zurechnung kraft bestimmenden Einflusses“ verstanden werden. Die Kommission ihrerseits zieht regelmäßig nur diejenigen Rechtsträger zur Haftung heran, die unmittelbar am Verstoß beteiligt waren oder bestimmenden Einfluss auf die unmittelbar tatbeteiligten Gesellschaften ausgeübt haben. Die Entscheidungen zur Wiederholungstäterschaft sprechen gleichwohl dafür, dass das Unionsprimärrecht vom Haftungsmodell der „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ ausgeht.⁶⁵

4. Die Biogaran-Entscheidung des EuG Anlass zu einer neuerlichen Überprüfung des Streits über das maßgebliche sanktionsrechtliche Zurechnungskriterium geben nunmehr ein spanischer Vor-

 So die Forderung der Kommission, die im Verfahren geltend machte, dass „[f]ür die Beurteilung, ob ein Unternehmen die Konsequenzen aus der ersten Feststellung einer Zuwiderhandlung gezogen habe, […] auf die Neigung dieser Wirtschaftseinheit, eine weitere zu begehen, abzustellen [sei] und nicht auf diejenige der einzelnen Gesellschaften aus denen sie bestehe“ (EuGH, Urt. v. 5. 3. 2015, C-93/13 P und C-123/13 P, ECLI:EU:C:2015:150, Rn. 80 – Versalis). In diesem Sinne auch die Interpretation des Urteils von Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 28.  Ebenso Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 29.  Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 16 ff.

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lagebeschluss zum EuGH⁶⁶ sowie das – allerdings nicht rechtskräftige⁶⁷ – Biogaran-Urteil des EuG.⁶⁸ Das Urteil des EuGH im spanischen Vorlageverfahren bleibt abzuwarten. Das Biogaran-Urteil des EuG deutet trotz vieler verbleibender Unklarheiten darauf hin, dass das EuG im Ausgangspunkt tatsächlich das Modell der „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ zugrunde legt, es jedoch durch die zusätzliche Anforderung modifiziert, dass sich die wirtschaftliche Einheit im Kontext des maßgeblichen Wettbewerbsverstoßes manifestiert haben muss.

a) Sachverhalt Dem Urteil des EuG liegt der folgende Sachverhalt (Abb. 1) zugrunde: Servier – ein Pharmahersteller, der patentgeschützte Originalmedikamente vertreibt – schloss zur Beendigung von Patentstreitigkeiten mit dem Generikahersteller und (potentiellem) Wettbewerber Niche einen Vergleich, der bezweckte, dessen Marktzutritt zugunsten des Servier-Konzerns hinauszuzögern (sog. Pay-for-delay-Vereinbarung). Servier versprach Niche hierfür eine Ausgleichszahlung. Der Anreiz für Niche, die Vereinbarung zu akzeptieren, wurde dadurch verstärkt, dass Biogaran, die unter dem bestimmenden Einfluss von Servier stand, mit Niche am gleichen Tag eine für Niche sehr günstige, von den üblichen Marktkonditionen abweichende weitere Vereinbarung über den Vertrieb anderer Medikamente abschloss. Mit ihrem Verbots- und Bußgeldbeschluss nahm die EU-Kommission nicht nur Servier, sondern gesamtschuldnerisch auch Biogaran in Anspruch. Biogaran ging gegen die eigene Inanspruchnahme mit der Begründung vor, nichts von der Abrede zwischen ihrer Muttergesellschaft (Servier) und Niche gewusst zu haben. Sie trage für den Verstoß daher keine persönliche Verantwortung.

 Audiencia Provincial de Barcelona, Beschl. v. 24.10. 2019, ECLI:ES:APB:2019:9370A. Das Verfahren wird beim EuGH unter der Rs. C-882/19 geführt.  Der Fall ist beim EuGH anhängig – siehe Rechtssache: C-207/19 P.  EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14, ECLI:EU:T:2018:910 – Biogaran.

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Abb. 1: Sachverhalt

b) Keine Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit Wäre das EuG dem Zurechnungsmodell „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ gefolgt, hätte es sich für die Begründung der Haftung von Biogaran auf die getroffene Feststellung beschränken können, dass Biogaran zum Zeitpunkt des Vergleichs und der Zusatzvereinbarung „mit der Muttergesellschaft [d. h.: Servier] ein und dasselbe Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechts“ bildete.⁶⁹ Als einer der unternehmensbildenden Rechtsträger wäre Biogaran taugliche Adressatin eines Bußgeldbeschlusses gewesen.

c) Keine Zurechnung kraft bestimmenden Einflusses Hätte das Gericht dagegen das Prinzip „Zurechnung kraft bestimmenden Einflusses“ zugrundegelegt, wäre eine Haftung Biogarans in Frage gekommen, wenn entweder (a) Biogaran durch Verhalten der eigenen Organe/Angestellten unmittelbar selbst gegen Art. 101 AEUV verstoßen hätte und/oder (b) Biogaran bestimmenden Einfluss auf Servier ausgeübt hätte, deren unmittelbare Beteiligung am Verstoß außer Frage stand. Letzteres [Variante (b)] war im konkreten Fall ausgeschlossen: Nach den Feststellungen des EuG unterlag Biogaran dem bestimmenden Einfluss ihrer Mutter Servier – nicht umgekehrt. Ob Biogaran unmittelbar selbst gegen Art. 101  EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14, ECLI:EU:T:2018:910, Rn. 215 – Biogaran.

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AEUV verstoßen hatte [Variante (a)], war fraglich: Die wettbewerbsbeschränkende Pay-for-delay-Vereinbarung, die für sich selbst genommen alle Tatbestandsmerkmale des Art. 101 AEUV verwirklichte, war unmittelbar zwischen Servier und Niche abgeschlossen worden. Zwar hatte die Kommission die vom EuG nicht beanstandete Feststellung getroffen, dass die Vereinbarung Biogaran/Niche einen zusätzlichen Anreiz für Niche setzte.⁷⁰ Obschon sie also unterstützend, ggf. sogar ermöglichend wirkte, war die Abrede zwischen Biogaran und Niche aber nicht selbst Quelle der wettbewerbsbeschränkenden Wirkung. Außerdem verzichtete die Kommission darauf, die Kenntnis Biogarans von der Wettbewerbsbeschränkung nachzuweisen, weil sie dies nicht für notwendig hielt.⁷¹ Die Kommission ging gleichwohl von einer „direkte[n] Beteiligung“ Biogarans an der Zuwiderhandlung aus.⁷² Das EuG ließ die bloße „Beteiligung“⁷³ Biogarans für deren bußgeldrechtliche Haftung nicht ausreichen. Stattdessen prüfte es ausführlich den bestimmenden Einfluss von Servier auf ihre Tochter Biogaran, ⁷⁴ und damit deren Zugehörigkeit zur wirtschaftlichen Einheit – der Servier-Gruppe. Im Ergebnis stützte das EuG die eigene Haftung von Biogaran maßgeblich auf diese Zugehörigkeit und (!) darauf, dass Biogaran sich, auch wenn sie selbst direkt keine Zuwiderhandlung beging, an der Tat von Servier „unmittelbar […] beteiligt“ habe.⁷⁵

5. Die Manifestation der Einheit im Kontext des Verstoßes als Zurechnungskriterium Bei aller konzeptionellen Unklarheit des Biogaran-Urteils deutet sich damit eine Klärung des unionsrechtlichen Zurechnungsmodells an. Den entscheidenden Hinweis gibt das EuG, wenn es sich, zusätzlich zur Zugehörigkeit von Biogaran zur wirtschaftlichen Einheit, auf die – (wohl) kenntnislose, selbst offenbar nicht den Tatbestand des Art. 101 AEUV erfüllende – „Beteiligung“ Biogarans am Verstoß

 EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14, ECLI:EU:T:2018:910, Rn. 179 – Biogaran.  Kommission, Entscheidung v. 9.7. 2014, CASE AT.39612, C(2014) 4955 final, Rn. 3011 – Perindopril.  Kommission, Entscheidung v. 9.7. 2014, CASE AT.39612, C(2014) 4955 final, Rn. 3011 – Perindopril: „Biogaran thus directly participated in the infringement of Article 101 of the Treaty by signing the agreement with Niche.“  Siehe z. B. EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14, ECLI:EU:T:2018:910, Rn. 209, 211, 219, 223 – Biogaran.  EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14, ECLI:EU:T:2018:910, Rn. 210 ff. – Biogaran.  EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14, ECLI:EU:T:2018:910, Rn. 211, 223 – Biogaran.

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stützt. Verlangt wird folglich, dass sich die zunächst nur abstrakt festgestellte Zugehörigkeit von Biogaran zur wirtschaftlichen Einheit (der Servier-Gruppe) auch im Kontext der konkreten Zuwiderhandlung aktualisiert. Verallgemeinernd ergibt sich daraus: Ausgangspunkt der Zurechnung bleibt die auf Verbotsebene maßgebliche wirtschaftliche Einheit. Jedoch können für die Haftung nur diejenigen Rechtsträger herangezogen werden, deren Zugehörigkeit zur wirtschaftlichen Einheit sich auch im Kontext des konkreten Verstoßes manifestiert hat. In dieser Voraussetzung spiegelt sich auf der Zurechnungsebene die sog. Relativität des Unternehmensbegriffs, wie sie das Wettbewerbsrecht seit jeher auf Verbotsebene kennt.⁷⁶ Wann von einer Manifestation der Einheitszugehörigkeit ausgegangen werden kann, ist nicht abschließend geklärt. Eine Reihe von Fallgruppen zeichnet sich aber bereits ab. Auf Unionsebene unbestritten ist die Haftung derjenigen Rechtsträger, die auf den unmittelbar verstoßbeteiligten Rechtsträger einen bestimmenden Einfluss ausgeübt haben. Darüber hinaus kann auch die irgendwie geartete, kenntnislose und damit „nicht-täterschaftliche“ „Beteiligung“ am unmittelbar von einem anderen Rechtsträger begangenen Verstoß eine Haftung begründen (Biogaran). Schließlich können auch diejenigen Rechtsträger zur Haftung herangezogen werden, die eine – ihnen ggfs. unbekannte – Kartellvereinbarung umgesetzt haben, etwa durch Veräußerung der von ihr betroffenen Produkte zu kartellbedingt überhöhten Preisen. Die Kartellrendite fällt unter diesen Umständen womöglich direkt bei der umsetzenden Tochtergesellschaft an. In privaten Kartellschadensersatzfällen haben insbesondere englische Gerichte unter diesen Umständen eine haftungsrechtliche Zurechnung kraft „implementation“ in Betracht gezogen.⁷⁷ Weitere Fallgruppen bleiben denkbar – etwa dort, wo im Unternehmensverbund systematische Vermögensverlagerungen stattfinden. Entlang der Wertschöpfungskette können diese z. B. über eine entsprechende Ausgestaltung konzerninterner Verrechnungspreise erfolgen.

 Einer Einheit wird die Unternehmensqualität im Rahmen der Art. 101, 102 AEUV nicht abstrakt zugesprochen, sondern mit Blick auf einen bestimmten Tätigkeitsbereich, siehe Mestmäcker/ Schweitzer, § 9 Rn. 10; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 12.  Die haftungsrechtliche Zurechnung aufgrund einer Beteiligung an der „implementation“ läuft unter dem Stichwort „provimi ground“, siehe High Court, 2. 5. 2019, [2019] EWHC 1095 (Ch), Rn. 86 ff. – Media Saturn v Toshiba; CAT, 14.7. 2016, [2016] CA 11, Rn. 364 – Sainsbury’s v Mastercard; Court of Appeal, 23.7. 2010, [2010] EWCA Civ 864, Rn. 45 f. – Cooper Tire & Rubber v Dow Deutschland. Ausgangspunkt der Debatte war der Provimi-Fall: High Court, 2. 5. 2003, [2003] EWHC 961 (Comm) – Provimi Ltd v Aventis Animal Nutrition SA.

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Die Bestimmung der Sanktionsadressaten aufgrund des Kriteriums einer kontextspezifischen Manifestation der wirtschaftlichen Einheit beruht im Ausgangspunkt auf der „Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit“ und führt damit zu einem weitgehenden Gleichlauf von Norm- und Entscheidungsadressatenschaft. Mit der Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit als Normadressat wird zugleich diejenige Einheit identifiziert, die – indem ihr die persönliche Verantwortung für die Normeinhaltung auferlegt wird – zur Gewährleistung eines effizienten Maßes an Sorgfalt angehalten werden soll. Alle der wirtschaftlichen Einheit zuzurechnenden Rechtsträger sollen effiziente Maßnahmen zur Vermeidung von Kartellverstößen in einer Weise treffen, die der jeweiligen nicht nur rechtlichen, sondern vor allem der unternehmerischen Organisationsstruktur entspricht.⁷⁸ Die Entscheidung über die konkrete Compliance-Struktur wird dem Unternehmen selbst überlassen, das über die besten Informationen über deren effiziente Ausgestaltung verfügt. Der weitgehende Gleichlauf von Norm- und Entscheidungsadressatenschaft entspricht auch dem Grundsatz, dass die Regeln des Wettbewerbsrechts in einer Weise ausgelegt werden müssen, die dem Anliegen einer effektiven Verhütung von Kartellrechtsverstößen Rechnung trägt.⁷⁹ Würde nur die unmittelbar kartellbeteiligte Gesellschaft und ggfs. die weisungsgebende Mutter haften, so hätte etwa eine Vertriebsgesellschaft, die unmittelbar von der Kartellbeteiligung der wirtschaftlichen Einheit profitiert, keine Anreize, sich an der Überwachung der Einhaltung der Wettbewerbsregeln zu beteiligen. Während diese Argumente im Ausgangspunkt für die Zurechnung kraft Einheitszugehörigkeit streiten, so ist gleichwohl anzuerkennen, dass in einem Konzern – zumal in einem Mischkonzern – kontextabhängig unterschiedliche unternehmensstrategische Planungseinheiten bestehen können. Der wettbewerbsrechtliche Unternehmensbegriff trägt dem dadurch Rechnung, dass er die Grenzen des Un-

 Für zwei Beispiele aus der unternehmerischen Praxis zum Auseinanderfallen von rechtlicher und faktischer Organisationsstruktur siehe Franzmann, Europäisches Konzernrecht: Vom Gesellschafterschutz zum Enabling Law für Unternehmen, in: Hommelhoff/Lutter/Teichmann (Hrsg.), Corporate Governance im grenzüberschreitenden Konzern, ZGR Sonderheft 20, 2016, 393, 395 ff. (BASF-Konzern) sowie Chiappetta/Tombari, Perspectives on Group Corporate Governance and European Company Law, European Company and Financial Law Rev. 2012, 261, 265 ff. (PirelliKonzern).  Ausführlich zum Konflikt von haftungsrechtlichem Steuerungsziel und konzernrechtlicher Haftungsbeschränkung Teubner, Die „Politik des Gesetzes“ im Recht der Konzernhaftung – Plädoyer für einen sektoralen Konzerndurchgriff, in: Baur/Hopt/Mailänder (Hrsg.), FS Steindorff, 1990, S. 261 ff.

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ternehmens kontextspezifisch („funktional-relativ“) bestimmt.⁸⁰ Das Manifestationskriterium nimmt diese Kontextsensitivität⁸¹ auf der Zurechnungsebene auf: Zur Haftung sollen nur diejenigen Rechtsträger herangezogen werden, die auch im Zusammenhang des fraglichen Verstoßes Teil der unternehmerischen Planungseinheit waren.

6. Konsequenzen für die Bestimmung der Haftungsadressaten im Kartellschadensersatzrecht und die bußgeldrechtliche Zurechnung auf mitgliedstaatlicher Ebene Der Unternehmensbegriff ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts und den Mitgliedstaaten als solcher verbindlich vorgegeben.⁸² In Skanska hat der EuGH festgestellt, dass dies nicht nur für die Bestimmung potentieller Bußgeldadressaten, sondern auch für die Ermittlung des Ersatzpflichtigen des durch einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln entstandenen Schadens gilt.⁸³ Das Kriterium der Manifestation wirtschaftlicher Einheit im oben skizzierten Sinne bestimmt damit nicht nur abschließend darüber, gegen welche Rechtsträger die Kommission Bußgelder verhängen kann (wobei sie zwischen diesen über ein Auswahlermessen verfügt). Es ist maßgeblich auch für das Kartellschadensersatzrecht und für die Frage, gegen welche Rechtsträger mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden im Rahmen ihrer Durchsetzung europäischen Wettbewerbsrechts Bußgelder verhängen können. Im Schadensersatzrecht weist Art. 1 Abs. 1 der Kartellschadensersatz-RL auf die Maßgeblichkeit des europäischen Unternehmensbegriffs für die Bestimmung des Anspruchsgegners hin:⁸⁴ Ihr erklärtes Ziel ist es, dass jeder Geschädigte das

 Mestmäcker/Schweitzer, § 9 Rn. 10; Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 12.  Siehe auch die Formulierung des CAT, 14.7. 2016, [2016] CA 11, Rn. 362 – Sainsbury’s v Mastercard: „context sensitive“.  EuGH, Urt. v. 14. 3. 2019, C-724/17, ECLI:EU:C:2019:204, Rn. 47 – Skanska; Zimmer, in: Immenga/ Mestmäcker, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 31.  EuGH, Urt. v. 14. 3. 2019, C-724/17, ECLI:EU:C:2019:204, Rn. 28 ff., Rn. 47– Skanska. Siehe für das Bußgeldrecht bereits GA Mengozzi, Schlussanträge v. 19.9. 2013, C-231/11 P u. a., ECLI:EU: C:2013:578, Rn. 82 – Siemens Österreich.  Dies verkennt das LG München I, 7.6. 2019, 37 O 6039/18, Rn. 26 – Löschfahrzeug-Kartell, wenn es feststellt, dass das deutsche Recht die Zurechnung der Zuwiderhandlung einer Muttergesellschaft an ihre Tochtergesellschaft nicht vorsehe.

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Recht und die effektive Möglichkeit hat, Schadensersatz von dem Unternehmen zu verlangen, das die Zuwiderhandlung begangen hat. Deutsche Instanzgerichte haben bislang gleichwohl das engere Modell der „Zurechnung kraft bestimmenden Einflusses“ zugrunde gelegt.⁸⁵ Englische Gerichte haben sich dagegen schon früh mit der Haftung von Rechtsträgern befasst, die an der Umsetzung eines Kartellverstoßes beteiligt waren, ohne den Wettbewerbsverstoß selbst begangen oder bestimmenden Einfluss ausgeübt zu haben – eine der wichtigsten Fallgruppen, in denen sich die wirtschaftliche Einheit im Kontext eines Wettbewerbsverstoßes manifestiert (s.o., II. 5.). Bei der Bestimmung der konkreten Adressaten einer Bußgeldentscheidung gilt das Opportunitätsprinzip. Den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden verbleibt bei der Zurechnung daher ein Auswahlermessen. Dessen Grenzen werden durch das Effektivitätsgebot (Art. 4 Abs. 3 EUV) markiert. Aus ihm folgt ein Mindeststandard für die Zurechnungspraxis. Art. 13 Abs. 5 der ECN-Plus-RL, der sämtliche Mitgliedstaaten zur Anwendung des Unternehmensbegriffs „für die Zwecke der Verhängung von Geldbußen gegen Muttergesellschaften […]“ verpflichtet,⁸⁶ kann als Versuch gelesen werden, die Vorgaben des Effektivitätsgebots zu konkretisieren: Mit den Anforderungen an eine effektive Unionsrechtsdurchsetzung wäre es unvereinbar, wenn mitgliedstaatliche Behörden keine Möglichkeit hätten, Muttergesellschaften zur Haftung heranzuziehen, die bestimmenden Einfluss ausgeübt haben. Die weitergehende Möglichkeit, auch diejenigen Rechtsträger zu bebußen, in deren Handeln sich die wirtschaftliche Einheit im Kontext des Wettbewerbsverstoßes manifestiert, ist den Mitgliedstaaten in Art. 13 Abs. 5 der ECN-Plus-RL nicht vorgegeben, aber auch nicht versagt.⁸⁷  LG Mannheim, Urt. v. 24.4. 2019, 14 O 117/18 Kart, Rn. 20 ff. – LKW-Kartell: Die Haftung einer Tochter für den Verstoß einer Schwestergesellschaft komme mangels bestimmenden Einflusses nicht in Betracht; siehe auch LG München I, 7.6. 2019, 37 O 6039/18, Rn. 26 – Löschfahrzeug-Kartell.  Siehe dazu auch Erwägungsgrund 46 der ECN-Plus-RL: „Um eine wirksame und einheitliche Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV zu gewährleisten, bezeichnet der Begriff „Unternehmen“ im Sinne der Artikel 101 und 102 AEUV, der im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union angewendet werden sollte, eine wirtschaftliche Einheit, auch wenn es sich um mehrere juristische oder natürliche Personen handelt. Die nationalen Wettbewerbsbehörden sollten daher unter Anwendung des Begriffs „Unternehmen“ eine zahlungspflichtige Muttergesellschaft feststellen und wegen des Verhaltens einer ihrer Tochtergesellschaften eine Geldbuße gegen sie verhängen können, wenn Mutter- und Tochtergesellschaft derselben wirtschaftlichen Einheit angehören […]“.  Das deutsche Recht sieht diese Möglichkeit auch seinerseits nicht vor – § 81 Abs. 3a GWB erlaubt nur die Verhängung von Geldbußen gegen solche Rechtsträger, die zum Tatzeitpunkt das Unternehmen gebildet haben und „die auf die juristische Person oder Personenvereinigung, deren Leitungsperson die Ordnungswidrigkeit begangen hat, unmittelbar oder mittelbar einen bestimmenden Einfluss ausgeübt haben […]“. Streng genommen bleibt diese Vorschrift hinter den

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III. Legitimationsgrundlagen der wettbewerbsrechtlichen Haftung vor dem Hintergrund der gesellschaftsrechtlichen Haftungsseparierung Zwar ist die wettbewerbsrechtliche Haftung keine Konzernhaftung im technischen Sinne. Das Prinzip einer Haftung der wirtschaftlichen Einheit, wie sie sich im Kontext des Verstoßes manifestiert hat, steht jedoch in Spannung zum Grundsatz der Beschränkung der Haftung auf den unmittelbar verstoßbeteiligten Rechtsträger, wie er das Kapitalgesellschaftsrecht prägt (z. B. § 13 Abs. 2 GmbHG, § 1 Abs. 1 S. 2 AktG). Die Entscheidung des Wettbewerbsrechts für ein abweichendes Haftungsprinzip kann Folgen für die Konzernorganisation haben: Wenn sich die bestimmenden Einfluss ausübende Muttergesellschaft veranlasst sieht, ein effizientes Maß an Sorgfalt in die Überwachung der Konzerngesellschaften zu investieren, und ggfs. auch weitere an der wirtschaftlichen Einheit beteiligten Gesellschaften in kartellrechtliche Überwachungsmaßnahmen investieren, steigen die Informations- und Überwachungskosten innerhalb von Konzernen, und es verschieben sich die Relationen zwischen den Kosten der Organisation einerseits und den Kosten des Marktes auf der anderen Seite.⁸⁸ Konzernrechtler warnen, dass hierdurch der „Organisationsform ‚Konzern‘ zu weiten Teilen ihre Leistungsfähigkeit und Wirkkraft“ genommen werde.⁸⁹ Zu fragen ist daher, ob die vorab dargelegten strukturellen Besonderheiten des kartellrechtlichen Haftungssystems die Eigenlogik und ökonomische Rationalität des Gesellschaftsund Konzernrechts in einem Maße (zer‐)stören, dass der zu erwartende volkswirtschaftliche Schaden höher ist als der Nutzen. Dann – allerdings auch nur dann – bestünde rechtspolitischer Reformbedarf. Eine solche Situation zeichnet sich allerdings nicht ab. Zwar ist das Prinzip der Haftungsseparierung – also der Beschränkung der Haftung für Gesellschaftsschulden auf das Gesellschaftsvermögen einerseits, der Nichthaftung des

Vorgaben der ECN-Plus-RL zurück, denn sie sieht keine Haftung der Mutter für die unmittelbar durch ihre Tochter begangene Zuwiderhandlung in solchen – seltenen, aber möglichen – Konstellationen vor, in denen die Tochter auf die Mutter einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat. Diese Haftungskonstellation lässt sich hingegen noch unter den Wortlaut des Art. 13 Abs. 5 ECNPlus-RL subsumieren.  Ausführlich zu dieser Folge des Haftungsdurchgriffs der Beitrag von Fülbier/Gassen in diesem Heft.  Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 411.

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Gesellschaftsvermögens für Gesellschafterschulden andererseits – ein zentrales, durch gewichtige Gründe getragenes Strukturprinzip des Kapitalgesellschaftsrechts (1.). Die wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung stellt es jedoch nur in Teilaspekten in Frage. Ein Großteil der mit dem Prinzip der Haftungsseparierung verbundenen Vorteile bleibt bestehen. Die verbleibenden Durchbrechungen sind durch volkswirtschaftliche Effizienzvorteile gerechtfertigt (2.).

1. Gründe für die Haftungsseparierung im Kapitalgesellschaftsrecht im Überblick Die rechtsökonomische Literatur nennt im Wesentlichen vier Gründe, welche die Haftungsseparierung im Kapitalgesellschaftsrecht rechtfertigen.⁹⁰ Erstens soll die Beschränkung der Haftung für Gesellschaftsschulden auf das Gesellschaftsvermögen die Trennung von Eigentum und Kontrolle ermöglichen, indem sie die „Prinzipal-Agenten-Kosten“ der Anteilseigner für die Überwachung des Managements senkt. So können Geld- und Humankapital auf effiziente Weise zusammengeführt werden.⁹¹ Eine geringere Überwachung des Managements durch die Anteilseigner führt zwar zu einem höheren Überwachungsaufwand für Vertragsgläubiger. Ihr Risiko ist aber auch auf die Höhe ihrer Forderung begrenzt, und sie werden mit Blick auf diese Forderung häufig über bessere Möglichkeiten der Risikoabsicherung und Überwachung verfügen. Zweitens ermöglicht die Haftungsbeschränkung Gesellschaftern eine effiziente Portfoliodiversifizierung:⁹² Indem sie das Risiko jedes Gesellschafters auf die eigene Einlage beschränkt, entkoppelt sie sein Risiko von der Finanzkraft der übrigen Anteilseigner, die bei unbeschränkter (gesamtschuldnerischer) Haftung die Höhe des eigenen Haftungsrisikos beeinflussen würde. Bei beschränkter Haftung führt die Portfoliodiversifizierung folglich für jeden einzelnen Gesellschafter zu einer Risikostreuung und damit -senkung, während sie bei unbe-

 Aus der umfangreichen US-amerikanischen Literatur siehe z. B. Hansmann/Kraakman, Yale Law Journal 100 (1991), 1879 ff.; Easterbrook/Fischel, University of Chicago Law Review 52 (1985), 89 ff.; Halpern/Trebilcock/Turnbull, University of Toronto Law Journal 30 (1980), 117 ff.; Posner, University of Chicago Law Review 43 (1975), 499 ff.; sowie aus dem deutschen Schrifttum Lehmann, ZGR 1986, 345 ff.; Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 848 ff.; Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, S. 150 ff.  Easterbrook/Fischel, University of Chicago Law Review 52 (1985), 89, 93 f.; Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 857.  Manne,Virginia Law Review 53 (1967), 259, 262; Easterbrook/Fischel, University of Chicago Law Review 52 (1985), 89, 96 f.

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schränkter Haftung zu einer Risikokumulation und damit -erhöhung führen würde. Zur Einschätzung seines Risikos müsste sich jeder Gesellschafter dann ein Bild von der Solvenz der übrigen Gesellschafter verschaffen und wäre mit hohen Informationskosten konfrontiert. Kapitalmärkte, die auf homogene Handelsprodukte angewiesen sind, könnten unter solchen Bedingungen nicht entstehen.⁹³ Drittens bewirkt die Haftungsseparierung zwischen Anteilseignern und Kapitalgesellschaft – also der Schutz der Anteilseigner vor unbegrenzter Haftung(„owner shielding“) und der Schutz der Gesellschaft vor unbegrenzter Haftung für Schulden der Anteilseigner („entity shielding“) – ein „asset partitioning“, das die getrennte Bewertung der Risiken einerseits der Gesellschaft und andererseits der Gesellschafter ermöglicht.⁹⁴ Dies senkt die Informationskosten von Kreditgebern und ermöglicht die präzisere Berechnung eines risikoangemessenen Zinses. Der vierte und vielleicht bedeutendste Aspekt ist, dass die Haftungsbeschränkung Investitionsanreize schafft, indem sie der Risikoaversion von Investoren entgegenwirkt:⁹⁵ Bei unbeschränkter Haftung der Anteilseigner wäre zu befürchten, dass auch Investitionen in Projekte mit einem positiven Erwartungswert unterbleiben. Für die Haftungsbeschränkung im Kapitalgesellschaftsrecht streiten damit vor allem die Absenkung individueller Risiken und die dadurch ermöglichten Investitionen. Mit der Entlastung der Anleger verschwinden die Risiken allerdings nicht. Vielmehr werden sie auf andere Akteure verlagert.⁹⁶ Dies ist ökonomisch dann gerechtfertigt, wenn sie sich kostengünstiger als die Anleger schützen können oder wenn – soweit sie sich selbst nicht schützen können (insbes.: unfreiwillige Gläubiger) – die höhere Risiko- und Innovationsbereitschaft der Anleger positive Spill-over-Effekte für die Gesamtgesellschaft hat, welche die Nachteile für die unfreiwilligen Gläubiger überwiegen.

 Easterbrook/Fischel, University of Chicago Law Review 52 (1985), 89, 95 f.  Hansmann/Squire, External and Internal Asset Partitioning: Corporations and their Subsidiaries, in: Gordon/Ringe (Hrsg.), The Oxford Handbook of Corporate Law and Governance, 2018, S. 251 ff.  Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 854 f.; Fleischer, ZGR 2001, 1, 17.  Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 855 f.; Easterbrook/Fischel, University of Chicago Law Review 52 (1985), 89, 104 ff.

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2. Wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung auf dem rechtsökonomischen Prüfstand a) Ausgangspunkte Die wettbewerbsrechtliche Haftung der wirtschaftlichen Einheit stellt die beschriebenen Vorteile der Haftungsseparation bei Kapitalgesellschaften nicht grundsätzlich in Frage, denn sie führt keineswegs zu einem „Durchgriff“ auf alle Gesellschafter. Norm- und Haftungsadressaten sind nur diejenigen natürlichen und juristischen Personen, die der wirtschaftlichen Einheit angehören, wie sie sich im Kontext des Verstoßes manifestiert hat, also (1) der unmittelbar am Verstoß beteiligte Rechtsträger, (2) Rechtsträger, die bestimmenden Einfluss im spezifisch-wettbewerbsrechtlichen Sinne auf diesen ausüben sowie (3) andere unternehmenszugehörige Rechtsträger, deren Einheitszugehörigkeit sich aufgrund besonderer Umstände wie z. B. einer (ggf. unwissentlichen) Umsetzung der Zuwiderhandlung im Zusammenhang des Verstoßes aktualisiert hat.

b) Keine Gefährdung der Trennung von Eigentum und Kontrolle und der Vorteile der Portfoliodiversifikation für Minderheitsgesellschafter und reine Finanzinvestoren Das Haftungsmodell des Wettbewerbsrechts hat daher keinen negativen Einfluss auf die Möglichkeit einer Trennung von Eigentum und Kontrolle, insoweit Gesellschafter lediglich ihr Kapital zur Verfügung stellen, ohne bestimmenden Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben oder sonst in den unternehmerischen Planungsverbund einbezogen zu sein. Minderheitsgesellschafter sowie reine Finanzinvestoren werden der wettbewerbsrechtlichen Haftung regelmäßig nicht ausgesetzt sein. Sie kommen auch weiterhin in den Genuss einer Risikominderung durch Portfoliodiversifikation. Allerdings steigen die Überwachungskosten für Gesellschafter mit bestimmendem Einfluss. Für sie wird eine Politik des „an der langen Leine laufen Lassens“ kontrollierter Gesellschaften riskanter, soweit daraus ein Risiko im Hinblick auf Kartellrechtsverstöße resultiert. Sie werden aus eigenem Interesse ein konzernweites Compliance-System zur Verhinderung solcher Verstöße implementieren, sofern die dafür anfallenden Kosten die erwarteten Kosten einer Haftung für Kartellrechtsverstöße unterschreiten. Für die Muttergesellschaften mit bestimmendem Einfluss steigt mit der Ausdehnung der Konzernorganisation ferner auch das „Kartellrechtsrisiko“.

Die Haftung von Konzerngesellschaften im europäischen Wettbewerbsrecht

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Weil auch Gesellschaften haften, die an dem Verstoß beteiligt bzw. in seine Umsetzung eingebunden waren, werden auch Tochtergesellschaften ggf. erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich der Aktivitäten ihrer Mutter-/Schwestergesellschaften walten lassen.

c) Steigerung der Kosten für die Überwachung von Mitgesellschaftern? Bei einer Konzernorganisation mit 100 %-Beteiligungen besteht naturgemäß kein Anlass zur Überwachung anderer Mitgesellschafter. Rechtsträger, die einen bestimmenden Einfluss ausüben, der zwar gesellschaftsrechtlich, aber nicht durch eine 100 %-ige Beteiligung vermittelt wird, werden ggf. Überwachungsmaßnahmen durchführen. Der Umstand, dass auch Tochtergesellschaften haften, die (ggfs. kenntnislos) an dem Wettbewerbsverstoß beteiligt bzw. in seine Umsetzung eingebunden waren, führt dazu, dass sich auch Anteilseigner dieser Gesellschaften veranlasst sehen könnten, Informationen über wettbewerbsrechtliche Risiken der gesamten wirtschaftlichen Einheit einzuholen. Das eigene Beteiligungsrisiko wird dabei auch durch die Solvenz der anderen der wirtschaftlichen Einheit zuzurechnenden Rechtsträger bestimmt, bei denen im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs im Binnenverhältnis ggfs. Regress genommen werden könnte. Auch sie kann deshalb zu überwachen sein.

d) Erhöhte Informationskosten für Kreditgeber und Vertragsgläubiger von Konzerngesellschaften Soweit die Solvenz einer mithaftenden Gesellschaft von einem kartellrechtlichen Bußgeld bzw. Schadensersatzanspruch in Frage gestellt werden kann, haben Kreditgeber und Vertragsgläubiger infolge der wettbewerbsrechtlichen Haftung erhöhte Informationskosten, weil sie sich auch über die spezifischen Kartellrechtsrisiken von Mutter- und Schwestergesellschaften informieren müssen. Abgemildert wird dieser Umstand dadurch, dass der Gesamtschuldnerausgleich meist zu einer ganz überwiegenden Einstandspflicht des unmittelbar beteiligten Rechtsträgers und seiner Muttergesellschaft führen wird, und dass kartellrecht-

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liche Bußgelder in der Regel nicht die Solvenz der beteiligten Gesellschaften berühren.⁹⁷

e) Negative Beeinflussung von Investitions- und Innovationsanreizen? Das wettbewerbsrechtliche System der Unternehmenshaftung ist geeignet, Investitions- und Innovationsanreize zu bremsen, wenn diese besondere Kartellrechtsrisiken verursachen können. Trennungsprinzip und Haftungsbeschränkung sollen allerdings auch nicht das Eingehen solcher Risiken fördern, sondern das Eingehen spezifisch unternehmerischer Wagnisse.

f) Zwischenfazit Insgesamt können von der kartellrechtlichen Haftung Anreize ausgehen, die Grenzen der Organisation enger zu ziehen: Für die Muttergesellschaft steigert die Unternehmenshaftung die Kosten einer dezentralen Konzernpolitik, die zwar in wesentlichen unternehmerischen Hinsichten bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochterunternehmen ausübt, sie aber im Übrigen „an der langen Leine laufen“ lässt. Soweit die Kartellrechtsrisiken die Effizienzvorteile einer solchen Politik übersteigen, wird die Muttergesellschaft im eigenen Interesse Überwachungsmaßnahmen ergreifen bzw. konzernweite Compliance-Systeme etablieren oder aber bislang konzerninterne Prozesse auslagern. Für Minderheitsgesellschafter und Vertragsgläubiger kann die wettbewerbsrechtliche Haftung die Informationskosten erhöhen – und damit unter Umständen auch die Fremdkapitalkosten für die Gesellschaft.

g) Kosten und Nutzen der wettbewerbsrechtlichen Unternehmenshaftung in der Bilanz Den skizzierten Auswirkungen der wettbewerbsrechtlichen Unternehmenshaftung auf Konzernorganisation und Finanzierungskosten stehen die Legitimationsgründe der wettbewerbsrechtlichen Haftung gegenüber. Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht sind geeignet, erhebliche volkswirtschaftliche Schäden zu

 Siehe Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, 2006, Rn. 35 sowie § 81 Abs. 4a GWB.

Die Haftung von Konzerngesellschaften im europäischen Wettbewerbsrecht

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verursachen. Ungeachtet deutlich angestiegener Bußgelder und eines erhöhten Risikos privater Kartell-Schadensersatzzahlungen gehen ökonomische Studien von einer strukturellen „under-deterrence“ aus.⁹⁸ Eine Beschneidung der wettbewerbsrechtlichen Haftung würde die Anreize, effiziente Sorgfaltsmaßnahmen zu ergreifen, vermindern und das Problem einer zu geringen Abschreckung erhöhen. Die mit dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip und der Haftungsbeschränkung notwendig verbundene Risikoverlagerung auf Externe ist grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn diese eine effizientere Risikoüberwachung gewährleisten können.⁹⁹ Gerade bei Wettbewerbsverstößen ist dies aber regelmäßig nicht der Fall: Weder Vertragspartner noch Wettbewerber oder mittelbare Abnehmer sind in der Lage, die Einhaltung des Wettbewerbsrechts effektiv zu überwachen oder gar durchzusetzen. Die hierfür erforderlichen Informationen liegen regelmäßig in der Gesellschaft bzw. im Konzern. Besondere Abhängigkeitslagen von Zulieferern und Abnehmern können hinzukommen, zumal bei missbräuchlichen Verhaltensweisen marktmächtiger Unternehmen oder bei im Wesentlichen marktabdeckenden Kartellen. Für mittelbare Abnehmer ist eine vertragliche Absicherung von vornherein ausgeschlossen – es handelt sich um „unfreiwillige Gläubiger“.¹⁰⁰ Würde sich das Wettbewerbsrecht strikt am Trennungsprinzip orientieren, so würde der damit verbundene Verlust an effektiver Durchsetzung bzw. Abschreckung mithin nicht durch eine bessere Überwachung durch andere Marktteilnehmer korrigiert. Es wäre vielmehr mit einer höheren Anzahl von Verstößen und höheren volkswirtschaftlichen Schäden zu rechnen. Die aus aufgedeckten Verstößen folgenden Schäden würden – soweit der unmittelbar verstoßbeteiligte Rechtsträger nicht in Anspruch genommen werden könnte – von den konkret Geschädigten (und im Fall der Schadensabwälzung von ihren Abnehmern) getragen. Demgegenüber führt die wettbewerbsrechtliche Unternehmenshaftung zu Anreizen der Muttergesellschaft und ggfs. auch von Minderheitsgesellschaftern und Gläubigern von Tochtergesellschaften, auf effiziente, den Marktgegebenheiten angepasste Compliance-Systeme in den Gesellschaften zu bestehen. In der Folge können erhöhte Konzernleitungs- bzw. -organisationskosten anfallen. In Grenzfällen kann es zu Verschiebungen in der Wahl zwischen „Hierarchie und

 Siehe hierzu Veljanovski, World Competition 30 (2007), 65 ff.; Combe/Monnier, Antitrust Bulletin 56 (2011), 321 ff.  Vgl. Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 855 f.; Easterbrook/Fischel, University of Chicago Law Review 52 (1985), 89, 104.  Ausführlich zur Unterscheidung zwischen „freiwilligen“ und „unfreiwilligen“ Gläubigern Hansmann/Kraakman, Yale Law Journal 100 (1991), 1879, 1919 ff.; Temming, Der vertragsbeherrschende Dritte, 2015, S. 877 ff.

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Heike Schweitzer und Kai Woeste

Markt“¹⁰¹, also zu Anpassungen der Grenzen der Konzernorganisation kommen. Auch solche Verschiebungen sind im Ergebnis aber effizient: Es ist nicht ersichtlich, warum die Allgemeinheit die durch unzulängliche Überwachungsmaßnahmen im Konzern verursachten Wettbewerbsschäden schultern sollte.

IV. Zusammenfassung Die Wettbewerbsregeln richten sich nicht an einzelne Rechtsträger, sondern an Unternehmen im wettbewerbsrechtlichen Sinne. Verstößt eine wirtschaftliche Einheit gegen sie, kommen alle einheitszugehörigen natürlichen wie juristischen Personen, die auch im konkreten Kontext der Zuwiderhandlung als Teil dieser Einheit in Erscheinung getreten sind, als Adressaten von Sanktionen (insbes. Bußgelder und privatrechtlicher Schadensersatz) in Betracht. Die potentiellen Auswirkungen dieses Haftungskonzepts auf die Organisation von Unternehmen sind nicht zu leugnen – erweisen sich jedoch im Rahmen einer rechtsökonomischen Überprüfung als effizient.

 Grundlegend Williamson, Markets and Hierarchies – Some Elementary Considerations, American Economic Review 63 (1973), 316 ff. und ders., Markets and Hierarchies – Analysis and Antitrust Implications, 1975.

Jens Prütting*

Wettbewerbs- und Konzernrecht Ein Konfliktfeld rechtsgebietsübergreifender Normenkollisionen im Unionsrecht Zusammenfassung: Unternehmerische Tätigkeit über die eigenen Landesgrenzen hinaus verlangt nach Struktur und Risikobegrenzung. Rechtlich ist das Mittel der Wahl die Konzernierung mit jeweils bedarfsgerechten Gesellschaftsformen und Beteiligungsverhältnissen. Da im Konzern Absprachen notwendig sind, werden diese kartellrechtlich nicht beanstandet. Begeht jedoch eine Konzerngesellschaft einen Kartellverstoß, weisen die anderen, allem voran die herrschenden Konzerngesellschaften jegliche Einflussmöglichkeit von sich. Dies gelingt in der Rechtspraxis jedoch wegen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Kartellrechts und der judikativ anerkannten Einflussvermutung bei de facto – Alleingesellschaftern vielfach nicht. Der nachfolgende Beitrag untersucht die Tragfähigkeit und primärvertraglichen Grenzen dieses Verständnisses von Art. 101 AEUV. Abstract: Entrepreneurial activity on international stage requires structure and riskmanagement. The preferred method to achieve the aforementioned is the adequate formation of a group of companies (concern), tailored to suit local legal and business requirements. Agreements within such a given group of companies do not fall under syndicate law. In theory, should an individual company within the given group of companies breaks syndicate law, then the other companies, foremost the holding company could claim ignorance. In practice, due to consistent case-law, this strategy rarely works. The following essay investigates the resilience and legal limits of the aforementioned claims in context of Art. 101 AEUV.

Inhaltsübersicht  I. Einleitung II. Hinweise zur Analysetechnik



* Prof. Dr. Jens Prütting, LL.M.oec. (Köln), ist Juniorprofessor, geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinrecht und geschäftsführender Direktor des notarrechtlichen Zentrums Familienunternehmen an der Bucerius Law School (Hamburg). https://doi.org/10.1515/9783110698077-011

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Jens Prütting

III. „Akzo Nobel“ und „Skanska Industrial Solutions Oy“ als Ausgangspunkt und die Erfassung denkbarer Normenkollisionen  . Der kartellrechtliche Unternehmensbegriff des EU-Rechts und sein Nachweis in der Praxis  . Übersicht zu denkbaren Normenkollisionen  IV. Bereichsabgrenzung und Auslegung kollidierender Vorschriften in ihrem Normbereich sowie Schnittstellenerwägungen  . Einteilung von Rechtsgebieten (Vorprüfung)  a. Abstrakte Grundsätze der Rechtsgebietseinteilung  b. Konkrete Abgrenzungsbestimmung – Kartellrecht vs. Niederlassungsfreiheit im Streit um den Konzernschutz  . Kollisionserwägungen nach Interpretation aus den einzelnen Rechtsgebieten (erste Stufe)  a. Das betroffene Haftungssubjekt der Art.  ff. AEUV und der Konzerndurchgriff  b. Die Niederlassungsfreiheit als Schutz von Konzerninteressen im Widerstreit mit dem europäischen Kartellrecht?  . Kollision der Metanormebenen (zweite Stufe)  a. Das System der Grundfreiheiten   b. Gedanken zum europäischen Wettbewerbsrecht c. Ergänzende Systemerwägungen  d. Zwischenergebnis und Folgeproblematik  V. Kollisionsauflösung (dritte Stufe) und andere Systembereiche  . Begrenzung von und Schutz gegen strafrechtliche Sanktionen  . Unternehmerische Freiheit  a. Konzernierungsfreiheit, Haftungsdurchgriff und Sanktionsumfang  b. Schutz des funktionalen Marktes im internationalen Vergleich  VI. Zusammenfassung in Thesen 

I. Einleitung Adam Smith hat in seinem Werk „Wohlstand der Nationen“ Wettbewerbsbeschränkungen als „Conspiracy against the public“¹ bezeichnet. Diese Grundidee ist auch heute noch tragende Säule europäischer Politik. Das zentrale wirtschaftspolitische Anliegen der EU ist gemäß Art. 3 Abs. 3 EUV die Errichtung und der Erhalt eines funktionierenden Binnenmarktes. Den entscheidenden Mechanismus hierfür bildet die Sicherung eines lauteren Leistungswettbewerbs,² weswegen der EU seitens der Vertragsparteien nach Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV die

 Adam Smith, The Wealth of Nations, 1776, Book I, Ch. X.  Deutlich EuGH, Urt. v. 02.12. 2009, C-496/09, – Kommission/Italia, Slg. 2011, I-11483 Rn. 60 = EuZW 2012, 112.

Wettbewerbs- und Konzernrecht

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ausschließliche Kompetenz zur Festlegung von Wettbewerbsregeln für einen funktionierenden Binnenmarkt überantwortet und in den Art. 101 ff. AEUV das europäische Kartellrecht primärvertraglich festgehalten worden ist.³ Ziele hierauf basierender supranationaler Rechtssetzung und Rechtsanwendung sind insbesondere die Sicherung dezentraler Entscheidungsprozesse sowie die Beseitigung respektive Vermeidung von Marktabsprachen bis hin zu Monopolbildungen zum Schutz der Verbraucherinteressen⁴ und der Marktfunktionalität.⁵ Diesen Erwägungen stehen unternehmerische Interessen größtmöglicher Verdienste und Ausdehnung von Marktmacht dann als Kontrapunkt gegenüber, wenn dieses Streben gerade durch Abbau von Wettbewerb statt mittels Marktdurchsetzung auf Basis qualitativer Höchstleistung erreicht werden soll. Andererseits gibt es eine Vielzahl berechtigter unternehmerischer Interessen, deren Stützung die europäische Rechtsordnung sich verpflichtet fühlen muss, sollen Innovation, Angebotsvielfalt und Tragfähigkeit unternehmerischer Risiken sachgerecht begünstigt werden. Zwei bedeutsame Bausteine sind die Möglichkeiten unternehmerischen Handelns unter dem Schutzmantel haftungsbeschränkter Gesellschaften und die Parzellierung von Tätigkeitseinheiten in einer Konzernstruktur, welche im Rahmen sorgsam auszulotender Grenzen den beherrschten Gesellschaften gestattet, sich dem Gruppeninteresse zu unterwerfen, und herrschenden Gesellschaften innerhalb abschätzbarer Risikospektren die Kontrolle ermöglicht.⁶ Die nachfolgende Untersuchung ist der Erörterung des rechtlichen Spannungsverhältnisses zwischen Schaffung und Sicherung unternehmerischer Freiheitssphären durch Konzernierung mehrerer haftungsbeschränkter Gesellschaften einerseits und Schutz des freien Wettbewerbs durch sinnvolle Rahmengesetzgebung, mäßigende Verwaltungskontrolle und flankierende Rechtsprechung im primärvertraglich statuierten Kartellrecht andererseits gewidmet. Es stehen ein materiell-rechtliches und ein dogmatisches Anliegen im Vordergrund: Materiellrechtlich wird zu bewerten sein, ob das europäische Kartellrecht auf Basis des dort  Treffend zu Ziel und Zweck der Wettbewerbsregeln MüKo/Säcker, Europ. und deut. WettbR, 2. Aufl. 2015, Einleitung Rn. 3 ff. mwN.  Auch als Querschnittsziel in Art. 12 und 169 Abs. 2 AEUV erfasst.  Vgl. Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Schuhmacher, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 101 AEUV Rn. 8 ff. mwN.  Jüngst monographisch Jarzembowski, Grundlagen für eine europäische Konzernhaftung für private haftungsbeschränkte Kapitalgesellschaften, 2019, S. 121 ff. (Untersuchung des deutschen Schutzsystems), S. 149 ff. (ökonomische Analyse bzgl. des deutschen Regelungssystems) sowie rechtsvergleichend zum französischen (S. 187 ff., 213 ff., 240 ff.), zum US-amerikanischen (S. 274 ff., 303 ff., 324 ff.) und zu europäischen Regelungsansätzen (S. 363 ff.,383 ff., 411 f.) mit einem eingehenden abschließenden Vergleich, S. 431 ff., 448 ff., 461 ff.

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herrschenden funktionalen Unternehmensbegriffs ⁷ mit den sich hieran anschließenden bußgeldrechtlichen Folgen eines Konzerndurchgriffs vor dem Hintergrund sonstigen gleich- oder höherrangigen Rechts als anpassungsbedürftig erscheint.⁸ Und dogmatisch soll ein mit Blick auf Rechtsstaatsinteressen angezeigter Beitrag zum dogmatischen Ordnungsverständnis des europäischen Primärrechts geleistet werden. Dabei werden die in den Art. 49, 54 AEUV erfasste europäische Niederlassungsfreiheit in ihrem Verhältnis zum Kartellrecht nach den Art. 101 ff. AEUV und der Schutz unternehmerischer Freiheit nach Art. 16 GRC sowie der Grundrechtsschutz im Bereich des Strafrechts nach den Art. 48 ff. GRC im Vordergrund stehen.

II. Hinweise zur Analysetechnik Die beschriebene Problematik berührt Fragen unterschiedlicher Rechtsbereiche, die im Rahmen von Rechtssetzung und Rechtsanwendung in vielerlei Hinsicht voneinander unabhängig gewachsen sind. In einer Erörterung zu denkbaren Wechselwirkungen ist daher Vorsicht geboten, ob und inwieweit Vorschriften einander bedingen oder gar verdrängen, ohne als wissenschaftlicher Betrachter oder Judikatur der Selbstermächtigungsgefahr⁹ anheim zu fallen und sachwidrigen Vergröberungstendenzen¹⁰ Vorschub zu leisten.¹¹ Ein Auslegungsprocedere¹² ist erforderlich, welches dafür Sorge trägt, dass innerhalb der Analyse die relevanten Vorschriften und lückenfüllenden Judikate zunächst in ihrem originär zugeordneten Normbereich (Metanormebene) interpretiert und verstanden werden, um ein sachgerechtes Verständnis für ihre angedachte optimierte Wir-

 EuGH, Urt. v. 14.7.1972, Rs. 48/69 Rn. 132 ff. – ICI = DB 1972, 1426; EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P Rn. 56 ff. – Akzo Nobel = EuZW 2009, 816.  Das Problem stellt jüngst Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 380 f., 400 ff. im Hinblick auf die Bedeutung des faktischen Konzerns heraus und führt berechtigte Sorgen gegenüber einer übermäßigen Kartellhaftung an.  Näher Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein…, 2006, S. 81 ff.; ders., in: FS Mayer, 2011, S. 169, 184 f.; Hilbert, Systemdenken, 2015, S. 121 ff.; Klement, JöR 2013, 115, 153.  Hierzu Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie, 2009, Rn. 567; Kischel, AöR 1999, 174, 204.  Ausführlich zu den methodischen Grundsatzfragen J. Prütting, Rechtsgebietsübergreifende Normenkollisionen, 2020, § 3.  Eingehend zu Entwicklung, Gegenstand und Hintergrund J. Prütting, Rechtsgebietsübergreifende Normenkollisionen, 2020, § 1 IV (zentrale Thesen und Aufbau), § 2 (rechtswissenschaftssoziologische Hintergründe), § 3 (methodischer Unterbau und die Analyse Inhaltlicher Herangehensweisen) und § 5 (exemplarische Erprobung an Hand von vier Problembereichen auf der Schnittstelle von Zivil- und Sozialversicherungsrecht).

Wettbewerbs- und Konzernrecht

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kungskraft zu erhalten und sodann auf dieser Basis Vorschriften anderer Bereiche gegenüberzustellen (erste Stufe). In der Folge muss gewährleistet sein, dass auch die betroffenen Rechtsbereiche – Metanormebenen – in ihrer Kollision erkannt, bewertet und auf die Kollisionslage hin analysiert werden (zweite Stufe). Hierdurch wird gewährleistet, dass kollisionsinduzierte Systemveränderungen auffallen und in die konkrete Betrachtung Eingang finden. Nach dieser Kollisionsbewertung kann der jeweilige Interpret schließlich die Normenkollisionen bei möglichst weitreichendem Erhalt der Zwecksetzung aller betroffenen Vorschriften und Bereiche (Optimierungsgebot) in wechselseitiger Abstimmung (Ausstrahlungsthese) zur Auflösung bringen (dritte Stufe) oder die Feststellung treffen, dass eine Auflösung nicht geboten ist, da wenigstens ein Rechtsbereich auf Basis aller Erkenntnisse letztlich nicht geeignet ist, die erörterten Interessen in sich aufzunehmen. Im letzteren Fall hat die Analyse der ersten beiden Stufen ergeben, dass die erwogene Normenkollision unter vollständiger Zurückdrängung eines Bereichs aufzulösen ist oder schon a priori nicht vorgelegen hat. Im Ergebnis führen diese beiden Ergebnisse zu keinem sachlichen Unterschied.

III. „Akzo Nobel“ und „Skanska Industrial Solutions Oy“ als Ausgangspunkt und die Erfassung denkbarer Normenkollisionen 1. Der kartellrechtliche Unternehmensbegriff des EU-Rechts und sein Nachweis in der Praxis Aufhänger für die Problemerfassung sind der funktionelle Unternehmensbegriff des Kartellrechts, wie diesen der EuGH in ständiger Rechtsprechung anerkennt, und die sowohl für Bebußung (Akzo Nobel)¹³ als auch für zivilrechtliche Kartellschadensersatzansprüche (Skanska Industrial Solutions Oy)¹⁴ geltende tatsächliche Vermutung¹⁵ zu Lasten der Konzernobergesellschaft, dass sie auf die (nahezu) hundertprozentig beherrschte Konzerntochter beherrschenden Einfluss ausüben kann und auch tatsächlich ausübt¹⁶.¹⁷ Auf Basis dieser Vermutung wird

 EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P – Akzo Nobel = EuZW 2009, 816.  EuGH, Urt. v. 14.03. 2019, C-724/17 – Skanska = ZIP 2019, 1087.  Ackermann, ZWeR 2012, 18 mwN.  Unterhalb der nahezu 100-prozentigen Beherrschungsschwelle und damit außerhalb der Vermutung nach Akzo Nobel muss die Kommission als Kartellbehörde die tatsächliche Ausübung

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ein kartellrechtswidriges Verhalten der Tochtergesellschaft der Mutter zugerechnet, indem beide Gesellschaften als – wirtschaftlich – einheitliches Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV erkannt werden.¹⁸ Mithin treffen gleichermaßen die Konzernmutter alle negativen wirtschaftlichen Folgen, welche kartellrechtswidriges Verhalten der Tochtergesellschaft nach sich ziehen, wobei sich der Umfang denkbarer Sanktionen erweitert, da die Bußgeldobergrenze von 10 Prozent des Umsatzes hierdurch auf den Konzernumsatz bezogen wird,¹⁹ Art. 23 Abs. 2 VO 1/ 2003/EG.²⁰ Als Verteidigungslinie – zur Erschütterung des Erfahrungssatzes – bleibt der Mutter bei erwiesenem Kartellverstoß der Tochter ausschließlich das Erbringen des Beweises, dass die Tochter trotz prozentual beherrschender Gesellschafterstellung seitens der Mutter weithin autonom und unbeeinflusst am Markt agiert.²¹ Ein Blick durch die Judikatur ergibt, dass an die Widerlegung dieser Vermutung hohe Anforderungen gestellt werden.²² Es bedarf eines nachweisbaren Entherrschungsprocederes, in welchem die Muttergesellschaft der Geschäftsführung der Tochter auf Basis belastbarer Satzungsregelungen, ersichtlicher Weisungen oder schuldrechtlicher Vereinbarungen eine erhebliche Autonomie zusichert, die eine Bindung an ein denkbares Gruppeninteresse seitens der Tochter weithin ausschließt, etwa wenn die Mutter als reiner Finanzinvestor auftritt.²³ Spezielle Complianceregeln zur Vermeidung von Wettbewerbs-

von Einfluss darlegen und beweisen, EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14 Rn. 84 – Goldman Sachs = EuZW 2018, 858.  EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P Rn. 60 – Akzo Nobel = EuZW 2009, 816. Zuvor schon EuGH, Urt. v. 25.10.1983, Rs. 107/82 – AEG, Slg. 1983, 3151 Rn. 50 = NJW 1984, 1281.  Der EuGH ist insoweit um präzise dogmatische Klärung nicht sonderlich bemüht, da im pragmatischen Sinne beide Ansätze stets mit identischen Ergebnissen gesehen werden und sich eine Debatte nach Ansicht der Rechtsprechung wohl erübrigt. Nuacierungen und denkbare Abweichungen können sich aber bei der Frage einstellen, wie weit der Haftungsrahmen reichen soll, insbesondere ob Schwestergesellschaften einbezogen sind oder wie Fälle von Kartellverstößen durch die Muttergesellschaft gehändelt werden, von denen die Tochter keine Kenntnis hatte, aber durch tatsächliche Mitwirkung beteiligt gewesen ist, vgl. EuG, Urt. v. 12.12. 2018, T-677/14 – Biogaran = NZKart 2019, 44 (anhängig beim EuGH, C-207/19 P). Ausführlich zur Problematik und zu den unterschiedlichen Zurechnungsmodellen der wirtschaftlichen Einheit, Schweitzer/Woeste, S. 141 ff.  Zu den Grundsätzen der Kontrolle sachgerechter Sanktionen EuGH, Urt. v. 26.09. 2013, C-418/11 – Texdata = IStR 2013, 922 Rn. 55: Sanktionen sollen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.  Zum rechtspolitischen Hintergrund Ackermann ZHR 170 (2016), 638 ff.  EuG, Urt. v. 12.7. 2018, T-419/14 Rn. 151 – Goldman Sachs = EuZW 2018, 858.  Deutlich EuG, Urt. v. 16.06. 2011, T-197/06 – FMC = BeckRS 2011, 80993; EuG, Urt. v. 15.7. 2015, T436/10 Rn. 127 – HIT Groep = BeckRS 2016, 82033. S.a. Klusmann, ZGR 2016, 252, 256.  EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P Rn. 62 – Akzo Nobel = EuZW 2009, 816.

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verstößen sind nach Auffassung der Rechtsprechung demgegenüber kein probates Mittel zum Ausschluss der Haftungszurechnung und sollen auch keinen Anlass für Bußgeldminderungen darstellen.²⁴ Daher darf schon an dieser Stelle resümiert werden, dass die rein dogmatisch-konstruktive Zurückhaltung der Akzo-Vermutung als vermeintlich leichter zu widerlegender Erfahrungssatz mit der prozessualen Folge des Anscheinsbeweises im Rahmen der Beweiswürdigung in praxi sogar noch über eine echte Beweislastumkehr hinausgeht, da sie im Gros aller Fälle als Haftungszuweisungsregel erscheint.²⁵ Die judikativ scheinbar belassene Möglichkeit der Widerlegung im klassisch geführten Konzern mit verfolgtem Gruppeninteresse kann nicht gelingen.

2. Übersicht zu denkbaren Normenkollisionen Bei der Analyse des EU-Rechts im Hinblick auf denkbare Normenkollisionen zur Schärfung, Einhegung und Begrenzung dieses weiten Unternehmensverständnisses des europäischen Kartellrechts rückt ein Nexus mit vielgestaltigen Verästelungen von Vorschriften in den Blick. Der Fokus der vorliegenden Untersuchung soll – nebst einer Analyse des Kartellrechts selbst – zunächst auf Funktion und Sinngehalt der Niederlassungsfreiheit nach den Art. 49 und 54 AEUV²⁶ im System der Grundfreiheiten und unter Beachtung der Vorschriften zur Rechtsangleichung nach den Artt. 50 Abs. 2 lit. g) und 352 AEUV liegen.²⁷ Soweit der Grundfreiheitenschutz nicht greift, sind allem voran die Rolle des Grundrechtsschutzes auf Basis der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 GRC, die Unschuldsvermutung des Art. 48 Abs. 1 GRC sowie die strafrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 49 GRC und der Grundsatz ne bis in idem nach Art. 50 GRC von Bedeutung. Und kompetenzrechtlich stellt sich parallel stets die Frage, wo die Grenzen von Gegenstand und Reichweite der EuGH-Judikatur zu sehen sind, wobei sich der zentrale Ausgangspunkt in Art. 19 Abs. 1 EUV findet.

 Ausführlich Brettel/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 1 ff. mwN.  Es wird auch von einer faktisch „unwiderleglichen Vermutung“ gesprochen, Mundt, WuW 2007, 458, 468.  An dieser Stelle wird die von Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 408 f. aufgeworfene Erwägung überprüft.  Keine ernstzunehmende Relevanz entfalten insoweit die Kompetenzvorschriften der Artt. 114 und 292 AEUV, da gesellschaftsrechtlich mit Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV bereits alle Angleichungserwägungen eingeschlossen sind, sich neue Gesellschaftsformen nur auf Art. 352 AEUV stützen lassen und somit lediglich Raum für Randergänzungen verbleibt.

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IV. Bereichsabgrenzung und Auslegung kollidierender Vorschriften in ihrem Normbereich sowie Schnittstellenerwägungen 1. Einteilung von Rechtsgebieten (Vorprüfung) a. Abstrakte Grundsätze der Rechtsgebietseinteilung Zur Vermeidung der Vorwegnahme inhaltlicher Analysen orientiert sich die Differenzierung nach Rechtsgebieten im Wesentlichen an dem äußeren System der Rechtsordnung.²⁸ Dabei sollte stets im Auge behalten werden, dass nach rechtsstaatlichen Grundsätzen äußerlich im Gesetz erkennbare Strukturierungen ein Leitbild des gesetzgeberischen Verständnishorizontes spiegeln und zugleich neben dem konkreten Wortlaut einer Vorschrift den zentral für Jedermann erkennbaren Anker des Verständnisses bilden.²⁹ Die Berücksichtigung einer der jeweiligen Norm ggf. spezifisch anhaftenden Zwecksetzung ist zur Vermeidung betrachterseitiger Selbstermächtigung bei dieser ersten Einteilung nur insoweit zulässig, als eine bestimmte Teleologie einer Vorschrift oder eines Normbereichs offenkundig ist. Mit der Annahme solcher Art Offenkundigkeit ist freilich in höchstem Maße zurückhaltend zu verfahren, um nicht begründungsbedürftige Ansichten als gesetzgeberische Vorgaben zu tarnen.³⁰

b. Konkrete Abgrenzungsbestimmung – Kartellrecht vs. Niederlassungsfreiheit im Streit um den Konzernschutz Das europäische Kartellrecht ist im AEUV unter der Überschrift „Dritter Teil [–] Die internen Politiken und Massnahmen der Union“, dort unter Titel VII „Gemeinsame Regeln betreffend Wettbewerb, Steuerfragen und Angleichung der Rechtsvorschriften“ gefasst. In einem darunter gesetzten Kapitel 1 „Wettbewerbsregeln“ sind die Kartellrechtsregeln in Abschnitt 1 „Vorschriften für Unternehmen“ enthalten. Nach der äußeren Struktur ist das Kartellrecht somit zwar ebenso wie die Niederlassungsfreiheit, die sich im Dritten Teil unter Titel IV „Die Freizügigkeit,

 Vgl. J. Prütting, Rechtsgebietsübergreifende Normenkollisionen, 2020, § 1 III 2 a.  Hierzu Hilbert, Systemdenken in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, 2015, S. 49 ff.  J. Prütting, Rechtsgebietsübergreifende Normenkollisionen, 2020, § 1 III 2 b.

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der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr“, dort in Kapitel 2 „Das Niederlassungsrecht“ findet, als Parzelle von interner Politik und Maßnahmenpaket der Union eingeordnet. Jedoch ist bereits nach dem äußeren System des AEUV eine deutliche Zäsur zwischen einer enumerativen Aufzählung bestimmter Binnenmarktgrundsätze, beginnend mit Art. 26 AEUV, gesetzten Freiheiten und zahlreichen Politiken, die im Anschluss in Bereiche zusammengefasst worden sind, erkennbar. Ob und inwieweit eine verbindende Klammer einer inneren Logik über die allgemeinen Grundsätze nach den Art. 1 ff. AEUV, insbesondere nach Art. 7 AEUV, im Hinblick auf den EUV oder die Grundrechtecharta angenommen werden kann, ist aus dem äußeren System nicht eindeutig zu entnehmen. Deutlich tritt insoweit nur hervor, dass die vorangestellten allgemeinen Grundsätze nach der Klammermethode grundsätzlich auf alle nachfolgenden Politiken Anwendung finden können. Dies korreliert mit der Auffassung des EuGH, wonach der äußeren Systematik und dem Aufbau des Primärrechts zentrale Bedeutung zukommen soll, da dieser mit dem Anspruch bewusster, logischer und in sich konsistenter Linien erschaffen worden sei.³¹ Zu einer äußerlich erkennbaren Bereichsabgrenzung führt auch die unterschiedliche Adressierung der Normen.Während Art. 49 AEUV den Adressatenkreis im Wortlaut nicht exakt festlegt, sich aber offenkundig wenigstens an die Mitgliedstaaten mit spezifischen Verboten für Binnenmarktbeschränkungen wendet,³² ist Art. 101 AEUV prägnant auf Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, also primär auf die Wirtschaftsakteure bezogen.³³ Ein mittelbarer Bezug zum hoheitlichen Verhalten der Mitgliedstaaten mag auf Basis dieser ersten Betrachtung denkbar sein,³⁴ ist jedoch zunächst in der Norm nicht explizit angelegt. Selbst wenn sich die Adressatenkreise je nach denkbarer Auslegung schneiden,

 EuGH, Urt. v. 23. 2.1988, Rs. 68/86 – Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1988, 855 Rn. 13 = NJW 1989, 1425; EuGH, Urt. v. 22.9.1988, Rs. 187/87 – Saarland u. a. ./. Minister für Industrie, Slg. 1988, 5013 Rn. 11 = NVwZ 1988, 1117; EuGH, Urt. v. 27.6.1991, Rs. C-351/89 – Overseas Union Insurance u. a. ./. New Hampshire Insurance Company, Slg. 1991, I-3317 Rn. 16 = NJW 1992, 3221; EuGH, Urt. v. 26.9. 2013, Rs. C-546/11 Rn. 41 – Dansk Jurist = NVwZ 2013, 1401.  AllgM., vgl. nur Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 49 AEUV Rn. 71.  Freilich geht die Rspr. im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Primärverträge davon aus, dass auch die Mitgliedstaaten sich hieraus ergebende Verpflichtungen treffen, so insbesondere alles zu unterlassen, was Kartellabsprachen bewirkt oder unzulässige Ausnutzung von Marktmacht hervorruft sowie aktiv an der Bekämpfung kartellrechtswidriger Vorgehensweisen von Unternehmen mitzuwirken, vgl. Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Aufl. 2014, Art. 101 Rn. 3 mwN.  EuGH, Urt. v. 01.10.1987, Rs. 311/85 – Flämische Reisebüros, Slg. 1987, 3801, 3828 f. = WuW 1988, 809.

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kann doch von einer identischen Ausrichtung oder einem einheitlich gefassten Normbereich keine Rede sein.

2. Kollisionserwägungen nach Interpretation aus den einzelnen Rechtsgebieten (erste Stufe) a. Das betroffene Haftungssubjekt der Art. 101 ff. AEUV und der Konzerndurchgriff aa. Wortlautinterpretation, Konkretisierung durch die Judikatur und kritische Hinweise In der deutschen Vertragssprache steht hinter der EuGH-Interpretation des funktional zu verstehenden Kartellrechtssubjekts der Begriff des „Unternehmens“, in der englischen Fassung der Terminus „Undertaking“³⁵ und im Französischen „entreprises“³⁶.³⁷ Alle Sprachfassungen verwenden daher zielgerichtet Begrifflichkeiten, die keine Beschränkung auf ein nach der nationalen Rechtsordnung oder dem EU-Recht anerkannten Rechtsträger zugeschnitten sind, sondern die wirtschaftliche Betrachtungsweise des unternehmerischen Verhaltens aufgreifen, deren Reichweite näher ausgeformt werden muss. Die Vertragsparteien haben es damit nach dem Wortlautansatz erkennbar der Rechtsprechung von EuG und EuGH überlassen, eine Konkretisierung funktional wirtschaftlicher Erfassung herbeizuführen, wobei mit jeglichem Hinweis auf Willen und Erwägungen des historischen Gesetzgebers – rechtsstaatlich und demokratisch bedenklich³⁸ – zurückhaltend verfahren werden muss, da die zugehörigen Doku-

 Im Gegensatz etwa zur „company“.  Im Gegensatz etwa zur société.  Das Wortlautverständnis richtet sich gemäß Art. 55 Abs. 1 EUV grundsätzlich nach den Sprachfassungen aller Mitgliedstaaten. Der hier dargelegte Auszug widerspricht jedenfalls nicht dem möglichen Verständnisspektrum nach allen anderen Sprachfassungen und ist vom EuGH einheitlich unionsrechtlich als verbindlich erkannt worden, Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV. Dabei sei beachtet, dass der EuGH letztlich gerade nicht auf die vielfach abweichenden Zusammenhangsbedeutungen nationaler Erklärungsmuster für Termini zurückgreift, sondern eine einheitlich unionsrechtliche Auslegung vornimmt, EuGH, Urt. v. 18.01.1984, Rs. 327/82 – EGKO ./. Produktschap, Slg. 1984, 107, Rn. 11 = RIW 1985, 62.  Es stellt sich die eigenständig zu untersuchende Frage, ob das weitreichende Ausschalten der subjektiven Teleologie durch die Beteiligten des Gesetzgebungsverfahrens qua Vorenthaltung der relevanten Dokumente als Ermächtigung an Exekutive und Judikative gedeutet werden kann, die Primärverträge maßgeblich nach den anderen Auslegungsmethoden zu interpretieren und damit eine besondere Entwicklungsfähigkeit im Rahmen objektiver Teleologie zu verfolgen.

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mente der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind.³⁹ Die gewählte Terminologie ist seit ihrer erstmaligen Form in Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag 1957 unverändert geblieben. Konkretisierungsbedürftige Unsicherheiten sind zudem in der Abgrenzung zwischen dem kartellrechtlich singulären Unternehmen und der Unternehmensvereinigung belassen. Diese Terminologie ist konsequent in die sekundärrechtliche Ausformung fortgeschrieben worden, wobei letztlich die konkrete Bebußung nach Art. 23 VO 1/2003/EG gegenüber einem oder in gesamtschuldnerischer Haftung mehreren als zahlungspflichtige Haftungssubjekte zugewiesen wird. Auch wenn man Letzteres als Widersprüchlichkeit zum EuGHseitig konkretisierten Unternehmensbegriff erkennen wollte,⁴⁰ ist nicht zu bestreiten, dass die Vertragsparteien das Kartellrechtssubjekt nicht als die jeweilige natürliche oder juristische Person, sondern als Unternehmen beschrieben haben. Mithin ist die Interpretation des EuGH mit Blick auf den Wortlaut primärvertraglich legitimiert. Nicht in der Explikation des Gesetzes angelegt ist demgegenüber die in der Akzo-Rechtsprechung eingefügte Vermutung zu Lasten von Allein- oder de factoAlleingesellschaftern. Soweit man zunächst akzeptiert, dass es sich schon vor dem kompetenzrechtlichen Hintergrund, aber auch nach dem Willen des EUGesetzgebers nicht um Strafvorschriften oder ausgelagerte Tatbestandselemente von solchen handeln soll (Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003/EG),⁴¹ richten sich Darlegungsund Beweislast nach den allgemeinen Regeln, was spezialgesetzlich im Sekundärrecht auch noch einmal nach Art. 2 S. 1 VO 1/2003/EG betont wird.⁴² Der Nachweis des Kartelltatbestandes obliegt der sanktionierenden Behörde oder dem sonstigen angreifenden Rechtssubjekt, während die Beweislast für Ausnahmetatbestände nach Art. 101 Abs. 3 AEUV (81 Abs. 3 EGV a.F.) das angegriffene Unternehmen und damit letztlich das oder die im jeweiligen Verfahren angesprochenen Rechtsträger trifft. Da auch der EuGH die Beachtlichkeit sekundärrechtlicher Ausgestaltung für interpretationsfähiges Primärrecht anerkannt⁴³ und

 Vgl. Pechtstein/Drechsler, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 7 Rn. 33 mwN.  Vgl. die Kritik bei Gehring/Kasten/Mäger, CCZ 2013, 1, 6.  Näher mit Darstellung der langjährigen Diskussion MüKo/Schneider/Engelsing, Europ. und deut. WettbR, 2. Aufl. 2015, VO 1/2003/EG, Art. 23 Rn. 21 ff. mwN. Zum Gesamtkontext unterschiedlicher Sanktionsmechanismen Ackermann, ZHR 179 (2015), 538 f. mit Diskussion der Problematik zum Schuldgrundsatz, 554 ff.  Auch die frühere Rspr., welche die heutige Akzo-Vermutung bereits anerkannt hat, vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.1983, 107/82 – AEG, Slg. 1983, 3151 Rn. 50 = NJW 1984, 1281; EuGH, Urt. v. 16.11. 2000, C286/98 P – Stora Kopparbergs Bergslags, Slg. 2000, I-9925 Rn. 29 = BeckRS 2004, 76007 ist vom Verordnungsgeber nicht aufgegriffen worden.  EuGH, Urt. v. 08.04.1976, Rs. 48/75 – Royer, Slg. 1976, 497 (511 f.) = NJW 1976, 2065.

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eine Befassung des Verordnungsgebers mit der Frage der Beweislast ausweislich Art. 2 VO 1/2003/EG stattgefunden hat, mag man bereits daran zweifeln, ob dem EuGH die vorgenommene richterliche Rechtsfortbildung vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Gewaltenteilung zustehen konnte. Der Verweis auf die rechtskonstruktive Erfassung der Akzo-Vermutung als vermeintlich bloßer, wenn auch offenkundig stabiler Erfahrungssatz der Beweiswürdigung trägt nicht, da es sich faktisch sogar um eine Haftungszuweisungsregel handeln dürfte.⁴⁴ Eine Bezugnahme auf Belange, die durch die Niederlassungsfreiheit Ausdruck finden sollen, ist weder im primärvertraglichen Bereich noch in der zugehörigen Durchführungsverordnung oder in den Gruppenfreistellungsverordnungen ersichtlich. Lediglich die Vorschrift des Art. 106 Abs. 1 AEUV zur Einbeziehung und Regelung öffentlicher Unternehmen verweist auf das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, woraus sich jedoch nach Art und Umfang keine spezifische Verbindung zwischen Kartellrecht und Niederlassungsfreiheit herleiten lassen dürfte. Allerdings ergibt sich hieraus ein Hinweis auf eine parallele Stoßrichtung von Wettbewerbs- und Grundfreiheitenrecht, worauf im Rahmen der Erörterung der Art. 49, 54 AEUV zurückzukommen sein wird.

bb. Die innere Systematik der Art. 101 ff. AEUV und des zugehörigen Sekundärrechts aaa. Die Dimensionen des kartellrechtlichen Wettbewerbsschutzes und der geteilte Konzernbegriff Das europäische Kartellrecht funktioniert in drei Dimensionen, in die sich der funktionale Unternehmensbegriff erkennbar einfügt und die systematisch eine Konzernregulierung zunächst nicht vorsehen. Der Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist nur eröffnet, wenn Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen festgestellt werden können. Interaktionen zwischen konzernierten Rechtsträgern scheiden nach der EuGH-Judikatur immer dann aus, wenn Einflussmöglichkeiten nicht weithin ausgeschlossen werden und die Anteile an der Tochter der Muttergesellschaft zu nahezu 100 Prozent gehören.⁴⁵ Soweit ausnahmsweise eine echte Entherrschung vorliegt oder die Schwelle der Akzo-Vermutung nicht erreicht wurde und sich die Muttergesellschaft auf eine vollständige Trennung zur Tochter beruft, sind konsequent Kartellabsprachen auch zwischen Konzerngesellschaften wieder denkbar, da es sich nunmehr kartellrechtlich um mehrere Unternehmen im Sinne des

 S.o. III.1.  EuGH, Urt. v. 10.9. 2009, C-97/08 P – Akzo Nobel = EuZW 2009, 816.

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Art. 101 Abs. 1 AEUV handelt. Der Unternehmer hat somit die Wahl, ob Konzernierung ohne Kartellkontrolle der Gruppenabsprachen gewählt und die Prüfung damit dem Gesellschafts-, Delikts- und Insolvenzrecht überlassen wird, oder ob eine solch strenge Abspaltung und Eigenständigkeit der beherrschten Gesellschaften vorgesehen ist, dass diese im kartellrechtlichen Sinne echte Marktteilnehmer und damit Unternehmen im funktionalen Sinne werden. Dann aber müssen Absprachen mit diesen der Freistellungsidee des Art. 101 Abs. 3 AEUV genügen. Für letzteren Fall könnte man bspw. an die Vertikal-GVO denken, soweit Mutter- und Tochtergesellschaft auf vor- oder nachgelagerten Märkten agieren. Jedoch ist die Vertikal-GVO aufgrund der Begriffsbestimmung in Art. 1 Abs. 2 VO 330/2010/EU nicht anwendbar, da der dort fingierte Unternehmensbegriff im Hinblick auf die Zusammenbindung einer Unternehmensgruppe weiter als jener in Art. 101 Abs. 1 AEUV ist. Es genügt schon eine nur überwiegende Stimmbeteiligung für die Fiktion. Zudem ist eine Widerlegung nicht vorgesehen. Mithin bliebe für diese Fälle nur eine direkte Erfüllung der Vorgaben des Art. 101 Abs. 3 AEUV. Natürlich beruft sich in der Praxis niemand auf den Fall echter Entherrschung, solange es nicht um die Abwehr von konzernbezogenen Bebußungen und Kartellschadensersatzansprüchen geht, jedoch wird deutlich, dass sich die Vermutung der Akzo-Rechtsprechung nicht präzise in die innere Systematik von Primär- und Sekundärrecht einfügt. Flankiert wird diese erste Ebene der Einheitsbetrachtung des Unternehmens durch den Schutz der Wettbewerber und Verbraucher vor Ausnutzung von Marktmacht nach Art. 102 AEUV (zweite Ebene) und durch präventive Kontrolle im Hinblick auf die Erlangung übermäßiger Marktmacht im Rahmen der Fusionskontrolle nach der FKVO (dritte Ebene). In diesen beiden letzten Facetten wird auf Unternehmensgröße und Unternehmensmacht geachtet,⁴⁶ während Art. 101 AEUV einer Wettbewerbsverfälschung durch drohende Zentralisierung ohne Konzernierung respektive Unternehmenszusammenführung entgegenwirkt⁴⁷.⁴⁸

 Vgl. Callies/Rufert/Weiß, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 102 Rn. 2.  Hierzu Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Schuhmacher, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 101 AEUV Rn. 8 ff. mwN.  Dementsprechend kann ein Wettbewerbsverhalten durchaus auch die Artt. 101 und 102 AEUV zugleich verletzen und eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV respektive nach GVO schützt nicht gegen den Vorwurf des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, vgl. EuGH, Urt. v. Rs. 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen u. a. ./. Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, Slg. 1989, 803, Rn. 37 = NJW 1989, 2192.

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Allerdings ist auch bei Art. 101 AEUV die Spürbarkeit ein prüfungsbedürftiges, wenn auch regelmäßig erfülltes Tatbestandsmerkmal.⁴⁹ Im Gesamtbild wird deutlich, dass die Konzernierung im System des Kartellrechts gesehen worden ist und aus dem Absprachenbereich grundsätzlich ausgeklammert werden sollte, was auch der EuGH so interpretiert hat.⁵⁰ Allerdings erscheint das Bild nicht vollends stimmig, wenn die einheitliche kartellrechtliche Konzernhaftung wegen Absprachen der Tochtergesellschaft mit Dritten hinzukommt, da in diesem Moment das Bedürfnis aufkommen kann, sich gerade vom einheitlichen Unternehmensbegriff distanzieren zu wollen, dabei seitens der Muttergesellschaft aber vergessen wird, dass dies auch die Überprüfung aller internen Absprachen und Abstimmungen zwischen Tochter und Mutter zur Folge haben könnte. Diese Konsequenz taucht in den Überlegungen der veröffentlichten EuGH-Rechtsprechung nicht auf. Ein Ausweg böte sich allenfalls unter Distanzierung vom einheitlichen Unternehmensbegriff hin zu einzelfallbezogener Zurechnung im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV, was Konzerngesellschaften – dogmatisch gerade noch tragfähig – ein Rosinenpicken erlauben würde.

bbb. Der Bußgeldansatz nach Art. 23 VO 1/2003/EG Für die Diskussion ebenfalls von Interesse ist die Ausformung des Bußgeldrechts in Art. 23 Abs. 2 UA 2 und 3 VO 1/2003/EG. Sekundärrechtlich wird zwischen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen zwar differenziert, jedoch folgt auch der Verordnungsgeber der Gesamtbebußungsidee, wenn in beiden Fällen 10 Prozent des Unternehmens- oder des Vereinigungsumsatzes nicht überschritten werden dürfen, wobei ein Verbundansatz nach Art. 23 Abs. 2 UA 3 VO 1/2003/ EG verlangt, dass eine Beteiligung der jeweiligen Unternehmen am Kartellrechtsverstoß der Vereinigung gesichert werden kann. Das ist systematisch konsequent, ist doch gerade nicht die Einheitsbetrachtung des Unternehmens im funktionalen Sinn erwiesen, wenn auf den Tatbestand der Unternehmensvereinigung abgehoben werden muss. Dann bedarf es aber auch für die Steigerung des Bußgeldobersatzes einer weiteren Zurechnungserwägung.⁵¹ Demgegenüber scheint die Vermutung der Akzo-Rechtsprechung nicht in dieses Zurechnungssystem des Bußgeldtatbestandes zu passen, da für Konzerne die Verschärfung auf den Konzernumsatz zum Regelfall wird, ohne dass der ge Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Stockenhuber, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 101 AEUV Rn. 217 ff. mwN.  EuGH, Urt. v. 24.10.1996, C-73/95 P – Viho/Parker Pen, Slg. 1996, I-5457 = ZIP 1997, 87.  Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Stockenhuber, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 101 AEUV Rn. 82 ff. mwN.

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sondert erforderliche Nachweis einer Beteiligung erbracht werden müsste. Dies begründet keinen zwingend aufzulösenden Widerspruch, da es selbstverständlich eine Vielzahl deutlich loserer Unternehmensverbindungen gegenüber der Konzernierung gibt, jedoch ist weder systematisch noch nach erkennbarem Beschränkungswillen des Gesetzgebers davon auszugehen, dass bei Erlass der Verordnung die bußgeldrechtliche Balance mit einer konzernrechtlichen Vermutung pro funktionaler Einheit kalkuliert worden ist. Auch kompetenzrechtlich stellt sich die Frage, ob die Vermutung der Akzo-Rechtsprechung sich bei Lichte betrachtet nicht als eine verdeckte Konzernrechtsregulierung entpuppt, deren Legitimation weder aus dem Primärvertrags- noch aus dem Sekundärrecht ersichtlich wird. Daher entsteht durch die Rechtsfortbildung des EuGH insoweit jedenfalls ein gesetzlich nicht vorgesehener Reibungspunkt, wobei mit Blick auf die umfassende Auslegungskompetenz des Art. 19 Abs. 1 EUV⁵² und vor dem Hintergrund des offenen Tatbestandes des Art. 101 Abs. 1 AEUV ein Verstoß gegen Primärrecht nicht zwingend angenommen werden kann.

cc. Äußere Systematik und Zweckverfolgung im Bereich des Wettbewerbs Nach der äußeren Gesetzessystematik sind die Art. 101 ff. AEUV als eigenständige Facette der wesentlichen Unionspolitiken unter die „Wettbewerbsregeln“ gefasst und damit zentraler Garant des unverfälschten Wettbewerbs, worauf in Protokoll Nr. 27 Bezug genommen wird. Das Kartellrecht ist dementsprechend eine bedeutsame Ausformung der in Art. 3 Abs. 1 lit. b) AEUV vorgesehenen ausschließlichen Zuständigkeit der EU und schützt den seitens der Vertragsparteien mit dem EU-Recht erwünschten und in weiten Teilen bereits geschaffenen unbegrenzten Binnenmarkt gegen Beschränkungen durch die unternehmerischen Marktteilnehmer im Rahmen ihrer Interessenverfolgung. Gesichert werden dezentrale Entscheidungsmuster von im aktiven oder potentiellen Wettbewerb stehenden Unternehmen zum Schutz der Verbraucher, der übrigen Mitbewerber und der Marktfunktionalität.⁵³ In dieses Bild passt ein scharfes Bußgeldsystem, welches bei Kartellverstößen von Konzerntöchtern die herrschenden Gesellschaften erfasst.⁵⁴

 Ausführlich zur Bedeutung für die anerkannten Auslegungsmethoden Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 4 ff. mwN. Zur Begrenzung der Macht des EuGH Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 19 EUV Rn. 69 ff. mwN.  MüKo/Säcker, Europ. und deut. WettbR, 2. Aufl. 2015, Einleitung Rn. 3 ff. mwN.  Der EuGH belässt in seiner Rspr. der Kartellbehörde einen weiten Spielraum und verlangt eine Gesamtabwägung aller wirtschaftlich relevanten Umstände, vgl. EuGH, Urt. v. 07.06.1983, Rs. 100/

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Allerdings stellt sich die Frage, ob die insoweit statuierte Verhaltenshaftung im Rahmen des Durchschlags auf die Muttergesellschaft noch tragfähig erscheint oder mit einem Teil der kritischen Literatur als unzulässige Strukturhaftung abzulehnen sein könnte.⁵⁵ Insoweit verfängt zunächst allerdings weder der Hinweis auf die unterschiedlichen Rechtsträger (Tochter und Mutter) noch der Vorhalt fehlender Beachtung der Verhaltenshaftung.⁵⁶ Wird der EuGH-Ansatz konsequent zu Ende gedacht, ist ein Kartellverstoß der Tochtergesellschaft als ein legislatorisch zugewiesenes Fehlverhalten der Muttergesellschaft zu werten, ordnet das Kartellrecht doch gerade gesetzlich an, dass die Kartellrechtssubjektivität blind für die Rechtsträgerstellung im Übrigen sein soll. Das führt auch nicht zu Widersprüchen im Hinblick auf die spätere Umsetzung und die konkrete Haftung, die sich nach den Prinzipien des Gesellschaftsrechts vollziehen. Es ist bislang von niemandem dargetan, weshalb der EU-Gesetzgeber nicht die Legitimation haben sollte, eine Verhaltenshaftung unter Zurechnung aller Konzerngesellschaften zu konstruieren. Wenn diese Legitimation aber besteht und das Gesellschafts- wie auch das Insolvenzrecht im Übrigen nicht EU-weit vollharmonisiert sind, bedarf es schon mit Blick auf den Effektivitätsgrundsatz der Zulässigkeit einer konsequenten Haftungsumsetzung und -vollstreckung nach den jeweiligen Rechtsträgern. Auch leuchtet es nicht ein, weshalb hierin der unzulässige Vorwurf eines Fehlverhaltens gar durch anfängliche Konzernierung oder durch spätere Steuerung des Konzerns liegen sollte.⁵⁷ Beide Aussagen verfehlen die EuGH-Interpretation des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Wenn Mutter und Tochter ein Unternehmen darstellen, liegt der Verhaltensvorwurf einzig darin begründet, dass die Tochter einen Kartellverstoß begangen und die Mutter Einfluss genommen hat. Dass die

80 – Musique Diffusion Francaise, Slg. 1983, 1825, Rn. 121 = BeckRS 2004, 70610. Eine prägnante Auflistung der diskutierten Motivlagen bietet Poelzig, in: Apfelbacher et. al. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, S. 90 f. mwN. aus Rspr. und Lit.  Zur Diskussion insbesondere Brettl/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 19 ff.; s.a. Poelzig, in: Apfelbacher et. al. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, S. 90 f.  So aber Brettl/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 19 ff., die mit guten Argumenten gegen die Reichweite der Akzo-Rspr. angehen und hierbei die Frage der Zulässigkeit eines gesetzlichen Konstrukts als wirtschaftliches Haftungssubjekt mit entsprechender Reichweite unmittelbar vor dem Hintergrund grundrechtlicher und rechtsstaatlicher Abwehrmechanismen gegen Strafe und Buße erörtern. Im Ergebnis ist Brettl/Thomas zuzustimmen, nur ergibt sich die Rechtswidrigkeit der Akzo-Grundsätze aus einem Verstoß gegen die Art. 16 sowie 48 f. GRC, nicht weil es legislatorisch unzulässig wäre, auch ein wirtschaftliches Konstrukt für die Haftungsreichweite heranzuziehen. S.a. Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 405; Beck, AG 2017, 726, 728.  So aber wohl Beck, AG 2017, 726, 728.

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Konsequenzen also auch die Mutter treffen, ist in diesem System lediglich der Preis für die Möglichkeit der Konzernierung bei Verfolgung von Gruppeninteressen; dies gilt freilich umso mehr, wenn man die Akzo-Vermutung für rechtmäßig hält. Das Kartellrecht selbst gewährt allerdings einen Ausgleich, da Absprachen und abgestimmte Verhaltensweisen von Mutter und Tochter nicht mehr an Art. 101 Abs. 1 AEUV gemessen werden. Eine vollkommen anders gelagerte Frage ist, ob dieses System des funktionalen Unternehmensbegriffs für Konzernbebußungen vor dem Hintergrund kompetenzrechtlicher, kontrollierender und begrenzender Vorschriften zu weit geht und sich deswegen als rechtswidrig darstellt. Hierzu wird in der Folgedebatte Stellung genommen. Das System jedoch a priori in seiner Ausgestaltung für untragbar zu halten, da es eine Abkehr von der angeordneten Verhaltenshaftung darstelle, erscheint wenig überzeugend und führt den Betrachterblickwinkel weg von den gesetzlichen und judikativ anerkannten Prüfmaßstäben hin zu einer allgemeinen Ablehnung eines vermeintlich ungewünschten Systems.

dd. Zwischenergebnis Das europäische Kartellrecht verfolgt eine spezifische Schutzausrichtung auf die Sicherung des freien Binnenmarktes. Konzernierungen sind als Element erfasst und partiell einbezogen. Dies geschieht mit einem unbestimmten, aber durch die EuGH-Judikatur ausgefüllten Unternehmensbegriff in Art. 101 Abs. 1 AEUV und setzt sich in sekundärrechtlichen Definitionen und Bestimmungen fort. Allerdings sind Brüche in der inneren Systematik erkennbar, aus welchen in bestimmten Konstellationen inkonsequente Rechtsfolgen hervorzugehen drohen. Auch bestehen kompetenzrechtliche Zweifel, ob der EuGH entgegen der primärvertraglichen und verordnungsrechtlichen Darlegungs- und Beweislaststruktur eine Vermutung eines einheitlichen Unternehmens im Fall der de facto Alleingesellschafterstellung der Muttergesellschaft einführen durfte, selbst wenn es sich hierbei konstruktiv vermeintlich nur um eine tatsächliche Vermutung handeln soll. Diese Problemlagen scheint der EuGH bislang nicht ernst zu nehmen; jedenfalls findet sich in seiner Judikatur hierzu keine problemorientierte Erörterung. Das Grundsatzmodell des funktionalen Unternehmensbegriffs dürfte jedoch von der Konzeption des Primärvertrags und der damit einhergehenden sowie in VO 1/2003/EG ausgeformten Verhaltenshaftung auch dann erfasst sein, wenn es um Negativkonsequenzen für die Muttergesellschaft geht. Damit ist jedoch in keiner Form die Aussage getroffen, dass die Haftungsreichweite auch rechtmäßig ist. Vielmehr ist dieselbe an kollidierenden respektive potentiell beschränkenden Vorgaben des übrigen Primärrechts zu messen.

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b. Die Niederlassungsfreiheit als Schutz von Konzerninteressen im Widerstreit mit dem europäischen Kartellrecht? Es ist bereits in der Literatur erwogen worden, ob die in den Art. 49 und 54 AEUV normierte Niederlassungsfreiheit als taugliches Vehikel zur sachgerechten Begrenzung der weitschweifigen Kartellhaftungsrechtsprechung des EuGH heranzuziehen sein könnte.⁵⁸ Dies würde allerdings voraussetzen, dass der Gewährleistungsbereich der Niederlassungsfreiheit den Schutz von Konzerninteressen erfasst und dass die kartellrechtliche Durchgriffshaftung sich als letztlich nicht zu rechtfertigender Eingriff in diesen Schutz darstellte.

aa. Wortlaut und judikative Ausfüllung Art. 54 AEUV erklärt das Recht der Niederlassungsfreiheit explizit zu Gunsten aller Arten von Gesellschaftsformen für anwendbar, die in der Union zu finden sind, sofern der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung oder die Hauptniederlassung in der Union liegen.Von diesem Ausgangspunkt aus ist die Grundfreiheit des Art. 49 AEUV auf besagte Voraussetzungen erfüllende haftungsbeschränkte Gesellschaften anwendbar, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats wirksam gegründet worden sind.⁵⁹ Art. 49 Abs. 1 S. 1 AEUV bringt sodann ein pauschales Verbot von Niederlassungsbeschränkungen „nach den folgenden Bestimmungen“ mit sich. Ebenso sollen nach Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV Gründungsbeschränkungen von Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen und Agenturen in einem anderen als dem Ausgangsmitgliedstaat verboten sein. Mit Art. 49 Abs. 2 AEUV kommt sodann eine Konkretisierung dahingehend hinzu, dass die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Art. 54 Abs. 2 AEUV „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“ umfasst sein soll (Inländerbehandlung).⁶⁰ Eine weitreichende und vielfach erörterte Judikatur des EuGH hat diesen Ansätzen Kontur verliehen, so dass heute von zwei zentralen, weithin gesicherten Säulen des Schutzes ausgegangen werden kann: Zum einen wird die Freiheit des Marktzugangs durch eine umfassende Freiheit der Unternehmensstandortwahl gewährleistet (verwirklicht

 Vgl. Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 402 f., 408.  Vgl. Callies/Rufert/Korte, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 49 Rn. 6 sowie Art. 54 Rn. 16 f.  Eingehend Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Forsthoff, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 49 Rn. 75 ff. mwN.

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über das Beschränkungsverbot)⁶¹ und zum anderen wird zu Gunsten zuziehender Unternehmen nach erfolgtem Markteintritt die Gleichbehandlung geschützt (verwirklicht über das Diskriminierungsverbot)⁶². Wie weit insbesondere das Beschränkungsverbot zu reichen vermag, ist nach wie vor nicht abstrakt-generell geklärt.⁶³ Mit diesen Grundsatzerwägungen zum Gewährleistungsbereich verbinden sich zwei Fragestellungen, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind.

aaa. Gruppeninteresse des Konzerns als Schutzgegenstand des Art. 49 AEUV? Obgleich Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV explikativ die Varianten der unselbstständigen Zweigniederlassungen und der selbstständigen Tochtergesellschaften ohne Hinweis auf einen bestimmten Schutz der Nutzung von unternehmerischer Risikobegrenzung durch Haftungsparzellierung kraft Kapitalgesellschaftsrechts nebeneinanderstellt, ist mit einiger Berechtigung vorgetragen worden, dass die Konzernstruktur unter Nutzung haftungsbeschränkter Gesellschaften der typische und notwendige Ansatz einer Standortverteilung durch die Union, also der stabilen Immigration in einen fremden Markt sei.⁶⁴ Dementsprechend wird zunächst zustimmungswürdig dafür geworben, das Konzernrecht keineswegs nur als Gläubiger- und Minderheitenschutz mit Blick auf die beherrschte Gesellschaft zu erachten, sondern mehr den Ermöglichungsfaktor der in sinnvollem Rechtsrahmen eingefassten Zulässigkeit der Verfolgung des Konzerninteresses in die Argumentation einzubeziehen (Konzernrecht als enabling law).⁶⁵ Vor diesem Hintergrund könnte ein mangelhafter Schutz des Gruppeninteresses auch in den Gewährleistungsbereich der Niederlassungsfreiheit fallen, da sich die fehlende oder unzureichende Berücksichtigung von Konzerninteressen als faktische Binnenmarktbeschränkung darstellen könnte,⁶⁶ sobald die Unternehmen aufgrund

 Näher Callies/Rufert/Korte, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 49 Rn. 46 ff., 49 ff. mwN. Zur ebenfalls gewährleisteten Rechtswahlfreiheit näher Schollmeyer, ZGR 2018, 186 ff. mwN.  EuGH, Urt. v. 13.11.1984, Rs. 283/83 – Racke, Slg. 1984, 3791, Rn. 7 = BeckRS 2004, 72921; EuGH, Urt. v. 23.02. 2010, C-64/08 – Engelmann, Slg. 2010, I-8219, Rn. 32 ff. = EuZW 2010, 821; EuGH, Urt. v. 25.10.1986, Rs. 168/85 – Kommission ./. Italien, Slg. 1986, 2945 = BeckRS 2004, 71917; EuGH, Urt. v. 15.03.1988, Rs. 147/86 – Kommission ./. Griechenland, Slg. 1988, 1637 = BeckRS 2004, 71693.  EuGH, Urt. v. 10.12. 2015, C-594/14 – Kornhaas = NJW 2016, 223, 225 Rn. 28.  Dies insbesondere auch in Abgrenzung zur Warenverkehrs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit. Hierzu Teichmann, ZGR 2011, 639, 646 ff., 665 f.  So der gut begründete Ansatz von Teichmann, AG 2013, 184, 189 ff.; ders., ZGR 2014, 45, 62 ff., 72 f.  Vgl. Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 380 f., 400 ff.; Teichmann, AG 2013, 184 ff.

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fehlender rechtlicher Absicherungsmöglichkeiten ihrer Haftungsrisiken unter gleichzeitigem Erhalt ihrer Leitungs- und Führungsmöglichkeiten im Konzerninteresse von effizienter Marktnutzung innerhalb der EU abgehalten würden (Art. 49 AEUV als fortgesetztes enabling law).⁶⁷ Für diese Sichtweise kann nebst des vorgenannten Konsequenzarguments Art. 49 Abs. 2 AEUV ins Feld geführt werden, der unter die Freiheit auch Leitung und Führung als Teil des Gewährleistungsbereichs fasst. Allerdings hebelt gerade der Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV als sekundäre Niederlassungsfreiheit diese Idee sogleich wieder aus. Zum einen ist dort keine Rede vom Gruppeninteresse, was wohl auch nicht ohne Weiteres indirekt in die Norm hineingelesen werden kann, da die sekundäre Niederlassungsfreiheit keinen qualitativen Unterschied zwischen unselbstständigen und selbstständigen Nebenniederlassungsformen ausweist.⁶⁸ Zum anderen lässt sich aus der Einschränkung „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“ erlesen, dass die Niederlassungsfreiheit bei einheitlichen Verhältnissen für alle, die keine mittelbare respektive versteckte Diskriminierung bedeuten, nicht zum Pauschalwerkzeug genereller Marktanpassung zu avancieren.⁶⁹ Vielmehr respektiert diese Vorschrift die Unvollkommenheit des Binnenmarktes⁷⁰ und überlässt es Gesetzgebungsakten der Rechtsangleichung bei übertragener Kompetenz, die notwendigen Standards für alle zu setzen, die den Binnenmarkt auch seinen allgemeinen Spielregeln nach zunehmend auf Allokationseffizienz trimmen. Dass diese Konsequenz de lege lata richtig sein dürfte, zeigt auch die nach wie vor akzeptierte Inländerdiskriminierung,⁷¹ die andernfalls wegen eines allgemein in Art. 49 AEUV für den Binnenmarkt erforderlichen Konzernierungsinteresses gleichermaßen ausgeschlossen werden

 In diese Richtung Schön, ZGR 2019, 343, 347 ff. unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 25.02. 2009, C81/09 – Idryma Typou = BeckEuRS 2009, 494558 (Entzug der Haftungsbeschränkung als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit).  Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 28.01.1986, Rs. 270/83, – avoir fiscal, Slg. 1986, 273 Rn. 22 = NJW 1987, 569. Selbstverständlich folgt hieraus nicht, dass die nationalen Rechtsordnungen keine Unterschiede zwischen den Niederlassungsformen machen dürften, die dann konsequent für Inländer wie Ausländer gelten und nicht mittelbar diskriminierend wirken, vgl. EuGH, Urt. v. 06.12. 2007, C298/05, – Columbus, Slg. 2007, I-10497 Rn. 53, 54 = ZIP 2008, 151. Zur berechtigten Kritik hinsichtlich früherer Judikatur Schön, EWS 2000, 281 ff.  Das erkennt auch Teichmann, ZGR 2011, 639, 647 f.; ders., ZGR 2013, 184, 185 f. an.  So schon Steindorff, ZHR 158 (1994), 149, 160. Auf dieser Linie letztlich auch EuGH, Urt. v. 10.12. 2015, C-594/14 – Kornhaas = NJW 2016, 223, 225 Rn. 28.  Vgl. EuGH, Urt. v. 16.06.1994, C-132/93 – Steen II = BeckRS 2004, 74324 Rn. 10.

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müsste. Es erscheint mithin schon an dieser Stelle fraglich, ob das Gruppeninteresse als solches zum Gewährleistungsbereich gehören kann.⁷²

bbb. Wettbewerbsrecht als Marktzutritts- oder Marktverhaltensregel? Ein weiterer begründeter Zweifel am Konzernschutz durch die Niederlassungsfreiheit ergibt sich aus der Reichweitenbestimmung der Art. 49, 54 AEUV nach den Grundsätzen der EuGH-Entscheidungen Keck⁷³ und Kornhaas⁷⁴. Den Geist unbegrenzt kontrollierender Grundfreiheiten kraft Ersinnens allgemeiner Beschränkungsverbote sucht der EuGH teilweise nun doch in die Flasche zurückzudrängen, indem der Differenzierungsversuch zwischen Marktzutritts- und Marktverhaltensregeln eingeführt wird. Besonders interessant ist für die folgende Debatte die jüngere Kornhaas-Entscheidung, nach welcher die Haftung gemäß § 64 S. 1 GmbHG nicht gesellschafts-, sondern insolvenzrechtlich einzustufen sei und damit nicht den Schutz der Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen könne. Zentrales Argument des EuGH ist die – im Unterschied zu den Gebhard-Grundsätzen⁷⁵ – nachgelagerte Anwendung der insolvenzrechtlichen Haftung, die weder auf die Gründung noch auf die spätere anderweitige Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat bezogen sei.⁷⁶ Diese Argumentation leuchtet auf den ersten Blick durchaus ein,⁷⁷ jedoch lässt sich dieselbe ohne Weiteres angreifen, indem argumentiert wird, dass ein besonders scharfes Insolvenzrecht eine Gesellschaft jedenfalls mittelbar davon abhalten könnte, seinen Center of main interest im Sinne der EuInsVO in einen bestimmten Mitgliedstaat zu legen, um die Gefahr des späteren Zuschlagens dieses Haftungsinstruments zu meiden. Mit entsprechender Argumentation können letztlich jede Marktverhaltensregel und jedes nachgelagerte Schutz- und Haftungskonzept auch als mittelbare Marktzutrittsbeschränkung gedeutet werden.⁷⁸

 Deutlich gleichwohl für eine Einbeziehung Schön, ZGR 2019, 343, 350 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 25.02. 2009, C-81/09 – Idryma Typou = BeckEuRS 2009, 494558.  EuGH, Urt. v. 24.11.1993, C-267/91 – Keck = GRUR 1994, 296.  EuGH, Urt. v. 10.12. 2015, C-594/14 – Kornhaas = NJW 2016, 223. Zu weit gehen nach hier vertretener Auffassung die Schlussfolgerungen von Kindler, EuZW 2016, 136, 138 und Schall, ZIP 2016, 289, 292, wonach sich aus dem Judikat neue Definitionen der Reichweite der Niederlassungsfreiheit ergeben sollen.  EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, – Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 = NJW 1996, 579.  EuGH, Urt. v. 10.12. 2015, C-594/14 – Kornhaas = NJW 2016, 223, 225 Rn. 28.  Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Teichmann, ZGR 2017, 543, 564 f.  Callies/Rufert/Korte, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 49 Rn. 53 ff., 56 meint allerdings, das Problem sei trotz der starken Einzelfallabhängigkeit jedenfalls weniger gravierend als die Abgrenzung zwischen mittelbarer Diskriminierung und Beschränkungsverbot. Dem wird zwar auch an dieser Stelle zugestimmt, räumt allerdings die vorgebrachten Bedenken nicht aus. Grabnitz/Hilf/

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Von einer rechtsstaatlich antizipationsfähigen Demarkationslinie kann insoweit kaum gesprochen werden. Dann aber lässt sich durchaus schon dem Grunde nach die Forderung formulieren, das Konstrukt des allgemeinen Beschränkungsverbots ausschließlich auf unmittelbare Marktzutrittsschranken zu kaprizieren, während alle nachgelagerten Regeln, die nicht diskriminierend wirken, ausschließlich an anderen Vorschriften, insbesondere an den Grundrechten nach der Grundrechtecharta zu messen sein sollten.⁷⁹

bb. Judikativer Schutz der Niederlassungsfreiheit und legislatorische Angleichungskompetenzen Argumentativ deutlich schwerer gegen eine Erfassung des Konzerninteresses in Art. 49 AEUV wiegen jedoch systematische Argumente und Erwägungen mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung – seitens des EuGH als „institutionelles Gleichgewicht“⁸⁰ bezeichnet. Man mag dem EuGH grundsätzlich unter Beachtung der bestehenden Unionskompetenzen eine gewisse Rechtsfortbildungsfunktion zuerkennen, die sich nicht zuletzt aus dem effet utile – Grundsatz speist.⁸¹ Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch, dass eine konzernrechtliche Ausdifferenzierung durch die Diskussion um den Balanceakt eines gemeineuropäischen Harmonisierungsansatzes im Konzernrecht eine lange Geschichte hat,⁸² deren Quintessenz de lege lata ist, dass sich die Abgeordneten innerhalb des Sekundärgesetzgebers trotz bestehender Kompetenz zur Rechtsangleichung nach Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV nicht auf eine entsprechende Richtlinie haben festlegen können. Auch Bemühungen der Schaffung von neuen supranationalen Gesellschaftsformen als Konzernbausteine auf der Grundlage des Art. 352 AEUV waren bislang kein Erfolg beschieden (SPE⁸³ und SUP⁸⁴). Es darf nunmehr nicht am EuGH sein, kraft des

Nettesheim/Forsthoff, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 49 Rn. 97 ff. versucht der Frage durch eine breite Fallgruppenbildung Herr zu werden. S.a. Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 3 Rn. 6 ff.  Um ein sachgerechtes rechtliches Abgrenzungsverständnis auf Basis nicht zuletzt auch wirtschaftlicher Erwägungen zur Judikatur ist MüKo/Callies, Europ. und deut. WettbR, 2. Aufl. 2015, Einleitung Rn. 707 ff. bemüht.  EuGH, Urt. v. 29.10.1980, Rs. 138/79 – Roquette Frères, Slg. 1980, 3333 = BeckRS 2004, 71586.  Vgl. Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 45; Zweigert, RabelsZ 1964, 612.  Zusammenfassung bei Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 4 Rn. 15 ff., 34 ff.  Das Scheitern eines europäischen Pendants zur GmbH ist insbesondere für all jene Staaten höchst misslich, deren Version einer kleinen haftungsbeschränkten, aber satzungsrechtlich be-

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grobschlechtigen Schwerts⁸⁵ der negativen Niederlassungsfreiheit eine Vereinheitlichung ohne erkennbaren Konsens des Primär- oder Sekundärgesetzgebers herbeizuführen. Der notwendige Konsens über die zahlreichen konzernrechtlichen Fragestellungen der Haftung, des Minderheitenschutzes, der Konzerntransparenz, zulässiger Kontrollrechte und der Stellung und Durchsetzung des Gruppeninteresses sowie dessen Begrenzung darf nicht durch die Richterbank erzwungen werden.⁸⁶ Schon prozedural fehlen die vielgestaltigen Anhörungs- und Beteiligungsrechte des Gesetzgebungsverfahrens, die sachgerechte Hinzuziehung von Expertenrat und die eigehende politische Erörterung. Nun könnte entgegengehalten werden, dass eine Aufnahme des Konzerninteresses in den effektiven Schutz der Niederlassungsfreiheit diesen Rechtsangleichungsmechanismus nicht verletze und auch nicht in die Gewaltenteilung eingreife, da einerseits der Gesetzgeber nicht an kassatorischer Legislation gehindert sei und andererseits die EuGH-Judikate nur einzelne Diskriminierungsund Beschränkungsfälle behandeln würden. Diese Gegenargumente erscheinen jedoch wenig überzeugend, beachtet man den Umstand, dass eine grundsätzliche Einbeziehung des Gruppeninteresses in den Gewährleistungsbereich des Art. 49 AEUV eine generelle Schutzaussage mit sich brächte, die in einer Vielzahl von Fällen ab diesem Moment qua Art. 49, 54 AEUV geltend gemacht werden könnte und zwingend vom EuGH in der Folge so ausgeformt werden müsste, dass dieser auch Stück für Stück Inhalt und Grenzen zulässiger Eingriffe in die konzernrechtliche Leitungs- und Führungskultur ausbuchstabiert, um diese von unzulässigen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit abzugrenzen. Dieses Vorgehen ist mit Blick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip⁸⁷ auch nicht als Überbrückungsszenario zu akzeptieren, da jede supranational induzierte Anpassung nicht mehr und nicht weniger als eine Korrektur respektive ein Misstrauensvotum gegen die staatlichen Regulierungen des jeweiligen Konzernrechts ist, welche der europäische Gesetzgeber trotz erheblicher Diskussionen bislang nicht zu ändern bereit war. Die nationalen

weglichen Gesellschaftsform nicht zum Exportschlager aufsteigen konnte und dementsprechend in der EU wenig Bekanntheit erfahren hat. Ausführlich zum Problem J. Prütting, JZ 2014, 381 ff.  Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2019, § 10 Rn. 23 ff.  Mit Recht hat daher Teichmann, ZGR 2014, 45, 70 darauf hingewiesen, dass die negative Niederlassungsfreiheit für die Entwicklung eines europäischen Konzernrechts zu grobschlächtig ist und es einer Feinabstimmung im Wege der Rechtsangleichung bedarf.  Zutreffend daher die anerkannten Grenzen des EuGH, aufgeführt bei Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 19 EUV Rn. 69 ff. mwN.  Es ist allerdings umstritten, ob das Subsidiaritätsprinzip für den EuGH Gültigkeit beansprucht, vgl. EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosmann = NJW 1996, 505.

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Sichtweisen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beurteilung von Notwendigkeit und Inhalt eines Konzernrechts mit spezifischer Anerkennung eines Gruppeninteresses sind bekanntermaßen sehr divergent, was sich nicht zuletzt aus der schon angesprochenen europäischen Gesetzgebungsgeschichte in diesem Bereich ergibt. Dieser Argumentationslinie scheint mit Blick auf die Entscheidung Impacto Azul auch der EuGH grundsätzlich zuzustimmen.⁸⁸

cc. Zwischenfazit Die negative Niederlassungsfreiheit umfasst nach hier vertretener Ansicht schon im Gewährleistungsbereich nicht den Schutz von Konzerninteressen. Deren Regulierung auf supranationaler Ebene ist dem Sekundärrechtsgeber auf Basis der Ermächtigungen in den Art. 50 Abs. 2 lit. g) und 352 AEUV vorbehalten. Solange dieser nicht tätig geworden respektive eine Einigung nicht zustande gekommen ist, hat der EuGH keine Kompetenz, ein europäisches Konzernrecht nach seinen Vorstellungen über die Brücke der negativen Niederlassungsfreiheit zu erzwingen.

3. Kollision der Metanormebenen (zweite Stufe) Soweit man auf erster Stufe zum gegenteiligen Ergebnis käme, zeigt jedenfalls eine Analyse der Kollision der Metaebenen, dass die Art. 49 und 54 AEUV nicht geeignet sind, eine Begrenzung des europäischen Kartellrechts der Art. 101 ff. AEUV herbeizuführen.

a. Das System der Grundfreiheiten Die Niederlassungsfreiheit ist Teil eines in sich weithin schlüssigen und ineinandergreifenden Systems mit dem Ziel des Aufbrechens abgeschotteter Märkte.⁸⁹ Die Entscheidung für oder gegen unternehmerische Grenzüberschreitungen sollen im Optimalfall ausschließlich nach Allokationseffizienz getroffen werden,⁹⁰

 EuGH, Urt. v. 20.06. 2013, C-186/12 – impacto Azul = EuZW 2013, 664, 665 Rn. 35.Vgl. hierzu die kritische Würdigung von Teichmann, ZGR 2014, 45, 62 ff.  Eingehend schon Mestmäcker, in: FS Böhm 1965, 345 ff.; ders., in: ders. (Hrsg.),Wirtschaft und Verfassung in der europäischen Union, 2003, S. 533 ff.  Daraus leitet Schön, ZGR 2019, 343, 350 ff. mit beachtlichen Argumenten die Notwendigkeit der Einbeziehung der Konzernierung in den Gewährleistungsbereich der Niederlassungsfreiheit ab.

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ohne dass der jeweilige Unternehmer befürchten müsste, auf dem fremden Markt schlechter als ein Inländer behandelt zu werden.⁹¹ Dabei können lediglich Waren, Dienstleistungen und Kapital über die Grenze verschoben werden, es ist aber auch die partielle oder vollständige Immigration unter Belassen oder Aufrechterhaltung des Wegzugsstandorts denkbar, wobei Letzteres jedenfalls gesellschaftsrechtlich verlangt, dass der jeweilige Mitgliedstaat hierfür die Voraussetzungen geschaffen hat.⁹² Zentral ist bei alledem die bereits klar formulierte Erkenntnis, dass das System der Grundfreiheiten die Idee des unbegrenzten, aber keineswegs eines vollkommenen Marktes verlangt.⁹³ Vielmehr liegt gerade in der nur teilweisen Kompetenzübertragung an die EU seitens der Mitgliedstaaten die Aussage, dass ein unvollkommener Markt zu akzeptieren ist, soweit sich die Mitgliedstaaten nicht einigen können oder einigen wollen. Positiver Effekt dieser Unvollkommenheit ist denn auch der Wettbewerb der Rechtsordnungen in den nicht harmonisierten Bereichen,⁹⁴ auch wenn natürlich anzuerkennen ist, dass unterschiedliche Rechtssysteme und Regelwerke erhebliche Transaktionskosten bei der Beanspruchung aller Möglichkeiten des Binnenmarktes mitsichbringen.

b. Gedanken zum europäischen Wettbewerbsrecht Das Wettbewerbsrecht der EU ist kein Gegenspieler des Systems der Grundfreiheiten, sondern vielmehr ein originärer Begleiter und eine zentrale Stütze. Die mittels Grundfreiheiten und allgemeinem Diskriminierungsverbot sowie harmonisierender Gesetzgebungsakte aufgebrochenen und nunmehr für die Marktteilnehmer zugänglichen Märkte der anderen Mitgliedstaaten dürfen nicht wieder der Abschottung verfallen, indem die Wettbewerber selbst Barrieren schaffen. Ein nach Ansicht der Vertragsparteien des EU-Primärrechts hierfür besonders anfäl-

Jedoch muss auch Schön ob seiner Argumentation eingestehen, dass die angeführten Aspekte allem voran wirtschaftlich bedeutsam, aber nicht rechtlich zwingend sind.  Treffend zum System der Grundfreiheiten Schön, EWS 2000, 281, 283 f.  EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87– Daily Mail = NJW 1989, 2186; EuGH, Urt. v. 16.12. 2008, C-210/ 06 – Cartesio, Slg. 2008, I-9664 = NJW 2009, 569.  Eine Gegenüberstellung von Binnenmarktkonzept und Schutz der Wirtschaftsverfassung durch Wettbewerbsregeln auf Basis der Grundfreiheiten erörtert auch MüKo/Callies, Europ. und deut. WettbR, 2. Aufl. 2015, Einleitung Rn. 674 ff. mwN.  Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1; Kübler, KritV 1994, 79, 87 ff.; Dreher, JZ 1999, 105, 109; Van Hulle, EWS 2000, 521, 522 f.; Ebke, in: FS Lutter 2000, S.17; Grundmann, ZGR 2001, 783; monographisch Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht: Zur Funktionsfähigkeit eines Wettbewerbs der Rechtsordnungen im europäischen Gesellschaftsrecht, 2003. Vgl. aus nationaler Sicht etwa Wernicke, NJW 2017, 3038.

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liger Bereich ist die Zentralisierung von wirtschaftlichen Entscheidungen durch Absprachen und abgestimmte Verhaltensweisen der tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerber sowie das übermäßige Entstehen und die Nutzung von erheblicher Marktmacht. Die drohende Wettbewerbsverfälschung könnte ähnliche Effekte zeitigen, wie dies die vormaligen Marktzutrittsbarrieren verursacht haben. Daher ist das Wettbewerbsrecht vor allem anderen das Komplementärrecht zu den Grundfreiheiten. Letztere sichern den Marktzugang, Erstere das Marktverhalten.⁹⁵ Wie oben bereits festgestellt, können aber auch übermäßig strenge Marktverhaltensregeln die Effizienz des Binnenmarktes, das Eingehen unternehmerischer Risiken und die Investitionsfreude der Marktteilnehmer hemmen oder gar zerstören. Dies zu regulieren kann jedoch nicht nach den Maximen, der Systematik und der Teleologie der Grundfreiheiten geschehen, da diese mit der Konzentration auf den Marktzutritt und des reinen Diskriminierungsverbots im Marktverhalten einem anderen Blickwinkel verhaftet und auch nach diesem Schema gewachsen sind. Gäbe es keine anderen Begrenzungsmechanismen im EU-Recht, welche die unternehmerischen Individualinteressen als Gegengewicht mit Prüfkriterien und Justiziabilität dem für alle Marktteilnehmer gleichermaßen belastenden Wettbewerbsrecht entgegenstellten, wäre die Judikative zur Verhinderung einseitigen Ausartens kartellrechtlicher Vorgaben mglw. gezwungen, im Wege der Rechtsfortbildung den Grundfreiheitenschutz auszubauen. Wie allerdings sogleich auf dritter Stufe zu zeigen sein wird, kennt das System des EURechts einen weitreichenden Katalog sachgerechter Individualschutzansätze, die es ernst zunehmen gilt.

c. Ergänzende Systemerwägungen Die Vertragsparteien des AEUV haben einem systematischen und in sich stimmigem Verständnis des AEUV einen so hohen Stellenwert eingeräumt, dass mit Art. 7 AEUV ein Kohärenzgebot statuiert wurde, dessen Ernsthaftigkeit und Reichweite sich deutlich in der englischen Fassung („Consistency“) ausdrückt. Es geht um Stimmigkeit, Hinwirkung auf Widerspruchsbereinigung und Folgerichtigkeit unter Auflösung von Gemengelagen im Wege praktischer Konkordanz.⁹⁶ Das EU-Primärrecht ist mithin bewusst dem Systemgedanken verschrieben, was auch als allgemeiner Rechtsgedanke⁹⁷ und im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes⁹⁸

 Eingehend MüKo/Callies, Europ. und deut. WettbR, 2. Aufl. 2015, Einleitung Rn. 720 ff.  Vgl. Grabnitz/Hilf/Nettesheim/Schorkopf, Das Recht der EU, 68. EL 2019, Art. 7 Rn. 11 ff. mwN.  EuGH, Urt. v. 28.02. 2013, C-334/12 RX-II – Jarmillo = BeckRS 2012, 82457.

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anerkannt ist. In diesem System ist auffällig, dass den Grundfreiheiten gerade kein direkter Konnex zum beschränkenden Marktverhaltensrecht der Art. 101 ff. AEUV zugeschrieben worden ist, sondern beide Bereiche gleichwertig nebeneinandergestellt wurden. Zugleich ist jedoch mit den Rechtsangleichungskompetenzen vor allen anderen dem Sekundärrechtsgesetzgeber die Aufgabe übertragen worden, Interessenbalance durch abgestimmte Regeln zu schaffen und Unsicherheiten zu beseitigen. Und so hätte sicherlich vor der Schaffung der VO 1/2003/EG und vor jeglichen Versuchen der Kreation von europäischem Konzernrecht auf Basis der Art. 50 Abs. 2 lit. g) und 352 AEUV argumentiert werden können, dass supranationale Lösungselemente gegen eine übermäßige Marktverhaltensregulierung mit Blick auf ein sachgerechtes Kohärenzverhältnis zur Idee der Niederlassungsfreiheit ungewollt fehlen. Diese Kohärenzerwägung muss jedoch Umsetzungsakte ebenso wie gescheiterte Rechtsangleichungsversuche in sich aufnehmen, soll der Stellenwert der Rechtsangleichungskompetenzen im geschaffenen System nicht ad absurdum geführt werden. Abschließend sei angemerkt, dass auch der Kollisionsgedanke des Vorrangs der spezielleren Regel, sofern man diesem Ansatz einen eigenständigen Erkenntniswert beimessen will,⁹⁹ die Reichweite kartellrechtlicher Sanktionen gerade den Art. 101 ff. AEUV unterwerfen müsste und die Niederlassungsfreiheit allenfalls als Argument unter vielen einstellen würde.

d. Zwischenergebnis und Folgeproblematik Die Art. 49 und 54 AEUV sind nach den obigen Erkenntnissen nicht dazu geeignet, einen justiziablen Schutz von Konzerninteressen abzubilden und eine handhabbare Verteidigungslinie in der rechtlichen Argumentation gegenüber der kartellrechtlichen Sanktionsrechtsprechung des EuGH darzustellen. Damit bleibt die Frage zu klären, welchen Kontrollmaßstäben kartellrechtliche Sanktionen auf Basis des EU-Rechts unterworfen sind.

 EuGH, Urt. v. 08.09. 2010, C-46/08, – Carmen Media, Slg. 2010, I-8149 Rn. 55, 64 f. = NVwZ 2010, 1422. S.a. Schorkopf, DöV 2010, 260.  Kritisch J. Prütting, Rechtsgebietsübergreifende Normenkollisionen, 2020, § 3 II b cc.

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V. Kollisionsauflösung (dritte Stufe) und andere Systembereiche Der Verteidigungsgedanke berechtigter Interessen des betroffenen Rechtssubjekts zeigt sich neben denkbaren künftigen Sekundärrechtsausprägungen im Wesentlichen in zwei Ansätzen: Der rechtsstaatsgemäßen Beschränkung strafrechtlicher oder strafrechtsgleicher Sanktionen und der unternehmerischen Freiheit.

1. Begrenzung von und Schutz gegen strafrechtliche Sanktionen¹⁰⁰ Als erstes ist auf den Schutz von Grundrechtsträgern im Strafrecht nach den Art. 48 – 50 GRC hinzuweisen. Auf diese Vorschriften können sich anerkanntermaßen auch juristische Personen und Personenvereinigungen berufen.¹⁰¹ Mithin läge es nahe, ihre begrenzende Wirkung auch gegen Kartellbußen nach Art. 23 UA 2 VO 1/2003/EG in Stellung zu bringen. Der EuGH übergeht dies, da es sich bei Kartellbußen nicht um Strafrecht handele.¹⁰² Dem entspricht auch die rein deklaratorische Vorschrift des Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003/EG, wonach – anders als im deutschen Rechtssystem – Bebußungen nicht als die kleine Schwester des Kriminalstrafrechts zu sehen sein sollen. Auch hat die EU nach h.M. keine Kompetenz zum Erlass von Strafrecht.¹⁰³ Daher werden Kartellbußen als Verwaltungssanktionen sui generis begriffen. Was dies normativ und im Hinblick auf die Überprüfbarkeit sowie die anwendbaren Grundrechte letztlich genau bedeuten soll, bleibt weithin im Dunkeln. Gegen dieses Rechtsverständnis wenden sich mit einiger Berechtigung jene Kritiker, die Sanktionen unter welcher Betitelung auch immer jedenfalls dann als Strafrecht im materiellen Sinne unter Auslösung aller grundrechtlichen Schutzmechanismen fassen wollen, wenn diese entweder auf allen Gebieten strafrechtlicher Sanktionen wirken oder einzelne Sanktionsarten einen Umfang er-

 Der Einfluss der EMRK und der zugehörigen Rspr. des EGMR wird an dieser Stelle nicht zusätzlich erörtert und hierfür auf Kokott/Dittert,WuW 2012, 670, 676; Kellerbauer,WuW 2014, 1173, 1176; Leupold, ECLR 2013, 570, 578 ff.; Brettel/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 16 ff. verwiesen.  AllgM., vgl. GRC/Jarass, 3. Aufl. 2016, Art. 48 Rn. 8.  Ausführlich zur Judikatur und der berechtigten Kritik an dieser Brettel/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 16 ff. mwN.  Vgl. Grabnitz/Hilf/Feddersen, Das Recht der EU, 40. Aufl. 2009, Art. 23 VO 1/2003/EG Rn. 18 f.

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reichen, der sich ohne Ansatz von Strafzwecken nicht erklären lässt.¹⁰⁴ Konsequenzen unzulässiger Kartelle sind die Vorteilsabschöpfung, die Nichtigerklärung geschlossener Vereinbarungen, Schadensersatzansprüche geschädigter Dritter und die Bußgeldverhängung.¹⁰⁵ Während die ersten drei Elemente sich ohne Weiteres aus zivil- und verwaltungsrechtlichen Gedanken heraus erklären lassen, ist für die Bebußung erforderlich, dass jedenfalls dem Umfang nach Grenzen nicht überschritten werden, die sich vor dem Hintergrund von Spezial- und Generalprävention als Ausdruck effektiver Durchsetzung der Dezentralisierungsfunktion des Kartellrechts halten lassen.¹⁰⁶ Dies ist bei Bußgeldern in der Höhe von mehreren hundert Millionen Euro selbst dann nicht ohne Weiteres zu rechtfertigen, wenn es um international operierende Großkonzerne geht. Allerdings sieht Art. 23 UA 2 VO 1/2003/EG eine Kappungsgrenze auf 10 Prozent des Unternehmensumsatzes vor. Daraus folgt, dass bei einem sachgerechten Zuschnitt des funktionalen Unternehmensbegriffs jedenfalls eine erdrosselnde Wirkung der Sanktion vermieden sein dürfte, selbst wenn es ein schmerzhafter Einschnitt ist. An dieser Stelle wirkt allerdings neuerlich die vom EuGH eingeführte Vermutungswirkung zu Lasten von Konzernverbunden, in denen die Muttergesellschaft jedenfalls de facto Alleingesellschafterin der Tochter ist. Ohne Nachweis durch die Kommission und trotz Bestreitens der Konzernmutter wird unter Bruch mit der Beweislastverteilung der Art. 101 Abs. 1 AEUV, Art. 2 VO 1/2003/EG die Konzernbuße auf 10 Prozent des Konzernumsatzes erhöht. Für die Tochtergesellschaft kann die nunmehr erfolgende Bebußung aber ohne Weiteres erdrosselnde Wirkung bis hin zur Insolvenz haben. Das wäre unter dem Regime der Art. 48 ff. GRC nicht begründbar. Selbst wenn man diese Vorschriften vor dem Hintergrund der fehlenden Strafkompetenz und mit Blick auf Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003/EG nicht für unmittelbar anwendbar erachtet, muss im Fall von Strafrecht im materiellen Sinne dasselbe Ergebnis über die Wahrung des Rechtsstaatsprinzips sichergestellt werden,¹⁰⁷ welches in Verbindung mit Art. 16 GRC gerügt werden kann. Partiell hat auch der EuGH diese Problematik erkannt und verweist bei Verwaltungssanktionen auf eine Prüfung an Hand allgemeiner Rechtsgrundsätze.¹⁰⁸ Insbesondere

 S.a. Schwarze, EuZW 2003, 262, 264 ff.; Brettel/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 18 mwN.  Vgl. Callies/Rufert/Weiß, AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 101 Rn. 146 ff. mwN.  Mit Blick hierauf gewinnt die von Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 406 f. eingebrachte Idee einer Splittung von Abschöpfungs- und Ahndungsanteil besonderen Charme und sollte vom EuGH auf Basis sachgerechter Würdigung des Art. 48 GRC erwogen werden.  Zum Begriff Callies/Ruffert/Callies, EUV, 5. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 25 f.  EuGH, Urt. v. 08.07.1999, C-199/92 P,– Hüls = BeckRS 1999, 55277 Rn.150; EuG, Urt. v. 20. 2. 2001, T-112/98 – Mannesmannröhren-Werke = EuZW 2001, 345 Rn. 77.

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die Unschuldsvermutung wird grundsätzlich als im Wettbewerbsrecht relevante Verteidigungslinie akzeptiert,¹⁰⁹ jedoch nicht auf die selbst eingeführte Vermutung zu Lasten von Konzernverbindungen angewendet.¹¹⁰ Der EuGH argumentiert zudem, dass Beweislastverteilungsmodifikationen auch vor dem Hintergrund von Art. 48 GRC durchaus möglich sein sollen, wenn die Chance zur Widerlegung gegeben sei und es sich um reine Rechtfertigungstatbestände handele.¹¹¹ Aber auch diese lediglich punktuelle Akzeptanz eines rechtsstaatlich unabdingbaren Prinzips zur Abwehr ungerechtfertigter Sanktionen ist nach hier vertretener Auffassung selbst im Hinblick auf den funktionalen Unternehmensbegriff nicht zu halten. Die Sanktionierung, die durch Modifikationen des Tatbestandes oder der Darlegungs- und Beweislast bei Tatbestandselementen erreicht wird, ist entweder ein Bruch mit dem Analogieverbot oder eine Unterwanderung der Unschuldsvermutung, mit welcher es gerade unvereinbar ist, von einem zurechenbaren Verhalten auszugehen, das nicht durch den legitimierten Gesetzgeber angeordnet wurde.¹¹² Es ist dem besonders weitreichenden Schutz vor ungerechtfertigter Strafe immanent, der Judikative grundrechtlich in jeglicher Form zu untersagen, Strafe außerhalb der bei Tatbegehung legislatorisch angeordneten Straftatbestände ungeachtet noch so feinsinniger Umgehungs- oder Ergänzungsargumentation zu verhängen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Problematik besonders scharf unter Art. 50 GRC auffällt. Folgte man der Linie des EuGH, wäre es bei gegebener Kompetenz und Gesetzeserweiterung zulässig, zusätzlich auch strafrechtliche Sanktionen gegen das betroffene Unternehmen zu verhängen, da es sich nicht um Doppelbestrafung im Sinne der GRC handelte. Spätestens dieses Ergebnis muss dem unbefangenen Betrachter absurd erscheinen.

 EuGH, Urt. v. 22.11. 2012, C-89/11 P – EON Energie/Kommission = NZKart 2013, 69 Rn.72 f.; EuGH, Urt. v. 16.02. 2017, C-90/15 P – Paraffinwachs (Hansen & Rosenthal KG) = NZKart 2017, 188 f. Rn. 18.  EuGH, Urt. v. C-625/13 P – Villeroy & Boch AG = NZKart 2017, 124, 126 Rn.145, 147: Vermutung sei keine Frage der Schuld von Mutter- oder Tochtergesellschaft.  EuGH, Urt. v. 16.02. 2017, C-90/15 P – Paraffinwachs (Hansen & Rosenthal KG) = NZKart 2017, 188 f. Rn. 18.  Meyer/Hölscheidt/Eser/Kubiciel, GRC, 5. Aufl. 2019, Art. 48 Rn. 13.

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2. Unternehmerische Freiheit a. Konzernierungsfreiheit, Haftungsdurchgriff und Sanktionsumfang Den zweiten Schutzansatz bildet die unternehmerische Freiheit, die in Art. 16 GRC als nach h.M. subjektiv-öffentliches Recht ausgestaltet ist.¹¹³ Sie umfasst im sachlichen Schutzbereich jede Art von unternehmerischer Betätigung¹¹⁴ und damit auch die Rechtsformwahl sowie die Parzellierung von Haftungsrisiken durch Konzernierung.¹¹⁵ Das europäische Kartellrecht greift mit der hier erörterten Sanktionsrechtsprechung scharf in diese Freiheit ein, da die avisierte Begrenzung unternehmerischer Risiken gezielt ausgeschaltet wird, was mit der Vermutung der Akzo-Rechtsprechung des EuGH erheblich verstärkt worden ist. Allerdings ist Art. 16 GRC jedenfalls vor dem Hintergrund des Art. 52 GRC beschränkbar und sowohl seiner Formulierung entsprechend als auch vor dem Hintergrund der normenhierarchischen Gleichordnung von GRC und EUV/AEUV den Art. 101 ff. AEUV nicht übergeordnet. Vielmehr sind beide Bereiche in sachgerechten Ausgleich zu bringen, was insbesondere die Beachtung des Wesentlichkeitsgehalts und des Verhältnismäßigkeitsgebots einschließt.¹¹⁶ Dabei ist die legitime Zielverfolgung des EU-Kartellrechts zur Sicherung dezentraler Strukturen und zur Wahrung eines unverfälschten Wettbewerbs unverkennbar. Sowohl der funktionale Unternehmensbegriff als auch die Vermutungsergänzung der Akzo-Rechtsprechung sind auch geeignet, dieses Ziel zu verfolgen. Darüber hinaus wird die Erforderlichkeit damit begründet, dass es den Kartellbehörden andernfalls vielfach nicht gelingen könne, die gesamten Kartellstrukturen sanktionsrechtlich zu erfassen und damit auch für die Zukunft zu unterbinden, weil insbesondere die Verbindung des einzelnen Verstoßes zur jeweiligen Konzernobergesellschaft schwer nachzuweisen sei. Effektiver Wettbewerbsschutz lasse sich ohne Durchschlag auf die weisungsbefugte Konzernmutter nicht erreichen.¹¹⁷ Diese Einschätzung ist zwar verständlich, jedoch legitimiert sie nicht ohne Weiteres Art und Umfang der Kartellsanktionen. Zentraler Problempunkt dürfte die Nichtbeachtung von Präventionsmaßnahmen innerhalb des Konzerns sein. Die monographische Ausarbeitung von

 Vgl. Frenz, EuZW 2006, 748, 751; Jarass, EuGRZ 2011, 360, 361 f.  An dieser Stelle bedarf es keiner Erörterung, ob das Verbot von bestimmten Tätigkeiten bereits den Schutzbereich beschränkt oder eine Eingriffsrechtfertigung bietet.  Mohr, ZHR 178 (2014), 326, 358; Frenz, GewArch 2009, 427, 429.  Vgl. Franzen/Gallner/Oetker/Schubert, GRC, 3. Aufl. 2020, Art. 52 Rn. 37 ff. mwN.  Vgl. zur Übersicht Poelzig, in: Apfelbacher et. al. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017, S. 90 f. mwN.

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Brettl/Thomas ¹¹⁸ zeigt zutreffend auf, dass der EuGH verfehlten Anreizen, nämlich dem vollständigen Unterlassen von konzerninternen Compliancemaßnahmen Vorschub leistet. Wenn sinnvolle Compliancemaßnahmen nicht einmal sanktionsmindernde Wirkung haben, sind sie kartellrechtlich schlichte Kostenfaktoren ohne Wert. Man mag entgegenhalten, dass Compliancestrukturen für eine Vielzahl anderer Bereiche wichtig sind, so insbesondere zur Vermeidung von vertraglicher und deliktischer Haftung mit nachfolgender Prämienerhöhung bei Versicherungen wie auch zur Verhinderung von Streitigkeiten innerhalb der Gesellschaft oder mit Dritten. Gleichwohl würden jedenfalls all jene Prüfstrukturen nicht mehr ernst genommen, die gerade auf Verhinderung unzulässiger Absprachen oder Ausnutzung von Marktmacht gerichtet sind. Auch widerspricht es dem Gedanken schuldadäquater Sanktion, wenn das Maß der Sanktionen unabhängig von Präventionsbemühungen festgesetzt und sogar im Rahmen der Tatbestandserfüllung auf Compliancemaßnahmen zur Begründung von Verstößen zurückgegriffen wird. Daneben ist es auch im Rahmen des Art. 16 GRC bedenklich, wenn der Sanktionsumfang aufgrund der Konzernbetrachtung für die einzelne Gesellschaft erdrosselnd wirken kann. Zwar ist Art. 16 GRC entsprechend der Betrachtungsweise der Art. 101 ff. AEUV funktional wirtschaftlich ausgelegt und damit nicht blind für die Konzernstruktur, die bei zurechenbarem Verstoß sich durchaus als weniger schutzwürdig darstellen kann.¹¹⁹ Allerdings muss insoweit auch die Fortentwicklung der Akzo-Rechtsprechung Art. 16 GRC standhalten. Selbst wenn die Argumentation effektiver Sanktionierung und Abschreckung zum Schutz des unverfälschten Wettbewerbs als grundsätzlich hinreichend erachtet wird, wird hiervon nicht die Selbstverständlichkeit erfasst, mit der eine Übertragung auf Art. 23 Abs. 2 UA 2 VO 1/2003/EG vorgenommen wird. Es hätte das mildere Mittel in die Diskussion einbezogen werden müssen, wonach zwar die Kartelltat zurechenbar ist, die Bebußung sich aber gleichwohl nicht auf den Konzernumsatz erstreckt.¹²⁰ Der EuGH hätte auch ein gestuftes Modell erwägen können, wonach erwiesene Verbindungen von Mutter und Tochter im Art. 101 Abs. 1 AEUV zu einer Konzernbebußung nach Art. 23 UA 2 VO 1/2003/EG führen, während Bebußungen, die ausschließlich auf der Akzo-Vermutung basieren, sanktionenrechtlich nur die Tochtergesellschaft als Maßstab heranziehen dürfen. Hierdurch hätte teilweise auch den Vorwürfen des quasi-Strafrechts begegnet werden können. Zudem wären konzernweite Compliance-Bemühungen im Rahmen des Verhältnismäßig Brettel/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 1 ff., 27 ff., 67 ff.  Vgl. Rengeling, DVBl. 2004, 453, 456; Wollenschläger, EuZW 2015, 285.  So die zustimmungswürdige Idee von Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 406 f.

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keitsgrundsatzes sachgerecht einzubeziehen, da in jeder arbeitsteiligen Struktur Grenzen der Kontrolle über sämtliche Arbeitsabläufe als unvermeidliches Moment akzeptiert werden müssen.

b. Schutz des funktionalen Marktes im internationalen Vergleich Darüber hinaus dürfte auch die Teilnahme am Welthandel zu berücksichtigen sein.¹²¹ Diese ist insbesondere von Bedeutung, weil der gebietsübergreifende Grundansatz von EUV, AEUV sowie GRC die Verwirklichung eines unbegrenzten Binnenmarktes neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten ist. Soweit hierfür seitens der Mitgliedstaaten Rechte auf die Union übertragen worden sind, geschah dies in der Erwartung, den europäischen Markt für die Marktteilnehmer in den Binnengrenzen attraktiver zu machen, wurde aber auch von der Erwartung begleitet, für Investoren und sonstige Marktteilnehmer aus Drittstaaten nicht über Gebühr an Attraktivität zu verlieren (Grundsatz mitgliedstaatsfreundlichen Verhaltens der EU (Art. 4 Abs. 3 EUV) ¹²² als Korrelat der Kompetenzübertragung und der Europarechtsfreundlichkeit des GG ¹²³).¹²⁴ Dieser Gedanke wird von Art. 21 Abs. 2 lit. e EUV getragen, wo auch die Förderung des Welthandels aufgenommen ist. Zudem lautet Art. 21 Abs. 3 UA 2 S. 1 EUV: „Die Union achtet auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns sowie zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen.“ Der innere Strukturaufbau der Union hat gerade auch vor dem Hintergrund der Verantwortung für seine Marktteilnehmer und mit Blick auf den Erwartungshorizont der Mitgliedstaaten einen wettbewerbsfähigen Markt im internationalen Vergleich zu verfolgen, da nur dieser von den betroffenen Unternehmen Drittstaatlern angeboten werden kann. Dementsprechend ist in den Art. 205 – 207 AEUV auch die internationale Handelspolitik mit der Facette der Förderung von Direktinvestitionen primärvertraglich aufgenommen.

 Frenz, GewArch 2009, 429.  Ausführlich Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999, S. 168 ff. Vom BVerfG wird dies auch indirekt gefordert, vgl. BVerfGE 89, 155, 184 = NJW 1993, 3047. Allerdings bezieht sich diese Diskussion maßgeblich auf die Wahrung der Verfassungsautonomie der Länder, während in der Lit. überwiegend auch ein regionen- und kommunenfreundliches Verhalten gefolgert wird, vgl. Callies/Ruffert/Callies/Kahl/Puttler, EUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 110 mwN.  Vgl. BVerfG, RIW 2009, 545 ff. – freilich aus deutscher Sicht, aber auf andere europäische Nationen übertragbar.  Ausführlich Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 1999, S. 168 ff.; Epiney, EuR 1994, 301, 310 ff.; Gärditz, Europäisches Planungsrecht, 2009, S. 109; Hailbronner, JZ 1990, 149, 152 ff.; dagegen Schroeder, AöR 129 (2004), 3, 34.

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Allerdings erscheint es problematisch, inwieweit aus diesen Erwägungen ein klagbares subjektiv-öffentliches Recht im Sinne des Art. 16 GRC hergeleitet werden kann, da Marktaufbau sowie Art und Umfang des Wettbewerbsrechts einer weitreichenden Einschätzungsprärogative des Unionsgesetzgebers unterliegen. Dementsprechend ist ein klagbares Recht erst dort zu erwägen, wo von einem Ausschluss des Zugangs zum Welthandel gesprochen werden kann oder wo Wettbewerbsbeschränkungen nicht durch die Unionsgewalt legitimiert sind. Ersteres ist mit Blick auf die Art. 101 ff. AEUV und die Akzo-Rspr. nicht ersichtlich. Hinsichtlich Letzterem muss jedoch hervorgehoben werden, dass nach dem geltenden Gesetzesrecht jedenfalls die Vermutungswirkung der Akzo-Rspr. nicht primärvertraglich legitimiert und auch vom Sekundärrechtsgeber nicht anerkannt worden ist. Mithin müsste der EuGH, um sich nicht dem Vorwurf der Kompetenzüberschreitung ausgesetzt zu sehen, mit Blick auf die Art. 101 ff. AEUV sowie Art. 19 Abs. 1 UA 1 S. 2 EUV begründen können, weshalb eine judikativ weitergehende Wettbewerbskontrolle durch Kartellsanktionen gesetzlich legitimiert sein kann oder vor dem Hintergrund des effet utile oder etwaiger implied powers zu entwickeln wäre. Wie die obige Diskussion zum europäischen Kartellrecht jedoch gezeigt hat, ist eine solche Fortentwicklung rechtstechnisch weder geboten noch systematisch oder teleologisch sachgerecht. Es bliebe ausschließlich die von der Kommission und dem EuGH getragene Ansicht, dass ohne die Vermutung zu Lasten von de facto Alleingesellschaftern eine effektive Kartellkontrolle und Sanktionierung nicht möglich wäre. Dies ist jedenfalls bislang nicht hinreichend dargetan. Daher erscheint die entwickelte Vermutungswirkung als Verstoß gegen Art. 16 GRC iVm Art. 19 Abs. 1 UA 1 S. 2, Art. 5 Abs. 2 EUV. Die Verschlechterung der Marktsituation im Hinblick auf den Zugang zum Welthandel sollte in diesem rechtlichen Ansatz als Argumentationslinie einbezogen werden.

VI. Zusammenfassung in Thesen 1.

2.

Das europäische Kartellrecht bildet einen zentralen Baustein zum Schutz des unverfälschten Wettbewerbs und gegen unternehmensgesteuerten Marktprotektionismus. Hierzu gehört grundsätzlich auch eine effektive Bekämpfung wettbewerbsrechtswidrigen Verhaltens von Gesellschaften durch Ausweitung von Sanktionen auf Konzernmitglieder sowie auf den Konzernumsatz. Das Recht der Grundfreiheiten und das europäische Kartellrecht sind komplementäre Systeme, die Marktabschottung auf unterschiedlichen Ebenen verhindern. Während Grundfreiheiten die Sicherung des Marktzutritts innerhalb der Binnengrenzen unter Akzeptanz des unvollkommenen Binnenmarktes wie auch das Verbot von Diskriminierungen gewährleisten, ist das

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Kartellrecht zentral darauf gerichtet, die mit dem unbegrenzten Binnenmarkt gewonnen Vorteile gegen wettbewerbswidriges Verhalten der Marktteilnehmer gleichmäßig zu schützen. Das Recht der negativen Grundfreiheiten, insbesondere die Niederlassungsfreiheit, erweist sich bei näherer Analyse nicht als maßstabsgerechter Schutz von Konzerninteressen, soweit diese durch europäische Kartellrechtshaftung betroffen sind. Die Niederlassungsfreiheit erscheint generell nicht zur Kontrolle von gleichmäßig auf alle Marktteilnehmer bezogene Wettbewerbsregeln geeignet, die EU-weit gesteuert sind und damit in allen Mitgliedstaaten Gültigkeit beanspruchen. Das Recht der Kartellsanktionen findet seine innere Grenze in der sachgerechten Begrenzung des funktionalen Unternehmensbegriffs, der adäquaten Bestimmung von Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des Kartelltatbestandes sowie in der einzelfalladäquaten Begrenzung des Bebußungsumfangs. Äußere Grenzen sind mit der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC, den strafrechtlichen Schutzbestimmungen der Art. 48 – 50 GRC sowie den Grenzen durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität gesetzt. Im Koordinationssystem der Primärverträge EUV/AEUV/ GRC ist es – entgegen bisheriger Rspr. – auf Basis der Art. 7 AEUV und 19 Abs. 1 EUV Aufgabe des EuGH, das System des Kartellrechts verhältnismäßig anzupassen und insbesondere tragfähige Compliance-Maßnahmen der Unternehmen sanktionsmildernd zu berücksichtigen. Die seitens des EuGH (Akzo Nobel) entwickelte Vermutung des Bestehens von beherrschendem Einfluss und dessen Ausübung im konkreten Einzelfall ist nach hier vertretener Auffassung weder mit Art. 16 GRC noch mit den unabdingbaren strafrechtlichen Schutzgeboten der Art. 48 ff. GRC zu vereinbaren. Die Schaffung einer solchen Vermutung wäre zwingend durch den Gesetzgeber zu verantworten und auf Basis einer eingehenden Abwägung in das Kartellrechtssystem einzupassen, so sie legislatorisch gewollt sein sollte.

Julia Rebecca Kohler und Anton Stefan Zimmermann

Bericht über die Diskussion

Die von Peter Hommelhoff geleitete Diskussion im Anschluss an die Referate von Heike Schweitzer und Jens Prütting hatte verschiedene Kontroversen zu dem Verhältnis und der Vereinbarkeit von Kartell- und Wettbewerbs- sowie Konzernrecht zum Gegenstand. Im Mittelpunkt standen im Wesentlichen die Berechnung der kartellrechtlichen Geldbuße, der Präventionsgedanke, die unterschiedlichen Begriffsverständnisse sowie das zentrale und dezentrale Führungsmodell.

I. Zum Einstieg kritisierte ein Diskutant zunächst die Berechnung der kartellrechtlichen Geldbuße scharf. Dass eine Bemessung nach dem gesamten Konzernumsatz erfolgt, ergebe „irrsinnige Bußgelder“ und sei „eine völlig verkehrte Anknüpfung“. Vielmehr müsse, so der Diskussionsteilnehmer, flächendeckend an den Ertrag angeknüpft werden. Nur so lasse sich vermeiden, dass der Umsatz der Muttergesellschaft im Rahmen der Berechnung der Geldbuße der Tochtergesellschaft zugerechnet werde. Der Problemkreis der Zurechnungsmodelle reiche auch über das Kartellrecht hinaus, beispielsweise in das Atomrecht oder in Überlegungen zu einem künftigen Unternehmensstrafrecht. In diesem Zusammenhang sei auch bereits die Idee höchst problematisch, zwischen nicht untereinander einwirkungsberechtigten Schwestergesellschaften zuzurechnen. Angemerkt wurde ergänzend, dass eine solche Berechnung anhand des Konzernumsatzes und die Zurechnung unter den Schwestergesellschaften eine problematische Bestrafung der Aktionäre bedeute, die möglicherweise gar keinen Einfluss auf den Verstoß nehmen konnten. Diesbezüglich erwiderte Schweitzer, dass sich die Geldbuße nicht nach dem Umsatz im Allgemeinen, sondern nach dem kartellbetroffenen Umsatz bemesse. Zwar gebe es erhöhende Faktoren, aber die vieldiskutierte Marke von 10 % des konzernweiten Umsatzes bilde lediglich die Obergrenze, nicht die generelle Bemessungsgrundlage. Die verhängten Sanktionen würden in aller Regel deutlich unter dieser Grenze liegen. Hinsichtlich der Frage, ob man an Umsatz oder Ertrag anknüpfen sollte, meinte Schweitzer, dass vieles für ein Zugrundelegen der Leistungsfähigkeit spreche.

https://doi.org/10.1515/9783110698077-012

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II. Ein Diskussionsteilnehmer sprach den Präventionsgedanken des Kartell- und Wettbewerbsrechts an, mit dem Schweitzer zuvor argumentiert hatte. Der Diskussionsteilnehmer hielt diesen Präventionsgedanken für „kein stärkeres Argument“ für die Haftung der Konzernmutter für den Kartellverstoß der Konzerntochter. Maximale Prävention könne man so möglicherweise erreichen, jedoch dürfe Regulierung nicht unter einseitiger Berücksichtigung maximaler Prävention erfolgen. Stattdessen sei „eine feinfühligere Regelung“ nötig: „Nebenwirkungen müssen auch ins Auge gefasst werden.“ Andernfalls entstünden „Nachteile für die gesamte Konzernorganisation“. Eine Schwächung der Muttergesellschaft bedeute auch immer eine Schwächung des gesamten Konzerns, jene bedinge wiederum auch gesamtwirtschaftliche Nachteile. Als Beispiel nannte der Diskutant in diesem Zusammenhang den Fall ThyssenKrupp. Dieser Ausführung setzte Schweitzer entgegen, dass der soziale Schaden eines Kartellverstoßes gegenüber einem freien Wettbewerb erheblich sei und eine effiziente Abschreckung daher auch unter Inkaufnahme gewisser Härten gewährleistet werden müsse. Derzeit seien die Bußgelder in praxi noch nicht hinreichend abschreckend, wenn man die Entdeckungswahrscheinlichkeit einpreise. Es gebe lediglich sieben bis neun aufgearbeitete Kartellrechtsverstöße pro Jahr. Die sich darin zeigende niedrige Aufdeckungswahrscheinlichkeit müsse aber bei der Bemessung der Effizienz der Abschreckung, die vom Erwartungswert ausgehe, miteinbezogen werden. Nehme man immer nur die Tochtergesellschaft in Haftung, wirke dies nicht ausreichend abschreckend für die Muttergesellschaft. Insbesondere gelte dies für kartellgeneigte Bereiche. Ein anderer Diskussionsteilnehmer brachte vor, dass ihm die Präventionswirkung als Argument einleuchte. Es könne nicht auf die tatsächliche Mitwirkung abgestellt werden. Allerdings sah der Teilnehmer Schwierigkeiten, die er anhand des Goldman Sachs-Urteils illustrierte.Vor diesem Hintergrund wies er darauf hin, dass bei einer zu großzügigen Berücksichtigung von Präventionsinteressen die Funktionsbedingungen von Fonds, die letztlich von der Diversifikation ihres Portfolios abhängen, beeinträchtigt würden. Dies sei als zusätzlicher Punkt der Haftungsbeschränkung zu beachten. Auch mit Blick auf das Goldman Sachs-Urteil stelle sich die Frage nach dem maßgeblichen Umsatz für die Bemessung einer Sanktion. Schweitzer betonte demgegenüber, dass der Fall atypisch gelagert gewesen sei, weil die Vorstände und Ausschüsse der Tochtergesellschaften nach den Feststellungen des EuG von Goldman Sachs selbst besetzt wurden. Daher handele es sich um „keine reine Finanzbeteiligung, sondern um eine untypische Invest-

Bericht über die Diskussion

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mentstrategie“. Was die wirtschaftliche Einheit als Grundlage der Haftungstragweite angehe, müsse in derartigen Fällen genau überprüft werden, bis wohin diese noch bestehe.Völlig unzusammenhängende Teile von Goldman Sachs seien beispielsweise nicht pauschal einzubeziehen, sodass der Konzern in verschiedene wirtschaftliche Einheiten unterteilt werden könne. Ein weiterer Diskutant kritisierte die Ausgestaltung der kartellrechtlichen Haftung auch im Hinblick auf die Minderheitsgesellschafter im Konzern. Zwar hätten diese die Möglichkeit, über den Innenregress Ausgleich zu erlangen, fraglich bleibe jedoch, ob dies ausreiche. Schweitzer hielt dem entgegen, dass die Minderheitsgesellschafter der kartellbeteiligten Konzerngesellschaften umgekehrt auch die Vorteile der Beteiligung am Konzern genießen, sodass ihnen auch das Aufbürden der korrespondierenden Risiken im Sinne einer Zusammenführung von Chancen- und Risikotragung zumutbar sei. Soweit Korrekturbedarf bestehe, müsse eine Lösung in jedem Fall im Konzern- und nicht im Kartellrecht gefunden werden. Thematisiert wurden im Rahmen dieses Aspekts der Diskussion auch die Begrifflichkeiten, wie beispielsweise der Begriff der wirtschaftlichen Einheit, und deren Unterschiede im Kartell- und Wettbewerbsrecht auf der einen und dem Recht der Rechnungslegung auf der anderen Seite. Ein Diskutant warf dabei die Frage auf, welcher Konzernumsatz der Höchstgrenze kartellrechtlicher Sanktionen zugrunde liege. Denn der konsolidierte Konzernumsatz, wie er im Jahresabschluss nach HGB/IFRS ausgewiesen sei, lege einen anderen Begriff der wirtschaftlichen Einheit zugrunde als das Kartellrecht. Schweitzer konzedierte dieses Problem, in der Tat werde aber derzeit der konsolidierte Konzernumsatz laut Jahresabschluss zugrunde gelegt.

III. Schließlich wurde die Diskussion auf das dezentrale und zentrale Konzernführungsmodell gelenkt. Ein Diskutant äußerte die Einschätzung, dass das derzeitige Haftungsmodell die Gefährlichkeit des dezentral geführten Konzerns für seine Akteure erhöhe. Dies deshalb, weil es faktisch nicht möglich sei, einen präzisen Überblick über sämtliche Aktivitäten aller Tochtergesellschaften zu wahren. Ob eine darin liegende Repression dezentraler Konzernführung aber mit dem Konzept des Europäischen Binnenmarkts vereinbar sei, sei fraglich. Wenn man Konzernen in der Europäischen Union die Vorteile der dezentralen Konzernierung nehme, beschädige dies deren außereuropäische Wettbewerbsfähigkeit. Konzerne aus Drittstaaten könnten sich weiter dezentral aufstellen, ohne deshalb vergleichbare Haftungsrisiken einzugehen.

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Julia Rebecca Kohler und Anton Stefan Zimmermann

Diesen Ausführungen hielt Schweitzer entgegen, dass bislang kein Rückgang der Konzernierung im europäischen Raum ersichtlich sei. Rein empirisch habe das Haftungsregime nicht dazu geführt, dass weniger Konzerne im Binnenmarkt tätig seien. Im Allgemeinen sage das Kartellrecht nichts zu dezentraler und zentraler Führung. Vielmehr sei im Kartell- und Wettbewerbsrecht nur angelegt, wie hoch Kartellrisiken seien und mit welchen Nachteilen die Muttergesellschaft zu rechnen habe, wenn sie nicht regulierend in das Verhalten ihrer Tochtergesellschaften hineinwirke. Freilich müssten aber weitere Ausweitungen konzernübergreifender Maßnahmen mit größter Vorsicht vorgenommen werden. Prütting äußerte dazu zunächst den Gedanken, dass jedenfalls eine hinreichend präzise Steuerung der Töchter durch die Muttergesellschaft in dezentralen Konzernen praktisch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sei. Zu der Vereinbarkeit mit dem Konzept des Binnenmarkts warf er zudem die Frage auf, wer berechtigt sei, Binnenmarktdefizite gerichtlich korrigieren zu lassen. Jedenfalls bilde die EuGrCh einen äußeren Rahmen, der aber nur in Notfällen eingreife. Ergänzend wurde von einem Diskutanten ausgeführt, dass eine dezentrale Führung aus Sicht der konzerninternen Struktur Vorteile habe. Gesamtwirtschaftlich seien aber auch die konzernexternen Kosten zu beachten und diese wiederum seien vom Einzelfall abhängig, könnten die konzerninternen Vorteile aber durchaus sogar überwiegen. Preisabsprachen seien im Allgemeinen ein gutes Beispiel für eine mögliche Gestaltung: Hier finde eine Abschöpfung über die Verrechnungspreise statt. Ein anderer Diskussionsteilnehmer stimmte seinem Vorredner bezüglich der gegebenenfalls hohen konzernexternen Kosten zu und bezeichnete diese als „als Kosten für eine Politik, die Tochter an der langen Leine laufen zu lassen“. Zudem stellte er die Frage in den Raum, ob es nicht in die Bewertung einfließen sollte, dass es den konzerninternen Wettbewerb vermindere, wenn man die Kosten einer dezentralen Organisation erhöhe und so einen Anreiz für eine engere Kontrolldichte schaffe. Auch konzerninterner Wettbewerbsverlust wirke sich nämlich wohlfahrtsmindernd aus. Als Erwiderung führte Schweitzer an, dass das Wettbewerbsrecht den Unternehmen keine Organisationsweise vorschreibe. Zudem sei auch zu beachten, dass bei einer extrem dezentralen Organisation keine wirtschaftliche Einheit mehr vorliege. Schließlich habe der konzerninterne Wettbewerb wenig mit dem normalen Wettbewerb zu tun, weil er anderen Effizienzkriterien unterworfen und daher nicht vom Kartell- und Wettbewerbsrecht geschützt sei. Zuletzt ging ein Diskutant auf den Ansatz Prüttings ein, der strafrechtliche Gedanken in die Bewertung einbezogen hatte. Es sei seiner Ansicht nach vorzugswürdig, hier allein mit dem Verhältnismäßigkeitsgebot zu arbeiten. Hierzu verwies er auf die Entscheidung des EuGH in der Sache Spector Photo, in der die Grenzen der Unschuldsvermutung aufgezeigt worden seien.

Bericht über die Diskussion

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Prütting erwiderte darauf, er habe auf die Unschuldsvermutung wegen ihres materiellen Gerechtigkeitsgehalts und ihrer prozeduralen Bedeutung abgehoben. Man dürfe von diesem Grundsatz nicht ohne Weiteres durch allzu großzügige Vermutungen abrücken. Auch dem EuGH seien in dieser Hinsicht richtigerweise Grenzen zu setzen.

Peter Hommelhoff*

Rettet den Konzern! I. Anders als es in der einen oder anderen Referatspassage aufgeschienen ist und in manchem Diskussionsbeitrag, kann es in dieser Zeit nicht vordringlich darum gehen, den Außenseiterschutz im Konzern noch einmal zu legitimieren und Einzelheiten dieses Schutzes auszurunden und zu vertiefen. Gläubiger- und Minderheitenschutz in der konzernabhängigen GmbH werfen gegenwärtig offenbar ebensowenig Probleme in der Unternehmenspraxis¹ auf wie der Schutz der außenstehenden Aktionäre und der Gläubiger in der faktisch konzernierten AG.²Reformvorschläge für ihr kodifiziertes System des Nachteilsausgleich sind seit bald einem Vierteljahrhundert ohne rechstpolitische Resonanz geblieben³ und werden auch künftig kaum Belebung erfahren, da das Ausgleichsystem unlängst durch die Regeln für related party transactions (§§ 111a ff AktG) gewichtig verstärkt worden ist⁴. Konzentrieren muss sich die konzernrechtliche Debatte in der Zukunft vielmehr auf etwas anderes: auf den Konzern als Organisationsform, auf die vielfältigen Vorteile dieser Form und auf die existenzbedrohenden Gefahren, die ihm allerorten drohen.⁵ Es muss sofort, sehr schnell und mit allem Nachdruck um die vielfältigen Bestrebungen in der Rechtswissenschaft und vor allem in der Rechtspolitik gehen, die Handlungspflichten der Konzerngeschäftsleitung, des Konzernvorstands, über das Mutterunternehmen hinaus in den Bereich der nachgeordneten Töchter und Enkel hinein zu erstrecken und die Mitglieder dieses Vorstands für Fehlverhalten anderer im nachgeordneten Bereich selbst und per-

* Der Autor ist emeritierter Professor der Universität Heidelberg.  Zum Gläubigerschutz in der konzernabhängigen GmbH: Beurskens, in Baumbach/Hueck, GmbH, 22, Aufl. 2019, KonzernR, Rn. 66 ff; Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 11. Aufl. 2020, §30, Rn. 6; Hommelhoff,in : Lutter/Hommelhoff, GmbH, 20. Aufl. 2020, Anh. §13, Rn. 13 ff, 41a (zusammenfassend); Altmeppen, in Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, Anh §13, Rn 133 ff.  Den Außenseiterschutz in der faktisch konzernierten AG hat zuletzt eingehend Altmeppen, Münch Komm AktG, 5. Aufl. 2020, §311, Rn. 49 ff durchdrungen.  DJT 1992. Zu den Reformvorschlägen im einzelnen Altmeppen, Münch Komm., §311 AktG, Rn. 45 ff.  Dazu H.-F. Müller, ZGR 2019,97, 119 ff.  S. Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 380 f. mwN. https://doi.org/10.1515/9783110698077-013

216

Peter Hommelhoff

sönlich in Verantwortung und Haft zu nehmen. ⁶ Diesen stark Besorgnis- erregenden Trend mag man, wie voranstehend geschehen, mit „Basisphänomen“ umschreiben, ⁷ sollte das aber schon deshalb nicht tun, weil in dieser hoch abstrakten Zusammenfassung ein tiefer Zug Resignation mitschwingt: Auf die vermeintliche Pflichtenerstreckung in die Töchter und Enkel hinein muss sich der Konzernvorstand auf jeden Fall und tatsächlich einstellen; denn mit dem Argument, er habe von unten aus dem nachgeordneten Bereich die notwendigen Informationen nicht erhalten und bestimmte Maßnahmen dort nicht durchsetzen können, wird der Konzernvorstand nicht gehört⁸. Das ist sub specie iuris falsch und wird, wenn trotzdem flächendeckend praktiziert, in mittlerer Sicht zu geltendem Recht erstarken. Am Ende ist der gegliederte Konzern auch rechtlich ein Einheitsunternehmen, eine wirtschaftliche Einheit ohne konzerninterne Risikound Haftungssegmentierung⁹, in der die Mutter für die Verbindlichkeiten der Töchter und Enkel wie in einem Eingliederungskonzern gesamtschuldnerisch (§ 322 Abs. 1 AktG) einzutreten hat.¹⁰ Als modernster Organisationsform im Binnenmarkt ¹¹und darüber hinaus droht dem Konzern die Stunde zu schlagen; es ist fünf vor zwölf. Die Devise lautet daher: rettet den Konzern! Wie ist auf dies Ziel hin jetzt und in näherer und weiterer Zukunft voranzugehen?

II. Als erstes und sogleich muss sich die Diskussion auf das Verbandssaktionsgesetz¹² konzentrieren und auf die im (noch nicht offiziell vorgelegten) Referentenentwurf vorgeschlagene Ausfallhaftung der Konzernmutter für den Fall, dass

 Dazu der Beitrag von Weller/Nasse oben………..mwN  Seyfarth, oben…  Dazu eindringlich Seyfarth, oben  Dazu Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 400 ff.  Noch weitergehend Kersting ZHR 182 (2018), 8, der von allseitigen Einstandspflichten sämtlicher Konzerngesellschaften füreinander ausgeht, also auch der Konzerntochter für ihre Schwestern oder Nichten und Neffen; gegen diese Erstreckung überzeugend Mörsdorf, ZIP 2020, 489, 495; dazu auch Schweitzer/Woeste, oben….  S. Druey, Schweizerische Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzmarktrecht 2012, 414, 415; Fleischer, ZGR 2017, 1, 29; Hommelhoff, ZGR 2019, 379, 391 f; Krieger, ZfU 2017, 25, 41.  Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eines Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität, Fassung vom 15.08. 2019, Art. 1 Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten-VerSanG; dazu die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins Nr. 7/ 2020, S. 12 f; abgedruckt auch in NZG 2020, 298.

Rettet den Konzern!

217

die von der Sanktion betroffene Tochter- oder Enkelgesellschaft wegen Insolvenz jene nicht erfüllen kann. Mit der Mutterhaftung ist nach der Begründung des Referentenentwurfs ein verbandssanktionsrechtlicher Vorwurf ausdrücklich nicht verbunden; es handle sich um ein rein haftungsrechtliches Einstehenmüssen, weil der an sich zu sanktionierende Verband, also die Tochter- oder Enkelgesellschaft, insolvent geworden sei.¹³ Zur Begründung dieses Haftungsdurchschlags verweist die Entwurfsbegründung schlicht auf die Grundsätze zur kartellrechtlichen Einstandspflicht nach § 87 Abs. 3a GWB¹⁴, ohne den weit über das Kartellrecht hinausreichenden Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Ausfallhaftung in den Blick zu nehmen. Denn Verbandsstraftat kann über die Vermögens- und Steuerdelikte hinaus jede Straftat sein, sofern nur das Kriterium erfüllt ist, dass eine Verbandspflicht verletzt oder der Verband bereichert worden ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 / Abs. 2 VerSanG). Als Ausfallgarant soll die Konzernmutter etwa einstehen müssen für Umweltdelikte nachgeordneter Konzerngesellschaften. Sollte das Verbandssanktionsgesetz wie vorgeschlagen umgesetzt werden, sind Konzernvorstände im Interesse ihrer Muttergesellschaften und deren Vermögen gezwungen, ohne jede Rücksicht auf die Eigenständigkeit der nachgeordneten Konzerngesellschaften, derer Eigeninteressen und auf die eigenen Handlungspflichten derer Leitungs- und Überwachungsorgane tatsächlich andauernd, eng und intensiv in jene hineinzuregieren: durch ein umfassendes und dichtes Berichtssystem innerhalb des Konzerns, durch ein engmaschiges Konzerncontrolling und durch punktgenaue Weisungen in Einzelfragen- und dies völlig unabhängig davon, ob die Konzernmutter überhaupt ein rechtlich fundiertes und unbegrenztes Weisungsrecht gegenüber den nachgeordneten Tochterund Enkelgeschäftsleitungen hat oder nicht. Damit ist klar: das Verbandssanktionsgesetz ist mit seiner Ausfallhaftung (und zusätzlich mit der konzerndimensionalen Bemessung der Verbandsgeldsanktion, § 9 Abs. 1 S.2 VerSanG) darauf angelegt, den Konzern in ein Einheitsunternehmen umzuformen und damit den Konzern als rechtlich gegliederte Organisationsform obsolet werden zu lassen, ihn also zu zerstören. Ein solcher Kollateralschaden kann und darf nicht das Ziel vernünftiger Rechtspolitik mit Augenmaß sein. Die Auseinandersetzung mit dem verfehlten Regelungsvorschlag zur Nachhaftung der Konzernmutter ist umso dringender geboten, als der nun am 21. April 2020 offiziell publizierte Referentenentwurf eines Verbandsanktionsgesetzes am ursprünglichen Vorschlag unverändert festhält, obwohl der Handelsrechtsausschuß (oben S. 216) ihm argu-

 Begründung RefE §7 VerSanG, (Fn. 12). 5.81.  Oben Fn. 13, sowie Schweitzer/Woeste, oben….

218

Peter Hommelhoff

mentenreich entgegengetreten war. Die Nachhaftung ist die weit überzogene Reaktion auf evident rechtsmißbräuchliches Fehlverhalten in einem konkreten Einzelfall.

III. Daneben wird sich die Konzernrechtsdebatte als zweites sogleich dem Konzerndeliktsrechts¹⁵ zuwenden müssen und hier insbesondere den Menschenrechten und den Pflichten der Konzernmutter, in angemessener Weise dafür zu sorgen, dass die Konzerngesellschaften im nachgeordneten Bereich (und seien sie im Fernen Osten oder fernab in Afrika) die Menschenrechte respektieren und deshalb möglichst niemand zu Schaden kommt. Die dringende Notwendigkeit einer Konzernrechtsdebatte auch in diesem Bereich hat voranstehend das Referat zu den Plänen im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eindringlich vor Augen geführt¹⁶. Selbstverständlich bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, die Konzernmutter (ebenso wie den Importeur in der Lieferkette) in Mitverantwortung für die Wahrung der Menschenrechte im nachgeordneten Bereich zu nehmen. Allerdings sollte dies rechtspolitisch vernünftig unter Einbezug der Konzernspezifika geschehen. Deshalb steht nichts entgegen, Konzernmütter zu verpflichten, in den nachgeordneten Konzerngesellschaften auf die Einrichtung Menschenrechts-bezogener Compliancesysteme hinzuwirken, deren gutes Funktionieren regelmäßig zu kontrollieren und auf Abhilfe bei den nachgeordneten Geschäftsleitungen zu dringen, falls Funktionsmängel offenbar werden.¹⁷ Durgesetzt werden können solche Systemkontrollrechte im Konzern freilich regelmäßig nicht durch Weisungen¹⁸; als vorletztes Mittel bleibt dem Konzernvorstand bloß, die Ablösung einer Geschäftsleitung im nachgeordneten Bereich zu betreiben, oder als letztes, sich mit der nachgeordneten Gesellschaft zu verschmelzen, um sich auf diesem Wege das arbeitsrechtliche Direktionsrecht zu verschaffen. Indes- ob der Gesetzgeber all‘ das als Pflichtenbündel vorgeben sollte, will rechtspolitisch wohl erwogen sein; denn je regider das Pflichtenprogramm für den Konzernvorstand, desto steiler fällt der Weg vom Konzern zum Einheitsunternehmen ab. Keineswegs aber geht es an, die Pflichten der Tochter- und Enkel Zu ihm zuletzt Fleischer/Korch, DB 2019, 1944 mwN  Oben Weller/Nasse ……  Auf dem Boden des noch geltenden Rechts deutlich zurückhaltender Fleischer/Korch, DB2019, 1944, 1951 f.  Anders offenbar das französische Recht; dazu zuletzt Weller/Nasse, oben………. mwN.

Rettet den Konzern!

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geschäftsleitungen dem Konzernvorstand als eigene Handlungspflichten für den Fall aufzuerlegen, dass nachgeordnete Leitungen ihren Pflichten nicht nachkommen. Auch eine solche Pflichtenerstreckung würde den Konzern in ein Einheitsunternehmen transformieren. Konsequent verbietet es sich, den Konzernvorstand von Anbeginn in exakt gleicher Weise wie die nachgeordneten Geschäftsleitungen für die Wahrung der Menschenrechte in die Pflicht zu nehmen.

IV. Vor diesem Hintergrund wird die Aufgabe deutlich, die sich den Vertretern des Konzernrechts jetzt und in nächster Zukunft stellt: Sie müssen mit allem Nachdruck den intradisziplinären Dialog mit den Vertretern des Strafrechts und mit denen des Deliktrechts suchen, um diesen die Spezifika des Konzerns nahe – und sie davon abzubringen, im Interesse vermeintlicher Effektivität die Organisationsform Konzern zu zerstören. Zugegeben – auf diese intradisziplinären Dialoge sind die Konzernrechtler noch nicht hinreichend vorbereitet. Was in jüngerer Zeit unter dem Stichwort „Konzernrecht als enabling law“ ¹⁹ auf den Weg gebracht worden ist, muss nun schnell und intensiv ausgeweitet und vertieft werden: Es sind die Realstrukturen in der Unternehmenspraxis ebenso viel genauer, als bisher geschehen, auszumessen und die Gründe zu ermitteln, die der Bildung und Umgestaltung von Konzernen rechtspraktisch zugrundeliegen. Das ist eine Aufgabe, die im interdisziplinären Vorgehen von Rechts- und Organisationswissenschaftlern in Angriff genommen werden sollte. Damit würde die Wissenschaft auf ein Forschungsfeld zurückkehren, das vor bald einhundert Jahren schon Syndici aus der Wirtschaft und Anwälte, mitten unter ihnen Max Hachenburg ²⁰, gepflegt hatten. Wie fruchtbringend eine solche Zusammenarbeit von Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern sein könnte, hat voranstehend der wirtschaftswissenschaftliche Gemeinschaftsbeitrag ²¹ deutlich werden lassen.

 Dominke, Einheitliche Gruppenleitung über die Binnengrenzen in Europa, 2017, S. 31 ff. Hommelhoff, ZGR 2012, 535; Teichmann, AG 2013, 184; s. auch Ziegler, Konzernleitung im Binnenmarkt, 2016, S. 229 (These 15).  S. seine Besprechung von Fritz Hausmann, Das Recht der Unternehmenszusammenfassungen, 1932 in: JW 1932, 2591 sowie die Stellungnahme, die der Deutsche Anwaltverein, Zur Reform des Aktienrechts, II. Teil, S. 75 ff unter seiner Leitung zur Fragenbogenaktion des Rechtsjustizministeriums formuliert hatte.  Gassen/Fülbier, oben …………

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Peter Hommelhoff

Im Kern sollte sich die weitere Arbeit im Konzernrecht vordringlich darauf konzentrieren, das besondere Leistungspotential zu erschließen, das in den einzelnen Konzerngesellschaften angelegt ist und gesteigert in ihrer Zusammenfassung unter der einheitlichen Leitung der Konzernmutter im faktischen Konzern. Auch hierfür verspricht das Zusammenwirken mit den Organsiationswissenschaften Erkenntnisgewinn. Das sollte schließlich zum Nachweis führen: Wegen ihrer spezifischen Leistungskraft ist die Organisationsform „Konzern“ im Interesse eines funktionsfähigen und global wettbewerbsfähigen EU-Binnenmarktes unverzichtbar und dringender notwendig denn je. Sobald sich diese Erkenntnis weit verbreitet und aktzeptiert durchgesetzt hat, besteht vielleicht doch die Chance, mit den Kartellrechtlern wieder ins Gespräch zu kommen, die sich dem intradisziplinären Dialog momentan unter Hinweis darauf entziehen, mit dem „Unternehmen“ und der „wirtschaftlichen Einheit“ habe das Kartellrecht einen ganz eigenständigen Regelungsansatz fernab vom Gesellschafts- und Konzernrecht gefunden.²²

 S. Schweitzer/Woeste, oben…

Angaben zu den Verfassern Simon Bahlinger, Doktorand, Lehrstuhl Prof. Weller, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Nina Benz, Wissenschaftliche Assistentin, Lehrstuhl Prof. Weller, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Andreas Engert, LL.M., Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht, Kapitalmarktrecht und Grundlagen des Rechts, Freie Universität Berlin Dr. Rolf Uwe Fülbier, StB, Universitätsprofessor, Lehrstuhl BWL X: Internationale Rechnungslegung, Universität Bayreuth Dr. Joachim Gassen, Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff, emeritierter Professor, Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Julia Rebecca Kohler, Doktorandin und Wissenschaftliche Assistentin, Lehrstuhl Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hommelhoff, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Hanno Merkt, LL.M., Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht, Abt. II, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Laura Nasse, Wissenschaftliche Assistentin, Lehrstuhl Prof. Weller, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Jens Prütting, LL.M.oec., Juniorprofessor, Institut für Medizinrecht, Bucerius Law School, Hamburg Dr. Heike Schweitzer, LL.M., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht und Ökonomik, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Georg Seyfarth, Rechtsanwalt, Partner bei Hengeler Mueller, Düsseldorf Dr. Jan Thiessen, Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Juristische Zeitgeschichte und Wirtschaftsrechtsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Marc-Philippe Weller, Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

222

Angaben zu den Verfassern

Kai Woeste, Doktorand und Wissenschaftlicher Assistent, Lehrstuhl Prof. Schweitzer, Humboldt-Universität zu Berlin Anton Stefan Zimmermann, Wissenschaftlicher Assistent, Lehrstuhl Prof. Weller, RuprechtKarls-Universität Heidelberg

Namensregister Altmeppen, Holger

67 f., 75, 215

Bachmann, Gregor 99 Bayer, Walter 4, 12 f., 78, 122, 138, 145 f. Beckerath, Herbert von 24 f. Brüning, Heinrich 3 Calabresi, Guido 74 Coase, Ronald 45, 63, 81 Conac, Pierre-Henri 61, 72 Drygala, Tim Ederle, Anton

72, 75 67

Fischer, Hermann 9 Flechtheim, Julius 5, 8 Fleischer, Holger 4 f., 23, 31, 35, 64, 92, 96 f., 99, 113, 117, 122, 126, 137, 167, 216, 218 Frank, Hans 13 f., 17, 114 Freisler, Roland 14, 21 Friedländer, Heinrich 1, 6 – 9, 13 f., 17 – 24, 29 – 31, 33 – 40, 60 Geiler, Karl 8 Geßler, Ernst 67 Großmann-Doerth, Hans Gürtner, Franz 13, 18

Hommelhoff, Peter 4 f., 24, 34, 42, 44, 47, 60, 65, 68 f., 79, 88, 94, 110, 162, 165, 176, 179, 188, 190 f., 201, 204, 209, 215 f., 219 Isay, Herrmann

32

Jensen, Michael

47, 76

Kerrl, Hanns 13 f. Klemperer, Victor 14 f. Koch, Jens 51, 64 f., 91, 95, 114 Koppensteiner, Hans G. 67 f., 71, 75 Kort, Michael 95, 100, 102, 190 f., 193 Kronstein, Heinrich 8, 67 Kropff, Bruno 78 Kuhn, Georg 31 Kumpan, Christoph 64 Kuntz, Thilo 65 Lutter, Marcus

5, 65, 67, 96, 162, 197, 215

Mestmäcker, Ernst-Joachim 60 f., 67, 143 f., 146, 148, 152, 161 – 163, 196 Moellendorff, Wichard von 8 Mülbert, Peter O. 67 f. Mussolini, Benito 2 f.

34

Habersack, Matthias 4, 65, 67 f., 75, 78, 88, 92, 96, 109, 112, 114, 116, 123 f., 126, 132, 194 f., 215 Hachenburg, Max 1, 4 – 6, 20, 22 f., 26, 36 f., 105, 219 Harbarth, Stephan 65, 95, 98 Haußmann, Fritz 1, 6 – 9, 13 – 38, 60 Henggeler, Josef 11 – 13, 20 Hindenburg, Paul von 13 Hirsch, Julius 8 Hitler, Adolf 2, 13, 32 f. Hoffmann-Becking, Michael 67, 69 f.

Nadler, Max

18

Posner, Richard

62, 166

Rasch, Harold 4, 34 Renner, Moritz 60 Rosendorff, Richard 1 – 4, 6 – 13, 18 – 24, 27, 31, 33 f., 36 – 40 Schiller, Friedrich 32 Schlegelberger, Franz 13, 17 f., 38 Schneider, Uwe H. 60, 93, 96 – 98, 183 Schön, Wolfgang 61, 63, 70, 72, 74, 78, 88, 95, 192 f., 196 f. Spamann, Holger 72

224

Namensregister

Spindler, Gerald 4, 19, 21, 64 f., 67, 91, 97, 114, 118 Stammler, Rudolf 28 Teichmann, Christoph 61, 72, 110, 162, 191 – 193, 195 f., 219 Timm, Wolfram 60 Tirole, Jean 63 Tullock, Gordon 74

Verse, Dirk 96 f., 194 f. Vetter, Jochen 67 f. Williamson, Oliver E. 45 f., 172 Wüstendörfer, Hans 27 Zehnhoff, Hugo am

9

Sachregister Abhängigkeit 24, 68, 71, 145, 152 – Abhängigkeitsbericht 54, 57, 79, 82 – Abhängigkeitsvermutung 147 Agency 47 – Agency-Konflikte 49, 55 – Agency-Theorie 47 agile Organisationsformen 51, 57 Akademie für deutsches Recht 34 Akzo 183, 185 – 188, 203 f., 206 – Akzo Nobel 89, 145, 147 – 150, 153 f., 174, 176 – 178, 184, 207 – Akzo-Vermutung 90, 146 – 148, 179, 183 f., 189, 204 Antisemitismus 7, 11 – 13, 32, 34, 38 Anwaltschaft 1 – 7, 9 – 14, 18 – 25, 32 – 40, 87, 105, 124, 219 Äquivalenzkontrolle 62, 76 Arbitrage 107 – Rechtsarbitrage 108, 127 – 130, 140 – Menschenrechtsarbitrage 107 f., 111, 127, 130 Auftraggeber 34, 107, 109 f., 113 f., 121 f., 126, 131 Ausbeutungsrisiken 41, 50, 52 f., 57 Äußere Systematik 187 Beschränkungsverbot 191, 193 f. Binnenmarkt 127, 174 f., 187, 189, 192, 197 f., 205 – 207, 211 f., 216, 219 f. – unbegrenzt 187, 197, 205, 207 – unvollkommen 192, 197, 206 Biogaran 142, 154, 157 – 161, 178 Business Judgement Rule 59, 64 f., 83, 97 – Unternehmerisches Ermessen 59 – 61, 64 – 67, 72, 79 f. Centros 127 f. Compliance-System 90, 97 f., 168, 170 f. – Complianceregeln 178 Compliance-Verantwortung 87 f., 95, 99 f., 102, 105, 138 – der Konzernobergesellschaft 87, 90 – 92, 96, 98, 103, 177

– des Vorstands 38, 64 f., 67 f., 95 – 99 Corporate Social Responsibility 109, 130 culpa in dominando 88 Defizit 108, 113, 127 – 130 – Durchsetzungsdefizit 108, 127, 129 – Kombinationsdefizit 108, 129 f. – Organisationsdefizit 113 – Regelungsdefizit 108, 127, 129, – Schutzdefizit 108, 128 Deliktsorganisationshaftung 108, 122 f. Deliktsrechtliche Generalklausel 113, 118 Deliktsstatut 108, 111, 123 f., 133 Diskriminierungsverbot 184, 191, 197 f. Doppelmandat 105 Doppelte Marginalisierung 63, 68 ECN-Plus-RL 148, 164 Effet utile 194, 206 Einfluss 37, 59, 61, 63, 66, 69, 89 f., 113, 118, 126, 134, 141 f., 144 – 148, 150 f., 153 – 161, 163 – 165, 168 – 170, 177 f., 188, 200, 207, 209 – Bestimmender Einfluss 142, 144 – 146, 154 Eingliederungskonzern 47, 216 Eingriffsnorm 108, 128 f., 131 – 133, 136 Einheit 24, 48, 53, 81, 101, 104, 124, 142 – 145, 147, 153 f., 160 f., 172, 187 – Wirtschaftliche Einheit 45, 51, 53, 89 – 91, 96, 122, 141 – 146, 149 – 154, 156, 158, 160 – 165, 168 f., 172, 178, 211 f., 216, 220 Einheitsunternehmen 47, 62, 73, 83, 88, 93, 102, 104, 137, 216 – 219 Einschätzungsprärogative 206 Enabling law 61, 110, 162, 191 f., 219 Entherrschungsprocedere 178 Erster Weltkrieg 8, 10, 12, 17, 31 f., 92, 94, 97, 216 Excess Free Cash-Flows 72 – Verfügbares, überschüssiges Kapital 76

226

Sachregister

faktischer Konzern 41, 56 Faktorspezifität 45 f., 56, 84 Faschismus 2, 17 Frankreich 43, 96, 108, 117 – 119, 121, 133 Fraus legis 108, 128 f. Gefahrenquelle 107 f., 111, 113, 123, 127, 129 f., 138 f. Generalklauseln 28 f., 31 – 33, 38, 60, 112 Gesellschaft 3, 5, 15, 19, 24 f., 28 – 30, 32 – 34, 48, 50, 53 f., 59 f., 62, 65 – 73, 76, 78 – 80, 83, 91, 95 – 97, 108, 110, 116 f., 122 f., 138, 143 – 147, 151, 154, 157, 162, 165 – 171, 175, 178, 185, 187 f., 190 f., 193, 204, 206, 218, 220 – Gesellschaftsstatut 108, 111, 121, 123, 127 – Muttergesellschaft 43, 48 f., 66, 89 f., 93 – 98, 102, 107, 109, 114, 116 f., 119, 122 f., 140 – 142, 144 f., 147 f., 150 f., 153 f., 156, 159, 163 – 165, 168 – 171, 178, 184, 186, 188 f., 201, 203, 209 f., 212, 215 – 218, 220 – Tochtergesellschaft 21, 35, 47 – 50, 61 f., 85, 89 – 91, 95, 98 – 100, 102 – 104, 107, 109, 114, 119, 122 f., 140, 145 – 148, 150 f., 153 – 156, 161, 163 f., 169 – 171, 178, 185 f., 188, 190 f., 201 f., 204, 209 – 212 Grundsatz mitgliedstaatsfreundlichen Verhaltens 205 Haftung 62, 68, 88 – 95, 109 f., 113 f., 117 f., 122 – 125, 130 – 132, 136 f., 141 f., 148 – 150, 153 f., 157, 159 – 171, 183, 188, 193, 195, 204, 210 f. – Deliktsorganisationshaftung 108, 122 f. – Durchgriffshaftung 108, 122, 166, 190 – Haftungsbeschränkung 85 f., 88, 108 – 110, 122 – 124, 141, 162, 166 f., 170 f., 192, 210 – Haftung für Dritte 108, 124 f. Haftungsabschottung im faktischen Konzern 89 Haftungsregel 74 Haftungsseparierung 41 – 44, 47 f., 50, 53, 57, 141 f., 165 – 168

Hierarchie 41, 45 – 47, 50, 56 f., 171 f. – hierarchische Organisation 46, 63 Historische Rechtsschule 1, 22 hybride Organisation 41, 44 – 47, 50, 56 Implied powers 206 Informationspflichten 52 f. Innere Systematik 184 f., 189 Innovationsanreize 142, 170 Institutionenökonomik 45 Institutionenvergleich 45 Interessenkonflikt 46, 48 – 50, 52, 59 – 62, 64 – 69, 72 – 74, 76 – 80, 83 f. – konfliktbelastet 67 Joint Ventures 47 Judikative Rechtsfortbildung

107 f., 113

Kartellrecht 6, 22, 27, 35, 85, 87, 89 – 91, 103, 109, 144, 173 – 177, 179 – 181, 184, 186 – 190, 196, 200 f., 203 f., 206 f., 209, 211 f., 217, 220 Kartellverbot 89 Kautelarjurisprudenz 1, 4 f., 20, 23 – 25, 30, 34 f., 129 f. KiK-Fall 131 f., 140 Kodifikation 2, 4, 26 f., 29, 37 f., 215 Kollisionsrecht 123 f., 128 f. Konzern 1 – 4, 19, 22, 24, 29 f., 34 f., 38 f., 41 – 57, 59 – 79, 81 – 83, 85, 87 – 98, 100 – 102, 104 f., 108 – 110, 115 f., 119, 122 f., 137, 144 – 146, 158, 162, 165, 171 – 173, 176, 179, 186, 188, 191, 201, 203, 210 – 212, 215 – 220 – Konzernprinzipien 108 f. – Konzernverantwortungsinitiative 108, 115, 117 Konzernbildung 21, 24 f., 30, 42, 46, 48 – 50, 52, 55, 59, 61 – Konzernbildungsfreiheit 87, 104 – Konzernierung 42, 49, 54, 56, 64, 66, 69 – 71, 79, 81, 84 f., 102, 173, 175, 185 – 189, 196, 203, 211 f. – Unternehmerische Integration 72 Konzern-Compliance-Abteilung 98 Konzerndeliktsrecht 92, 218

Sachregister

Konzernexterne 55 f., 73, 80 – konzernexterne Beteiligte 48 f., 54 – 57 – konzernexterne Vertragsparteien 52 – konzernexterne Vertragspartner 49, 52, 54 Konzerngefahr 60, 66, 73 Konzerninteresse 60, 69 – 74, 76, 80, 174, 190 – 192, 194 – 196, 199, 207 – Gemeinsames Interesse 72 – Gruppeninteresse 69, 175, 178 f., 189, 191 – 193, 195 f. Konzerninterne 48 f., 50, 52, 54, 55 f. – konzerninterne Beteiligte 49 f., 54 – 56 – konzerninterne Vertragspartner 52 Konzerninterne Transaktion 59 f., 72 – 74, 76 f., 80 Konzernorganisation 43, 55, 57, 110, 165, 168 – 170, 172, 210 Konzernrechnungslegung 53 Konzernstrukturhaftung 88 Konzernumsatz 89, 91, 178, 186, 201, 204, 206, 209, 211 konzernweite Legalitätskontrollpflicht 96 f., 103 Kosten 41, 43 f., 47 – 57, 63, 75, 77 f., 82 – 84, 142, 165 f., 168 – 170, 212 Kosten-Nutzen-Analyse 41, 48, 103 Liberalismus 15 f. Lieferkette 93, 107 – 110, 113, 115 f., 119 – 122, 124, 126 f., 129 – 131, 138 f., 218 – Lieferkettengesetz 107 f., 120 f., 132 Loi de vigilance 96, 108, 117 f., 120 Management View 101 Markt 41, 44 – 47, 49, 51, 56, 62 f., 70, 77, 81, 85, 138, 143, 146, 165, 172, 174, 178, 191, 197, 205 – Marktmacht 49 f., 52, 139, 175, 181, 185, 198, 204 – Marktverhalten 145 f., 153, 198 – Marktzugang 190, 198 Menschenrechte 96, 109, 112 f., 115 – 117, 120 f., 129 f., 133 f., 139 f., 218 f. – Menschenrechtsbindung 112 f., 115 – Menschenrechtssicherung 107 f., 110, 113 f., 117, 119, 121 f., 124, 126, 130 f., 133

227

– Menschenrechtsverantwortung 88, 93, 107 – 109, 111, 117 – 119, 127, 132 f. – Menschenrechtsverletzung 93, 107 – 114, 116 – 118, 120 – 126, 130, 132, 139 Methode 2, 19 – 22, 40, 128, 176 Minderheiten 37, 84 – Minderheitsgesellschafter 48 f., 142, 168, 170 f., 211 Nationalsozialismus 1, 5, 7, 9 f., 12, 14 f., 17 f., 33 Negativauslese 50, 53 – 55, 57 Niederlassungsfreiheit 88, 174, 176, 179 f., 184, 190 – 196, 199, 207 Normenkollision 173 f., 176 f., 179 f., 199 Notariat 7, 9 – 11, 13, 18, 21, 33 Nutzen 12, 38, 41, 43 f., 48 f., 51 – 57, 82, 127, 142, 165, 170 Ökonomische Funktion des Konzerns 60, 62 Open Collaboration 51 Ordre public 108, 128 Organisation 3, 19, 47 – 51, 81, 98 f., 101, 103, 108, 111, 130, 132 f., 137, 165, 170, 172, 212 – Deliktsorganisationshaftung 108, 122 f. – Organisationsdefizit 113 – Organisationsverschulden 125 Organisationstransparenz 41, 44, 52 – 57, 82 Organpflichten 59, 64 – Organpflichtendogmatik 68 – Organschaftliche Pflichten 61 Pandektistik 22 f. Plattformgeschäftsmodelle 51 Porsche-Urteil 100 Portfoliodiversifizierung 166 Private enforcement 112, 139 Procedural Fairness 79 f. Publizitätspflichten 53 Referentenentwurf 93, 107 f., 111, 120, 140, 216 f. Regulierungstheorie 52 Reichsgericht 21, 23 f., 31, 35, 37, 39

228

Sachregister

Risiko-Frühwarnsystem 100 Rozenblum-Formel 72 Sachrecht 124, 127 – 129 Schadensabwendungspflicht 96 f., 103 Schutzmechanismen 41, 52, 200 Schweiz 10 – 12, 20, 108, 115 – 117 Selbstermächtigungsgefahr 176 Selbstschutzmöglichkeiten 52, 57 Sicherstellungshaftung 108, 126 Siemens/Neubürger-Urteil 99 f. Skanska 89, 149, 163, 174, 177 Sorgfaltspflicht 92, 107, 111, 114 f., 117 – 121, 126, 132 – 134, 150 – Sorgfaltspflichtverstoß 150 Steuerrecht 6, 11, 13, 20 f., 23 – 25, 34, 93 Strategische Allianz 46 Substantive Fairness 79 System 6, 19 f., 22 – 24, 26, 28 f., 33, 48, 57, 78, 103, 107, 170, 174, 179 – 181, 184, 186 f., 189, 194, 196 – 199, 206 f., 215 Systemkohärenz 107 f., 111, 121, 124 Transaktion 45 f., 54, 62, 73 – 77, 80, 83 f. – Transaktionskosten 45 – 47, 54, 63, 81, 84, 197 – Transaktionskostentheorie 45, 47, 81 Trennungsprinzip 87 f., 90 – 92, 94, 104, 108 f., 114, 121 f., 137 f., 141, 144, 170 f. Unschuldsvermutung 147 f., 179, 202, 212 f. Unsicherheit 45 f., 54, 56, 85, 183, 199 Unternehmen 6, 18, 24, 29, 42 – 45, 47, 51, 53 f., 59 f., 62 f., 65 – 73, 75 – 81, 84 f., 91 f., 94, 96 f., 99, 101, 104, 107, 109, 112 – 121, 123 – 127, 130, 132 – 135, 138 – 141, 143 – 145, 149 – 157, 159, 162 – 164, 171 f., 178, 180 – 191, 202, 205, 207, 212, 220 – Unternehmensbegriff 89, 91, 141 – 144, 148 – 150, 152, 161 – 164, 174, 176 f., 183 – 186, 189, 201 – 203, 207

– Unternehmerische Freiheit 200, 203, 207 USA 4 f., 114, 126 f.

174, 176, 179,

Verbandsvorbehalt 87 f., 90, 95, 98 f., 104 Vergröberungstendenzen 176 Verkehrspflicht 92, 107 – 111, 113 f., 116, 120, 122 f., 125 f., 129 – 131, 133, 138 f. – konzerndimensionale Verkehrspflicht 121 f., 124 – lieferkettendimensionale Verkehrspflicht 108, 111, 126 Vermögensverlagerung 49 – 52, 54, 56, 79, 161 – Vermögensverlagerungsrisiken 51 Verteilungswirkungen 41, 43 Vertragsgestaltung 1, 6, 20, 23 f., 40, 78, 108, 121, 130 f., 140 Vertragskonzern 47, 100 Vertragskosten 47, 49 Vertragstheorie 47 Vorteile unternehmerischer Integration 63 Weimarer Republik 1, 4 – 9, 16 f., 32, 34, 36, 82 Weltwirtschaftskrise 1 f., 38 Wertaufteilung 59 f., 72 – 76, 78 – 80, 84 Wertschöpfungskette 111, 120, 133, 135, 140, 161 Wirtschaft 2, 4 – 6, 12 f., 15 – 17, 24 f., 27, 29, 32, 34 f., 109, 120, 139, 141, 146, 196, 216, 219 Wirtschaftspolitik 9, 15 f., 33 Wirtschaftstheorie 44 f. Zweckgesellschaften

51