Vom Anderen zum Gegenüber: »Jüdischkeit« in der deutschen Gegenwartsliteratur 9783412213527, 9783412205690

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Vom Anderen zum Gegenüber: »Jüdischkeit« in der deutschen Gegenwartsliteratur
 9783412213527, 9783412205690

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Vom Anderen zum Gegenüber

Reihe Jüdische Moderne Herausgegeben von Alfred Bodenheimer und Jacques Picard Band 11

Andrea Heuser

Vom Anderen zum Gegenüber »Jüdischkeit« in der deutschen Gegenwartsliteratur

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung und der Ludwig Sievers Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der freien Berufe

Das vorliegende Werk wurde im Sommer 2008 als Dissertation unter dem Titel »Nervös der Meridian« – Jüdischkeit in der deutschen Literatur vor und nach 1989 an der Universität zu Köln vorgelegt und angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Marc Chagall: Ich und das Dorf, 1912. Brüssel, Musée des Beaux-Arts © VG Bild Kunst, Bonn 2010. Foto: akg-images

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20569-0

Den Wegbegleitern dieses Buches in tiefer Dankbarkeit: Moritz Eggert, Ingrid Heuser-Müller, Günter Blamberger und Regina Jorde

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Nervös der Meridian oder: Jüdische Stimmen und deutsche Literatur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Das jüdische Gegenüber im deutsch-jüdischen Gespräch: Der ‚Andere‘ .. 38 I. 1. Identitätsdiskurse vor der Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der ‚Andere’. Blick-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die ‚andere Sprache’. Ein Unterscheidungsmythos . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Ohne in anderer Sprache zu sein? Isachar Falkensohn Behrs „Gedichte eines polnischen Juden“ und Heinrich Heines „Jehuda ben Halevy“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Vom ‚Fremden‘ zum ‚Anderen‘. Das Versprechen der Aufklärung .. . 1.4. Der ‚Andere’. Literarisches Tauziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“. Eine Verständigungsfigur .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. 2. Die Zäsur der Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der ‚Andere‘ als Außenseiter. Opfer-Täter-Dichotomien (I) .. . . . . . 2.2. Die negative deutsch-jüdische Symbiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Walser-Bubis-Debatte. Ein gerichtsförmiger Diskurs .. 2.3. Der ‚Andere‘ als Gerücht. Opfer-Täter-Dichotomien (II) .. . . . . . . .

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I. 3. Stille Tage. Literarische Selbstvergewisserungen nach 1989 . . . . . . . . . . 3.1. Forschungsstimmen: Bilder ohne Vorbilder? Der ‚Andere‘ und die neue deutsch-jüdische Literatur .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Autorenstimmen: Der ‚Andere‘ und die Erfindung der Tradition. Jüdischkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Über Jüdischsein reden. Die Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das Erbe. Jüdischkeit als Leerstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 II. 1. „1945“ – Die mythische Stunde Null. Deutsche Diskurse .. . . . . . . . . . . 123 1.1. Die Nicht-Nichtjuden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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Inhalt

1.1.1. Alfred Anderschs „Efraim“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.1.2. Jean Amérys „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

II. 2. „1945“ – Die Sprache ging hindurch, trotz allem. Jüdische Diskurse . . 2.1. Bezeugen, Entleeren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Paul Celans „Todesfuge“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. 3. Im leeren Raum des Fiktiven. ‚Der eingebildete Jude‘ .. . . . . . . . . . . . . . 3.1. Selbstzeugungsphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Alain Finkielkrauts „Der eingebildete Jude“ .. . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Esther Dischereits „Als mir mein Golem öffnete“ . . . . . . . . .

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II. 4. Die Struktur des Mythos‘. Zwischenresümée .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 III. Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 III. 1. „1989“ – Was kommt? Was bleibt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Ü ber Justierungsprozesse, literarische Geschichtskonstruktionen, Opfernarrative und: Jüdischkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Ins-Gespräch-Treten? Die Literaturstreits .. . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Der ‚eigene Andere’. Opfer-Täter-Dichotomien (III) . . . . . . 1.2. Deutsche Geschichte(n) als Belastungsgeschichte(n) .. . . . . . . . . . . 1.2.1.Ruth Klügers „weiter leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Bernhard Schlinks „Die Beschneidung“ .. . . . . . . . . . . . . . . .

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III. 2. Geschichten eines Adjektivs. Jüdischkeit als Text .. . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 1. Die Kindeskinder des Doppeladlers – Robert Schindels „Gebürtig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Die Anderen. Vielstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Wie gerät das Gedicht in den Text? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Welche Funktion kommt den Namen zu? Oder: Wo liegt Galizien? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Wien ist ein nachblutender Witz – Zugehörigkeit . . . . . . . . 2. 2. Figuren der Unzugehörigkeit – W. G. Sebalds „Die Ausgewanderten“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Heimatlosigkeit und Habe .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. To turn fiction into truth – Der erinnerte Autor . . . . . . . . . . 2.2.3. Das jüdische Gegenüber: Der Andere? . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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2.2.4. Untröstlichkeit ohne Trauer? Sebalds „terra incognita“ . . . . . 273 2. 3. Kain und Abels Erben – Katharina Hackers „Eine Art Liebe“ . . . . 280 2.3.1. Der Andere. Opfer-Täter-Dichotomie als Urtext .. . . . . . . . . 282 2.3.2. Weiter erzählen. Der erinnerte Autor .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2.3.3. Auf dem Herzen. Fragmente einer Sprache der Liebe .. . . . . 298 2. 4. Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies – Barbara Honigmanns „Alles, alles Liebe“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2.4.1. Verbrieft. Fragmente einer Sprache der Liebe . . . . . . . . . . . . 303 2.4.2. Der Andere. Du und Ich als Urtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2.4.2.1. Vom Gespräch zum Schweige-Riss .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 2.4.2.2. Vom Angesicht zum Schatten-Riss .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2.4.3. Das Gesicht wiederfinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2. 5. Alle Tage – Dagmar Leupolds „Nach den Kriegen“ .. . . . . . . . . . . . 323 2.5.1. Der Vater. Ein Tochterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2.5.2. Im leeren Raum des Fiktiven – Schweigediskurse . . . . . . . . . 330 2.5.3. Die vermisste Gestalt. Der Andere und ‚die andere Sprache‘ .335 2. 6. Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt – Maxim Billers „Die Tochter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2.6.1. Verhaltenslehren der Kälte. Ehen in Wien und München .. . 341 2.6.2. Der eigene Andere. Opfer-Täter-Figurationen .. . . . . . . . . . . 355 2.6.3. „Die Tochter“. Ein Vaterbuch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 2.6.4. Der Plüschfrosch. Oder: Die Suche nach Erlösung .. . . . . . . 361

Fazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Danksagung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Vorwort

Typisch jüdisch. Gibt es das überhaupt? Fragt das ZEIT-Magazin vom 31. März 2010 und widmet unter Obhut der Gastredakteure Olga Mannheimer und Gil Bachrach diesem Thema eine gesamte Ausgabe; ein „Zeitmagazin über Gott, Sex, Mutter, Geld, Identität und Liebe“. Auch kann man sich Fotos anschauen in diesem Heft von Juden und Nichtjuden und wird zum heiteren Raten aufgefordert, wer von den Abgebildeten denn nun Jude sei und wer nicht. Marilyn Monroe? Waldorf und Statler aus der Muppets-Show, oder Krusty von den Simpsons? „Sollten Sie sich bei dem einen oder anderen nicht sicher sein, ist das kein Drama“, wird dem Leser gleich beruhigend versichert. Das Wissen, hier an etwas Besonderem zu arbeiten, so die Redaktion, habe das Team bei der Arbeit durchweg begleitet. Etwas Besonderes fiel auch mir während meiner Durchsicht des vorliegenden Buches über Jüdischkeit in die Hände, und zwar der soeben bei C. H. Beck erschienene Roman „Die Leinwand“ von Benjamin Stein. Ein fulminantes, geradezu betörendes Buch über die existentielle Bedeutung, die der Fiktionalität von Erinnerung, Identität und Schicksal zukommt. Eine Spiegelgeschichte, die klug und fintenreich aus zwei Erzählperspektiven erzählt wird, die aber vor allen Dingen ein Buch über Jüdischkeit ist. Darüber, was eine jüdisch-orthodoxe Lebenswirklichkeit in einer nichtjüdischen Umgebung heute bedeutet, über all die kleinen, ernsten, skurrilen, komischen und bedeutsamen Fallstricke der Alltagsbewältigung, bis hin zu den großen grundlegenden Fragen. Wie sich als gläubiger Mensch innerlich orientieren zwischen den Reglementierungen, die ein Leben nach der Tora vorsehen, und den Möglichkeiten, die die weltlichen Lebensentwürfe eröffnen? Was ist wahr? Was zählt? Was macht uns zu dem, was wir sind? Sind wir nur das, was wir in den Erinnerungen vorfinden? Warum muss eigentlich jeder Lebenstraum der Deutung folgen? Und wenn wir ihn deuten, sind wir dann für das Eintreffen seiner Botschaft verantwortlich? Ein Buch also, das den Leser ebenso beschenkt wie die deutsch-jüdische Literatur insgesamt, in der bis heute ‚sichtbare‘ Juden mit einer gelebten, an der Tradition orientierten jüdischen Identität so gut wie nicht vorkommen. So nachvollziehbar, ja zwangsläufig dieser Umstand gerade vor dem Hintergrund der Shoah ist, so herausfordernder sich damit die Fragen nach den aktuellen Konstruktionsmöglichkeiten von Jüdischkeit innerhalb der deutschen Literatur gestalten und dementsprechend auch Anlass wie Thema der vorliegenden Arbeit waren – ein Buch wie „Die Leinwand“ von Benjamin Stein ist eines, auf das ich all die Jahre gewartet habe. Der Umstand, dass es jetzt erscheint, ebenso wie das besagte ZEIT-Magazin, das das Thema „Typisch jüdisch?“ so spielerisch angeht, signali-

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Vorwort

siert gewissermaßen wieder einen Paradigmenwechsel. Wobei sich provokativ gesprochen die Frage stellt, ob eine gewisse Entspannung – wenn diese Beobachtung überhaupt wirklich zutrifft – auf Ebene der öffentlichen medialisierten Rede über Jüdischsein in Deutschland heute vielleicht nur möglich ist, weil sich die Rhetorik der Dichotomien, der Rede vom ‚Anderen‘ und ‚Eigenen‘, von ‚Wir‘ und ‚Denen‘, ‚Deutschen‘ und ‚Fremden‘ auf die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Türken verlagert hat? Eine Polarisierung, ohne die ein kontinentaleuropäisches Einwanderungsland wie Deutschland auch in Zeiten der Globalisierung und der Multikulturalität augenscheinlich immer noch nicht auskommt. Sind die Deutschtürken heute also endgültig diejenigen ‚Anderen‘ geworden, denen sich im Kontext von Integration und Ausgrenzung ähnliche Fragen in Bezug auf ihre Identität stellen wie den Juden all die Jahrhunderte zuvor? Die Parallelitäten und Differenzen, die ein solcher Vergleich aufzeigen würde, werden uns sicherlich noch eine Weile beschäftigen. Jedenfalls ist es ein bezeichnender Zufall, dass in derselben Ausgabe der ZEIT, die das Magazin „Typisch jüdisch?“ enthält, der Aufmacher im Feuilleton ein Aufsatz des Schriftstellers Zafer Șenocak zu der aktuellen Streitfrage ist, ob denn türkische Gymnasien in Deutschland zugelassen werden sollen oder nicht: „Türkische Gymnasien? Aber ja!“ Dass „die deutsche und die türkische Sprachwelt mit ihren unterschiedlichen Traditionen und Zungenschlägen“, so Șenocak, „eine seltene Chance [bieten], die Landschaft im Kopf zu erweitern“, dass Sprachen „sich zwar übersetzen aber nicht gegenseitig ersetzen“ lassen, darauf müssen Schriftsteller wohl leider noch eine ganze Weile hinweisen. Von dem geistigen Reichtum, der aus einer solchen Mehrsprachigkeit entsteht, profitiert die deutsche Literatur indes schon seit geraumer Zeit. Während sich also die Zeiten, in denen so langwierige Publikationen wie die vorliegende Arbeit entstehen, auf tagespolitischer Ebene scheinbar rasant ändern, bleiben die inhärenten Konflikte und Fragen wie etwa die nach ‚dem Eigenen‘ und ‚dem Fremden‘ ebenso wie die Ängste, an die sie rühren und die es in konstruktiver Weise ernst zu nehmen gilt, erstaunlich konstant. Zeichen einer solchen Umbruchzeit, einer Zeit der Paradigmenwechsel und des Ringens um neue Sprach- und Ausdrucksmöglichkeiten für eine sich verändernde Lebenswelt ist es, dass sie eine eindrückliche Literatur hervorbringt, der dieses Ringen sichtbar eingeschrieben ist. Von deren künstlerischer Qualität zeugen die von mir besprochenen Werke. Die zwei Jahre, die zwischen der Fertigstellung dieser Arbeit Anfang 2008 und heute, dem Frühjahr 2010 liegen, waren natürlich in der Literatur ebenso produktiv wie in der Forschung selbst. So habe ich mich bemüht, die aus publikationstechnischen Gründen entstandene Forschungszeitlücke mit den entsprechenden exemplarischen Verweisen an den jeweiligen Stellen der Arbeit aufzufüllen. Es versteht sich von selbst, dass der Anspruch auf Vollständigkeit hier ebenso wenig

Vorwort

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erhoben wird, wie der auf die Unbestreitbarkeit der Auswahl, die jeweils dem eigenen Interessenschwerpunkt geschuldet ist sowie dem schlichten Pragmatismus, eine Arbeit abschließen zu mögen, die sich eigentlich nicht abschließen lässt. Die vorliegende Fassung wurde für den Druck also hinsichtlich der zu ergänzenden Forschungsliteratur leicht erweitert. Ergänzt wurden außerdem ein Kapitel über Dagmar Leupolds Roman Nach den Kriegen und ein Exkurs zu Heinrich Heines Jehuda ben Halevy; beides Textpassagen, die zum Zeitpunkt der Dissertation noch nicht fertiggestellt waren, auf die ich in der Publikation aber nicht verzichten möchte. Dass das vorliegende Werk überhaupt entstehen konnte, ist in erster Linie der langjährigen Förderung durch die Friedrich-Naumann-Stiftung zu verdanken. Und selbstverständlich den Autorinnen und Autoren, deren inspirierenden Werke Gegenstand dieser Arbeit sind. München, April 2010

Wir wissen ja nicht, was wahr ist, sagst du. Wir können nur sagen, was zählt. Benjamin Stein

Einleitung Nervös der Meridian oder: Jüdische Stimmen und deutsche Literatur „Einer legt an / Einer legt aus / Still die Tage nervös / Der Meridian“ – so heißt es in Robert Schindels Gedicht Stille Tage.1 Gleich dem Gedicht, so liegt auch hier das Hauptaugenmerk auf jenem Stimmenraum der gegenwärtigen deutsch-jüdischen Literatur in einer Zeit der stilleren Tage. Der Periode nach den ‚lauten‘ politischen Ereignissen der Wendezeit also, in der über vierzig Jahre deutsche und europäische Nachkriegsgeschichte – formell – besiegelt wurden. Konkret sind damit die neunziger Jahre und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends gemeint. Der Duktus der Nervosität signalisiert dabei eine gesteigerte Aufmerk­samkeit des Sprechenden, zeigt ein genaues, an der Geschichte und der Angst geschultes Hinhören an. Und so heißt es entsprechend in Schindels Poetik-Vorlesung Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst: „Die Wörter […], die mir aus der Hand fallen, jenseits des Paravents aus gestürztem Himmel, diese Wörter, das sind Namen, Namen von Ängsten und Angst.“2 Es handelt sich bei jenen ‚stillen Tagen‘ also um einen reflexiven, nervösen Diskursraum, der gekennzeichnet ist durch Konfrontation („einer legt an“) und Interpretation („einer legt aus“). Dieses Spannungsverhältnis, das sich in Schindels poetologischem Vers so verdichtet wiederfindet, kann im Folgenden als Ausgangspunkt des Schreibens über Jüdischkeit in der deut­schen Literatur nach 1989 betrachtet werden, an der Schwelle zwischen dem, was war, und dem, was kommt. Zu wem aber, worüber und von welchem Ort her sprechen eigentlich die jüdischen Stimmen? Wer konfrontiert und wer interpretiert? Und: Was genau hat es mit dem Wort Jüdischkeit auf sich, das sich als entsprechendes Signalwort im Titel dieser Studie findet? „Nervös der Meridian“ – Mit dem Meridian als Stimmkreis spielt Robert Schindel auf die berühmte Poetik-Rede Paul Celans an.3 Celan zufolge vermisst 1 Robert Schindel, Stille Tage, in: Ders., Nervös der Meridian. Gedichte, Frankfurt am Main 2003, S. 63. 2 Schindel, Literatur – Auskunftsbüro der Angst. Wiener Vorlesungen zur Literatur, in: Ders., Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst, Frankfurt am Main 1995, S. 35–114, hier S. 106. 3 Paul Celan, Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Darmstadt, am 22. Oktober 1960, in: Paul Celan. Gesammelte Werke in sieben Bänden, hrsg. von

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„Nervös der Meridian“

der Meridian die Herkunft, den Standort des Dichters, so wie der ursprüngliche Meridiankreis die Ortsbestimmung von Gestirnen vornimmt. Der durch Zenit und Pol gehende Mittagskreis umfasst auch in seiner bildlichen Übertragung auf den literari­schen Raum einen weiten Radius, der von Celan und in seiner Fortschreibung von anderen deutsch-jüdischen Autoren der Gegenwart metaphorisch als ein Kreis verstummter oder an die Peripherie des Vergessens gedrängter jüdischer Stimmen definiert wird, die sich im Um-Kreis nichtjüdischer Stimmen Gehör zu verschaffen suchen. Dass dieser jüdische Stimmkreis insbesondere im deutschen Sprachraum seit der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung des europäischen Judentums ein „nervöser“ bleibt, dessen „gestürzter Himmel“, so Schindel, „Namen, Namen von Ängsten“ aufruft, leuchtet unmittelbar ein. Das, was heute kommt, unterliegt daher auch immer der Interpretation, die ihren Ausgang nimmt von dem, was war. Was aber war eigentlich mit jenem weiten Stimmkreis der deutschjüdischen Literatur? Dazu der Historiker Gershom Scholem: Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, be­ruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesproche­nen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden […] Jene berühmt gewordene Lo­sung aus den Emanzipationskämpfen: „Den Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt: als Juden) nichts“, ist es, die verhindert hat, daß je ein deutsch-jüdisches Gespräch in Gang gekommen ist. […] Zu wem also sprachen die Juden in jenem vielberufenen deutsch-jüdischen Gespräch? Sie sprachen zu sich selber, um nicht zu sagen: sie überschrien sich selber […], als ob das Echo ihrer eigenen Stimme sich unver­sehens in die Stimme der anderen verwandeln würde, die sie so begierig zu hören hofften. […] Aber wozu Beispiele häufen, wo ja eben das Ganze jenes gespenstischen deutsch-jüdischen Gespräches sich in solchem leeren Raume des Fiktiven abspielte?4

Gershom Scholems Rede Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen „Gespräch“ trägt seine eigene, be­zeichnende Ortsbestimmung: Jerusalem. Scholem, der mit seiner vehementen Absage an das viel beschworene deutsch-jüdische Gespräch und die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose5 in intel­lektuellen Kreisen zwar eine erBeda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, 3. Bd., Frankfurt am Main 2000, S.  196–202. Eine nähere Erörterung der Bedeutung und des Inhalts der Rede findet sich im Kapitel zu Robert Schindel (III 2.1). 4 Gershom Scholem, Brief an Manfred Schlösser vom 10. Januar 1962; anlässlich des 90. Geburtstages von Margarete Susmann, in: Ders., Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen „Gespräch“, Judaica 2, Frankfurt am Main 1970, S. 7–11, hier S. 9f., Hervorhebung A. H. 5 Der Begriff ‚Symbiose‘ als Bezeichnung für das deutsch-jüdische Verhältnis war vor allen Dingen nach 1945 heftig umstritten. Dennoch wurde er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Exilanten selbst wieder ins Gespräch gebracht. So etwa von den Historikern Adolf

Einleitung

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regte Debatte ausgelöst hatte, auf seinen Wider-Ruf jedoch nie eine wirkliche Antwort6 erhielt, zog aus den histori­schen Erfahrungen die persönliche Konsequenz und kehrte auch nach Kriegsende nicht nach Deutschland zurück. Die Möglichkeit eines deutsch-jüdischen Zusammenlebens, welches zwei Jahrhunderte zuvor mit der Emanzipation und Ak­kulturation der Juden im Zeichen der Aufklärung begonnen hatte und, so Scholem, 1942 faktisch mit dem Beschluss der planmäßigen Vernichtung des europäischen Juden­tums durch die Deutschen endete, diese deutsch-jüdische Gemeinschaft hatte sich in seinen Augen endgültig und unwiederbringlich als eine „Fiktion“ erwiesen. Und zwar als eine Fiktion, Leschnitzer, Heinz Politzer, Eva G. Reichmann und eben von Margarete Susmann, deren 90. Geburtstag der Anlass war, zu dem Scholem seinen Widerspruch, in kritischer Abgrenzung zu den emphatisch-retrospektiven bis ‚versöhnlichen‘ Positionen der Exilanten, verfasste. So sprechen jüdische Historiker wie Eva G. Reichmann und Adolf Leschnitzer von einer „hundertfünfzigjährigen Symbiose zwischen Juden und Deutschen.“ Siehe: Hans Schütz, Juden in der deutschen Literatur. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte im Überblick, München, Zürich 1992, S.  14. Dort besonders die Erörterungen in Anm. 30 sowie: Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.), Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, 1985, Königstein Ts., S.  7–9. Es gibt in der Kulturwissenschaft außerdem Forscher, die die deutsch-jüdische Literaturgeschichte mit dem jüdischen Minnesänger Süßkind von Trimberg beginnen lassen und damit bis ins Mittel­alter rückverlängern. Siehe u. a.: Frank Stern, Dann bin ich um den Schlaf gebracht. Ein Jahrtausend jüdischdeutsche Kulturgeschichte, Berlin 2002 sowie ders., Maria Gierlinger (Hrsg.), Die deutschjüdische Erfahrung. Beiträge zum kulturellen Dialog, Berlin 2003, S. 7–12. Ebenso lässt sich unter Bezugnahme auf die christlich-jüdische Tradi­tion, beginnend mit dem Alten Testament als einem gemeinsamen kanonischen Text, eine zweitausendjährige ge­meinsame Kulturgeschichte begründen. Der „Verein für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ etwa gründet sich auf dieser Prämisse. Dergleichen Ansätze dienen als Basis für die Argumentation einer geschichtlich verbürgten deutsch-jüdischen Symbiose. 6 ‚Ruf‘ hier verstanden im Sinne von Auf-Ruf als Bedingung und Möglichkeit eines Gesprächs. Zur ‚Antwort’: Entgegnungen von zeitgenössischer nichtjüdischer Seite zielten vor allen Dingen darauf ab, Scholem einer unge­nauen Handhabung der Begriffe, etwa des ‚Gespräches‘ zu überführen, so zum Beispiel bei Rudolph Kallner. Siehe: Gershom Scholem, Noch einmal: das deutsch-jüdi­sche „Gespräch“, in: Scholem 1970, S. 12–14. Die nachhaltigsten Antworten auf Scholem kamen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in beiden Fällen von jüdischen Intellektuellen, nämlich von Peter Szondi und Dan Diner. Erst in jüngster Zeit häufen sich in der Forschung Stimmen, die dem Gehalt von Scho­lems Widerspruch nachgehen, wenn auch in der Art eines historisches Statements, so zum Beispiel in den Arbeiten von Stephan Braese und Klaus Briegleb im Publikationsumfeld des Zentrums für Sozialforschung. Siehe u. a.: Stephan Braese, Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin 2001, S. 429f.: „[Scholems] Bemühungen um ‚real communication‘ zwischen Juden und Deutschen wurden noch im gleichen Jahr von anderen aufgegriffen und fortgesetzt – im offenen Kontext der tiefgreifenden innenpolitischen Verwerfungen, die die Aktivitäten der antiautoritären Bewegung hervorgerufen hatten.“ Allerdings übersieht auch Braese hier den Umstand, dass diese Antworten dann stets von ‚jüdischer Seite‘ kamen. So zitiert Braese eben Peter Szondi, Ludwig Marcuse und Arie Goral als diejenigen, die Scholems Bemühungen um besagte „real communication“ wieder aufnahmen.

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„Nervös der Meridian“

die „zu hoch bezahlt“ worden war.7 Die Schlussfolgerung bestand für den gebürtigen deutschen Juden und späteren Zio­nisten daher in der kategorischen Gegenüberstellung von Deutschen und Juden: Der Versuch der Juden, sich den Deutschen zu erklären und ihre eigene Produktivität ihnen zur Verfügung zu stellen, sogar bis zur völligen Selbstaufgabe hin, ist ein bedeutsames Phänomen, dessen Analyse in zurei­chenden Kategorien noch aussteht und vielleicht jetzt erst, wo es zu Ende ist, möglich werden wird. Von einem Gespräch vermag ich bei alledem nichts wahrzunehmen. Niemals hat etwas diesem Schrei erwidert, und es war diese einfache und ach, so weitreichende Wahrnehmung, die so viele von uns in unserer Jugend betroffen und uns bestimmt hat, von der Illusion eines Deutschjudentums abzulassen.8

In der hier von Scholem betonten Dichotomie von ‚Juden‘ und ‚Deutschen‘ ist zugleich jene historische Trennung des deutschen Volkes in ‚Deutsche versus Juden‘ mit benannt, die mit dem Widerruf vom 30. Januar 1933 so radikal vollzogen wurde.9 Nachdem die unmittelbaren Reaktionen auf seinen eigenen Widerruf jedoch hauptsächlich in kleinlich formalen Infragestellungen des Gesprächs-Begriffs bestanden,10 fügte Scholem noch in einem erläuternden Nachtrag hinzu: Ich bestreite, daß es ein […] deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und 7 Scholem 1970, S. 10. 8 Ebd., S. 8f. Hervorhebung, A. H. 9 Ein Widerruf, der, darauf hat Hans Mayer in seiner diesbezüglichen Monographie bereits hingewiesen, bis heute nicht offiziell zu­rückgenommen worden ist. Siehe: Hans Mayer, Der Widerruf. Über Deutsche und Juden, Frankfurt am Main 1994, bes. S. 429–431 sowie Holger Gehle, Schreiben nach der Shoah. Die Literatur der deutsch-jüdischen Schriftsteller von 1945 bis 1965, in: Daniel Hoff­mann (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn, München, Zürich 2002, S. 401f.: „Die Geschichte der deutschsprachigen jüdischen Literatur nach Auschwitz be­ginnt eigentlich schon 1933 mit den ersten staatlichen Ausgrenzungsmaßnahmen, die ohne Berücksichtigung der in­dividuellen Wahl und der tatsächlichen Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft oder der wirklichen Ver­bundenheit des Einzelnen mit jüdischer Tradition bestimmten, wer fortan als Jude zu gelten hatte.“ Siehe auch: Willi Jasper, Jüdische Literatur in Deutschland nach 1933, in: Ders., Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos, Berlin, München 2004, S. 425–427. So begann am 13. April 1933 die Kampagne der deutschen Studentenschaft Wider den undeutschen Geist in der Literatur, in deren Folge den jüdischen Schriftstellern grundsätzlich ihr Deutschsein sowie die Fähig­keit abgesprochen wurde, ‚wahrhaftes‘ Deutsch zu schreiben und zu denken. 10 Eine Wiedergabe der Kritik findet sich bei Scholem selbst: Noch einmal: das deutsch-jüdische „Gespräch“, S. 12–19.

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ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als sol­chen Begriff auf die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Juden […] anzuwenden. Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen und ist nie zustande gekommen.11

Deutsche und Juden begegnen sich Scholem zufolge also nicht als Gesprächspartner, sie ste­hen sich höchstens als streitbare Kontrahenten gegenüber, wie man dies etwa am prominenten Beispiel der sogenannten Walser-Bubis-Debatte12 verfolgen konnte, die nach jener Dramatur­gie der Rede von Konfrontation (Walser) und Interpretation (Bubis) ablief, wie sie mit Schindels Vers „einer legt an, / einer legt aus“ treffend bezeichnet werden kann. Eine Gegenüberstellung von Deutschen und Juden im Sinne einer solchen Entgegensetzung, die noch das Wort ‚Gegner‘ assoziiert und die sich mit Scholem aus der historischen Erfahrung ab­leiten lässt, betrifft aber nicht nur das traumatisierte Beziehungsverhältnis zwi­schen Deutschen und Juden.13 Es handelt sich auf der Ebene der öffentlichen medialisierten Rede meiner Ansicht nach zugleich um einen Topos. Als ein solcher markiert ‚das jüdische Gegenüber‘ einen rhetorischen Standort, bezeichnen ‚Deutsche‘ und ‚Juden‘ Sprecherpositionen, welche die Reden­den zueinander einneh­men und damit das kommunikative Spannungsfeld, innerhalb dessen jüdische Identität, jüdische Themen sowie Fragen in Bezug auf die deutsch-jüdische Geschichte im deutschsprachigen Raum auch heute noch verhandelt werden. Wie verhält es sich nun auf der Ebene der zeitgenössischen literarischen Diskurse, die als solche ja immer auch eine Form des Ins-Gespräch-Tretens bedeuten,14 11 Scholem 1970, S. 7. 12 Zur Walser-Bubis-Debatte siehe Punkt I. 2. dieser Arbeit. 13 Selbstverständlich ist damit nichts über die Ebene privater Gespräche und Beziehungen ausgesagt. Hier wird ausdrücklich allein über die Ordnung der öffentlichen Diskurse gesprochen. 14 Die Literatur ist schließlich derjenige kulturelle Bereich, der „am sensibelsten auf Spannungen und Konflikte in der Gesellschaft und auf Bewusstseinsveränderungen“ reagiert, weil er, so Bayerdörfer, in „sprachlicher Allgemeinheit und ästhetischer Verdichtung gesellschaftliche Probleme aufgreift, ohne sie an Konkretheit und Tragweite zu verkürzen.“ Bayerdörfer 1985, S. 8. Literatur als Ins-Gespräch-Treten wird hier also zunächst einmal ganz allgemein als ein Interdiskurs verstanden, der andere Diskurse, die in ihn eingelassen werden, nämlich politische und gesellschaftliche Redeweisen über Juden und über jüdische Identität, sowohl transformiert als auch diskutiert. Dazu kommt der Umstand, dass poetische Verfahren wie Intertextualität, also der Umgang mit anderen Stimmen, ja eine Form des innerliterarischen Gesprächs darstellen. Die (erneute) Suche nach einem deutsch-jüdischen literarischen Gespräch dient hier daher nicht einer wie auch immer zu verstehenden oder misszuverstehenden ‚Versöhnung‘ oder ‚Bewältigung‘, schon gar nicht einer fachwissenschaftlichen ‚Aufarbeitung‘, deren Resultat danach ad acta gelegt werden könnte. Sie unterzieht sich ausgehend von Scholems Widerruf vielmehr den Mühen der erneuten Sichtung und Überprüfung der Zusammenhänge, in der Absicht, das Geschehene im Bewusstsein zu halten.

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mit einem Austausch von ‚deutschen‘ und ‚jüdischen‘ Stimmen? Handelt es sich bei jenem Raum des Fiktionalen nicht auch um einen leeren Raum des Fiktiven? In W. G. Sebalds Erzählband Die Ausgewanderten (1992) setzt sich der IchErzähler mit der Verfol­gungsgeschichte seines Volksschullehrers Paul Bereyter sowie mit dem damit verbundenen eige­nen blinden Fleck auseinander: Stück für Stück trat also das Leben Paul Bereyters aus seinem Hintergrund heraus. Mme. Landau wunderte sich keineswegs darüber, daß mir, trotz meiner Herkunft aus S.  und meiner Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen, die Tatsache, daß der alte Bereyter ein sogenannter Halbjude und der Paul infolgedessen nur ein Dreiviertelarier gewesen war, hatte verborgen bleiben können. Wissen Sie, sagte sie mir […], die Gründ­lichkeit, mit welcher diese Leute in den Jahren nach der Zerstörung alles verschwiegen, verheimlicht und, wie mir manchmal vorkommt, tatsächlich vergessen haben, ist eigentlich nur die Kehrseite der perfiden Art, in der beispielsweise der Kaffeehausbesitzer Schöferle in S. die Mutter Pauls […] darauf aufmerksam machte, daß die Anwesenheit einer mit einem Halbjuden verheirateten Dame seiner bürgerlichen Kund­schaft unangenehm sein könne und daß er sie daher aufs höflichste, wie es sich verstehe, bitte, von ihrem täglichen Kaffeehausbesuch Abstand zu nehmen.15

In Bernhard Schlinks Erzählung Die Beschneidung (2000) gerät die belastete deutsch-jüdische Ver­gangenheit zum schwelenden Konflikt in der Liebesbeziehung zwischen Andi, einem deutschen Jurastudenten, und der jüdisch-amerikanischen Programmiererin Sarah: „Besondere Vergangenheit? Jeder hat eine Vergangenheit, die für ihn besonders ist. Davon abgesehen wer­den Vergangenheiten gemacht, allgemeine und besondere.“ „Ja, für meine Verwandten haben die Deutschen eine besondere Vergangenheit gemacht.“ Sarah sah Andis Onkel kalt an. […] Sarah schwieg, bis sie einen Tisch gefunden hatten und saßen. „Du bist doch nicht der Meinung deines On­kels?“ „Welcher Meinung?“ „Daß die Vergangenheit ruhen soll und auch ruhen würde, wenn die Juden nicht Unruhe stiften würden.“ „Hast du nicht immer wieder gesagt, daß der Krieg fünfzig Jahre her ist?“ „Also doch.“ „Nein, ich bin nicht der gleichen Meinung wie mein Onkel. Aber so einfach, wie du tust, ist es auch nicht.“

15 W. G. Sebald, Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, 6. Aufl., Frankfurt am Main 2001, S. 74.

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„Wie kompliziert ist es?“ Andi hatte keine Lust mit Sarah zu streiten. „Müssen wir darüber reden?“16

„Müssen wir darüber reden?“ – Schlink verweist hier mit seinem Protagonisten Andi auf die Ab­wehrmechanismen, die im Gespräch über die deutsch-jüdische Vergangenheit auch heute noch unter den jüngeren Leuten bestehen. Von der Imagination, der Einfühlung als Brücke zum Verstehen der Geschichte des Anderen handelt wiederum Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe (2003). Ähnlich wie bei Sebald nähert sich auch ihre autornahe Ich-Erzähler-Figur schrittweise dem Schicksal ihres jüdischen Gegenübers und reflektiert dabei die eigenen Unzu­länglichkeiten und Schwierigkeiten: Schreibe Jeans Geschichte auf, hatte Moshe gesagt. Aber es gab keine Geschichte. Es gab einen Mönch, der nicht an Gott glaubte, es gab einen Brief und einen Unfall und dann ein Mißgeschick. Es gab den Satz: Ich glaube längst nicht mehr an Gott, seit Jahren nicht. Und immer wieder: Wir sind Kain und Abel. Daß Jean seinem [mit den Nazis sympathisierenden] Vater gesagt hatte, eigentlich hieße sein neuer Freund nicht Jean Marie, sondern Moses Fein – war das ein Verrat? War er schuld am Tod von Moshes Eltern? Worauf kam es an? Moshe wollte, daß ich erfinde, was er nicht wußte; daß ich erfinde, woran er sich erinnerte. Lange schien mir, es sei nur Mangel an Konzentration, der mich daran hinderte, seine und Jeans Geschichte zu verstehen. Die Nacht in der Uhlandstraße, im Hotel Bismarck, brach diesen Bann. Ich war dort gewesen. Es ging um seine Eltern, es ging um seinen Freund, aber Moshe sagte nicht, was er dachte und empfand. Es ist nicht mein Fall, sondern deiner; daran hielt er fest, ich wußte, daß sich daran nichts ändern würde, bis ich mit der Geschichte fertig war.17

Und als abschließendes Beispiel aus dem literarischen Stimmraum der jüngeren Zeit sei noch Dagmar Leupolds Roman Nach den Kriegen (2004) erwähnt. In diesem mit autobiographischen Zügen ausgestatteten Roman eines Lebens, so der Untertitel über die Lebensgeschichte ihres Vaters Rudolf Leupold, trägt die Tochter Text-Fundstellen aus dessen literarischem Nachlass, einem Romanfragment, zusammen, um zu zeigen, wie dem Vater hier in Bezug auf das jüdische Gegen­ über einerseits „die Abschätzigkeit, die Möglichkeit der eigenen Sprache“ entgeht, und wie ande­rerseits erst die Präsenz der Juden der eigenen Identität Konturen verleiht. So heißt es in jenem fiktiven Gespräch zwischen dem Protagonisten 16 Bernhard Schlink, Die Beschneidung, in: Ders., Liebesfluchten, Zürich 2000, S. 199–257, hier S. 226f. 17 Katharina Hacker, Eine Art Liebe, Frankfurt am Main 2003, S. 257f.

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Larisch und seinem Onkel, dem Ladenbe­sitzer, über den jüdischen Mitarbeiter Rappaport: „Gut das Rappaport da ist.“ „Das ist es eben nicht! – Aber wenn Du Dich auf Lemberg kaprizierst, muß ich ihn dazugeben – einer muß ja was verstehen, ni wahr – er [der Onkel] lacht trocken auf, „aber gut ist es nicht. Beim nächsten Judenprogrom schmeißen sie den Laden ein, paß’ auf, was ich dir sag!“ Die Herzlosigkeit, mit der einerseits der jüdische Geschäftssinn gelobt und ausgenutzt wird und anderer­seits die Folgen des Judenhasses im nüchternen Schadenskalkül veranschlagt werden, ist so groß, weil trotz allem das Register der Gemütlichkeit gezogen bleibt, Neffe und Onkel fallen immer stärker in den Bielitzer Dialekt, man ist zu Hause, und hier gehören ein wenig Chauvinismus, ein wenig Rührseligkeit und ein we­nig galizische Folklore zum Heimatgefühl, zum regionalen Eintopf.18

Den Anderen in dem, was er ist und darstellt wahrzunehmen und ihm zu erwidern – Scholems Diktum für die Grundvoraussetzungen eines wirklichen deutsch-jüdischen Gesprächs, eines Gegenübers, dieses Defizit scheint auf Ebene der literarischen Diskurse heute tatsächlich mehr und mehr zu einem Thema zu werden. Helmut Gollwitzer hat diesen Bewusstseinsprozess folgendermaßen beschrieben: Aber wenn Scholems Desillusionierung auch für die Mehrheit der Deutschen und für ihre repräsentativen Verbände, für Parteien, Kirchen und Hochschulen zutrifft, so hat doch die Minderheit derer das Recht, sich zu Worte zu melden, […] die es nach 1945 für das Schlimmste halten, daß die Masse der Deutschen, wieder zu Staat und Wohlstand gekommen, ‚gar nichts zu vermissen‘ scheint, die also die vielerlei Verbocktheit und Engigkeit des seitherigen deutschen Lebens darauf zurückführen, daß uns die Juden fehlen, und die – tiefer noch – die Juden neben sich vermissen, weil diese ihnen die prototypischen ‚Anderen‘ waren, ohne die sie sich selbst nicht erkennen können.19

„Die Juden neben sich vermissen“ – was in Gollwitzers Position ebenso wie in den zitierten Text­passagen der zeitgenössischen Autoren deskriptiv erkennbar wird, ist die Einsicht in das enge Wechselverhältnis, das zwischen jüdischer und deutscher Selbstvergewisserung besteht. Eine nervöse Vergewisserung, die vor dem Hintergrund der traumatisierten Vergangenheit ihr Spannungspotential bezieht. Im Hinblick auf das innerliterarische deutsch-jüdische Gespräch, für das hier einmal der entsprechend übergreifende Rahmen der deutschen Literatur anstelle des ansonsten üblichen Binnendiskurses der deutsch-jüdischen Lite­ratur gewählt wird, lässt sich daraus nun folgender theoretischer Begriff für die späteren Text­ 18 Dagmar Leupold, Nach den Kriegen, München 2004, S. 197. 19 Gollwitzer, zitiert nach Schütz 1992, S. 16, Anm. 42.

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analysen gewinnen, der auch bei Gollwitzer fällt: der Begriff des ‚Anderen‘.20 Das jüdische Gegen­über als der Andere – was ist darunter zu verstehen und in welchem Zusammenhang steht diese Zuschreibung mit dem noch zu erläuternden Begriff der Jüdischkeit? Der ‚Andere‘ – Gollwitzers Aussage lässt sich entnehmen, dass das Merkmal der Differenz als zentral für die Mög­lichkeit der Selbstbestimmung angesehen wird. Dabei wird diese Differenz, die das ‚Eigene‘ vom ‚Anderen‘ unterscheidbar macht, jedoch nicht ideologisch-ontologisch auf­geladen, sondern als eine rein funktionale Größe verstanden, als ein herausforderndes Spiegelver­hältnis im Zuge der Selbstvergewisserung und Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangen­heit. Die so verstandene Notwendigkeit der Unterscheidung ist daher ebenso Voraussetzung, den anderen, in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und gelten zu lassen, wie die Notwen­digkeit für Deutsche und Juden, sich in Interdependenz zueinander und in Bezug auf Geschichte zu situieren und, auf Ebene des literarischen Raumes, neu zu (er)finden. Und ‚finden‘ lassen sich obige literarischen Stimmen nur aufgrund jener hier eingenommenen übergeordneten Perspek­tive, die im Hinblick auf Fragen nach der jüdischen Identität auch den nichtjüdischen Umkreis, in­nerhalb dessen sich die jüdischen Stimmen ja artikulieren, in den Blick nimmt. Oder, um mit dem israelischen Autor Yoram Kaniuk zu sprechen: „Jeder Deutsche ist die Antwort auf die unge­stellte Frage eines Juden und umgekehrt jeder Jude ist die Antwort auf die ungestellte Frage eines Deutschen.“21 Ist die Rückbindung jenes Anderen in das Kollektiv aber heutzutage tatsächlich noch an einen ‚Vertrag‘, an einen Dialog zwischen zwei Gemeinschaften, der deutschen und der jüdischen, gebunden? Ist sie in Wahrheit nicht vielmehr längst ein gesellschaftli­cher Prozess, welcher einer Zustimmung der Beteiligten ei­ gentlich gar nicht mehr bedarf? 20 Lange bezeichnete „das Andere“ im Übrigen auch das weibliche Geschlecht, den „dunklen Kontinent“, die dämonisierte Weiblichkeit. Die gender-Forschung hat sich ausführlich mit dieser Stigmatisierung des Weiblichen als dem „Anderen“ beschäftigt. Exemplarisch sei hier, aufgrund ihres damaligen Pioniercharakters für die Forschung, auf die Arbeiten von Judith Butler verwiesen, siehe u. a.: Judith Butler, Bodies that matter, New York 1993 sowie Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 2003 und jüngst: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen der Menschlichkeit, Frankfurt am Main 2009. Für die Literatur sind vor allen Dingen die Werke Simone de Beauvoirs inspirierend und einschneidend gewesen. So u. a.: Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Hamburg 1951 (Frz. Originaltitel: Le deuxième sexe). Leider kann in diesem Kontext die spannende Parallelität zwischen ethnischer und geschlechterspezifischer Diskriminierung nicht hinreichend besprochen werden. Allerdings wird an den entsprechenden Stellen dieser Arbeit, etwa in Zusammenhang mit den Werken Esther Dischereits, auf die Umstände einer doppelten Stigmatisierung als Jüdin und Frau zurückzukommen sein. 21 Yoram Kaniuk, Der letzte Berliner, dt. München 2002, S. 13.

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Diese Frage ist eine ebenso offene wie spannende Frage an die Zeit, in der wir leben. Die Periode der letzten fünfzehn Jahre, die sich mit dem Schlagwort der Globalisierung einerseits und andererseits mit einer gesellschaftlichen Ausdifferenzierung verbindet, die eine kulturelle Heterogenität mehr und mehr zu­lässt, wird für die Zeit nach 1989 historisch datierbar durch den Fall der Mauer, die deutsche Wiedervereinigung, das Ende des Kalten Krieges und die Öffnung Europas. Über vierzig Jahre und damit mehr als eine Generation nach dem von den Deutschen unter Hitler verübten Genozid an den Juden, der Shoah,22 sind globale und binäre Oppositionsstrukturen, die ein Innen und Außen, ein ‚Wir‘ und ein ‚Die‘ und damit den ‚Anderen‘ fixieren und festlegen, innerhalb der abendländisch-westlichen Gesellschaften auf den ersten Blick kaum noch erkennbar und sagen daher auch nur sehr bedingt etwas darüber aus, wer jemand eigentlich ist.23 Dies hat, wenn auch nicht ihre direkte Auflösung, so doch eine Schwächung dieser ‚großen‘ Differenzierung zur Folge. Dazu der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut: Vielmehr nimmt die Zahl der Ausschließungskriterien in dem Maße zu, wie unsere Welt in Fragmente zer­fällt. Ästhetischer und textiler Rassismus, lokaler Fremdenhaß, sprachliche Abschirmung, Trennung nach Alter, Rasse, sozialer Schicht, Lebensstil – diese ganze bunte Mischung von Anlässen für unseren Argwohn ersetzt allmählich die eine große Unterscheidung zwischen dem Franzosen und seinem Anderen.24

22 Hier, im Kontext der Rede über Jüdischsein wird das hebräische Wort „shoah“ (= verbrennen) als spezifischer und explizit jüdischer Begriff für den jüngsten Völkermord an den Juden verwendet und der allgemeineren, englischen Bezeichnung „Holocaust“ vorgezogen (da Holocaust auch nukleare Vernichtung meint und daher ebenso in Bezug auf Hiroshima verwendet wird), während „Auschwitz“ als Ort des größten Vernichtungslagers in Polen insbesondere in den akademischen Diskursen inzwischen zur Chiffre und zum Kürzel einer neuen Zeitrechnung im Zeichen der Zäsur geworden ist: ‚nach Auschwitz’. Zum terminologischen Problem siehe auch das Vorwort von Eberhard Jä­ckel zu: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Deutsche Ausgabe hrsg. von Eberhard Jäckel, Peter Longerich und Julius H. Schoeps. Band 1: a-g. Berlin o. J. (1993); S. XVI-XIX. 23 Natürlich könnte man nach den Terror-Ereignissen, die sich mit dem Datum „09/11“ verbinden, wiederum argumentieren, dass eine Wiederkehr der historischen Dichotomien Morgenland/Abendland oder Christentum /Islam zu verzeichnen ist und im Zuge der religiösen Radikalisierung die Kategorie des ‚Anderen‘ als Kriterium des Ausschlusses und moralischen Urteils wieder anschlussfähig geworden ist. Diese Tendenzen bestehen natürlich nebeneinander und können in diesem Kontext lediglich als zeitgeschichtlicher Hintergrund genannt werden, während Finkielkrauts Aussagen, die sich speziell auf die ‚jüdischen Fragen‘ richten, konkreter und daher in diesem Kontext relevanter erscheinen. 24 Alain Finkielkraut, Der eingebildete Jude, (Le Juif imaginaire, Paris 1980), dt. München 1981, S. 101.

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Lässt sich Finkielkrauts These so auf die deutsche Gesellschaft, auf das Verhältnis von Deutschen und Juden übertragen? Oder leistet die in Deutschland aufgrund der wechselseitigen Traumatisierung weiterhin aufrechterhaltene und hier mit Scholem so klar herausgestellte Entgegensetzung von Deutschen und Juden auch eine Form von Orientierung? Könnte man die Aussage wagen, dass das jüdische Gegenüber im Grunde als ‚der letzte Andere‘ einer deutschen Mittelstandsgesellschaft fungiert, weswegen die Shoah im Kontext der vielen historischen Dis­ kussionen der jüngeren Zeit oftmals als eigentlicher Gründungsmythos des neuen vereinigten Deutschlands gilt? Oder tritt heute nicht bereits eine als ethnisch, kulturell und religiös ‚anders‘ klassifizierte, weil sichtbare Gruppierung wie ‚die Türken‘ in Deutschland an die Stelle des Anderen?25 Wie sehr brauchen wir Dichotomien? Dienen sie der Angstbewältigung? Oder im Hinblick auf den Kontext der deutsch-jüdischen Selbstvergewisserung gefragt: Trägt die soziale Ordnung der Erinnerung, die einer Fragmentierung der Gesellschaft entgegenwirkt, durch die Dichotomisierung von Opfern und Tätern, Juden und Deutschen gewissermaßen zu einer beruhigenden Stabilisierung von Identitätsentwürfen in der neuen Bundesrepublik bei? Und welcher Stellen-, welcher Eigenwert kommt den literari­schen Diskursen in diesem hochkomplexen Kontext einer öffentlichen Verständigung über das, was denn deutsche, was denn jüdische Identität sei, über­haupt zu, nachdem sich die Visionen einer gemeinsamen kulturellen ‚Sendung‘, einer deutsch-jüdischen Symbiose als Fiktion bzw. als Projektion erwiesen haben? Dieser komplexe Fragenkatalog steht durchaus präsent im Hintergrund jener unauflösbaren Am­bivalenz des Begriffs vom ‚Anderen‘, der einerseits die historisch gewordene Differenz von Juden und Deutschen weiter festschreibt, andererseits jedoch eine Form von Sichtbarkeit und Identität, wenn auch ex negativo, garantiert. Dass diese Sichtbarkeit nun verloren zu gehen droht, hat auch deutli­ che Auswirkungen auf das Schreiben der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Autoren und ihre Formen authentischen Sprechens. Dazu der amerikanische Literaturwissenschaftler Sander L. Gilman: 25 Der spannende wie erhellende Vergleich zwischen den Bedingungen, die sich etwa einem deutschjüdischen ‚Anderen‘ und einem deutschtürkischen ‚Anderen‘ in der deutschen Gesellschaft heute stellen, kann in diesem Kontext leider nicht angemessen besprochen werden. Sander Gilman hat bereits sehr früh, zu Beginn der neunziger Jahre in seiner Studie zum jüdischen Selbsthass auf mögliche Parallelen hingewiesen und bemerkt, dass die Türken die Juden als „Gruppe der Anderen“, als „Gegenbild der Deutschen“ langsam ablösen. Vgl. dazu das Sonderheft „Minderheiten in Deutschland“, New German Critique 46 (1989) sowie als grundlegendes Werk zur neuen deutschtürkischen Literatur: Leslie A. Adelson, The turkish turn in contemporary german literature, New York 2005. Siehe auch: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film, hrsg. von Hendrik Blumenrath, Münster, Aschendorff 2007.

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Des Holocaust als Hauptgegenstand eines selbstdefinierten, authentischen Sprechens über die Andersartig­keit der Juden beraubt, müssen Juden im heutigen Deutschland nach anderen Modellen suchen. Sie haben die Entfernung vom früheren Modell, von der Verinnerlichung einer außergewöhnlichen Sichtbarkeit in­nerhalb der Kultur der Diaspora, gezwungenermaßen vollzogen. Heute steht der Prozess der Verinnerli­chung in Zusammenhang mit der Unsichtbarkeit der an den Rand gedrängten Juden.26

Im Anschluss an Gilman betont die literaturwissenschaftliche Forschung daher konsequenter­weise den doppelten Bruch, der sich für die zeitgenössischen deutsch-jüdischen Autoren zum einen aus der Zäsur der Shoah selbst und zum anderen aus dem Bruch mit der eigenen Tradition ergibt. Dieter Lamping zufolge knüpft etwa Schindel „nicht an die Tradition an, sondern an deren Bruch, den er zu einem Teil seiner Identität macht“. Er betone dabei den „Riss in der eige­nen Kultur“.27 In gleicher Weise argumentiert Thomas Nolden, der in seiner Mono­ graphie Junge jüdische Literatur unter der sprechenden Überschrift „Bilder ohne Vorbilder“ zu fol­gendem Resümee kommt: Immer wieder wird das Begehren der jungen jüdischen Literatur sichtbar, sich in einer jüdischen Tradition von Autoren, Stilen und Gattungen bewegen zu können, die ihr letzten Endes jedoch unzugänglich bleibt. […] Der aus der eigenen Erfahrung gezeugte Ton, der etwa die Gedichte Paul Celans auszeichnet oder die Grotesken Edgar Hilsenraths legitimiert, läßt sich nicht erben oder er­borgen, sondern allenfalls zitieren. […] Die Shoah markiert aber nicht nur eine Kluft in der unmit­telbaren Generationsfolge der schreibenden Generationen, sondern unterbricht darüber hinaus auch die ästhetische Entwicklungslinie zwischen der Gegenwart und den Vertretern der literari­schen Moderne, die vor 1933 schrieben.28

Eine frühe erste Reaktion auf die veränderte Lebenssituation seitens der jungen jüdischen Generation bestand Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in der satirisch-kritischen Selbstdarstellung jüdischen Lebens in Deutschland. Eine 26 Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, (orig. Jewish Self-Hatred; 1986) dt. von Isabella König, Frankfurt am Main 1993, S. 25. Hervorhebung A. H. Ich zitiere in diesem Falle bewusst nach der später erschienenen deutschen Ausgabe, da Gilman hier, wie er selbst in seinem Vorwort bemerkt, einige Abschnitte hinzugefügt hat, „die die Untersuchungen auf den neuesten Stand bringen und den Zusammenhang darstellen“. Ebda., S. 10. 27 Dieter Lamping, „Deine Texte werden immer jüdischer.“ Robert Schindels Gedicht „Nachthalm“ (Pour Celan), in: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah, hrsg. von Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke, ZfdPh Beiheft 11 (2002), S. 29–42, hier S. 42. 28 Thomas Nolden, Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart, Würzburg 1995, S. 79f.

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Haltung, für die beispielhaft das Werk von Rafael Seligmann steht.29 Auf diese Weise, so auch Hanni Mittelmann, „wurde das ungeschriebene Gebot der jüdischen Unsichtbarkeit gebrochen und damit [andererseits] auch die Solidarität mit der jüdischen Gemeinde aufgekündigt“.30 Obwohl die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde und zur jüdischen Familie insgesamt, so formuliert es Rafael Seligmann selbst zugespitzt, „in Notsituationen durchaus seine Berechtigung haben mag, erwies sie sich im Alltag oft als paranoide Last“.31 Für diese junge Generation mit ihrem „hybriden Identitätsverständnis“, so lautet entsprechend auch das Resümee von Hanni Mittelmanns Überlegungen zur aktuellen deutsch-jüdischen Situation, haben „die konventionellen jüdischen Selbstbilder, die von der Elterngeneration als Identifikationsmuster angeboten werden, ihre Bedeutung verloren. […] Jüdische Identität wird von dieser jüngsten Generation mit ihren multikulturellen nationalen und lingustischen Identifikationen postmodern rekonstruiert“.32 Wie aber äußern sich diese Veränderungen jenseits einer – letztendlich – affirmativen Zustandsbeschreibung des Nicht-mehr-Tragbaren in der Literatur? Wie reagieren die Autorinnen und Autoren auf die Herausforderung eines veränderten gesellschaftlichen Raums, auf die daraus resultierende Unsichtbarkeit? Haben sie tatsächlich, wie Gilman, Lamping und Nolden behaupten, die Entfernung vom früheren Diaspora-Modell der extrapolierten Sichtbarkeit vollzogen? Bilder ohne Vorbilder also? Oder postmoderne Rekonstruktionen, wie es Mittelmann behauptet? Was sagen die literarischen Texte? „Ihr habt mich getaucht in diese immerwährende Schwärze,“ heißt es bezeichnenderweise in ei­nem Gedicht von Esther Dischereit aus dem Jahre 1996.33 Und Maxim Biller lässt seinen Protago­nisten Warszawski in der Erzählung Harlem Holocaust (1990) sagen: „Ich bin […] ein berechnender Schurke, ein cleverer Jid,

29 Siehe exemplarisch: Rafael Seligmann, Rubinsteins Versteigerung, München 1991. Seligmann führt hier in satirisch-komischem Tonfall vor, wie sein Protagonist in einem Teufelskreis der Negativ-Stereotypisierungen als Jude gefangen ist. Aber auch Seligmanns essayistische Arbeiten, die sich durch einen pointierten Ton auszeichnen, sind in diesem Kontext als sehr lesenswert zu empfehlen. Siehe u. a.: Rafael Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis. Hamburg 1991. 30 Hanni Mittelmann, Deutsch-jüdische Literatur im Nachkriegsdeutschland. Das Ende der Fremdbestimmung? In: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag, hrsg. von Mark H. Gelber, Jakob Hessing und Robert Jütte, Tübingen 2009, S. 429- 442; S. 432. 31 Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung, S. 15. 32 Mittelmann 2009, S. 439. 33 Esther Dischereit, Als mir mein Golem öffnete. Gedichte, Passau 1996, S. 16.

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ein Literatur-Shylock wie Kafka, dieser Schweine­hund!“34 Während Robert Schindel in seinem Roman Gebürtig (1992) schreibt: Ach, du willst sein wie er. Schon wieder einmal. Oder wie sie. Und Mascha schaut mit versperrtem Gesicht zu Christiane Kalteisen hinüber. Demant wirft seinen Kopf zurück, seine Stimme sirrt etwas bei den jewei­ligen Silbenanfängen: Dürfen unsere Juden gelegentlich ein bißchen tot sein oder müssen sie auch als Kno­chenmehl ständig gespitzt bleiben? Mascha schüttelt den Kopf, öffnet die Lippen, aber statt der dunkelsilbrigen Wörter kommt nichts, sondern die Tränen fallen ihr in den Mund zurück.35

Und mit einer Schlüsselszene beginnt schließlich auch der Roman Alles, alles Liebe! (2000) von Barbara Honigmann: „Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war ‚Zigeuner’. Jemand rief es mir nach, kaum daß ich ein paar Schritte aus dem Bahnhof getan hatte, auf der Suche nach meinem Hotel. Aber soviel ich mich auch umgesehen habe, da war kein Mensch und kein Hotel, weit und breit.“36 Diese exemplarisch ausgewählten Stimmproben lassen bereits die Deutung zu, dass die Autoren, entgegen der herrschenden Forschungsmeinung, durchaus weiterhin die jüdische Identität ihrer Figuren durch die tradierten Elemente der außer­gewöhnlichen Sichtbarkeit (zumeist physiognomische Merkmale des ‚Dunklen‘) oder, wie bei Schindel, der Hörbarkeit herausstellen sowie, siehe Biller, das Spiel mit den bekannten Stereotypen bemühen, um Jüdischsein als Anderssein zu bezeugen. „Ich ziehe mir die Farben / aus der Haut / lege meine Blöße aus“37 – ein weiterer signifikanter Vers aus Dischereits Lyrik, der zeigt, dass weniger das Problem der Unsichtbarkeit selbst, als das Bedürfnis nach Unsichtbarkeit Gegenstand des Schreibens ist. Oder verbirgt sich hinter dem Festhalten an tradierten poetischen Mustern und Bildern aus der Diaspora-Zeit eine Form der Kompensation? Dient die (Neu-)Erfindung der zeitgenössischen jüdischen Figuren als ‚dunkel‘ und ‚anders‘ im Grunde einer eigenen Mystifizierung, der Überspielung ihrer faktischen Unsichtbarkeit und Randständigkeit? Oder lässt sich vielleicht noch eine ganz andere Antwort finden, die in der Auffassung dessen, was denn Jüdischsein eigentlich bedeutet, begründet liegt? Wie also wird jüdische Identität heute literarisch bezeugt? Oder anders ge­f ragt: Wessen wollen sich die zeitgenössischen literarischen Redeweisen über Jüdischsein verge­wissern? 34 Maxim Biller, Harlem Holocaust, Köln 1990, zitiert nach der Ausgabe 1998, S. 47. 35 Robert Schindel, Gebürtig, Frankfurt am Main 1992, zitiert nach der 1. Aufl. 1994, S.  16. Hervorhebung A. H. 36 Barbara Honigmann, Alles, alles Liebe!, München/Wien 2000, S. 5. 37 Dischereit 1996, S. 23.

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„Doch unsere Jüdischkeit hatte keine eigene Sub­stanz, unsere Jüdischkeit war bloß eine be­stimmte Art zu lachen, zu den­ken, zu widersprechen, sie war Geschichten-Erzählen und Tee-durch-ein-Stück-Würfelzucker-Schlürfen.“ So Maxim Biller in seinem Essayband Deutschbuch (2001).38 In Barbara Honigmanns Selbstporträt als Jüdin (1992) heißt es: „Fragte man mich, ob ich deutsch oder jüdisch sei, würde ich schon deshalb jüdisch sagen, um mich von den Deutschen abzugren­zen. Das deutsche Volk steht ja nicht in Frage, der Begriff vom jüdischen Volk aber bleibt doch immer im Vagen und Unge­ wissen.“39 Und schließlich Esther Dischereit in ihrem Essayband mit dem sprechenden Titel Übungen, jüdisch zu sein (1998): „Jüdischkeit in der Bundesrepublik – bitte pur. Gesellschaftspolitisches Diskurs­thema, nicht weniger. Alle anderen Zustände des Jüdischseins minimieren die Jüdischkeit.“ 40 Und: „Ich bin mir der Demonstration der Jüdischkeit dabei bewußt, befangen in der Umarmung des Nega­ tiven.“41 Hier taucht nun ein für den vorliegenden Fragehorizont zentraler Begriff auf, der außerhalb der akademischen Kreise einerseits zu Irritationen führt, und über den man andererseits innerhalb der wissenschaftlichen Verständigung leicht hinwegliest: Jüdischkeit. Dass man dazu neigt, über dieses Wort hinwegzulesen, mag sicherlich daran liegen, dass sich sein Sinn ohne Weiteres erschließen lässt, und zwar durch eine Herleitung über das verwandte Wort Jüdischsein. Jüdischkeit aber ist weniger ein allgemeiner Sammelbegriff für Jude-Sein, sondern rekurriert vielmehr auf eine ge­lebte, mit Inhalten gefüllte jüdische Identität. Schaut man also genauer hin, lassen sich dreierlei signifikante Beobachtungen festhalten: Erstens kommt dem Wort Jüdischkeit das Charakteristikum eines Zeitworts zu, das, ausgehend von den literarischen Diskursen der neunziger Jahre, an der Schwelle des einundzwanzigsten Jahrhunderts nach und nach Einlass in die breitere Öffentlichkeit findet. Zweitens ist Jüdischkeit heute eine lexikalische Leer­stelle, und, drittens, ein Wort, das aus der Übersetzung zu uns kommt und zwar von dem englischen Jewishness. Im „Finde­wörterbuch“ des Internets, dem „Fundort für Wörter, die nicht im Duden stehen“, findet sich im Jahr 2003 entsprechend ein Eintrag zum Begriff Jüdischkeit.42 „Was ist Jüdischkeit?“ fragt daher einige Jahre später auch Klaus D. 38 Biller, Deutschbuch. Essays, München 2001, S. 332. 39 Barbara Honigmann, Selbstporträt als Jüdin, 1992, zitiert nach Helene Schruff, Barbara Honigmann, in: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, hrsg. von Andreas B. Kilcher, Stuttgart 2000, S. 266–268, hier S. 266. 40 Esther Dischereit, Kein Ausgang aus diesem Judentum, in: Dies., Übungen, jüdisch zu sein, Frankfurt am Main 1998, S. 17f. 41 Ebd., S. 19. 42 Siehe: www.findewort.de

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Eberlein in seiner 2006 erschienen Studie mit einer Datenerhebung zur jüdischen Identität und ihrer Entwicklung. Eine Meinungsumfrage, in der jüdische Jugendliche in Israel und Deutschland auf Grundlage eines detaillierten Fragenkataloges interviewt werden.43 Interessant an dieser Studie, die ja nicht literarische Identitätsentwürfe, sondern einen historischen Abriss der Entwicklung jüdischer Identität von den Anfängen bis zur Gegenwart zum Gegenstand gewählt hat, ist der steigende Grad an Fiktionalität in den Aussagen der Befragten, je weiter diese sich von einer Definition, die sich aus der religiösen Zugehörigkeit speist, entfernen.44 Mag dieser Umstand einer modernen flirrenden Form von Identitätsempfinden generell entsprechen, so ist Pluralität an sich noch kein hinreichender Grund für das Vakuum, das den Begriff der Jüdischkeit zu umgeben scheint. Die Uneinigkeit über die ‚richtige‘ Auslegung religiöser Regeln und Riten, die Ausdrucksweisen eines angemessenen jüdischen Lebens etwa sind Gegenstände eines unablässigen Debattierens, das für das Judentum selbst charakteristisch ist. Mit dem Aufkommen des Reformjudentums in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Jüdischkeit in den innerjüdischen Auseinandersetzungen über Chancen und Gefahren der Liberalisierung und der Assimilation dementsprechend noch durchaus geläufig,45 bis das Wort mit der Shoah gänzlich aus dem deutschen Sprachgebrauch verschwand, für Generationen zur verbalen Leerstelle wurde und 43 Klaus D. Eberlein, Jüdische Identität und ihre Entwicklung. Was ist Jüdischkeit? Mit den Ergebnissen einer Meinungsumfrage unter jüdischen Jugendlichen in Israel und in Deutschland, Berlin 2006. 44 So ist für mehr als die Hälfte aller in Deutschland befragten jüdischen Jugendlichen die jüdische Religion „nur ein Teil“ ihres Jude-Seins. Hier zeigt sich, so Eberlein, ein „wenn auch nicht unbedingt ausgesprochenes, so doch vorhandenes Gefühl, das Judentum als Volk zu sehen oder als Kultur und nicht nur als Religionsgemeinschaft“. S.  291f. [Hervorhebung A. H.] Entsprechend zeitigen Ergebnisse der Umfrage unter den Jugendlichen in Israel und Deutschland auch eine als „eng“ empfundene Verbundenheit zwischen den Diaspora-Juden, also denjenigen, die außerhalb des gelobten Landes leben und denen, die in Israel beheimatet sind. Das Leben in der Fremde wird also laut Eberlein nicht mehr generell als ein ‚Abstieg‘ abgewertet. Seit 1948 steht vielmehr allen Personen jüdischer Herkunft ungeachtet ihrer religiösen oder politischen Einstellung die Einwanderung nach Israel jederzeit offen („ständige Aliyah“). 45 „Jüdischkeit, alte Jüdischkeit war zum Hohn und Spott geworden“, heißt es etwa in der „Wochenschrift“ von 1890, S. 43. Und Hans Otto Horch verweist zusammen mit Till Schicketanz unter dem Titel „Volksgefühl und Jüdischkeit“ auf die Bedeutung von Zeitschriften wie der Alljüdischen Revue „Die Freistatt“ für die innerjüdischen Identitätsdebatten in den 20er Jahren, in denen über Jüdischkeit offen gestritten wurde. Siehe: Hans Otto Horch, Till Schicketanz, „Volksgefühl und Jüdischkeit“ – Julius und Fritz Mordechai Kaufmanns Alljüdische Revue „Die Freistatt“, in: Wolfgang Hackl, Kurt Krolop (Hrsg.), Wortverbunden – Zeitbedingt. Perspektiven der Zeitschriftenforschung, Innsbruck, Wien, München 2001. Auch gibt es in Wilhelm Wanders Deutschem Sprichwörter-Lexikon einen Eintrag die Jüdischkeit betreffend, Bd. 2, S. 1041–1042, [1867–1880], während das Grimmsche Wörterbuch lediglich einen Eintrag zur „Jüdischheit“ verzeichnet.

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schließlich zum Findewort im Internet avancierte. Dass Jüdischkeit Ende der neunziger Jahre in den Selbstauskünften deutsch-jüdischer Autoren scheinbar unvermittelt wieder auftaucht, stellt zunächst einmal eine Übersetzungsleistung dar. Während eine Literatur-Recherche unter dem Suchbegriff Jüdischkeit etwa bis heute nur wenige indirekte Verweise einbringt, im Gegensatz zu einer schier unübersichtlichen Publikationsflut zum Themenkreis „Judentum“ und „Juden“46 wird man im angloamerikanischen Raum unter Jewishness direkt ausreichend fündig.47 Der Transfer aus dem Englischen ist zudem bereits in einem Eintrag der „Jewish Chronicle“ aus dem Jahre 1904 historisch belegt. Dort heißt es: „Jüdischkeit is nowadays used, in a sense somewhat akin to the English ,Jewishness‘, by the German Orthodox to signify strict adherence to the ritual laws und complete acceptance of the Orthodox principles.“48 Im Ringen um eine Rückgewinnung von substantiellen jüdischen Lebensinhalten und verschütteten Traditionen taucht Jüdischkeit daher interessanterweise zuerst bei denjenigen zeitgenössischen deutschjüdischen Autorinnen und Autoren als ein Schlüsselbegriff auf, die sich wie Esther Dischereit und Maxim Biller intensiv mit der amerikanisch-jüdischen Literatur und den von den USA ausgehenden cultural studies auseinandergesetzt haben. Man hat es daher bei den Werken dieser Autorinnen und Autoren bereits apriori vor jeder Geschichte mit einer Übersetzungsleistung zu tun; mit einem verbalen Hinübersetzen, das eine Gruppenzugehörigkeit signalisiert, die sich jenseits der Orthodoxie formulieren lässt. Dazu noch einmal Klaus Eberlein: Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa, wo die Juden als Religionsgemeinschaft gesehen werden, werden die Juden in Großbritannien, wie auch in den USA, als Gruppe irgendwie 46 An den entsprechenden Stellen in dieser Arbeit wird immer wieder auf die einschlägige Literatur verwiesen werden. An dieser Stelle seien ergänzend zu der Studie von Eberlein stellvertretend noch einige der neueren Arbeiten zum generellen Thema Jüdische Identität genannt: Jüdische Studien und Jüdische Identität, hrsg. von Beate Neumeier, Heidelberg 2008; Arno Herzig, Cay Rademacher (Hrsg.), Die Geschichte der Juden in Deutschland, (Schriftenreihe Bundeszentrale für Politische Bildung Bd. 692), Bonn 2008; Peter Haber, Jüdische Identität und Nation, Köln 2006; Richard Chaim Schneider, Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute, Berlin 2000. 47 Exemplarisch seien hier genannt: Jewishness: Expression, Identity, and Representation, ed. by Simon J. Bronner. Jewish Cultural Studies. Vol. I, Portland, Oregon 2008; Contemporary Jewries: Convergence and Divergence, ed. by Eliezer Ben-Rafael, Yosef Gorny and Yaacov Ro’i, Leiden 2003; Todd M. Endelman, memories of Jewishness: Jewish Converts and their Jewish Pasts, in: Elisheva Carlebach, John M. Efron, David M. Myers (ed.), Jewish History and Jewish memory. Essays in Honour of Yosef Hayim Yerushalmi, Hanover and London (Brandeis university Press) 1998, S. 311–238. 48 Jewish Chronicle, March 18, 1904, p.20. Siehe auch der Eintrag „Yiddishkeit“ in der Jewish Encyclopedia unter: http://www.jewishencyclopedia.com.

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eigenständiger Art gesehen, sozusagen als eine gewissermaßen „nationale Minderheit“. Diese Betrachtung erleichtert ihnen einerseits die Integration (in einem Staat mit Trennung zwischen Staat und Religion) und führt andererseits eine Situation herbei, in der (wie einschlägige Beobachter formulierten) der Grad der Zugehörigkeit dann „weit mehr an ethnische Identität als an Glauben gebunden ist. Für die meisten Juden ist religiöse Observanz eine Art, sich mit der jüdischen Gruppe zu identifizieren, weniger ein Ausdruck jüdischen Glaubens“. Es zeigt sich hier also eine jüdische Identität, die immer weniger auf religiöser Zugehörigkeit beruht und immer mehr auf ethnischen Reflexen.49

„Kultur und Tradition waren die einzigen Faktoren“, so wiederum Stephanie Tauchert für die zweite Generation der in der DDR lebenden Juden, „die […] überhaupt als Elemente einer ‚gelebten Jüdischkeit‘ benannt wurden, über welche die Weitergabe von Judentum und jüdischer Identität an die nächste Generation möglich schien“.50 Auch Taucherts 2007 publizierte historisch angelegte Untersuchung zur jüdischen Identität von 1950 bis 2000, deren Quellenanalysen sich dankenswerterweise sowohl auf die Bundesrepublik als auch auf die DDR beziehen, formulieren deutlich das Desiderat, dass eine „auf breite Quellenbasis gestützte Untersuchung, die den Gesamtkomplex der Entwicklung jüdischer Identität in Nachkriegsdeutschland über längere Zeiträume thematisieren“ bislang noch aussteht.51 Taucherts Studie selbst leistet hier einen wesentlichen Beitrag, auch ihre Untersuchungen bestätigen, dass jenseits einer religiösen Einbindung über die jüdischen Gemeinden die Jüdischkeit ein notwendiges Bindeglied zwischen privat empfundener Zugehörigkeit zum Judentum und einer Gruppenzugehörigkeit darstellt, innerhalb der die Anlehnung an die jüdische Kultur einen wesentlichen Faktor ausmacht, ohne allerdings genau bestimmt zu sein. An dieser Stelle kommt meiner Ansicht nach der Literatur, den literarischen Diskursen eine wesentliche Funktion zu, deren Bedeutung für die Konstitution von Jüdischkeit bislang unterschätzt wird. Denn es geht darum, noch einmal mit Tauchert, „tragfähige, positive Werte zu benennen, die Ersatz für die Orientierung jüdischen Selbstverständnisses an der Erfahrung des Holocaust und an Israel sein könnten“.52 In seiner ambiguen Eigenschaft: sowohl ein dynamischer Identitätsbegriff als auch eine lexikalische Leerstelle zu sein, kommt dem Wort Jüdischkeit daher eine gewisse programmatische Bedeutung zu, und zwar gerade weil es den jüdischen Identitätsbe­stimmungen nach 1945, die sich „auf Grund von Auschwitz“53 zu49 Eberlein, S. 275f. 50 Stephanie Tauchert, Jüdische Identität in Deutschland. Das Selbstverständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDR 1950 bis 2000, Berlin 2007, S. 326. 51 Ebd., S. 322. 52 Ebd. 53 Diese Formulierung prägte als erster Peter Szondi in Rekurs auf Adornos Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch: Szondis Variation auf diesen Satz prägte

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meist ex negativo gebildet haben, die Auf­forderung nach substantiellen Inhalten entgegensetzt, dem Wiederfinden und Erfinden einer Tradition auch jenseits einer orthodoxen religiösen Zuschreibung. Aufgaben und Herausforderungen einer Umbruchzeit, jener nervösen stillen Tage also, deren literarische Umschriften und Anverwandlungen von Jüdischkeit sich ihre Ausstrahlung auch dann noch bewahren werden, wenn sich dieser Begriff in den kommenden Jahren, vielleicht schon parallel zu dieser Studie, etabliert haben mag. Den Anderen in dem, was er ist und darstellt gelten zu lassen – eine positive Bestimmung des jüdischen Gegenübers als Anderem mittels literarischer Konstruktionen von Jüdischkeit, so ließe sich daher ganz konkret die Herausforderung eines neuen authentischen Sprechens über Jüdischsein heute bezeichnen, so wie es in den Auskünften der Autorinnen und Autoren bereits indirekt anklingt, und wie es die weiter oben zitierten Textbeispiele, welche die negative Exponiertheit (die Dunkel-Metaphorik) ihrer Figuren betonen, als Mangel noch aufzeigen. Denn den ‚deutschen‘ und den ‚jüdischen‘ literarischen Diskursen ist bei all ihrer unterschiedlichen Motivation und Implikation gemeinsam, dass sie, siehe die zitierten Passagen bei Sebald, Schlink, Hacker und Leupold – sei es direkt, sei es indirekt – einen Umgang mit jener Leerstelle Jüdischkeit dokumentieren. Hier schließt die These der vorliegenden Arbeit an: Nach 1989 ist in der deutschen Literatur im Hinblick auf das deutsch-jüdische Gespräch ein Paradigmenwechsel zu beobachten, der sich von der Jüdischkeit als Leerstelle zur Jüdischkeit als Text vollzieht. Der Aufbau und die Argumentationsstruktur der Arbeit gliedern sich dabei in drei Teile. Der erste Abschnitt Das jüdische Gegenüber im deutsch-jüdischen Gespräch: Der ‚Andere‘ besteht aus einem Systematisierungskapitel, in dem die Konstellationen jüdischer Identitätsbildung im deutsch­sprachigen Raum, das herausfordernde Spiegelverhältnis zwischen Deutschen und Juden unter ihren historisch-gesellschaftlichen Bedingungen im Rekurs auf die signifikanten For­ schungsstimmen überblicksartig erfasst werden, und zwar im Hinblick auf ihre für die deutsch-jüdische Literaturgeschichte wichtigsten Stationen. Einen so weiten literarhistorischen Stimmraum zu öffnen ist schon deswegen notwendig, um später die Frage nach der Traditions­verbundenheit beziehungsweise nach dem Traditionsbruch des zeitgenössischen Schreibens über Juden und Jüdischsein angemessen beantworten zu können. Seit dem ‚Versprechen‘ der Aufklärung, wo für die Juden der Begriff des ‚Anderen‘ an die Stelle des ‚Fremden‘ tritt, ist dieser Begriff von einer unauflöslichen er in Auseinandersetzung mit Celans Gedicht „Engführung“: Nach Auschwitz, so Szondi, ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz. Peter Szondi, Celan-Studien, Frankfurt am Main 1972, S. 102f. Dazu auch: Dieter Lamping, Literatur ‚auf Grund von Auschwitz‘. Das Beispiel Grete Weil, in: Ders., Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1998, S. 99ff.

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Ambivalenz zwischen seiner Eigenschaft als Identitätsmerkmal und Kriterium des Ausschlusses geprägt (Kap. I.1.). Durch den Nationalsozialismus erfolgt dann eine Pervertierung, durch die historische Faktizität der Shoah eine endgültig negative Festschreibung des jüdischen Gegenübers als dem ‚Anderen‘. Die Zäsur der Shoah hat für die Zeit nach 1945 im deutschsprachigen Raum zudem eine Stilllegung der öffentlichen Rede über Jüdischsein zur Folge – und zwar in Form von Diskursen, die sich zusammenfassend als Opfer/Täter-Dichotomien bezeichnen lassen, und von denen die „negative deutsch-jüdische Symbiose“ (Dan Diner) die prominenteste darstellt (Kap. I.2.). Im Zuge einer neuen literarischen Selbstvergewisserung, die in den neunziger Jahren immer deutlicher zutage tritt, wird die Kategorie des ‚Anderen‘ schließlich neu überdacht. Jüdischkeit fungiert dabei als Code, als Signal eines Defizits sowie als Herausforderung, nach einer neuen authentischen Sprache zu suchen und den Begriff des ‚Anderen‘ positiv umzubesetzen. In konstruktiv-kritischer Auseinandersetzung mit der Forschung, die aus der Binnenperspektive auf den Diskursraum der deutsch-jüdischen Literatur vor allen Dingen ein Schreiben im Zeichen der Zäsur betont, sowie in Beschäftigung mit den Selbstauskünften der Autoren, werden diesbezügliche Positionen diskutiert. Die Auswahl der zu analysierenden Werke von Schindel, Sebald, Hacker, Honigmann und Biller, anhand derer jener behauptete Paradigmenwechsel von der Jüdischkeit als Leerstelle zur Jüdischkeit als Text exemplarisch dokumentiert und mit konkreten poetischen Aus­sagen gefüllt werden soll, wird zudem näher begründet (Kap. I.3.). Nach dem Systematisierungskapitel, das um die theoretische, historische und begriffliche Er­schließung der Kategorie des Anderen bemüht ist, resümiert der zweite Teil Das Erbe. Jüdischkeit als Leerstelle die literarischen Folgen, das ‚Erbe‘, das die Zäsur der Shoah hinterlassen hat. Gleichzeitig doku­mentiert es den Umgang der Nachkriegsautoren mit jener Leerstelle Jüdischkeit sowie die Schwierigkeit, an die jüdischen Stimmen, Themen und Figuren der deutschen Literatur vor 1933 vermeintlich nicht anknüpfen zu können. Unter dem Stichwort ‚Deutsche Diskurse‘ wird hier der Frage nachgegangen, weswegen Juden als Juden in der deutschen Literatur nach 1945 eigentlich nicht vorkommen (Kap. II.1.). Im Anschluss wird diskutiert, welche Positionen demgegenüber die ‚Jüdischen Diskurse‘ einnehmen und auf welche Weise sich die sogenannte „Literatur der Zeugenschaft“ für die Leerstelle Jüdischkeit Gehör zu verschaffen sucht (Kap. II.2). Gestützt auf die Thesen Alain Finkielkrauts zum Phänomen des „eingebildeten Juden“ wird am lyrischen Werk Esther Dischereits exemplarisch die Fiktionalisierung des Juden als ‚Anderem‘, das Verhaftet-Sein im tradierten Diaspora-Modell seiner extrapolierten Sichtbarkeit analysiert (Kap. II.3.). Auf diese Weise sollte der literarische Boden bereitet sein, auf dem sich be­sagter Paradigmenwechsel zur Jüdischkeit als Text seit den neunziger Jahren vollzieht.

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Unter dem poetologischen Stichwort Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text wird im dritten, das heißt im textanalytischen Hauptteil dieser Arbeit dann der These von einer neuen Rede über Jüdischsein im Diskursraum der deutschen Literatur nachgegangen. Eingeleitet werden die Lektüren mit einer kurzen Diskussion über die zeitliche Verortung „nach 1989“. Handelt es sich hierbei um eine Zäsur oder um die Inanspruchnahme einer Zäsur in Bezug auf ein neues Nachdenken über jüdische Identität und die damit verbundene Kategorie des Anderen? Ein Reflexionsprozess, der mit dem Generationenwechsel der achtziger Jahre be­ginnt und sich vor dem komplexen zeitgeschichtlichen Hintergrund der deutschen, der europäi­schen Wiedervereinigung und der Globalisierung einerseits sowie der Gegenwärtigkeit der Ver­gangenheit, den neuen Formen des nationalen und individuellen Gedenkens an die Shoah ande­rerseits vollzieht. Am literarischen Beispiel von Bernhard Schlinks Die Beschneidung und Ruth Klügers weiter leben wird hier der gesellschaftliche Justierungsprozess der neuen Bundesrepublik als eine Belastungsgeschichte – im Doppelsinn des Wortes ‚Geschichte‘ als Historie und Erzählung – gelesen, innerhalb dieser dem jüdischen Gegenüber eine bestimme Funktion zukommt (Kap. III.1.). Die Geschichten eines Adjektivs. Jüdischkeit als Text führen anhand der Lektüren von Robert Schindels Gebürtig, W. G. Sebalds Die Ausgewanderten, Katharina Hackers Eine Art Liebe, Barbara Honigmanns Alles, alles Liebe!, Dagmar Leupolds Nach den Kriegen und Maxim Billers Die Tochter vor, auf welch unterschiedliche Weisen Jüdischkeit als Text nicht nur thematisiert, sondern zuallererst literarisch erzeugt wird (Kap. III.2). „Still die Tage nervös / Der Meridian“ – Anhand der hier vorgestellten poetischen Umschriften, Neuschriften und Interpretationen von Jüdischsein sollte schließlich auch eine mögliche Antwort auf die von Gershom Scholem gestellte Frage ein wenig näher gerückt sein: Jüdischkeit. Im leeren Raum des Fiktiven?

I. Das jüdische Gegenüber im deutsch-jüdischen Gespräch: Der ‚Andere‘

Jeder Deutsche ist die Antwort auf die ungestellte Frage eines Juden und umgekehrt jeder Jude ist die Antwort auf die ungestellte Frage eines Deutschen. (Yoram Kaniuk)

„Der Versuch der Juden, sich den Deutschen zu erklären“ – Scholems Rede Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen „Gespräch“ evoziert und zitiert die Vorstellung eines jüdischen Gegenübers. Und tatsächlich hat kein anderes Bild in der letzten Zeit den öffentlichen und institu­tionalisierten Dis­kurs über Juden in Deutschland so ge­prägt. Durch seinen scheinbar neutralen Charakter, der schlicht eine Größe innerhalb einer Kommunikationssituation zu bezeichnen scheint, hat dieses Bild ei­nen so hohen Grad an Kompatibilität und Selbstverständlichkeit erreicht, dass es in seiner Ei­genschaft als mythenträch­tiges Konstrukt, als Element der (positiv wie negativ besetzbaren) Differenzbildung schon gar nicht mehr ins Auge fällt. 1 Das jüdische Gegenüber – dieses Denkbild findet sich wieder in jeder sprachpolitischen Formel und bleibt noch den gegensätzlichsten Sprecherhaltungen nach 1945 wirksam einge­schrieben: von der Floskel des jüdischen Mit-Bürgers über die der christlich-jüdischen Zusammen­arbeit bis hin zu solch philose­mitischen Formulierungen von den Juden als Auch-Menschen,2 und ganz zu schweigen von dem tradierten antijudaistischen und antisemitischen Axiom, demzufolge ‚der Jude‘ als ‚der Andere‘ stets gegen eine sich selbst als kulturell homogen denkende Ge­sellschaft opponiert. Es sind also die einer solchen Dichotomie Deutsche/Juden inhärenten Implikationen, die jene Vorstellung vom jüdischen Gegenüber sugge­riert, die einen gewissen Aufschluss darüber ver­schaffen, aus welchem Blickwinkel heraus die öffentlichen, das heißt die all­tagssprachlichen und institutionalisierten Diskurse über Juden in (West-)Deutschland nach 1945 geführt bzw. nicht geführt wurden. So gehört es zur bundesdeutschen Mythengeschichtsschrei­bung, beginnend mit 1 In der kulturell und ethnisch heterogen strukturierten Gesellschaft der USA etwa, in denen es per se viele „Andere“ gibt, würde dieses Bild vom jüdischen Gegenüber als „dem Anderen“ schlechterdings keinen Sinn machen und wird – denkt man an Finkielkrauts Überlegungen – auch im sich immer heterogeneren und sich multikulturell ausdifferenzierenden Europa möglicherweise bald historisch sein. 2 Zur Erörterung der philosemitischen alltagssprachlichen Formel „Juden sind doch auch Menschen“, siehe u. a. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, S. 27–64, bes. S. 27f.

Identitätsdiskurse vor der Shoah

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der Proklamation der sogenannten ‚Befreiung‘ und einer ‚Stunde Null‘, dass es gerade die intel­lektuelle, nichtjüdische Elite war, die ihre Reden über Juden, ausgegeben als „Vergangenheitsbe­wältigung“, mit einem Ge­spräch mit Juden verwechselte bzw. das Feh­len des Letzteren mit den Stereotypenbil­dungen der Ersteren erfolgreich zu überblenden vermochte, sodass in breiten Teilen der Bevöl­kerung geradezu der Eindruck einer Übersättigung hinsichtlich der deutschjüdi­schen Thematik entstehen konnte.3 Und nichts verschafft soviel Ein­blick in diese fehlende und verfehlte Gesprächskultur wie das Bild vom jüdischen Gegenüber. Bei der Betonung derlei mythenträchtiger Implikationen geht es nicht relativierend um die Proklamation von Indifferenz, sondern lediglich darum, die Dy­ namik aufzuzeigen, mit der fiktive Kriterien, die die Juden als ‚andersartig‘ definieren, als Wirklich­keit ausgegeben werden und damit der Mythologisierung von Wirklichkeit Vorschub leisten. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, hat die Vorstel­lung des jüdischen Gegenübers als der ‚Andere‘ auch eine eigene Literaturgeschichte hervorge­bracht.

I. 1. Identitätsdiskurse vor der Shoah 1.1. Der ‚Andere‘. Blick-Theorien Wenn also das jüdische Gegenüber ein Konstrukt ist, das ‚den Juden‘ im spiegelnden Blick seines Betrachters zuallererst erschafft, wie genau wird dieses Gegenüber dann zum ‚Anderen‘? Nun ist jener ‚Andere‘, in dessen Spiegel sich Deutsche und Juden jeweils erkennen, um diesen Spiegel dann zugleich auf ihr Gegenüber zu richten, als Begriff der Fremdzuschreibung und Selbsterfahrung eine sowohl in der modernen Psychoanalyse als auch in der Soziologie und den postcolonial studies inzwischen hinreichend ausgewiesene theoretische Kategorie, sodass sich deren Ergebnisse und Hauptaussagen an dieser Stelle sinnvollerweise heranziehen lassen, um den ‚Anderen‘ als konstitutive Figur persönlicher und kollektiver jüdischer Identitäts-

3 Das soll nicht der sogenannten geistigen Elite die Verantwortung für eine gewisse Tendenz zur Schuldabwehr seitens der Bevölkerung zuschieben, sondern lediglich die Zusammenhänge verdeutlichen, nach denen rhetorische Formeln der öffentlichen ritualisierten Rede (Gedenk­ reden, Bundestagsreden) das Vorhandensein eines tatsächlichen Gespräches zu simulieren verstehen. Zu der Diskrepanz, die zwischen einem allgemein herrschenden Eindruck der Übersättigung („Ich kann‘s nicht mehr hören“) und dem tatsächlichen (Nicht-)Wissen in Bezug auf Auschwitz und die Judenvernichtung besteht, siehe die Allensbacher-Umfrage, dokumentiert bei Benz 2004, S. 27f.

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Das jüdische Gegenüber: Der ,Andere‘

ausbildung in der Diaspora4 auszumachen. Da die Konzentration in diesem Kontext auf dem literarischen Raum des deutsch-jüdischen Gesprächs liegt, seien hier nur die wesentlichen sozial-psychologischen Aspekte kurz benannt: Jede Vorstellung von einem Gegenüber ist zunächst einmal ganz grundlegend an zwei Bedin­ gungen gekoppelt: Sichtbarkeit und Differenz. Das bedeutet: Dem Betrachtenden wird ein anderer als er selbst vor Augen geführt. Er steht im wahrsten Sinne des Wortes außen vor. Um den Vorgang der Konstruktion jenes ‚Anderen‘ und damit vice versa auch des ‚Selbst‘ zu verstehen, ist es sinnvoll, sich den psychoanalytischen Erklärungsansatz Jacques Lacans zur Genese der Subjektivität zu verge­genwärtigen: Lacan zufolge ist diese plötzliche Wahrnehmung des Ge­genübers als einem Ande­ren, die das Ende der frühkindlichen Spiegelphase markiert, die erste, aber grundlegendste Wahr­nehmung von Differenz überhaupt. Sie wirkt auf den Betrach­ter, das Ich, fundamental be­wusstseinsbildend, da es, seiner Absolutheit beraubt, fortan die Welt zu sich selbst in Abwei­chungen wahrnimmt. Wobei das so fragmentierte Ich („Das Ich ist ein anderer“) im Fortgang seiner Selbstvergewisserung nun versucht, über die Herstellung von Ähnlichkeitsbezügen diese Distanzen immer wie­der zu überbrücken.5 Dass dementsprechend auch die Herausbildung von sozialer Identität stets ein reziproker Prozess ist zwischen ei­nem Kollektiv und dem davon abweichenden Gegenüber, dem sogenannten An­deren, scheint dann insbesondere im ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Kontext der Beschäftigung mit Minderheiten, in der Gender-Forschung sowie in den Postcolonial Studies eine geradezu selbst­verständliche Annahme zu sein. Denn auch die Selbstwahrnehmung des Kollektivs bleibt im Akt des Sehens ja nicht unangetastet. Vielmehr handelt es sich bei diesem Sehvorgang, so der Literaturwissenschaftler Homi Bhabha in Anschluss an Lacan, 4 Unter ‚Diaspora‘ versteht man allgemeinhin ein Gebiet, in dem sich eine bestimmte Konfession oder Nation in der Minderheit befindet, zumeist wird diese Formulierung auf die Juden, die außerhalb des heiligen Landes leben, angewendet. 5 Jacques Lacans grundlegende These lautet, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist. Damit schlägt er einen Mittelweg zwischen Gesagtem und Ungesagtem ein, da er die Sprache als ein auf sich selbst verweisendes relationales System begreift, das dazu da ist, die Differenz symbolisch zu repräsentieren, den ‚Anderen‘ sichtbar zu machen, in dem er sprachlich markiert wird. Das keiner Reflektion zugängliche Unbewusste kann also nur durch die Intervention jenes ‚Anderen‘ erfahren werden („l’inconscient est le disours de l’ autre“), der als Träger der symbolischen Ordnung fungiert, indem dieser als eine Art „Zeuge“ in die imaginäre Spiegelidentifikation einbricht. Dieser Andere ist damit gleichsam der Ort, wo der Diskurs sich situiert. Zum Spiegelstadium siehe Lacans Aufsatz: «La stade du miroir comme formateur de la fonction de Je», Paris 1949; zum Zusammenhang zwischen dem Symbolischen und dem Unbewussten und damit zur Konstruktion des Anderen: „L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“, Paris 1957.

Identitätsdiskurse vor der Shoah

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[ … ] um die Produktion eines Bildes der Identität und die Transformation, die das Subjekt durchläuft, in­dem es sich dieses Bild zu eigen macht. […] Identifikation ist […] immer die Wiederkehr eines Bildes der Identität, welches Kennzeichen der Spaltung innerhalb des Ortes des Anderen trägt, von dem es her­kommt.6

Die ständige Präsenz des Anderen stellt folglich eine potentielle Bedrohung für das Subjekt dar, da dieser Andere die eigene Identität grundsätzlich als variabel erfahren lässt. Der Prozess der Identifikation wird in diesem Kontext also nicht als eine feststehende, monolithische Größe, sondern vielmehr als eine ambivalente Struktur definiert, in der der Schatten des Anderen auf das Selbst fällt und umgekehrt. Auf soziokultureller Ebene wird dieser neutrale Konnex von Sichtbarkeit und Identität, oder konkreter: die Wahrnehmung eines Individuums oder einer Gruppierung als Gegenüber, dann zum Kon­flikt, wenn der betrachtende Blick des Kollektivs,7 der eine soziale, ethnische oder religi­öse Minder­heit trifft, ein hierarchisierender ist, und diesem Blickträger zugleich die Macht zu­kommt, solche wertenden Unterscheidungen in Gesetzen oder Handlungsweisen durchzuset­zen. Die identitätsstiftenden Eigenschaftsmerkmale, die dem Gegenüber genuin zu eigen sind, zum Beispiel Hautfarbe, Sprache oder Geschlecht, werden durch diesen kategorisierenden Akt des Se­hens negativ gewendet, zu Ausschlusskriterien transformiert und damit zu Stigmata des Anderen, der von der Teilhabe an der Macht der Gruppe ausgeschlossen bleibt. Von hier an ist es nur ein kleiner Schritt zu dem, was sich mit Sander L. Gilman als Unterscheidungsmythos bezeichnen lässt.

1.2. Die ‚andere Sprache‘. Ein Unterscheidungsmythos Die Kategorien des „Andersseins“ sind [dabei] nicht zufällig. Das Anderssein scheint homogen, weil es die „Wirklichkeiten“ der Gesellschaft aufnimmt und mythologisiert. Äußere Signale wie Kleidung, Gesell­schafts- und Hygieneregeln sind deshalb ebenso wichtig für die Entstehung des Mythos von der Andersar­tigkeit wie sogenannte innere Aspekte: Geschlecht, Hautfarbe oder Gestalt. Was zu einer bestimmten Zeit oder unter bestimmten Umständen bei der Definition der Andersartigkeit im Vordergrund steht, hängt von

6 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 66f. 7 Diese Formulierung ist natürlich diskussionswürdig. Es ließe sich berechtigt fragen: Gibt es überhaupt einen „Blick des Kollektivs“? Denn sehen bzw. blicken kann natürlich nur das Individuum. Gemeint ist hier lediglich, dass der Wahrnehmungsvorgang auch soziokulturell geprägt ist.

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Das jüdische Gegenüber: Der ,Andere‘

den Bedürfnissen der definierenden Gruppe ab und davon, wie der Außenseiter diese Bedürfnisse zu einer bestimmten Zeit oder unter bestimmten Umständen wahrnimmt.8

So Gilman in seiner elementaren Studie Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Eine Gesellschaft, die ihre Außenseiter also etwa als ‚wild‘, ‚dunkel‘ und ‚schmutzig‘, bzw. deren Sprache als ‚zersetzend‘ definiert, vergewissert sich auf diese Weise ihres Selbstbildes als ‚zivilisiert‘, ‚weiß‘ und ‚rein‘. Zugleich geben diese Identitätsentwürfe Auskunft über die zu­meist unausgesprochenen, herrschenden Bedürfnisse in dieser Gesellschaft – oder mit Lacan for­ muliert: „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen.“9 Studiert man die Geschichte der Judenverfolgung und, damit verbunden, die tradierten Bilder des Antisemi­tismus,10 so finden sich Gilmans Aussagen bestätigt. Während im Laufe des Akkulturati­onsprozesses der Juden, der im deutschsprachigen Raum Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begann, die sichtbaren Merkmale der Differenz und des ausgewiesenen Fremden, welche sich un­ter anderem in der religiös motivierten Haar- und Kleidertracht sowie in der Verwendung eines eige­nen Dialekts, dem Jiddischen,11 geäußert hatten, sich mit der fortschreitenden Integration insbe­sondere in Preußen12 und in den großen Städten bald nicht mehr als Kategorisierungen des extrapo­lierten Anders­-Seins so ohne Weiteres auf die jüdischen Bürger anwenden ließen, nahm der Prozess ihrer Stigmatisierung dennoch zu. An scheinbar physiognomisch evidenten Merkmalen wie der ‚jüdi­schen Nase‘ oder dem ‚jüdischen Gang‘ glaubte man die Andersartigkeit weiterhin fixieren zu können. Die Akzentuierung hatte sich von den religiös 8 Gilman 1993, S. 17. 9 Lacan, „L’inconscient est le discours de l’autre“, in: Ders., L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud (1957), hier auf deutsch zitiert nach Tania Eden, Jacques Lacan, in: Philosophie der Gegenwart, hrsg. von J. Nida-Rümelin, Stuttgart 1991, S. 311. 10 Hierzu stellvertretend das Überblickswerk von Julius Schoeps: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hrsg.), Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus – Vorurteile – Mythen, Augsburg 1999. 11 Die verbreitete Auffassung, beim Jiddischen handele es sich um eine fremde Sprache, arbeite, so etwa Sander Gilman, einem Mythos zu, der lediglich der Ausgrenzung diene. Siehe Gilman 1993, S.  19–25. Gilman bezeichnet das Jiddische als „Sprechart des Deutschen“. So jüngst auch Lutz-W. Wolff, der das Jiddische als eine „Schwestersprache des Deutschen“ bezeichnet, entstanden im Spätmittelalter, als die Juden im Rheinland begannen, die mittelhochdeutsche Sprache in hebräischer Schrift aufzuzeichnen. Das älteste jiddische Sprachdokument, das die Herkunft aus dem Mittelhochdeutschen besonders gut dokumentiert, findet sich in einem Wormser Gebetbuch aus dem Jahre 1272, bei dem es sich um einen Segenswunsch handelt: „gut tak im betage / se war dis machsor in beß hakkeneßeß trage!“ („Ein guter Tag sei dem beschieden, der dies Gebetbuch in die Synagoge trägt.“) Siehe: Leo Rosten, Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie, München 2002, S.7f. 12 Zu den liberalen Gesetzen Preußens und dem Berliner „Schutzjudentum“ siehe Jasper 2004, S. 29–31.

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motivierten Fremdbildentwür­fen auf die physiognomischen Stigmatisierungen gerade dann verschoben, als Juden und Nichtju­den gleichermaßen als Bürger dem deutschen Volk angehörten und im Straßenbild immer ununterscheidbarer wurden. So ist es ein historisches Faktum, dass die schlimmste Verfol­gung der Juden in Deutschland zu einer Zeit stattfand, in der die Phase der Anpassung der Juden an ihre nichtjüdische Umwelt geradezu vollständig war. ‚Den Juden‘ als imaginierten ‚inneren Feind‘ galt es erst wieder neu zu erfinden, mittels einer Gegenüberstellung sichtbar zu machen und vom ‚Selbst‘ des Kollektivs mittels sprachlichideologischer Etikettierungen abzugrenzen. Dass die nationalsozialistische Hetze und Propaganda an verinnerlichte Ressentiments und tra­dierte Stereotypen insbesondere auch der literarischen, völkischnationalen Überlieferung des neunzehnten Jahrhunderts anknüpfen konnte, widerspricht nicht der Tatsache, dass diese im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts mit einem ungeheuren Aufwand auf eine außerlitera­rische Lebenswelt übertragen werden mussten, die mit diesen Stereotypisierungen nicht identisch war.13 Dass die Juden ihrer nichtjüdischen Umwelt erst zu sichtbar und fremd erschienen, was im achtzehnten Jahrhundert dann den Aufruf zur Assimilation zur Folge hatte und, daraus resultierend dann im zwanzigsten Jahrhundert wie­derum zu wenig sichtbar, zeigt nicht nur im Sinne von Gilmans Argumentation hinsichtlich eines Unterscheidungsmythos, wie sehr sich die Merkmale, die dem Anderen zugeschrieben werden, je nach Bedürfnislage der privile­gierten Gruppe umdefinieren lassen, son­ dern auch, dass jedes Kollektiv den Anderen ‚braucht‘, um sich selbst ex negativo zu diesem als Gemeinschaft definieren zu können; während dieses Kollektiv zugleich versucht, die Be­drohung, die von diesem Anderen für die eigene Iden­tität ausgeht,14 zu nivellieren. Den aus dieser widerstreiten­den Dynamik resultierenden Zustand des double-bind charakterisiert Sander Gilman folgendermaßen: Auf der einen Seite steht die liberale Verheißung, jeder könne grundsätzlich an der Macht der Bezugsgruppe teilhaben, vorausgesetzt, er unterwirft sich den Regeln dieser Gruppe. Aber eben diese Regeln bestimmen auch die Definition des Anderen. Und die Anderen, das sind genau jene, die von der Teilhabe an der Macht innerhalb der Gesellschaft ausgeschlossen werden. […] Die privilegierte Gruppe, jene Gruppe, die der Au­ßenseiter als Maßstab für seine eigene Identität betrachtet, wünscht tatsächlich, den Außenseiter zu 13 Nicht umsonst bedurfte es der sogenannten Stürmerkästen, die der Bevölkerung vor Augen führen sollten, wie ein Jude angeblich zu erkennen sei. Solche Diskurse über ‚die Juden‘ fungierten damit zugleich als ‚Zeugnis‘ (Lacan) für die eigene Reinheit. 14 So wurde Nichtjuden, die sich nicht systemkonform verhielten, jüdisches Verhalten attestiert, oder sie galten als ‚ver-judet‘. Am Beispiel der Praxis dieses Sprachmissbrauches bestätigt sich die These, dass der Andere immer eine Bedrohung der eigenen Identität darstellt, dem gegenüber keine festen Grenzen existieren. Der reziproke Prozess der Identitätsbildung äußert sich hier in der Furcht, vom Anderen und seinen Eigenschaften ‚infiziert‘ zu werden.

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integrie­ren und so das Sinnbild ihres eigenen, potentiellen Machtverlustes zu beseitigen. Zugleich aber will sie den Außenseiter außen vor halten, um sich ihre Macht durch die Existenz des Ohnmächtigen immer wieder zu bestätigen.15

Eine für den Kontext der deutschjüdischen Literaturgeschichte elementare Artikulation jenes Unterscheidungsmythos ist dabei der von der ‚anderen Sprache‘ der Juden: Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Tatsache, dass die Juden zwar deutsch sprachen, aber häufig noch mit starkem jiddischen Akzent das sogenannte „Judendeutsch“16 zur Grundlage für die alltagssprachlichen Behauptungen über die ‚fremde‘ Sprache der Juden. Dies ist die zentrale Aussage von Sander Gilmans Studie: In der Tradition [der alten, westlichen] gelten Juden grundsätzlich als unfähig, irgendeine „westliche“, eine Kultursprache wirklich zu beherrschen. […] Die Sprache der Juden ist für die anderen das Spiegelbild ihrer Verderbtheit und der Verderbtheit ihres Diskurses, die in der jüdischen Sprechart vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, dem Jiddischen, am deutlichsten zum Ausdruck komme. Gegen diese Betrachtungsweise müssen jüdische Schriftsteller – jüdisch, weil sie das Etikett „Jude“ verinnerlicht haben – eine überdurch­ schnittliche Meisterschaft im Umgang mit Sprache und Diskurs ihres jeweiligen „Gastlandes“ an den Tag legen. Diese Vorstellung über die Sprache der Juden und die Vorstellung, es gäbe eine „jüdische“ Sprache und Sprechweise stehen im Mittelpunkt jeder Selbstdefinition von Juden im christlichen Westen.17

Gilmans These von der verborgenen Sprache der Juden beruht dabei auf der durchaus geläufigen Prämisse, der zufolge Sprache in der westlichen Tradition als das Kennzeichen von Zivilisation gilt. Das heißt: Die Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft ist an die vollständige Beherrschung hier: der deutschen Sprache gebunden. Gegen Gilmans Behauptung vom Primat der Sprache hinsichtlich einer gesellschaftlichen Ak­zeptanz spricht jedoch der Umstand, dass die Verfolgung der Juden in Deutschland zu einer Zeit ihren Höhepunkt erreichte, in welcher der Akkulturationsprozess längst abgeschlossen war und der überwiegende Teil der deutschjüdischen Bevölkerung deutsch ohne jiddische Mundartfärbung sprach. 15 Gilman 1993, S. 12f. Hervorhebung A. H. 16 So etwa im Grimmschen Wörterbuch zu Judendeutsch: „deutsch wie es die Juden sprechen, mit hebräischen Bestandtheilen versetzt“. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Nachdr. d. Erstausg. 1877. München 1984, Band 10, H-Juzen, Sp. 2354. 17 Gilman 1993, S. 19f. Jiddisch wurde, wie schon gesagt, als eine Art Kauderwelsch betrachtet, als eine Sprechart des Deutschen, versetzt mit Bruchstücken des ursprünglichen, magischen Hebräisch. Im Mittelalter galt Hebräisch zudem als die „Geheim­sprache der Juden“. Siehe auch Schoeps, Schlör 1999.

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So konnte Alfred Wolfenstein im Jahre 1922, zur Zeit der Weimarer Republik, zuversichtlich behaupten: Unter den westeuropäischen Sprachen scheint sich die deutsche anders als die übrigen zum jüdischen We­sen zu verhalten: In ihr bewahrt es sich selbst, es bleibt lebendig. […] So geschieht es nicht deshalb, weil die deutsche Sprache nachgiebiger und freier ist und über die feststehenden Dinge weicher hinwegströmt. Wir sehen, an allen Unterschieden vorbei, in eine seltsame Verwandtschaft. Manchmal, wenn Gegensatz und Liebe zwischen ihnen hervortritt, erscheint der Jude wie ein Doppelgänger des Deutschen.18

Gerade aufgrund jener ‚Unsichtbarkeit‘ des jüdischen Gegenübers hatte sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das Vorurteil von der ‚anderen Sprache‘ auf das einer anderen Denkweise verlagert: von der sogenannten ‚Juden-Grammatik‘ auf die ‚Juden-Rhetorik‘.19 Der dynamische Prozess, der jenen Ausschlusskriterien und ihrer Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse der Gesellschaft zu Eigen ist, wird hier einmal mehr deutlich. Oder mit Alain Fin­kielkraut gesprochen: „Weil die Juden […] kein Unterscheidungsmerkmal mehr hatten, versah man sie mit einer ‚Unterscheidungsmentalität‘. Die Wissenschaft wurde damit beauftragt zu leisten, was außerhalb der Reichweite des Blickes lag: die Fremdartigkeit des Gegners zu bestätigen.“20 So ließ sich der Mythos von der ‚anderen Sprache der Juden‘ auch als Polemik im völkisch-nationalistischen Kontext gut einsetzen. Beginnend mit den antisemitischen Ideologien des neunzehnten Jahrhunderts (verfochten von Wilhelm Marr, Adolf Bartels u. a.) wurde das völkisch verstandene Projekt Vaterland gerade dann identitätsstiftend, als in Literatur und Politik der innere Feind mit der Gestalt ‚des Juden‘ gleichgesetzt und entsprechend dem ersehnten Ideal eines homogenen, einheitlichen Volks‘körpers‘ entgegengesetzt wurde.21 Zum konstitutiven Gegensatz zwischen Nationalsprache und ‚Juden-Sprache‘ noch einmal Sander Gilman: Der Mythos von der verborgenen Sprache der Juden ist an einen Gegensatz zwischen den Vorstellungen über das Wesen der jeweiligen Nationalsprache und jenen über die Sprache der Juden gebunden. Eine sol­che Entgegensetzung ist selbst ein Mythos. Aber in Gesellschaften wie der deutschsprachigen hat der My­thos einer einheitlichen Sprache eine besonders starke Tradition und definiert den Anderen als jemanden, der eine andere Sprache spricht.22 18 19 20 21 22

Alfred Wolfenstein, Jüdisches Wesen und Dichtertum, in: Der Jude, Berlin 1922. Siehe Dietz Bering, Der „jüdische“ Name, in: Schoeps, Schlör 1999, S. 153–166. Finkielkraut 1981, S. 95. Dazu Jasper 2004, S. 49. Gilman 1993, S. 41.

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Der Umstand, dass jene mythische Stilisierung von der Einheitlichkeit der deutschen Sprache, auf die Sander Gilman hier rekurriert, gerade nicht identisch war mit der Realität in den Vielfürstentümern eines wirtschaftlich, politisch und konfessionell zersplitterten Deutschlands Ende des achtzehnten Jahrhunderts, zeigt, dass es sich hierbei um einen Identitätsmythos handelt. „Deutschland? aber wo liegt es?“ fragte beispielsweise noch Friedrich Schiller in seinem Xenion Das Deutsche Reich.23 Ein Aufruf zur konstruktiven Adaption dieses Mangels an nationaler und sprachlicher Einheit findet sich zeitgleich etwa bei Schillers Zeitgenossen Moses Mendelssohn: „Eine gebildete Na­tion“, so Mendelssohn, „kennt in sich keine andere Gefahr, als das Übermaß ihrer Nationalglücksseligkeit“. In seiner Schrift Über die beste Staatsverfassung präzisiert er die Konsequenzen: Sind alle Vorurteile bestritten und ausgerottet, so erlischt und erkaltet die Liebe zur Wahrheit, und die Kin­der haben keinen Sporn zur Aufklärung. In Absicht auf ganze Staaten, also, wo die Glückseligkeit von den Vätern auf die Kinder fortgeht, scheint Stillstand oder Rückfall unvermeidlich. Der höchste Grad der Voll­kommenheit droht als Rückfall, damit die Feder wieder einige Spannung erhalte.24

Was Mendelssohn hier propagiert, ist eine positive Umwertung des Andersseins, die er auch staatspolitisch zu begründen versucht. Dem Identitätsmythos der Vollkommenheit stellt Mendelssohn die Konfliktträchtigkeit, Offenheit und Infrage-Stellung als unabdingbare Kriterien für die Entwicklung und das Gedeihen eines Staates gegenüber. In diesem Sinne käme den Juden genau jene ‚andere Sprache‘ zu, damit, um in Mendelssohns Bild zu bleiben, ‚die Feder wieder einige Spannung erhalte‘. Zu der konstruktiven Spannung, die für die deutsche Literatur im Sinne Mendelssohns aus jener ‚anderen Sprache‘ der Juden entsteht, sei abschließend ein Bei­spiel aus der Gründungszeit der deutschjüdischen Literaturgeschichte angeführt, und zwar Isachar Falkensohn Behrs Gedichte von einem polnischen Juden (1772).

23 „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“ heißt es in Schillers Xenion „Das Deutsche Reich“, das er zusammen mit Goethe verfasste. Zitiert nach: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, München 3. Auflage 1962, S. 267. 24 Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, hrsg. von Ismar Ellbogen u. a., Berlin 1929ff., Bd. III/2, S. 143f.

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Exkurs: Ohne in anderer Sprache zu sein? – Isachar Falkensohn Behrs „Gedichte von einem polnischen Juden“ und Heinrich Heines „Jehuda ben Halevy“ Im Jahr 1772 begann der im litauischen Salatin geborene Autor Isachar Falkensohn Behr seine Gedichte von einem polnischen Juden zu veröffentlichen.25 Seit Süßkind von Trimberg im späten dreizehnten Jahrhundert ergreift damit der erste jüdische Dichter deutscher Sprache das Wort.26 Sich dieser ‚Unerhörtheit‘ wohl bewusst, stellt Isachar Falkensohn Behr im Vorwort folgende skeptische Überlegung an: Erregen nicht die Worte: polnischer Jude, in der Seele das Bild eines Mannes, schwarzvermummt, das Gesicht verwachsen, die Blicke finster, und rau die Stimme? Wird die angewöhnte missverstandene Frömmigkeit einiger zärtlicher Leserinnen das Bild nicht grässlicher malen, als es meine armen Landsleute wirklich sind? Und wird dieses lebhafte Bild meinen Liedern nicht nachteilig sein?27

Gegen dieses „lebhafte Bild“ schreibt Behr an, indem er in seinen Gedichten einen Gegenbild-Katalog entwirft: Ihr Zärtlichen, Kein falsches Bild! Ihr müsst mich sehen Ich bin nicht wild, Vielleicht gar schön!

25 Siehe u. a.: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion, hrsg. von Stephané Moses und Albrecht Schöne, Frankfurt am Main 1986, S.  9; Christian Wagenknecht, Isachar Falkensohn Behrs „Gedichte von einem polnischen Juden“. Ein Kapitel aus der Literaturgeschichte der Judenemanzipation, ebd., S.  77–87 sowie Willi Jasper, Gedichte in feindlicher Umwelt: Isachar Falkensohn Behr und Ephraim Moses Kuh, in: Jasper 2004, S. 63–69. 26 Zu Süßkind von Trimberg siehe insbesondere Frank Stern, Der späte Griff des Minnesängers nach dem Judenhut oder Wider die Arroganz der rechtgläubigen Macht, in: Stern 2002, S. 19ff. Trimberg gab seine Arbeit als Minnesänger aufgrund der schlechten Bedingungen für die Juden schließlich mit den folgenden Worten auf: „Ich bin fürwahr ein Tor / Mit meiner Kunst gefahren, / Die Herren wollen nichts mehr geben / Drum will ich ihre Höfe fliehn / Und laß mir einen langen Bart / Wachsen von grauen Haaren“. Zitiert nach Stern 2002, S. 20. 27 Ein Neudruck von Behrs Gedichten stand bis vor kurzem noch aus und ist schließlich bei Wallstein erschienen. Isachar Falkensohn Behr, Gedichte von einem polnischen Juden, Göttingen 2002. Hier zitiert nach Wagenknecht, in: Moses, Schöne 1986, S. 84.

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Voll Sehnsucht blickt, Mein Augenpaar, Und Puder schmückt Mein Lockenhaar! Mein Bart ist glatt, Und glätter hat, Ich sag es kühn, Kein Jüngling ihn! Mein Rock ist grün, Und ziemlich schön, Ihr solltet ihn Nur einmal sehn: Ihr wärt mir hold, Denn ihn schmückt Gold! Ihr Zärtlichen, Kein falsches Bild! Ihr müsst mich sehn, Ich bin nicht wild, Vielleicht gar schön!28

Die Forschung hat Behrs Weg vom „schwarzvermummten Kaftanträger zum glattrasierten und buntberockten deutschsprachigen Dichter“ als literarisches Zeugnis für die Geschichte der Judenemanzipation gelesen: Anders als „durch Nachahmung und Anpassung“, so Christian Wa­genknecht, war für Behr und seinesgleichen „eine Teilnahme an der literarischen Kultur der Deutschen schwerlich zu bewirken – im 18. Jahrhundert weniger noch als im 19.“29 Behr, der später zum russisch-orthodoxen Glauben übertrat, musste sich – wie bereits im Mittel­alter der Lieddichter Süßkind von Trimberg – zur Sicherung seiner Existenz am ästhetischen Geschmack und Ton eines christli­chen Publikums, dem Geist und Stil der Anakreontik, orientieren. Während Behrs Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe in seiner kriti­schen Rezension der Gedichte in den Frankfurter gelehrten Anzeigen beanstandete, der Autor nutze seine „Judenschaft“ für eine Aufmerksamkeit, die ihm aufgrund der Mittelmäßigkeit seiner

28 Ebd., S. 85. 29 Ebd., S. 86.

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Ge­dichte nicht zustünde,30 fällt das historische Urteil, das Behr weniger als Dichteroriginal denn als Wegbereiter versteht, dementsprechend milder aus. So etwa wie schon erwähnt bei Christian Wagenknecht oder aber bei Hans Schütz, der die Pionierrolle Behrs hervorhebt: „Er war einer der ersten auf fremdem Terrain, er gab sich Mühe, es zu erkunden, und verdient Respekt.“31 Ergänzend zu den Ansätzen der Forschung, auf die literaturgeschichtliche und sozialhistori­sche Bedeutung von Behr aufmerksam zu machen, lohnt es, sich genauer mit jener Aporie zu beschäftigen, durch die Behrs poeti­sches Verfahren gekennzeichnet ist. Seine Bildsprache schreibt, so die These, genau jenen Mythos vom Ost-Juden weiter fort, den zu entmystifizieren er mit seiner Lyrik ja gerade angetreten war: Um anzuzeigen, wie er als polnischer Jude von seinen Leserinnen wahrgenommen werden will, nämlich als ein Dichter deutscher Zunge, der sein Handwerk ebenso glänzend beherrscht („gold­geschmückter Rock“) wie seine christlichen Kollegen, muss seine Dichtergestalt – im Sinne der herrschenden Auffassung einer Äquivalenzbeziehung zwischen äußerem und innerem Wesen – ununterscheidbar von jenen sein. Um dies zu demonstrieren, arbeitet er aber nun mit einem Unter­scheidungsmythos: Dem wilden, bärtigen Juden, der er nicht ist, stellt er den lockigen, glatt rasier­ten Dichter im goldgesäumten Rock entgegen, der er auch ist. Denn nicht etwa die eigene Unver­wechselbarkeit, sondern eine Kollektivgestalt, deren Attribute durch die herrschende Gruppe als gut definiert werden, wird bei Behr für die Konstruktion des dichterischen Selbstbilds als Maß­stab herangezogen. Hier setzt auch Goethes Kritik an Behrs mangelnder Originalität an, von der er sich so viel versprochen hatte: Da tritt, dachten wir, ein feuriger Geist, ein fühlbares Herz, bis zum selbständigen Alter unter einem frem­den Himmel aufgewachsen, auf einmal in unsre Welt. Was für Empfindungen werden sich in ihm regen? […] Er wird euch aus eurer Wohlhergebrachten Gleichgültigkeit reißen, euch mit euern eignen Reichtümern bekannt machen, euch ihren Gebrauch lehren. Dagegen werden ihm hundert Sachen, die ihr so gut sein laßt, unerträglich sein. […] Wenn er nichts Neues sagt, wird alles eine neue Seite haben. Das hofften wir, und griffen – in den Wind.“32 30 Goethe: „Es ist recht löblich ein polnischer Jude seyn, der Handelschaft entsagen, sich den Musen weihen, deutsch lernen, Liederchen ründen; wenn man aber in allem zusammen nicht mehr leistet, als ein christlicher Etudiant en belles Lettres auch, so ist es, däucht uns, übel gethan, mit seiner Judenschaft ein Aufsehn zu machen.“ Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte von einem polnischen Juden, in: Berliner Ausgabe, Bd. 17, Schriften zur Literatur, Berlin, Weimar 1970, S. 223–226, S. 226. 31 Schütz 1992, S. 34. 32 Johann Wolfgang von Goethe, Aufsätze zur Kultur-, Theater- und Literatur-Geschichte. Maximen, Reflektionen, Band II (Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe, Band 12), Leipzig 1920, S. 45–47. Siehe auch Wagenknecht, in: Moses, Schöne 1986, S. 86.

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Goethes Erwartungshaltung erinnert an Gollwitzers Rekurs auf das deutsch-jüdische Ge­spräch, dem ‚die Juden‘ ganz wie für Goethe der Lyriker Behr „die prototypischen ‚Anderen‘ waren, ohne die sie sich selbst nicht erkennen können.“ Diese denunzierende wie inspirierende Perspektive der Randständigkeit, auf die Goethe Behr als den Repräsentant einer Minderheit hier geradezu verpflichtet, und die sich als vorherrschende Lektürehaltung über zwei Jahrhunderte später – wie noch zu zeigen sein wird – gegenüber den jüdischen Autoren Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wiederfinden wird, wie dies bereits einleitend in Esther Dischereits Resümee anklang: „Jüdischkeit in der Bundesrepublik – bitte pur. Gesell­schaftspolitisches Diskursthema, nicht weniger. Alle anderen Zustände des Jüdischseins minimieren die Jüdischkeit“33 – diesem Goethe’schen Standpunkt gewinnt Marcel Reich-Ranicki den Begriff des Ruhestörers ab, als Kategorisierung für die Juden in der deutschen Literatur: Einen Ruhestörer und wohlmöglich einen Provokateur wollte er willkommen heißen. Damit hatte aber der junge Goethe die Aufgabe und die Rolle der Juden in der deutschen Literatur und im lite­rarischen Leben des deutschen Sprachraums vorausgeahnt: Sie übten in hohem Maße einen relati­vierenden und irritierenden, einen par exellence provozierenden Einfluß aus – und eben das brachte ihnen viele Bewunderer ein und freilich noch mehr Gegner und Feinde.34

Es ist nicht nur ein hoher Anspruch, den Goethe an diesen jungen, ambitionierten und unerfahrenen Dichter hier stellt, auch für den jungen Goethe scheint es nur eine mögli­che Identität und, damit verbunden, nur eine authentische Sprache zu geben: Entweder schreibt man, wie im Falle Behrs, als Jude, und damit aus einer Minderheitenperspektive und macht diese stark, oder man spricht als Deutscher zu den Deutschen. Da Behr bereits eine andere Identität besitzt, die polnisch-jüdische, kann folglich nur diese Perspektive des Außenseiter-Blicks auf die deutsche Kultur und nicht sein neu erworbenes Deutschsein die Quelle einer originären poetischen Kraft sein. Ein derartiger Entwurf wie Behr ihn hier wagt, nämlich das Andere als das Eigene zu wählen, das heißt nicht nur der Selbstbespiegelung der deutschen Gesellschaft zu dienen, sondern sich in der Mitte dieser Gesellschaft auch verorten zu wollen, ein solches Vorhaben erscheint – dies lässt sich Goethes Kritik durchaus entnehmen – geradezu unmöglich. Die Leserinnen und Leser, zu denen Behr – der eben kein ‚Ruhestörer‘ sein wollte – in ihrer Sprache sprach, hörten in ihm weiterhin den polnischen Juden sprechen.

33 Esther Dischereit, Kein Ausgang aus diesem Judentum, in: Dischereit 1998, S. 17f. 34 Marcel Reich-Ranicki, Über Ruhestörer: Juden in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989, S. 18.

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Auf poetischer Ebene wiederum scheitert Behrs Vorhaben am Widerstand der Bilder; die lyrische Sprache drängt ins Stereotyp. So ruft Behrs Stilisierung zum deutschen Dichterjüngling zugleich die Janusköpfigkeit eines solchen Vorgangs auf den Plan, die jeder Umgang mit Stereotypen („Kein falsches Bild! / Ich bin nicht wild, / V ielleicht gar schön!“) in sich birgt. Es ist die grundsätzliche Einwilligung in die Kategorie der Unterscheidung selbst, die mit dem ‚Eigenen‘ stets auch den ‚Anderen‘ erschafft, die zu jedem ‚edlen Wilden‘ das Pendant des ‚bösen Wilden‘ mitdenkt.35 In Behrs poetischem Verfahren der Stereotypisierung und Stilisierung wird die Differenz also nicht alteritär gezogen, sondern erscheint gesinnungsstiftend aufgeladen. Auf den vorliegenden Kon­text bezogen heißt das: Jede Bildbotschaft, die in Behrs Gedicht signalisieren soll, wie Juden eben nicht sind: nicht-wild, nichtbärtig, nicht-dunkel usw., impliziert zugleich genau die gegensätzliche Aus­sage, nämlich wie die Allgemeinheit den ‚wahren‘ Juden sieht, was er für die domi­ nierende und Werte definierende Gruppe tatsächlich ist, also in etwa wild, bärtig und dunkel. Dass weder der ‚edle Jude‘ noch der ‚wilde Jude‘ etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, ist da­bei als Argument weniger ausschlaggebend, als der Umstand, dass der Gebrauch derartiger Un­terscheidungsmythen dazu führt, eine ebensolche Wirklichkeit zu simulieren bzw. eine Gesell­schaft hinsichtlich des ‚guten‘ und ‚bösen Anderen‘ zu mythologisieren. Ein solcher Vorgang wird daher nicht nur von der Diskurs bildenden Mehrheit, sondern auch von der Minderheit mitgetragen und zwar selbst noch im Versuch einer Relativierung, da das Fremdbild als Selbstbild bereits verinnerlicht wurde. Dementsprechend gelten Behrs Bedenken, die er in seinem Vorwort äußert, auch nicht mehr einer Wahrnehmung der polnischen Juden als „schwarz vermummt, finster, rau, verwachsen“, sondern lediglich dem Ausmaß, wenn er sich darum sorgt, ob seine Leserinnen „das Bild nicht grässlicher malen, als es meine armen Landsleute wirklich sind.“ Nun befinden sich die von der Gesellschaft als ‚andersartig‘ stigmatisierten Personen tatsächlich in jener klassischen double-bind-Situation, die entsteht, wenn man gezwungen wird, sich für eine von zwei einander ausschließenden Möglichkeiten zu entscheiden (hier: Jude oder Deutscher zu sein) und dadurch in einen existentiellen Konflikt geraten.36 Das daraus resultie­rende Phänomen des Selbsthasses hatte Sander Gilman, wie gezeigt, als einen unabdingbaren Bestandteil der condition humane beschrieben, wobei die Kategorien des Andersseins 35 Dazu u. a. Ruth Klüger, Katastrophen. Über deutsche Literatur, Göttingen 1994, besonders S. 9–38 sowie S. 83–106. 36 Zum Begriff des ‘double-bind’ siehe: Double Bind. The Foundation of the Communicational Approach to the Family, hrsg. von Carlos S. Sluzki und Donald C. Ransom, New York 1976; D. Boesky, Representation in Self and Object Theory, in: Psychoanalytic Quarterly 52 (1983), S. 564 –583, sowie Gilman 1993, S. 43, Anm. 2.

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durch die jeweiligen Bedürfnisse und Umstände der definierenden Gruppe immer wieder neu be­stimmt werden. Daraus folgt – das sei an dieser Stelle noch einmal wiederholt – dass die ‚äußeren‘ Signale wie Sprache, Kleidung, Gesellschafts- und Hygieneregeln ebenso wichtig für die Entstehung des Mythos‘ von der Andersartigkeit sind wie die sogenannten ‚inneren‘ Aspekte: Geschlecht, Hautfarbe oder Gestalt. Es sind also gerade jene von Behr hervorgehobenen Signale der Kleidung und Sprache, die den Code liefern, um die Selbst- und Weltbilder einer Gesellschaft zu entziffern, die eine Person zuallererst sichtbar machen („Ihr müsst mich sehen“). So ist die Schönheit der dichterischen Gestalt, die mittels einer Analogisierung von Wortkleid und Gewand zum Gegenstand erhoben wird, auch bei Behr mit den Attributen hell, glatt, jung, rein, sauber und golden verbunden, so zum Beispiel beim goldgesäumten Rock, dem gepuderten Lockenhaar und dem glatten Bart des Jünglings. Diese „komplexe Verschlungenheit von Fremd- und Selbstbild“ hat Hans Otto Horch einmal ganz allgemein als den zentralen Konflikt der deutsch-jüdischen Literatur bezeichnet, wobei das Selbstbild eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Identität voraussetze; ein schmerzhafter wie schöpferischer Prozess.37 Traumgestalten, wer von euch Ist Jehuda ben Halevy? Doch sie huschen rasch vorüber; Die Gespenster scheuen furchtsam Der Lebendgen plumpen Zuspruch – Aber ihn hab ich erkannt – Ich erkannt ihn an der bleichen Und gedankenstolzen Stirne, An der Augen süßer Starrheit – Sahn mich an so schmerzlich forschend – Doch zumeist erkannt ich ihn An dem rätselhaften Lächeln Jener schön gereimten Lippen, Die man nur bei Dichtern findet38

37 Zitiert nach Schütz 1992, S. 23, Anm. 67. 38 Heinrich Heine, Jehuda Ben Halevy, in: Heinrich Heine, Romanzero, hrsg. von Bernd Kortländer, Nachwort von Jean-Pierre Lefebvre, Stuttgart 1997, S. 136–168; hier S. 136f. [V 11–24].

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Achtzig Jahre nach Falkensohn Behrs Gedichte von einem polnischen Juden verschafft sich hier ein weiteres lyrisches Porträt eines jüdischen Dichters Gehör: Heinrich Heines Jehuda ben Halevy (1851). Die Traumgestalt des Dichterideals, das sich dem nach Jehuda ben Halevy fragenden Ich hier enthüllt, verweist auf einen Dichter des ausgehenden elften Jahrhunderts, von dem selbstverständlich kein äußeres Bildnis überliefert ist. Insofern sei, so Hartmut Steinecke, „dahingestellt, inwiefern Heine mit der Hervorhebung besonderer physiognomischer Merkmale eigene Porträts wiedergibt oder ein idealisiertes Dichterbild beschreibt“.39 Genau diese Frage ist jedoch für den vorliegenden Kontext hochinteressant. Heine, der ja erst spät die Jüdischkeit und die Bedeutung der jüdischen Literatur als wichtige Komponenten seines dichterischen Selbstverständnisses entdeckte,40 hat mit Jehuda ben Halevy zugleich sein umfangreichstes Dichtergedicht überhaupt vorgelegt. In seinem Spätwerk Romanzero umfasst dieses Gedicht 223 Strophen und knapp 900 Verse. Umso augenfälliger ist es, dass Heine selbst den Fragmentcharakter dieses Gedichts so deutlich betont. Jehuda ben Halevy sei „eigentlich nur ein Fragment – es fehlte mir die Muße zu Feile und Ergänzung,“41 heißt es scheinbar lapidar. Die Forschung hat dieses Gedicht dann auch entsprechend nebensächlich behandelt, zumal in den wenigen existierenden Abhandlungen dessen Sperrigkeit immer wieder betont wird, denn „durch das Ausufern der Abschweifungen vereine das Gedicht sehr unterschiedliches, auch widersprüchliches, das sich schwer auflösen lasse“.42 Nimmt man diese Lesebeobachtungen mit ihren Aussagen als solche aber einmal an, dann liefern sie ebenso wie das „rätselhafte Lächeln“ jener „schön gereimten Lippen“ und die „schmerzlich forschend[en]“ Augen auf Ebene der Verse, Merkmale eines Dichterporträts, das sich durchaus als Selbstbildnis Heines interpretieren lässt. Und der Schlüssel zu dieser Lesart liegt tatsächlich in der Identifikation Heines mit der jüdischen Dichtertradition der Diaspora, die wie bei Jehuda ben Halevy, dem großen spanisch-jüdischen 39 Hartmut Steinecke, Jüdische Dichter-Bilder in Heines „Jehuda ben Halevy“, in: Heine und die Weltliteratur, ed. by T.J. Reed and Alexander Stillmark, Part II: Heine’s Jewishness, London 2000, S. 122–139; hier S. 123. 40 Dazu explizit wieder Steinecke, ebd., S. 122 sowie Jasper 2004, darin das Kapitel „Die Wunde Heine“, S. 163–190. Außerdem grundlegend zur Frage nach der Jüdischkeit in Heinrich Heines autobiographischen Texten der gleichlautende Aufsatz von Caspar Battegay: Wie nicht erinnern? Die Frage nach der Jüdischkeit in Heinrich Heines autobiographischen Texten, in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien 2006, Heft 12, S. 8–26 sowie Jeffrey Grossman, Heine and Jewish Culture: The Poetics of Appropriation, in: Robert F. Cook (ed), A Companion to the Works of Heinrich Heine, Rochester 2002, S. 251–282. 41 Heine an Campe, 28.8.1851, in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Säkularausgabe. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Berlin: AkademieVerlag und Paris: editions du CNRS 1970ff. (=HSA), Bd. XXIII, S. 117. 42 Steinecke 2000, S. 123.

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Dichter des Mittelalters,43 geprägt ist von seiner Außenseiterrolle und den Erfahrungen des Exils. Lebenserfahrungen also, die bestimmte poetische Mittel wie Ironie, Selbstverspottung und Humor zunächst einmal als notwendige Mechanismen des Selbstschutzes einfordern, die aber dann von Heine immer souveräner und artistischer zu einer eigenen Schreibweise ausgebildet werden. Eine ‚Schreibart‘, die Heine später in den Augen der Forschung als den Prototyp des modernen Dichters kennzeichnen wird, so wie wiederum der jüdische Dichter Heines Ansicht nach den Protoyp des modernen Dichters ausmacht.44 In Jehuda ben Halevy lässt sich die für Heines Poesie so elementare Verschränkung von Leid­erfahrung (des Exils) und Ironie (als Widerhaken der Distanzierung und Schmerzbewältigung zugleich) sowie der Wechsel vom hohen zum saloppen Ton exemplarisch an folgender Textpassage aufzeigen, wenn sich das lyrische Ich mit Jehunda ben Halevy zu einem identifikatorischen Wir zusammen bindet: Bey den Wassern Babels saßen Wir und weinten, unsre Harfen Lehnten an den Trauerweiden – Kennst du noch das alte Lied? […] Ohne Dame keine Minne, Und es war dem Minnesänger Unentbehrlich eine Dame, Wie dem Butterbrot die Butter. Auch der Held, den wir besingen, Auch Jehuda ben Halevy Hatte seine Herzensdame; Doch sie war besondrer Art. 43 Jehuda ben Halevy: Sein vollständiger Name lautete Jehuda ben Samuel Hallewi (1075–1141). Als Hauptquelle für Heines Gedicht über Halevy nennt die Forschung ein Buch von Michael Sachs über die Poesie der Juden in Spanien: Michael Sachs, Die religiöse Poesie der Juden in Spanien, Berlin 1845. Darin heißt es u. a., und wird auch in den Anhangsnotizen von Heine so zitiert: „Das Lied, das der Levit Jehuda gesungen, – ist als Prachtdiadem um der Gemeinde Haupt geschlungen, – als Perlenschnur hält es ihren Hals umrungen. […] und in seinen Klagetönen – lässt er strömen die Wolken der Tränen, – in den Briefen und Schriften, der er verfasst, – ist alle Poesie eingefasst.“ (Rabbi Salomo Al-Charisi über Rabbi Jehuda Halevy) Hier zitiert nach: Heine 1997, S. 193. 44 Steinecke ebd., S. 135f. sowie insbesondere Bernd Witte, der bei Heine ganz dezidiert den Ursprung der Moderne im Geist des Judentums ausmacht. Bernd Witte, Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in „Der Rabbi von Bacherach“, Nachweis siehe das Kapitel I.1.4 der vorliegenden Studie, wo unter dem Stichwort „die Entmystifizierung der Juden“ sowohl auf Wittes Ansatz als auch auf Heines Rabbi von Bacherach rekurriert wird.

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[…]

Jene, die der Rabbi liebte, War ein traurig armes Liebchen, Der Zerstörung Jammerbildnis, Und sie hieß Jerusalem.45

Dass Heine sein umfangreichstes Dichtergedicht zugleich als Fragment, an welchem ihm die Muße zu Feilen fehle, herunterspielt, spricht meiner Ansicht nach nicht gegen, sondern gerade für die Bedeutung dieses Gedichts für Heine und seine Positionierung als Dichter. Denn versteht man seine Aussage strategisch, so finden sich hier die probaten Schutzmechanismen der Untertreibung und Ironisierung wieder, die Heine auch in seinen dichterischen Werken verwendet, und zwar neben den Elementen der Überhöhung, des Hybriden und der Idealisierung, wie sie in den physiognomischen Merkmalen des Dichterporträts mit dem „schmerzlich forschend“[en] Auge und dem „rätselhaften Lächeln“ der „schön gereimten Lippen“, die sich „nur bei Dichtern“ finden, anklingen. Merkmale, die durchaus einen Autonomieanspruch der Kunst formulieren. Die kritische Beobachtung der Forschung also, dass das Gedicht zu viel Widersprüchliches in sich vereine, das sich nicht auflösen lasse, kann durchaus auch als Essenz eines dichterischen Daseins gelesen werden, die „zahllosen Ausschweifungen“ als Strategie der Zerstreuung, die um den Schmerz methodisch kreisen, das Fragment als adäquate künstlerische Form, die dem Dasein als Dichter im Allgemeinen und jüdischem Dichter im Besonderen entspricht. Die Überlagerung von jüdischem Dichterideal, hier in Gestalt Jehuda ben Halevys, und Selbstbild entspricht also durchaus Heines dichterischem Selbstverständnis, wie er es in seinem Spätwerk in Auseinandersetzung mit der jüdischen Literatur entwickelt.46 Dafür spricht auch der bislang noch nicht gedeutete Umstand, dass sich Jehuda ben Halevy dem Ich ja als Traumgestalt nähert, die der Anrufung bedarf, um Konturen anzunehmen. Alle Träume folgen dem Mund, heißt es im Talmud.47 Und: ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief. Den Schriftgelehrten zufolge ist es dabei ganz gleich, was der Träumende sieht, Bedeutung erhält es erst durch die Deutung. Einmal ausgesprochen aber hat die Deutung Bestand und wird sich erfüllen. Die Traumgestalt Jehuda ben Halevys wird also erst durch die Anrufung des Ichs in den Mund, in die Aussprache geholt, und erhält dadurch Bestand. Und dieselbe Macht des Wortes ist am Werk, wenn diese, mit Heines „unausgefeilten“ Traum45 Heine 1997, S. 143ff. [V 1–4; V 73–80; V 93–96]. 46 Steinecke 2000, Jasper 2004, Witte (siehe Kap. I.1.4. dieser Arbeit). 47 In seinem Roman „Die Leinwand“ rekurriert Benjamin Stein sehr eindrucksvoll auf die Bedeutung von Traum und Wort im Talmud; ein Zusammenhang, der für seine observant lebende Hauptfigur Amnon Zichroni existentiell bestimmend wird: Benjamin Stein, Die Leinwand, München 2010, S. bzw. Z. 13.

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gebilde des Gedichts, vom Leser gedeutet werden. Die Ambivalenz der Wortgewalt, die Autonomie wie Verantwortlichkeit des Schöpferischen scheint hier ebenso auf wie die Verwobenheit von eigener und anderer Stimme. War bei Falkensohn Behr das deutliche Anliegen, sich selbst als Dichter den Anderen zu erklären und sichtbar zu machen, so spricht „das rätselhafte Lächeln“ des Jehuda ben Halevy bei Heine dafür, dass die Deutung dem Leser anheimgestellt und von diesem auch verantwortet wird. Jene (Fremd-)Bilder, die von den jüdischen Autoren vorgefunden und aufgegriffen werden, sei es in reflektierender, affirmativer, repetierender, ironisierender oder dekonstruierender Weise, sind daher in Kategorien von wahr und falsch, fiktiv und real nicht zu fassen. Es kommt ihnen in der hier erörterten, spezifischen Weise vielmehr eine Wirklichkeit simulierende Funktion zu, die es hinsichtlich der Selbstauskünfte einer Gesellschaft sowie der Identitätsgenese ernst zu nehmen und zu analysieren gilt. Mit dem Charakteristikum einer doppelten Identität als Deutscher und Jude und dessen Ein­schreibung in die Erzählliteratur vor 1933 beschäftigt sich insbesondere Gershon Shaked in seiner literaturwissenschaftlichen Schrift Die Macht der Identität. Shaked arbeitet die semiotischen Kriterien heraus, die jene Macht der Identität belegen. Unter Soziosemiotik versteht Shaked eine Zeichenreihe, die nur nach dem Code einer bestimmten Gruppe entschlüsselt werden kann. ‚Das Jüdische‘ eines literarischen Werks, so Shaked, sei daher dann gegeben, wenn die fiktive Welt des Romans „Verhalten- und Lebensformen widerspiegelt, die aufgrund semiotischer Krite­rien aus der jüdischen Sozialgruppe abgeleitet werden können.“48 Seine zentrale Fragestellung lau­tet daher, ob die soziale und manchmal auch „kulturelle Randposition“ der jüdischen Schriftstel­ler sowie die Tatsache, „dass die kulturelle Tradition dieser Dichter aus zwei Quellen stammt, aus dem jüdischen Erbe mit einer besonderen Sozialgeschichte und aus der westlichen, literarischen Tradition, irgendeinen wesentlichen Einfluss auf die literarischen Werke gehabt“ habe. Er kommt dabei zu folgendem Schluss: Im Allgemeinen ist die deutsch-jüdische Literatur eine der Identitätsflucht. Sie leidet unter der Last eines Erbes und kämpft gegen eine Identität, die ihr als Stigma von außen auferlegt ist und die dann verinnerlicht wurde. Die Helden der deutsch-jüdischen Literatur werden wegen ihrer Identität verfolgt, und in der Regel löst die Erzählung ihre Krise nicht. Der Konflikt zwischen verschiedenen Identitäten wie die Erfahrung des Identitätsverlustes machen das Erleben einer doppelten Identität negativ und zerstörerisch.49

48 Gershon Shaked, Die Macht der Identität. Essays über jüdische Schriftsteller, Königstein/Ts. 1986, S. 23, Anm. 68. 49 Ebd., S. 209f.

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Identitätsflucht ist für Gershon Shaked demnach das zentrale Kriterium einer deutsch-jüdischen Literatur vor 1933. Der kurze Einblick in die Gedichte eines polnischen Juden von Isachar Falkensohn Behr aus den Anfangsjahren der deutschjüdischen Literaturgeschichte hat denn auch gezeigt, dass Behrs Gedichte von einem Leiden an zu viel Jüdischkeit zeugen („Kein falsches Bild / Ich bin nicht wild …“). Die daraus resultierende Verzweiflung war seine Inspiration,50 weswegen die meis­terliche Beherrschung der deutschen Kultursprache ganz besonders unter Beweis gestellt werden muss. Die Aporie der Behrschen Poetik, in der auch sein lyrisches Ich in dem hier erör­terten Gedicht verhaftet bleibt, lässt sich daher so zusammenfassen: Wie soll ich mich nennen, ohne in anderer Sprache zu sein?51 Isachar Falkensohn Behr sprach ebenso wie Heinrich Heine in seinen Gedichten keine andere Sprache. Und genau dieser Umstand wurde Behr entweder als Kritik ausgelegt wie bei Goethe, der sich von jener Stimme des ‚Anderen‘ so viel erhofft hatte, oder er gereichte ihm, wie etwa bei Karl Lessing, zum zweifelhaften Lob, da man hierin den Wunsch eines aufstrebenden Dichters erkannte, seine jüdi­sche Identität zu Gunsten einer Teilhabe an der deutschen Kultur abzustreifen.52 Für die Lyrik markieren Behrs poetische Versuche daher jenen „Aufbruch der Juden von sich selbst weg“, von dem Scholem mit Blick auf das achtzehnte Jahrhundert gesprochen hat.53 Die soziokultu­rellen Codes der Jüdischkeit werden hier als Markierungen einer Herkunft gesetzt, die im Zuge der Neuerfindung von Identität hinter dem Bild und dem Ton des deutschen Dichterjünglings verblassen mögen. Von dort ist es dann nicht mehr weit bis zur Aufgabe des Namens, wie Behrs Zeitgenosse Karl Lessing – anerkennend – bemerkte. „Wörter, das sind Namen, Namen von Ängsten und Angst“ – so Robert Schindel im Jahr 1995. Erhalten hat sich diese bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichende Verinnerlichung, als Jude eine ‚andere Sprache‘ zu sprechen, bis in die Gegenwart hinein. Dies kann man etwa Schindels Selbstauskünften entnehmen: „Ich sprach breites Praterdeutsch und gehörte in der Volksschule den­noch nicht dazu. Das Praterdeutsch wurde umso breiter, je weniger ich dazugehörte, daneben wuchs, verborgen und kräftig aus vermutlich diesem kühlen Grund, mein hochdeutsch.“54 50 Schütz 1992, S. 22, Anm. 63. 51 Diese Formulierung spielt auf einen Vers von Ingeborg Bachmann an, die in ihrem Gedicht „Wie soll ich mich nennen?“ folgende Frage ins Offene stellt: „Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen, / ohne in anderer Sprache zu sein?“, siehe: Ingeborg Bachmann, Gesammelte Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Müller, Band 1, Sonderausgabe München, Zürich 1982, S. 20. 52 Siehe Jasper 2004, S. 65f. 53 Scholem 1970, S. 33. 54 Schindel 1995, S. 112.

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Von Behrs Gedicht, einem Gründungstext aus den Anfangsjahren jüdischer Stimmen in der deutschen Literatur bis zu Roberts Schindels Roman Gebürtig, der genau zweihundertzwanzig Jahre später erscheint, lässt sich also ein jüdischer Stimmkreis, ein Meridian, bilden. So ‚hört‘ man in den „dunkelsilbrigen Wörtern“ der Mascha Singer aus Schindels Gebürtig den Dichter Falkensohn Behr ebenso mitsprechen wie in folgendem Gespräch zwischen den beiden jüdischen Figuren Danny Demant und Paul Hirschberger: „Dein Verhältnis zur Sprache hat was Jüdisches“, sagte ich ihm, nachdem ich fertig gelacht hatte. „Was du dich drehst und wendest.“ […] „Was heißt, hat was Jüdisches? Ich schreibe ein tadelloses Deutsch.“ „Schon damit unterscheidest du dich von den Deutschen. Im Unterschied zu denen mußt du es beweisen.“55

Die Fremdheitserfahrungen der Diaspora werden mit ihrer Bildersprache, die auf einer extrapolierten Sichtbarkeit und Hörbarkeit, auf einem (aus Sicht der Anderen) ‚Zu viel‘ an Jüdischkeit gründete, in der gegenwärtigen Umbruchzeit, in der sich insbesondere für die Juden ohne Jüdischkeit die große Herausforderung nach einer anderen, nicht diffamierten Sichtbarkeit und Hörbarkeit stellt, also durchaus wieder aktualisiert. Inwieweit diese Form der Rückbindung künstlerisch trägt, danach bleibt ebenso offen zu fragen wie nach möglichen Fortschreibungen, die sich nach dem Kontinuitätsbruch der Shoah mit dem Erbe einer kritischen deutsch-jüdischen Tradition, für die etwa Heinrich Heines Spätwerk steht,56 noch produktiv anböten. So wie Heine seinerzeit durch Anverwandlungen der jüdischen Tradition seine eigene persönliche Schreibweise weiterentwickeln konnte. Was über einen so weiten historischen Raum aber augenscheinlich konstant bleibt, ist die alte-neue Sehnsucht, wie Falkensohn Behr das Andere als das Eigene wählen (oder ablehnen) zu dürfen und damit als Angehöriger einer Min­ derheit nicht nur der Selbstbespiegelung der Mehrheitsgesellschaft zu dienen, sondern sich in ihrem Kreis auch verorten und zugehörig fühlen zu können, so wie es die große Losung der Auf­klärung verheißen hatte.

55 Schindel 1992, S. 275. 56 Sehr eindrucksvoll stellt etwa Hannah Arendt in ihrem Werk „Die verborgene Tradition“ Heinrich Heine in den Kontext der jüdischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts und entwickelt, eingehend auf Heines „Jehuda ben Halevy“, ihren bekannten Begriff der „Paria-Literatur“ als einer Minderheiten-Literatur. Nachweis und Erörterung siehe Kapitel II.2.1. dieser Arbeit.

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1.3. Vom ‚Fremden‘ zum ‚Anderen‘. Das Versprechen der Aufklärung Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, be­ruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesproche­nen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden […] Jene berühmt gewordene Lo­sung aus den Emanzipationskämpfen: „Den Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt: als Juden) nichts“, ist es, die verhindert hat, daß je ein deutsch-jüdisches Gespräch in Gang gekommen ist.57

Von Humboldt bis zu George – dass Scholem im Hinblick auf das deutsch-jüdische Gespräch den Namen Wilhelm von Humboldts, wenn auch kritisch, an dessen Anfang setzt, hat seine guten Gründe. So gelangt Humboldt in seiner Abhandlung Über den Dualis (1827) zu einer Defi­nition über das Wesen des Gesprächs, die für den öffentlichen Dialog zwischen Deutschen und Juden elementar war: Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglich­keit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen kör­perlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurück­ strahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen.58

Indem Humboldt zum einen die fremde Denkkraft als konstruktives Element einer reziprok sich vollziehenden Bewusstseinsbildung würdigt und zugleich die Sprache von ihrem Wesen her als dualistisch-gesellschaftlich geprägt erklärt, löst er aus dem vormals Fremden ein Du heraus, das dem Ich sprechend gegenüber tritt. Durch diese dialogische Gegenüberstellung ent­steht eine Nähe, die aus dem ‚fremden Anderen‘ den ‚eigenen Anderen‘ zu werden ermög­licht. Den jüdischen Stimmen, die sich in der deutschen Literatur und Gesellschaft seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Gehör zu verschaffen suchten, bot sich Humboldts dialogisch geprägter Begriff des ‚Anderen‘ zur Verortung und Legitimierung ihrer Sprecherposition daher maßgeblich an. 57 Scholem 1970, S. 9. 58 Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Band 6, Berlin 1907, S. 26. Zu Humboldts Begriff des ‚Anderen‘ siehe u. a. auch Harald Thum, Ausgrenzung und Einbezug des Fremden aus sprachlicher Sicht, in: Günter Eifler, Otto Saame (Hrsg.), Das Fremde. Aneignung und Ausgrenzung, Wien 1991, S. 121–136.

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Im Zuge der Aufklärung und der Proklamation der universalistisch gedeuteten Menschen­rechte war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Europa erstmals eine Integration der Juden in die Gesellschaft möglich geworden, die sich seit dem Mittelalter überwiegend am Stadtrand oder in gettoisierten Bezirken der jeweiligen Städte angesiedelt hatten und auf die bis dato, aus Perspektive der jeweili­gen Gesellschaft, die Kategorisierung als ‚Fremde‘ zutraf. Auch wenn „Eigenes und Fremdes, Eigenkultur und Fremdkultur“, wie wiederum Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie des Fremden betont, einander „nicht gegenübertreten wie Monaden, die in sich abge­schlossen sind,“59 und sich das viel beschriebene „Paradox des Fremden“, das, sobald das Fremde als solches erkannt ist, es nicht mehr fremd sein kann,60 sich lediglich als operationaler Begriff der Identitätskonstruktion, der an die Stelle des Verstehens tritt, verwenden lässt, ist die Konstruktion kollektiver, nationaler, ethnischer oder sozialer Identitäten ohne eine – wie auch immer ausgeprägte – Gegenüberstellung zweier Personen oder Gemein­schaften, die sich durch Nicht-Identität bewusstseinsstiftend voneinander unterscheiden, eben nicht denkbar. Die Akkulturation der Juden, die Transformation des ‚Fremden‘ in den ‚Anderen‘ war in jenem Jahrhundert der Anthropologie dabei nicht von sekundä­rem Belang, sie galt vielmehr als Prüfstein der deutschen Aufklärung.61 So forderte etwa Christian Wilhelm von Dohm bereits 1781, also noch ein knappes Jahrzehnt vor der Französischen Revolution, in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, die glei­chen Bürger- und Grundrechte für die Juden ein.62 Allerdings argumentiert Dohm noch nicht von ei­nem naturrechtlichen Standpunkt her, von dem aus gesehen etwa die Rechtsgleichheit als ein unveräußerliches und damit universales Menschenrecht gilt, sondern aus den pragmatischen Er­wägungen der Staatsräson heraus; so sah er beispielsweise noch die juridische Autonomie für die jüdischen Gemeinden vor, innerhalb derer dem Rabbiner etwa das Recht auf den Bannspruch zukam. „Den Juden als Individuen alles“ – so lautete jene für die Juden so verheißungs­ volle Losung. Worin genau aber sollte diese Individualität bestehen, wenn die Person die Kennt­lichkeit ihrer Herkunft, ihre kulturellen oder religiösen Eigenarten zu tilgen hatte? Denn während die Aufklä­rung eine allgemein menschliche 59 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006, S. 117. Siehe auch die Publikation von Etienne Balibar, Der Schauplatz des Anderen, Hamburg 2006. 60 Vgl. dazu grundlegend Andrea Polascheggs Ausführungen zur Alterität und Imagination, die zudem einen sehr guten Forschungsüberblick zum Thema „Das Fremde“ und „Das Eigene“ bieten: Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005, S. 46ff. 61 Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung, München 2002, S. 179–181. 62 Vgl. Jasper 2004, S. 32f.

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Gleichheit postulierte, scheiterte ebendieses Postulat an den existentiellen Ungleichheiten. Die Zugehörigkeit zum Judentum wurde insbesondere unter den Bürgern der großen Städte nach und nach zu einer Frage der Konfession degradiert und damit analog zum allgemei­nen Säkularisierungsprozess der westeuropäischen Gesellschaften zur Privatsache. Zwar verbes­serte sich die rechtliche und existentielle Situation der Juden dadurch immens. Die Emanzipation vom ganzheitlichen Zugriff der jüdischen Gemeinden und der freie Zugang zu den Berufen und Lebensweisen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft hatten aber auch fundamentale Identitäts­krisen zur Folge. Die Resultate der Assimilation wurden und werden daher in innerjüdischen Kreisen sehr kontrovers diskutiert. Dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Zygmunt Baumann zufolge musste etwa der Zu­stand existentieller Ambivalenz, resultierend aus der Auflösung des Aufgehobenseins der Juden in ihren jüdischen Gemeinden einerseits und der verwehrten, vollständigen Integration in die nichtjüdischen Kreise andererseits, zwangsläufig zur Aufgabe von Identität und in die Ohnmacht, d. h. zur Unterordnung unter das herrschende Kollektiv führen: What did matter in the end was the fact that it was the native elite which ursuped and jealously guarded the right to judge and de­cide whether the efforts to overcome cultural inferiority had been truly earnest and, above all, successful.63

Diese ernüchternde Sicht auf die Folgen der Aufklärung für die Juden, wurde von Scholem dann, der aus einer kulturzionistischen Position heraus argumentiert, entsprechend auf die Formel ge­bracht: „Den Juden als Individuen alles, den Juden als Juden nichts.“ Bei Scholem ist die Polemik sowie die kritisch-resignative Vehemenz seines Urteiles aber auch verbunden mit einer entschiedenen Selbstkritik, nach der die Juden nur allzu bereit gewesen seien je­ner verhängnisvollen Losung der Aufklärung zu folgen, um zu Gunsten einer Teilhabe an der deutschen Verfassung, Gesellschaft, Sprache und Kultur, ihre jüdische Identität aufzugeben. Eine Entwicklung der Akkulturation also, die Scholem – mit Charles Péguy – als „Aufbruch von sich selbst weg“64 und die Gershon Shaked für den literarischen Raum als „Identitätsflucht“ bezeich­net hat, wobei letztere beispielhaft in den Gedichten Falkensohn Behrs ihren Ausdruck findet. Ein Aufbruch, der sich als überaus trügerisch erwies, wenn selbst den ihrer jüdischen Her­kunft so entfremdeten Künstlern und Denkern wie Marx, Lasalle, Krauss, Mahler, Tucholsky oder Simmel von

63 Zygmunt Baumann, Modernity and Ambivalence, Cambridge 1991, S. 112. 64 Scholem 1970, S. 33.

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den Deutschen gerade dort noch die „jüdische Substanz“ ihrer Äußerungen attestiert wurde, wo sie selbst diese am Entschiedensten zu leug­nen versuchten.65 Das Projekt einer areligiösen, individualistisch begründeten jüdischen Identitätsbildung ist damit zugleich Kind der Aufklärung und ihre Kritik. Ungeachtet ihrer Kritiker besaß jenes ‚Versprechen‘ der Aufklärung vor allem für eine Gruppe eine besondere Anziehungskraft: die Autoren. Albert Ehrenstein erklärt die auffällig starke Präsenz jüdischer Stimmen in der deutschen Litera­tur und Kunst so: Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht er­klärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrtausende das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in ei­ner politischen Depression lebend, […] ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abge­drängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsstellungen, mußte in der Kunst fast die einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu verschaffen.66

Der literarische Raum des Fiktiven ist daher von vornherein der Ort gewesen, an dem die Juden im Zuge ihrer schrittweisen Integration ihre Stimmen erhoben: In der westlichen Welt, so Sander Gilman, wo „das Volk des Buches“ auf „das Volk der Bücher“ traf, galt das (literarische) Schreiben in der Sprache des jeweiligen Landes, insbesondere nach der Aufklärung, als „allge­meines Modell der Äußerung jüdischer Identität.“67 So heißt es im März 1933 in einem Brief Joseph Roths an Stefan Zweig: 65 Ebd. 66 Siehe: Schütz 1992, S. 18, Anm. 49. Unter den zweitausend bedeutendsten Juden des 20. Jahrhunderts sind nach Walter Tetzlaff mehr als dreihundert Schriftsteller. Auch Kaznelson hatte in seinem Sammelwerk etwa zweihundertfünfzig jüdische Autoren aufgenommen, im „PhiloLexikon“ von 1934 sind es etwa dreihundert jüdische Autoren und Harry Zohn führt über fünfhundert „Wiener Juden in der deutschen Literatur“ auf. Natürlich kann die Frage nach dem ‚Beitrag‘ oder ‚Anteil‘ jüdischer Schriftsteller an der deutschen Literaturgeschichte nicht durch Statistiken und Namen beantwortet werden. Nicht nur, weil, wie Schütz richtigstellt, gelegentlich auch Nichtjuden in diese Listen der deutsch-jüdischen Literatur aufgenommen wurden, und der Begriff des „jüdischen Schriftstellers“ an sich problematisch ist und wechselnden Definitionen unterliegt, sondern weil diese Perspektive an sich schon den Juden eine sei es positiv, sei es negativ gewertete ‚Gastrolle‘ in der deutschen Kultur einräumt. 67 Gilman 1993, S. 33. Auch im Allgemeinverständnis ist der Zusammenhang zwischen Juden und Kunst, insbesondere zwischen Juden und der Literatur, tief in den Vorstellungen verankert. Besonders erwähnenswert ist das Klischee vom ‚Bücherjuden‘, obwohl das literarische Wirken in deutscher Sprache aus­schließlich der Gruppe der Gebildeten unter den Juden möglich war. Dennoch wurden die literarischen Judenbilder stets in exzeptioneller Weise von den Lesern mit einer außerliterarischen Realität des Jüdischseins in eins gesetzt, bzw. mangels realer Erfahrung im näheren alltäglichen Umgang mit Juden dienten diese Bilder oftmals als

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Man konnte das 6000jährige jüdische Erbe nicht verleugnen; aber ebensowenig kann man das 2000jährige nicht-jüdische verleugnen. Wir kommen eher aus der „Emanzipation“, aus der Humanität, aus dem „Hu­manen“, als aus Ägypten. Unsere Ahnen sind Goethe, Lessing, Herder nicht minder als Abraham, Isaak und Jakob.68

1.4. Der ‚Andere‘. Literarisches Tauziehen Der Umgang mit dieser von Joseph Roth als Erbe bezeichneten Tradition lässt sich durchaus als eine Form von literarischem Tauziehen beschreiben. Spätestens seit der Aufklärung, seitdem im Humboldtschen Sinne geführten Dialog zwi­schen Moses Mendelssohn und Lessing, lässt sich, wie gesagt, eine enge Wechselbeziehung zwi­schen einem ‚jüdischen‘ und einem ‚deutschen‘ literarischen Schaffen feststellen. So hat man sich in der Literatur­wissenschaft weitgehend darauf geeinigt, das ‚Gründungsdatum‘ der deutsch-jüdischen Literatur auf das Jahr 1767 anzusetzen. Jenes Jahr also, in dem Moses Mendelssohn seine philosophischen Gespräche Phädon veröffentlichte.69 Die Leserschaft war damit nicht mehr wie bei den rabbinischen Texten auf ein jüdisches Publikum beschränkt, nichtjüdische Leser gehörten fortan, so Hans-Peter Bayerdörfer, ausdrücklich zur Zielgruppe der jüdischen Autoren.70 In Anlehnung an Schillers Jenaer Antrittsvorlesung 1789, wurden unter der Formel: Warum und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literatur?71 von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein von den Vertretern des geistigen und kulturellen Lebens die Möglichkeiten und Grenzen jener Literatur debattiert, und zwar unter wechselseitiger Gewichtung jeweils des ‚jüdischen‘ bzw. ‚deutschen‘ Aspekts. Die beiden Gattungsbezeichnungen: Deutsche Literatur jüdischer Autoren (deutsch-jüdische Literatur) sowie Jü-

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Wirklichkeitsersatz. So entstand etwa Shakespeares gnadenloser Wucherer Shylock aus dem Kaufmann von Venedig, eine der herausragenden jüdischen Gestalten der Weltliteratur, in einer Umgebung und zu einer Zeit, in der es in England so gut wie keine Juden gab. Joseph Roth, Briefe 1911–1939, hrsg. und eingeleitet von Hermann Kesten, Köln 1970, S. 34. Insbesondere der Germanist Hans Mayer ist für dieses Gründungsdatum eingetreten. Siehe Hans Mayer, Das Gedächtnis und die Geschichte. Gedanken beim Aufschreiben von Erinnerung, in: Moses, Schöne 1986, S. 13–24, hier: S. 14. Vgl. auch Egon Schwarz, Der „Beitrag“ der Juden zur deutschen Literatur, in: Literatur und Kritik, Nr. 229/230, November/Dezember 1988, S. 385–401; S. 389f. Grimm, Bayerdörfer 1985, S. 17. Scholem 1970, S. 34. Siehe auch seine Interpretation des Verhältnisses der jüdischen SchillerBegeisterung in Schieflage zu Schillers Zurückhaltung. Schiller habe Scholem zufolge „nie direkt zu den Juden gesprochen“ (S. 30). Zur jüdischen Schiller-Rezeption ist außerdem jüngst eine Monographie von Andreas Kilcher erschienen. Andreas B. Kilcher, Geteilte Freude – Schiller Rezeption in der jüdischen Moderne, München 2007.

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dische Literatur in deutscher Sprache72 können in diesem Kontext als die beiden großen Pole bezeichnet werden, zwi­schen denen sich die kontroversen kulturzionistischen, völkischen und emanzipatorischen Interpretationen bewegten, bevor diese Debatte durch den ideologischen Missbrauch des Begriffs ‚jüdisch‘ in der völkischen und nationalsozialistischen Germanistik,73 durch Exil und Shoah ihren deutschsprachigen Diskursraum einbüßte, um erst Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts unter neuen Gesichtspunkten wieder aufgegriffen zu werden.74 72 Zur Brisanz einer deutsch-jüdischen Literatur, die eigentlich eine deutsche Literatur jüdischer Autoren sein will, aber nicht sein darf, siehe besonders Moritz Goldstein, der auch den Bindestrich-Begriff ‚deutsch-jüdische‘ Literatur mit seinem Essay geprägt hat: Moritz Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart 25 (1912), Heft 11, S. 281–294. Siehe auch S. 34 der vorliegenden Arbeit. Zur grundsätzlichen Diskussion des Begriffs der deutsch-jüdischen Literatur vgl. Hana Wirth-Nesher (Hrsg.), What is Jewish Literatur?, Philadelphia 1994, sowie Hans Otto Horch, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte?“ Prolegomena zu einem Forschungsprojekt, in: German Life and Letters 49 (1996), S. 124–135. Der Begriff ‚jüdische Literatur‘ (in deutscher Sprache) selbst ist ein Begriff, der innerhalb der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert geprägt wurde, insbesondere der Historiker Leopold Zunz ist hier als Impulsgeber zu nennen. Siehe Leopold Zunz, Juden und jüdische Literatur (1845), in: Ders. Gesammelte Schriften, hrsg. vom Curatorium der „Zunzstiftung“, 3 Bände in einem Band, Band 1, Hildesheim/New York 1976 (Nachdr. der Ausgabe Berlin 1875–1876), S. 1–31; elementar war auch der Aufsatz von Moritz Lazarus: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man jüdische Geschichte und Literatur?“ Ein Vortrag, Leipzig 1900, und Ismar Ellbogens wegweisenden Artikel „Literatur der Juden“, in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet von Georg Herlitz und Bruno Krischner, Band 3, Frankfurt am Main 1987 (Nachdr. der Ausgabe Berlin 1927), Sp. 1126–1147; siehe auch Meyer Kayserling, Die Jüdische Literatur von Moses Mendelssohn bis auf die Gegenwart, Trier 1986. Zur Forschung siehe insbesondere Hans Otto Horch und Itta Shedletzky, Die deutsch-jüdische Literatur und ihre Geschichte, in: Julius H. Schoeps (Hrsg.), Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh, München 1992, S. 291–294 sowie die Überblicke zur Begriffsgeschichte der ‚jüdischen Literatur in deutscher Sprache‘ und zur ‚deutsch-jüdischen Literatur‘ bei Lamping 1998, S. 20–31, in Metzlers Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur: Jüdische Autorinnen und Autoren und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. von Andreas B. Kilcher, Stuttgart, Weimar 2000, Einleitung (V-XX) und bei Jasper 2004, S. 11–24. 73 Vgl. dazu Gerhard Sauder (Hrsg.), Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933, München 1983, S. 171ff. sowie Lamping 1998, S. 21. 74 Geeinigt hat man sich in der neueren Forschung inzwischen darauf, dass die Formel ‚Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur‘ als eine Art „Binnengespräch“ ( Jasper/Lamping) dem problematischeren Begriff der ‚jüdischen Literatur in deutscher Sprache‘ vorzuziehen sei, da jüdische Literatur in deutscher Sprache zwar immer auch deutsch-jüdische Literatur ist, umgekehrt aber deutsche Literatur von Juden nicht unbedingt jüdische Literatur in deutscher Sprache sein muss. Neben der Herkunft sind jüdische Themen und Anliegen innerhalb der Poetik eines Autors ebenso maßgeblich. Siehe insbesondere Hartmut Steinecke, „Deutschjüdische“ Literatur heute. Die Generation nach der Shoah, in: ZfdPh 2002, S. 9–16.

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Das Auftauchen dezidiert jüdischer Stimmen in der deutschen Literatur hatte also nicht etwa deren selbstverständliche Integration, eine Kultursynthese oder gar eine „Verschmelzung von deutschem und jüdischem Geist“ zur Folge,75 welche die Vertreter jener berühmten deutsch-jüdi­schen Symbiose in zweifachem Sinne des Wortes so nachdrücklich propagierten, sondern eine Debatte. Autoren jüdischer Herkunft wurde von Anfang an schlicht ein „Beitrag“ zur deutschen Literatur zugestanden oder abgesprochen.76 In einem Essay des Publizisten Moritz Goldstein aus dem Jahre 1912 findet sich die Enttäuschung darüber am prägnantesten formuliert: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und Fähigkeit dazu abspricht.“77 Hier liegt auch der Ansatzpunkt der aktuellen Studie Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos von Willi Jasper begründet, der in seiner Interpretation der deutsch-jüdischen Literaturge­schichte jenes ‚Versprechen‘ der Aufklärung gegen den Strich liest und damit die deutsch-jüdische Literaturgeschichte selbst als ‚Mythos‘ zu entlarven sucht. Jaspers Kritik an der Rolle der Aufklärung hinsichtlich der Gleichstellung der Juden ist deutlich: Die Aufklärungsphilosophie sah in der Rechtsgleichheit aller Menschen die Grundlage für den Aufbau einer vernünftigen Staats- und Gesellschaftsordnung. Damit wurde die europäische Ständegesellschaft in Frage gestellt. Während die englische und französische Aufklärung auch starke Kräfte der Kritik an Kirche und Christentum freisetzen konnte, verharrte man in Deutschland zur Begründung und Verbesserung einer hu­manen Sittlichkeit im machtgeschützten Rahmen der christlichen Überlieferung – die radikalen Kritiker blieben Außenseiter. Als „Prüfstein“ für den Wert der Aufklärung sollte sich die „Judenfrage“ erweisen. Zwar begannen einige Aufklärer, allen voran Lessing, eine engagierte „Toleranzdebatte“, doch im Hinblick auf die reale Gleichstellung der Juden verkamen die Ideale der Aufklärung zu [bloßen] Schlagwörtern des pragmatischen Denkens.78

Jasper geht es in seiner literaturhistorischen Abhandlung dabei weniger um eine konkrete Analyse der literarischen Werke oder um die Entwicklung eines spezifischen Mythosbegriffs, als viel­mehr um die Dekonstruktion der auf metasprach­ licher Ebene von Deutschen wie auch von sei­tens ihres jüdischen Gegenübers betriebenen Mythenbildungen rund um die historischen ‚Glanz­lichter‘ jener deutsch-jüdischen Literaturbeziehung, wie sie etwa der Begegnung zwischen Lessing und Mendelssohn, der jüdischen Salonkultur, den Personen Kant und 75 Siehe Jasper 2004, S. 12. 76 Dazu insbesondere: Schwarz, Egon, Der „Beitrag“ der Juden zur deutschen Literatur, in: Literatur und Kritik, Nr. 229/230, November/Dezember 1988, S.  385–401 sowie Schütz 1992, S. 16–19. 77 Goldstein 1912. 78 Jasper 2004, S. 25.

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Schiller, der Wiener Moderne, oder auch der Vermittlerfunktion Thomas Manns zugeschrieben werden.79 Die literarische Erörterung dezidiert jüdischer Themen in deutscher Sprache, wie dies etwa in den Werken Rahel Varnhagens, Henriette Herz‘, Hermann Mosenthals, Ludwig Börnes, Heinrich Heines, Arthur Schnitzlers, Joseph Roths, Jakob Wassermanns oder Lion Feuchtwangers der Fall ist, diente, so Jasper, dementsprechend in erster Linie der kulturellen Selbstvergewisse­rung einer Minderheit, die „das Ideal der einheitlichen Aufklärungskultur unter dem Druck der Realität aufgab und damit eine kritische Prüfung einschlägiger Universalismus-Konzepte ermög­lichte“.80 Jaspers kritische Form der aktuellen deutsch-jüdischen Literaturgeschichtsschreibung ist vor allen Dingen einem Denken nach Auschwitz, und damit der doppelten Perspektive eines histori­schen Blickwinkels, geschuldet. Er argumentiert daher ebenso wie Scholem letztendlich rückwir­kend von der Zäsur her, die Exil und Shoah für das deutsch-jüdische Gespräch bedeuten. Bün­deln lassen sich diese Perspektiven in Scholems Fazit: „Mit den Toten ist kein Gespräch mehr möglich. Und von einer Unzerstörbarkeit dieses Gespräches zu sprechen, scheint mir Blasphe­mie.“81 Dementsprechend sei es heute unvermeidlich, so eben auch Hans-Peter Bayerdörfer, dass „das Augenmerk […] jenem Bindestrich zwischen ‚jüdisch‘ und ‚deutsch‘ gilt, dem im Jahrhundert des Holocaust alle Selbstverständlichkeit für immer abhanden gekommen ist“.82 Die zweite einschlägige Forschungsstimme, die in diesem Kontext um das literarhistorische Tau­ziehen zwischen jüdischen Stimmen und deutscher Literatur zitiert werden soll, ist die von Ruth Klüger. Klüger nimmt in ihrer Aufsatzsammlung Katastrophen. Über deutsche Literatur sozusagen eine komplementäre Perspektive zu Jaspers ein, indem sie in Bezug auf die literarischen Dis­kurse über 79 So wird etwa Moses Mendelssohn, der Gründungsvater jener deutsch-jüdischen Literatur von Jasper als eine auch in innerjüdischen Kreisen umstrittene und letztlich gescheiterte ‚Kippfigur‘ beschrieben, da dieser in jener Umbruchsituation Mitte des 18. Jahrhunderts noch versuchte, das scheinbar Unvereinbare zu vereinbaren, nämlich nach deutscher Verfassung mit jüdischer Identität zu leben. Auch Lessings Toleranzdebatte wird kritischen Blicken unterzogen, während die deutsch-jüdische Salonkultur des 19. Jahrhunderts Jasper zufolge vor allen Dingen als ein Forum der christlichen Konversion sowie als eine Art ‚Heiratsmarkt‘ fungierte. Darüber hinaus werden Kant seine antijüdischen Argumentationen nachgewiesen, Schiller und Goethe auf ihre Haltungen zur ‚Judenfrage‘ hin kritisch gelesen und die Ausgrenzung Heinrich Heines aus dem deutschen Literaturbetrieb erörtert. Auch die ambivalenten, problematischen Judenbilder in den Werken Thomas Manns werden diskutiert ebenso wie das Phänomen des jüdischen Selbsthasses bei Autoren der Wiener Moderne wie etwa bei Kurt Tucholsky und Karl Krauss. Der Streit um die Jüdischkeit Franz Kafkas wird thematisiert und das Ende des Projektes deutsch-jüdischer Literatur nach Auschwitz erläutert. 80 Lamping 1998, S. 15. 81 Scholem 1970, S. 11. 82 Bayerdörfer, hier zitiert von Schütz 1992, S. 14, Anm. 29.

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Juden die deutsche Literaturgeschichte als eine Geschichte der Judenfeindschaft liest. Wobei Klüger die Geschichtlichkeit ihres eigenen Blickwinkels ‚nach Auschwitz‘ nicht nur thematisiert, sondern auch ihr Lektüreverhalten dezidiert daraus ableitet: Die Autoren sprechen eine Sprache, wir eine andere, sie sind gesättigt von ihren, wir von unseren Erfahrun­gen, sie werfen uns mit ihren Büchern ein Seil zu und ziehen an dessen einem Ende, wir am anderen, zwi­schen uns ist die Spannung. […] Schließlich steckt in mir die Empörung und Nostalgie der Nachzüglerin, die von jenen 200 Jahren zwischen Aufklärung und Endlösung, als die Juden teilhatten am deutschen Kulturleben, nur noch einen letzten Zip­fel erwischen konnte, und ich ziehe kräftig an diesem Zipfel eines Seils, unter dem sich der Abgrund der jü­dischen Katastrophe auftut.83

Klügers Lektürebild des ‚Tauziehens‘ zwischen Leserin und Werk, das aus Perspektive der Nach­züglerin eher einem ‚Klimmzug‘ über den Abgrund der Katastrophe hinweg gleicht, lässt sich aber auch weiterspinnen und auf die Dynamik der innerliterarischen Diskurse über Juden insge­samt übertragen. Denn die Art und Weise wie die Selbst- und Fremdbilder vom Juden als Dar­stellungen des ‚Anderen‘ in die jeweiligen literarischen Diskurse eingelassen werden, erzeugen insgesamt eine Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die jener Nationalglückse­ligkeit, von der Mendelssohn gesprochen hatte, entgegenwirkt und der Feder die Spannung er­hält. Für jene zweihundert Jahre „zwischen Aufklärung und Endlösung“, von der Klüger spricht, lassen sich nämlich zwei gegenläufige Schreibweisen im ‚Tauziehen‘ um das Judenbild ausma­chen, die sich thesenartig als Mystifizierung,84 vice versa als Entmystifizierung bezeichnen lassen. 1. Die Mystifizierung ‚des Juden‘

Für erstere Schreibweise lassen sich aus den zahlreichen Beispielen judenfeindlicher Darstellun­gen, die Klüger in Katastrophen anführt, zwei exemplarische Werke von hohem literarischem Rang nennen, und zwar Büchners Woyzeck und Grillparzers Die Jüdin von Toledo. In Büchners berühmtem Drama Woyzeck (1879)85 etwa werden die Klischees, die das zeitgenössi­sche Bild des Juden prägen, in der Figur des Trödeljuden, der entsprechend verallgemeinernd schlicht und abwertend „Jud“ genannt wird, ge83 Klüger 1994, S. 7. 84 Mystifizierung wird hier im Sinne der griechisch-lateinischen Wortbedeutung von Mystifikation = „Täuschung“, „Vorspiegelung“, gebraucht. 85 Zitiert nach: Georg Büchner, Werke und Briefe, Münchener Ausgabe, Oktober 1988; 5. Aufl. 1995. Die Seitenangaben erfolgen hinter dem jeweiligen Zitat.

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bündelt und sehr gekonnt vorgeführt: Zum einen ist der Jud der skrupellose todbringende Jude, der Woyzeck das Mordmesser verkauft, zum zwei­ten ist er der ‚Geldjud‘, und zwar sowohl auf Ebene der Selbstauskunft, wenn er sich empört, als ihm Woyzeck die zwei Groschen für das Messer hinwirft: („Als ob‘s nichts wär. Und es is doch Geld. Der Hund“, 249) als auch aus der Fremdsicht. So sagt Marie, Woyzecks untreue Freundin, im Streit zu Margreth: „Trag Sie Ihr Auge zum Jud und laß Sie sie putze, vielleicht glänze sie noch, daß man sie für zwei Knöpf verkaufe könnt.“ (235f.) Drittens aber werden die männlichen Machtphantasien hinsichtlich der Beherrschung jenes ‚An­deren‘ im Ausspruch des Ersten Handwerksburschen – im Drama wird seine Rede signifikanterweise als „Predigt“ eingeführt – auf den Punkt gebracht: „Zum Beschluss, mei geliebte Zuhörer, laßt uns noch übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.“ (248) Ruth Klüger kommentiert diese Szene so: „Wie der Urinstrahl des ragenden Gulliver, der das große Feuer in Liliput löscht, möchte sie [die Männerphantasie] über Leben oder Tod von andersarti­gen Menschen verfügen: Zwerge bei Swift, bei Büchner Juden.“86 Die Figur der jüdischen Frau hingegen kommt bei der Charakterisierung, so Klüger, grundsätz­lich ‚besser weg‘ als der jüdische Mann. Aufgrund ihrer doppelten Minderheitenrolle als Jüdin und Frau scheint sie auf ihre nichtjüdische männliche Umgebung weniger bedrohlich als vielmehr stimulierend zu wirken.87 Das Bild der „schönen, dunklen Jüdin“, das schon im Mittelalter auftaucht, hat sich im Laufe der Literaturgeschichte zu einem feststehenden Topos entwickelt.88 Die Jüdin – als Gegen­bild zur braven, blonden, treuen Christin – erscheint als exotische Projektionsfläche männ­lichen Begehrens; ein, so Klüger, wenn schon nicht Liebe so doch Lust spendendes exponiertes Objekt, wie etwa in Franz Grillparzers bekanntem Drama Die Jüdin von Toledo (1872).89 Die Oppositionsstrukturen, mit denen Grillparzer hier hantiert, werden dazu eingesetzt, die jüdi­schen Männer noch gegenüber ihren Frauen herabzusetzen: So heißt es seitens des Königs, der sich, der Schönheit und Erotik Rahels verfallen, von seiner christlichen Frau und seinen Staatsge­schäften zurückzieht: „Die Weiber dieses Stamms / Sind leidlich, gut sogar. – Allein die Männer / Mit schmutz’ger Hand und engem Wuchersinn, / Ein solcher soll das Mädchen nicht berühren. (1448–1451).“ Die schöne Rahel wird aber nicht nur zur Geliebten des christlichen Königs, bis sie von dessen Untertanen ermordet wird, die den Kö­nig wieder zur Besinnung bringen wollen, sondern ihr ‚Wesen‘ weckt zudem eine menschen­f reundliche 86 Klüger 1994, S. 83. 87 Ebd., S. 101. 88 Einen guten geschichtlichen Überblick verschafft hier der Artikel von Jeanette Jakubowski, „Die Jüdin“, in: Schoeps, Schlör 1999, S. 196–209. 89 Franz Grillparzer, Die Jüdin von Toledo, Leipzig 1905. Die Verszahlen erscheinen in runden Klammern hinter dem Zitat.

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Seite in dem König: „Ich selber lieb es nicht, dies Volk, doch weiß ich, / Was sie verunziert, es ist unser Werk; / W ir lähmen sie und grollen, wenn sie hinken.“ (485–487). Die Negativ-Stereotypisierung der Juden, die, wie Ruth Klüger schon bemerkte, hier auf Ebene des Werks ja nicht aufgehoben, sondern nur erklärt wird,90 äußert sich in einer für diese Zeit typi­schen Analogisierung von Charakter und Physiognomie. So visualisiert sich der den Juden zuge­schriebene „Wuchersinn“ in Grillparzers Jüdin von Toledo entsprechend in der „schmutz’ge[n] Hand“, der Vorwurf mangelnder Aufrichtigkeit und Verschlagenheit lässt die Juden „hinken“; ihre Gestalt ist „verunziert“. Während es den Vertretern der Aufklärung in Bezug auf die ‚Judenfrage‘ also gerade darum ge­gangen war, dass die Juden im Kollektiv der deutschen Gesellschaft aufgingen, sprechen die lite­rarischen Juden-Figurationen insbesondere des neunzehnten Jahrhunderts, folgt man der Lektüre von Klü­gers Katastrophen, durchweg eine andere Sprache. Der Umstand, dass diese fast ausschließlich ne­ gativ konnotiert waren, lässt sich daher durchaus als Gegendiskurs zum Akkulturationsvorgang der Juden deuten, der, wohlgemerkt, zunächst nur die besser gestellten Juden im Ein­zugsbereich der größeren Städte betraf. Aber ob nun bei Hofe, im Dorf oder einem städtischen Milieu angesiedelt – ‚der Jude‘ erscheint von den Märchen der Romantiker bis zu den Erzählungen der realistischen Literatur eines Gustav Freytags und Wilhelm Raabes,91 nicht als der ‚Andere‘ sondern als ‚der Fremde, kurz: als eine asoziale, archetypische Gestalt, von der eine tiefe Beunruhigung ausgeht. Klügers Katastrophen ließen sich aber die „erbarmungslosesten Nacktaufnahmen“ deutsch-jüdischer Realität und Selbstkarrikierung, wie Scholem die Monologe des Herrn Wendriner von Kurt Tucholsky genannt hat,92 zur Seite stellen, die ebenso in den Kontext dieser mystifizierenden, das heißt ‚verstellenden‘, Schreibweise gehören wie die Heine-Polemiken eines Karl Krauss, der in seinem Pamphlet Heine und die Folgen Heine unter anderem den Vorwurf machte, nicht nur der deutschen Sprache „ans Mieder“ zu gehen, sondern auch vulgär „jüdelnden“ Feuilletonisten den Weg geebnet zu haben.93 Dieser literarische Befund spricht für das Argument, dass eine schlichte Trennung zwischen jüdi­schen und nichtjüdischen Autoren hinsichtlich der von ihnen entwickelten Redeweisen über Jüdischsein zwar ein naheliegendes, jedoch noch kein hinreichendes Kriterium ist. Ebenso wichtig wie die Herkunft der Autoren ist das von ihnen entwickelte

90 91 92 93

Klüger 1994, S. 101. Ebd., S. 100. Scholem 1970, S. 37. Siehe Jasper 2004, S. 250. Zu der Kritik jüdischer Zeitgenossen an Heine siehe auch: Paul Peters, Die Wunde Heine, Berlin 1997.

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Selbstverständnis als Juden, die Thematisierung jüdischer Erfahrungen und Themen aus einem Fremdverständnis heraus. 2. Die Entmystifizierung des Judenbildes

Diesen Formen der Mystifizierung stehen nun andererseits denjenigen poetischen Unternehmun­gen gegenüber, die sich zusammen genommen als Versuch einer Entmystifizierung des Judenbilds lesen lassen. Beginnend mit Lessings Lustspiel Die Juden (1746) sowie seinem be­rühmtem Aufklärungsdrama Nathan der Weise (1779) lässt sich diese Schreibhaltung in den literarischen Selbsterkundungen heute so marginalisierter Autoren wie Isachar Falkensohn Behr, Ephraim Moses Kuh, Salomon Maimon, Lazarus Bendavid sowie in den Werken Ludwig Börnes und Salomon Hermann Mosenthals weiter nachzeichnen. Bei Mosenthal sind hier insbesondere sein Drama Deborah sowie seine Novellensammlung Tante Gertraud. Bilder aus dem jüdischen Familienleben, einfühlsame Skizzen über das Leben der hessischen Juden zwischen Emanzipation und Tradition, zu nennen.94 Ein wichtiger Stellenwert innerhalb der literarischen Bemühungen um die Entmystifizierung des Judenbildes kommt schließlich Heinrich Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach (1840) zu, von dem der Literaturwissenschaftler Bernd Witte sagt, in diesem zentralen Text sei „der Ursprung einer neuen Schreibweise der deutschen, ja der europäischen Literatur aus dem Geiste des Judentums auszumachen“.95 Im Rabbi von Bacherach führe Heine, so Witte, das Negativbild des Juden auf seinen christlichen, antijudaistischen Ursprung zurück. Heine zeige, dass diese Form der Judenfeindschaft von der modernen Gesellschaft so sehr verinnerlicht wurde, dass sie gänzlich alltäglich geworden ist und noch dort verdeckt wirksam bleibe, wo sie nicht mehr offen zutage trete. Diesen verstellten Blick freizulegen, darauf, so Witte, sei Heines Poetologie im Rabbi von Bacherach gerichtet. So beschreibt Heine etwa zu Beginn seines Fragmentes eine Abtei, die zu Ehren eines von einem Juden ermor­deten Kindes erbaut wurde, das aus eben diesem Grunde heilig gesprochen wurde: Sankt Werner ist ein solcher Heiliger, und ihm zu Ehren ward zu Oberwesel jene prächtige Abtei gestiftet, die jetzt am Rhein eine der schönsten Ruinen bildet, und mit der 94 Vgl. Jasper 2004, S. 377. 95 Bernd Witte, Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in „Der Rabbi von Bacherach“, in: Die von Geldern Haggadah und Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“, hrsg. von Emile G. L. Schrijver und Falk Wiesemann, Wien, München 1997, S. 45: „[Die Erzählung] ist […] der Kommentar eines rituellen Geschehens und eines kanonischen Textes, die das Wesen des Judentums als eines diasporischen und zugleich messianischen begründen […]. In doppelter Weise, inhaltlich und formal, erweist sich Heines Erzählung damit als Schrift im Exil.“

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gotischen Herrlichkeit ihrer langen, spitz­bögigen Fenster, stolz emporschießender Pfeiler und Steinschnitzeleien uns so sehr entzückt, wenn wir an einem heitergrünen Sommertag vorbeifahren und ihren Ursprung nicht kennen.96

Der nichtjüdische Leser des Rabbi von Bacherach wird damit zu einer Lektürehaltung der Ein­fühlung eingeladen, wenn er sich darauf einlässt, dem Blick des Erzählers zu folgen, der hier den verdrängten Spuren jüdischen Leidens und Lebens inmitten einer christlichen Mehrheitsgesell­schaft nachgeht. Es ist jedoch vor allen Dingen ein Autor, der, wie Ruth Klüger zu Recht bemerkte, mehr als jeder andere jüdische Schriftsteller versucht hat, seine christliche nichtjüdische Um­welt in ihrer Haltung gegenüber den Juden psychologisch zu durchleuchten und von innen her zu erfassen: Arthur Schnitzler. Zwar wendet Klüger ein, dass selbst für Schnitzler das Problem des Antisemitismus‘ noch ein sekundäres sei, da in seinen wichtigsten Werken, der Erzählung Lieutenant Gustl (1900), dem Drama Professor Bernhardi (1912), der Novelle Fräulein Else (1924) und dem Künstlerroman Der Weg ins Freie (1908), die essentiellen Konflikte der Protagonisten erst in zweiter Linie auf deren jüdische Identitäten zurückgeführt werden bzw. sich bei Lieutenant Gustl sich der Antisemitismus des Titelhelden eher im Gestus der Beiläufigkeit mitteile.97 Diesem Einwand lässt sich allerdings entgegenhal­ten, dass es durchaus eine bewusste strategische Entscheidung Schnitzlers gewesen sein mag, die Judenfeindlichkeit nicht explizit zum Hauptthema zu machen, sondern, gerade im Wissen um die herrschende, antijüdische Bewusstseinslage seiner Umwelt, auf Subtilität und Indirektheit bei der Vermittlung dieses Themas zu setzen, um so eine größere Eindringlichkeit zu erzielen, ohne von vornherein auf Abwehrhaltungen zu stoßen. Diese Überlegung wird auch durch das Resümee bestärkt, zu dem Hans Schütz in seiner Monographie Juden in der deutschen Literatur gelangt: Fast alle deutsch-jüdischen Autoren nach der Jahrhundertwende empfanden ihr Judentum als eine Last. […] Ob sie sich der nichtjüdischen Umwelt anpaßten oder ihr die Stirn boten, sie mußten mit Abwehr und Res­sentiments rechnen. Für die Erscheinungsformen und Mechanismen eines latenten Antisemitismus entwi­ckelten sie feine Sensoren. Viele Autoren zogen es vor, ihre Reflektionen Briefen und Tagebüchern anzu­vertrauen.98

Auch Arthur Schnitzler erklärte in seiner Autobiographie Jugend in Wien, die ja ausdrücklich erst zur Veröffentlichung nach seinem Tode bestimmt war, dass es 96 Heinrich Heine, Der Rabbi von Bacherach, in: Heinrich Heine, Sämtliche Werke, hrsg. von Jost Perfahl und Werner Vortriede, München 1969, S. 513–552, hier S. 516. 97 Klüger 1994, S. 65ff. 98 Schütz 1992, S. 21.

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insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, nicht möglich gewesen sei „davon abzusehen, daß er Jude war, da die anderen es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger.“ Und weiter heißt es: Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte, daß man weder das eine noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben, war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anästhesieren ließ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt.99

Und so verdanken wir Schnitzler nicht nur „die eindringlichsten und differenziertesten Bilder dieser letzten Generation Wiener Juden vor der Nazizeit“,100 wir erinnern auch ihre Gespräche neu, wie etwa den Wortwechsel zwischen Ehrenberg und Nürnberger in Der Weg ins Freie, wenn wir, wie Ruth Klüger, unsere Lektüre der Spannung jenes Klimmzugs über den Abgrund der jüdischen Katastrophe hinweg, aussetzen: „Ich bin nicht getauft“, erwiderte Nürnberger ruhig. „Aber allerdings bin ich auch nicht Jude. Ich bin längst konfessionslos geworden; aus dem einfachen Grunde, weil ich mich nie als Jude gefühlt habe.“ „Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlagt auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdi­sche Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf.“101

Der kursorische Überblick über die Genese des deutsch-jüdischen Gesprächs im Geiste der Aufklärung sowie die affirmative bis kritische Orientierung der Autoren an jenen tra­dierten jüdischen Fremdbildern wie sie insbesondere die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gebrauchte, hat gezeigt, dass der herrschende literarische Diskurs über Juden in den vergangenen zweihundert Jahren „zwischen Aufklärung und Endlösung“ (Klüger) eng mit einer Mystifizierung der Juden, vice versa mit Anstrengungen ihrer Entmystifizierung verbunden war. Für die Identitätsdiskurse vor der Shoah lässt sich daher zusammenfassend sagen: Zwischen den gegensätzlichen Strömungen eines aufklärerischen Universalismus und einem völkischem Natio­nalismus diente der christlich-sittlichen Gesellschaft der Unterscheidungsmythos vom jüdischen Gegenüber der Sicherung des eigenen Machtanspruches. Innerhalb der paradoxen Bestrebung der pri99 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien, hier zitiert nach Schütz 1992, S. 21, Anm. 59. 100 Klüger 1994, S. 69f. 101 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, in: Erzählende Schriften, Bd. 1, Frankfurt 1961, S. 689.

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vilegierten Gruppe, diesen ‚Anderen‘ sowohl integrieren als auch ausgrenzen zu wol­len, überwog in der gesellschaftlichen Praxis eindeutig Letzteres. Die Juden, im minderheitenspezi­fischen Konflikt zwischen Selbstbewahrung und Selbstaufgabe befangen,102 blieben dabei ein expo­niertes Gegenüber. ‚Exponiertheit‘ ist dabei durchaus in seinem zweifachen Wortsinne zu verste­hen: Zum einen in Bezug auf die Außenseiterrolle der Juden, die an eine extrapolierte Sichtbarkeit gekoppelt war. Eine Kategorisierung, die von Gilman, wie bereits in der Einleitung erwähnt, als typisches Diaspora-Modell bezeichnet worden ist. Zum anderen ist hier aber auch der topologische Sinn von ex po­nere gemeint. Die Juden wurden ganz konkret ‚außen vor‘ gehalten; entsprechend nahmen sie auch auf Ebene der literarischen Handlung stets eine Position der Randständigkeit innerhalb der skizzierten Dorf-, Hof- oder Stadtgemeinschaften ein. Die literarischen Diskurse über Jüdischsein waren folglich mit einer außerordentlichen Sichtbarkeit der Juden, mit einem ‚Zuviel‘ an Jüdischkeit verbunden. Von Scholems Widerruf über Jaspers Mythendekonstruktion bis hin zu Klügers Katastrophen stellt sich allerdings die Frage, ob der retrospektive Blick von Auschwitz her nicht jeder Ge­schichte vor Auschwitz zwangsläufig eine gewisse Teleologie unterschiebt, so als ob die deutsch­-jüdische Geschichte auf ihr furchtbares Ende hin hatte zulaufen müssen.103 Denn dass uns ‚nach Auschwitz‘ das Scheitern jenes deutsch-jüdischen Gespräches ‚vor Auschwitz‘ heute so unaus­ weichlich erscheint, lässt leicht den Umstand in Vergessenheit geraten, dass eine Integration der Juden ohne Absage an ihre Herkunft und Eigenheiten ebenso in der Möglichkeit der Historie gelegen hätte. Dies zeigen die Lebenswerke von Mendelssohn, Mosenthal, Lessing oder Hebbel, die einen ebensolchen Diskursraum anstrebten, der sich mit Max Brod so prägnant als „Distanzliebe“ bezeichnen lässt, der zufolge „das Bewußtsein der Distanz allzu grobe Intimität verhin-

102 Dazu siehe auch Schütz 1992, S. 22: „Im Spannungsfeld von unaufhebbarem Außenseitertum und Selbstverteidigung suchten die Autoren nach einer festen Position zwischen Selbstverwirklichung und Selbstzerfleischung. Ihre Bücher sind davon geprägt: Melancholie bei Joseph Roth, Einsamkeit bei Kafka, Aggressivität bei Tucholsky. Andere wenden sich wie aus Trotz nachdrücklich jüdischen Themen zu, wie Max Brod oder Lion Feuchtwanger.“ 103 Die Unhintergehbarkeit, aber auch die Aporie Auschwitz zu denken, hat Adorno vor allem in der „Minima Moralia“ und seiner „Negativen Dialektik“ zu fassen versucht: Nicht im ersten urzeitlichen Menschenopfer seien bereits die Gaskammern angelegt, sondern von Auschwitz aus erscheint Geschichte, zumal deutsch-jüdische Geschichte, so, als ob sie nichts anderes als dessen konsequente Teleologie darstelle. Das aber soll gerade nicht sein. Deswegen muss „Denken […] um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken.“ Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1982, S. 355. Siehe auch Burkhardt Lindner, Was heißt: nach Auschwitz? Adornos Datum, in Stephan Braese, Holger Gehle u. a. (Hrsg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt am Main, New York 1998, S. 283–300, hier S. 284.

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dert, zugleich aber aus dem Gefühl der Entfernung heraus den Wunsch schafft, eine Überbrückung zu vollziehen“.104 Eine solch komplementäre Perspektivierung enthebt aber nicht etwa die Geschichte aus ihrer Verantwortung. Im Gegenteil: Sie hält dazu an, die Frage nach der verpassten Möglichkeit für die Gegenwart immer wieder neu und kritisch zu stellen.

Exkurs: Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“. Eine Verständigungsfigur Mit der identitätsstiftenden Wechselbeziehung von Einheit und Heterogenität, mit ihren Mög­lichkeiten und Grenzen, beschäftigt sich Lessings berühmtes, wegweisendes Drama Nathan der Weise (1779).105 Im Rahmen eines literarischen Diskurses über Jüdischsein, der aus der sogenann­ten Außensicht erfolgt, kann er, so die These, als der erste literarisch-kanonische Verständigungstext bezeichnet werden und Nathan selbst als Verständigungsfigur: Nun ist das Stück so bekannt, dass sein Inhalt vorausgesetzt werden kann. Am Anfang seiner Entstehungsgeschichte aber stand ein Gespräch.106 Und wie viele Mythen samt deren Dekonstruktio­nen sich um die historische Begegnung zwischen Lessing und Mendelssohn, siehe Jaspers, auch ranken mögen – Lessings Nathan-Figur ist einer realen Begegnung, einer Auseinan­dersetzung mit jüdischen Fragen und Perspektiven abgewonnen. Die Neuheit des Dramas be­steht daher eben nicht nur in der Einführung des deutschen Blankverses auf der Bühne oder dem Hervortreten eines neuen Dramentypus‘, welcher, so Klüger, „von Vernunft und Unver­nunft handelte, statt von Liebe und Tod, den wesentlichsten Bestandteilen von Tragödie und Komödie,“107 und auch nicht in der Einführung des – für das zeitgenössische Publikum ungewohn­ten – Figur des ‚guten Juden‘ allein, 104 Zitiert nach Scholem 1970, S. 42. 105 Die im Folgenden angeführten Zitate aus Nathan der Weise finden sich alle nach der folgenden Ausgabe zitiert: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Zweiter Band, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München 1971, S. 205–348. Die Verszahl erscheint jeweils in runden Klammern hinter dem Zitat. 106 Natürlich stand Lessing nicht nur mit Mendelssohn im Gespräch. Die Forschung hat als Inspirationsquelle für den Nathan neben der Bocaccio-Novelle vom Juden Melchisedech u a. auch das Gespräch mit den Rabbinern von Livorno auf seiner Oberitalienreise sowie die Lavater-Provokation und die Polemiken Goezes als für die Entstehungsgeschichte signifikant herausgestellt. Dennoch gilt es als erwiesen, dass die Figur des Nathan Mendelssohns Züge trägt; und so wurde der Nathan von Lessings Zeitgenossen auch rezipiert. Vgl. dazu auch: Jasper 2004, S. 50–62 sowie Klüger 1994, S. 189–227, zu Goeze S. 189. 107 Ebd., S. 201.

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die sich ja bereits in Lessings Lustspiel Die Juden (1746) sowie in Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747/48) findet. Wichtiger erscheint in diesem Kontext das Phänomen, dass sich hier ein neuer ‚Ton‘ Gehör verschafft. Die These, dass Nathan der Weise auch als ein Verständigungstext gelesen wer­den kann, erweist sich in ihrer Tragfähigkeit nämlich weniger anhand großer Bekundungsgesten des Allgemeinmenschlichen seitens seiner Hauptfiguren, als vielmehr im Gestus des Fragens und damit: des Infragestellens tradierter Sichtweisen. So lassen sich in diesem dramatischen Gedicht in fünf Aufzügen mehr als tausend Fragezeichen aus­machen. Genauer gesagt: tausendeinundsechzig. Auf Ebene der inhaltlichen Aussage etwa finden sich die zwei zentralen Passagen, in deren Spannungsfeld die Verständigung über die Möglich­keiten und Grenzen einer Identitätsbildung zwischen den Polen der eigenen Herkunft und einer universalen Auffassung vom Menschen erfolgt, jeweils mit einem Fragezeichen versehen. Die Überlegungen, die Nathan anstellt, münden also jeweils in einer offenen Frage, die in den Raum gestellt wird und die einer Antwort seitens der Zuhörer be­darf: So fragt der Jude Nathan in Richtung des Tempelherren: „Wir haben beide / Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind / W ir unser Volk? Was heißt denn Volk? / Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch?“ (II/5, 520–524) und dazu in eine Art dialektisches Spannungs­verhältnis gesetzt, fragt Nathan den Sultan Saladin ein wenig später: „Wie kann ich meinen Vä­tern weniger, / Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – / Kann ich von dir verlangen, daß du deine / Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht / Zu widersprechen? Oder umgekehrt. / Das nämli­ che gilt von den Christen. Nicht? – “ (III/7, 469–474). Worauf der Sultan nur zustim­mend zu schweigen weiß. Saladin: „Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. / Ich muß ver­stummen.“ (III/7, 475–476). Nicht allein Toleranz wird hier also gepredigt. Die Spannung zwischen der eigenen religiösen Identität und Herkunft und der ‚Formel Mensch‘ bleibt vielmehr – fragend – bestehen und wird auch am Ende des Dramas nicht vollständig aufgelöst.108 Diese Ambivalenz wissend auszuhalten ist gerade das, was die Modernität der Nathan-Figur ausmacht. Was sich hier ex Cathedra umgesetzt findet, ist eben besagter Begriff der „Distanzliebe“. Die Eignung des Dramas für die Indienstnahme einer aufklärerischen Botschaft hat natürlich nicht nur mit der Bedürfnislage seiner jeweiligen Rezensenten in Vergangenheit und Gegenwart zu tun, sondern auch viel mit der Anlage des Stückes selbst. Dennoch scheint sein Kern mehr im Prozess der – immer wieder 108 Ruth Klüger argumentiert hier etwa gegen Peter Demetz: „Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedenfalls, daß den herkömmlichen Familienbanden und Verwandtschaften eine zumindest ebenso große Rolle zukommt wie den freiwilligen Freundschaften und der Adoption von fremden Kindern. Das sind zwei Motivkreise, die gegeneinander ausgespielt werden.“ S. 201f.

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gefährdeten – Verständigung als in der Eindeutigkeit seiner Bot­schaft zu liegen, da Nathan mehr zum Hinterfragen der gegebenen sozialen Ordnung der Unvernunft auffordert,109 als dass er verbindliche Antworten auszuteilen im Stande wäre. Besonders deutlich wird dies in der Schlüsselszene des Dramas, als Nathan auf die Aufforderung des Sultans hin, ihm eine Antwort zu geben, stattdessen mit einer Parabel reagiert, die eben nicht selbsterklärend ist, sondern der Deutung bedarf. Gestärkt wird diese These in jener berühmten Ringparabel zudem durch den Verweis auf die Zukunft: „So lad’ ich über tausend tausend Jahre, / Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird / Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, / Als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der / Bescheidne Richter.“ (III/7, 535–439). Und so bleibt auch Nathans Verhalten durchweg von dem Versuch geprägt, sich überhaupt erst einmal Gehör zu verschaffen, und zwar gegen die Unduldsamkeit seiner christlichen und musli­mischen Umgebung, die auf eine jüdische Stimme zu hören schlicht nicht gewohnt ist. Davon zeugt sowohl das eingangs störrisch-feindliche Verhalten des Tempelherren gegenüber Nathan („Nathan: Verzeihet, edler Franke … /T   empelherr. Was? / Nathan: Erlaubt … /T   empelherr: Was, Jude? was? / Nathan: Daß ich mich untersteh’ / Euch anzureden. /T   empelherr: Kann ichs wehren? Doch / Nur kurz.“ (II/5, 412–419)) als auch die Voreinge­ nommenheit und Ungeduld des Sul­tans („Laß uns zur Sache kommen! Aber, aber / Aufrichtig, Jud‘, aufrichtig!“ ( III/5, 306–307); „Ich hör, ich höre! – Komm mit deinem Märchen / Nur bald zu Ende. – Wirds?“ (III/7, 440–441)) sowie das Misstrauen Dejas, die Nathan hinsichtlich der Handhabung der Verwicklungen zwischen Rahel und dem Tempelherren nicht traut, und die, um ihre eigenen Interessen zu wah­ren, nicht bereit ist, dessen Stellungnahme dazu abzuwarten und daher dem Tempelherren Nathans wohlbehütetes Geheimnis verrät: dass Nathan nicht Rechas leiblicher Vater ist („Ei, was Vater! Vater! / Der Vater soll schon müssen.“ (III/10, 785–786); „Das soll nur so / Den letzten Druck dem Dinge geben; soll / Euch, Rechas wegen, alle Skrupel nur / Benehmen! –“ (III/10, 857–860)). Der Einzige, dessen Handlungsweisen nicht von Affekten beherrscht werden, ist wiederum Nathan, der überdies auch gar nicht in der Position ist, seine Gefühle gegenüber seiner Umgebung frei zu äußern, ganz anders als etwa der Tem­pelherr oder der Sultan. Dass auf der Ebene der Handlung ein Hinhören schließlich möglich ist, weist das Drama jedoch nicht als Lehrstück aus, sondern vielmehr als Utopie. Und in der Tat ist es Utopie, die Lessing hier wagt, denn sein Nathan ist in erster Linie ein Einspruch der Literatur gegen die Wirklichkeit und fragendes Plädoyer für die Verwirklichung eines anderen Gesellschaftsentwurfs. Der Umstand, dass es gerade die Figur des guten Juden ist, die von Lessings christlichen Zeitge­nossen 109 Besonders drastisch wird jene soziale Ordnung der Unvernunft in der Aufforderung des Patriarchen gespiegelt: „Tut nichts! der Jude wird verbrannt.“ (IV/2, 168).

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als unrealistisch empfunden wurde,110 bestätigt nur die Einsicht in den tatsächlich herrschen­den Zustand der Ignoranz, welche die christliche Mehrheit der jüdischen Minderheit gegenüber an den Tag legte. Die Exponiertheit der Juden äußert sich auf Ebene des Lessingschen Dramas zudem darin, dass Nathan der alleinige Vertreter seines Volkes ist, wäh­rend sowohl die Christen als auch die Muslime mehrere Hauptcharaktere und damit eine Stim­menvielfalt auf ihren ‚Seiten‘ verzeichnen. Nachdem Recha erfahren hat, dass sie gar nicht die leibliche Tochter Nathans ist, sondern die christlich-muslimische Schwester des Tempelherren, steht inmitten allseitiger Umarmungen Nathan am Ende gewissermaßen allein auf der Bühne, und damit buchstäblich im leeren Raum des Fiktiven. Dass aber gerade die Fiktivität nicht leer, sondern lehrreich sein kann, darin besteht wohl der Aufklärungsglaube des Stücks, das sich an den Leser und Zuhörer als seinen ‚Richter‘ wendet, um die durch Nathan gestellte Frage nach der Möglichkeit eines Zusammenwohnens von Menschen verschiedener Herkunft und Identität als ein Einssein im Menschsein immer wieder neu be­antwortet zu sehen. Zu wem aber spricht Lessings Nathan eigentlich? Es wurde schon gesagt, dass sich Nathan, als der einzige Jude in Lessings dramatischem Gedicht, in einer nichtjüdischen Umgebung Gehör zu verschaffen sucht. Er wendet sich also als Jude an die Nichtjuden. Zugleich aber spricht Nathan anstatt über Juden und Jüdischsein mehr über das Menschsein, da seine Umgebung ihn in erster Linie als Juden und nicht als Menschen sieht. Es geht Nathan im vollen und unhinterfragten Bewusstsein seiner Jüdischkeit demnach weniger um die Vermittlung von Inhalten des jüdischen Glaubens und Lebens, sondern ganz grundlegend um das Schaffen einer Gesprächsbasis. In diesem Sinne kann Nathan als eine Verständigungsfigur bezeichnet werden. Lessing wiederum sprach ebenso wie sein Zeitgenosse Falkensohn Behr zu den christlichen deutschen Bürgern, auf deren Bewusstseinszustand hin er ja schon Jahrzehnte zuvor sein Lustspiel Die Juden konzipiert hatte, in dem die Pointe darin liegt, dass der Leser bzw. der Zuschauer zum Ende des Stücks hin erfährt, dass es sich bei dem tapferen und noblen Rei­senden, der einen Edelmann vor dem Raubmord rettet, um einen Juden handelt.111 Ist letzteres ein Stück, das seinem deutschen Publikum die Augen über die tief verwurzelte Judenfeindlichkeit ihrer 110 Zur zeitgenössischen Rezeption siehe die gesammelten Kommentare „Zur Aufnahme und Kritik“, in: Göpfert 1971, S. 750–754. 111 Auch hier musste Lessing strategisch so verfahren, dass dem Reisenden zunächst ein offener Gesprächs- und Handlungsraum eröffnet wird, in dem er als nobler Mensch reden und wirken kann, bevor seinem Publikum klar wird, dass sie in dem sympathischen Reisenden einen Juden vor sich sehen. Dies war von Lessing wahrlich als Augenöffner geplant. Womit die anderen feindlichen Aussprüche über Juden, welche in dem Stück von allen Beteiligten außer dem Reisenden selbst geäußert werden, relativiert werden.

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christlich-sittli­chen Gesellschaft öffnen soll, so wird im Nathan mehr die Menschenfeindlichkeit, die einer solchen Feindschaft zu Grunde liegt, beleuchtet. In diesem Aufklärungsdiskurs diskutiert Lessing insbesondere die Denkgewohnheiten seiner Zeit, weswegen Nathan der Weise ebenso wie Die Juden alles andere als ein zeitloses Werk ist. Gemeinsam ist beiden der Appell an den Rezipienten, einen genauen Blick in die Wirklichkeit zu tun, um zu sehen, dass es ein Unterscheidungsmythos im Sinne der eingangs erör­terten Kriterien ist, der den Juden als ‚Anderen‘ im Blick seines Gegenübers, sei es positiv, sei es negativ konnotiert, erst schafft (Saladin zu Nathan: „Des Menschen wahre / Vorteile, die das Volk nicht kennt, kennst du. / Hast du zu kennen wenigs­tens gesucht; / Hast drüber nachgedacht: das auch allein / Macht schon den Weisen“ (III/5, 296–300)). Lessing spricht folglich weder zu den Juden noch über sie, sondern mit ihnen. Die Auffassung, der Christ Lessing habe auch im Namen der Juden gesprochen, spiegelt sich seitens der jüdischen Bevölkerung unter an­derem in der Praxis der Namensgebung wieder: Als etwa die deutschen Juden Galiziens aufge­fordert wurden, deutsche Namen zu tragen, da nannten sich die meisten der Gebildeten Lessing. Den Nationalsozialismus hat allerdings fast keiner der jüdischen Lessings überlebt.112 Ein derartiger Einspruch gegen die Wirklichkeit, wie er bei Lessing mittels der Nathan-Figur formuliert wird, setzt freilich eine genaue Kenntnis ebendieser Wirklichkeit voraus. Nicht nur worüber man sich verständigt, sondern auch von welchem Standpunkt aus man spricht, und wie der Boden für einen solchen Standpunkt bestellt ist, gehört zu den Möglichkeiten und Grenzen einer Verständigung zwischen Deutschen und Juden, auch im Rahmen einer heutigen NathanInszenierung. Klügers Lektürebild des ‚Klimmzuges‘, indem jede heutige Lesart über den Abgrund der jüdischen Katastrophe hinweg und daher unter er­schwerten Bedingungen erfolgt, kommt einem hier wieder in den Sinn. So warnte auch Hannah Arendt in ihrer Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, die sie anläss­lich der Verleihung des Lessing-Preises im Jahre 1959 in Hamburg hielt, vor einer Funktionalisie­rung des Nathan, vor einer Indienstnahme des Dramas als kulturpolitischem Alibi, indem sie auf die Entnazifizierungsrituale hinwies, die mit der Ankündigung des Lessing-Dramas einhergingen, als sich 112 Siehe Jasper 2004, S. 54 sowie Dietz Bering, in: Schoeps, Schlör 1999, S. 153–166. Zur Bedeutung Lessings für die großen Historiker des Judentums Heinrich Graetz und Simon Dubnow sowie umgekehrt zum Versuch einer zionistischen Relativierung der Bedeutung des Nathan u. a. bei Ernst Simon, siehe: Lessing und die jüdische Geschichte, Jerusalem 1929, in: Ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, S. 213: Kein lebendiger Jude habe den Nathan mitgezeugt, aber Nathan habe „hundertausende von Scheinjuden nach seinem Ebenbilde gemacht“. Obwohl die Juden, so Simon, viel von Lessings „tapferer Humanität“ gebrauchen könnten, müssen sie sich von seinem „blassen und blutlosen Judenbild“ abwenden.

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unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus der Nathan auf jeder größeren deutschen Bühne wiederfand. Im Schutz einer neu proklamierten Demokratie, Menschlichkeit und Toleranz, und unter Funktionalisierung des Allgemeinmenschlichen, so Arendt, werde die Unmenschlichkeit der jüngsten Geschichte schlichtweg ausgeblendet. Auf diese Weise müsse sich der deutsche Theaterbesucher nicht der Gegenwärtigkeit dieser Vergan­genheit stellen. „Zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist“, erst auf dieser realistischen Grundlage aber sei, so Arendt, an ein Gespräch zwischen Juden und Deutschen überhaupt wieder zu denken.113 Und so werden die Umarmungen und Freundschaftsbe­kundungen am Ende des Nathan zur Lüge, argumentiert in Anlehnung an Arendt etwa auch Willi Jasper, wenn sie vergessen, gegen welche Welt sie schützen sollen. In einer solchen Weise wissend und erinnernd Lessings Nathan auf die Bühne zu bringen, das ge­lang, so Jasper, erst im Jahre 1991 wieder, als Georg Tabori in Braunschweig das dramatische Gedicht zu einer eigenen Fassung mit dem Titel Nathans Tod umarbeitete: Das Spiel bekam einen eindeutig unversöhnlichen Schluss. Nathans Haus brennt, Recha wird ermordet, ein zweites Mal muss Nathan die Zerstörung seiner Familie erleben und stirbt vor Gram. Nathans Tod wendet sich gegen eine verlogene Idealisierung historischer Werte, gegen einen zeitlosen Toleranzbegriff, der unbe­schadet den Totalitarismus überstanden hätte.114

Bleibt im Blick auf die heutige Zeit zu fragen, wo in der deutschen Gegenwartsliteratur Figuren der (dezidiert) jüdischen Untröstlichkeit zu finden sind, die, wie Nathan, zugleich Verständi­gungsfiguren sind, die ohne Kitsch auskommen?

I. 2. Die Zäsur der Shoah Das jüdische Gegenüber als der ‚Andere‘ ist in all seinen Facetten aber nicht nur Gegenstand der literarischen Selbst- und Fremdvergewisserung, sondern zugleich allgemeiner Modus der Selbstbeschreibung jüdischer Identität in der Diaspora. Auch darin kommt der Zäsur der Shoah, wie zu zeigen sein wird, eine einschneidende Bedeutung zu. Als geradezu exemplarisch kann hier die Selbstauskunft des Schweizer Theaterregisseurs Luc Bondy gelten: „Ich habe kei­nen religiö­sen Hin-

113 Hannah Arendt, „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“. Rede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises 1959, Hamburg 1999. 114 Jasper 2004, S. 62.

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tergrund und fühle mich vor allem jüdisch, weil es den Holocaust gab. Meine Identität ist von dieser Vorstellung geprägt.“115 Die Schwierigkeit, Judentum und besonders jüdische Identität zu definieren, mag dem ei­nen oder anderen zunächst einmal nicht als spezifisch ‚jüdisches Dilemma‘ erscheinen. Würde man heute eine Umfrage unter der gesamtdeutschen Bevölkerung durchführen, würden sicherlich auch sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber zustande kommen, was die Einzelnen unter Deutschsein oder deutscher Identität verstehen. Vor dem Hintergrund des Diaspora-Daseins im Allgemeinen sowie der Shoah im Besonderen stellt sich die Frage nach der jüdischen Identität allerdings mit einer existentiellen Dringlichkeit.

2.1. Der ‚Andere‘ als Außenseiter. Opfer-Täter-Dichotomien (I) Im Jahr 1998 erschien Arthur Hertzbergs viel beachtete Studie: Jews. The Essence and Character of a People. Der Religionswissenschaftler und ehemalige Rabbiner reflektiert darin die Problematik wie die Notwendigkeit, auch in säkularisierten Zeiten an einer positiv geprägten Selbstbeschreibung des jüdischen ‚Wesens‘ festzuhalten: Yet to speak about the continuing Jewish character causes instant discomforts to many Jews. One might say that the problem lies in the complexities of defining Jewishness. A various time Jews have been classified as a religion, a culture, a nationality, a class, a race, or a combination of the above. In fact, the anxieties […] have nothing to do with the endless debates about what or who is a Jew. It goes deeper. Our insistence on saying, publicly and in many languages, that there is a definable Jewish character contra­dicts the counter message that Jews, in various degrees of assimilation, have been sending for some two hundred years, since the beginning of their emancipation in Europe: that they are good French people, good Germans, or good Americans who are essentially just like everybody else. There is another, darker, reason for this visceral rejection of defining Jewish group characteristics. It derives from the legacy of Jew hatred that in our own time reached such ferocity it nearly destroyed European Jewry. […]

115 Luc Bondy, in: Die Woche vom 8. Mai 1998, S. 22. Es ist bezeichnend, dass die Infragestellung dessen, was denn jüdi­sche Identität ausmache, anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Staatsgründung Israels in Form einer weltweiten Selbstbefragung ihren Ausdruck findet. So stellte die Zeitschrift „Die Wo­che“ an prominente Juden aus verschiedenen Ländern, unter anderem in den USA, Israel und Deutschland die Frage „Wer ist Jude?“. Das breite Spektrum der Antworten von religionsgesetz­lichen Begründungen bis hin zu den rein persönlichen Definitionen zeigt die jüdischen Selbst­entwürfe insbesondere in der Diaspora als ein Leben mit konträrer und brüchiger Identität.

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This cautious and defensive posture is understandable, but it does not refute our thesis that there is a defin­able Jewish character, which began with the first Jew, Abraham, and continues to this day. […] Make no mistake, ours is no facile portrait that reduces Jewish identity to its lowest common denominator or to a handful of clichés. Our aim is to clarify, not to simplify. To paint our portrait of the Jews, we have created a conceptual framework in which the Jewish character is depicted by three prime concepts: the Jew as the chosen, the factious, and the outsider.116

Die identitätsstiftenden Merkmale des Jüdischseins, die sich Hertzberg zufolge jenseits der Or­thodoxie bis heute erhalten haben, generieren sich gerade aus dem Bewusstsein des kontinuierli­chen Ausgeschlossenseins der Juden überall auf der Welt. Dadurch, so Hertzberg, habe sich eine kosmopolitische, sich stets neu definierende jüdische Kultur der Außenseiter entwickelt,117 wobei das darin implizite Charakteristikum des Auserwähltseins118 nicht als Überlegenheit zu verstehen ist, sondern als Verpflichtung zum konsequenten Verfechten einer universellen Ethik. Die tradierte Ansicht, dass sich Gott durch die Geschichte seinem Volk Israel offenbart, erfährt durch die Shoah geradezu eine Umkehrung. Für viele Juden eröffnete sich durch die jüngste Ge­schichte nur noch eines, nämlich die Einsicht, dass es keinen Gott geben kann. An die Stelle der heiligen Überlieferung tritt die Geschichtsschreibung. Sie übernimmt konstruktiv die Auf­gabe für die Kohärenz des jüdischen Gedächtnisses zu sorgen. Für Yerushalmi, den Mitbegrün­der der mo­dernen jüdischen Historiographie, repräsentiert diese neue Art des Erinnerns den „Glauben ungläubiger Juden“. Diesen wird die „Geschichte zur Berufungsinstanz“.119 Insbeson­dere jüdische Gelehrte, die sich einerseits der Tradi116 Arthur Hertzberg, Aron Hirt-Mannheimer, Jews. The Essence and Charakter of a People, New York 1998, S. 3f. 117 Zum Begriff des „Außenseiters“ siehe Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main 1975. Dort heißt es: „Die jüdische Identitätskrise inmitten der aufklärerischen bürgerlichen Gesellschaft“ befalle „den einzelnen als Teil einer Gemeinschaft. Das Außenseitertum wird nicht individuell begründet wie beim Homosexuellen, sondern generell: durch das Judesein. Es kann nicht ignoriert und auch nicht sublimiert werden.“ 118 Dass das Anderssein nicht nur erzwungen ist, sondern im theologischen Sinne der Selbstbeschreibung Israels als „auserwähltes Volk“ zudem von innen heraus den Erhalt jüdischer Identität sicherte und daher von den jüdischen Ge­meinden im Exil und in der Diaspora durchaus gefördert wurde, der Prozess des Abgrenzens daher auch ein wechselseitiger ist, ist hoffentlich bereits zu Beginn der Erörterung klar geworden, als es um die Definition des Unterscheidungsmythos ging. Im Fortgang der Arbeit wird über Jüdischsein stets jenseits der Orthodoxie gesprochen. 119 Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1996, S. 92.

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tion weiterhin verbunden fühlen, denen ande­rerseits aber Aspekte jenseits der religiösen oder orthodoxen Erklärungsmodelle wichtig sind, wählen inzwischen überwiegend weiter gefasste Identitätsbegriffe wie „Volk des Gedächtnisses“ oder „Volk des Buches.“120 „Um eine einzige Tür zu öffnen, halte ich einen ganzen Schlüsselbund in den Händen. Die Tür springt nur unter dem gleichzeitigen Umdrehen aller Schlüssel auf“ – André Nehers Allegorie für das monolithische und zugleich vielfältige Judentum121 lässt sich der Literaturwissenschaftlerin Helene Schruff zufolge auch auf das „Modell der jüdischen Identität insgesamt“ übertragen.122 Die durch die Geschichte erzwungene Einsicht in das Anderssein und die Annahme dieser Kate­gorie des Außenseiters als elementar für die Konstruktion eines 120 So der Religionswissenschaftler Marc-Alain Ouaknin: „Das jüdische Volk ist ein Volk des Gedächntisses, das sich nicht an die Shoah oder an die großen Leiden Israels beschränkt, sondern die Gesamtheit der wirklichen oder vor­gestellten Ereignisse umfasst, denen wir unser gegenwärtiges Denken verdanken.“ Marc-Alain Ouaknin, Das verbrannte Buch. Den Talmud lesen, Weinheim 1990. Siehe Gilman 1993, besonders S. 33. Auch Vilèm Flusser hat die jüdische Identität als eine komplexe beschrie­ben, die neben dem religiösen auch einen kulturellen und existentiellen Aspekt hat, der für Flusser persönlich der ausschlaggebende ist. Siehe: Vilèm Flusser: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen. Hrsg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser. Mit einem Nachwort von David Flusser, Düsseldorf 1995 sowie Mira Zussmann, die die vier Prinzipien der Wurzeln jüdischer Identität als „gemeinsame Herkunft, gemein­samen Glauben, Orientierung auf gemeinsames Land, Identifikation mit einer besonderen Geschichte“ beschreibt. Siehe: Mira Zussmann, Jüdi­sche Identität heute. Notizen aus Amerika, in: Nachama, Schoep, van Voolen (Hrsg.), Jüdische Lebenswelten. Es­says. Frankfurt am Main 1991, S. 108–122. 121 André Neher, Jüdische Identität. Einführung in den Judaismus (orig. Paris 1977), Hamburg 1995, S. 15. 122 Helene Schruff, Wechselwirkungen. Jüdische Identität in der erzählenden Prosa der ‚Zweiten Generation‘, Hildes­heim 2000, S. 36. Man hat sich in der Judaistik und in der Religionswissenschaft darauf geeinigt, die Gründungszeit des Judentums auf das Jahr 672 v. d. Z. zu datieren, also auf die Zeit des Babylonischen Exils. Von da an bis zur Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. d. Z. unter römi­scher Besatzung war die jüdische Identität gesichert durch die Dreiheit aus Land, Opferkult, und Bundesgesetz (Tora). Der charakteristische Umstand, dass sich das Judentum – und damit zu die­ser Zeit noch gleichbedeutend: die jüdische Identität – nicht im Glauben an den einen Gott Jahwe erschöpft, sondern sich erst in der Praxis, in den Reglements und den Gesetzen des alltäg­lichen Lebens offenbart, sicherte das Überleben und den Fortbestand der jüdischen Gemein­den auch in den folgenden Jahrhunderten des Exils und der Diaspora. Dazu noch einmal Schruff: „Bis zum 18. Jahrhundert bedeutete die jüdische Identität also noch die Identifikation mit dem Glauben an den einen Gott Israels und die aktive Teilhabe an einem Leben in einer geschlossenen ethnischen Gemein­schaft nach den Vorgaben der Halacha, den Religionsgesetzen. Für subjektive Identitätsdiskurse gab es noch keine Notwendigkeit.“ (Ebd., S. 37.) Vgl. auch: Schalom Ben-Chorin, Die Problematik jüdischer Theologie, in: Ders., Verena Lenzen (Hrsg.): Jüdi­sche Theologie im 20. Jahrhundert, München 1988, S.  9–16 sowie Martin Buber, Jüdische Religiosität. Reden über das Judentum. Die frühen Reden (1909–1918), in: Ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Re­den, 2. Aufl., Gerlingen 1993, S. 63–76.

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positiv konnotierten und zugleich unorthodoxen jüdischen Selbstentwurfes, ist meiner Ansicht nach der ‚eine Schlüssel‘ zu allen jüdischen Identitätsmodel­len. Sei es Arthur Hertzbergs und Hans Mayers Charakterisie­rung der jüdischen Gemeinschaft als „Kultur der Außenseiter“, seien es auf Ebene der literari­schen Dis­ kurse Isaac Bashevid Singers berühmte Formel von den Juden als dem „Volk, das nicht schlafen kann und auch niemanden schlafen lässt,“123 sei es die an Singer anknüp­fende Definition des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranickis von den Juden als „Ruhe­störer“, Kafkas Bezeich­nung der deutsch-jüdischen Literatur als eine „Zigeunerliteratur“124 oder auch Thomas Manns For­mulierung, der – eben in Anschluss an Kafka – die Juden als „das heimliche Korrektiv unserer Leidenschaften“ bezeichnet hat: „Der Jude“ – schrieb Thomas Mann 1937 – bilde mit „seiner Leidenserfahrung, seiner geprüften Geis­tigkeit und ironischen Vernunft ein heimliches Korrektiv unserer Leidenschaften.“125 Kultur der Außenseiter, Ruhestörer, Korrektiv unserer Leidenschaften – all diesen Bezeichnungen gemein ist ihr relationelles Element, das Identität nicht aus sich selbst heraus definiert, wie dies etwa noch in der Vorstellung vom „Volk des Buches“ der Fall war, sondern durch die Abweichung zu einer anderen Bezugsgröße, demgegenüber Jüdischsein als Anders-Sein gesetzt wird. Den positiv konnotierten Selbstentwürfen vom jüdischen Ge­genüber als Außenseiter stehen nun diejenigen Identitätsmodelle zur Seite, die den Begriff ex negativo bestimmen. Schon vor der Shoah hat die Erfahrung von Verfolgung, Stigmatisierung und Antisemitismus Menschen vieler Jahr­hunderte die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk als eine Bürde erfahren lassen. Gilman beschreibt den daraus resultierenden Selbsthass als ein typisches Phänomen der Bewusst­seinslage von Minderheiten: Selbsthaß entsteht dadurch, daß die Außenseiter das Wahnbild von ihnen als Wirklichkeit annehmen, das jene in der Gesellschaft entwerfen, die die Außenseiter definieren, und auf die die Außenseiter sich bezie­hen. Diese Übernahme eines Wahnbildes liefert die Grundlage für die Mythenbildung, die dem Selbstbild jeder Gemeinschaft zugrunde liegt. Die illusionäre Definition des Selbst, die Identifikation mit dem Wahn­bild der Bezugsgruppe vom Anderen, […] dieser Illusion wohnt ein unauflöslicher Gegensatz inne. Auf der eine Seite steht die liberale Verheißung, jeder könne grundsätzlich an der Macht der Bezugsgruppe teilha­ben, vorausgesetzt, er unterwirft sich den Regeln dieser Gruppe. Aber eben diese Regeln bestimmen auch die Definition des Anderen. Und die Anderen, das 123 Isaac Bashevid Singer, Die Familie Moschkat, dt. München 1984. 124 Franz Kafka, Briefe 1902–1924, hrsg. von Max Brod, Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Frankfurt am Main 1975, S. 338: „… also war es [die jüdische] eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur.“ 125 Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band XII, Nachträge, Frankfurt am Main 1974, S. 485.

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sind genau jene, die von der Teilhabe an der Macht in­nerhalb der Gesellschaft ausgeschlossen werden.126

Gilmans phänomenologischer Untersuchung nach ist der Selbsthass ein unabdingbarer Bestand­teil der condition humane, die universale Folge einer Weltsicht. Wobei – dies sei an dieser Stelle noch einmal wiederholt – die Kategorien des Andersseins durch die jeweiligen Bedürfnisse und Umstände der definierenden Gruppe immer wieder neu bestimmt werden können. Als eines der bekanntesten Beispiele für diese Form des Selbsthasses sei Kurt Tucholsky genannt, der wegen seiner antisemitischen Karikaturen und Po­lemiken, den „Wendriner-Geschichten“ unter anderem von Gershom Scholem als „jüdischer Antisemit“ be­zeichnet worden ist.127 In seinem berühmten Brief an Arnold Zweig hat Tucholsky die Paradoxie seines Jüdischseins auf die folgende Formel gebracht: „Ich bin im Jahre 1911 aus dem Judentum ausgetreten, und ich weiß, daß man das gar nicht kann.“128 Statt eines positiven Selbstentwurfes wird Jüdischsein also hier zum Selbstvorwurf. Vor diesem Hintergrund wird auch die Problematik von Sartres berühmtem Satz aus seinen Betrachtungen zur Judenfrage deutlich, demzufolge ‚der Jude‘ eine reine Erfindung der Antisemiten sei und der Antisemitismus damit ein Problem der Antisemiten: „Der Jude ist ein Mensch, den die anderen Menschen für einen Juden halten.“129 Sartre leitet daraus die folgende Definition eines authentischen Jüdischseins ab: Aufrechter Jude sein, bedeutet, sich als Jude bekennen und das jüdische Los auf sich nehmen. Der auf­rechte Jude entsagt dem Traum des Weltbürgers, […] er flieht nicht mehr vor sich selbst und schämt sich nicht mehr der Seinen. […] Er weiß, daß er abseits steht, unberührbar, geächtet, und dazu bekennt er sich.130

Ein solches Identitätsmodell des jüdischen Außenseiters, das sich – etwa im Gegensatz zu demjenigen Arthur Hertzbergs – ausschließlich ex negativo generiert, 126 Gilman 1993, S. 12f. 127 Scholem 1970, S. 37. 128 Siehe Beate Schmeichel-Falkenberg: „Ich bin aus dem Judentum ausgetreten und ich weiß, daß man das gar nicht kann.“ Kurt Tucholsky und das Judentum, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Deutsch-jüdisches Exil: das Ende der Assimilation? Identitätsprobleme deutscher Juden im Exil, Berlin 1994, S. 79–94. 129 Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage (1944). Hier zitiert nach Michael Brenner, Anthony Kauders u. a. (Hrsg.), Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, S. 299–301; S. 301. 130 Jean-Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus, Zürich 1948, S. 121.

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stellt den Juden jenseits ei­nes – christlich codierten – Leidens­pathos und der Würde, die sich aus dem Märtyrertum gewin­nen lässt. Es bleibt jedoch wenig Spielraum bei der Entwicklung einer ihnen wirklich angemessenen mit positiven Inhalten angereicherten Sichtweise.131 Sartres Formel, dass der Antisemitismus ‚den Juden‘ schafft, findet ihre realhistorische Entspre­chung in den sogenannten „Nürnberger Rassengesetzen“ von 1935, in denen von der nationalsozia­listischen Regierung festgelegt wurde, wer als Jude bzw. als Halb-Jude galt oder nicht.132 Zugleich wurde den Juden damit ihr 131 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Sartres ‚Judenfrage‘ siehe u. a. Gilman 1993, S.  21: „Eine solche Definition [siehe obiges Sartre-Zitat] jüdischer Authentizität, mit all ihren Anklängen an Märtyrertum und christliches Leiden mag für einen Franzosen angehen, der nicht als Jude etikettiert wird. Für den Juden aber, der mit diesem Stigma leben muß, reduziert eine solche Auffassung vom ‚aufrechten Juden‘ die mögliche Reaktion auf das Selbstaufopferungsmodell der christlichen Lehre. […] Das läßt Juden jedoch wenig Spielraum bei der Entwicklung einer ihnen wirklich angemessenen Sprechweise.“ Siehe auch Scholem 1970 sowie Hannah Arendt, die sich in Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen jüdischem Selbsthass und Antisemitis­mus intensiv mit Sartres Satz beschäftigt und diesen als mythenbildend kritisiert hat. Siehe Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, zitiert in: Brenner, Kauders 2003, S. 302–307, hier S. 307: „… seit dem babylonischen Exil ist das Zentralthema der jüdischen Geschichte immer das Überleben des Volkes in der Zerstreuung gewesen, die Selbstbehauptung gegen den überwältigenden Druck von außen, und schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte sollte genügen, um jenen neuesten Mythos auf diesem Gebiet zu entkräften, einen Mythos, der unter den Intellektuellen einigermaßen in Mode kam, seit Sartre den Juden ‚existentialistisch‘ als jemanden bestimmte, der von anderen als Jude angesehen und definiert wird.“ Argumentationen wie die von Hannah Arendt, die sich in ihren Überlegungen zum Judenhass auch mit dem umgekehrten historischen Prozess, nämlich der Absonderung der Juden von der sie umgebenden Gesellschaft beschäftigen (Brenner, Kauders 2003, S. 306), wurde im Übrigen oft eine Form der Selbstanklage unterstellt, da ihre Aussagen gewissermaßen implizieren wür­den, die Juden seien am Antisemitismus selbst schuld. Was Arendt hingegen – ebenso wie Scholem – betonen wollte, ist die Tatsache, dass die schlimmste Verfolgung der Juden auf dem Höhepunkt der jüdischen Assimilation im deutschsprachigen Raum stattfand. („Wer so leicht etwas aufgibt, erweckt Misstrauen.“ Scholem 1970, S. 27f.) Diese Kritik am Aufgeben der eigenen Werte ist sowohl bei Scholem als auch bei Arendt motiviert durch die Aufforderung, zu diesen Werten zurückzufinden, auf Ebene der Literatur zu den Stärken einer Minderheitenliteratur, einer, so Arendt bewusst provokant, „Literatur der Paria“. Siehe jüngst: Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hrsg. v. Ursula Ludz, München 2001. 132 Dazu Jean Améry, wiederum in Affirmation der Sartreschen Thesen: “Die Über­gabe der Juden an das Stürmerbild ihrer selbst war nichts als die Anerkennung einer gesellschaftlichen Realität: gegen diese hat eine Berufung auf eine Selbsteinschätzung anderer Ordnung bisweilen lächerlich oder närrisch erscheinen müssen.“ Jean Améry, Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein. In: ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, (dt.) Stuttgart 1977, hier und im Folgenden stets zitiert nach der 4. Aufl. 2000, S. 137. Den überzeugendsten Einlass in einen literarischen Diskurs findet die Sartresche Formel: ‚Jude ist, wer von ande­ren dafür gehalten wird‘, im Übrigen in Max Frischs berühmten Drama „Andorra“, in dem der junge Andri von seiner Umwelt fälschlicherweise so lange in die Rolle

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Deutschsein abgesprochen. Durch diese ‚Gesetzgebung‘ zwangen die Deutschen unter Hitler auch denjenigen assimilierten jüdischen Familien ihr Jüdischsein auf, die sich selbst bis dato gar nicht als solche definiert hatten. Die Zäsur der Shoah machte daher aus dem, was Gilman für die Zeit vor den Nationalsozialisten noch einen Unter­scheidungsmythos nennen konnte, einen historische Tatsache: „Eigentlich bin ich Jude bloß, weil die andern mich dazu gemacht haben, Hitler und die von ihm Erzogenen. […] Kurzgut. Es gibt Juden, sogar als Volk, und ich bin einer von denen, da kann ich noch so sehr Österreicher, besser gesagt, Wie­ner sein.“133 So Schindel in seinem Essay Literatur – Auskunftsbüro der Angst. Der gebürtige Wiener und nach 1945 nach Belgien emigrierte Philosoph und Essayist Jean Améry hat wiederum den Vorgang seiner „Jude-Werdung“ so beschrieben: „Ich war, als ich die Nürn­berger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. […] Aber der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand, […], dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist.“134 Jude sein heißt für Améry daher „die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitznummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel jüdischer Existenz“.135 Jean Améry bringt hier die Erfahrung und Bewusstseinslage einer ganzen Generation deutscher und österreichischer assimilierter Juden auf den Punkt. Die Shoah wurde für sie zum Schlüssel heutiger jüdischer Identität, oder, um mit dem Literaturwissenschaftler Hanno Loewy zu spre­chen, zum „sense of community“:136 So vielfältig jüdische Identitätsmöglichkeiten auch waren und sind: die Schoa hat bei vielen zu einer radika­len Einengung des vormaligen Identitätsproblems – oder auch Nicht-Problems – geführt. Die Schoa wurde zur – oft einzigen – greifbaren Größe jüdischer Identität, zum festen Bestandteil jedes jüdischen Lebenszu­sammenhangs.137 ‚des Juden‘ gezwungen wird, bis er dieses Schicksal schließlich gezwungenermaßen als das seinige annimmt und den entsprechenden tragischen Tod erleidet. 133 Schindel 1995, S. 112. 134 Améry 1977, S. 134. 135 Ebd., S. 146. 136 Hanno Loewy: Thanks for the Memories. Reflections on the Holocaust Museum, in: Susan Stern (ed.), Speaking out. Jewish Voices from United Germany, Carol Stream 1995, S. 232–242. 137 Loewy, in: Felicitas Heimann-Jelinek, Juden Fragen – Jüdische Positionen von Assimilation bis Zionismus – Katalog zur Aus­stellung im Jüdischen Museum Wien, 25. Oktober 1996 bis 16. Februar 1997, S. 134. In Israel selbst gibt es eine sehr intensive Debatte gerade der jüngeren Ge­neration mit ihren Eltern um den Stellenwert, der der Shoah mittlerweise als ‚Ersatzreligion‘ zukommt. Zudem war die Shoah die Haupt-Gründungslegitimation der staatlichen Existenz Israels. Die Gründung des Staates Israel gab den Ju­den aus aller Welt, ungeachtet ihrer

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Zusammenfassend lässt sich also sagen: Es ist eine Kontinuität der Brüche, als deren Haupt­merkmale das Exil in der Diaspora, die Krise der Assimilation und die Shoah gelten können, wel­che das jüdische Selbstbild vom Außenseiter-Dasein geprägt hat. Als ein solcher – sei diese Kate­gorie nun positiv, sei sie negativ konstruiert – repräsentiert ‚der Jude‘ im deutschsprachigen Raum zugleich das ‚Andere‘ des deutschen Identitätsdiskurses. Die Zäsur der Shoah bewirkte hier eine Festschreibung ex negativo. Das jüdische Gegenüber als der ‚Andere‘ wird auf die Rolle des ‚Opfers‘ fixiert und beschränkt. Die prominenteste Formel dafür ist die der „negativen deutsch-jüdischen Symbiose“.

2.2. Die negative deutsch-jüdische Symbiose Mit seiner Formel von der negativen deutsch-jüdischen Symbiose hat der Historiker Dan Diner zugleich das wirksamste und einflussreichste Denkbild vom jüdischen Gegenüber für die Zeit nach der Shoah geprägt. Diner wollte damit ein grundsätzliches, negatives Bezogenbleiben von Deutschen und Juden „nach Auschwitz“ zum Ausdruck bringen.138 ‚Die Juden‘ werden ‚den Deutschen‘ demnach erst aufgrund von Auschwitz zum ständigen Gegenüber. Denn es ist die Vernichtung des europäischen Judentums als ein Faktum der deutschen Geschichte, an dessen Eingedenken die Deutschen als Täter bzw. als Nachkommen der Täter auf der einen und die Juden als Opfer bzw. als Nachkommen der Opfer auf der anderen Seite gleichermaßen gebunden bleiben. Es handelt sich hier also um eine ‚geteilte‘ Vergangen­heit im zweifachen Sinne des Wortes. ( Jüdisches) Opfer- und (deutsches) Tätergedächtnis fungieren Diner zufolge aber nicht nur als Träger gegensätzlicher Erinnerungen, auch die mit diesen Erinnerungen verbundene Perspektive ist eine konträre. Während das deutsche Ge­dächtnis eher eine Verallgemeine­rung der Opfer in den Blick nimmt, um dem Vorwurf des Anti­semitismus zu begegnen, betrach­tet das jüdische Einge­denken wiederum die Verbrechen aus der Sicht einer langen Ge­schichte der Judenverfolgung heraus: persönlichen Haltung zu Israel, auch einen Zusatz an Identitätsmöglichkeiten. Dazu siehe u. a. Michael A. Meyer, in: Jüdische Identität in der Moderne, Frankfurt am Main, 1992: „Was die jüdische Existenz au­ßerhalb des Staates bedeutet, übersteigt, so bestätigte ein früherer israelischer Erziehungsminister, das Vorstellungs­vermögen eines in Israel geborenen Juden. Israelische Juden haben große Schwierigkeiten sich mit Juden in der Di­aspora zu identifizieren. Sie betrachten sie grundsätzlich anders als sich selbst. Bezeichnenderweise glauben fast ein Drittel der israelischen Eltern und Schüler einer Umfrage zufolge, die Hauptursachen des Antisemitismus seien in den Eigenschaften der Diasporajuden zu suchen. Etwa fünfzig Prozent der befragten Studenten sahen die Diasporajuden als ein ‚anderes Volk‘.“ 138 „Nach Auschwitz“ wird in den akademischen Diskursen als Chiffre verwendet, die das Verbrechen, die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten sowohl benennt als auch die Zäsur einer neuen Zeitrechnung markiert: Vor und nach Auschwitz.

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Das ‚jüdische‘ Gedächtnis findet sich, der Gewalt der Ereignisse wegen, eher mittels einer Makroperspek­tive in der Repräsentation des Holocaust angemessen gespiegelt. […] Die ‚deutsche‘ Perspektive des Mikro neigt indessen dazu, durch überaus extreme Annährung an das Gesamtbild dieses in seine trivial anmuten­den Einzelteile zerfallen zu lassen. So kehren die Erfahrungskontexte des Holocaust in der gedächtnisgelei­teten wie forschungstechnisch relevanten Perspektivenwahl wieder: Monstrosität versus Banalität.139

Das bedeutet: Die konträre Erfahrung von Geschichte lässt auch keine gemeinsame Geschichts­schreibung mehr zu. Diners Formel von der negativen deutschjüdischen Symbiose zielt aber zugleich darauf ab, ein anderes, prominentes Denkbild zu dechiffrieren. Jenes von der deutsch-jüdischen Symbiose nämlich, demzu­folge das ‚jüdische Wesen‘ mit dem ‚deutschen Wesen‘ zum gegenseitigen Nutzen koe­xistiert. Denn so lautet die lexikalische Definition des Wortes Symbiose: „Zusammenleben von Lebewesen ver­schiedener Art zu gegenseitigem Nutzen.“140 Das Attribut der Andersartigkeit wird also im Begriff der Symbiose selbst, trotz seiner positiven Be­wertung, weiter transportiert. Dazu noch einmal Sander Gilman: Was dann wie eine Umstrukturierung der Wahnvorstellungen über Andersartigkeit aussieht, ist in Wirklich­keit nur eine Verschiebung des Akzents. Alle Elemente der behaupteten Andersartigkeit sind im Wort­schatz, der ihrer Beschreibung dient, zu allen Zeiten vorhanden.141

Die zahlreichen deutschen wie jüdischen Vertreter jener Symbiose-Theorie aus Gesellschaft, Philosophie und Politik, die auch nach dem Zivilisationsbruch der Shoah noch von einem „im Kern unverbrüchlichen Ge­spräch“ ausgehen,142 deu139 Dan Diner, Der Holocaust als Geschichtsnarrativ, in: Stephan Braese (Hrsg.), In der Sprache der Täter. Neue Lektüren, Opladen, Wiesbaden 1998, S. 13–31, hier S. 30. Was dies für die Formen der literarischen Geschichtsschreibungen bedeutet, wird später noch zu diskutieren sein. Ein Beispiel ist die Debatte um Hannah Arendts berühmte These von der „Banalität des Bösen“, die sie in Auseinandersetzung mit ihrer Berichterstattung des Eichmann-Prozesses entwickelt hat, um das mangelnde Schuld­bewusstsein der Täter politisch-theoretisch zu erklären. Dies hat ihr von jüdischer Seite nicht nur lange den Vorwurf eingetragen, die Verbrechen selbst zu banalisieren, sondern auch, sich die Perspektive der Täter anzueignen. Siehe dazu: Jacob Robinson: And the Crooked shall be made Straight. The Eichmann Trial, the Jewish Catastrophe, and Hannah Arendt’s Narrative, New York/London 1965. Dieser Sachverhalt zeigt einmal mehr, wie empfindlich mit der Verteilung der Sprecherrollen und Frage der Zuständigkeit umgegangen wird. 140 Siehe: Duden. Das Fremdwörterbuch, Band 5, 5. neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim/Wien/ Zürich 1990, S. 757. 141 Gilman 1993, S. 16. 142 Zitiert nach Scholem 1970, S. 7.

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ten die Shoah als eine Art Zwischenfall inner­halb einer langen und frucht­baren Dialogtradition zwischen zwei ‚Wesenheiten‘, die sich als Part­ner, und damit auf gleicher Augenhöhe, gegenüberstehen. Dieser euphemistische Blick auf sich selbst mittels einer harmonisierenden Bezugnahme auf den Anderen ist aber nur um den Preis einer gewissen Geschichtsblindheit zu haben. Und gerade hier entfaltet der Mythos von der deutsch-jüdischen Symbiose seine illusionsstiftende Funktion, verwandelt, mit Roland Barthes gespro­chen, „Geschichte in Natur“.143 In der Symbiose wird ein Begriff aus dem Be­reich der Naturwissenschaft zur Metapher und ent­faltet dadurch eine Bildbotschaft, die einen quasi-natürlichen Zustand suggeriert (‚jüdisches Wesen‘ gegenüber dem ‚deutschen Wesen‘). Auf diese Weise aber wird das geschichtliche, durch Menschen geschaffene Konstrukt der Andersartigkeit aus- bzw. überblendet, die Wirklichkeit fiktionalisiert. An die Stelle der Wirklichkeit tritt also der Wirklichkeitsersatz. Auf den Preis, den die jüdische Minderheit für eine solche zweifache Fiktion bereits be­zahlt hat: nämlich für die Fiktion von ihrer Andersartigkeit zum einen, für die Fiktion eines in ebendieser Andersartigkeit begründeten Wertes zum anderen, darauf hat Scholem klar und deut­lich hingewiesen. So ist es kein weiter Weg von der Bildgruppe, die man ganz konkret mit symbiotischen Lebewe­sen und Nutzpflanzen assoziiert, den Symbionten, Parasiten und Wirten, hin zu den Wortfel­dern der Schädlings- und Insektenbekämpfung: des Ausmerzens, Ausrottens und Vertilgens, wie sie sich dann auch in der Rhetorik und Praxis der Nationalsozialisten wiedergefunden haben. Denn denkt man das Symbiose-Bild konsequent weiter, so können Gemein­schaften, die zwischen verschiedenen Arten laut Definition zu einem bestimmten ‚Nutzen‘ einge­gangen werden, sehr schnell ihre nützliche Funktion einbüßen und damit, diesem Diskurs zu­folge zu Recht, aufge­kündigt werden. Zu dieser größtenteils sicherlich unbewussten oder unein­gestandenen Tradition des Nutzdenkens gehört auch der von den Anhängern jenes Symbiose-Gedankens immer wieder hervorgehobene ‚Wert‘ der Künstler und Intellektuellen, um die das jüdische Volk das deutsche sozusagen ‚bereichert‘ hatte. Scholems und Diners Argumentationen sind denn genau gegen jedwede mystifizierende und ge­schichtsblinde Bildbotschaft gerichtet, weswegen beide an dem asymmetri­schen Beziehungsge­füge zwischen Deutschen und Juden festhalten, um den Preis, dass sie selbst diese Dichotomie weiter fortschreiben. Bei Diner erfolgt die Entmystifizierung der Symbiose, indem er deren geschichtliche Verwirkli­chung in ihrer totalen Negativität aufzeigt. Bei Scholem, indem er zunächst einmal, ganz im Sinne jener euphemistischen Sicht, die Formel für ein partnerschaftliches Gegenüber entwirft: „Zu einem Gespräch gehören zwei, die 143 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 113. Nach Barthes ist der Mythos als eine Aussage zu verstehen, der die Eigenschaften der Deformation, der QuasiNatürlichkeit und der Kompatibilität aufweist.

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aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern“,144 um dieses Bild gleich darauf voll­kom­ men anders zu beleuchten, indem er es an der historischen Realität misst und als ein beschä­digtes entlarvt: „Die einzige Gesprächspartnerschaft [aber], welche die Juden als solche ernst ge­nommen hat, war die der Antisemiten, die zwar den Juden etwas erwiderten, aber nichts Förderli­ches.“145 Scholems Insistieren ist dabei nicht nur dem Blick auf die Geschichte, sondern auch seiner per­sönlichen Erfahrung mit der westdeutschen Nachkriegsöf­fentlichkeit und ihren sprachpolitischen und ideologischen Konditionierungen geschuldet. Die „in Deutschland jetzt besonders beliebte Verwischung der Grenzen“, so Scholem, zeige sich darin, „dass nachdem man zuerst die Juden als Juden entrechtet und ermordet hat, man sie jetzt nachträglich als Juden ebenfalls möglichst streicht, weil sie ja so gute Deutsche gewesen seien und so reizende ‚jüdische Mitbürger‘“.146 „Sehen was war, damit etwas anderes sein kann –“, das ist daher für Scholem die Grundvorausset­zung für die Wiederaufnahme eines jeden deutsch-jüdischen Gesprächsversuchs nach Auschwitz. Gefordert wird schlicht eine Anstrengung des Denkens, eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den Aus­schlussmechanismen und gesellschaftlich bedingten Konstruktionen des ‚Anderen‘.

Exkurs: Die Walser-Bubis-Debatte. Ein gerichtsförmiger Diskurs Angesprochen fühlen können und müssen sich von einer solchen Maxime in erster Linie diejeni­gen, denen in Vermittlung von Denken, Meinung und Wissen eine große Verantwortung zu­kommt. Die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geführten, öffentlichen Diskurse über das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, die von der Forschung mit gutem Grund nicht als Gespräche, sondern als ‚Debatten‘ bezeichnet werden, haben gezeigt, wie aktuell Scholems Kritik hinsichtlich des Nichtvorhandenseins eines deutsch-jüdischen Ge­spräches auf Ebene der gesellschaftspolitischen Realität immer noch ist. Es würde den Rahmen sprengen, an dieser Stelle ein ausführliches Referat über die diskursive Rhetorik der Bundestagsredner und Gedenktagssprecher einzufügen, oder auch nur einen Querschnitt durch jene Debatten, die in den deutschen Medien und Feuille­tons seit Mitte der achtziger Jahre geführt werden, aufzuzeichnen, da es über deren Schlaglichter, die sich mit den Stichworten Historikerstreit, Fassbinder-Affäre, Bitburg, Golfkrieg, Walser-Bubis-Debatte, Möllemann144 Scholem 1970, S. 7f. 145 Ebd., S. 9. 146 Scholem, hier zitiert von Stefan Braese, Überlieferungen. Zu einigen Deutschland-Erfahrungen jüdischer Autoren der ersten Generation, in: ZfdPh 2002, S. 17–28, hier S. 21.

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Affäre, Israel-Kritik, Mahnmahl-Debatte, Hohstein-Affäre verbinden, bereits ausführliche Dokumentationen gibt. Zumindest zwei repräsentative Beispiele der jünge­ren Zeit für die ver­fehlte Rede und die Fortschreibung des stereotypisierten Mythos’ vom jüdi­schen Gegenüber durch intellektuelle Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens seien hier der An­schaulichkeit hal­ber aber genannt, und zwar aus dem Umfeld der sogenannten Walser-Debatte, die im Oktober 1998 mit der Friedenspreisrede des Schriftstellers Martin Walser in der Paulskir­che begann, und die sich als Medienereignis über verschiedene Phasen hinweg bis zur Jahrtau­ sendwende hinzog. Über die ganzen Implikationen dieser Debatte wurde schon sehr viel gesagt und es ist daher sinnvoll, auf dessen detaillierte Dokumentation an anderer Stelle zu verweisen. Lars Rensmann etwa hat die gesamte Walser-Debatte diskurshistorisch rekonstruiert, und in die­sem Kontext auch auf die symbolische Funktion hingewiesen, die dieses persönliche Versöh­nungsgespräch zwischen Bubis und Walser als Epilog des gesellschaftlichen Konfliktes hatte, in dessen Rezeption alle politisch-psychologischen Elemente des Diskurses noch einmal in ver­dichteter Form aufscheinen, wie etwa die Enthemmung und Normalisierung der Ressentiments gegenüber den Juden sowie das Motiv der (inszenierten) Versöhnung als ideologischem Triumph der neuen Berliner Republik.147 Diese Debatte bestätigt aber nicht nur den Mythencharakter der deutsch-jüdischen Ge­sprächskul­tur in frappierender Art und Weise, sie markiert, laut Rensmann, auch eine Diskurs­ verschiebung: Was in Walsers Rede und in den an sie anschließenden Reaktionsbildungen zum legitimen gesellschaftlichen Gespräch über das Gedenken an Auschwitz, deutsche ‚Normalität‘ und vor allem über „die Juden“ beför­dert worden ist, transzendiert qualitativ und quantitativ bisherige Diskursgrenzen in Politik, Kultur und Öf­fentlichkeit. Die Kontroverse ist somit zugleich veränderndes Ereignis, Ausdruck und Tendenzbestimmung der politischen Kultur der Bundesrepublik.148

Es wird zu zeigen sein, dass es sich in dieser Debatte jedoch weniger um die Verschiebung von Diskursgrenzen handelt, als, so die These, um die Genese eines ganz anderen Diskurses, der dem des Gesprächs als Aussage- und Regelsystem diametral entgegensteht, weswegen die Beurteilung ei­ner solchen Debatte nach Kriterien des Gesprächs von vornherein den Kern des Konflikts ver­fehlen muss. 147 Lars Rensmann, Die Enthauptung der Medusa. Zur diskurspolitischen Rekonstruktion der Walser-Debatte im Licht politischer Psychologie, in: Ders., Micha Brumlik, Hajo Funke (Hrsg.), Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2000, S. 28–127, hier S. 90–93. 148 Ebd., S. 115.

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Zunächst jedoch die Beispiele. Erstens: Klaus von Dohnanyi, Sozialdemokrat und ein internatio­nal hochgeachteter Politiker, hatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.11.1998 zur Unterstützung von Martin Walsers Erinnerungsverdruss-Argumenten wörtlich vom „Versuch anderer“ gesprochen, „aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen.“ Diese Rhetorik der codierten Rede soll dem Sprecher nicht nur den allgemeinen Vorwurf der political incorrectness oder gar den konkreten des Antisemitismus’ ersparen; der Modus der Latenz eröffnet zudem einen Assoziationsspielraum hinsichtlich der Benennung jenes ‚Anderem‘, dem eine hohe Anschlussfähigkeit an das antijüdische Gerüchte-Reservoir sicher ist, aus welchem der Leser schöpfen kann: sei es den Topos der ‚Jüdischen Weltverschwörung‘ oder das Bild von ‚dem Juden‘ als mächtigem Drahtzieher und (materiellem) Nutznießer. Ressentiments werden auf diese Art und Weise in der Tat salonfähig gemacht. „Im Klartext heißt das: Die Juden machen aus allem Geld, sogar aus dem schlechten Gewissen der Deutschen“, lautete demzufolge auch Ignatz Bubis’ Übersetzung dieser Andeutung in besagtem Klartext. Denn dass mit jenen ‚Anderen‘, die da versuchen einen eigenen Vorteil für sich herauszuschlagen, dann tatsächlich auch ‚die Juden‘ gemeint und assoziiert sind, wird, abgesehen von der direkten Adressierung der Dohnanyi-Rede an Bubis, dann spätestens durch den Kontext zum Klartext, in dem Dohnanyi des Weiteren „den Juden zu bedenken [gibt], ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ‚nur‘ die Behinderten, die Homosexu­ ellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären“.149 Kennzeichnend für diese Art der Rede, der es augenscheinlich nicht um Auseinandersetzung, sondern ganz im Gegenteil gerade um die Vermeidung einer solchen geht, ist folglich ein Ton­fall aggressiver Defensivität, der auch, dies ist das zweite Beispiel, das klärende ‚Gespräch‘ zwi­schen dem Schriftsteller Martin Walser und dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Ju­den in Deutschland, Ignatz Bubis, bestimmt hat, das, breitenwirksam rezipiert als Versöhnung, die Zuschauer der ARD am 14.12.1998 in einer Live-Sondersendung mitverfolgen konnten.150 Zwei Aussagen aus diesem Gespräch seien hier für unseren Zusammenhang noch einmal zitiert: Zum einen wird dem Holocaust-Überlebenden Bubis zum Thema Judenverfolgung von Walser unverblümt entgegengehalten: „Herr Bubis, das muss ich ihnen sagen, ich war in diesem Feld be­schäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.“ Die Juden, so argumentiert Walser zum anderen weiter, dabei der gleichen Rhetorik wie Dohnanyi fol149 Diese wie alle weiteren zitierten Aussagen siehe FAZ vom 14.12.1998. 150 Ignatz Bubis war der Einzige, der von Beginn an Walsers Kritik etwas entgegengehalten hat. Dass diese De­batte sofort personalisiert wurde und daher hier auch so wiedergegeben wird, ist kein bedauerlicher Nebeneffekt, sondern führt genau in den Kern des Konflikts: Im Umgang mit dem Gedenken polarisieren sich deut­sche und jüdische Perspektiven auch noch zur Zeit der Jahrtausendwende.

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gend, seien im NS-Staat zudem davor „bewahrt geblieben, […] mitzumachen“; daher seien sie „auch im Urteil einge­schränkt“. Natürlich beinhaltet eine derartig ausschnitthafte Präsentation und Zusammen­stel­lung von Zita­ten bereits eine Interpretation. Der übergeordnete Aspekt aber, auf den es hier an­kommt, wurde bislang von der Forschung nur sehr indirekt gestreift: Der Umstand nämlich, wie sehr diese De­batten im Allgemeinen und die hier zitierten Aussagen Dohnanyis und Walsers ge­gen­über Bubis im Besonderen, einem gerichtsförmigen Diskurs gleichen. Ziel einer solchen defensiven Rhetorik ist es, die im Zuge eines Schuldkomplexes einmal verin­nerlichte Opfer-Täter-Dichotomie nicht zur Sensibilisierung und Herausforderung des Den­kens im Sinne Scholems und Diners, also für einen produktiven Exorzismus zu nutzen, sondern deren Koordinaten lediglich zu verdrehen. Äußerungen: „wie hätten sich die Ju­den wohl verhalten, wenn …“ / „die Juden blieben davor bewahrt mitzumachen, daher seien sie auch im Urteil eingeschränkt“ – zielen darauf ab, den Juden die legitime Stellvertreter-Position der Geopferten151 zu nehmen, welche sie ja zur Klägerschaft und damit zur Ansprache berechtigte, und sie stattdessen in den Bereich der potentiellen Täterschaft zu rücken. Ein Versuch also, den unliebsamen Kläger fragwürdig und damit mundtot zu machen. Die Fragwürdigkeit des Klägers aber ‚spricht‘, im System unserer Rechtssprechung, für den Angeklagten. Die Aporie, die einem solchen gerichtsförmigen Diskurs zu Grunde liegt, lässt sich mit Lyotards Begriff des Widerstreits am prägnantesten fassen. Um einen Widerstreit handelt es sich mit Lyotard dann, wenn der Kläger vor Gericht um den notwendigen Beweis für die Legitimation seiner Anklage gebracht (wie im Falle der Zeugen­schaft der Überlebenden für die Toten der Gaskammern), und dadurch zum Opfer wird. Man könnte auch sagen, zum zweiten Mal zum Opfer wird: Wenn der Sender, der Empfänger und die Bedeutung der Zeugenaussage neutralisiert sind, hat es gleichsam keinen Schaden gegeben. Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die „Beilegung“ des Konfliktes, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert. […] Wenn er [der Kläger] sich dessen nicht bedient, kann er innerhalb des Geltungsbereiches dieses Idioms nicht bestehen und ist ein Sklave. Indem er es gebraucht, wird er zum Kläger. Hört er deshalb auch auf, Opfer zu sein?152 151 Zum Begriff der NS-Opfer als der ‚Geopferten‘ siehe Améry 1977, S. 103–105. 152 Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, dt. München, 2. korrig. Aufl. 1989, S. 27. Ausgangs­ punkt für Lyotards Thesen ist die immer wieder auch in intellektuellen Kreisen propagierte „Auschwitz-Lüge“. Siehe etwa Faurissons Polemik, gegen dessen paradoxen Argumenta­ tionsdiskurs Lyotard seine Schrift explizit gerichtet hat. Lyotard zitiert Faurisson nach folgender Quelle: P. Vidal-Naquet, Les juifs, la mémoire et le présent, Paris 1981, S. 227. Faurrisson

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In diesem Sinne ist Lyotards Diskursbegriff hier zu verstehen: Diskurse („phrasé“) meinen Sätze, die jeweils bestimmten Regelsystemen angehören wie Argumentieren, Erkennen, Beschrei­ben, Er­zählen, Fragen oder Befehlen, und die aufgrund ihrer Inkommensurabilität mitein­ander in Widerstreit treten. Demnach ist der Widerstreit als eine Art Umschlagmoment zu be­greifen, der zwischen Sprechen und Schweigen in unauflösbarer Spannung oszilliert. Als ein „Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden muß, noch darauf wartet“.153 Die daraus resultierende Aporie von Täter- und Opferdiskurs,154 dieses ursprünglich an den Gerichtsraum gebundene und dort in Bezug auf die Aufarbeitung der Vergangenheit nur unzu­länglich greifende Regelsystem, hat nun nach Auschwitz den öf­fentlichen Diskurs über Juden als Ganzes bestimmt. Denn dass einem der Analogieschluss zwischen dem deutsch-jüdischen Ver­hältnis und der Opfer-Täter-Dichotomie in all seinen Spielweisen von der Affirmation bis zur Abwehr heute geradezu selbstverständlich erscheint, hängt damit zusammen, dass nach den ers­ten Jahren der kollektiven Verdrängung und Ta­buisierung die erste öffentliche Rede über das Verhältnis von Deutschen und Juden, die auch Breitenwirksamkeit für sich beanspruchen konnte, ein Prozessbericht war. Fanden die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter dem Vorsitz der amerikanischen Besatzungsmacht statt, so haben die Berichte über die Auschwitzprozesse durch die Medien in den sechziger Jahren nicht nur die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Allgemeinen und dem Holocaust im Besonderen sowie den damit ver­bundenen Generationenkonflikt dynamisiert; die – notwendige wie problematische – Verfahrens­haftigkeit des justitiellen Diskurses, die Rede in Dichotomien, das gesamte, binäre Vokabular von Anklage und Verteidigung, Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, wurde auf den Diskurs der öffentlichen Rede insgesamt übertragen, ist in diesen eingesunken und hat auch Aussagen, die eigentlich einem anderem, gegenläufigen Regelsystem angehören, nämlich dem der Kommunika­tion und des Gesprächs, bestimmt. Für den Bereich der Geschichtsschreibung hat durfte seine als Wissenschaft getarnten Thesen zur Auschwitz-Lüge zu Beginn der achtziger Jahre in Frankreich noch veröffentlichen. 153 Ebd., S. 33. 154 Natürlich macht es trotz aller Problematik Sinn, von Opfern und Tätern zu sprechen, etwa um Kriegsverbrechen zu bestrafen und Entschädigungszahlungen durchzusetzen. Auch geht es hier nicht darum, Personen ihr schon genügend konfliktträchtiges Selbstverständnis als Opfer – oder Täter – zu nehmen. Es geht hier lediglich um den jeweiligen Diskursraum, in welchem ein solcher öffentlich geführter Diskurs sinnvoll erscheint, oder eben im Gegenteil, hinderlich wirkt. Auch die psychologische Neigung der Täter, sich als Opfer zu stilisieren und umgekehrt, die Opfer, die sich aufgrund verdrehender Schuld- und Schamgefühle als Mittäter schuldig fühlen – all diese Sach­verhalte sind weitere Aspekte dieses überaus komplexen Themas. Diejenigen, die sich am allerwenigsten als Opfer sehen und als solche in ihrer Sache sprechen, sind, und zwar aufgrund verletzter Gefühle von Integrität und Würde, zumeist die Opfer selbst.

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Dan Diner diese These vertreten und die Gerichtsförmigkeit der Erinnerungs­ diskurse,155 des Gedenkens an den Holocaust, auf die Art und Weise der Prozessverläufe, hier des Nürnberger Prozesses, zurück­geführt: Am Anfang der Erforschung der nationalsozialistischen Massenverbrechen stand ein Prozeß. Und der Nürn­berger Prozeß beeinflußte wie kein anderes Ergebnis die spätere Geschichtsschreibung des National­sozialismus. Die Beeinflussung hebt bereits an mit dem Sammeln und Systematisieren des Materials auf der Grundlage ebenjener prozeßförmigen Entgegensetzung von Anklage und Verteidigung. Und diese Struktur setzt sich fort in den ebenso gerichtsförmig angelegten Feststellungen des Historikers. Die Anlage der histo­rischen Wahrheitsfindung folgt ganz ohne Zutun und oftmals auch ganz ohne angemessenes Bewusstsein ebenjener Verfahrenshaftigkeit des justitiellen Diskurses. So wie die Anklage schuldhaftes Handeln nachzu­weisen sucht, wartet die Verteidigung mit Rechtfertigungsgründen auf und plädiert gleichsam auf Fahrläs­sigkeit.156

Der laut Diner jeder Geschichtsschreibung per se eingeschriebene Zug ins Rechtfertigende, der im Fall von Erinnerungen an Extremereignisse wie der Shoah jene Steigerung ins Gerichtsför­mige erfährt, dieser Diskurs lässt sich als narrative Struktur auch in der öffentlichen Rede wiederfinden. Untersucht man etwa die gesamte Walser-Debatte einmal nur auf Isotopien aus dem Bereich „Ge­richt“ hin, so ist es geradezu eklatant, wie oft die Worte Urteil, (An)Klage, Schuld, Instanz oder Gewissen gebraucht werden. Dass der ursprüngliche Redeanlass einmal die Ver­leihung eines Friedenspreises (des deutschen Buchhandels) war, ist kaum noch ersichtlich. In der diese Debatte publizierenden und dokumentierenden Presse wird dieser gerichtsförmige Dis­kurs noch verstärkt und mit allen Implikationen 155 Im Gegensatz zu Maurice Halbwachs geht Dan Diner davon aus, dass kollektives Gedächtnis und Geschichte einan­der nicht diametral entgegenzusetzen seien. 156 Diner 1998, S. 20. Demzufolge gründet sich die von Diner als ‚deutsch‘ bzw als ‚jüdisch‘ apostrophierte Geschichtsschreibung der Shoah – Geschichte, hier im Doppelsinne des Wortes als ‚Historie‘ und ‚Erzählung‘ verstanden – auf gegenläufigen Kollektivgedächtnissen. Aber auch die aktuelle Historiographieforschung trägt dem teilweise bereits Rechnung sowie auch die jüdische Geschichtsschreibung, die bis dato die mnemographische Überlieferung gemäß der Thora der Historiographie vorzog. Dazu: Yerus­halmi 1996, S. 17–43. Vgl. auch Christoph Münz, Der Welt ein Zeugnis geben: Geschichtstheologisches Denken im Ju­dentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995 sowie Brenner, Kauders 2003. Forscher wie Peter Burke und Jan Assmann haben zudem auf die unterschiedliche Ausprägung kollektiver Erinne­rungen hingewiesen und dabei zwischen Nationen mit ‚kurzem‘ und ‚langem‘ Gedächtnis sowie den damit verbun­denen Ausprägungen sozialer Erinnerungsordnungen und Amnesien unterschieden. Siehe: Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 289–304. Burke bescheinigt etwa Iren, Polen, Serben und Juden ein langes Gedächtnis, während sich die Engländer, Franzosen und Deutschen, so Burke, eines kurzen Gedächtnis­ses ‚erfreuen‘. Zu dieser durchaus (be)streitbaren Theorie, siehe ebd., S. 296 ff.

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ausgespielt. Walser hatte sich nicht nur „zu bewähren“, die Öffentlich­keit wurde, wie eben auch Dohnanyi, zur „Verteidigung“ und „Parteinahme“ für oder gegen die eine oder andere „Seite“ aufgefordert. Der (Zeitungs-)Leser, Zuhörer, Zu­ schauer wurde so als Richter eingesetzt. In der Tat verlässt Walser nie die Seite des Beschuldigten. Bubis rhetorischem Brückenschlag, der allerdings aufgrund einer verfehlten Diskurs-Prämisse, nämlich dem ‚Gespräch‘ erfolgt, dass dem Streit möglicherweise ein „Missverständnis“ zu Grunde liege, wird von Walser, dem es in der Tat um einen ganz anderen Diskurs, nämlich den der deutschen Rehabilitierung ging, in gewisser Weise kon­sequent erwidert: „Sie müssen mir nicht anbieten, daß ich mißverstanden worden bin […]. Ich habe noch nie in diesen Jahren so etwas Volksabstimmungshaftes erlebt.“ Walser rekurriert hier auf die zahlreichen Leserbriefe, deren Absender gleich Geschworenen157 für ihn „gestimmt“ ha­ben. Walser ruft „das deutsche Volk“ damit sozusagen in den Zeugenstand, um seinen Erinne­rungsver­druss („Moralkeule Auschwitz“) zu legitimieren: Er habe „tausende von Briefe er­halten“, die ihn „nicht mißverstehen“, und die „alle gemeinsam [haben], daß sie einer öf­fentli­chen Rede zustimmen, in der öffentlich gesagt wurde, was jeder bisher nur gedacht und ge­fühlt hat“. Eine derart breiten- und medienwirksam geführte Debatte wie die zwischen Walser und Bubis zeigt, dass auch Ende der neunziger Jahre in Deutschland auf Ebene der öffentlichen Rede noch einer Diskursordnung Rechnung getragen wird, die jene Gegenüberstellung von Juden und Deutschen im Sinne einer kategorischen Entgegensetzung weiter festschreibt. Wobei den Juden eben die Rolle des Klägers, den Deutschen die des Verteidigers (der ‚deutschen Sache‘) und dem deutschen Volk die des Richters bzw. die der Geschworenen zugedacht wird. Dadurch aber wird jeder potentielle Gesprächsraum zum Gerichtsraum. Die Folge ist ein Dis­kurs, der zugleich ein Gespräch zwischen Deutschen und Juden simuliert und verfehlt. So wird Bubis, sei­nem Selbstverständnis nach ein „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der Fiktionalität dieser Selbsteinschätzung belehrt und von Walser als Jude angegriffen, der dem deutschen Volk unver­söhnlich gegenüberzustehen scheint und der die Geschichte kraft seiner „moralischen Instanzhaftigkeit“ instrumentalisiere, um Deutschland niederzuhalten.158 Walser redet nicht mit Bubis, sondern über Bubis als Jude: „Wenn Sie auftauchen, dann ist das so­fort zurückgebunden an 1933.“ Die Deutschen litten demnach unter Bubis „moralische[m] Druck“, seiner „moralischen Instanzhaftigkeit“, denn, so Walser weiter, „Dann haben Sie das deutsche Gewissen in eine Flasche 157 In der Tat scheint diese Form der gerichtsförmigen, öffentlichen Debatte mehr die Struktur des amerikanischen Rechtssystems zu simulieren, was nicht nur mit dem Umstand, dass die ersten Prozesse unter amerikanischer Auf­sicht stattfanden zu erklären ist, sondern auch mit der Jahrzehnte andauernden Vorbildfunktion amerikanischer Dis­kurse für die junge, deutsche Demokratie zu tun haben mag. 158 Zitiert nach Rensmann 2000, S. 84.

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gesperrt, zu der Sie den Stöpsel haben“. Und: „Herr Bubis, das sage ich Ihnen, ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie.“ Rensmann deutet Walsers aggressivdefensive Semantik im Zuge jener fortschreitenden Diskurs­verschiebung: Der identitätsstiftende nationale Mythos, der bei Walser als konstitutives Element grundgelegt wird – „das gewöhnliche deutsche Volk“ sei Opfer einer erinnerungspolitischen „Moralkeule“ Auschwitz, die vom imagi­nären jüdischen Gegenüber geschwungen wird, um selbstbewußte deutsche ‚Normalität‘ zu restringieren – wird schließlich immer unzweideutiger formuliert. [Hervorhebung A. H.] 159

Walsers Konstruktion eines nationalen, deutschen Opfermythos’ – unter ebenjener rhetorischen Verkehrung der Opfer-Täter-Dichotomie: der Schuldumkehr bei gleichzeitiger Affirmation die­ses Diskurses – dieser Mythos ist nur um den Preis eines Ko-Mythos’ zu haben, der dem natio­nalen sekundiert: der vom imaginären, jüdischen Gegenüber. Zugleich wird evident, welche Aufgabe von einigen Teilen der deutschen Gesellschaft an die Juden heute delegiert wird, nämlich eine Versöhnung auszusprechen, die diesen gar nicht zu­steht. Die, die es könnten, sind tot – in aller Deutlichkeit sichtbar wird dies, wenn man einem Überlebenden gegenübertritt, der dem Gedenken dieser Toten verpflichtet ist. Während mit den Toten kein Gespräch mehr mög­lich ist, wird das Gespräch mit den Lebenden gar nicht erst ge­sucht; gesucht wird, weiterhin im Diskurs des Gerichtsförmigen, der Freispruch. Bubis Antwort lautete dementsprechend: „Ich kann ihm seinen Seelenfrieden nicht wiedergeben. […] Es stört ihn [Walser], daß es mich gibt, nicht, weil er mich tot haben will, nein, aber es stört ihn, wenn er mich sieht. […] Jeder sucht nur seine eigene seelische Entlastung. Man erwartet von mir, die Ängste zu nehmen, die die Kinder und Enkel der Tätergeneration in sich tragen.“160 „Es stört ihn, wenn er mich sieht“ – auch für Bubis bestätigt sich die These, dass nicht nur das deutsch-jüdische Gespräch auf Ebene der historischen Realität nach wie vor ein Mythos ist, son­dern dass diese Mythengeschichtsschreibung bereits im Blick auf jenes jüdische Gegenüber be­ginnt, das weniger als reales, denn als gespenstisches, fiktives Gegenüber wahrgenommen wird. Dazu abschließend die Schriftstellerin Esther Dischereit: Der jüdische Mensch wird in der öffentlichen Wahr­nehmung wieder und wieder „Jude“, gleichsam tot, was seine Zugehörigkeit zur Gattung betrifft. Und in gewisser Beziehung ist diese Zeichnung nicht einmal falsch. Überlebende – Kinder von Überlebenden – Begriffe des Lebens oder Begriffe des Todes? 161 159 Ebd., S. 86. 160 Ebd., S. 187. 161 Esther Dischereit 1998, S. 20.

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2.3. Der ‚Andere‘ als Gerücht. Opfer-Täter-Dichotomien (II) Den akademischen Diskursen sowie denen der meinungsführenden und mei­ nungsbilden­den Per­sönlichkeiten des öffentlichen Lebens stehen auf alltagssprach­ licher Ebene nun jene indi­rekten Diskurse umso wirkungsmächtiger gegenüber, in denen eine Verständigung der Bevölke­rung über die jüdische Minderheit erfolgt, und zwar als „Gerücht(e) vom Juden“.162 Diskursanaly­tisch gewendet heißt dies: Der Diskurs der Mehrheit über „die Juden“ erfolgt in der Regel durch Codes und über Chiffren, durch Ge­raune und Mutmaßung und nonverbal mit Gebärden und dem Gestus der Ablehnung. Die Ablehnung gründet sich nicht auf Fakten, sondern auf Traditionen und Emotionen, die aber als Fakten verstanden werden.163

So lautet das Resümee von Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, dessen Quellenmaterial sich aus der umfangreichen Sichtung und Dokumentation von Leserbriefen, Interviews sowie den Ergebnis­sen von Meinungsumfragen zusammensetzt. Dabei suggeriert die eine solche Rede über ‚die Ju­den‘ üblicherweise einleitende Formel: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass …“, das Vorhandensein eines Denk- und Redetabus, das eine wirkungsmächtige Minderheit über die ohnmächtige Mehrheit aufgrund von Auschwitz zu verhängen weiß, von dem es sich endlich zu befreien gilt. Besonders deutlich zum Ausdruck kommt dies in jenem spezifischen Diskurs der Indirektheit, den Zustimmungen zu den direkten Reden anderer, die „endlich einmal Klartext“ gesprochen haben. Es geht hier also um Men­schen, die, mit Walsers Worten, in „tausenden“ von Leserbriefen „einer öffentlichen Rede zu­stimmen, in der öffentlich gesagt wurde, was jeder bisher nur gedacht und gefühlt hat“. Dieser Modus der Latenz alltagssprachlicher Diskurse über Juden, die sich, zumindest den Untersuchungsergebnissen zufolge, überwiegend im Gestus der Ablehnung vollziehen, zeigt dreierlei. Erstens: Die grundsätzliche Ambivalenz, die jeder pseudorationalen Diskussion über den Antisemitismus innewohnt. So kommt eine bewusstseinserhellende Kritik an der ungebro­chenen Präsenz judenfeindlicher Bilder etwa nicht nur nicht umhin, diese zugleich immer wieder zitierend heraufzubeschwören. Die gezielte Nachfrage (in Form von Interviews und Umfragen) nach dem Vorhandensein von Stereotypien im Bewusstsein der Be162 Diese prägnante Aussage Adornos findet sich in der Minima Moralia: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über Juden.“ Siehe Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, hier zitiert nach der Ausgabe von 2003, S. 125. 163 Benz 2004, S. 9f.

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völkerung wirkt zudem wie ein „Antidot“. Dies hatte bereits Adorno in seinen Studien zur Genese des Vorurteils feststellen müssen: Die vorurteilsvollen Personen neigen dazu, jeden Vorwurf gegen die Juden zu übernehmen, wenn sie ihn nicht von sich aus vorzubringen brauchen, sondern ihn als allgemein anerkannte Tatsache vorfinden. […] Diese Erwägung vermag auch das Phänomen zu erhellen, daß das deutsche Volk als Ganzes die radikalsten antisemitischen Maßnahmen hinnahm, obgleich die Einzelnen wahrscheinlich nicht antisemitischer waren als unsere voreingenommenen Versuchspersonen.164

So wird auch der Antisemitismus-‚Verdacht‘, der in den Medien gerne instrumentalisiert wird, als Schlagwort missbraucht, das jeden möglichen Gesprächsansatz von vornherein ‚erschlägt‘, die Unsicherheit der Menschen, in ihren Äußerungen missverstanden zu wer­den, schürt, und dem Modus der Latenz sowie dem Phantasma eines herrschenden Rede-Tabus weiter zuarbeitet. Zweitens: Der Gestus der Mutmaßung, der im Widerspruch zum Diskurs der Behauptung auf Ebene der Aussage steht, spiegelt den Mangel an tatsächlicher Erfahrung, an Begegnungen mit Juden im Alltag wider. Dass mit dem Besuch einer Lesung deutsch­jüdischer Autoren, eines Klezmer-Musik-Konzertes oder eines jiddischen Thea­terstückes eben nicht kausal das Verblassen stereotyper Fremdbilder zu Gunsten der neu gewonne­nen Erfahrung einher­geht, zeigt, dass das Abbauen von Vorurteilen bei Personen, die diese Bil­der erst einmal verinner­ licht haben, nicht so sehr von der Begegnung an sich abhängt, wie von der Fähigkeit, diese Begegnung überhaupt als eine solche wahrzunehmen. Die Komplexität des Zusammenwirkens von Stereotypie und Erfahrung, welche nicht in Opposition, sondern in einem komplementären Sinne zueinander zu setzen sind, hat Adorno in seinen Studien zum autoritären Charakter wie folgt beschrieben: Es gibt keinen glatten Bruch zwischen Stereotypie und Erfahrung. Stereotypie ist ein Kunstgriff, sich die Dinge bequem zurechtzulegen; da diese Tendenz aber aus verborgenen, unbewussten Quellen gespeist wird, können die Verzerrungen, die sie zur Folge hat, nicht einfach durch einen Blick in die Wirklichkeit kor­rigiert werden. Vielmehr ist die Erfahrung selbst durch Stereotypie vorgeprägt. […] Stereotypie lässt sich durch Erfahrung nicht „korrigieren“; erst muß die Fähigkeit restituiert werden, Erfahrungen zu machen, um das Gedeihen von Vorstellungen zu verhindern, die im buchstäblichen, klinischen Sinne bösartig sind.165

164 Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1977, S. 107. 165 Ebd., S. 121f.

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Mit Adornos „Blick in die Wirklichkeit“ rückt der dritte und wichtigste Punkt ins Zentrum: „Es stört ihn, wenn er mich sieht“, so hatte Bubis Walsers Wahrnehmung seiner Person empfun­den. Was mag denn das Irritierende an der Sichtbarkeit der jüdischen Bevölkerung heute sein? Die Juden in der Bundesrepublik Deutschland sind, was ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung angeht, heute nahezu unsichtbar (erst seit Mitte der neunziger Jahre wird durch die russisch-jüdi­sche Immigrationswelle die 300.000er Grenze langsam wieder überschritten);166 allein schon in die­sem demographischen Sinne ist das jüdische Gegenüber bereits eine Fiktion. Diese Fiktion wird dann zum Mythos, wenn etwa im Phantasma der übermächtigen jüdischen Präsenz („die Juden sind überall“),167 diese tatsächliche Leerstelle nach und aufgrund von Auschwitz überspielt wird. Versteht man mit Roland Barthes den Mythos als Aussage, für deren Verwendung und histori­sche Grenzen Bedingungen anzugeben sind, dann wird der Mythos „nicht durch das Objekt sei­ner Botschaft bestimmt, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht.“168 Über die Art und Weise, wie nach Auschwitz im Modus der Latenz Bildbotschaften im öffentli­chen Raum der Rede evoziert werden, wurde hier schon gesprochen. Walsers Aussage: „Wenn Sie auftauchen [Herr Bubis], dann ist das sofort zurückgebunden an 1933“ – signalisiert die Kri­ sis, die ausgelöst wird, wenn beim Blick in die Wirklichkeit imaginäres Bild und tatsächliches Ge­gen­über zur Deckung gebracht werden sollen. Bubis Antwort: „Es stört ihn, daß es mich gibt, nicht, weil er mich tot haben will, nein, aber es stört ihn, wenn er mich sieht“ – zeigt, dass die von Adorno geforderte Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, an ihre Grenzen stößt, solange die Trauma­tisierung von Deutschen und Juden weiter fortwirkt und für diese Form der Gegen­über­stellung nur ein gerichtsförmiger Diskurs zur Verfügung steht, der einer Mythologisie­rung von ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ als dem Resultat defensiver Strategien zuarbeitet. Wie schwie­rig es ist, diese dichotomische Gegeneinanderstellung zu Gunsten einer dialogisch-kritischen Ge­genüber­stellung aufzubrechen, diese Schwierigkeit beschreibt – noch einmal – Scholem: Die Atmosphäre zwischen den Juden und den Deutschen kann nur bereinigt werden, wenn wir diesen Ver­hältnissen mit der rückhaltlosen Kritik auf den Grund zu gehen suchen, die hier unabdingbar ist. Und das ist schwierig. Für die Deutschen, weil der Massenmord an den Juden zum schwersten Alpdruck ihrer mora­lischen Existenz als Volk gewor-

166 Siehe u. a. Juden in Deutschland nach 1945. Bürger oder „Mit“-Bürger?, hrsg. von Otto R. Romberg und Susanne Urban-Fahr, Frankfurt am Main 1999, Editorial. 167 Siehe Benz 2004, S. 37f. 168 Barthes 1964, S. 85.

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den ist; für die Juden, weil solche Klärung eine kritische Distanz zu wichti­gen Phänomenen ihrer eigenen Geschichte verlangt.169

Das Resümee dieses kursorischen Überblicks, der die außerliterarischen, dichotomisch geprägten Diskurse über Juden betrifft, lautet daher: 1.) Das Vorstellungsbild vom jüdischen Gegenüber weist alle Kriterien eines Unterscheidungsmy­thos auf. Fiktive Kriterien, welche die Juden, sei es positiv oder negativ konnotiert, als ‚anders(artig)‘ definieren, werden als Wirk­lichkeit ausgegeben, womit der Mythologisierung von Wirklichkeit Vorschub geleistet wird. 2.) Die Grundvoraussetzungen für ein deutsch-jüdisches Gespräch wurden in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, in der die Rede schon früh durch den gerichtsförmigen Diskurs der Opfer/Täter-Binarität geprägt worden war, gar nicht erst geschaffen. Wir haben es statt­dessen mit einer Entgegensetzung von Deutschen und Juden zu tun. Innerhalb dieses Koordinatensystems aber wird jede direkte Kommunikation auf die bi­näre Rhetorik von Rede und Schweigen, von Ein-Klage und Gegen-Klage kurzgeschlos­sen, während im Modus der Latenz die „Gerüchte vom Juden“ (Adorno) weiter gedei­hen. Die Möglichkeit Erfahrungen zu machen, einen Blick in die Wirklichkeit zu tun, wird damit erschwert. 3.) War die Proklamation einer negativen deutsch-jüdischen Symbiose bei Ger­ shom Scholem und Dan Diner als Sensibilisierungsmoment und konstruktive Grundlage für die Initiation eines gesellschaftlichen Gesprächs- und Denkprozesses gedacht, so erweisen sich ihre Dichotomie-Diskurse auf Ebene der gesellschaftspolitischen Praxis und in ihren diskurspolitischen Fortschreibungen als janusköpfig. 4.) Der hier unternommene Versuch, sich den deutschen Diskursen über Juden nach Auschwitz nicht nur psychokausal,170 sondern, zumindest ansatzweise, auch diskursanaly­tisch zu nähern, hat zudem gezeigt, dass es, jenseits der Debattenrhetorik rund um den Antisemitismusverdacht, viel allgemeiner um die defensiven Strategien und ‚anästhesisti­schen‘ Versuche einer nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit geht, mittels Stereotypisie­rungen das Vakuum ‚Jude‘ zu handhaben, das im Zentrum des nationalen (Schuld-) Traumas steht. Wobei 169 Scholem 1970, S. 22. 170 Eine der diesbezüglich prominentesten, wenn auch umstrittenen Studien stammt von Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967. Den Mitscherlichs zufolge war ‚der Führer‘ den meisten Deutschen eine Art Über-Ich-Figur, deren Verlust aufgrund der daran geknüpften Schuld und Scham nie betrauert und damit verarbeitet werden durfte. Erläuterung siehe Kapitel III 2.2.4 der vorliegenden Arbeit sowie: Georg Stei­ner, Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt am Main 1969. Steiners harter Argumentation zufolge hat sich die gesamte deutsche Sprache durch die an der Menschheit begangenen Verbrechen desavouiert.

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jene Befangenheit, 171 welche die individuelle Wahrnehmung von Juden heute prägt und Erfahrungen, wo sie denn möglich wären, behindert, zugleich auch Aus­druck einer Sensibilisierung hinsichtlich der herrschenden Gesprächsstörung ist, die Hand in Hand mit dem Wunsch nach Normalität einhergeht. 5.) Erfahrungen mit neuen Diskursen zu machen, scheint der Literatur vorbehalten zu sein.

I. 3. Stille Tage. Literarische Selbstvergewisserungen nach 1989 „Das Schreiben“, so Gilman, „hat immer eine wesentliche Rolle gespielt, wenn es darum ging zu definieren, was ein Jude sei – und zwar gegen die vorgeformten Bilder, die von ihnen in ihrer jeweiligen Umgebung existierten. Das ist nicht erst seit der Aufklärung so; es handelt sich viel­mehr um ein allgemeines Modell für die Äußerung jüdischer Identität in der westlichen Welt.“172 Das deutsch-jüdische Gespräch, die außer- und innerliterarischen Diskurse zwischen Deutschen und Juden forcieren durch die an sie gekoppelten Fragen nach Gemeinsamkeiten und Differen­zen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Analog zu der Dynamik der öffent­lich geführten und zunehmend ausdifferenzierten Erinnerungsdiskurse um die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, schreiben auch die literarischen Texte, wie gezeigt, an einer sozialen Ordnung der Erinnerung, am kulturellen Gedächt­nis ebenso mit wie an den Identitätsentwürfen ihrer Autoren. Der wechselseitige Impuls, sich nach 1989 innerhalb eines veränderten gesellschaftlichen Raums wieder eines Standpunkts zu vergewissern, ruft zwischen Deutschen und Juden dabei vermehrt Fragen danach hervor, wer sie selbst sind, woher sie kommen und auf welches Eigene sie sich berufen und stützen können. Die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer heutigen deutschjüdischen Identität rücken damit in den Fokus der Autoren, und damit verbunden auch die Frage nach ‚dem Jüdischen‘.

3.1. Forschungsstimmen. Bilder ohne Vorbilder? Der ‚Andere‘ und die neue deutsch-jüdische Literatur Natürlichkeit im Gebrauch des Attributs ‚jüdisch‘ [scheint] zumindest im deutschen Feuilleton sowie in der deutschen Germanistik unwiderruflich Einzug gehalten zu haben: 171 Gert Mattenklott verwendete als einer der ersten den Terminus der ‚Befangenheit‘ für den Umgang zwischen Deutschen und Juden. Siehe Gert Mattenklott, Über Juden in Deutschland, Frankfurt am Main 1992. 172 Gilman 1993, S. 33.

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Daß ein Autor, eine Erinnerung, eine Er­fahrung, eine Tradition, eine Schreibweise, gar eine Literatur ‚jüdisch‘ seien, steht heute nahezu täglich in einer, wenn nicht mehreren Zeitungen, in einer Vielzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu lesen.173

So lautete jüngst die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Stephan Braese. Zu der Aussage, dass eine Literatur ‚jüdisch‘ sei, gehört aber das Wissen, oder zumindest die Ver­ständigung darüber, was denn ‚das Jüdische‘ ausmacht. In der Forschung hat man sich darauf ge­einigt, dann von einer ‚jüdischen Literatur‘ zu sprechen, wenn ein Autor oder eine Autorin sich nicht nur ihrem privaten, sondern insbesondere auch ihrem schriftstellerischen Selbstverständnis nach als jüdisch bezeichnet und zudem jüdische Themen, Erfahrungen und Personen explizit zum Ge­genstand ihrer literarischen Arbeit erhebt.174 Auf Ebene der literarischen Selbstvergewisserung gehören die Fragen nach ‚dem Jüdischen‘ damit zum Gegenstandsbereich der deutsch-jüdischen Literatur. Eine Beschäftigung mit dem, was denn die jüdischen Stimmen in der deutschen Literatur ausmache, ganz zu schweigen von der darin implizit enthaltenen Frage nach ‚dem Jüdischen‘ schien vor dem Hintergrund der Shoah jedoch lange Zeit nur unter rein historischen Gesichts­punkten möglich zu sein. Und so heißt es denn auch noch Mitte der achtziger Jahre in Bayerdörfers Untersuchung Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert: Man hat sich also, gerade heute, nach der ‚Zerstörung deutscher Kultur‘ und insbesondere der Vernichtung einer deutsch-jüdischen Literatur, sehr zu hüten, diese Rubrizierungsoder Charakterisierungsversuche er­neut aufzunehmen. Ein „Inventar jüdischer Autoren“ käme „einem fragwürdigen Anheften von Judensternen“ unreflektiert nahe, auch wenn es in bester Absicht geschähe. Man kann allenfalls versuchen, dem Phänomen der deutschjüdischen Literatur „im Spiegel ihrer Vorurteile“ nachzugehen, mit aller noch immer gebotenen Vorsicht und dezidierten Distanzhaltung.175

Dieser „dezidierten Distanzhaltung“ tragen in den Folgejahren dann auch die wenigen wei­teren Publikationen Rechnung. In Albrecht Schönes und Stéphane Moses Sammelband Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion von 1986 etwa wird dem „Ende“ der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte unter folgenden Frage­stellungen gedacht: „Was hat es geheißen, Jude zu sein im 173 Braese, in: ZfdPh 2002, S. 17. 174 Vgl. u. a. Andreas B. Kilcher, Exterritorialitäten. Zur kulturellen Selbstreflexion der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur, ebd., S. 131–146. 175 Bayerdörfer, Grimm 1985, S.  42. Bayerdörfer, Grimm und Kwiet zitieren hier Max Wehrli bzgl. der Gefahr einer „Anheftung von Judensternen“: Max Wehrli, Die Literatur, in: Die Juden und die Kultur. Eine Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks, hrsg. von Leonhard Reinisch, Stuttgart 1961, S. 91–105, hier S. 91.

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deutschen Kulturbereich? Wie also haben sich diese Juden den Deutschen und Deutsche den Juden gegenüber verhalten? Und: wie stellen wir uns dieser ‚tragischen Literaturgeschichte‘?“176 Der erste Teil der vorliegenden Arbeit hat versucht, sich mit genau diesen Fragen zu beschäftigen. Doch unabhängig, ob es um die genannten Literaturgeschichtsschreibungen, um Jaspers Mythendekonstruktion des deutsch-jüdischen Parnass’ oder um Klügers ‚Katastrophen‘ der deutschen Literatur geht – der Blick der Forschung steht im Zeichen der Zäsur, man schaut zurück. Je nach Erscheinungsdatum und Bezugsrahmen der jeweiligen Publikation verschiebt sich der dazugehörige Epilog auf das deutsch-jüdische Gespräch literaturhistorisch allerdings Stück für Stück weiter nach vorn. So liest auch noch Hans J. Schütz in seiner Literaturgeschichte von 1992: Juden in der deutschen Literatur. Eine deutsch-jüdischen Literaturgeschichte im Überblick die „Literatur nach dem Holocaust“ wie ein letztes Kapitel: Mit dem Untergang der Weimarer Republik zerbrach auch das zerbrechliche Gebilde einer deutsch-jüdischen Symbiose. Die Nationalsozialisten erklärten den Juden den Krieg, und am Ende dieser Kriegserklärung stand millionenfacher Mord. Die Vernichtung der europäischen Juden setzte der 150jährigen Geistesbezie­hung zwischen Juden und Deutschen ein grausiges Ende. [ …] Doch trotz allem kann man von einem Epi­log zu diesem letzten Kapitel deutsch-jüdischer Literatur sprechen: es gab eine kleine Gruppe Überlebender […]. Da war zum einen jene ältere Generation exilierter deutsch-jüdischer Autoren wie Alfred Döblin, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Elias Canetti […], die ihren Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur beanspruchten. Doch sie teilten das Schicksal der nichtjüdischen Exilautoren: ihre Bücher und Erfahrungen waren wenig gefragt, die Verlage verhielten sich zurückhaltend, und das Lesepublikum war mehr an den Autoren der „Inneren Emigration“ und an der Moderne des Auslands interessiert.177

Nun ist es aber mehr als eine Banalität, wenn man, wie Dieter Lamping, einwendet, dass die Literaturgeschichte inzwischen „weitergegangen“ ist.178 Lamping zufolge geschieht dies allerdings mit beschränkter Hoffnung. Denn, so argumentiert er 1998 in seinem Ausblick Jüdischer Diskurs in der deutschen Gegenwartsliteratur, es habe weniger die deutsch-jüdische Literatur als die jüdische Literatur deutscher Sprache eine Fortsetzung gefunden:

176 Moses, Schöne 1986, Klappentext. 177 Schütz 1992, S.  309f. sowie zur „Literatur der Überlebenden“: Jens Stüben und Winfried Woesler in Zusammenarbeit mit Hanno Loewy (Hrsg.): „Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde“. Acta-Band zum Symposion ‚Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945‘, Darmstadt 1993. 178 Lamping 1998, S. 152.

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Bei Autoren wie Becker oder Hilsenrath kann von deutsch-jüdischer Literatur im herkömmlichen Sinne nicht die Rede sein. Der Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose sind sie nicht mehr verpflichtet. Ihre Romane verweisen vielmehr, manchmal geradezu demonstrativ, auf das Scheitern, ja die Katastrophe des deutsch-jüdischen Verhältnisses. In der Darstellung der jüdischen Erfahrung der Vernichtung, Verfolgung und Ausgrenzung erweisen sie sich als jüdische Literatur deutscher Sprache.179

Die vorausgegangenen Erörterungen zur literarischen Selbstvergewisserung, zum ‚Tauziehen‘ deutschjüdischer Stimmen im literarischen Raum sollten aber wiederum gezeigt haben, dass sich auch die Autoren in der Zeit vor der Shoah nicht alle jener deutsch-jüdischen Symbiose verpflichtet fühlten wie zum Beispiel Isachar Falkensohn Behr. Und die Dokumentation des Scheiterns des deutsch-jüdischen Verhältnisses, von dem Lamping hier als einschneidendem Punkt spricht (als hätte diesbezüglich zuvor eine gewisse Einstimmigkeit geherrscht) war, wenn auch in anderen Dimensionen, bereits Gegenstand der Werke Heines, Schnitzlers, Mosenthals oder der kritisch-resignierten Äußerungen Goldsteins oder Wassermanns. Seit einigen Jahren richtet sich nun wieder ein Blick nach vorn: Stephan Braese konstatiert die Rückkehr des Attributs ‚jüdisch‘ als poetologisches Kriterium in den Feuilletons, und Hartmut Steinecke kommt im Jahr 2000 anlässlich eines internationalen Symposions zur deutsch-jüdischen Literatur der neunziger Jahre zu folgendem verheißungsvollen Resümee. Es gibt sie wieder, eine neue deutschjüdische Literatur: „Seit Ende der 1980er Jahre erschienen zahlreiche Werke jüdischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nach der Shoah geboren wurden. Es entstand, was vor einem Jahrzehnt niemand vorausgesehen und erwartet hätte: eine neue Blüte der deutsch-jüdischen Literatur.“180 Dass Steineckes Bestandsaufnahme in den Rahmen einer internationalen Tagung fällt, ist dabei weder unwesentlich noch zufällig. War es doch die amerikanische Germanistik, allen voran Sander L. Gilman, Karen Remmler und Jack Zipes, die seitens der Forschung mit einer Reihe von Veröffentlichungen als erste auf die neue deutschjüdische Literatur aufmerksam machten.181 Gemäß ihres transdisziplinären An179 Ebd., S. 153. Hervorhebung A. H. Lampings Kapitelüberschrift „Mit beschränkter Hoffung“ ist im Übrigen eine Anspielung auf das Werk des deutsch-jüdischen Autors Rafael Seligmann: Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis, Hamburg 1991. 180 Hartmut Steinecke, „Deutsch-jüdische“ Literatur heute. Die Generation nach der Shoah, in: ZfdPh 2002, S. 9–16, hier S. 9. 181 Siehe: Sander L. Gilman, Jews in Today’s Germany. Indiana 1993; Sander L. Gilman und Karen Remmler (ed.), Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and Literature since 1989. New York, London 1994; Dagmar Lorenz und Gabriele Weinsberger (ed.), Insiders and Outsiders. Jewish and Gentile Culture in Germany and Austria, Detroit 1994; Sander L. Gilman und Jack Zipes (ed.), Yale Companion to Jewish Writing an Thought in German Culture 1096–1996, New Haven, London 1997. Mit letzterem Nachschlagewerk haben Gilman und

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satzes werden von Zipes, Remm­ler und insbesondere von Gilman die fiktionalen und nicht-fiktionalen Texte zeitge­nössischer deutschjüdischer Autorinnen und Autoren in erster Linie als Folie für die außerli­te­rarischen Dis­kurse über Minderheiten und die soziokulturellen Codierungen ‚des Juden‘ als ‚Anderem‘ gele­sen: Es geht folglich nicht einfach nur darum, anhand kultureller Schöpfungen aufzuzeigen, welche Fortschritte (oder Rückschritte) eine beliebige Gesellschaft macht; vielmehr interessiert die Sprache oder der Code dieser Schöpfungen. Denn dieser Code ist ein Schlüssel zum Verständnis mancher innerer Vorgänge bei der Ent­wicklung der Weltbilder, der Mentalität, einer (beliebigen) Gesellschaft. […] Er [der Andere] bezieht seine Sprechweise, seine Denkweise, die Art seiner Selbstdarstellung aus der ihn umgebenden Welt; seine Sprache hat die Phantasien der Gesellschaft über die Anderen in sich aufgenommen.182

Zu ähnlichen Aussagen und Ergebnissen kommt auch Andreas B. Kilcher, der allerdings statt aus einer soziologisch und intrakulturellen Perspektive genuin literaturwissenschaftlich argumen­tiert und, in Anlehnung an Deleuze,183 für die neue deutsch-jüdische Literatur den eingängigen Begriff der „Exterritorialität“ findet. Was die unterschiedlichen Schreibweisen Dischereits, Billers, Schindels und Honigmanns verbinde, sei, so Kilcher, ihre „Position der Randständigkeit,“ die es ihnen gerade ermögliche, einen besonders wahrnehmungssensiblen Blick auf die Strukturen und Verfasstheit der deutschen Gesellschaft zu werfen sowie in kritische Distanz zur deutschen Lite­ratur zu gehen: Dieses Schreiben setzt sich den Schwierigkeiten und Disharmonien der ‚negativen Symbiose‘ bewusst aus. Skeptisch auch gegenüber der deutschen Sprache und Literatur geht es Zipes eine Pionierarbeit vorgelegt, da hier tausend Jahre deutsch-jüdische Geschichte schlaglichtartig präsentiert wird samt einer glänzenden Einführung in die Geschichte der jüdischen Kultur in Deutschland sowie einer weiterführenden Biographie. 182 Gilman 1993, S. 31. 183 In Anlehnung an Kafka entwickeln Deleuze und Guattari den Begriff der ‚kleinen Literatur’ als „Literatur einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient.“ Eine der drei von Deleuze und Guattari beschriebenen Merkmale dieser ‚kleinen Literatur‘ ist ihr sprachlicher ‚Deterritorialisierungs’-Koeffizient, der aus der Benutzung einer Sprache entsteht, die außerhalb ihres eigentlichen und vitalen Sprachraumes entsteht. Die beiden anderen Hauptmerkmale sehen Deleuze und Guattari in dem eminent politischen Charakter dieser Literatur gegeben sowie darin, dass jeder sprachlichen Äußerung ein kollektiver Wert zukomme. Siehe: Gilles Deleuze und Felix Guattari, Franz Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main 1976, S. 24ff. Dieser theoretische Ansatz deckt sich mit den hier vorgestellten Ansätzen der Forschung zur deutsch-jüdischen Literatur als einer „Minderheitenliteratur“ und wird dementsprechend häufig auch als theoretische Referenzgröße angegeben. Bei aller Eingängigkeit darf aber nicht vergessen werden, dass Differenzierungen und Entwicklungen, zumal die formalästhetischen Kriterien im Werk eines Autoren auf diese Weise nicht berücksichtigt werden können, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich Mehrheits- und Minderheitendiskurse mitunter auch überschneiden, und dass große Teile der jüdischen Autoren in ihrer kulturellen Umgebung auch verwurzelt waren. Dazu siehe auch Nolden 1995, S. 66–68.

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auf Distanz zu traditionellen Ästhe­tiken und sucht nach neuen Schreibweisen, die im äußersten Fall in einer radikal dissimilativen deutsch-jüdischen Literatur münden.184

Hier klingt noch einmal wie von Ferne Goethes Erwartungshaltung hinsichtlich einer ‚Literatur der Randständigkeit‘ an. Mit Blick auf Behrs Gedichte hatte er formuliert: „Wenn er nichts neues sagt, wird alles eine neue Seite haben.“ Die Authentizität einer deutschjüdischen Literatur vermag sich also für Kilcher ebenso wie für Goethe, wenn nicht durch eine ‚neue Sprache‘, so durch einen ‚neuen Blick‘ einzustellen. Kritisch nachzufragen bliebe allerdings, ob denn die zeitgenössischen sprachund gesellschafts­kritischen nichtjüdischen Schriftsteller nicht ebenso auf Distanz zu traditionellen Ästhetiken ge­hen, und ob das Kriterium der „Randständigkeit“, gerade vor dem Hintergrund etwa der türkischen und russischen Migranten, wirklich so spezifisch jüdisch ist? Kilchers Blickwinkel jedenfalls ist ebenso wie die Ansätze der amerikanischen Germanistik von dem Versuch gekennzeichnet, die Differenzen zwischen Deutschen und Juden, zwischen jüdischen und deutschen Stimmen nicht zu verwischen, sondern die Subversi­vität, das poetische Potential einer „unmöglichen“, einer „kleinen Literatur“ aufzuzeigen, wie sie als einer der ersten Franz Kafka so hellsichtig skizziert hat: Sie [die Juden] lebten zwischen drei Unmöglichkeiten […]: der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Un­möglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben […], also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß. 185

Wenn man wie Kafka über den Zusammenhang von Sprache und Fremdwahrnehmung nach­denkt, kommt man in der Tat nicht umhin, sich mit Identitätskonzeptionen auseinanderzuset­zen. Die seit der Jahrtausendwende zunehmend unübersichtlicher werdende Zahl an Tagungen, Monographien und Sammelbänden zur deutsch-jüdischen Literatur und zur jüdischen Identität in Deutschland zeugen daher in erster Linie von dem Bedürfnis, dem Phänomen dieser ‚neuen‘ deutsch-jüdischen Literatur gerecht zu werden. Während Lexika zunächst eine Be­ standsaufnahme vornehmen,186 wird andernorts nach den Fortsetzungen jener Literatur unter neuen Namen und Vorzeichen gesucht. Laut Dieter Lamping 184 Kilcher, in: ZfdPh 2002, S. 134. 185 Franz Kafka, Brief an Max Brod, Juni 1921, in: Franz Kafka. Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod, Ausgabe in acht Bänden, Briefe 1902–1924, Frankfurt am Main 1975, zitiert nach der Ausg. Oktober 1996, S. 337f. 186 Kilcher 2000 mit einem sehr ausführlichen Vorwort zu Geschichte und Begriff der deutschjüdischen Literatur sowie Hoffmann 2002.

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etwa wird weniger an die deutsch-jüdische Literatur als vielmehr an die jüdische Literatur in deutscher Sprache angeknüpft: Der Versuch, an literarische Traditionen außerhalb der deutschen Literatur anzuknüpfen, ist auch ein Zei­chen dafür, daß die neue jüdische Literatur nicht in der Nachfolge der deutsch-jüdischen Literatur steht – weder ideologisch noch literarisch. Ob sie allerdings in der jüdisch-amerikanischen Literatur wirklich ein Vor­bild finden kann, ist fraglich: Die Jewish-American Literature ist Ausdruck einer jüdischen Kultur, die unter vollkommen anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden ist.187

Willi Jasper wiederum betont, basierend auf den demographischen Veränderungen und den Er­gebnissen der jüngsten Einwanderungszahlen, die osteuropäischen und insbesondere die Ein­flüsse russisch-jüdischer Migranten auf die zeitgenössische jüdische Literaturszene in Deutsch­land. Ebenso wie für Lamping entspricht „der neue literarische Diskurs“ Jasper zufolge also we­niger den Charakteristiken einer neuen deutsch-jüdischen Literatur, wie Braese, Gilman, Kilcher und Steinecke sie zu beobachten glauben, als vielmehr einer europäisch-jüdischen Literatur. Unter­stützt wird er hierin von Thomas Nolden, der, im Zuge der Globalisierung und eines zusammen­rückenden Europas als einer der ersten für eine transnational vergleichende Betrachtung der jungen, jüdischen Literatur plädiert: In einer Zeit, in der sich die methodologischen Positionen um das Aufbrechen binärer Oppositionen be­mühen, empfiehlt sich auch der Beschäftigung mit der „deutsch-jüdischen“ Problematik ein vergleichender Blick auf die Konstellationen jüdischer Identität, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in anderen nationalen und kulturellen Kontexten entwickelt haben.188

Die Bemühungen seitens der Forschung, die Werke von Autorinnen und Autoren wie Maxim Biller, Bar­bara Honigmann, Robert Schindel, Esther Dischereit, Rafael Seligmann oder Doron Rabinovici wahlweise unter dem Sammelbegriff einer jüdischen Literatur, einer deutsch-jüdischen Literatur der Nachgeborenen, einer jüdischen Literatur in deutscher Sprache oder einer europäisch-jüdischen Literatur zu verorten, entspringen der Motiva­tion, hierin einer Minderheitenperspektive, der Stimme des ‚Anderen‘ in der deut­schen Literatur gerecht zu werden und diese hörbar zu machen. So betrachtet die 1995 erschienene Studie Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart von Thomas Nolden das jüdische Schreiben nach und über die Shoah sowohl gattungs- als auch generationsübergreifend als einen europäisch-jüdischen Diskurs, der mit den gängigen Fragestellungen, die an eine Nationalliteratur oder auch an eine deutsch-jüdische Literatur gestellt werden, 187 Lamping 1998, S. 161. 188 Nolden 1995, S. 12.

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nicht adä­quat beantwortet werden kann. Eine Kontinuität zum Schreiben vor der Shoah gibt es Nolden zufolge nicht, da die junge Generation von den Zentren des traditio­nellen Selbstverständnisses des Judentums „durch die Geschichte der Assimilation ihrer Vorfah­ren, und noch radikaler durch den Vernichtungswahn der deutschen Nationalsozialisten abge­schnitten“ ist: Nicht aus der Tradition jüdischer Identität und Literatur entstehen die Werke dieser nachgeborenen Gene­rationen, sondern aus einer Differenz zu ihr – […] Als Vertreter einer Diasporaliteratur befinden sich diese Autoren zugleich in nationaler, kultureller und sprachlicher Distanz zum jüdischen Staat Israel. Aus diesem Mittelpunkt der jüdischen Gegenwartserfahrung orientiert sich […] das Schreiben der jungen Autoren.189

Zu jener „Voraussetzungslosigkeit“ heißt es dann unter der prägnanten Kapitelüberschrift Bilder ohne Vorbilder weiter: Einer der ersten Gründe hierfür besteht in der Tatsache, daß die Problematik des Aufwachsens in der deut­schen oder österreichischen Nachkriegsgesellschaft, die die jungen Autoren naturgemäß beschäftigen muß, in den Arbeiten von Exilanten wie Paul Celan und Nelly Sachs nicht reflektiert wird. Als eine Diasporalite­ratur, die auf dem Boden der ehemaligen Täterländer entsteht, kann diese Literatur andererseits sicherlich kaum Anregungen aus der israelischen Literatur der Gegenwart beziehen.190

Zugleich war Nolden einer der ersten, der die Werke junger jüdi­scher Autorinnen und Autoren im Hinblick auf eine zusammenhängende werkübergreifende Ästhetik unter­suchte. Sein Resümee fasst Nolden im Begriff des „konzentrischen Schreibens“ zusammen, das seines Erachtens durch das Schrei­ben im Krisenbewusstsein der Shoah entsteht: Die nachgeborenen Generationen können sich diesem zentralen Ereignis in der Geschichte des modernen Judentums nur durch eine Bewegung nähern, die hier – in Analogie und als Differenz – als eine ‚konzentri­sche‘ Bewegung bezeichnet wird. Der Ausdruck beschreibt ganz allgemein das Spannungsverhältnis zwi­schen den Positionen der jungen Generationen und den von der Tradition verbürgten kulturellen, religiösen und geschichtlichen Mittelpunkten des Judentums.191

Die Shoah „als zentrales Ereignis der Geschichte“, dem sich die „Nachgeborenen“ durch „kon­zentrische [Schreib-]Bewegungen nähern“, bildet laut Nolden die absolute Zäsur und in Analogie wie Differenz den einen Be­zugspunkt innerhalb der Vielfalt konzentrischen Schreibens. Was Noldens Ansatz jenseits aller Differenzen zur Generation der Überlebenden suggeriert, ist daher (und nur scheinbar 189 Ebd. 190 Ebd., S. 79. 191 Ebd., S. 10.

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paradox) eine Kontinuität im Zei­chen der Shoah. Dafür spricht nicht nur die Kategorisierung der jüdischen Autorinnen und Autoren als „Nach-Geborene“, sondern auch das Attribut des „Konzentrischen“, das sowohl von seiner Schreibbewegung des Umkrei­sens her als auch vom Wortfeld selbst die Traumata der Kon­zentrationslager bewusst assoziiert. Die bereits von Nolden konstatierte stilistische Vielfältigkeit des ‚jungen‘ jüdischen Schreibens wird wiederum in der 2001 erschienenen Studie Heterogenes Schreiben: Positionen der deutschsprachigen jüdischen Literatur (1986–1998) von Barbara Oberwalleney thematisiert und, statt wie bei Nolden auf den Nenner eines übergreifenden ästhetischen Konzepts hin, gerade in ihrer Viel­stimmigkeit herausgearbeitet. Wobei Oberwalleney formalästhetische Kriterien ebenso in die Analyse der einzelnen Werke einbezieht wie die poetischen Stilmittel der Verfremdung, Über­zeichnung sowie Distanzierungsstrategien, welche einem nichtjüdischen Leser die allzu leichte Identifikation mit den jüdischen Figuren bewusst erschweren.192 Die Heterogenität der Schreibweisen erscheint Oberwal­leney dabei als historische Konse­quenz des Traditionsbruchs zum jüdischen Schreiben vor 1933 und des Kontinuitätsverlusts durch die Shoah. Wobei sich kritisch anmerken lässt, dass ja auch die Schreibweisen deutsch-jüdischer Autoren vor 1933 keinesfalls als homogen zu bezeichnen wären. Die Heterogenität allein zum zentralen poe­tischen Kriterium jüdischen Schreibens für die Zeit nach der Shoah zu bestimmen, ist so nicht überzeugend. Unhintergehbar ist laut Oberwalleney für das Schreiben jüdischer Autoren, deren Texte sie dann wiederum in überzeugender Weise als „Verständigungstexte“ bezeichnet, insgesamt al­lerdings eines: Sprachkritik. Diese sei, so Oberwalleney, kennzeichnend für alle jüdischen Autoren, die in deutscher Sprache schreiben. Damit plädiert sie im Grunde in Abgrenzung zu Nolden für eine Betrachtungsweise der Spezifika, die gerade die deutschsprachige jüdische Literatur hervorbringt: Die kritische Reflexion der Sprache ist sicherlich nicht als spezifisch jüdisch zu bezeichnen, würde das doch einen gewichtigen Teil der nichtjüdischen Gegenwartsliteratur negieren. Absolut kennzeichnend ist sie in historischer Zwangsläufigkeit jedoch für die jüdische Literatur in deutscher Sprache.193

Demgegenüber versucht die im Jahr 2000 erschienene Monogra­phie Wechselwirkungen. Deutsch-Jüdische Identität in erzählender Prosa der ‚Zweiten Generation‘ von Helene Schruff aufzuzeigen, welche Identitätsmodelle sich in den Texten finden lassen, die sich eben in ‚Wechselwirkung‘ mit den außerliterarischen, identi­ tätsstiftenden Bezugspunkten Eltern, Shoah, Religion und Israel herausbilden. 192 Barbara Oberwalleney, Heterogenes Schreiben: Positionen der deutschsprachigen jüdischen Literatur (1986–1998), München 2001, S. 164. 193 Ebd., S. 180.

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Den Einwänden der Forschung, so etwa auch von Oberwalle­ney, dass Schruff die diskursive ‚Wechselwirkung‘ zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten, die für die meisten der von Schruff behandelten Autoren, insbesondere für Esther Dischereit, Rafael Selig­mann und Maxim Biller wesentlich sind, auf diese Weise nicht erfasst würde, ist hier nicht zwingend zuzustimmen, da sie sich auf eine andere Ebene der Wechsel­wirkung, auf die Schaltstelle zwischen Literatur und Lebenswelt, konzentriert. Dass den literari­schen Diskursen dabei aber auch die poetische Möglichkeit zukommt, mit der Welt außerhalb ihrer selbst nicht-identisch zu sein,194 dieser Aspekt der literarischen Erzeugung von Identität, und damit die Poetizi­tät der jeweiligen Werke, bleibt bei Schruff allerdings unberücksichtigt. Schruff operiert zudem nicht nur mit dem problematischen, da vagen Begriff der ‚Zweiten Generation‘, sondern auch mit einem einheitlichen, gewissermaßen statischen Identi­tätsbegriff, den sie, in Anlehnung an Ralf Drewes, als eine „subjektive Konstruktion eines Indivi­duums über die eigene Person“ definiert, „die dazu dient, die Fülle der individuellen Erfahrungen kohärent zu organisieren und der individuellen Biogra­phie Kontinuität und Einzigartigkeit zu verleihen“.195 Ebenso wie Nolden und Lamping kommt sie hinsichtlich der Identitätskrise der jun­gen Autoren und dem damit verbundenen „Paradigmenwechsel“ durch die Shoah zu der Schluss­folgerung: Der Bruch, der das gesamte jüdische Leben betroffen hat, spiegelt sich auch in der Literatur wider. Nicht nur, daß der Schreibanlass der Autoren sich von denen der Schriftsteller am Anfang des Jahrhunderts un­terscheidet, die ästhetischen Fragestellungen haben durch die Shoah eine große symbolische Bedeutung er­halten, denen sich auch die jungen Autoren nicht entziehen können. Die Erwartung, daß die neue Literatur von jüdischen Autoren an die deutsch-jüdische Erzähltradition anknüpfen solle oder könne, zeigt sich die­sen Fakten gegenüber voreilig. 196

Den drei hier anskizzierten, sehr unterschiedlich argumentierenden Forschungsstimmen gemein ist, dass sie sich nicht nur jeweils ausschließlich auf die Perspektive jüdischer Schriftsteller konzentrieren und damit einen Binnendiskurs zum Gegenstand ihrer Betrachtungen gewählt haben – sei es die junge jüdische Literatur (Nolden), sei es die deutschsprachige jüdische Literatur (Ober­walleney) oder die deutsch-jüdische Literatur der ‚Zweiten Generation‘ (Schruff ). Betont wird überdies fast durchweg eine zweifache Zäsur: Juden als Träger der deutschen Literatur, dieses Projekt habe sich nach 1945, also rückblickend, als Projektion erwiesen, 194 Siehe Amir Eshel, Die Grammatik des Verlusts. Verlorene Kinder, verlorene Zeit in Barbara Honigmanns „Soharas Reise“ und Hans-Ulrich Treichels „Der Verlorene“, in: ZfdPh 2002, S. 59–74. Eshels kritischer Kommentar zu Schruff, S. 62, Anm. 9. 195 Schruff 2000, S. 36 unter Zitation von Ralf Drewes, Identität. Der Versuch einer integrativen Neufassung eines psycholo­gischen Konstruktes, Münster, New York 1993, S. 7. 196 Schruff, ebd., S. 26.

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während die Werke der jungen jüdischen Autoren der zweiten und dritten ‚Generation‘ nach 1989 insgesamt durch eine gewisse Vorausset­zungslosigkeit gekennzeichnet seien, da sie an keinerlei Tradition mehr anknüpfen könnten, wel­che durch die Shoah nicht desavouiert worden wäre. Oder anders ausgedrückt, die Shoah bleibt immer, so Lamping, „offen oder geheim, die Referenz dieser Literatur“.197 Bleibt zu fragen, ob die Shoah als eine solche absolute Bezugsgröße jüdischer Gegenwartserfah­rung tatsächlich nicht doch der Rückversicherung der jüdischen Tradition neben sich bedarf, um jüdische Identität nicht nur ex negativo immer wieder repetitiv festzuschreiben, sondern wieder mit positiven Inhalten zu füllen, die eigene Stimme in und durch die der anderen ‚hörbar‘ zu machen. Eine poetologische Position, für die Celans Meridian das eindringlichste Bild bereitstellt. Insbesondere die Kategorisierung Generation der Nachgeborenen oder Die Generationen nach der Shoah, mit der die Forschung seit einigen Jahren die zeitgenössischen jüdischen Autoren zwar untereinander zusammenbindet, also auch den 1944 geborenen Robert Schindel mit dem 1968 geborenen Maxim Biller, diese jedoch zugleich in Abgrenzung zu denjeni­gen Autorinnen und Autoren als Generation definiert, die die Shoah noch als Zeit- und Augen­zeugen erlebt haben, ist als Definierungsbegriff höchst problematisch. So soll die Generation nach der Shoah einerseits die Ver­bundenheit, das Eingedenken an die Leiden der Elternund Großelterngeneration leisten sowie andererseits die zeitliche Distanz zu eben dieser Zeitzeugengeneration markieren. Dies ist ein hoher Anspruch und verlangt viel. Dennoch bedeutet ‚Generation‘ ja in erster Linie ‚Nachfolgeschaft‘ und suggeriert damit allein dem Wort nach schon Kontinuität. Kontinuität im Zeichen der Shoah, der Zäsur? „Jeder schweigt von etwas anderem“, so der Holocaust-Überlebende Jakob Scheinowitz in Doron Rabi­novicis Roman Suche nach M. So frucht­bar eine derartige Debatte für die Forschung und den literarischen Betrieb insgesamt daher auch sein mag – den Autoren selbst erscheint diese Zuordnung zu einer ‚Bindestrich-Literatur‘, analog etwa zur Frauen-Literatur oder Schwulen-und-LesbenLiteratur, in der Praxis mitunter mehr wie eine subtile Form der Ausgrenzungspolitik. Die Befürchtung, in einer Schublade zu landen, isoliert und weniger aufgrund der literarischen Qualität der Werke besprochen zu werden, als schlicht gattungsinteressant zu sein, lässt viele Autoren eher abweh­rend auf eine Kategorisierung ihrer literarischen Werke als ‚jüdisch‘ bzw. ihrer Personen als jüdischen Autoren reagieren: „Ich bin kein jüdischer Schriftsteller, ich bin Jude und Schriftsteller. Ich glaube, dass Einteilung in Schubladen nicht funktioniert“, sagte der österreichische Autor Doron Rabinovici. „Ich weigere mich einerseits, als jüdischer Schriftsteller ange197 Lamping 1998, S. 154.

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sprochen zu werden, und andererseits weigere ich mich, das Jüdische im Schreiben zu verleugnen.“198 Esther Dischereit wiederum reflektiert dieses Problem wie folgt: In gewisser Hinsicht ist mein Schreiben in Deutschland ohnehin Prostitution, nicht nur lebe ich davon, daß ich gattungsinteressant bin. […] Zeitzeugen-Berichte, Autobiographien der Ermordeten haben Konjunktur; begierig nach Grauen. Aber nicht nach irgendeinem Grauen, das die Welt zu bieten hätte, sondern dieses Grauen, das zu ihnen gehört. […] Mit meinem Schreiben bediene ich dieses Bedürfnis gewissermaßen.199

Der aus dieser Skrupelhaftigkeit der Forschung resultierende „Definierungs­ wille“200 ist also zu­nächst einmal weniger ein Problem der Literatur selbst. Weswegen in diesem Kontext, der ja keine Binnensicht, das heißt die ausschließliche Betrachtung jüdischer Schriftsteller zum Thema gewählt hat, schlicht die tradierte Bezeichnung deutsche Literatur präferiert wird, wie sie noch Bayerdörfer, Schöne, Schütz und Reich-Ranicki als Gegenstandsbeschreibung verwendeten. Die hier gewählte Themenstellung „Jüdischkeit in der deutschen Literatur vor und nach 1989“ dient somit als Kürzel für einen komplexen Sachverhalt, der auf die spezifischen Fragen verweist, die gerade der ‚deutsche Kontext‘ in Bezug auf literarische Entwürfe von Jüdischsein mit sich bringt. Der Umstand, dass sich die deutsche Literatur in den neunziger Jahren nicht auf die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland beschränkt und nichts mit dem Geburtsort und dem Pass von Autoren zu tun hat, spricht außerdem dafür, nicht auf den allgemeineren Begriff der deutschsprachigen Literatur auszuweichen; zumal sich, so Hartmut Steinecke, der politisch korrekte Begriff der deutschsprachigen Literatur, der vor allen Dingen den Österreichern und Schweizern das Gefühl der politischen Vereinnahmung nehmen sollte, nicht als ideal erwies: Wer die „deutsche Literatur“ kennt, weiß, in welchem Umfang sie früher in lateinischer und französischer Sprache geschrieben war und vor allem: wie viele Sprachen im 20. Jahrhundert im Exil hinzukamen; und je­der, der sich mit Literatur der neunziger Jahre befasst, weiß, in welchem Maße Einwanderer, Flüchtlinge, Exilanten, vor allem Migranten in Deutschland (und in Österreich) in den Sprachen ihrer früheren Heimat schreiben. Schlösse man sie aus der „deutschen“ Literatur aus, wäre diese wesentlich ärmer. Auch die neu­erdings gebrauchte Alternative „Literatur in Deutschland“ löst das Dilemma nicht, 198 Rabinovici, Ein Gepeinigtsein von Peinlichkeiten. Jüdischsein in Österreich – ein Dreiergespräch, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 158, 11./12. Juli 1998, S. 51. 199 Dischereit 1998, S. 47. 200 Siehe Jasper 2004, S. 23: „Die deutsch-jüdische Literatur als ‚jüdische Literatur in deutscher Sprache‘ zu beschreiben, ist zweifellos ein hermeneutisches Problem. Zuweilen nehmen die angestrengten Bemühungen des interkulturellen Verstehens die Form einer verbissen‚fröhlichen‘ Definitionswissenschaft an.“

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denn wer wollte Barbara Honigmann oder Anne Duden ausschließen, nur weil ihr Schreibtisch nicht in der Bundesrepublik steht?201

Diese Arbeit sieht sich daher nicht in Opposition, sondern schlicht in Ergänzung zu den bereits vorliegenden Ansätzen der Forschung.

3.2. Autorenstimmen: Der ‚Andere‘ und die Erfindung der Tradition. Jüdischkeit In einem ersten Kommentar [zum Hörstück „Rote Schuhe“] nimmt ein Lektor Stellung. Er findet das Stück gelungen und gratuliert. Aber er gibt zu bedenken, ob nicht die Passagen, die das spezifisch Jüdische aus­machen, besser zu streichen sind. Das Jüdische gehe unter, werde im Fortgang der Handlung ja nicht weiter beachtet, dadurch vielleicht minimiert. Der Leser erwarte für das Folgende hingegen eine Konzentration auf das Jüdische. Ein deutscher, ein mehrheitsdeutscher Einwand. Das Jüdische soll sein, ja, aber als pures Stück, und zwar Gegenwartsgeschichte, ein Stück Zeitkritik, wie man so sagt, ein gesellschaftspolitischer Diskurs gegen den Nationalsozialismus als Teil der großen geistigen Auseinandersetzung unserer Tage. […] Also: Jüdischkeit in der Bundesrepublik – bitte pur. Gesellschaftspolitisches Diskursthema, nicht weniger. Alle anderen Zustände des Jüdischseins minimieren die Jüdischkeit.202

Jüdischkeit als rein gesellschaftspolitisches Diskursthema, bitte – was Esther Dischereit hier im Jahre 1998 aus ihrem Arbeitsalltag als Schriftstellerin referiert, ist zunächst einmal die Erwar­tungshaltung eines professionellen Lesers. Seine – aus Dischereits Sicht – repräsentative Vorstellung davon, wie ein literarischer Diskurs über Jüdischkeit für eine mehr­heitlich nichtjüdi­sche Le­serschaft in der Bundesrepublik heute auszusehen bzw. nicht auszusehen hat. Und wieder fühlt man sich an Goethes Kommentar zu der literarischen Arbeit Falkensohn Behrs erinnert. Die Sprechweise des ‚Anderen‘ möge zur Erhellung der Einsichten der Mehrheit beitra­gen, daraus bezieht sie sozusagen ihren Wert oder umgekehrt: Die Elemente des ‚Anderen‘ müs­sen, wenn sie nicht im Zentrum des jeweiligen Werkes stehen sollen, am besten ganz fehlen, denn als selbstverständliche Beigabe sind sie sozusagen nicht rezipierbar. Dieses Beispiel zeigt aber noch etwas anderes: Auf Ebene des Kulturbetriebes wird, wie Stephan Braese schon bemerkte, ‚das Jüdische‘ wieder thematisiert. Wenn auch, so scheint es hier zumin­dest, weniger um seiner selbst wil­len. Das Jüdische wird funktionalisiert, das heißt: eingebunden in einen gesellschafts­ politischen Diskurs, so etwa gegen den Nationalsozialismus, gegen Fremden­ 201 Steinecke, in: ZfdPh 2002, S. 10. 202 Dischereit 1998, S. 17f.

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feindlichkeit. Eine aus Sicht der Autoren an Zumutung grenzende Überforderung, die aber nicht nur seitens der nichtjüdischen Umgebung, sondern auch seitens der eigenen Familie auf die junge Generation ausgeübt wird. Dazu Doron Rabinovici in seinem Roman Suche nach M: Dani konnte den vielfältigen Erwartungen nicht nachkommen: Er sollte ein Bursche sein wie alle anderen in seiner Klasse, doch durfte er sein Herkommen nicht vergessen, sollte den anderen seine Gleichwertigkeit und die der Juden schlechthin beweisen, sollte mithalten in der deutschen Sprache, ja besser noch als die übrigen sein, und gleichzeitig Hebräisch studieren, sollte die Dichter und Denker herbeten können, doch nie an sie glauben, sollte das Fremde sich aneignen, ohne sich dem Eigenen zu entfremden.203

Maxim Biller wiederum leitet aus der „Unmöglichkeit, als Jude in Deutschland zu leben und zu schreiben“, die poetische Herausforderung ab, „genau deswegen als Jude in Deutschland zu leben und zu schreiben“. Seine Forderung lautet daher: „Ich möchte von Jüdischem sprechen können, so direkt und aufdringlich wie möglich.“204 Die Autorin Barbara Honigmann argumen­tiert hingegen so: „Ich denke aber, der Schriftsteller ist das, was er schreibt, und er ist vor allem die Sprache, die er schreibt. […] Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache, kehre ich immer wieder zurück.“205 Das besondere intrikate Verhältnis zur deutschen Sprache, das aus dem Jüdischsein erwächst, beschreibt, wie anfangs bereits erwähnt, Robert Schindel: „Ich sprach breites Praterdeutsch und gehörte in der Volksschule dennoch nicht dazu. Das Praterdeutsch wurde umso breiter, je weniger ich dazuge­hörte, daneben wuchs, verborgen und kräftig aus vermutlich diesem kühlen Grund, mein hoch­deutsch.“206 Gebündelt findet sich das problematische ‚Erbe‘ der in den Jahrzehnten nach der Shoah geborenen, europäischen Juden in besagtem Ausspruch Maxim Billers: „Doch unsere Jüdischkeit hatte keine eigene Sub­stanz, unsere Jüdischkeit war bloß eine bestimmte Art zu lachen, zu den­ken, zu widersprechen, sie war Geschichten-Erzählen und Tee-durch-ein-Stück-Würfelzucker-Schlürfen.“ Was diese sehr unterschiedlichen Autorinnen und Autoren in ihren Selbstauskünften und literarischen Positionierungen eint, ist also der Versuch, sich in spannungsreicher Auseinandersetzung mit ihrer deutschen oder österreichischen Identität eine Jüdischkeit zusammenzusu­chen, für die es keine oder nur wenig 203 Rabinovici 1997, S. 36. 204 Biller 2001, S. 93. 205 Honigmann 1992, S. 266. 206 Schindel 1995, S. 112.

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Kindheitserinnerungen, dafür aber jede Menge belastete und belastende Erwartungshaltungen und Vorstellungen von Außen gibt. Das sind Annäherungen an ein Jüdischsein, dem die Kontinuität, die Normalität von Herkunft, Familien, Traditionen durch die Shoah abhanden gekommen ist. Welche Formen der Poetizität erzeugt nun eine solch existentielle Grundkonstellation? Welche Sprache lässt sich für diese literarischen Suchbewegungen, für jene „Übungen, jüdisch zu sein“ (Dischereit) finden? Die aktuelle literaturwissenschaftliche Forschung hat darauf, wie erörtert, schon einige Antwor­ten gefunden, die sich zusammenfassend formulieren ließen als „Schreiben der Voraussetzungs­losigkeit“, „Schreiben im Zeichen der doppelten Zäsur“, „Ästhetiken der Exterritorialität“ oder als Erzählen in „Bildern ohne Vorbilder“ skizzieren ließ. Eine alternative Antwort ließe sich hier als poetischer Weg aufzeigen, und zwar über einen kleinen Umweg: Denn für eine andere historische Nahtstelle, welche ebenfalls eine Neudefinierung jüdischer Identität im deutschsprachigen Raum nötig werden ließ, für das besagte achtzehnte Jahrhundert nämlich, hat die Historikerin Shulamit Volkov die schöne Formel Die Erfindung der Tradition gefunden.207 Volkov liest in ihrem Essay über die Entstehung des modernen Judentums in Deutschland – ausgehend von den Bestrebungen von vermittelnden Denkern wie Moritz Lazarus, Hermann Cohen, Leo Baeck und Martin Buber, das Judentum für moderne Menschen akzeptabler zu ma­chen – die üblichen Definitionsversuche des Jude-Seins zwischen Volk und Religion, Zionismus und Orthodoxie einmal bewusst gegen den Strich und kommt, in methodischer Anlehnung an Clifford Geertz, zu dem Ergebnis, dass sich auch das Judentum als ein kulturelles System interpre­tieren lasse, da jedes kulturelle System dazu diene, „wirksam, durchdringende und anhaltende Stimmungen und Motivationen zu begründen“.208 Besonders interessant an Volkovs Perspektive ist, dass hier tatsächlich einmal eine Synthese möglich zu sein scheint zwischen den unvereinbaren zionistischen, orthodoxen und re­formatorisch-liberalen Ansätzen sowie den erstmals im neunzehnten Jahrhundert auftauchenden, rein ethischen und historischen Interpretationen des Judentums, die bis dato völlig neu waren: Am Ende des 19. Jahrhunderts, so kann man jetzt argumentieren, waren die meisten Juden in Deutschland sicher nicht mehr Teil der alten jüdischen Welt; aber sie waren auch nicht so völlig mit ihrer neuen Umge­bung verschmolzen wie sie oft glauben wollten. Die meisten von ihnen lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts lang207 Shulamit Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs, hrsg. von der Stiftung Historisches Kolleg. Vorträge 29), München 1992, S. 5–30. 208 Clifford Geertz, Religion as a Cultural System, in: Ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973, S. 87–125, hier S. 90.

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sam entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem: Sie hatten eine komplexe Struktur von öffentlichen und privaten Vereinen geschaffen und ein Netzwerk von Erziehungseinrichtungen. Sie unterhielten eine lebhafte Öffentlichkeit, vertraten eine Viel­zahl widerstreitender Positionen und versuchten, eine gemeinsame jüdische Tradition zu konstruieren.209

Konkret bedeutet das: Die Erfindung der Tradition war das einzige, jedoch äußerst wichtige „jüdische Projekt der Moderne“. Es bedeutete die Schaffung einer kohärenten jüdischen Geschichte, die Formulierung moderner jüdischer Ethik und das Wiederaufleben jüdischer Literatur. Dieses dreifache Bestreben offenbarte sich in der „gro­ßen“ wie in der „kleinen“ Tradition. Am wichtigsten, und völlig vergessen ist die „kleine Tradition“. Sie entwickelte sich parallel mit der allgemeinen deutschen Kultur, erschien in einer Vielfalt von Publikationen in Zeitschriften, Jahrbüchern, Kalendern usw. Trotz der großen Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen jüdischen Gruppen in Deutschland – Orthodoxen und Reformjuden, Liberalen und Zionisten – nahmen sie alle teil daran, die neue Tradition zu gestalten, und alle erzeugten – auf dem komplexen Weg der Auswahl und Interpretation – sehr ähnliche Visionen dieser Tradition.210

Volkov zufolge war es dabei gerade nicht das Hebräische, sondern „das vollständige Verlassen auf die deutsche Sprache“, welches in jener Wechselwirkung zwischen der modernen jüdischen und der deutschen Kultur die Erfindung einer Tradition erst bewirkte: „Sie [die Juden] konnten so besser von den allgemeinen kulturellen Gütern Gebrauch machen und ihre Standpunkte besser den nichtjüdischen Lesern, Freunden und Feinden gleichermaßen vermitteln.“ Tragischerweise, denn, so die Autorin weiter: Innerhalb der allgemeinen deutschen Kultur litt dieses Projekt ständig unter einer fundamentalen Ungleich­zeitigkeit. Es vertrat die Ideale der Aufklärung, als diese überall in Deutschland heftig angegriffen wurden. Es verehrte Lessing und Schiller, als die deutschen Literaten sich bemühten, das expressionistische Theater zu verstehen. Und es spielte noch mit einer Art Nationalismus aus dem frühen 19. Jahrhundert, als sich die­ser bereits in einer bedrohlichen Version zeigte.211

Zusammenfassend lässt sich mit den Worten Volkovs sagen:

209 Volkov 1992, S. 12. 210 Ebd., S. 30. 211 Ebd., S. 26f. Hier übersieht Volkov meines Erachtens allerdings den Umstand, dass gerade der Expressionismus als Bewegung zu großen Teilen aus jüdischen Künstlern bestand.

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Seit Ende des 18. Jahrhunderts [hat] innerhalb dieser Kultur ein kollektives Bemühen um eine kulturelle Verjüngung stattgefunden, dessen Ergebnis man unter dem Titel „die Erfindung einer Tradition“ subsumie­ren kann. […] Ihr Versagen wie ihre Leistungen […] gehörten zum deutschen Judentum als Ganzes.212

„Aber unsere Jüdischkeit hatte keine Substanz“ – Heute, sechzig Jahre nach und mit der Shoah sehen sich die deutschen Juden wiederum mit der Bedürftigkeit konfrontiert, sich eine gemein­same jüdische Tradition zu konstruieren. Dazu Alain Finkielkraut: „Mein emsiges Gedächtnis speichert, soviel es kann: Bruchstücke einer Zivilisation, die im Exil überlebt haben, Redewen­dungen und die sie begleitenden Gebärden, eine Existenzphilosophie und Bezugssysteme des Denkens.“213 Dabei stellt sich für das deutsche Judentum als kulturellem System allerdings nicht mehr das Problem der ‚Verjüngung‘. Sondern, dies haben die oben zitierten Auskünfte der zeit­genössischen jüdischen Autoren gezeigt, es stellt sich geradezu konträr die Herausforderung der Rückbindung, der Spurensuche und damit der Neu-Erfindung einer Tradition. Dies heißt zunächst, Umgang mit Fiktionen haben. Das ist im Kontext der literarischen Selbstvergewisserungen durchaus im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen. Als ein herausfordernder Umgang mit dem Fiktiven im Bereich des Fiktiven, für den, wie gesagt, die Jüdischkeit in den Aussagen der Autoren das Signalwort bildet. Jüdischkeit. Verfolgt man die diesbezüglichen Diskussionen in der Forschung und in den Medien, dann scheint – ganz an­ders als hinsichtlich der Frage: Wer ist Jude? – eine allgemeine Verständigung dar­über zu herrschen, was unter Jüdischkeit zu verstehen sei, nämlich: Die Bezeichnung für eine ge­lebte, mit Inhalten gefüllte jüdische Identität. Schaut man aber genauer hin, so stellt man fest: Jüdischkeit ist eine lexikalische Leerstelle. Oder Jüdischkeit fungiert, mit Hannah Arendt gespro­chen, die als eine der ersten schon früh das Wort Jüdischkeit gebrauchte, als eine Art ‚Platzhalter‘, der den Übergang von einer kollektiven zu einer individuellen Identitätsbestimmung markiert und somit an die Stelle des „Judentums“ tritt, aus diesem eine rein „psychologische Qualität“ macht: Dieses Bemühen, Juden zu bleiben und sich doch vom ‚Juden überhaupt‘ zu unterscheiden, hat dem assi­milierten Juden seinen Stempel aufgedrückt und das hervorgebracht, was man einen jüdischen Typus nen­nen könnte, eine Menschenart mit bestimmten, festgelegten Problemen und gesellschaftlichem Benehmen. Juden hörten für ihre Umwelt wie für ihr eigenes Bewußtsein auf, Menschen einer bestimmten Herkunft, einer bestimmten Religion zu sein, und wurden stattdessen Menschen mit bestimmten Eigenschaften, die man 212 Ebd., S. 9. 213 Finkielkraut 1981, S. 195.

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jüdisch nannte. Judentum wurde zur Jüdischkeit, einer psychologischen Qualität, die Judenfrage zu ei­nem individuellen Problem.214

Was bei Arendt als Kritik an der Assimilation formuliert ist, die Aufweichung der jüdischen Identität durch die Verwässerung der Tradition zur Befindlichkeit, sendet heute ein anderes Signal: Im Sinne einer Neu-Erfindung der Tradition als kulturellem, hier: als literarischem System, das sich heute weniger auf die deutsche Sprache „verlässt“ (Volkov), als das es sich vielmehr auf diese „einlässt“, bezeichnet Jüdischkeit eine „Qualität“ des Jüdischseins, welche sowohl die Suche nach einer inhaltlichen „Substanz“ (Biller) signalisiert als auch auf psychologischer Ebene ein „individuelles Problem“ (Arendt) der Autoren darstellt und daher einen modernen Bewusst­seinszustand beschreibt. Jüdischkeit als ‚Platzhalter’: Im Gegensatz zu den – inhaltlich – umstrittenen Begriffen: Jude, Judentum, Jüdisch und auch im Kontrast zu dem Vorhandensein einer schier uferlosen Anzahl von Komposita ( Judenhut, Ju­denverfolgung, Judenchristen etc.) sowie verwandter Derivative wie etwa Judenheit, findet sich ‚Jüdischkeit‘ also derzeit noch in keinem Duden, in keinem etymolo­gischen (Fremd-) Wörterbuch der deutschen Sprache verzeichnet. Mit anderen Worten: Jüdischkeit ist nicht existent. Im „Finde­wörterbuch“ des Internets, dem „Fundort für Wörter, die nicht im Duden stehen“, findet sich dann, wie gesagt, Jüdischkeit als dementsprechender Begriff ein­getragen.215 War im Grimmschen Wörterbuch von 1877 noch die Rede von Jüdisch‚heit‘ als einem Begriff für erstens: jüdische Art, jüdischen Glauben und jüdisches Volk und zweitens: die Judenschaft, so ist dieses der Jüdischkeit doch sehr nahe Derivativ inzwischen gänzlich aus dem Sprachgebrauch ver­schwunden.216 Das „Ox­ford dictionary“ hingegen verzeichnet für den englisch­sprachigen Raum unter Jewishness einen Eintrag, der dieses Wort als Derivativ von jewish aus­weist. Diese Beobachtung korrespondiert mit dem Umstand, dass die akademische Diskussion über deutsch-jüdische Identität nach der Shoah und ihre litera­rischen Manifestationen im eng­lisch­sprachigen Raum begann. Möglicherweise aufgrund der in Deutschland ideologisierten und stigmatisierten Rede über ‚das Jüdische’217 und insbesondere aufgrund des Missbrauchs des Attribu­tes ‚jüdisch‘ als Synonym für ‚undeutsche Literatur‘ seitens der völkischen Germanistik, wurde die aktuelle Debatte über jüdische Identität und jüdische 214 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, zitiert nach der Ausgabe München 2003, S. 165. 215 Siehe: www.findewort.de. 216 Siehe Grimms Wörterbuch, Sp 2359. 217 Siehe noch einmal Grimms Wörterbuch unter ‚jüdisch’: Zum einen, „dem Volke oder dem Lande der Juden zugehörig“ und zweitens: „nach Art der Juden, im verächtlichen Nebensinne.“ Sp 2359. Dieser Eintrag zeigt, dass eine negative Praxis der Rede über Juden durchaus üblich war.

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Literatur von der deutschen Germanistik mit einer Verzögerung, das heißt erst Mitte der neunziger Jahre, langsam wieder aufgegriffen. Paral­lel dazu wurde das Wort Jüdischkeit – als einer wörtlichen Übersetzung von Jewishness – dann in den deutschen Diskurs übernommen, als die jüdischen Schriftsteller selbst mehr und mehr dieses Wort in ihren Texten gebrauchten. Was die Praxis der Übertragung anbelangt, so ist es zudem augenfällig, dass Autorinnen und Autoren, die wie Esther Dischereit und Maxim Biller als erste das Wort Jüdischkeit expli­zit verwen­den, zugleich Autorinnen und Autoren sind, deren poetische Positionen von einer intensiven Auseinanderset­zung mit der amerikanischen Literaturwissenschaft (Dischereit) und der amerika­nisch-jüdi­ schen Literatur (Biller) geprägt sind.218 In den letzten Jahren taucht dann auch im öffentlichen Diskurs vermehrt das Wort Jüdischkeit auf, sei es anlässlich der jüdischen Kulturtage Rheinland, sei es in einem Zeitungsbericht über das aktuelle Leben in den jüdischen Gemeinden. In diesem Sinne ist Jüdischkeit auch als ein aktueller Terminus, als ein Zeit-Wort zu begreifen, das sich in kürzester Zeit mit einer Selbstverständlich­keit in der öffentlichen Rede etabliert hat, so als sei, wenn schon nicht das Bezeichnete, die ge­lebte, mit Inhalten gefüllte, jüdische Identität, so doch wenigstens das Bezeichnende, die Jüdisch­keit als Wort, in Deutsch­land immer schon vorhanden gewesen. Das Spannungsver­hältnis zwischen der Festschreibung der deutsch-jüdischen Identität als ‚Anderem‘ einerseits und der Suche nach Substanz innerhalb dieser Kategorie des Andersseins, also nach Jüdischkeit andererseits, verweist darauf, dass Jüdischsein in Deutschland heute neu definiert und gefunden, und das bedeutet für die Literatur: neu geschrie­ben und erschrieben werden muss. Auf Ebene der literarischen Schreibbewegung wächst Jüdischkeit damit die Eigenschaft eines Neologismus zu, der als ein positiver, appellativer Code der Selbstvergewisserung zugleich die Lücke, das Defizit erinnert und mit benennt. Esther Dischereit äußert sich dahingehend so: „In meinem Schreiben verstehe ich mich als Suchende gegen das Nichtwort, indem ich Gegenwart setze. Ich bin mir der Demonstration der Jüdischkeit dabei bewußt, befangen in der Umarmung des Nega­tiven.“219 Das Problem, auf ein Ich zurückgeworfen zu sein, wo eigentlich ein Wir gemeint und gesucht ist, das Verlangen, Jüdischsein in Jüdischkeit und pure Identifikation in Lebensweise zu verwandeln – dies sind also zusammengefasst die zentralen Herausforderungen, mit denen sich die zeitgenös­sischen deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren in ihrem Schreiben konfrontiert sehen. Während sich von ‚deutscher Seite‘ aus jenes Erbe (des Mangels an Jüdischkeit) mehr und mehr 218 Siehe: Dischereit 1998 sowie Billers leidenschaftlich-kriti­schen Essay über amerikanisch-jüdische Autoren: „Goodby Columbus“, in: Biller 2001, S. 89–93. 219 Dischereit, Vom Verschwinden der Worte, in: Dischereit 1998, S. 49.

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als das eines Mangels am anderen Eigenen erweist. Es sei hier noch einmal an Gollwitzers Aussage erinnert: Aber wenn Scholems Desillusionierung auch für die Mehrheit der Deutschen und für ihre repräsentativen Verbände, für Parteien, Kirchen und Hochschulen zutrifft, so hat doch die Minderheit derer das Recht, sich zu Worte zu melden, […] die es nach 1945 für das Schlimmste halten, daß die Masse der Deutschen, wieder zu Staat und Wohlstand gekommen, ‚gar nichts zu vermissen‘ scheint, die also die vielerlei Verbocktheit und Engigkeit des seitherigen deutschen Lebens darauf zurückführen, daß uns die Juden fehlen, und die – tiefer noch – die Juden neben sich vermissen, weil diese ihnen die prototypischen ‚Anderen‘ waren, ohne die sie sich selbst nicht erkennen können.220

Das Wort Jüdischkeit, die Diskrepanz zwischen seiner lexikalischen Leerstelle einerseits und dem Überspielen dieser Leerstelle durch die gewissermaßen wortlose Etablierung dieses Begriffs in den öffentlichen Diskursen andererseits sowie das Spannungsverhältnis zwischen seinem Status als einem (aus dem amerikanischen) transferierten und zugleich identitätsstiftenden Wort, erzählt auf seine Weise selbst eine deutsch-jüdische Geschichte: Eine Geschichte des Verfehlens, Su­chens und des Wunsches, anzukommen. Jüdischkeit ist in diesem Sinne tatsächlich ein deutsch-jüdisches Wort.

3.3. Über Jüdischsein reden. Die Texte Über jüdische Identität zu schreiben heißt einen Widerspruch zu beschreiben, eine Spannung auszuloten. Vielleicht fordert die Frage nach „jüdischer Identität“ gerade darum so viele Deutungsversuche heraus. Jü­dische Identität darüber hinaus „zu erklären“, einer Definition zu unterwerfen – dies ist, spätestens seit der Shoah, ein vollends doppelbödiges Unterfangen. […] Daß dies insbesondere für Deutschland und die Deut­schen gilt, für nicht-jüdische Deutsche und in Deutschland lebende Juden, vielleicht erst recht für jene, die sich, fünfzig Jahre nach Auschwitz wieder als „deutsche Juden“ oder „jüdische Deutsche“ erleben und be­haupten wollen, ist evident.221

So der Literaturwissenschaftler Hanno Loewy zu dem Umstand, dass sich die wechselseitigen Vergewisserungsversuche, das deutsch-jüdische Gespräch über jüdische Identität heute in einem besonders sensiblen Spannungsraum von Deutungsversuchen bewegt. Ein Spannungsraum, den man im Hinblick auf die literarischen Diskurse aber durchaus als konstruktiv bezeichnen kann. 220 Gollwitzer, zitiert nach Schütz 1992, S. 16. 221 Hanno Loewy, Im Dreieck springen, in: Universitas. Zeitschrift für Interdisziplinäre Wissenschaft, Nr. 616 (1997), Schwerpunkt: Jüdische Identität, S. 919–923, hier S. 919.

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Die hier exemplarisch ausgewählten Werke von Robert Schindel, W.G. Sebald, Katharina Hacker, Barbara Honigmann und Maxim Biller loten jeweils auf ganz unterschiedliche Weise die Spannung aus, die die Auseinandersetzung mit jüdischer Identität ihrem Schreiben abverlangt. Während Robert Schindels vielstimmiger Roman Gebürtig um die literarische Produk­tion von Heimat kreist, nimmt W.G. Sebalds Die Ausgewanderten die genau gegenteilige Schreib­bewegung vor, nämlich die Dokumentation von Heimatlosigkeit in der Heimat. Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe und Barbara Honigmanns Briefroman Alles, alles Liebe! führen in den Schritten, Verwicklungen ihrer deutschen und jüdischen Figuren Fragmente einer Sprache der Liebe vor, während Dagmar Leupolds Nach den Kriegen und Maxim Billers Die Tochter von Verhaltenslehren der Kälte in der Periode der ‚Stillen Tage‘ zeugen. Es wird zu zeigen sein, auf welch unterschiedliche Art und Weise Jüdischkeit in den Werken literarisch erzeugt wird, und wie die jeweiligen Interpretationen bzw. Umschriften eines deutsch-jüdischen Gespräches und des jüdischen Gegenübers als ‚Anderem‘ aussehen. Im Hintergrund der jeweiligen Lektüren steht dabei, in Bezug auf die Forschung, folgende Frage: Handelt es sich bei den hier vorgestellten Werken um Ästhetiken der Brüche oder um Neuerfindungen der Tradition? Wie lässt sich das literarische Figurenpersonal charakterisieren? Als Verständigungsfiguren, Assimilationsfiguren, Diaspora-Figuren? Und worüber wird eigentlich Authentizität hergestellt? Wie verschafft sich das ‚Eigene‘ Gehör? Denn gerade jüdisches Schreiben, so Schindel, ist auch heute noch kein autonomes Geschäft, sondern Gedächtnis: Das jüdische Schreiben, das ist, als schriebe ich autonom und dem Künstlerischen verpflichtet, tat­sächlich schreibt sich ein Gedächtnis, und dieses scheint mir bloß aus der Hand zu fallen aufs Pa­pier. Die Wörter […], die mir aus der Hand fallen, jenseits des Paravents aus gestürztem Himmel, diese Wörter, das sind Namen, Namen von Ängsten und Angst.222

Tatsächlich schreibt sich in der deutschen Literatur im Hinblick auf jene jüdischen Namen, „Namen von Ängsten und Angst“, nach und nach ein Gedächtnis – die entsprechende Schreibbewegung lautet: Von der Jüdischkeit als Leerstelle zur Jüdischkeit als Text.

222 Schindel 1995, S. 106.

II. Das Erbe. Jüdischkeit als Leerstelle

„Wir sehen, an allen Unterschieden vorbei, in eine seltsame Verwandtschaft. Manchmal, wenn Gegensatz und Liebe zwischen ihnen hervortritt, erscheint der Jude wie ein Doppelgänger des Deutschen.“ So lautete Alfred Wolfensteins emphatisches Plädoyer für eine deutsch-jüdische Literatur zur Zeit der Weimarer Republik. An allen Unterschieden vorbeizusehen – diese Haltung war nach Auschwitz geradezu unmöglich geworden. Die Vernichtung des europäischen Judentums, die jener Phase ihres ‚Doppelgänger-Daseins‘ gefolgt war, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Stilllegung der tradierten Redeweisen über Juden zur Folge. Das Paradigma ihres Andersseins – in den literarischen und öffentlichen Diskursen durch die Extrapoliertheit der Juden in Wort und Bild gestützt –, dieses Paradigma hatte sich durch die geschichtliche Tat in traumatischer Weise schlechthin realisiert. Jüdischkeit hingegen war nach dem Genozid für die wenigen Überlebenden und die Nachkommen dieser Überlebenden zu einer schmerzlichen Leerstelle geworden. Das literarische wie außerliterarische Sprechen über Juden und Jüdischsein nach 1945 sah sich im deutschsprachigen Raum also mit der Dringlichkeit konfrontiert, sich einerseits erinnernd Rechenschaft bzw. Zeugenschaft über die eigene Zugehörigkeit zum Kreis der Täter bzw. der Opfer abzulegen, und sich andererseits Fragen nach der weiterwirkenden Macht der Ideologien über Juden und der sie tragenden Bilder zu stellen.

II. 1. „1945“ – Die mythische Stunde Null. Deutsche Diskurse Am Anfang war nichts. So sieht es aus, wenn man den Schlagworten glauben will, die benutzt werden zur Beschreibung der Situation in Deutschland nach 1945 und die fast wie Sprichwörter sich verfestigt haben. ‚Stunde Null‘, ‚Kahlschlag‘, ‚Trümmerliteratur‘ – jeder verwendete sie, und doch sind es Mythen. Denn es sind Wörter, die nicht allein die realen Zustände damals treffen wollen, sondern ebenso sehr die Wünsche der Menschen jener Zeit abbilden, ihre Vorstellungen davon, wie ein Neuanfang zu wünschen sei.1

1 Georg Guntermann, Stunde Null, Kahlschlag, Trümmerliteratur? – Einige Mythen der Gruppe 47, in: So viel Anfang war nie? 50 Jahre Nachkriegszeit. Öffentliche Ringvorlesung Wintersemester 1994/95, hrsg. von Kurt Düwell und Herbert Uerlings, Trierer Beiträge, Heft 25, Juni 1996, S.  21–32 sowie ders., Einige Stereotype zur Gruppe 47, in: Stephan Braese (Hrsg.), Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin 1999, S. 16.

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So Georg Guntermann zur Fiktionalisierung der Wirklichkeit im Hinblick auf jene ‚Stunde Null‘. Zu deren Wirksamkeit als Zäsur, die mit dem Jahr 1945 allgemein verbunden wird, gibt es inzwischen einen guten Forschungsstand.2 Dieser Mythos vom Neuanfang3 war zugleich die Geburtsstunde des Mythos von der neuen Sprache: So wollten die tonangebenden Autoren der Nachkriegsgeneration aus den Resten der Sprache eine neue Literatur aufbauen, die nicht korrumpiert war vom Gebrauch der Nationalsozialisten. Und zwar in einer Umgebung, in der, wie Heinrich Böll es so prägnant in seinen Bekenntnissen zur Trümmerliteratur beschrieben hat, nichts mehr heil sei, auch nicht die Sprache, und die deshalb „ganz von vorn anfangen“ müsste: nüchtern, kurz und schlicht im Stil gegen jegliche Form des unter den Nationalsozialisten üblich gewordenen Pathos.4 Dieser poetologische Standpunkt korrespondiert mit Alfred Anderschs Vorstellung einer „Stunde Null als Tabula rasa“, die er in seiner Programmschrift Deutsche Literatur in der Entscheidung auf der zweiten Tagung der Gruppe 47 am 9.11.1947 in Herrlingen vortrug. Bestes Beispiel in diesem Zusammenhang ist Günter Eichs Gedicht Inventur. Eich stand als erster Preisträger der Gruppe 47 für jenen neuen, nüchternen Ton der Be­ standsaufnahme. Inventur ist die Bilanz eines Heimkehrers, die Eich in kurzen, reimlosen Verszeilen vorführt. Das Gedicht beginnt so: Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. 5 2 Siehe für den vorliegenden Kontext die Aufsätze von Guntermann und Braese sowie die nachfolgenden Literaturverweise in diesem Teilkapitel. 3 Heute vertreten immer mehr Zeithistoriker die Ansicht, dass der Aufbau des Landes ‚aus dem Nichts‘ ebenfalls ein Mythos sei, da die meisten Fabriken noch standen und die Infrastrukturen im Grunde noch intakt waren. Um den Aufbau überhaupt leisten zu können, mussten sogar alte administrative Strukturen übernommen werden. Eine ‚Entnazifizierung‘ konnte daher gar nicht gelingen und wurde zu Gunsten des Wiederaufbaus auch nur halbherzig an den entsprechenden Stellen durchgeführt. Siehe auch das Themenheft: Kaputt. Geschichten vom Weiterleben, in: Literaturen, Heft 5 (2005). Wenngleich damit nichts über die persönliche Erfahrung derjenigen ausgesagt ist, die alles verloren hatten und ihr Haus in Trümmern vorfanden. 4 Heinrich Böll, Bekenntnisse zur Trümmerliteratur (1952), in: Ders., Werke. Essayistische Schriften und Reden 1. 1952–1963, hrsg. von Bernd Balzer, Köln 1978, S. 31–35. 5 Günter Eich, Inventur, zuerst in: Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener, hrsg. von Hans Werner Richter, München 1947, S. 17.

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Das im wahrsten Sinne des Wortes rücksichtslos Programmatische dieser Literatur bringt der Terminus Kahlschlag, eine Wortschöpfung von Wolfgang Weyrauch,6 am besten auf den Punkt. So voraussetzungslos wie möglich sollte die neue Sprache sein. Da an Bisheriges nicht angeknüpft werden konnte, begründete diese Haltung nicht nur die – produktive – Suche nach einer neuen Poetik, sondern hatte auch die destruktive Suspendierung der unmittelbaren Vorgeschichte zur Folge. Insbesondere die Geschichte der Emigranten und Exilanten, deren Erfahrungen eine ganz andere Wirklichkeit als die der Voraussetzungslosigkeit einforderten. In diesem sehr ambivalenten Sinne ist die Proklamation einer Stunde Null also als mythenbildende Zäsur zu verstehen. Entsprechend den Bedürfnissen der nachkriegsdeutschen Gesellschaft lässt sie sich zudem als der Beginn einer ‚deutschen‘ Zeitrechnung bezeichnen, die sich in simultaner Gegenläufigkeit zu eben jener geschichtlichen Stunde konstituiert, in der das Land seine politische Souveränität verliert, die ‚deutsche Zeit‘ in der Weltgeschichte also zu ihrem Ende kommt. Ein aporetischer Zustand. ‚Deutsche Diskurse‘ werden im Folgenden zudem als ein Kürzel verstanden für jene literarischen Redeweisen über Juden, deren Autoren von ihrem Selbstverständnis her sowohl aus einer nichtjüdischen als auch aus einer spezifisch deutschen Erfahrungsperspektive schreiben, deren Aussagen also auf einem Fremdverständnis von jüdischer Identität basieren. Im Hintergrund steht dabei die Frage, inwieweit eine solche Tren­nung der Diskurse eigentlich trägt.

1. 1. Die Nicht-Nichtjuden Nicht nur seitens der Forschung war jede Diskussion um die ‚jüdischen Diskurse‘ in der deutschen Literatur für die kommenden Jahrzehnte stillgelegt worden. Auch in den Medien, ins­besondere in den Feuilletons, war die Charakterisierung eines Autors als ‚Jude‘ bzw. attributiv als ‚jüdisch‘ noch Jahre nach den AuschwitzProzessen und dem Eichmann-Prozess, also bis weit in die sechziger Jahre hinein, nahezu tabu. Die Gründe für diese Verhaltenheit liegen auf der Hand: Die Beschäftigung mit dem Judentum im Allgemeinen und mit jüdischer Identität im Be­sonderen war in Deutschland und Österreich zur Geschichte ihres ideologischen Missbrauchs geworden. Die Wissenschaft des Judentums war bis 1933 an deutschen Universitäten als Gegenstand der Forschung und Lehre ausgeschlossen geblieben, eine akademische Tradition der Beschäfti­gung mit jüdischen Fragen und Themen hatte sich im deutschsprachigen Raum daher nicht aus­bilden können. Als pejorativer Gegenbegriff zu ‚deutsch‘ galt ‚jüdisch‘ als Synonym für ,un6 Wolfgang Weyrauch: Nachwort, in: Ders. (Hrsg.), Tausend Gramm. Ein deutsches Bekenntnis in dreißig Geschichten aus dem Jahr 1949, überarb. und erweiterte Neuausgabe, Reinbeck 1989.

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deutsch‘ und im nationalsozialistischen Deutschland sowie nach dem Anschluss auch in Österreich als Kampfbegriff, mit dem nicht nur Literatur-, sondern auch Rassen- und Vernich­tungspolitik betrieben wurde. Dies erklärt, warum gerade seitens der liberalen Nachkriegs­autoren und -kritiker jede Identifizierung einer Person oder Frage, eines Themas oder Gegenstandes über das Attribut ‚jüdisch‘ gemieden wurde. Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte schien etwa auch die Bezeichnung ‚jüdischer Schriftsteller‘ eine inakzeptable Katego­risierung zu sein, da man glaubte, damit lediglich den Missbrauch, der mit dieser Iden­ti­ täts­zu­schreibung unter den Nationalsozialisten betrieben worden war, weiter fortzuführen. Dass die Artikulation explizit ‚jüdischer‘ oder ‚deutsch-jüdischer‘ Fragen, Themen und Probleme auch existentieller Ausdruck eines jüdischen Selbst­verständnisses und Spiegel der Bewusstseins­lage einer Minderheit sein könnte, welche ja auf einen Diskursraum der Alterität angewiesen ist, um sich zu entfalten, für diese Form des Einfühlvermögens war es in den ersten Nachkriegs­ jahr­zehnten noch zu früh. Die Schilderung der Kriegsfolgen und deren Auswirkungen auf das per­sönliche Weiterleben konnte aufgrund der mangelnden zeitlichen Distanz noch nicht im ästhetischen Zugriff einer Selbsthinterfragung gesucht werden, wie dies Jahrzehnte später in den Erinnerungsdiskursen der Enkel geschieht. Unter dem unmittelbaren Eindruck einer fundamentalen Bruchund Krisenerfahrung kommt also jenem Mythos von der „neuen, heilen Sprache“, die sich, mit Heinrich Bölls poetologischem Paradox formuliert: „aus den Trümmern bergen lässt,“7 ebenso wie dem voraussetzungslosen Kahlschlag-Programm tatsäch­lich eine identitätsstiftende Funktion zu. Diese Entwicklung steht, und das ist für diesen Kontext entscheidend, signifikanterweise in engem Zusammenhang mit den literarischen Diskursen über Juden. Eine frühe Alternative zur Ausblendung der Juden als Juden in den öffentlichen Diskursen von Politik, Medien und den Wissen vermittelnden Institutionen wie Universitäten und Schulen aber bildete das Gespräch zwischen deutschen und jüdischen Schriftstellern nach dem Krieg. Wahrnehmungssensibilität, Krisenbewusstsein, eine engagierte Ideologie- und Sprachkritik, all das verband die jüdischen Autorinnen und Autoren mit ihren nichtjüdischen Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann, Johannes Brobrowski, Uwe Johnson oder Irmgard Keun. Raum und Forum für ein echtes Gegenüber schien dabei die von Hans-Werner Richter und Alfred Andersch im Jahr 1947 gegründete Gruppe 47 zu sein, deren junge, ambitionierte Autoren mit Werken wie Günter Grass’ Die Blechtrommel oder Heinrich Bölls Gruppenbild mit Dame den Anschluss an die Weltliteratur fanden, und die mittels ihrer gesellschaftskritischen Pro­duktivität zugleich einen Gesprächssraum etablierten, in dem auch ein reflektiertes Selbstverhält­nis zur 7 Böll 1952.

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unmittelbaren Vergangenheit sowie eine moralische Selbstbefragung der Nach­ kriegsge­sellschaft literarisch hätte erarbeitet werden können. „Der Versuch der Juden sich den Deutschen zu erklären“ – das Scheitern dieses Diskurses in der Historie, den Gershom Scholem in seiner Rede Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch proklamiert hatte, schien sich im literarischen Raum vielleicht doch noch realisieren zu lassen. So kam es im Rahmen der Tagungen der Gruppe 47 etwa auch zu der Begegnung zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann, deren berufliche und persönliche Beziehung Niederschlag in zahlreichen poetischen Korrespondenzen sowie in Bachmanns Roman Malina fand.8 Paul Celan, Grete Weil, Nelly Sachs, Hilde Domin, Wolfgang Hildesheimer, Edgar Hilsenrath, Jurek Becker, Peter Weiss, Jean Améry und Robert Neumann – sie sprachen als Juden zu den Deutschen.9 Galt tatsächlich auch für sie, was Gershom Scholem für die deutschjüdischen Schriftsteller der letzten zwei Jahrhunderte angenommen hatte: „Als sie zu den Deutschen zu sprechen dachten, da sprachen sie zu sich selber“? Die neuere literaturwissenschaftliche Forschung kommt an diesem Punkt zu ähnlich kritischen Schlussfolgerungen, wie sie bereits für den Bereich der außerliterari­schen Diskurse vorgetragen wurden. Demnach befanden sich die jüdischen Autoren, so Stephan Braese, schon aufgrund ihrer anderen Geschichtserfahrung „im Gegenüber zum Grós der west­deutschen Nachkriegsliteratur“. Als Träger einer „anderen Erinnerung“ an die jüngste Vergangenheit begaben sich die jüdischen Autoren, so Braese weiter, wenn sie denn dezidiert als Juden und über jüdische Erfahrungen sprachen, geradezu zwangsläufig in die Opposition zu jener neuen Geschichtsschreibung und ihren literarischen Repräsentanten, die mit Ende des Krieges jene ‚Stunde Null‘ proklamierten.10 So führte die aus der Stunde Null resultierende Differenz zur jüdischen Geschichtserfahrung,11 die nicht nur traditionell, sondern insbesondere auch durch die Opfer des Holocausts an ein Erinnerungsgebot gebunden bleibt sowie die „Nichtteilhabe der Juden an der kollektiven Erfahrung der Deutschen zwischen 1933 und 1945“ laut Braese zu einer „Konkurrenz der Erinnerungen als ein zentrales Paradigma für das deutsche 8 Siehe Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge, hrsg. von Bernhard Böschenstein und Sigrid Weigel, Frankfurt am Main 1997. Darin besonders: Klaus Briegleb, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Ihr (Nicht-)Ort in der Gruppe 47 (1952–1964/65). Eine Skizze, S. 29–84. 9 Alle die genannten Autoren sprechen ‚aufgrund von Auschwitz‘ als Juden; insbesondere, wenn sie sich an eine deutsche Leserschaft wenden. Damit sollen jedoch nicht die Unterschiede im Selbstverständnis dieser Autoren negiert werden. 10 So lautet die Hauptargumentation in Braeses Werk: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin 2001. 11 Zur jüdischen Geschichtserfahrung nach der Shoah siehe insbesondere die hier bereits genannte innovative Studie von Yerushalmi 1996.

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Schreiben nach 1945 und ihre betriebsförmige Selbstorganisation“.12 In seiner eigenen Bestandsauf­nahme hinsichtlich des Fortwirkens des Mythos’ der Gruppe 47 und ihrem Einfluss auf den gegenwärtigen Kultur- und Literaturbetrieb stellt Braese Ende der neunziger Jahre daher fest: In seiner Einführung [Bestandsaufnahme – Eine deutsche Bilanz] reiht er [Hans Werner Richter; 1962] jene Ideologeme aneinander, die auch in der Gruppe 47 – wenn auch in unterschiedlichem Maße – wirksam wa­ren: vom „Damoklesschwert der ‚Kollektivschuld’“, das, von den Alliierten verhängt, einen wirklichen Neu­anfang verhindert habe; von der deutschen Jugend, die, vorgeblich geprägt vom „Erlebnis der Grenzsitua­tion“, allein „aufgerufen“ schien darzustellen, „was geschehen war, um den Weg in die Zukunft frei zu ma­chen von allen Schlacken der Vergangenheit“; von der Emigration als „ausgebrannte(m) Vulkan des Has­ses“; unerwähnt, ein sprechender Nicht-Ort, bleibt dagegen die Vernichtung der europäischen Juden, deren wenige Überlebende allenfalls in den „Millionen Flüchtlinge(n)“ mitgemeint sind, die „nach dem Westen (strömten)“. 50 Jahre nach der Gründung der Gruppe 47 ist unübersehbar geworden, daß diese und andere Ideologeme – über die Gruppe als Agentur – in die westdeutsche Nachkriegskultur, vor allem jedoch ihre Literatur als Hypotheken eingegangen sind – als Schuldverschreibungen, an denen die deutsche Gegen­wartsliteratur noch heute trägt.“13

Mit der Rolle, die die Gruppe 47 im literarischen Ausgrenzungsprozess jüdischer Autoren spielte, hat sich jüngst auch Klaus Briegleb in seiner Streitschrift zur Frage: ‚Wie antisemitisch war die Gruppe 47‘? auseinandergesetzt und damit eine heftige Kontroverse ausgelöst.14 Dabei geht es Briegleb weniger um ‚harte‘ Antisemitismus-Zuschreibungen. Die „notorische Haltung der Mißachtung gegen Juden“ sowie die „kaltschnäuzigen Ausdrucksformen dieser Haltung“, so Briegleb, werden vielmehr anhand des sich neu erschließenden Quellenmaterials aus Sitzungsprotokollen, Briefen und Archivmaterial akribisch dokumentiert und hinterfragt: „Es geht in diesem Buch um den deutschen Antisemitismus nach der Shoah und um das Phänomen, daß die Gruppe 47 sich nicht um ihn gekümmert hat.“15 Briegleb hat in diesem Kontext auch das im Modus der Latenz geführte „Selbstgespräch“ der Wortführer der Gruppe 47 – Hans Werner Richter, Joachim Kaiser, Martin Walser, Günter Grass – zur Sprache gebracht. In Spannung dazu stehen, laut Briegleb, die in dieser Dokumentationsschrift ebenfalls protokollierten Zwischenrufe von Kritikern wie 12 Braese 2001, S. 11. 13 Braese 1999, S. 10. 14 Siehe Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“, Berlin 2003. 15 Ebd., S. 11.

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Marcel Reich-Ranicki und Einwände von ausgegrenzten Autoren wie Paul Celan, Peter Weiss, Erich Fried oder Hermann Kesten. Die Ausgrenzung dezidiert jüdischer Stimmen aus dem common sense der Tagungsgespräche sowie die Ausblendung der Juden aus dem gemein­samen Geschichts- und Geschichten-Narrativ erfolgte dabei, so lautet Brieglebs Schlussfolge­rung, zu Gunsten der Sicherung und Konstruktion einer eigenen nationalen und literarischen Identität auf Basis eben jener Stunde Null. Gestützt werden Brieglebs und Braeses kritischen Thesen zur Konkurrenz der Erinnerungen und Schreibweisen von Deutschen und Juden nach 1945 sowie zu der problematischen Rolle, die den wortführenden Mitgliedern der Gruppe 47 in diesem Kontext zukommt, durch die jüngst erschienene Dissertation von Matthias N. Lorenz, Auschwitz drängt uns auf einen Fleck. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser aus dem Jahr 2005, die einem möglichen An­ tisemitismus in den Werken von Martin Walser, und damit einem der prominentesten Mitglieder der Gruppe 47, nachspürt.16 Die Studie ist jedoch nicht nur eine Kritik an Walsers „antisemitischen Entgleisungen“, die Lorenz sowohl in Walsers ‚Abrechnung‘ mit Reich-Ranicki (Tod eines Kritikers, 2003) auffindet als auch als eine „Ensemblewirkung der Belege“ systematisch und Werk übergreifend in Walsers Essays, Dramen und Romanen nachweist. Auch die Walser-Rezeption habe, so Lorenz, die Brisanz der deutsch-jüdischen Thematik ignoriert, insbesondere den subtilen und „nicht unproblematischen Abgleich von Opfer- und Tätergruppe“ wie etwa in Walsers Roman Die Verteidigung der Kindheit, in der jüdische Leidensgeschichten neben die Schrecken der Bombardierungen von Dresden gestellt werden. Überzeugender als der Nachweis antisemitischer Tendenzen in Walsers Werk,17 gelingt Lorenz das Aufzeigen einer kontinuierlichen und teil16 Matthias N. Lorenz, Auschwitz drängt uns auf einen Fleck. Judendarstellungen bei Martin Walser, Stuttgart 2005. 17 Problematisch innerhalb der gründlich recherchierten und fun­dierten Argumentation von Lorenz ist allerdings ihr leicht überheblicher Gestus, der, unter anderem evoziert durch eine auffallend häufige Verwendung des Wörtchens „sic!“, leider die Frage nach der Legitimation einer solchen Haltung provoziert sowie über die Motivation und den Erkenntnisgewinn einer solchen Fragestellung (dem Antisemitismus-Nachweis) überhaupt nach­denken lässt. Siehe dazu auch Wolfgang Schneider, Mangelnder Sinn für die Leiden anderer. Warum es aussichtslos ist, den literarischen Antisemitismus im Werk Walsers dingfest machen zu wollen, in: Literaturen 1/2 II 2006, S. 52ff., hier S. 54. Schneider kritisiert, dass Lorenz Untersuchung der antisemitischen Stereotypen in Walsers Werk vom Skandal selbst profitiere. Seine Arbeit beweise zwar eine gründliche Kenntnis des Walserschen Gesamtwerkes, der Ton der Arbeit sei allerdings stark moralisierend. Schneider wirft zu Recht die Frage auf, inwiefern sich ein literarischer Antisemitismus methodisch eigentlich dingfest machen lässt: „Handelt es sich bei solchen Indizienbeweisen um subtile Philologie? Oder eher um Beispiele für ein Deutungssystem, das sich fortlaufend selbst bestätigt, indem es, sobald angewendet, gleich auch zu ‚Ergebnissen‘ führt? […] Um Antisemitismus zu attestieren, reicht […] der bloße Befund von Stereotypen nicht hin: sie können durchaus Teil einer künstlerisch hochdifferenzierten Schilderung

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weise bis ins Paranoide gesteigerten Haltung der Schuld-Abwehr und einer Perspektive der Opfer-Konkurrenz, die Walsers deutsche „Wir“-Helden durchweg verbindet. Doch selbst hierin bezeugen Walsers Auschwitz-Diskurse ja in gewisser Weise ein Berührtworden-Sein vom Thema der nationalsozialistischen Judenvernichtung, wenngleich die mangelnde Empathie für das jüdische Leiden sowie eine Konzentration auf die Opferdimension der Täter, ein dialogisches Erinnern von Juden und Nicht-Juden unmöglich erscheinen lassen und eine Unversöhnlichkeit der Diskurse weiter zementieren. Was die hier referierten kritischen Forschungsstimmen zur deutschen Literatur nach 1945 und zur Gruppe 47 verbindet und die Schärfe ihres Tons nachvollziehbar macht, ist das Bedürfnis, jenen Jahren der Mythologisierung, die ja durchaus mit Machtverteilungen inner­halb des literarischen Betriebs verbunden waren, mit Verfahren der Entmythologisierung zu be­gegnen. Eine kritische Anmerkung sei an dieser Stelle dennoch erlaubt, nämlich, dass trotz ihres „Nicht-Ortes“ in der Gruppe 4718 und trotz ihrer Randständigkeit im herrschenden und tonan­gebenden Literaturbetrieb der vierziger, fünfziger, sechziger und teilweise auch noch der siebziger Jahre, die Werke der jüdischen Autoren ihren Platz in der deutschsprachigen Literatur behaupten und, dies wird bei aller Kritik immer wieder außer Acht gelassen, insbesondere auch bei ihren deutschen Lesern.19 Der Umstand, dass sich einige der herausragendsten nichtjüdischen Autoren der Nachkriegsgene­ ration in späteren Jahren, insbesondere nach der Dokumentation der AuschwitzProzesse und im Anschluss an den Generationenkonflikt der siebziger Jahre, doch noch der Herausforde­rung gestellt haben, sich mit den von den Deutschen verübten Verbrechen an den Juden nicht nur formelhaft, sondern auch im Gestus der kritischen Selbsthinterfragung auseinan­derzusetzen, was auch die Thematisierung der Sprache der Verbrechen selbst einschloss, wie etwa bei Uwe Johnson, W. G. Sebald, Alexander Kluge, Anne Duden, Wolfdietrich Schnurre oder Dieter Forte, darf darüber allerdings nicht vergessen werden. Eine Tatsache, die dafür spricht, dass nicht allein Ignoranz, Schuldabwehr und nationale Ideologeme das ‚neue Schweigen‘ über und gegenüber den Juden begründet haben. Sondern auch eine aus der Sensibilität sich generierende Scheu und Sprachlosigkeit gegenüber der Andersartigkeit der jüdischen Erfahrung, das Wissen um die Un­zulänglichkeit sein wie im Fall von Thomas Manns Jaakob. Von antisemitischen Tendenzen lässt sich erst sprechen, wenn eine eindeutige Vernichtungsabsicht hinzukommt – wie im ‚Tod eines Kritikers‘. Aber selbst hier ist oft schwer zu unterscheiden, wo das provokante Spiel mit Klischees endet und der antisemitische Ernst beginnt.“ 18 Diese Formulierung geht auf Brieglebs früheren Essay über Celans und Bachmanns „NichtOrt“ in der Gruppe 47 zurück, der der größeren Studie über den Antisemitismus innerhalb der Gruppe 47 vorausgeht: siehe Briegleb, in: Böschenstein, Weigel 1997. 19 Zum wenig beachteten Thema des Verhältnisses von Autor und Leserschaft in den fünfziger Jahren siehe Frank Trommler, in: Braese 1999, S. 276ff.

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ästhetischer Ausdrucksformen, der Respekt vor der Autorität der Shoah-Zeitzeugenschaft, die die Aneignung der Judenermordung als ‚Stoff‘ moralisch bedenklich erscheinen lässt sowie die eigene Positionierung in Nachfolge und Abkehr von der sogenannten Tätergeneration. Dergestalt multikausale, heterogene Faktoren sind es, die an die­sem Diskurs der Nachzeitigkeit durchaus auch mitschreiben. Fest steht jedoch, dass, ungeachtet einer gesteigerten Sensibilisierung der Nachkriegsintellektuellen gegenüber jedweder Form von ideologischem Missbrauch, die Proklamation der Stunde Null in der Tat keine geeignete Gesprächsgrundlage zwischen Deutschen und Juden hatte schaffen können. Die eingangs konstatierte Gegeneinanderstellung von Deutschen und Juden auf Ebene der öffentlichen Diskurse findet also auch Einlass in die literarischen Diskurse. Dazu noch einmal Stephan Braese: „Rund dreißig Jahre währte das Zeitfenster jener historisch singulären Chance eines Gespräches, oder, relativer: der Versuch eines Gespräches zwischen jüdischen Überlebenden der deutschen NS-Vernichtungspolitik und den Deutschen in der west­deutschen Nachkriegs­lite­ratur.“20 Die kategorische Missachtung des Juden bzw. des jüdischen Schriftstellers als Gesprächsge­genüber zementierte, so Briegleb, zudem ein grundlegendes, inner­ literarisches Tabu: Nicht nur der Holocaust wird in der deutschen Nachkriegs­ literatur verdrängt, auch „Juden kommen in der deutschen Literatur nach 1945 eigentlich nicht vor.“21 Brieglebs Befund mag zunächst erstaunen angesichts der Vielzahl jüdischer Figuren, die die deutsche Nachkriegsliteratur bevölkern. Zu den bekanntesten unter ihnen gehören die zum Katholizismus konvertierte Jüdin Ilona Kartök in Heinrich Bölls Wo warst du, Adam? (1951), der Spielzeughersteller Sigismund Markus in Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959), der angebliche Jude und Kaufmann Andri in Max Frischs Andorra (1961) und der Journalist und Schriftsteller Efraim in Alfred Andersch gleichnamigen Roman Efraim (1967). Heidy M. Müller hat in ihrer Studie Judendarstellungen in erzählender Prosa für die Zeit zwischen 1945 und 1981 die Judendarstellungen in den Werken von über fünfzig Schriftstellern nachge­zeichnet, unter anderem bei Heinrich Böll, Alfred Andersch, Günter Grass, Walter Jens sowie bei Peter Handke, Johannes Brobrowski, Christa Wolf, Max Frisch, Wolfdietrich Schnurre und Peter Härtling.22 Müllers pädagogisch-aufklärerisch motivierte Studie, entstanden Mitte der achtzi­ger Jahre, ist eine der ersten detaillierten, positivistisch ausgerichteten Arbeiten zum Thema Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur, auf die sich später Ruth Klü20 Braese 2001, S. 32. 21 Briegleb 2003, S. 12; siehe außerdem Brieglebs einleitenden Essay „Mißachtung. Einführung in einen deutschen Kontext“ (S. 9–27), in dem er seine Thesen, die er den Fallstudien zu den prominenten Mitgliedern der Gruppe 47 voranstellt, herleitet, erläutert und zusammenfasst. 22 Heidy Margrit Müller, Die Judendarstellungen in der deutschsprachigen Erzählprosa (1945–1981), Königstein/Ts. 1984.

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ger in ihrem besagten Essay Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur? sowie Matthias Lorenz in seiner Walser-Arbeit bezogen. Christiane Schmelzkopf wiederum, deren systematische Untersuchung Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschen Nachkriegsliteratur etwa zeitgleich mit der Studie von Müller erscheint, fragt darüber hinaus nach der Funktion solchen Schreibens in Bezug auf die geschichtli­che Bewusstseinsbildung der Autoren selbst sowie die ihrer potentiellen Leser. Ihr kritisches Hinterfragen einer Schreibweise, die sich, seit Anfang der neunziger Jahre auch für die außerlite­ rarischen Diskurse über Juden mit dem Stichwort der „Befangenheit“ verbindet, ist zugleich ein Zeichen dafür, dass sich nun auch die literaturwissenschaftliche Forschung dem Thema einer Gegeneinanderstellung von deutschen und jüdischen Diskursen anzunähern beginnt: [F]ür eine literarische Annäherung an jüdische Wirklichkeit auf dem Hintergrund des Geschehenen [mochte es] fast unmöglich erscheinen […], der Thematik noch in jener Offenheit und Bereitschaft zum Ertragen des Widersprüchlichen zu begegnen, die allein auch jetzt Raum zu aufrüttelnder Infragestellung gewährt hätte; stattdessen lag es wohl näher, sich in formelhafte Lösungsversuche gegenüber den Problemen des Juden­tums zu retten. Es mochte das Bewußtsein einer größer gewordenen existentiellen Kluft zwischen Nichtju­den und Juden sein, das in solcher Befangenheit wirksam wurde: Ein Bewußtsein, das jedoch Bedingungen und Konsequenzen dieser Kluft zumeist nicht reflektierte.23

Schmelzkopfs Resümee in Bezug auf vierzig Jahre Judendarstellung in der deutschen Literatur nach 1945 stimmt mit den Schlussfolgerungen Müllers und Klügers überein. Sie alle verweisen insbesondere auf drei signifikante Merkmale die Diskurse über Juden betreffend: 1.) Funktionalisierung: Bis in die achtziger Jahre hinein herrschte in der deutschen Literatur die Tendenz vor, die jüdischen Figuren nicht um ihrer selbst und ihrer Geschichten willen darzustel­len, sondern sie zu funktionalisieren. Sei es, so Schmelzkopf und Klüger, als Folie für die eigene Bewährung der autornahen Figur(en) im Umgang mit den Nationalsozialisten, wie etwa in Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund. Sei es als poetischer ‚Kniff‘, um deren Grau­samkeit zu zeigen sowie die Spannung für den Leser zu erhöhen, oder sei es zum Zweck der ideellen Selbstorientierung und Entschuldung der eigenen Lage durch Etablierung eines allgemei­nen Opfermythos‘, im Zuge dessen die Juden als Opfer neben die deutschen Soldaten, Kommu­nisten, Kinder oder christlichen Widerstandskämpfer gestellt werden wie etwa, so Schmelzkopf und Müller, in den frühen Werken Heinrich Bölls und eben Alfred Anderschs.24 23 Christiane Schmelzkopf, Zur Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Hildesheim 1983, S. 3. 24 Müller 1984, S. 193–196; Schmelzkopf 1983, S. 241–244; Klüger 1994, S. 13–17.

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Die bipolaren Erzählschemata und Mythologisierungen, die Bölls frühen Werke wie Wo warst du, Adam?, Billard um halb zehn und teilweise auch noch Gruppenbild mit Dame kennzeichnen, wurden von der literaturwissenschaftlichen Forschung inzwischen ausführlich untersucht. Dieter Lamping fasst in seiner Analyse der Trennung zwischen Jüdischem Diskurs und deutscher Nachkriegsliteratur, Bölls frühe Schreibweisen folgendermaßen zusammen: Heinrich Bölls frühen Romane und Erzählungen etwa sind bestimmt von einem universalistisch-humanen Pathos der Solidarität, die allen Opfern des Nationalsozialismus gleichermaßen gilt, und sie stellen deshalb die Juden in die Reihe dieser Opfer, zusammen etwa mit katholischen Widerstandskämpfern oder zum Kriegsdienst verpflichteten Kindern.25

Die Verallgemeinerung der Kriegsopfer bei Böll gehe folglich, so Lamping weiter, einher mit einer poetischen Arbeit am deutschen Opfermythos.26 Lamping bestätigt damit indirekt die Thesen Müllers und Schmelzkopfs. Und in Bezug auf Alfred Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957), der wie die Romane Heinrich Bölls nicht nur viel Beachtung fand, sondern auch bald zur Schullektüre wurde, fragt zum Beispiel Ruth Klüger kritisch: Und wo stecken die Nazis in Sansibar? Niemand ist ein Nazi, und das Wort kommt nicht vor. Stattdessen gibt es „die Anderen“. Ein Portrait des „Führers der Anderen“ hängt an der Wand des Hotelrestaurants, von den Schweden überhaupt nicht, von den Deutschen dagegen mit Ekel wahrgenommen. Dem Leser wird durch diese Ersatzbildungen für die vermiedenen Vokabeln nahegelegt, daß wir, die guten Deutschen, eben ganz anders waren als Jene, die Anderen – Fremde unter uns. Nur ganz am Ende treten sie in Er­scheinung, SS-Männer, die von außerhalb kommen und sich vom Auto her der Kirche und dem Pfarrhaus nähern. Der tapfere Pfarrer, der gleich darauf mit der Pistole das Böse bekämpft und dabei umkommt, be­schreibt sie, als hätte er noch nie welche gesehen: „So also sieht das Gesindel aus: Fleisch in Uniformen, Teiggesichter unter Hüten“ […] und: „Zwischen Limousinen und Folterbänken vegetiert das stumme Ge­sindel schwarz dahin“ […]. Es bleibt von den Nazis nichts übrig als diese maskierten Zielscheiben für die evangelischen Pistolenkugeln. Das „Wir“ dagegen, drei Männer und ein Junge, mit denen der Leser sich identifizieren kann, haben die Kultur und die Menschheit gerettet, das schöne Kunstwerk und die junge Jü­din. 27

2.) Formelhaftigkeit: Folgende Axiome sind, so Müller und Schmelzkopf, bei der literarischen Rede über Juden sozusagen ‚Programm’: Judenfreundlichkeit, Mit25 Lamping 1998, S. 142–144. Siehe auch Michael Serrer, Das Sakramentdes Büffels. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Frühwerk Heinrich Bölls, in: Braese, Gehle 1998, S. 213–228 sowie noch einmal Müller 1984, S. 117–120. 26 Lamping, ebd. 27 Klüger 1994, S. 16.

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leid mit jüdischen Nazi-Opfern sowie eine allgemeine Ideologiekritik am Nazismus.28 3.) Relativierung/Stereotypie: In den Werken der deutschen Literatur sei zudem, so Schmelzkopf, überwiegend ein Widerspruch zwischen „judenfreundlicher Intention und tendenziöser Realisation“ festzustellen.29 Dieser Widerspruch lässt sich dann wiederum mit Müller auf folgende, multikausale Ursachen zurückführen: Zum einen auf das Fehlen „gebrauchswürdiger, literarischer Muster“,30 was einen zwangsläufigen Rückgriff auf tradierte Stereotypen zur Folge hat, zum anderen auf einen Mangel an „realen Anschauungsmöglichkeiten“31 sprich auf das Fehlen eines alltäglichen Umgangs mit Juden, da nur wenige der Überlebenden in Deutschland geblieben waren. Eine ideologische Befangenheit, fragwürdige nationale Selbstkonstruktion und christliches Wunschdenken werden außerdem als Erklärungen herangezogen. Darüber hinaus, auf Ebene des poetischen Verfahrens, die problematischen Implikationen der Erzählhaltungen, insbesondere diejenigen auktorialen Zuschnitts, die eine Relativierung der geäußerten Meinung über Juden verhindern sowie diejenigen, welche mittels der Etablierung eines jüdischen Erzählers an diesen die Verantwortung für die eigene Judendarstellung delegieren. Als Beispiel für letzteres wird so­wohl von Schmelzkopf und Müller als auch von Klüger, Alfred Anderschs Roman Efraim ge­nannt. Als ein Beispiel für einen zumindest zwiespältigen Umgang mit der Stereotypie, hier: dem tra­dierten Klischee vom „hässlichen Juden“, soll abschließend noch auf Günter Grass’ Welterfolg Die Blechtrommel (1959) verwiesen werden. Im Kontext der zeitgenössischen literarischen Dis­kurse, die den ernsthaften Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus un­ternehmen, ist die Mehrdimensionalität, mit der Grass nicht nur seine Figuren insgesamt ausstat­tet, sondern sich auch der Behandlung der Schuldfrage widmet, geradezu augenfällig. In der Blechtrommel gibt es keinen Unterschied zwischen den vermeintlich Anderen und dem Kollektiv, keine bipolare Struktur von Guten und Bösen, Helden und Übeltätern. Alle Charaktere sind auf die eine oder andere Weise von Mitschuld gezeichnet. Grass hat der Anfälligkeit des ganz ge­wöhnlichen Menschen für den Nazismus im Alltag und Alltäglichen nachgespürt und dessen Kompatibilität mit der Veranlagung zur Bosheit des durchschnittlichen Menschen eindringlich dar­gestellt. Zur Gestaltung der Juden Markus und Fajngold äußert sich dann etwa auch Marcel Reich-Ranicki überaus lobend: Sigismund Markus, der nach London emigrieren möchte, jedoch in Danzig Selbstmord begeht und ‚alles Spielzeug aus dieser Welt mit sich nimmt‘, und Fajngold, der sich immer 28 29 30 31

Insbesondere Müller 1984, S. 187–207; Schmelzkopf 1983, besonders S. 241f. Schmelzkopf, ebd., S. 187. Müller 1984, S. 207. Ebd.

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von einer vierköpfigen Familie umgeben glaubt – die aber in Treblinka vergast wurde – das sind reale Gestalten: wahrhaftig ohne Verherrli­chung, ergreifend ohne Weinerlichkeit.32

Und so erscheinen mit Markus und Fajngold tatsächlich jüdische Charaktere in der Literatur, ausgestattet mit Stärken und Schwächen. Grass’ Spiel mit den Stereotypen des ‚hässlichen Juden‘ wird erzähltechnisch allerdings durch den Tonfall der Groteske legitimiert. Sowohl Ruth Klüger als auch Dieter Lamping weisen zudem kritisch auf die Marginalisierung des jüdischen Diskurses in der Blechtrommel hin sowie auf die Tendenz zur Selbstnegierung der jüdischen Figuren. „Beide Figuren [Markus und Fajngold] sind Juden, die keine Juden sein wollen“, schreibt Lamping. „Eine positive jüdische Identität haben sie nicht. Ihr Wunsch ist es, gerade nicht als Juden zu gelten, und sie scheitern schließlich daran, daß man ihnen eben dies verweigert.“33 In Bezug auf die literarischen Redeweisen über Juden nach 1945 unterscheidet die Forschung insgesamt zwischen drei größeren Phasen. Im Gegen­satz zu Klügers textimmanent ausgerichteter Analyse benennen Schmelzkopf und Müller dabei auch gesellschaftliche Entwicklungen als Faktoren für die Veränderung der Judendarstellungen bzw. in der Rede über Juden. Die literarischen Diskurse reagieren notwendigerweise mit einer gewissen Zeitverzögerung auf die außerliterarischen Entwicklungen: 1. Von 1945 bis etwa Anfang der sechziger Jahre lässt sich eine durchweg positive Stereotypisierung und Mystifizierung der Juden verzeichnen. 2. Im Zuge des Eichmann-Prozesses, der Auschwitz-Prozesse, des Sechs-TageKriegs zwi­schen Israel und Ägypten (die deutsche Presse betont hier die „Tüchtigkeit“ der Juden) sowie des beginnenden Generationenkonfliktes kommt es Mitte der sechziger Jahre in der deutschen Literatur zu einer Phase der Identifizierung mit den Juden. Fungierten jüdische Figuren bislang in den Werken eher als Randfiguren, so treten sie nun erstmals als Prota­gonisten in Erscheinung. Das jüdische Schicksal erfährt eine Universalisierung. Die auf­ grund von Verfolgung und Vertreibung erduldete, jüdische Heimatlosigkeit erscheint nun als ‚condition humaine‘ des modernen Menschen. Dazu sei noch einmal Müller zitiert:

32 Marcel Reich-Ranicki, Deutsche Literatur in West- und Ostprosa seit 1945, München 1963, S. 222f. 33 Lamping 1998, S.  145. Siehe auch Klüger 1994, S.  23f.: „Wie der typische Jude der NaziPresse ist auch Markus als Mann unattraktiv, doch voll Begierde nach einer arischen Frau. Als Mensch ist er lächerlich, denn er handelt und sieht aus wie ein Hund. […] Sicher ist Markus als Selbstmörder ein Opfer, aber über das Ende der Juden in Deutschland sagt diese nicht ernst zu nehmende Karikatur doch eigentlich nur aus, daß der Verlust zu verschmerzen war.“

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In der Literatur wurde es geradezu Mode, sich so heimatlos, schuldbeladen, gequält und einsam zu fühlen wie Ahasverus. Von da an hatten ahasverische Figuren den zeitgenössischen problembela­denen Westeuropäern als Spiegel- und Projektionsfläche zu dienen. Dabei eröffneten sich neue Perspektiven […] auch die traditionsreiche Rolle des Opfers, welche als Charakteristikum vieler Ju­den erkannt wurde, ihren privaten Zielsetzungen dienstbar zu machen.“34

3. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre folgt langsam eine Phase der „Enttabuisierung“. Neben der wachsenden zeitlichen Distanz zu den begangenen Verbrechen der Deutschen an den Juden sowie einer vermehrten Kritik hinsichtlich der israelischen Palästinenser-Politik, sieht Müller die Ursachen für den erneuten Zugriff auf die alten, tradierten Kli­schees vom „hässlichen Juden“ begründet ebenso wie in der steigenden Skepsis gegen­über den „verlogenen Erscheinungen eines bundesdeutschen Philosemi­tismus.“35 Die im­mer unverhohleneren öffentlichen Äußerungen eines sogenannten ‚sekundären Antise­mitismus‘ äußern sich nun in Formen der Schuldabwehr und Kritik an der scheinbaren „moralischen“ und „imperialistischen“ Machtinstanz der Juden. Ein Bei­spiel dafür ist Gerhard Zwerenz’ Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond (1973) sowie das darauf basierende Stück von Rainer Werner Fassbinder Der Müll, die Stadt und der Tod (1976), das eine einschneidende und diskursumbildende Debatte zur Folge hatte. Mystifizierung, Identifizierung und Enttabuisierung lassen sich folglich als die wesentlichen Stationen der Redeweisen über Juden, der Judendarstellungen in der deutschen Nachkriegsliteratur festhalten. Brieglebs These „Juden kommen in der deutschen Literatur nach 1945 nicht vor“ lässt sich also mit den Studien Müllers, Schmelzkopfs und Klügers folgendermaßen konkretisieren: Juden als Juden kommen in der deutschen Literatur nach 1945 nicht, oder vorsichtiger formuliert, so gut wie nicht vor. Jüdischkeit, eine mit Inhalten gefüllte, gelebte jüdische Identität, bleibt je­denfalls durchweg ein blinder Fleck bei der Konzeption der Figuren. Gemäß der These von der Funktionalisierung bzw. von der Universalisierung jüdischer (Opfer-)Figuren zum Zweck der Selbstentschuldung, folgt die Ausblendung der Jüdischkeit in den deutschen Diskursen durchaus einer gewissen Logik und stellt einen wesentlichen Grund für die auffällige Abwesen­heit ‚jüdischer Juden‘ in der deutschen Literatur nach 1945 dar. Das Fazit, zu dem daher sowohl Braese und Briegleb für den literarischen Betrieb als auch Müller, Schmelzkopf

34 Müller 1984, S. 192. 35 Ebd.

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und Klüger hinsichtlich der literarischen Judendarstellungen kommen, lässt sich als Diskurs des (Be-)Schweigens beschreiben.36 Diese Schlussfolgerung ist jedoch zu diskutieren: So ist die Ausblendung der Juden als Juden in den deutschen Diskursen nach 1945 nicht zwangsläufig oder zumindest nicht allein der Etablierung eines allgemeinen Opfermythos’ geschuldet. Literaturhistorisch ist der Jude ohne Jüdischkeit wie ihn etwa Ilona Kartök in Bölls Wo warst du Adam? repräsentiert37 ja zunächst einmal schlicht ein literarischer Topos, eine Figur der Assimilation, die sich in den Werken so unterschiedlicher Schriftsteller wie Behr, Schnitzler und Fontane wiederfinden. Auf diesen scheinbar unproblematischeren Topos zu­rückzugreifen, lag im Hinblick auf den Entzug der Bilder nahe: Zum einen äußerte sich dieser Entzug in der Stilllegung eben jener tradierten Feindbilder ‚vom Juden‘, die, gerade noch in aller Munde, jetzt unauslöschlich mit der Geschichte des verlorenen Krieges verknüpft waren. Walter Benjamin hat diesen Entzug der Bilder, die Spracharmut, die aus einem im Doppelsinn des Wortes „verlorenen“ Krieg resultiert, in seinen Überlegungen zum Wesen des deutschen Faschismus folgendermaßen beschrieben: Den Krieg aus ihrem Innersten heraus geführt zu haben, könnten auch andere Völker von sich behaupten. Ihn aus dem Innersten verloren zu haben, nicht. […] Was heißt, einen Krieg gewinnen oder verlieren? Wie auffallend in beiden Worten der Doppelsinn. Der erste, manifeste meint gewiß den Ausgang, der zweite aber, der den eigentümlichen Hohlraum, Resonanz­boden in ihnen schafft, meint ihn ganz, spricht aus, wie sein Ausgang für uns seinen Bestand für uns ändert. Er sagt: der Sieger behält den Krieg, den Geschlagenen kommt er abhanden; er sagt: der Sieger schlägt ihn zum Seinigen, macht ihn zu seiner Habe, der Geschlagene besitzt ihn nicht mehr, muß ohne ihn leben. […] Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift, wenn wir der Sprache folgen, so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, daß wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind.38

Über die Reflektion des Doppelsinns von „verlieren“ erschließt Benjamin eine ganz neue Dimen­sion hinsichtlich der psychischen und sozialhistorischen Folgen des Krieges: Denn nicht der Krieg an sich, sondern erst sein Verlust erzeugt jene Traumatisierung des kollektiven Gedächtnisses, die hier als der Entzug eines ge36 Briegleb 2003, bes. S. 9–29 sowie George Steiner, der in seinem umstrittenen und viel diskutierten Essay Sprache und Schweigen (1969) von der „unüberwindbaren Armut“ der deutschen Sprache nach und durch Auschwitz spricht: Georg Stei­ner, Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche, Frankfurt am Main 1969. 37 Siehe insbesondere Lamping 1998, S. 144. 38 Walter Benjamin, Theorien des Deutschen Faschismus, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band III, Frankfurt am Main 1972, S. 242.

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meinsamen Fundus an Malen und Bildern skizziert wird. Und was Benjamin hier für den Umgang mit dem Ersten Weltkrieg beschrieben hat, gilt umso mehr für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum anderen schnitt dieser ‚Entzug‘ aber auch von den literarisch tradierten Mystifizierungen und Redeweisen über Juden vor 1933 ab, die den Juden als den ‚Anderen‘, ob negativ, ob positiv gewendet, stets eine sichtbare Gestalt verliehen hatten. Nicht nur ein ‚Jud‘ wie in Büchners Woyzeck war also nach den Nationalsozialisten als Figur bis weit in die achtziger Jahre hinein, bis etwa zu Fassbinders Shylock-‚Juden‘ in Die Stadt, der Müll und der Tod, in der deutschen Literatur kaum denkbar, sondern zugleich mangelte es auch an Verständigungs­figuren wie Lessings Nathan oder Schnitzlers Ehrenberger. Dass nach dem Genozid die literarische Fortschreibung des Juden ohne Jüdischkeit einer fakti­schen Unsichtbarkeit, dem ‚Fehlen‘ der Juden nur noch weiter zuarbeitete, wäre ein weiteres Argument für die Problematik der Ausblendung der Juden als Juden in den deutschen Diskursen nach 1945. Den Grund für dieses Schweigen über Juden jedoch wie Schmelzkopf und Müller im „Fehlen gebrauchswürdiger literarischer Muster“ zu suchen,39 lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass eben nicht nur mit Lessings jüdischer Nathan-Figur ein geeignetes Muster für eine kritische Befragung der Geschichte zur Verfügung gestanden hätte, wie sie dann etwa Georg Tabori auf den deutschen Bühnen vorführte. Auch die nichtdesavouierte deutsch-jüdische Literaturtra­dition bot den nichtjüdischen Schriftstellern ja genügend Quellen und Ansatzmöglichkeiten für die Konzeption einer angemessenen Redeweise über und durch jüdische Figuren, sei es etwa in Form einer Rezeption von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen, durch Inspirationen aus Schnitzlers Psychogrammen innerjüdischer Bewusstseinslagen oder in Form der Chassidischen Geschichten, die dank Martin Bubers Übersetzung ja in deutscher Sprache vorlagen. Darin zeigt sich die Kehrseite jener propagierten Voraussetzungslosigkeit, die eben eine fiktive und keine tatsächliche war. Denn während der moderne Roman trotz seiner Krise selbst im Zeichen seiner Neubegründung40 noch an tradierte Gestalten der Melancholie wie an Hamlet oder Don Quichotte anzuknüpfen vermochte, schien das literarische Sprechen über Juden neben den Figuren der Assimilation allein auf alttestamentarische Bibelgestalten zurückgreifen zu können. Jene Zäsur bildende Trennung zwischen deutschen und jüdischen Diskursen nach 1945 war also hinsichtlich eines Diskurses über Jüdischsein in zweifacher Richtung wirksam, da sich die deut­schen Autoren auch rückwirkend von einer 39 Das wörtliche Zitat findet sich bei Müller 1984, S. 207. 40 Dazu siehe die wegweisende Studie von Günter Blamberger, Versuch über den deutschen Gegenwartsroman. Krisenbewußtsein und Neubegründung im Zeichen der Melancholie, Stuttgart 1985, besonders zur Poetik des Romans, S. 20–48.

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gemeinsamen, deutschjüdischen Literaturtradition ab­schnitten. In diesem Sinne erfährt auch Scholems These, dass sich das deutsch-jüdische Gespräch lediglich im leeren Raum des Fiktiven abgespielt hätte, von Seiten der literarischen Praxis nach 1945 eine zusätzliche Bestätigung. Indem sich einige der bekanntesten Autoren wie Heinrich Böll und Alfred Andersch schon früh der Herausforderung zu stellen suchten, basierend auf der Prämisse der Voraussetzungslosigkeit eine neue Sprache zu wagen, war das Scheitern in Bezug auf ihre Dis­kurse über Juden gewissermaßen schon vorprogrammiert, signalisieren ihre Darstellungen jüdi­scher Figuren, so an allen spezifisch jüdischen Erinnerungen und Erfahrungen von Geschichte vorbeigeschrieben, mindestens Überforderung. Trotz mancherlei Versuchen wurde ein authentisches, wirkungsgeschichtliches Sprechen mit und durch Juden in den Narrativen der Nachkriegsliteratur nicht entwickelt. Der deutsche Diskurs gegenüber den Juden ist damit jedoch weniger, wie Briegleb es proklamiert, als tätiges Schweigen zu bezeichnen, sondern vielmehr – etwas weniger wertend – als Sprachlosigkeit. 1.1.1. Alfred Anderschs „Efraim“

Wie aber ist in diesen Kontext die Figur des Journalisten Georg Efraim einzuordnen, mit dem Alfred Andersch 1967, als einer der ersten nichtjüdischen Autoren nach 1945, einen sprachge­waltigen, jüdischen Ich-Erzähler zur Hauptfigur eines Romans erklärt hat? In Efraim hat Andersch einen Ich-Erzähler geschaffen, dessen Leben früh durch Exil und die Judenverfolgung überschattet ist. Efraim wächst in Berlin als Sohn wohlhabender Eltern auf, die 1944 in Auschwitz umkommen. Er selbst emigriert nach England, wo er Journalist wird und bei einer angesehenen, konservativen Zeitung arbeitet. Der Roman beginnt im Berlin der frühen sechziger Jahre. Efraim kehrt für einige Zeit in seine Heimatstadt zurück, um nach seiner Kind­heitsfreundin Esther zu suchen, die während der Nazi-Zeit im Alter von dreizehn Jahren spurlos verschwunden war. Den Deutschen der sechziger Jahre scheint die Zeit des Dritten Reiches be­reits einer fernen Vergangenheit anzugehören. Efraim aber bleibt die traumatische Vergangenheit auch in seinem erwachsenen Leben als Schriftsteller und Journalist gegenwärtig. Erzähltechnisch findet diese Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit ihre Entsprechung in der Wahl des Präsens. Anders als in den herrschenden literarischen Diskursen der fünfziger und frühen sechziger Jahre werden die deutschen Verbrechen an den Juden in Efraim nun nicht länger verallgemeinert und als Verbrechen neben die des Terrors an Kirchen, Parteien und Privatpersonen gestellt,41 sondern als Kern der Auseinandersetzung 41 Dazu auch Klüger 1994, S. 18–23.

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mit dem Nationalsozialismus begriffen. Außerliterarische Quellen wie die Protokolle aus den Kriegsverbrecherprozessen werden für die Argumentation auf innerliterarischer Ebene herangezogen, und auch die deutsche Kollektivhaltung der Leugnung und Verdrängung wird kritisch thematisiert. Exemplarisch zeigt sich dies in einem Telefonge­spräch zwischen Georg Efraim und seinem Chef bei der Zeitung, dem Engländer Keir: Um Keir irgendwie meine These zu beweisen, daß nichts geschehen würde, sage ich, die Berliner seien ru­hige und anständige Leute. Sie hätten vor ein paar Jahren einige Hunderttausend Kinder mit Giftgas umge­bracht, und seitdem wüßten sie, daß es ziemlich gleichgültig sei, was mit ihnen geschähe. Keir erwidert erst eine Weile nichts. Die Pause hätte mich warnen sollen. Dann schwingt er sich zu einer Antwort auf. „George, es waren nur wenige von den Deutschen, die das mit den Kindern gemacht haben.“ „Ich weiß“, antworte ich, „die anderen haben nur zugesehen oder dafür gekämpft oder nichts gewußt da­von.“ „Ich hab’ auch nichts gewußt davon. Wenigstens nicht gleich.“ Seine Antwort ist schnell gekommen.42

Die zeitgenössische Resonanz auf Efraim fiel insgesamt positiv aus. Gleich im Jahr sei­nes Erscheinens wurde Andersch der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund verliehen. Der Preisredner Werner Weber lobte den Roman als „ein Protokoll für unsere Epoche“ und zählte Efraim „zu den wichtigsten Erzählwerken deutscher Sprache“.43 Und Joachim Kaiser sprach dem Autor, wenn auch etwas zurückhaltender, seinen Respekt aus: „Je sorgfältiger man sich in diesen Efraim-Roman hineinliest, je genauer man die motivische Arbeit analysiert, das Netz der Bezie­ hungen zwischen Fragen und Antworten, zwischen Behauptungen und (indirekten) Widerlegun­gen überblickt, desto größer wird der Respekt vor so viel wohlkalkulierter Präzision“.44 Andersch gehe es, so fasst Volker Wehdeking es prägnant zusammen, „beim engagierten Schreiben solcher Ich-Romane um die beiden Fragen ‚Wie es dazu kam‘ und ‚Wie wir wurden, was wir sind‘ aus deutscher Sicht“.45 42 Alfred Andersch, Efraim, Zürich 1967, hier und im Folgenden zitiert nach der Kommentierten Ausgabe von 2004: Alfred Andersch, Efraim, in: Alfred Andersch. Gesammelte Werke in zehn Bänden, hrsg. von Dieter Lamping, Band 2, Zürich 2004, S. 18. Die Seitenangaben erfolgen in runden Klammern hinter dem Zitat; die Passagen aus dem Rezensionsteil werden mit Andersch 2004 zitiert. 43 Werner Weber, ebd., S. 401 sowie Klüger 1994, S. 18. 44 Joachim Kaiser, zitiert nach Andersch 2004, S. 402. 45 Volker Wehdeking, Alfred Anderschs Leben und Werk aus der Sicht der neunziger Jahre: Eine Problemskizze, in: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk, hrsg. von Irene Heidelberger-Leonard, Opladen 1994, S. 13–31; S. 27.

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Ganz anders, nämlich zutiefst ambivalent, muss hingegen die Beurteilung Efraims hinsichtlich des dort geführten Diskurses über Jüdischsein ausfallen – ein Aspekt, der im Gegensatz zu den existentialistischen und zeitpolitischen Aspekten des Romans lange Zeit gar nicht ins Blick­feld der Forschung geriet. So stellt sich etwa Irene Heidelberger-Leonard rückblickend die Frage, ob es Andersch überhaupt gelingt, die jüdische Perspektive durchzuhalten, oder ob Efraim letzt­ lich doch nur der deutschen Vorstellung eines Juden entspricht?46 Letztere Auffassung vertritt unter anderem Reich-Ranicki, demzufolge der „von Andersch unermüdlich stilisierte und in einer fatalen, süßlich-philosemitischen Aura gezeigte Held mit der Realität nichts gemein“ habe.47 Dahingegen fragt Ludwig Marcuse: „Was hat er [Reich-Ranicki] dagegen, daß Andersch von jüdischen Emigranten spricht? Wer überhaupt spricht von jüdischen Emigranten? Man hat hier­zulande Anderschs Efraim wie Reich-Ranicki wie mir selbst das Leben, das Leben im Galut, im Elend der Fremde vergeben und vergessen und will verständnisvollerweise gar nicht erst noch einmal daran erinnert sein.“48 Seit Mitte der achtziger Jahre, seit die literarischen Judendarstellungen vermehrt ins Blickfeld der Forschung gerückt sind, überwiegt die harsche Kritik an Efraim, die sich insbeson­dere an der ‚Zufallstheorie’ entzündet, die Andersch seinen jüdischen Ich-Erzähler Georg vertreten lässt: Es ist purer Zufall, daß vor zwanzig Jahren jüdische Familien ausgerottet wurden, und nicht ganz andere Familien zwanzig Jahre früher oder später, jetzt zum Beispiel. Eine wirklich schlüssige Erklärung des Endes meiner Eltern habe ich bis jetzt nicht gefunden, und Leute die Erklärungen dafür bereit haben, sind mir höchst verdächtig. (31)

Sicherlich ließe sich einwenden, Andersch wolle hier mit literarischen Mitteln lediglich den Blick schärfen für das, was mit Sander Gilman als Mechanismus eines Unterscheidungsmythos’ diskutiert wurde: Die Unberechenbarkeit der Aus­ schlusskriterien, die die jeweils tonangebende Gruppe dem ‚Anderen‘ als Stigmata zuteilt. Kriterien, die zudem abhängig sind von der jeweiligen Bedürfnislage der Gesellschaft. Die grundsätzliche Unberechenbarkeit der Frage, welche Minderheit nun ge­rade als ‚Anderer‘ fungieren muss und von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen bleibt, enthebt das kritische Denken jedoch nicht der Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt, dass und warum vor dem Hintergrund des Geschehenen gerade die Juden tatsächlich verfolgt wurden. Ruth Klügers Resü­mee kann hier stellvertretend für die kritischen Stimmen gelesen werden: 46 Irene Heidelberger-Leonard, Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben, ebd., S. 51–64; S. 58. 47 Andersch 2004, S. 404. 48 Ebd., S. 405.

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Von daher erübrigen sich alle Fragen nach den Ursachen, Folgen und Umständen der Judenverfolgung. Solche Fragen werden aufgeweicht in dem austauschbaren Begriffspaar „Schicksal und Zufall“, mit dem man, so oder so, dem Unerwarteten und Ungeklärten einen Namen gibt, ohne das Prinzip der Kausalität bemühen zu müssen.49

Und Klüger argumentiert weiter: Der Zufall tritt an die Stelle der Verbrecher, über deren Taten der Erzähler keine Erklärungen wünscht. […] Als gescheiter, anständiger Jude kann er sich Ansichten leisten, die aus dem Mund eines nichtjüdischen deutschen Zeitgenossen dem Publikum nicht so leicht zumutbar wären. Ohne dieses Sprachrohr könnte Andersch nicht schreiben: „Wer mir Auschwitz erklären möchte, ist mir verdächtig.“ Der Satz zieht sich mit leitmotivischen Abwandlungen durch das Buch, ohne daß Efraim übrigens je erläutert, woraus denn ei­ gentlich der Verdacht gegen den Erklärungssuchenden besteht. Der erfundene Jude entlastet den Leser, der sich nun nicht weiter mit Auschwitz auseinandersetzen muß und dem trotzdem die Genugtuung wird, er habe sich damit auseinandergesetzt. Efraim mystifiziert die Konzentrationslager, was zu logischen Kurz­schlüssen führt: „Wenn ich bedenke, wie absurd es ist, daß ich Deutscher war und danach Engländer wurde, während ich immer noch Jude bin, kommt es mir vor, als könnte ich ebensogut Russe oder Massai-Neger oder ein Wolf oder ein Auto sein […], daß wenn mein Leben einen Sinn haben soll, auch der Um­stand, daß meine Mutter in einer Gaskammer in Auschwitz getötet wurde, sinnvoll sein müßte. Ich weigere mich jedoch, an den Sinn von Zyklon B zu glauben.“ […] Efraims metaphysische Tüfteleien haben denselben Zweck wie der Symbolismus der zertrümmerten Hel­denfigur im Hause des Musikers: Sie lenken von der banalen Wahrheit ab, daß die Nazis wirkliche Men­schen und leibhafte Deutsche waren.50

Die Mystifizierung des konkreten, jüdischen Leidens als ‚condition humaine‘ im Kontext einer ab absurdum geführten Welt bei Andersch, kann tatsächlich als poetisches Verfahren gelesen werden, das mittels der Etablierung einer jüdischen Erzählperspektive der „Entlastung des Lesers“ dient. Aber, so ließe sich fragend einwenden, kann man Efraims Bezeugungen denn überhaupt trauen? Greift nicht auch an dieser Stelle jenes von Joachim Kaiser beobachtete Netz zwischen Behaup­tungen und (indirekten) Widerlegungen, das durch das Mit- und Gegeneinander der Figuren so subtil gesponnen wird? So fährt etwa der junge Musiker Hornbostel Efraim an: „Sie müssen verrückt sein! Erst schlagen Sie einen Menschen, weil er gedankenlos von Vergasung redet, und dann kommen Sie mit einer Theorie, mit der Sie den erhaben Gleichgültigen spielen können!“ (140). Diskutiert Anderschs Efraim auf literarischer Ebene nicht 49 Klüger 1994, S. 20. 50 Ebd., S. 21f.

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zudem eine gesellschaftspolitische Po­sition, die sich auch bei dem Historiker Dan Diner, der zwei Jahrzehnte später in Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus Auschwitz als ein „außerhisto­rische Bedeutung annehmendes Vakuum“ bezeichnet, wiederfindet? „Nur durch den ständigen Versuch, die Vergeblichkeit des Verstehens zu verstehen“, schreibt Dan Diner, „kann ermessen werden, um welches Ereignis es sich bei diesem Zivilisationsbruch gehandelt haben könnte.“51 Diskursbildend war die Absage an die Erklärbarkeit von Auschwitz in jedem Fall. Dies äußert sich bis heute etwa in den Formeln des ‚Unerklärlichen‘ und ‚Unaussprechlichen‘, wie sie bei Ge­denk- und Bundestagsreden üblich sind, und die mehr ein betroffenes Schweigegebot denn ein kritisches Zur-Sprache-Bringen sig­nalisieren. Efraims Erklärungsabwehr hatte zudem auch Aus­wirkungen auf die nachfolgenden literarischen Diskurse über Juden. Dazu noch einmal Müller: Dieser zunächst vielleicht plausibel erscheinende, doch schnell in die Isolation drängende Habitus der Abwehr einer verantwortlichen und differenzierten Perspektive im Blick auf die Geschichte scheint dann in gerader Linie auf jenen Gestus des Aufbegehrens gegen einen zuvor offiziell pro­pagierten Philosemitismus hinzuführen, wie er dann im dritten Nachkriegsjahrzehnt im Roman von Gerhard Zwerenz’ „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“, ebenso in Texten von Rainer Werner Fassbinder und Herbert Achternbusch entgegentritt, so daß am Ende von dreißig Jahren Literaturentwicklung wieder ein jeder Selbstreflektion und mehrdimensionalen Geschichtsper­spektive entbehrendes Spielen mit dem alten Klischee des „häßlichen Juden“ steht.52

Auch wenn einem solchen Kausalitätszusammenhang, wie Müller ihn hier sieht, mit Vorsicht zu begegnen ist, so kann in Anderschs Efraim doch ein Gestus der Ambivalenz festgestellt werden, der sich nicht auflösen lässt. Heidelberger-Leonard sieht in Anderschs Werken im Allgemeinen und in Efraim im Besonderen eine Form von „nachgeholtem Widerstand“ wirksam werden, verbunden mit einem Reflexionsprozess über Verdrängung und Mitschuld, den, gegrün­det auf einem „Schuldkomplex“,53 Andersch im Laufe seines Schriftstellerlebens immer schonungslo­ser gegen sich selbst führt: Was die Nürnberger Prozesse nicht vermochten, den Blick auf die eigene politische Schuld zu lenken, er­reichten 20 Jahre später die Frankfurter Prozesse. So war Andersch nicht mehr und nicht weniger als Repräsentant des deutschen Gewissens, des guten wie des 51 Dan Diner, Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: Ders. (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zur Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 62–73; S. 73. 52 Müller 1984, S. 243. 53 Heidelberger-Leonard 1994, S. 14.

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schlechten. […] Unübertroffen bleibt er allerdings in der Hartnäckigkeit, seiner historischen Verantwortung als Schriftsteller nachzukommen, denn kein anderer seiner Generation hat das Problem des Faschismus so monomanisch umkreist wie er: Er hatte nicht un­recht, als er sich 1975 einen „Auftragsschreiber“ nannte. „Man kann bei mir Texte bestellen“, präzisiert er, „von denen ich mir einbilde, sie verhinderten, daß ich eines Tages wieder eine Straßenwalze in einem KZ ziehen muß.“54

Anderschs Selbstbeschreibung als „Auftragsschreiber gegen den Faschismus“, der Texte sozusa­gen ‚auf Bestellung‘ anfertigt, ist wiederum sehr ambivalent. Denn diese Schreibhaltung spiegelt sowohl sein Engagement als auch das Monomanische wider. Das Problem liegt daher nicht so sehr darin begründet, dass Andersch sich als Nichtjude an die Darstellung eines Juden wagt, son­dern dass die Indienstnahme einer jüdischen Erzählperspektive für globale Aussagen über Auschwitz („Es ist purer Zufall, dass vor zwanzig Jahren jüdische Familien ausgerottet wurden“) zu selbstverständlich erfolgt. Eine Poetologie des Selbstmiss­trauens,55 die sicherlich eine bessere Basis gewesen wäre, lässt sich aus der Erzählhaltung des Romans jedenfalls nicht ablesen. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich einem ganz anderen Aspekt zuwendet, der Efraim über seine jüdische Hauptfigur hinaus tatsächlich zu einer einzigartigen Erscheinung in der deutschen Nachkriegsliteratur macht. Der Tatsache nämlich, dass, ebenso wie bei Lessings Nathan, der Weise, auch am Anfang von Efraim eine Begegnung stand, und zwar die zwischen Alfred Andersch und Jean Améry: „Ich habe dem Thema des deutsch-jüdischen Intellektuellen einen Roman gewidmet, ‚Efraim‘. […] Ich ver­weise also, was meine Differenzen und meine Übereinstimmung mit Améry hinsichtlich des ‚Zwanges und der Unmöglichkeit, Jude zu sein‘ betrifft, auf ‚Efraim‘.“56 Während Lessings Nathan, der Weise für die Juden zu den Deutschen sprach, erhebt Anderschs Efraim den Anspruch, das zu sein, was Gershom Scholem in zwei Jahrhunderten deutsch-jüdischer Geschichte überwiegend vergeblich gesucht hat: Eine Antwort im besten Sinne des Wortes, ein Verständigungstext. 1.1.2. Jean Amérys „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“

Amérys Essay Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein erschien 1966 als einer von insge­samt fünf Essays über Auschwitz, die Améry unter dem Titel Jenseits von 54 Ebd., S. 56 sowie Alfred Andersch, Aus der graue Kladde. Öffentlicher Brief, S. 118 zitiert bei Heidelberger-Leonard, ebd., S. 60. 55 Zu dieser treffenden Formel siehe Gerhard Scheit, Am Ende der Metaphern. Über die singuläre Position von Jean Amérys Ressentiments in den 60er Jahren, in: Braese, Gehle 1998, S. 301–315; S. 303. 56 Alfred Andersch, Rückkehr des Geistes, in: Münchener Merkur Nr. 269 (1971), abgedruckt in: Die Blindheit des Kunstwerks, Zürich 1979, S. 125–143; S. 140.

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Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten veröffentlicht hatte. Dieses Werk Jean Amérys, so Andersch, sei „der Fixpunkt, auf den sich jedes Weiter-Denken [über Auschwitz] in Zukunft beziehen muß“.57 Dafür ist Andersch wiederum für Améry „einer der wenigen Nachkriegsautoren, der der Welt etwas zu sagen habe“.58 Anderschs Georg Efraim ist also nicht nur eng verbunden mit der Person Jean Amérys, es wird auch ausdrücklich auf dessen Aussagen zum Jude-Sein verwiesen und damit der Diskursraum eines deutsch-jüdischen Gespräches aufgezeigt, ohne den Efraim, als die maßgebliche Figur die­ses Diskurses, gar nicht richtig sichtbar wird. Gerhard Scheit hat Jean Amérys singulärer Position im Horizont der 60er Jahre einen sensiblen Essay gewidmet. Nach dem Eichmann- und dem AuschwitzProzess gibt es in der deutschen Literatur seit Mitte der sechziger Jahre vermehrt Versuche, nicht nur die Pro­zesse, sondern auch die damit verstärkt ins öffentliche Bewusstsein getretene Schuldproblematik zu verarbeiten, und zwar, so Scheit, durch den Entwurf eines objektivierbaren Bildes vom Natio­nalsozialismus. Hannah Arendts politische Metapher von der Banalität des Bösen, Günther Anders Formel Wir Eichmannsöhne und Martin Walsers Unser Auschwitz sowie Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter und Peter Weiss’ Drama Die Ermittlung werden von Scheit als die bekanntesten Bei­spiele für jene Versuche einer Objektivierbarkeit zitiert, von denen sich Amérys subjektiv-individualistisch ausgerichtete Positionierung deutlich abhebt: Solchen Metaphern – einerlei ob sie als klassisches oder episches Theater, als politische Theorie, negative Anthropologie oder politische Ökonomie geprägt wurden – setzt Jean Améry ein Bild entgegen, das nichts anderes ist und nichts anderes sein will als ein Selbstporträt – geschaffen freilich mit dem Wissen, daß die­ses Subjektivste mehr Objektivität enthalten kann als alle Theorie und alle Dramatik.59

Und so äußert sich dann auch Andersch entsprechend über Efraim: „Ich habe mich bemüht, einen Roman zu beschreiben, in dem es einem Menschen erlaubt ist, sich selbst zu erzählen.“60 Wem aber wird hier Sich-selbst-erzählt? Zu wem wird gesprochen? Georg Efraim und Jean Améry, beide sprechen, so scheint es, als Juden zu den Deutschen. Und wenn Efraim sagt: „Eine wirklich schlüssige Erklärung des Endes meiner Eltern habe ich bis jetzt nicht gefunden, und Leute die Erklärungen dafür bereit haben, sind mir höchst verdächtig“ (31), dann hört der wissende Leser zugleich Améry An den Grenzen des Geistes sprechen: 57 Brief an Jean Améry vom 24.7.1967. Gesichtet im Nachlass, einsehbar im Literaturarchiv Marbach. 58 Jean Améry, Efraim – oder die kluge Skepsis, in: Über Alfred Andersch, hrsg. von Gerd Haffmans, 2. wesentl. erw. Neuausg., Zürich 1980, S. 123–127. 59 Scheit 1998, S. 304. 60 Siehe Haffmans 1980, S. 84f. sowie Andersch 2004, S. 401.

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Der Geist in seiner Totalität erklärt sich im Lager als unzuständig. […] Aber – und damit weise ich auf einen sehr wesentlichen Punkt hin – zu seiner Selbstaufhebung war er zu gebrauchen. […] Das Denken gönnt sich selten Rast. Aber es hob sich selbst auf, indem es bei fast jedem Schritt, den es tat, an seine unüberschreit­baren Grenzen stieß. Die Achsen seiner traditionellen Bezugssysteme zerbrachen dabei. […] Erkenntnis, das erwies sich als Begriffsspiel. […] Ein paar Lagerwochen haben meist genügt, um diese Entzauberung des philosophischen Inventars zu bewirken.61

Die spürbare, intellektuelle Nähe zwischen Andersch und Améry, die Dieter Lamping vor allen Dingen durch die aufklärerische Tradition, der sich beide zeitlebens verpflichtet fühlten, begrün­det sieht, äußert sich über die theoretischen Aussagen hinaus insbesondere auf Ebene der Charakterisierung der Figuren­. Der Leser sieht Améry in Georg Efraim handeln, wenn Efraim auf einer Cocktailparty in Berlin einem der Männer einen Kinnhaken verpasst, weil dieser, ange­ sprochen auf seine Trinkfestigkeit, gedankenlos von seinem Standvermögen „Bis zur Vergasung!“ prahlt: „Ich ging auf ihn zu, fragte: ‚Was haben Sie da gesagt?‘, wartete aber keine Antwort ab, sondern schlug ihm mit der geballten Faust unters Kinn.“ (125) Die entsprechende Passage bei Améry lautet: „Ich schlug in offener Revolte den Vorarbeiter Jsuzek meinerseits ins Gesicht: meine Würde saß als Faustschlag an seinem Kiefer – und daß am Ende ich, der körperlich viel Schwä­ chere, es war, der unterlag […] hatte keine Bedeutung mehr. Ich war, schmerzhaft verprügelt, mit mir zufrieden.“62 In dieser scheinbar ein und derselben Handlungsweise liegt zugleich ein wesentlicher Un­terschied zwischen der Bewusstseinslage der Figur Georg Efraim und der Person Jean Amérys begründet. Denn Améry erklärt seinen Faustschlag wie folgt: „Ich wurde Mensch nicht, indem ich mich innerlich auf mein abstraktes Menschsein berief, sondern indem ich mich in der gegebe­nen gesellschaftlichen Wirklichkeit als revoltierender Jude auffand und ganz realisierte.“63 Während Efraim, sich definierend als „ein Jude, allein unter den Gojim […] wartend und wachend in seinem Exil“ (161) sich zunehmend in eine defätistische Haltung flüchtet und aus der Welt in die Innerlichkeit zurückzieht. Dieselbe Geste, die bei Améry zur Wiedererlangung seiner Würde ge­reicht, gerät bei Efraim zur Attitüde. Ähnlich urteilt auch Irene Heidelberger-Leonard: Jean Améry gibt seinem Essayband den instruktiven Untertitel: „Bewältigungsversuche eines Überwältig­ten“. Auch Georg Efraim ist ein Überwältigter, nur weiß er es nicht, will es nicht wissen. Was ihn also vor allem von Améry unterscheidet, ist der Verzicht auf 61 Améry, An den Grenzen des Geistes, in: Améry 1977, S. 18–45; S. 43f. 62 Améry, Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, in: ebd., S. 143. 63 Ebd., S. 144.

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jeglichen Bewältigungsversuch. Wo Améry alle Wunden unerbittlich aufreißt, um sie zu untersuchen, verbindet Efraim diese Wunden voreilig und greift zur Flucht. So pendelt Efraim 287 Seiten lang zwischen gespielter Gleichgültigkeit und verdrängtem Ressentiment, zwi­schen Schein und Sein.64

Man kommt dem so unterschiedlichen Diskurs über Jüdischsein im scheinbar gleichen Ton der Aussagen jedoch noch eingehender auf die Spur, wenn man sich die Bedeutung vor Augen führt, die der Ich-Perspektive in beiden Texten zukommt. Denn das Gegensätzliche zwischen Efraim und Améry wird nirgendwo so deutlich wie in Efraims Resümee: „Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste.“ (284) Das, was bei Andersch in der Figur Efraims als eine Art Rollenspiel, als Selbst-Entwurf nahezu postmoderner Provenienz65 erprobt wird, ist Bekenntnis bei Jean Améry, ein schmerzhafter, demas­ kierender Prozess der Selbstbezeugung seiner Jude-Werdung. So heißt es 1966 im Vorwort zur ersten Ausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne: Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, mußte ich nun erfahren, daß es ein­fach unmöglich war. Wo das „Ich“ durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzige brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Arbeit hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand. […] So war mir in dem Aufsatz über die Tortur noch durch­aus unklar, welche Bedeutung dem Begriff der Würde zu geben sei […], während ich später, in der Arbeit über mein Judesein zu erkennen glaubte, daß Würde das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben ist. Ebenso hatte ich, über Auschwitz und Tortur schreibend, noch nicht mit hinlänglicher Deutlichkeit ge­sehen, daß meine Situation nicht voll enthalten ist im Begriff des „Naziopfers“: erst als ich zum Ende kam und über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, nachdachte, fand ich mich im Bilde des jüdischen Opfers.66

Von dieser „Intensität der Vergegenwärtigung“,67 mit der Améry sein Jude-Sein hier entwickelt, leitet Andersch das Rollen-Ich Efraims ab, der „ebenso gut Russe oder Massai-Neger oder ein Wolf oder ein Auto sein [könnte].“ (31) In dieser Fortschreibung aber treten sowohl die Mög­lichkeiten als auch die Grenzen eines 64 Irene Heidelberger-Leonard, Schein und Sein in ‚Efraim‘. Eine Auseinandersetzung von Alfred Andersch mit Jean Améry“, in: Zu Alfred Andersch, hrsg. von Volker Wehdeking, Stuttgart 1983 (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft; 64: LGW-Interpretationen), S. 49–56; S. 50. 65 Zu den Elementen des Postmodernen in Anderschs Werken, siehe Wehedeking, ebd. 66 Améry 1977, S. 15f. 67 Scheit 1998, S. 306.

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solchen Verfahrens zutage. Möglich und, mehr noch, naheliegend ist Anderschs Anleihe bei Amérys Judenbild nämlich ge­rade deswegen, weil Amérys Selbstentwurf der eines Juden ohne Jüdischkeit ist. Améry steht damit in der Tradition derer, die, wie eingangs diskutiert, ihre jüdische Identität ex negativo über die Shoah entwickelt haben. Folgerichtig hatte Améry, dies sei nochmals erinnert, die Auschwitz-Nummer als die Grundformel seiner jüdischen Existenz bezeichnet. Und auch für Anderschs Efraim ist die Solidarität angesichts der Bedrohung das einzige Band der Zuge­hörigkeit zum jüdischen Volk: „Ich liebe die Juden, weil sie verfolgt werden.“ (114) Efraim, der sich „nirgends so zuhause fühlt wie auf den Rolltreppen der Londoner Untergrundbahnhöfe,“ (81) spiegelt sich hier in dem, was bei Améry der existentielle und zugleich historisch gewordene Zu­stand der Fremdheit ist: „Ohne Weltvertrauen stehe ich als Jude fremd und allein gegen meine Umge­bung, und was ich tun kann, ist nur die Einrichtung in der Fremdheit. Ich muß das Fremdsein als ein Wesenselement meiner Persönlichkeit auf mich nehmen, auf ihm beharren wie auf einem unveräußerlichen Besitz.“68 Hier zeigt sich, warum sich für Andersch gerade Amérys Diskurs über Jüdischsein so sehr an­bot. Amérys Fremdheit als Jude ist eine doppelte. Zum einen besteht diese Fremdheit des Ichs gegenüber einer judenfeindlichen Welt, die ihn, in Adaption der Sartreschen Thesen, zum Juden ‚gemacht‘ hat, zum zweiten ist diese Fremdheit aber auch wirksam gegenüber den jüdischen Juden religiöser oder zionistischer Prägung. Jüdischkeit bleibt für Améry eine Leerstelle, und hierin ist sein Jüdischsein nicht nur individualistisch, sondern zugleich auch repräsentativ für eine ganze Generation deutsch-jüdischer Intellektueller. Eine Leerstelle, die es im Hinblick auf die eigene Person schmerzhaft auszuhalten gilt, die es um­gekehrt einem nichtjüdischen deutschen Intellektuellen aber auch ermöglicht, sie in Form eines Rollenspiels zu besetzen und sich im Sinne einer universalistisch gedeuteten Heimatlosigkeit mit dem Fremdheitsgefühl des Jüdischseins zu identifizieren. Efraim, „allein wartend und wachend in seinem Exil“, konnte also, bildlich gesprochen, ein Zimmer beziehen, das ein anderer schon eingerichtet hatte. Jene klar umrissene und historisch begründete Entgegensetzung von Deutschen und Juden, die Améry in seinen Essays vornimmt, wird von Andersch auf literarischer Ebene wieder verwischt, Schicksal und Zufall werden, darauf hatte Ruth Klüger ja schon hingewiesen, als Begründungszu­sammenhänge der Judenverfolgung zu austauschbaren Größen. Warum aber weicht Andersch auf diese Weise einer wirklichen Auseinandersetzung aus, während er doch zugleich als einer der wenigen Nachkriegsautoren die Judenverfolgung explizit themati­siert und zum Zentrum der Verbrechen des 68 Améry 1977, S. 149.

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Nationalsozialismus erklärt? Mehrere Ant­worten sind denkbar. Selbstentlastung ist, folgt man den bereits zitierten Stimmen der Forschung, die sich eingehend mit Andersch und seinem Werk auseinandergesetzt haben, sicherlich eines der naheliegenden Motive. Diese Frage schlägt aber auch den Bogen zurück zur Ausgangsfrage: Zu wem wird hier eigentlich gesprochen? Améry spricht zu ‚den Deutschen‘. So heißt es im Vorwort zur ersten Ausgabe: Ich wende mich in diesem Buch nicht an meine Schicksalsgefährten. Sie wissen Bescheid. […] Den Deut­schen freilich, die in ihrer sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reiches würde ich gern hier manches erzählen, was ihnen vordem vielleicht noch nicht eröffnet wurde.69

Was Améry hier sucht und versucht, ist tatsächlich ein deutsch-jüdisches Gespräch. „Er konfrontiert“, so Gerhard Scheit, „den Leser in der ersten Person Singular mit jener ersten Person Plural, die zwischen 1933 und 1945 als Herrenrasse und Staatsvolk firmierte“:70 Wohl wis­send allerdings, wie schwierig es um die Möglichkeiten eines wirklichen ‚Gespräches‘ bestellt ist. 1977, im Jahr der Neuauflage von Jenseits von Schuld und Sühne, schrieb Améry den Aufsatz Sprache des Menschen, in dem es heißt: „’Das gute Gespräch’“, eine Formel, die vor ein paar Jahren noch stark in Umlauf war, scheint ein Mythos zu sein; denn ‚gut‘ im Sinne des Humanen sind die Gespräche längst nicht mehr.“71 Und er beschließt seine Überlegungen mit dem Fazit, dass „Humanismus und Sprache in eins fallen müssten, wenn beide gedeihen sollen“.72 Améry stellt hier eine hohe Anforderung an seine deutschen Leser, wenn er ver­langt, dass sich ihre Verdrängung in Selbstmisstrauen verwandelt.73 Dass gerade auch die Dringlich­keit des letzteren nicht verjährt, kommt im Vorwort der Neuausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne Ende der siebziger Jahre zum Ausdruck. Eine Zeit, die ja auch von der Forschung als eine neue Phase der Enttabuisierung hinsichtlich der Rede über Juden bezeichnet wurde:

69 Ebd., S. 17. 70 Scheit 1998, S. 309 sowie Jan Philipp Reemtsma: „Wieviel Selbstsicherheit; Subjektgewißheit liegt in dieser Stimme, die doch vom absoluten Verlust der Selbstsicherheit, Subjektgewißheit berichtet.“ Jan Philipp Reemtsma, Vom paradoxen Gebrauch des Ich in: „172364. Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry“, in: konkret, H. 1 (1993), S. 46–53. 71 Améry, Sprache des Menschen, in: ders., Aufsätze zur Philosophie. Gesammelte Werke Bd. 6, hrsg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2004, S. 512. 72 Ebd., S. 548. 73 Jean Améry, Ressentiments, in: Améry 1977, S. 124.

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Als ich an die Niederschrift ging, sie beendete, gab es in Deutschland keinen Antisemitismus, richtiger: wo es ihn gab, dort wagte er sich nicht hervor. Man schwieg die Sache mit den Juden tot oder rettete sich gar in einen aufdringlichen Philosemitismus […] Das Blatt hat sich gewendet. Keck erhebt ein altneuer Antisemi­tismus wieder sein widriges Haupt, ohne daß er Empörung hervorriefe – […] Es geht mir darum, daß die Ju­gend Deutschlands – die bildsame, wesenhaft generöse und nach Utopia strebende, also die linke – nicht unversehens hinübergleite zu jenen, die ihre Feinde sind so gut wie die meinen. Es reden diese jungen Leute mit allzu geschwindem Munde vom „Faschismus“. Und sie sehen nicht ein, daß sie da über die Realität nur Raster schlecht durchdachter Ideologien legen, daß diese dringend der Verbesserung bedürftige Wirklichkeit der BRD zwar empörende Ungerechtigkeiten genug in sich birgt […], daß sie aber darum nicht faschistisch ist.74

Das, was bei Améry also dem Diskurs nach ein Streitgespräch ist, in dessen Rahmen das redende Ich sich aussetzt und seinem Gegenüber sichtbar wird, gerät in Efraim zu einem defätistischen Selbstgespräch. Der Skrupelhaftigkeit hinsichtlich der Möglichkeit von Mitteilung bei Améry („Wer seinen Körperschmerz mit-teilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen“),75 steht in Andersch die Selbstsicherheit eines Auftragsschreibers gegen den Faschismus gegenüber, der Texte ‚auf Bestellung‘ anfertigt. In der Figur Georg Efraims und der Person Jean Amérys sprechen folglich zwei Nicht-Nichtjuden. Der eine, Améry, spricht in seinen Texten zu den Deutschen, der andere, Andersch, spricht in erster Linie zu sich selbst. Anderschs Efraim ist daher weniger als Antwort denn als Reaktion auf Amérys Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, zu verstehen. Dies erklärt auch, warum Amérys Lob in Bezug auf Efraim so allgemein gehalten aus­fällt: „Es ist ein Buch über die Schwierigkeiten des Lebens und Schreibens in dieser Zeit“, äußert sich Améry und deutlicher: „Efraims ‚Rückzug zu sich selbst‘, sein Privatismus ist eine Absage an die Politik. […] Inwieweit freilich jede solche Absage am Ende so etwas wie eine Zu- oder Ja-Sage zur bestehenden Ordnung wird, ist ein weites Fragefeld.“76 Améry fühlte sich trotz weltanschauli­ cher Gemeinsamkeiten von Anderschs Judenbild nicht angesprochen. Und dennoch treffen sich Améry und Andersch gewissermaßen wieder im Wort, genauer gesagt in der Sensibilität für die Geschichte seines Missbrauchs. Denn das Wort, so hatte es Améry in Anspielung auf Karl Krauss („das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“) sehr prägnant formu­liert: „Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt.“ 77 Infolgedessen war für Anderschs Efraim die Ausrottung der Juden nicht nur „Vernichtung von 6 Millionen Seelen, 74 75 76 77

Améry 1977, S. 11. Jean Améry, Die Tortur, in: ebd., S. 62. Améry, in: Haffmans 1980, S. 124–126. Améry 1977, S. 45.

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sondern ganz nebenbei auch (die Vernichtung) der Sprache der Überlebenden. Die Sprache hat den bösen Blick bekommen“. (210) Von der Forschung wird der Ich-Erzähler Georg Efraim überwiegend mit der Autorstimme in Einklang gebracht. Aber wie auch immer man dieses Verhältnis bewerten will, am Authentischsten ist der Nicht-Nichtjude Efraim dort, wo Andersch diesen als einen der ersten Helden der Nachkriegsliteratur überhaupt den deutschen Diskurs der Sprachlosigkeit gegenüber den Juden zur Sprache bringen lässt, und damit das von den Nationalsozialisten verübte Verbre­chen an der Sprache selbst, wenn er Georg sagen lässt: Es fällt mir besonders angenehm auf, daß Anna das Wort Jude ganz natürlich ausspricht. Ich habe heraus­gefunden, daß es von Deutschen meistens ganz falsch ausgesprochen wird: mit etwas belegter Stimme, als handle es sich um Ungehöriges. So, als müßten sie sich einen kleinen Ruck geben, ehe sie das Wort ausspre­chen. Es klingt immer so, wie wenn ein Prüder das Wort nackt in den Mund nimmt. Das Verhältnis dieser Leute zu uns hat ja auch wirklich etwas Obszönes angenommen. (101)

„Das Wort Jude ‚ganz natürlich‘ auszusprechen, wie Anna in ‚Efraim’“, ist dann auch für Klaus Briegleb, „der namensymbolische Schlüssel zum ‚Gespräch‘ nach der Shoah“.78 Andersch tritt mit Efraim also ganz bewusst in den Raum eines deutsch-jüdischen Gesprächs ein und setzt sich mit dem klaren Verweis auf Amérys Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein zudem einem kriti­schen Hinterfragen der eigenen bzw. der in Efraim durchgespielten Aussagen und Positionen aus. „Zu wissen und auszuhalten was war, damit etwas anderes sein kann“ – was diese For­derung Scholems und Arendts anbelangt, mag Andersch mehr das Wissen, als das Aushalten die­ses Wissens gelingen. Aber auch wenn diejenigen Stimmen in der Forschung wie Klüger, Heidelberger-Leonard, Müller und Schmelzkopf Recht haben sollten mit der Behauptung, Efraim diene hauptsächlich einer Entlastung des Lesers, so ist Andersch seine persönliche Betrof­fenheit doch nicht abzusprechen. Und zwar eine, die nichts mit dem neuerdings so abwertend gebrauchten Schlagwort der ‚Betroffenheitsliteratur‘ zu tun hat. In dieser Betroffenheit, die Anderschs Schreib-

78 Briegleb, Vergangenheit in der Gegenwart, in: Gegenwartsliteratur seit 1968, hrsg. v. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, München, Wien 1992, S. 73–116, hier S. 93. Heidelberger-Leonard konstatiert Efraim diesbezüglich immerhin eine „action secondaire“, in Rekurs auf Sartre: Qu’est–ce que la littérature? Editions Gallimard, 1948: „Ainsi le prosateur est un homme qui a choisi un certain mode d’action secondaire qu’on pourrait nommer l’action secondaire qu’on pourrait nommer l’action par dévoilement, S. 29f. Der thematisierte Rückzug aus der Gesellschaft heißt bei Andersch laut Heidelberger-Leonard also nicht Billigung des Status quo, sondern Sprachkritik. Heidelberger-Leonard 1994, S. 53.

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bewegungen von den Kirschen der Freiheit, über Sansibar, oder der letzte Grund bis Efraim kennzeichnet, hat er, mit Améry, der Welt wirklich etwas zu sagen. Wie aber sieht es heute aus? Gibt es gegenwärtig und insbesondere seit der Wiederentdeckung Jean Amérys um die Jahrtausendwende79 das, was zu Efraims Zeiten als ein deutscher Diskurs über Jüdischsein noch nicht gelingen konnte, nämlich eine Literatur des Selbst­misstrauens? Ist in der Literatur der letzten Jahre etwas von dem zu spüren, was Ruth Beckermann, Autorin und Filmemacherin für ihr eigenes künstlerisches Schaffen sagte: „Améry war kein Lehrmeister, sondern einer jener viel bedeutsameren Figuren, die einem den Rahmen für das eigene Leben und Denken schaffen.“80 Auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein. Die Erzähler deutsch-jüdischer Geschichten aber mussten nach Auschwitz für lange Zeit eine Sprache finden, die nicht nur durch die „tausend Finsternisse todbringender Rede,“81 sondern auch durch eine zweifache Antwortlosigkeit hindurchgehen musste – die der Toten und die der Lebenden.

II. 2. „1945“ – Die Sprache ging hindurch, trotz allem. Jüdische Diskurse Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem. [Paul Celan, Bremer Rede 1958]82

Durch das Schweigen hindurchgehen – mit dieser Formel lässt sich nicht nur Celans eigene Poetik be­schreiben, sie führt auch ins Zentrum dessen, was als ‚jüdischer Diskurs‘ nach 1945 bezeichnet werden kann. War die deutsche Literatur, die Anspruch auf Weltgeltung erheben konnte, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts noch wesentlich von jüdischen Autoren geprägt worden – zu denken ist hier etwa an Franz Kafka und Alfred Döblin, Stefan 79 Dazu Jürg Altwegg, Der Eingemauerte. Jean Améry in einer Biographie von Irene Heidelberger-Leonard, in: FAZ vom 8. Mai 2004, S. 46. 80 Scheit 1998, S. 312. 81 Paul Celan, Rede anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958, hier zitiert nach John Felstiner, Paul Celan. Eine Biographie, dt. München 1997, S. 157. 82 Paul Celan, Bremer-Rede, zitiert nach: Felstiner 1997, ebd., S. 157.

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und Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Isaac F. Singer, Else Lasker-Schüler, Arthur Schnitzler und Joseph Roth – so fanden sich Autorinnen und Autoren mit jüdischem Selbstverständnis im deutschen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit, nicht zuletzt aufgrund ihrer Nichtteilhabe an den deutschen Kollektiverfahrungen zwischen 1933 und 1945 sowie ihrer gegenläufigen Erinnerung an die jüngste Geschichte, in der Position des ‚Anderen‘ wieder. Zwei zentrale Aspekte des dezidiert jüdischen Diskurses nach 1945 sollen im Folgenden kurz referiert werden: Erstens die Analogisierung von jüdischem Diskurs und Holocaust-Literatur, und zweitens das Erzählen als Zeugenschaft.

2.1. Bezeugen, Entleeren Durch das Schweigen hindurchgehen – der jüdische Diskurs in der deutschen Literatur der Nach­kriegszeit zielte von seiner Gegenstandsbezogenheit her auf die „allereigenste Enge,“83 deren „Finsternis“ die Vernichtung des europäischen Judentums und damit verbunden: das Verstummen jüdischer Stimmen darstellte. Darüber hinaus kann er aber auch als eine Schreibbe­wegung verstanden werden, die sich explizit gegen jenen deutschen Diskurs der Sprachlosigkeit richtete, der im deutschsprachigen Raum vorherrschte. Dem ‚jüdischen Diskurs‘ als der ‚anderen Rede‘ käme demnach die Eigenschaft eines Gegendiskurses zu. In der Tat war das Sprechen über die jüngste deutsch-jüdische Geschichte, das heißt, die Thematisierung der Shoah, von vornherein nicht nur mit der Frage ihrer Darstellbarkeit verbun­den, sondern, viel eklatanter, mit der Frage nach der Legitimität einer solchen Rede überhaupt. Adornos berühmter und diskursbildender Satz „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch …“, der ja als Akt eines kritischen Gegen-sich-selbst-Denkens auch vor der eigenen Aussage nicht halt macht („… und das frißt noch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“),84 dieser Satz hat selbst einen diskursgeschichtli­chen Hintergrund, ohne den seine Wirkung nicht wirklich zu verstehen ist. So weist etwa Burkhardt Lindner zu Recht darauf hin, dass es Adornos Verdienst gewesen sei, dem zeitgenössischen deutschen Literaturbetrieb, der ja auf Kahlschlag-Periode und Stunde Null eingestellt war, Auschwitz als geschichtliche Zäsur geradezu ‚einzubläuen‘.85 Der Kontext, in dem Adorno seinen Satz erstmals prägte, ist also durchaus bedeutsam: Dies war 1953, in einem Essay 83 Celan greift in der Meridian-Rede mit der „Enge“ zugleich das hebräische zar = schwarz und, damit verbunden, mit mitzarjim = Stätte der Bedrückung, in welche sich die Sprache begeben soll, um sich von dort freizusetzen, das frühere Bild des aus der Tiefe und Finsternis „Zutagetretens“ der Sprache wieder auf. 84 Theodor W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1963, S. 26. 85 Burkhardt Lindner, Adornos Datum. Was heißt: nach Auschwitz?, in: Braese, Gehle 1998, S. 284f.

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über Engagement. Doch gerade am herrschenden Diskurs der frühen fünfziger Jahre hat Adorno, wenn auch nicht vorbeigedacht, so doch vorbeigeredet. Grundvoraussetzung für ein Engagement des Denkens im Sinne Adornos wäre ein intellektu­elles Nachkriegsklima gewesen, in dem nicht nur eine universale und damit ins Beliebige driftende Ideologiekritik, sondern auch eine Praxis der kritischen Selbsthinterfragung; eine Literatur des Selbstmisstrauens möglich gewesen wäre. Dafür aber waren die mit dem verlorenen Krieg verbundenen Schuld- und Verlust-Traumata noch zu präsent. So musste Adornos Satz, der das Schreiben nach Auschwitz betraf, in erster Linie als Verdikt eines Schrei­bens über Auschwitz verstanden werden. Als ein solcher aber fügte er sich nahtlos ein in die Dis­kurse des tätigen Schweigens, die ‚das Unaussprechliche‘ und ‚das Unsagbare‘ als Denk- und Leerformeln den ästhetischen Versuchen eines Sprechens über die Shoah entgegenhielten, wobei die Kritiken oftmals auch eine moralische Komponente enthielten. Exemplarisch kommt dies in der Kritik Reinhard Baumgarts von Celans Todesfuge zum Ausdruck, in der er die Frage stellt, ob das Gedicht „durchkomponiert in raffinierter Partitur – […] nicht schon zuviel Genuß an Kunst, an der durch sie wieder ‚schön‘ gewordenen Verzweiflung beweise“.86 Dieter Lamping kommentiert dies folgendermaßen: Ob die poetischen Darstellungen des Holocaust künstlerisch gelingen oder mißlingen – den Kritikern sind sie gleichermaßen verdächtig. Gelingen sie, müssen sie mit dem Vorwurf rechnen, aus dem Schrecklichen ästhetisch Kapital geschlagen zu haben. Mißlingen sie jedoch, ziehen sie den Vorwurf auf sich, zwar gut gemeint, aber ihrem Gegenstand nicht gewachsen zu sein.87

Es herrschte also durchaus die Vorstellung von einer ‚angemessenen‘ HolocaustLiteratur, wie dies etwa eine Aussage Gert Mattenklotts spiegelt: „Angemessen wäre 1945 wohl eine äußerste Ausnüchterung der poetischen Sprache gewesen.“88 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weswegen Adorno in seiner Negativen Dialektik eine derartige Selbstverständlichkeit wie: „Das perennierende Leid hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen“ explizit nachtragen musste. Zugleich wirkt diese Erklärung wie ein Eingeständnis in die Verfehltheit seiner Rede: „Deswegen mag es falsch gewesen zu sein, zu sagen, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben.“89 86 Reinhard Baumgart, Unmenschlichkeit beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur. In: Merkur 19 (1965), S. 37–50, hier S. 49. 87 Lamping 1998, S. 99. 88 Gert Mattenklott, Zur Darstellung der Shoah in der deutschen Nachkriegsliteratur, in: Jüdischer Almanach 1993 des Leo Baeck Instituts, hrsg. von Jakob Hessing, Frankfurt am Main 1992, S. 26–34, hier S. 31. 89 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1982, S. 355.

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Die Legitimationsfrage ist also nicht allein aufgrund ihrer anhaltenden Wirksamkeit so bemer­kenswert, vielmehr ist ihr Aufkommen an sich ein Phänomen, da sie im Grunde bereits beant­wortet war, bevor sie überhaupt gestellt wurde. So gab es mit Nelly Sachs Gedichtzyklus In den Wohnungen des Todes (1947) oder eben mit Celans Todesfuge (1948) seitens der Betroffenen schon früh Dichtung über den Holocaust von unbestreitbar großem literarischem Format. In der Tat: Statt die Literatur an Adornos Satz zu messen, hätte der literarische Betrieb Adornos Satz an der Literatur messen müssen. Hilde Domin hat diesbezüglich treffend bemerkt: „Noch ehe der fatale Satz formuliert war, war er schon von großen Dichtern widerlegt.“90 War die Auslegung von Adornos Satz somit auch weniger ein Problem der Literatur selbst, als vielmehr eines der Theorie und Kritik, so hatte sein Darstellungs-Verdikt jedoch, insbesondere aufgrund der daraus abgeleiteten moralischethischen Implikationen, konkrete Auswirkungen auf die Frage, wer denn eigentlich befugt war, über den Holocaust zu sprechen.91 Damit kam derjenigen literari­schen Rede, die durch persönliche Betroffenheit legitimiert war, der man mit Adorno also zu­mindest das „Recht“ auf Ausdruck zusprach, ein doppeltes Gewicht zu. Worin im Übrigen ein zusätzlicher Erklärungsansatz für die weitestgehende Verdrängung des Holocaust aus dem deutschen Diskurs der Nachkriegsliteratur zu finden ist. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die sogenannte Holocaust-Literatur, die im Gegensatz zum allgemeineren „Genre“ der KZ-Literatur die spezifisch jüdischen Leid- und Todeserfahrungen, das heißt, die Verfolgung und Vernichtung der deutschen und europäischen Juden durch die Na­tionalsozialisten zum Thema hat, wurde ab Mitte der sechziger Jahre, also nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt, punktuell auch immer wieder aus der deutschen ‚Fremdperspektive‘ mitgestaltet, wie etwa in Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Die Verschwundenen (1964), das Nelly Sachs gewidmet ist, oder in dem umstrittenen Drama Der Stellvertreter (1963) von Rolf Hochhuth, in dem hier besprochenen Roman Efraim (1967) von Alfred Andersch sowie in den Werken von Wolfdietrich Schnurre, insbesondere in seinem Roman Ein Unglücksfall (1981), und dem Gedicht Die Befragung des Kalks. Die eigene deutsche Perspektive von Schuld und Verdrängung der Judenvernichtung wird dabei von den Autoren mitreflektiert oder gar ins Zentrum der poetischen Arbeit gestellt. Zu dieser Zeit, also mehr als zwei Jahrzehnte nach 90 Hilde Domin, Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1987/88, München, Zürich, 2. Aufl. 1992, S. 23. 91 Dafür spricht etwa auch Koeppens Strategie, seinen Text: „Jakob Littner, Aufzeichnungen aus einem Erdloch“, der aus der Perspektive eines Juden erzählt ist, 1948 zunächst einmal unter einem jüdischen Pseudonym herauszubringen. Erst 1992 erschien der Roman dann unter seinem eigenen Namen bei Suhrkamp.

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Kriegsende, war die Kanonbildung dessen, was unter Holocaust-Literatur zu verstehen sei, jedoch schon abgeschlossen. Das bedeutete nicht, dass jener Textkorpus nicht immer wieder um einschlägige und diskursfördernde Werke erweitert worden wäre, ganz im Gegenteil. Allen voran sind hier für den Bereich der deutschsprachigen Literatur Die Ermittlung von Peter Weiss (1965), Nacht von Edgar Hilsenrath (1970) sowie die autobiographischen Werke von Primo Levi (Ist das ein Mensch? dt. 1961), Jean Améry (Jenseits von Schuld und Sühne, 1966) Victor Klemperer (Tagebücher 1933–1945, 1995) und Ruth Klüger (weiter leben, 1992) zu nennen. Das einem breiteren Leserpublikum vermittelte und verinnerlichte Wissen um das Vorhandensein genau dieser Werke bestätigt aber den Diskurs, der mit der Lyrik Nelly Sachs und Paul Celans sowie dem weltberühmten Tagebuch der Anne Frank (posthum; 1947) in den ersten Jahren nach Kriegsende begann: Die Holocaust-Literatur wird von jüdischen Autorinnen und Autoren verfasst, und zwar aus einer Perspektive der unmittelbaren Betroffenheit von dem Geschehenen als Juden. So naheliegend diese Entwicklung auch sein mag, so stellt sich dennoch die Frage nach den Folgen einer solchen Kanonbildung. Eine davon ist der Umstand, dass die deutschsprachige Holocaust-Literatur zu einem jüdischen Diskurs wird. Überspitzt gesagt be­deutet dies: Der Holocaust ist eine Sache der Juden, ein rein jüdisches Thema. Die poetische Repräsentation des Holocaust bewegte sich nach herrschender Auffassung der Kritiker und Theoretiker des deutschen Kulturbetriebs stets am Rande der Aporie und damit entlang der Sprachohnmacht. Auf Ebene der Forschungsdiskurse fand diese Haltung bald ihre Entsprechung in den Formeln von der „Literatur des Unaussprechlichen“ bzw. von der „Sprache der Stummen“.92 Formeln, von denen Sander Gilman zu Recht behauptete, in ihnen bliebe der althergebrachte Mythos von der verborgenen Sprache der Juden im Grunde weiterhin wirksam,93 wenngleich die betreffenden Kommentare sicherlich eine gegenteilige Absicht verfolgt ha­ben. Dennoch kommen Aussagen, die in Bezug auf die jüdischen (Leid-)Erfahrungen mit para­doxalen Formeln wie ‚das Unaussprechliche‘ oder ‚das Unsagbare‘ operieren, eigentlich einem Schweigegebot gleich. „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun 92 Stellvertretend für die elaborierteren Werke, die eine Ästhetik der Undarstellbarkeit betonen, siehe Georg Christoph Tholen, Elisabeth Weber (Hrsg.), Das Vergessen(e): Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997 sowie Sarah Kofman, Erstickte Worte, dt. Wien 1988 (orig. Parole suffoquées, Paris 1987). 93 Gilman 1993, S. 38: „Nachdem die europäischen Juden beinahe vollständig ausgerottet worden waren, zwang man den Überlebenden neuerlich eine bestimmte Sprache auf, ebenso widersprüchlich wie alle früheren Behauptungen über die Sprache der Juden: die Sprache des Schweigens, das auf Auschwitz folgte.“

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hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“ – Celans Bremer Rede liest sich hier wie eine kommentierende Antwort. 2.1.1. Paul Celans „Todesfuge“

Durch das Schweigen hindurchgehen bezeichnet also einen jüdischen Diskurs, der den Verstummten gedenkt, ohne selbst zu verstummen. Im Gegenteil, in seiner Büchner-Preis-Rede, in der Celan seine poetologische Position weiter ausbaut, entwirft er einen Meridian, einen Stimmkreis beste­hend aus jüdischen Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftlern der Vergangenheit und Gegenwart, deren Gedanken und Worte er mit den seinen zusammenbindet, um der geschicht­ lich gewaltsam herbeigeführten Sprachlosigkeit eine Stimmenvielfalt entgegenzusetzen. Celans Denkbild von der angereicherten Sprache, das er bereits in der Bremer Rede entwickelte, ge­winnt durch dieses Verfahren eine weitere Tiefendimension. Die zahlreichen jüdischen Stimmen bilden einen Diskursraum, der sich statt an den Rändern der deutschen Kultur durch deren Mitte und, im Eingedenken an die Shoah, auch durch deren Tiefe hindurch bewegt, durch die „tausend Finsternisse todbringende(r) Rede“. Die Sprache, die auf diese Weise wieder „zutage tritt“, ist damit alles andere als ohnmächtige Totenklage, sie ist vielmehr Substrat. Es ist also eine avantgardistische Position, die Celan für den deutschsprachigen jüdischen Diskurs hier behauptet. Ähnlich argumentiert auch Dieter Lamping in seiner Mono­graphie Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts: Wie kein anderer jüdischer Dichter des 20. Jahrhunderts nach Kafka ist es Celan gelungen, die jüdische Lite­ratur zur Avantgarde der deutschen Literatur zu machen. Im Unterschied zu Kafka aber hat er dies mit ei­nem dezidiert jüdischen Werk erreicht. Der jüdische Diskurs, bei Kafka noch in Tagebüchern und Briefen geführt, konstituiert Celans Lyrik: er ist Dichtung geworden. Dieser Wandel des jüdischen Diskurses ver­weist auf die Bedeutung, die der Erfahrung des Holocaust in der jüdischen Literatur zukommt. […] Indem sie [Celans „Todesfuge“] der Ermordeten gedenkt, gestaltet sie jedoch die „Identität der sich erinnernden Personen“ neu – als eine säkulare jüdische Identität, die von der Erkenntnis geprägt ist, daß die Shoah „die absolute und radikale Referenz für jede jüdische Existenz“ (Robert Misrahi) nach 1945 darstellt. In dieser Erkenntnis ist eine grundsätzliche Differenz zu deutscher Kultur impliziert – und in der Rede von dem „Meister aus Deutschland“ und in den Oppositionen von Sulamith und Margarete, von ‚aschenem‘ und ‚goldenem Haar‘, von dem „Mann“ und „seine[n] Juden“ ist sie in Celans Gedicht auch explizit. Diese Differenz ist radikal. Sie zeigt eine

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scharfe Wendung des jüdischen Diskurses in der deutschen Literatur an, der 30 Jahre zuvor in den Tagebüchern Kafkas begann. Was bei Kafka als Suche eines deutschsprachigen Schriftstellers nach einer jüdischen Identität anfing, endet bei Celan als eine Definition jüdischer Identität in Opposition zu der Kultur der deutschen Mörder. War für den jüdischen Diskurs Kafkas der Gegensatz zwischen Ost- und Westjuden konstitutiv, so ist es bei Celan der zwischen Juden und Deutschen.94

Celan hat aber nicht nur den jüdischen Diskurs in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 mitbegründet. Gerade am berühmten, frühen Beispiel der Todesfuge lässt sich über die Thematisie­rung des Holocaust aus jüdischer Sprecherperspektive hinaus die Anverwandlung dezidiert jüdi­scher Literaturformen, Traditionen und Sprechweisen, so etwa des Psalms, des Kaddischs (der chorischen Totenklage) und der Liturgie, insbesondere aber des Hoheliedes nachzeichnen.95 Damit aber leistet die Todesfuge zugleich eine poetische Dokumentation dessen, was Jüdischkeit nach der Shoah im Raum des Fiktiven ist: Das augenfälligste Textsignal ist der Name „Sulamith“. Celan zitiert in der Anrufung Sulamiths, der schönen Geliebten Salomons aus dem Hohelied, nämlich nicht nur die jüdischhebräische, sondern auch die deutsch-jüdische Literaturtradition. Die moderne Verbindung von Liebe und Tod, vereinigt in der Figur der geliebten Sulamith, findet sich etwa in Heinrich Heines Gedicht Salomo im Romanzero („ O Sulamith! Das Reich ist mein Erbe, / […] Doch liebst du mich nicht, so welk’ ich und sterbe.“),96 in Else Lasker-Schülers Gedicht Sulamith aus Styx, der auch das be94 Lamping 1998, S. 112. Lamping zitiert den französischen Philosophen Robert Misrahi hier aus indirekter Quelle, nämlich nach Jean Amérys Jenseits von Schuld und Sühne, siehe Améry 1977, S. 145. 95 Zur chorischen Sprechweise der Todesfuge sowie zu den liturgischen Elementen der CelanGedichte als fundamentale Kriterien jüdischer Literatur siehe Cynthia Ozick: „Liturgy is […] meant not to have only a private voice. Liturgie is a choral voice, a communal voice.“ In: Dies., Towards a new Yiddish, Indianapolis 1992, S. 169. Siehe auch Peter Szondi, Celan-Studien, Frankfurt 1972; Peter Horst Neumann, Zur Lyrik Paul Celans. Eine Einführung, Göttingen 2. erw. Aufl. 1990, S. 98 sowie Amy Colin, Paul Celan – Holograms of darkness, Bloomington, Indianapolis 1991. John Felstiner wiederum bezeichnet in seiner Celan-Werkbiographie die jüdische Literatur in der Diaspora als solche als „liturgisch“. In Celans „Todesfuge“ sei gerade das chorische Sprechen, welches typisch für die jüdische Totenklage sei, elementar. Zum Hohelied: Theo Buck, Muttersprache, Mördersprache, Aachen 1993 sowie noch einmal Lamping 1998. Der deutsche Name „Hohelied“ stammt aus der Luther-Bibelübersetzung. Seine ursprüngliche Bezeichnung lautete: „Lied der Lieder“ für eine Sammlung von etwa dreißig kurzen, kunstvollen Liebesliedern, die auf König Salomo zurückgehen. Diese wurden später in der Mystik des Mittelalters auch als Liebe zwischen der Braut-Seele und Gott bzw. zwischen Gott und seinem Volk Israel gedeutet. 96 Heinrich Heine, Romanzero. Und autobiographische Spätschriften, Werke 5, Köln 1995, S. 124.

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rühmte Oxymoron der „schwarzen Milch“ entnommen ist sowie in Abraham Goldfadens Drama Sulamith, ein Werk, das bereits von Kafka ausführlich besprochen wurde. Des Weiteren steht die Figur der Sulamith als Allegorie für das jüdische Volk. „Sulamith ist die Nation“, heißt es etwa im Midrasch Schir Ha-Schirim, einem der Auslegungsbü­cher alttestamentarischer Schriften.97 Doch nicht nur durch die Anrufung der Sulamith stellt sich eine unmittelbare Verbindung zum alttestamentarischen Hohelied her. Die gesamte Motivkette über den Tanz (Hohelied 7,1), die Milch (4,11; 5,1) das Gold (1,11; 5,11; 5,14), das Haar (4,1; 5,5; 7,6) und das Trinken ist diesem „Lied der Lieder“ entnommen. So heißt es dort etwa: „trinke meinen Wein samt meiner Milch“ (5,1) oder: „In das Weinhaus hat er mich geführt. / Sein Zeichen über mir heißt Liebe“ (2,4); „Denn süß ist deine Stimme, lieblich dein Gesicht“ (2,14) und „Wer ist sie, / die da aus der Steppe heraufsteigt / in Säulen von Rauch, umwölkt von Myrrhe und Weihrauch“(3,6). Dagegen lesen sich die korrespondierenden Verse in Celans Todesfuge wie deren negative Kontra­faktur: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts / wir trinken dich mittags und mor­gens wir trinken dich abends / wir trinken und trinken / ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen / Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus / Deutschland / er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch / in die Luft“98 Das Hohelied dient der Todesfuge aber nicht nur als literarische Bezugsquelle. Die Radikalität von Celans poetischem Verfahren zeigt sich vielmehr darin, dass die Metaphorik der tradierten Vor­lage mittels eigenwilliger Zitiertechnik geradezu eine Pervertierung, ganz im wörtlichen Sinne von ‚verdrehen‘ erfährt: Die Milch wird schwarz, das helle Haar aschen, das Liebeslied zur Toten­klage, der Reigen zum Totentanz. Am deutlichsten zeigt sich die poetische Radikalität der Todes­fuge im indirekten Verweis auf die zynische Realisierung, die der folgende Satz aus dem Hohelied durch die Historizität der Shoah erfährt: „Was wollt ihr an Schulammit sehen? / Den Lager-Tanz!“ (7,1). Celans poetische Dekonstruktion, wie sie die Todesfuge am Beispiel des Umgangs mit dem Hohelied als tradiertem Kulturgut dokumentiert, lässt sich daher als eine Schreibfigur interpretieren, die einen Vorgang des Entleerens vorführt und dadurch die Jüdisch­keit als Leerstelle im Raum des Fiktionalen bezeugt. Celans jüdischer Diskurs, den Dieter Lamping im ‚Gegenüber‘ zur deutschen Kultur verortet, wird in seiner Radikalität und Authentizität folglich nur dann verständlich, 97 „Midrasch“ bedeutet die Auslegung alttestamentarischer Bücher. Nachweis und Erläuterung, siehe auch Sigmund Salfeld, Das Hohelied Salomos bei den jüdischen Erklärern des Mittelalters. Nebst einem Anhange: Erklärungsproben aus Handschriften, Berlin 1879. Auf diese Quelle beruft sich auch Lamping, siehe Lamping 1998, S. 108. 98 Paul Celan, Todesfuge, in: Paul Celan. Gedichte in zwei Bänden, Erster Band, 12. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 41.

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wenn in dieser Ge­genüberstellung, und zwar konsequenter als bei Scholem, der Barbarisierungsmoment von Kultur schlechthin mitgedacht wird. Eine Kultur, für die, ganz im Sinne Adornos, Auschwitz die radikale Referenz darstellt. Nicht gegen die deutsche Kultur ist die Todesfuge im Besonderen und Celans Lyrik im Allgemeinen also konzipiert, sondern aus deren Mitte heraus. Eine kulturelle Mitte, die nach Auschwitz gleichwohl eine beschädigte ist. In den Denkbildern der Bremer Rede formuliert müsste es heißen, der jüdische Diskurs gewinnt gerade dadurch seine Authentizität, dass er aus der Tiefe „todbringender Rede“ (Celan), die nach Auschwitz die gesamte Habe an Kultur, Sprache und Bildern „anfrisst“ (Adorno), wieder zutage tritt. Auf diese Unbedingtheit hin wurde die Todesfuge allerdings nur selten gelesen. Im Gegenteil: Ihre Rezeption bekam, so Lamping, etwas Notorisches.99 Dies lässt sich nicht nur mit ästhetischen Kriterien, wie zum Beispiel mit der ihr inhärenten Musikalität und Suggestivität allein begründen.100 Es spielt auch der Umstand eine Rolle, dass die Todesfuge, die sozusagen den Gründungstext des Holocaust-Kanons darstellt, wie Celans gesamte Lyrik in Deutschland jahrzehntelang nicht als jüdisch, sondern schlicht als Holocaust-Literatur galt. Die dezidiert jüdische Holocaust-Literatur, die hebräische und jiddische, blieb in Deutschland nahezu unbekannt. Als Bestandteil der deutschen Literatur konnte der jüdische Diskurs so auch die Funktion übernehmen, sich mit dem Holocaust stellvertretend für die gesamte deutsche Literatur auseinanderzusetzen. Die Hinwendung Celans zu den hermetischen, sperrigeren Formen seiner späteren Gedichte, wie sie etwa der Engführung zugrunde liegen, kann auch als eine Reaktion auf die gewissermaßen ‚fraglose‘ Rezeption der Todesfuge verstanden werden, deren professionelle Leser oftmals gegen das Gedicht, jedoch selten mit dem Gedicht Fragen stellten. „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz“101 – Peter Szondis sensible Umdeutung der Adornoschen Formel signalisiert zugleich einen Diskurs­wechsel. Der Umstand nämlich, dass die literarische Rede über den Holocaust schon früh mit dem Verdacht ihrer Unzulänglichkeit konfrontiert wurde, führt zu einem zweiten zentralen Aspekt des jüdischen Diskurses nach 1945: dem Erzählen als Zeugenschaft. Dabei werden die zuvor entwickelten Thesen in Bezug auf die Gerichtsförmigkeit der außerliterarischen Rede zwischen Deutschen und Juden wieder aufgegriffen.

99 Lamping 1998, S. 109–112. 100 Zum problematischen Aspekt der Musikalität von Celans Todesfuge siehe u. a. Felstiner 1997, S. 68f. 101 Szondi 1972, S. 102.

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2.1.2. Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ [E]s gibt keine Tonarten mehr zur Wahl. Nur noch eine. Nein, zwei: Befehl und Schrei. Wer nicht befiehlt oder schreit, ist verstummt. Zeugenschaft geben? Für Wen? Wovon? […] Die falschen Ordnungen sind ein­gesessen, eingesengt: wer sagt, daß sie ausrottbar seien, der irrt. Der kennt sie nicht, die Häscher, die Sbir­ren, Schergen, agentes in rebus und ihre Herren. (Wolfgang Hildesheimer, Masante)

Am Anfang der öffentlichen Rede über die Verbrechen der Deutschen stand ein Prozess. Und dieser Prozess mit seinem spezifischen Regelsystem der verifizierund falsifizierbaren Aussagen, der Koppelung der Glaubwürdigkeit der Rede an den Status der Augenzeugenschaft sowie dem damit verbundenen Diskurs der Wahrheitsfindung, fand Einlass nicht nur in die allgemeinen öffentlichen Reden der Medien über den Holocaust, sondern auch in die literarischen Diskurse. Auf metasprachlicher Ebene spiegelt sich dies in der Forschung wieder, wo es üblich geworden ist, auch hinsichtlich der fiktionalen Werke jüdischer Autoren von ‚Augenzeugenschaft‘ zu sprechen. Ergänzend hinzuzufügen wäre, dass das Kriterium der Augenzeugenschaft ja auch für die deutschen Augenzeugen der Judenverfolgung in Anschlag zu bringen wäre. Die im Kulturbetrieb sich etablierende Frage nach der Legitimation und Angemessenheit der literarischen Redeweisen über den Holocaust weist mit ihren Implikationen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘, ‚glaubhaft‘ und ‚zweifelhaft‘ alle Formen eines gerichts­förmigen Diskurses auf, inklusive der quasi-richterlichen Instanz, die dem Kritiker mit seinem ‚Urteil‘ zukommt. Es wurde bereits mit Dan Diner argumentiert, dass jeder Geschichtsschreibung per se ein Zug ins Rechtfertigende innewohnt, so auch den Narrationen, den Geschichten. Diner hat dabei auch auf die gegensätzliche Perspektivierung hingewiesen, der zufolge Juden sich in der „Perspektive der Monstrosität“ des Geschehenen „am Angemessensten“ gespiegelt sehen, während Deutsche im Hinblick auf den Holocaust gleichsam „auf Fahrlässigkeit plädierten“.102 Jener Rechtfertigungsdiskurs findet sich nun aufgrund von Auschwitz als causa movens in den Narrativen sowohl der deutschen als auch der jüdischen Zeitzeugen in gesteigertem Maße wider. Hinsichtlich der deutschen Diskurse spiegeln das, dies wurde anhand der Judendarstellungen der Nachkriegsliteratur erörtert, die Strategien der Funktionalisierung, Minimierung oder Universalisierung des jüdischen Leidens. Letzteres unter anderem auch in Alfred Anderschs Efraim. Für die jüdischen Diskurse soll an dieser Stelle exemplarisch auf das Werk Wolfgang Hildes­ heimers verwiesen werden. Denn kaum ein Autor hat sich in seinem Schreiben so intensiv mit der Problematik von Zeugenschaft auseinandergesetzt wie Hildes102 Dan Diner, Der Holocaust im Geschichtsnarrativ, in: Braese 1998, S. 13–31, hier S. 20.

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heimer, genauer gesagt mit der Aporie, die dem Sprechakt einer solchen Bezeugung im Raum jener historisch gewordenen Gegeneinanderstellung von Deutschen und Juden innewohnt. Im Jahr 1965 erschien Hildesheimers Tynset, ein erzählmonologisches Meisterwerk über den traumatischen Einbruch der Geschichte in das menschliche Dasein, als einer Geschichte der Ge­walt. Tynset, das der Schriftsteller W. G. Sebald einmal zu Recht als eines der zu Unrecht in Vergessenheit geratenen, großen Werke unserer Zeit bezeichnet hat,103 und das im Jahre seines Erscheinens immerhin noch mit dem Georg-Büchner-Preis bedacht worden war, ist von der zeit­ genössischen Kritik ebenso wie von der Forschung letztlich enthistorisiert worden. Dass der aus dem Exil heimkehrende Hildesheimer als Simultan-Dolmetscher bei den Nürnberger-Kriegsver­brecher-Prozessen tätig gewesen war sowie als Beobachter bei den Auschwitz-Prozessen in Frank­furt, war dem zeitgenössischen Kulturbetrieb zwar bekannt. Dennoch bot Hildesheimers Poetik, die seinen Verfasser als einen der ganz wenigen deutschen Vertreter einer Literatur des Absurden ausweist, genügend Ansatzpunkte, das thematisierte Leiden als eine anthropologische Konstante zu deuten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen dabei zusammen in den ‚Vergeblichen Aufzeichnungen‘ des Melancholikers.104 Das Verhältnis von Absurdität und Historizität wurde erst in den letzten Jahren gründlicher bedacht. Seit Ende der neunziger Jahre gibt es nun vereinzelt Ansätze, insbesondere die Arbeiten von Braese sind hier zu nennen, der Hildesheimers Poetologie explizit als einen Diskurs ‚nach Auschwitz‘ versteht.105 „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Und verzeihen Sie, daß ich nichts anderes schreiben kann.“ – Diesen Satz notierte Wolfgang Hildesheimer 1965 in das Gästebuch einer literarischen Vereinigung in Süddeutschland.106 Er ist Eintrag und poetologi­sches Statement zugleich. Im selben Jahr erscheint Tynset, ein ‚Deutschlandbuch‘ im hier genannten Sinne. Denn 103 W. G. Sebald, Zu Konstruktionen der Trauer – zu Günter Grass‘ ‚Tagebuch einer Schnecke‘ und Wolfgang Hildesheimers ‚Tynset‘, in: DU 5 (1983), S. 45: Tynset, beklagt Sebald, sei „eines der sträflichst vernachlässigten Bücher in der Nachkriegsliteratur“. 104 ‚Vergebliche Aufzeichungen‘ ist zugleich der Titel eines Erzählbands von Hildesheimer. Zur Melancholie als poetologischem Element im Werk von Hildesheimer, siehe vor allen Dingen Blamberger 1985, S. 74–100. 105 Siehe insbesondere die beiden Hildesheimer-Kapitel in Braese 2001: Die widerrufene Remigration. Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (1965), S.  233–320 sowie Schlußfolgerungen. Wolfgang Hildesheimers „The End of Fiction“ (1975), S.  365–428. Des Weiteren: Stephan Braese, Wolfgang Hildesheimer, in: Kilcher 2000, S. 246–248 und Braese, „…as some of us have experienced it“. Wolfgang Hildesheimers ‚The End of Fiction‘, in: Braese, Gehle 1998, S. 331–349. 106 Siehe Hilde Domin, „Denk ich an Deutschland in der Nacht“. Zu Hildesheimers Deutschlandbuch „Tynset“, zuerst 1965, dann wieder in: Dies., Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München, Zürich 1992, S. 50.

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es sind die Erinnerungen an Deutschlands jüngste Vergangenheit, an die „Ordnungswahrer“ und „Pensionäre aus Schleswig-Holstein“, an die „knochenbrechenden Familienväter aus Wien“ und die „Menschenschützen“,107 die das Erzähler-Ich in der langen Nacht, innerhalb der die Erzählzeit des Monologs angesiedelt ist, um den Schlaf bringen. Auch die mit der Schlaflosigkeit einhergehende Lebensschau ist beschwerlich, denn das Ge­dächtnis ist kein verlässlicher Garant, und ungeachtet der Schrecken, die der unwillkürliche Erin­nerungsprozess bei dem Ich-Erzähler auslöst, erweisen sich auch die bewusst herbeigeführten Erinnerungen an vergangene Liebschaften, Ereignisse und Begebenheiten als unzulänglich und fragmentarisch: Meine Erinnerung läßt nach, alles verblaßt und wendet sich ab, Menschen, Ereignisse, Freundschaften, Liebschaften – , nur das Sinnlose bleibt, das schwimmt oben – – und doch: da sind noch Augenblicke, kurze Einschnitte, Zäsuren auf dem Weg, retardierende Elemente, Augenblicke, in denen die Fremdheit auf­leuchtete: hier ich – dort die trügerische Schönheit der Welt – und dann wieder vorbei – (73)

Mag sich der Leser dieser Passage noch an Georg Efraims Rückzug aus der Welt, an die Mystifi­zierung des konkreten, jüdischen Leidens als condition humaine im Kontext einer ab absurdum geführten Welt bei Andersch erinnert fühlen, so wird die unüberwindbare Kluft zwischen dem Ich und der Welt sowie die daraus erwachsende Fremdheit und Einsamkeit des Ichs ebenso wie bei Jean Améry so auch bei Hildesheimer ganz dezidiert als eine historisch gewordene erklärt, die sich nämlich datieren lässt als eine Fremdheit seit Auschwitz: „Die Welt schweigt, sie gibt keinen Urtext her. […] – wir können hinzufügen: seit Auschwitz. Hier denn ist der Ansatz absurder Prosa: nicht das Auffinden des Urtextes, sondern das Sich-Abfinden damit, daß er nicht gefunden wird; das Registrieren von Ersatz­ antworten.“108 Die oben genannte Passage spiegelt daher nicht nur die mnemopoetische Struk­ tur Tynsets wider. Die Zäsuren innerhalb der Textbewegung signalisieren zugleich, dass der Erinnerungsvor­gang keinen sinnstiftenden Urtext wieder heraufbeschwören wird. Im Gegenteil: Die Suche nach einem intakten Verhältnis von Signifikant und Signifikat, nach einem unbeschädigten Wort, in dessen Assoziationsspielraum keine traumatische Erinnerung unversehens hervorbricht, scheitert. Exemplarisch für diese Bewegung des Suchens, Scheiterns und für das Registrieren dieses Scheiterns, ist das Wort „Tynset“: 107 Wolfgang Hildesheimer, Tynset, Frankfurt am Main 1965. Zitiert nach der 1. Aufl. 1992, S. 269. Wenn nicht anders angegeben, werden alle nachfolgenden Zitate aus „Tynset“ dieser Ausgabe entnommen. Die Seitenangaben erscheinen in runden Klammern hinter dem Zitat. 108 Hildesheimer, Zwei Frankfurter Vorlesungen, in: Ders., Interpretationen. James Joyce. Georg Büchner. Zwei Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1969, S. 81. Hervorhebung, A. H.

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Tynset. Das klingt nach. […] Dabei ist dieses Ypsilon noch nicht einmal recht aussprechbar. […] Da liegt es denn, auf dem Weg zwischen I und Ü, liegt genau auf der Mitte. […] Die zweite Hälfte dieses Weges, die Strecke von Ü zu U hat keine Mitte, hat kein Zeichen, das sie markiert. Hier liegt nichts, liegt Schweigen, liegt, im wahrsten Sinne des Wortes, das Unaussprechliche. (25)

„Tynset“ scheint aufgrund seines phonetischen Vermögens, mittels des „Y“ Unaussprechliches auszudrücken, dem Charakteristikum eines Ur-Textes noch am Nächsten zu kommen. „Es ist nämlich Sprache“, so Walter Benjamin, „in jedem Falle nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren.“109 Im Fortlauf des Monologs werden vom Erzähler allerdings nach und nach die problematischen Kontexte Tynsets aufgedeckt. Unter anderem erinnert sich der Erzähler schließlich auch wieder an die Nähe Tynsets zu Hamar, dem Ort, an dem ein deutscher Kommandant „im letzten Krieg“ (19) dreizehn Einwohner an Laternenpfählen hatte aufhängen lassen. Beide liegen auf der gleichen (Bahn-) Linie und sind so strukturell und metonymisch miteinander verbunden. Die Phonetik von „Tynset“ erinnert den Erzähler zudem an sein alter ego „Hamlet“, bei dem Wort und Tat ja so wortgewaltig auseinanderfallen. Zuletzt wird auch Tynset selbst zu einem nicht einlösbaren Ziel, denn der Erzähler kann das sich selbst gegebene Versprechen dorthin zu fahren nicht einlösen, da er am Ende der Nacht vom Winter überrascht wird, sodass er beschließt, sein Haus nie mehr zu verlassen. Und so muss Tynset als „letztes mögliches Ziel“ ebenfalls „entschwinden“: „Jetzt ist es verschwunden, der Name vergessen, verweht wie Schall und Rauch.“ (269) Mit dem Scheitern von Stimmigkeit ist dann auch das Scheitern von Zeugenschaft verbunden. Die gesamte Handlung Tynsets besteht aus dem Versuch des Erzählers, sich, analog zu seinem alter ego Hamlet, dessen Vater ihm des Nachts mahnend auf der Treppe er­scheint, redend Gehör zu verschaffen, um die Verbrechen der Vergangenheit dem Vergessen zu entreißen. Den Knochen brechenden 109 Walter Benjamin, Gesammelte Werke IV, in: Werkausgabe in zwölf Bänden, Frankfurt am Main 1980, S. 156. Wolfgang Rath etwa geht so weit, auf die Deutung des Buchstabens „y“ in der Kabbala hinzuweisen, deren Lehren Hildesheimer vertraut waren. Dieser Lektüre zufolge symbolisiert das Ypsilon die Warnung des Ichs vor der Selbstvergewisserung. Siehe: Wolfgang Rath, Das Symptom Wort und die Warnung davor. Über Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (und „Masante“), in: Sprache im technischen Zeitalter 93 (1985), S. 40 sowie Ulrike Greiner-Kemptner, Subjekt und Fragment. Textpraxis in der (Post-)Moderne. Aphoristische Strukturen in Texten von Peter Handke, Botho Strauß, Jürgen Becker, Thomas Bernhard, Wolfgang Hildesheimer, Felix Phillipp Ingold und André V. Heiz, Stuttgart 1990, S. 151. Siehe auch: Die Kabbala. Von Papus. Einführung in die jüdische Geheimlehre, autorisierte Übersetzung von Julius Nestler, 15. Aufl., Wiesbaden 1998, S. 270ff.

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Familienvätern aus Wien, den Bastlern und Pensionären aus Schleswig-Holstein, die auch den Vater des Erzählers auf dem Gewissen haben, wird durch nächtliche Telefonanrufe nachgestellt, in der Hoffnung, diese aus ihrer scheinbaren Ruhe aufzu­stören und entweder zu einem Geständnis oder zur Flucht zu bewegen. Ebenso wie Hamlet ist auch der Ich-Erzähler ein Wissender, der Einblick in die Taten und in die Psychologie der Täter besitzt. Mit diesem Wissen ist jedoch keine Macht verbunden, da das Ich allein gegen ein Netz­werk von Tätern steht, die es verstehen, die Verhältnisse umzukehren und die Bedrohung von sich abund gegen das Ich zu wenden. Es ist also nicht nur keinerlei Gesprächsraum vorhanden, in dem die Stimmen der Opfer gehört würden könnten, das dichotomische Gegeneinander von Opfern und Tätern bleibt auch nach Ende „des jüngsten Krieges“ bestehen, die Opfer weiterhin Opfer, da „die alten Ordnungen eingesessen“ und die Täter jederzeit bereit sind, wieder zuzu­schlagen, sollte sich Ihnen die Gelegenheit dazu bieten. „Obwasser und Ka­basta existieren tausendfach“, schreibt Hildesheimer, „ich kenne sie, ich war Simultandolmetscher in Nürnberg, war auch bei außergerichtlichen Verhören zugegen, und ich weiß auch, wer frei ausging und noch geht“.110 Dementsprechend konsequent stellt der Ich-Erzähler die Sinn­haftigkeit von Zeugenschaft in Frage: „Zeugenschaft geben? Für Wen? Wovon?“ fragt das Ich am Ende von Tynsets Nachfolgeroman Masante nicht nur sich selbst, sondern auch in Richtung des Lesers: [E]s gibt keine Tonarten mehr zur Wahl. Nur noch eine. Nein, zwei: Befehl und Schrei. Wer nicht befiehlt oder schreit, ist verstummt. Zeugenschaft geben? Für Wen? Wovon? […] Die falschen Ordnungen sind ein­gesessen, eingesengt: wer sagt, daß sie ausrottbar seien, der irrt. Der kennt sie nicht, die Häscher, die Sbirren, Schergen, agentes in rebus und ihre Herren.111

Der poetologische Ort des Verstummens bleibt in Hildesheimers erzählerischem Werk jedoch immer an die Subjektivität der Ich-Figur gebunden, das als „potentielles Ich“112 für die Wahrhaftig­keit dieses Scheiterns bürgt. Zugleich spiegelt dieses Scheitern auch den lyotardschen Widerstreit zweier gegenläufiger Erinnerungsdiskurse, die der Narration des Textes als vorgelagerter gerichtsförmiger Diskurs eingeschrieben sind. 110 Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd. 2, Monologische Prosa, in: Wolfgang Hildesheimer. Gesammelte Werke in sieben Bänden, hrsg. v. Christian Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle, Frankfurt am Main 1991, S. 384. 111 Hildesheimer, Masante, Frankfurt am Main 1988, S. 333. 112 Manfred Durzak, „Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich.“ Wolfgang Hildesheimer, in: Ders., Gespräche über den Roman, Frankfurt am Main 1976, S. 287ff.

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Seit den Nürnberger Kriegsverbrecher- und Auschwitz-Prozessen kommt dem Phänomen der Erinnerung nicht nur eine exponierte, sondern auch eine politische Bedeutung zu, da die Glaub­würdigkeit der Zeugenaussagen vor Gericht vorwiegend an eine verlässliche Erinnerung ihrer Träger gebunden war. Emotionale Ausbrüche (Hysterie, Stottern, Verstummen) sowie Vergesslichkeit wurden den Zeugen gleich einem Verfahren über Kapitalverbrechen als Beweis ihrer Unzuläng­ lichkeit vorgehalten, obwohl gerade anhand von Amnesie und Zusammenbrüchen die Auswir­kungen des erlittenen Traumas sichtbar wurden. So wird die Ambivalenz der Zeichen anhand des Phänomens „Vergessen“ deutlich: Aus Sicht der Kläger und Opfer artikuliert sich hier die – mit Diner – „Monstrosität“ der erlittenen Erlebnisse. Banalität und Unklarheit der Begebenheiten wird daraus von Seiten der Täter und Verteidiger abgeleitet. Beide Perspektiven sind aus Sicht eines gerichtsförmigen Diskurses sowohl unwiderlegbar als auch unvereinbar.113 Der Erinnerungsdiskurs der Geschädigten folgt keiner eindeutig lesbaren Sprache, die zudem in die Extreme drängt. Die sogenannten „blinden Flecken“ des Umschlagmoments, amnesische Zäsuren wechseln mit präziser Detailkenntnis. Dieser Diskurs ist aber nun kein Ausdruck von Undarstellbarkeit, weil sich die Einwirkung von Gewalt in der fragmentarischen Erinnerungs­sprache ja durchaus präsentiert und gewissermaßen, durch seine Evozierung, wiederholt. Eine solche Sprache der Zeugenschaft wird nicht-mitteilbar, da diese Form der Rede einen ande­ren Diskursraum benötigte als den des Gerichts, wo der Kläger, der, darauf hatte Lyotard verwie­sen, zugleich das traumatisierte Opfer ist, die Beweislast für das Verbrechen erbringen muss, was eine gewisse Stringenz der Rede voraussetzt, die auf der Intaktheit und Verfügbarkeit von Erin­nerung beruht. Ein außergerichtlicher, offener Diskursraum des Gesprächs aber war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auch innerhalb eines sozialen Klimas, das auf ‚Normalität‘ einge­stellt war, und in dem, so Hildesheimer, „die alten Ordnungen eingesengt 113 Eine eingehende Beschreibung der Diskrepanz zwischen der Sachlichkeit und Nüchternheit des Täterdiskurses, der, wie im Falle Eichmanns, über präzises Beschreiben der einzelnen Handhabungen bis zur Begründung für die Tat reichte, und dem Zusammenbruch und der Unmöglichkeit einer faktischen Darstellung seitens der Zeugen findet sich in den Beobachtungen des Eichmann-Prozesses von Hannah Arendt sowie in der Diskussion über selbigen zwischen Arendt und Scholem: Arendt/Scholem, Eichmann in Jerusalem: An Exchange of Letters, in: Encounter 22 (1964), S. 51–56. Siehe vor allem: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986. Ein literarisches Beispiel für das ‚Konzentrat‘ der widerstreitenden ‚Tonarten‘, die Peter Weiss den Prozessen entnommen hat und die auf die Bedeutung des Erinnerns/Vergessens abzielen, sei hier aus seinem Dokumentardrama Die Ermittlung angeführt: „ZEUGIN 4 Wir waren dort etwa 600 Frauen / Professor Clausberg leitete die Untersuchungen / Die übrigen Ärtze des Lagers / erstellten das Menschenmaterial RICHTER Wie gingen die Versuche vor sich ZEUGIN 4 schweigt VERTEIDIGER Frau Zeugin leiden Sie an Gedächtnisstörungen ZEUGIN 4 Ich bin seit dem Aufenthalt im Lager krank.“ Aus: Peter Weiss, Die Ermittlung, zitiert nach der Ausgabe Frankfurt am Main 1991, S. 88.

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sind“, nicht zu finden. In Tynset kommt dies wiederholt zum Ausdruck, indem im selben Atemzug mit den Verbrechen das heutige Wirkungsfeld der Täter beschrieben wird. Diese sind inzwischen Familienväter, Bastler, Beamte, Pensionäre in Wien, dem Weserland oder Schleswig-Holstein. Der Erzähler trifft sie auf einer Stadtrundfahrt, an der Ampel, oder, wie jenen Herrn Kabasta, in einem Dorf, in dem dieser heute Landrat ist und von dem der Leser wenig später erfährt, dass er einen gewissen Herrn Bloch sein eigenes Grab schaufeln ließ. Dieser Kabasta wird vom Erzähler gesehen, und zwar: … in einem Gasthaus, nein, in einem Gastgarten, an einem Nebentisch, in einer Jagdgesellschaft, die saß lachend und breit und ganz in Grün im grünen, unter keuchenden Hunden, aß etwas Schreckliches, Schlachtplatte, […] er erzählte eine lange Geschichte aus dem Krieg im Osten oder im Westen, hob dabei mehrmals die Hand […] Er sagte mehrmals „mit dieser Hand“ oder auch „mit dieser meiner Hand“, aber was dann kam, konnte ich nicht verstehen, die Betonung lag auf „dieser Hand“, die immer größer wurde und röter. (42f.)

Hildesheimer entlarvt hier nicht nur Bilder, Redewendungen und Wörter als von der Sprache der Täter korrumpiert (‚Schlachtplatte‘, ‚Jäger mit keuchenden Hunden‘, ‚eigenhändig‘ und etwas später in derselben Passage ‚sein eigenes Grab schaufeln‘), sondern auch das unveränderte Machtgefüge, sodass „von der Hand im Spiel“ (110) nicht loszukommen ist. Dennoch wird die Rede des Ichs an dieser Stelle noch von der Notwendigkeit bestimmt, Zeugnis abzulegen. Der Tonfall, in dem Begebenheiten wie die Begegnung mit Kabasta erinnert werden, ist mehr auf die Überzeugungskraft der Aussage als auf anekdotenreiches Erzählen ausgerichtet. Die wortge­treuen Wiedergaben, die detaillierten Beschreibungen der Gesten, die akribischen Ortsangaben, die Aussparung alles Imaginären („was dann kam, konnte ich nicht verstehen“) gleicht einem Bericht, dem es um Glaubwürdigkeit und Stringenz der Angaben geht, so wie es von den Zeugenaussagen vor Gericht erwartet wird, deren Sprecher als ‚zurechnungsfähig‘ gelten können. So wird auch die Erinnerung an die Ermordung von Doris Wiener sachlich und mit Betonung der Faktizität berichtet: „Sie kam in einer Gaskammer um – installiert von der Firma Föttle und Geiser, an Firmennamen erinnere ich mich unfehlbar und genau.“ (63) Dass der Ich-Erzähler seinen Aussagen solch einen Nachdruck verleiht, lässt zudem einen Adressaten vermuten, von dem zu befürchten steht, daß er die Authentizität des Gesagten an­zweifeln wird. Hildesheimer spricht in seiner Prosa daher ebenso wie Améry nicht zu den Juden, die Bescheid wissen, er spricht zu ‚den Deutschen‘. Die Erinnerungen, die Erfahrungen des Ich-Erzählers treffen in ihrem Adressaten auf einen Widerstand, gegen den sich der Erzähler be­haupten muss. Hierin wird der der Narration implizit eingeschriebene Diskurs des Widerstreits deutlich. Für die Verbrechen der Täter gilt es den Beweis anzutreten. So berichtete etwa auch Primo Levi in sei-

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nem autobiographischen Bericht Ist das ein Mensch?, dass sich die Träume der meisten Häftlinge in Auschwitz, abgesehen von den Hungerträumen um die Angst drehten, dass ihnen das Erlebte nicht geglaubt würde.114 Glauben schenken ihnen zynischerweise nur die Täter selbst. Dies kommt in Tynset in den nächtlichen Telefonanrufen zum Ausdruck, in denen der Ich-Erzähler den Tätern nachstellt. Es ist aber gar nicht nötig, sie an ihre Taten zu erinnern, denn noch ehe der Erzähler einen Ton sagt, zeigt sich das Gegenüber bereits alarmiert und begibt sich auf die gut vorbereitete Flucht. Das Ich, das sich das Eingedenken zur Aufgabe gemacht hat, fungiert als Sprachrohr für diejenigen, die verstummt sind und nicht mehr für sich selbst sprechen können. Es gibt in Tynset also zunächst noch Ansätze zu derlei Versuchen, Schuld ein­zuklagen: Ich sah – es ist beinahe lächerlich – ich sah meine Opfer an irgendeinem Tatort, kauernd in Schuld und vor einer zermürbenden Erkenntnis, oder ich sah sie in der Wildnis einer Wüste barfuß […], während sie in Wirklichkeit irgendwo beim Bier saßen oder bei Sekt – […] und beim Gewinn von Zeit und einer neuen Ge­liebten, die ihnen diese Zeit bis zur Rückkehr vertreibe. (40)

Die Bemühungen des Ichs werden jedoch nicht nur bald von der Wirklichkeit eingeholt, was sich bereits in den zynischen Bemerkungen andeutet, sondern das Ich wird auch selbst zum Verfolgten und zum Ziel der Verfolgung. Es wird nicht nur verbal bedroht: „Warte nur! Bald sind wir wieder da! Dann geht es dir an den Kragen!“ (33), sondern nach seinem Anruf bei jenem Kabasta wird ihm auch telefonisch nachgespürt. Dies führt zu einem totalen Rückzug des Ichs aus der Gesellschaft, zur Flucht aus dem Land und zum Abschluss eines „Lebensabschnittes“ (41). Die eigentliche Zeugenschaft Tynsets besteht also in einer Bezeugung: der Dokumentation des Ver­stummens der Opfer, die auch noch nachträglich mund­tot gemacht werden sollen. Es ist demnach nicht eine „Literatur der Stummen“, an der Hildes­heimer mit seiner Prosa teilhat, sondern eine Literatur der Ungehörten. Dass das Hören, nicht nur aufgrund des religiös begründeten Imperativs Erez, Israel („Höre, Israel!“), zudem eine ausgesprochen jüdische Eigenschaft zu sein scheint, darauf hatte bereits Gershom Scholem hingewiesen: „Die Juden waren immer große Lauscher, eine edle Erbschaft, die sie vom Berge Sinai mitge­bracht haben. Sie haben auf vielerlei Stimmen gelauscht“ und zwar, so Scholem, „als ob das Echo ihrer eigenen Stimmen sich unversehens in die Stimme der anderen verwandeln würde, die sie so begierig zu hören hofften. […] Als sie [jedoch] zu 114 Primo Levi, Ist das ein Mensch? [Orig. Se questo è un uomo, 1958] dt., München 6. Aufl. 1992, S. 70f.: „Warum übersetzt sich der Schmerz aller Tage so beharrlich in unsere Träume, in die immer wiederkehrende Szene des gegebenen und nicht angehörten Berichts?“

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den Deutschen zu sprechen dachten, da sprachen sie zu sich selber.“115 Und so ist auch das, was das Ich in Tynset hört, vor allen Dingen Schweigen. Das Ich lauscht „auf die summende Stille, das einzige Geräusch der verstreichenden Zeit.“ (46) und „Die Stille beginnt zu dröhnen, das Herz beginnt zu flattern, als wolle es seine Wände sprengen und hinaus, nichts wie hinaus – “ (248). Durch das Schweigen hindurchgehen – Hildesheimers Schreiben bewegt sich ebenso wie die Lyrik Paul Celans im Raum der Antwortlosigkeiten, der, mit Celan, ‚Finsternisse todbringender Rede‘. Wäh­rend sich in Celans Lyrik die Sprache durch diesen Vorgang jedoch angereichert hat, bleiben Hildesheimers Erzählungen Nachtstücke: „Ich […] betrete andere Räume, in denen ich kein Licht mache, ich […] betaste Gegenstände und werde von anderen erschaudernd betastet wie der nächtliche Wanderer von Erlenzweigen am Weg […] – wo war es, daß ich einen Lampenschirm sah, aus heller menschlicher Haut, verfertigt in Deutschland …“ (139). Die Antwortlosigkeit wird nicht überwunden, sie bleibt alles bestimmend. Und so fällt auch am Ende der langen Nacht in Tynset, die der IchErzähler erinnernd und erzählend in seinem „Winterbett“ verbringt, „Schnee“ über die Erinnerungsstätte. (268) Amérys Revolte und Anderschs Einrichten in einer ad absurdum geführten Welt stellt Hildes­heimer die Exekution seines Ich-Erzählers entgegen. In Tynsets Nachfolgeroman Masante116 wird das Ich von Hildesheimer endgültig in die Wüste geschickt, nur mit einem Regenschirm ausgerüstet. Das Versagen der Literatur, „das Furchtbare der Existenz nicht ausdrücken zu können,“ 117 hat Hildesheimer in seinem 1976 auf englisch gehaltenen Vortrag The End of Fiction auch theoretisch begründet: „But the function of literature is not to turn truth into fiction but to turn fiction into truth: to condence truth out of fiction. […] For someone whom his sensibilities have made deci­sion then a challenge to take position, but I doubt whether he can do so as a man of letters.“118 Hildesheimers Herausforderung Stellung zu beziehen („a challenge to take position“), für die er ja bewusst die Frageform gewählt hat: „Wozu schreiben? Wozu Zeugenschaft?“ war also auf einen produktiven Diskursraum angewiesen und damit auf einen zeitgenössischen Literaturbetrieb, der die deutsch-jüdische Realität zu sehen im Stande gewesen wäre. Hildesheimers Sicht auf jene deutsch-jüdische Realität als ‚Anderem‘ kommt in seinem Vortrag Mein Judentum, den der Süd­deutsche Rund115 Scholem 1970, S. 9. 116 Siehe auch Manfred Durzak, Die Exekution des Erzählers. Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ und „Masante“ in: Durzak, Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt am Main 1976, S. 296–313. 117 Hildesheimer, Ich werde nun schweigen. Gespräch mit Hans H. Hillrichs in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“, hrsg. v. Ingo Hermann, Göttingen 1993, S. 96ff. 118 Hildesheimer, The End of Fiction, in Hildesheimer, Warum weinte Mozart? Reden aus fünfundzwanzig Jahren, Frankfurt am Main 1984, S. 111f.

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funk im April 1978 sendete, klar zum Ausdruck. Dort heißt es mit Blick auf seine jüdische Identität kurz und bündig: „Es sei hier ausgesprochen: Wir Juden sind anders.“ Stephan Braese fasst die Verbindung zwischen Hildesheimers Jüdischsein und seinem Werk folgendermaßen zusammen: In immer neuen Anläufen zielt [sein literarisches Oeuvre] darauf, eine Innensicht zu geben auf jene Beschä­digungen menschlicher Existenz, die untrennbar mit der NS-Vernichtungspolitik verknüpft waren. In die­sem Sinne handelt Hildesheimers Schreiben immer von jüdischer Existenz – als einer Erfahrung, deren pa­radigmatische Bedeutung für die Epoche für Hildesheimer außer Frage stand.119

Der dezidiert jüdische Diskurs entsteht also aus der Mitte eines allgemeinen Opferdiskurses heraus und zwar durch den Vorgang des Erinnerns, der in Tynset sowohl auf Ebene der Handlung, als auch auf Ebene der Sprachbewegung einer Engführung gleichkommt. Beispielhaft ist die Erinnerung an eine Autofahrt, bei der sich das Ich, das sich in der Topologie und Semiotik einer typischen deutschen Großstadt zurechtzufinden versucht, im Laufe seines Unterwegsseins immer weiter abgedrängt fühlt von den großen, breiten Wegen in die Randständigkeit und ins Abseits, sein Weg wird immer unwegsamer, immer enger, bis es schließ­lich „in der Judengasse, wo ich hingehöre“(!) endet. (118) Die Erzählfäden, die der Erzähler in Aus­einandersetzung mit den Angst einflößenden Erinnerungen immer wieder aufnimmt, um sie sich vom Leib zu reden, werden zu einem „Seil, das [ihn] vorwärts zieht und abwärts und hinab, dort­hin wo [sein] Weg immer enger wird, immer enger, […] wo die Möglichkeiten abfallen.“ (75) Hildesheimers jüdischer Diskurs, der verbunden mit der Dokumentation des Scheiterns von Zeugenschaft zu einer Literatur der Ungehörten wird, ist also nicht jüdische Literatur im Sinne der Kriterien, wie sie etwa Gershon Shaked für den Roman entwickelt hat, und die auch für Celans Lyrik in Anwendung zu bringen wären, das Vorhandensein einer Soziosemi­otik, die nur nach den Regeln einer bestimmten Gruppe, hier: der jüdischen, entschlüsselbar wä­ren. Hildesheimers Prosa führt dem Leser vielmehr eine für die Rede über Jüdischsein nach 1945 symptomatische Schreibbewegung des Entleerens vor, die sich als ein Diskurs der -Losigkeit bezeichnen lässt, der die historische Signatur „Auschwitz“ trägt. Den Diskurs der -Losigkeit verdeutlichen insbesondere zwei Passagen aus Tynset: „Versinken – durch alle Schichten hindurch, durch Bett und Boden und Erde, Granit und Gneis und Malm und Dogger, hindurch, hinab […], als sei ich nie gewesen“ (72) und: „[A]nstelle der Substanz klafft Hohlraum in Form von Ritzen oder Fugen […] eine Tür hebt sich, unheimlich langsam, über ihrer Schwelle […] plötzlich zieht ein jäher Sog von Luft durch die Zimmer, Wind, ein Stoß geballter 119 Braese, in: Kilcher 2000, S. 246.

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Zeit, […] er bläst die Idee hinweg, bevor sie untergebracht ist, er löscht sie wieder aus.“ (8) Lassen sich die deutschen Diskurse über Jüdischsein nach 1945 zusammenfassend und ein we­nig überspitzt als Diskurse der Sprachlosigkeit bezeichnen, so sind die jüdischen Diskurse durch eine gegenläufige Bewegung gekennzeichnet, die sich am treffendsten charakterisieren lässt als ein Durch-die-Sprachlosigkeit-hindurchgehen. Die unterschiedlichen ästhetischen Resultate, die aus einer solchen suchenden Schreibbewegung erwachsen, deuten sich schon in den beiden Beispielen von Celans Todesfuge und Hildes­heimers Tynset an. Mal wird im Stimmkreis des Meridians jüdische Literatur daraus (Celan), mal begründet sich so das Ende der Fiktionen (Hildesheimer), wenn sich die jüdischen Erzähler ausschließlich im leeren, genauer gesagt, im entleerten Raum des Fiktionalen und somit des Fiktiven bewegen.

II. 3. Im leeren Raum des Fiktiven. ‚Der eingebildete Jude’ Deutschjüdische Erzähler, die sich im entleerten Raum des Fiktionalen, im Fiktiven bewegen – diese Beobachtung kann als ästhetischer Ausgangspunkt und existenzieller Grundzustand für die deutsche Literatur nach 1945, als das ‚Erbe‘ der Shoah betrachtet werden. Eine solche Leerstelle hinsichtlich einer Rede über Jüdischkeit zu bezeugen aber ist, dies haben die vorherigen Lektüren exemplarisch gezeigt, alles andere als mit dem Verstummen selbst gleichzusetzen. Auswirkungen hat der (schmerzhafte) Umgang mit dieser Leerstelle zudem auf die Kon­ struktion der Autorfigur selbst, auf die Grundierung des literarischen ‚Ich‘. Um dieser These nachzugehen, eignet sich insbesondere der Begriff des ‚eingebildeten Juden‘, wie ihn der französische Philosoph Alain Finkielkraut im Rahmen seiner gesellschaftspolitischen Studien entwickelt hat. Diese Bezeichnung signalisiert nämlich sowohl ihren fiktiven Status als auch ihr imaginatives Potential. Im Hintergrund der Erörterungen stehen dabei Sander Gilmans Aussagen über die Bedingungen eines ‚neuen‘ Schreibens nach der Shoah. Haben die jüdischen Autorinnen und Autoren heute tatsächlich die Loslösung vom tradierten Diaspora-Modell der extrapolierten Sichtbarkeit vollzogen? Und wie geht die Generation, die in den achtziger Jahren mit ihren Werken an die Öffentlichkeit zu treten beginnt, mit jener neuen Unsichtbarkeit um?

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3.1. Selbstzeugungsphantasien 3.1.1. Alain Finkielkrauts „Der eingebildete Jude“

1980 erschien in Frankreich Alain Finkielkrauts viel beachtetes und streitbares Buch Le Juif imaginaire (‚Der eingebildete Jude‘).120 Finkielkraut kritisiert darin die Juden seiner Generation, der nach 1950 geborenen, die, so Finkielkraut, ihre jüdische Identität als eine Art exotische Note betrachteten und die sich nur über eine geliehene Tragik als jüdisch zu definieren im Stande wären: über das Leiden ihrer Eltern oder Großeltern. Finkielkraut setzt zunächst bei sich selbst an und reflektiert darüber, wie er als Jugendlicher, für den die Shoah ein rein „quantitatives Ereignis“ war, den besonderen Nimbus seiner jüdischen Herkunft geradezu genoss: Wie jeder andere hatte ich die metaphysischen Anfechtungen der Frage „Wer bin ich?“ zu ertragen. Zu ver­schwommenes psychologisches Profil, das Fehlen sichtbarer, deutlicher, verläßlicher Besonderheiten, eine ausgesprochene Neigung zur Mimikry, vielfältige und widersprüchliche Modelle, von denen keines genü­gend Autorität besaß, um sich auf Dauer durchsetzen zu können, die ständige Sorge, nichts zu sein – mir waren die komfortablen Leiden einer behüteten Existenz nicht unbekannt. Aber auf dem Höhepunkt der Krisen, wenn mein Identitätsbewußtsein ins Wanken geriet, rief ich die magische Gewißheit auf den Plan: Ich bin Jude, das heißt interessant, geheimnisvoll, etwas Besonderes. Ich habe eine Geschichte und ein Ge­sicht, das zwanzig Leidensjahrhunderte geprägt haben. (17)

Die Shoah hatte zudem, so Finkielkraut, den paradoxalen Doppeleffekt, dass sie einerseits die Assimilation der Überlebenden in der Diaspora beschleunigte und andererseits ebendieser Assi­milation zugleich jede Existenzberechtigung entzog. Resultat war die Widersprüchlichkeit einer Erziehung, die zwischen Normalisierung, Intransigenz und Totenkult hin und herschlug. Die jungen Juden der 68er Generation bekamen folglich ein rein emotionales Judentum vermittelt. Es verkam nach außen hin zu einer Geste, nach innen war es inhaltsleer: Jude im Innern, Mensch nach außen – das war, wir erinnern uns, die Losung der ersten Assimilation. Ohne es uns bislang eingestanden zu haben, handeln wir heute nach dem umgekehrten Grundsatz. Wir sind Juden nach außen, für die Umgebung, für die Öffentlichkeit, für die Außenwelt; und im Innern, in der Privatheit unserer Alltagsexistenz sind wir Menschen wie die anderen, von den gleichen Moden bestimmt, von den gleichen Begeisterungen ergriffen, durch keine kulturelle Besonderheit unterschieden. (110) 120 Zitiert wird Finkielkraut hier und im Folgenden nach der deutschen Erstausgabe München 1981. Siehe Finkielkraut 1981. Die Seitenangaben erfolgen in runden Klammern hinter dem Zitat.

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Das Ziel der Aufklärung, das wie gezeigt in der Proklamation der Ununterscheidbarkeit bestand, („Mensch nach außen“) hatte sich laut Finkielkraut nun durch die Shoah zynischerweise ‚erfüllt‘. Die Träger der europäisch-jüdischen Kultur und gelebter jüdischen Traditionen waren dem Genozid zum Opfer gefallen. Die Kinder der Überlebenden konnten an diesen Verlust von Jüdischkeit kaum anknüpfen. Finkielkraut geht in seiner Argumentation aber noch weiter: Was er [der Jude] auch immer sein mag, das beklagenswerte Opfer einer doppelten Ausschließung ist er nicht. Denn statt irgendwelcher kollektiver Werte, die er aus freiem Willen ablehnen oder übernehmen könnte, gibt es nur die arbeitsame und hedonistische, fernsehbesessene und pennälerhafte Alltagskultur, der nicht anzugehören sich unser Jude sowenig wie irgendein anderer rühmen kann. (104)

Dem nach außen als Emblem zur Schau getragenen Jüdischsein haftet, verbunden mit dem An­spruch auf Andersheit, Finkielkraut zufolge ein gewisses „falsches Pathos“ an, man könnte auch sagen: Kitsch.121 „Der Jude“, so Finkielkraut, „ist vielleicht der Andere unserer Kultur, doch diese Andersar­tigkeit hat keine Träger. Man kann das auch noch radikaler ausdrücken: Der Völker­mord hat keine Erben.“ (37) In Zeiten des strukturellen Wandels und der Fragmentierung der Gesellschaft kann der Zustand der Entfremdung nicht länger als jüdischer Exklusivitätszustand gelten, er wird von der Allgemein­heit in Anspruch genommen: In einer Zeit, da die Menschen ohne Perspektive, von der Hand in den Mund leben, scheint das Judesein eine beneidenswerte Existenzberechtigung zu liefern. So verändert sich heute das Image des Juden: Inzwi­schen ist er der Verwurzelte, und der philosemitische Durchschnittsbürger, der ewig herumirrende Goi, er­lebt sich als Mann ohne Eigenschaften, entwurzelt, heimatlos. (107)

Der Einzug der Juden in die allgemeine zeitgenössische Indifferenz sowie die Universalisierung so elementarer Bewusstseinszustände wie Heimatlosigkeit und Entfremdung verstellt jedoch nicht nur den Blick darauf, wie ermüdend und schwierig es ist, so Finkielkraut, nur man selbst zu sein und nichts anderes. Der kleinste gemeinsame Nenner jüdischer Identitätsentwürfe in der Diaspora, der Jahrhunderte lang und insbesondere auch für die Generation der Shoah im ‚Außenseiter-Dasein‘ bestand, bekommt im Hinblick etwa auf die 68er Generation 121 Zum Kitsch-Begriff als einer heruntergekommenen und verallgemeinerbaren Form von Gefühligkeit („Kitsch ist das, was allen gehört“), in denen die Fiktion an die Stelle der Gefühlserfahrung tritt, siehe das einschlägige Werk von Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Widerschein des Nazismus, dt. München 1984.

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einen „falschen Klang“ (189). Auf Basis dieser Beobachtungen entwickelt Finkielkraut schließlich den Begriff des eingebildeten Juden: Sie sind eine sonderbare, aber verbreitete Kategorie unter den Juden, auch wenn sie noch keinen Namen haben. Sie sind, zumindest in ihrer Mehrheit, nicht religiös. Vergebens halten sie die jüdische Kultur in Ehren, denn sie besitzen davon nur noch armselige Relikte. Sie haben ihr Judentum nicht im Blick des An­deren gelernt. Weder die ethnische Definition noch die konfessionelle noch das Sartresche Schema treffen auf sie zu. Sie sind unbeugsam in ihrem Judentum, aber ihr Judentum ist für die Katz, da es für sie nach der Katastrophe nur einen Inhalt geben kann, nämlich den des Leidens, während sie selbst nicht leiden. […] Sie sind in der Fiktion zu Hause. […] Für diese Bewohner des Irrealen, die zahlreicher sind, als man glaubt, schlage ich die Bezeichnung eingebildete Juden vor. (24f.)

Juden, die in der Fiktion zu Hause sind – von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu ihren literarischen Manifestationen. Finkielkraut selbst hat die Formen autornaher Ich-Prosa, in denen die Autorinnen und Autoren seiner Generation ihr Jüdischsein dem nichtjüdischen Leser-Gegenüber als eine Jude-Werdung beschreiben, Roman des gelben Sterns genannt und damit indirekt Scholem These vom leeren Ort des Fiktiven bestätigt. Gemeint ist damit eine Art ‚Gründungstext‘, in dem durch ein gleichbleibendes Szenario an Figuren (Mitschüler, Nachbarskinder) und Settings (Schulhof, Turnhalle, Straße) dem als ‚Jude‘ gebrandmarkten Kind sein Jüdischsein erst sichtbar und fühlbar gemacht wird: Man kennt diese Anekdote. In zahllosen Abwandlungen ist sie von einer Vielzahl von Schriftstellern erzählt worden. Es ist die pathetische und erbauliche Geschichte eines Kindes, das aus seiner Unschuld gerissen und unter den Vorzeichen der Beleidigung – oder des Fluchs – dem Judentum überantwortet wird. […] Nicht daß ich auf wunderbare Weise vom Antisemitismus verschont geblieben wäre. […] Ich habe wie jedes andere jüdische Kind den unumwundenen Rassismus der Ferienlager und Schulhöfe kennengelernt. […] Und doch könnte ich meine Geschichte nur mit einer gehörigen Portion Selbstgefälligkeit oder Blindheit mit dieser Tragödie beginnen lassen – mit der Tragödie des Schülers, der sich in der Gewißheit wiegt, den anderen zu gleichen, und der plötzlich entdeckt, daß er ganz anders ist. Es war genau umgekehrt: Über­zeugt, daß mich das Schicksal zu einem ganz besonderen Einzelfall gemacht hat, wurde mir allmählich klar, daß ich mich von den anderen in fast gar nichts unterschied. (14f.)

Auch in der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Literatur finden sich die Elemente des Roman des gelben Sterns in Form zahlreicher Variationen dieser ‚Gründungsanekdote‘ wieder. Es sei hier noch einmal an die einleitend, exemplarisch zitierten Passagen aus den Werken Maxim Billers, Barbara Honigmanns, Robert

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Schindels und Esther Dischereits erinnert, die, entgegen Gilmans These, jene Extrapoliertheit ihrer jüdischen Charaktere betonen, ihr ‚Anderssein‘ durch den Blick von Außen gespiegelt bekommen: „Ihr habt mich getaucht in diese immerwährende Schwärze,“ heißt es bezeichnenderweise in ei­nem Gedicht von Esther Dischereit aus dem Jahr 1996.122 Und Maxim Biller lässt seinen Protago­nisten Warszawski in seiner Erzählung Harlem Holocaust (1990) sagen: „Ich bin […] ein berechnender Schurke, ein cleverer Jid, ein Literatur-Shylock wie Kafka, dieser Schweine­hund!“123 Während sich aus Robert Schindels Roman Gebürtig (1992) diese exemplarische Passage zitieren lässt: Ach, du willst sein wie er. Schon wieder einmal. Oder wie sie. Und Mascha schaut mit versperrtem Gesicht zu Christiane Kalteisen hinüber. Demant wirft seinen Kopf zurück, seine Stimme sirrt etwas bei den jewei­ligen Silbenanfängen: Dürfen unsere Juden gelegentlich ein bißchen tot sein oder müssen sie auch als Kno­chenmehl ständig gespitzt bleiben? Mascha schüttelt den Kopf, öffnet die Lippen, aber statt der dunkelsilbrigen Wörter kommt nichts, sondern die Tränen fallen ihr in den Mund zurück.124

Und mit der folgenden Schlüsselszene beginnt schließlich der Roman Alles, alles Liebe! (2000) von Barbara Honigmann: „Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war ‚Zigeuner‘. Jemand rief es mir nach, kaum daß ich ein paar Schritte aus dem Bahnhof getan hatte, auf der Suche nach meinem Hotel. Aber soviel ich mich auch umgesehen habe, da war kein Mensch und kein Hotel, weit und breit.“125 Am Ende von Alles, alles Liebe! wird die These vom ‚eingebildeten Juden‘ sogar explizit thematisiert und zwar von Leon, Annas nichtjüdischem Ge­liebten: Dein ganzer Freundeskreis, Eva und Alex allen voran, gehen mir nämlich auf die Nerven, Dein „jüdischer Kreis“ […] Ihr fühlt euch als irgendeine Elite, und ich habe bis heute nicht verstanden, woraufhin eigentlich. Werke habt ihr nicht vorzuweisen, und besondere Tapferkeit in irgendeiner Sache habt ihr auch nicht be­wiesen. In Deinem „jüdischen Kreis“ stellt ihr euer Jüdischsein heraus und kokettiert damit. Ihr seid aber bloß eingebildete Juden, denn ihr seid deutsch bis auf die Knochen, gerade darin, daß ihr euch so gerne als Anwohner von Jerusalem seht. Eure Eltern sind Bonzen und Funktionäre, die dieses Scheißland mitzuver­antworten haben, in dem ihr euch so unglücklich fühlt.126

122 Esther Dischereit 1996. Gedichte, Passau 1996, S. 16. 123 Maxim Biller 1990, Köln 1990, zitiert nach der Ausgabe 1998, S. 47. 124 Robert Schindel, Gebürtig, Frankfurt am Main 1992, zitiert nach der 1. Aufl. 1994, S.  16, Hervorhebung A. H. 125 Barbara Honigmann 2000, München, Wien 2000, S. 5. 126 Ebd., S. 159, Hervorhebung A. H.

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Für jene Gründungsanekdote des ‚gelben Sterns‘, von der Finkielkraut spricht, findet sich in der deutschen Gegenwartsliteratur aber auch ein ganz konkretes Beispiel: Die Schriftstellerin Esther Dischereit etwa, die Ende der achtziger Jahre begonnen hat, das für sie zentrale Thema eines doppelten Ausgeschlossenseins als Jüdin und Frau innerhalb einer nichtjüdischen patriarchialen Gesellschaft durchzuspielen, lässt ihr Erzähler-Ich in Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte (1988), das sich, wenn es in die Kinderperspektive wechselt, in die Rollen-Distanz der ‚Tochter der Mutter‘ begibt, folgendes Kindheitserlebnis schildern: Hannahs Tochter hört das Klingeln des Pausenzeichens. Mit der Turnstunde ist die Schule zu Ende. […] Kersten ist zurückgekommen. […] Mit den anderen zwei, die noch in dem muffigen Raum hinter der Turn­halle zurückgeblieben sind, beredet sie etwas. Zwischen den Apfelbissen fragt Kersten: „Und deine Eltern?“ „Katholisch“, sagt die eine, die andere: „Nee, evangelisch.“ Kersten steht vor Hannahs Tochter. „Und deine, was ist deine Mutter?“ Hannahs Tochter sagt nichts, überlegt. Hannah hat ihr verboten, darüber zu sprechen. Kersten wiederholt ihre Frage, lauter. […] Die drei umstehen sie jetzt – hinter ihnen ist die Tür. „Ich glaub‘ evangelisch“. Leise. „Du lügst, du lügst, Jude is’ se, ich weiß es genau“. Kersten stampft mit dem Fuß, während sie „Jude is’ se“ gegen Han­nahs Tochter und in die Ohren der anderen schreit. Die Lehrerin wird nicht mehr da sein.127

Nun wird man einer Autorin wie Esther Dischereit, die sehr wohl auch zwischen den Zeilen zu sprechen weiß, weder mit dem Vorwurf der Blindheit oder der Weinerlichkeit noch mit dem der Selbstgefälligkeit gerecht. Was in Joëmis Tisch von der Wortführerin „gegen“ die stumme Jüdin und „in die Ohren“ des Kollektivs geschrien wird: das Stigmata ‚Jude‘, gerät der Autorin jedoch auf dem Weg der Übertragung von außerliterarischer in innerliterarische Wirklichkeit zum Stereotyp und verliert dadurch an Authentizität. „Not to turn truth into fiction, but to turn fiction into truth“ – so hatte Hildesheimer die Auf­gabe von Literatur beschrieben. Finkielkraut, für den Ich zu sagen im Hinblick auf die Proklama­tion des Jüdischseins immer schon „posieren“ heißt, schlägt einen anderen Weg als den mimetischen vor. Einen, der von autobiographisch motivierter Erzählliteratur hin zu Formen der erinnernden Geschichtsschreibung führt. Das, was Finkielkraut in seinen Thesen anhand des eingebildeten Juden und seiner literarischen Vervielfältigung entwickelt, lässt sich durchaus als Fiktionskritik bezeichnen. Denn Judentum, so Finkielkraut, sei „nicht einfach eine Sache des Ausdrucks oder der persönlichen Aufrichtigkeit“, sondern es befindet sich außerhalb des Einzel­nen, schließt „jede Definition in der ersten Person aus“. (195). Dort, wo das jüdische Ich nach der Shoah ‚wir‘ sagt, meint es eigentlich, so lässt sich Finkielkraut verstehen, immer nur sich selbst und entlarvt damit beide Bezugspunkte als leere Phrasen: 127 Esther Dischereit, Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte, Frankfurt am Main 1988, S. 21.

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„Jude“ ist unter keinen Umständen eine angemessene Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ […] Denn wenn Judesein tatsächlich eine Forderung bedeutet, dürfen wir sie nicht als Forderung nach Identifikation, sondern müssen sie als Forderung nach Gedächtnisund Erinnerungsarbeit begreifen. Es gilt nicht, die Verfolgung mimetisch darzustellen, sondern ihre Opfer zu ehren. (37)

Jüdischsein bedeutet einer solchen Position zufolge also in erster Linie die Einsicht in den Mangel, die Abwesenheit von Jüdischkeit. Für Finkielkraut erwächst daraus die Herausforderung, sich erinnernd in den Dienst der Toten zu stellen, das Gedächtnis als eine Form der Wachsam­keit zu bewahren, damit die Ermordeten und ihre Geschichten nicht vergessen werden. Darüber hinaus gilt es aber eben auch, sich eine jüdische Lebensweise Schritt für Schritt zurückzuerobern: „Mein emsiges Gedächtnis speichert, soviel es kann: Bruchstücke einer Zivilisation, die im Exil überlebt haben, Redewendungen und die sie begleitenden Gebärden, eine Existenzphilosophie und Bezugssysteme des Denkens.“ (195) Für Finkielkrauts Position, die repräsentativ ist für den Bewusstseinszustand einer großen Gruppe von jungen Juden in der Diaspora, lässt sich auf die Formel bringen: Erinnernd Jüdisch-Werden. Was für eine Anstrengung es dazu konkret bedarf, hier abschließend noch einmal Finkielkraut: „Jüdisch“ nicht zu einem bloß statuarischen Adjektiv verkommen zu lassen; aus dem Judentum etwas ande­res als ein Titel, ein Emblem, eine brennende Schande zu machen; eine Identitätserklärung in eine Lebens­weise zu verwandeln; die Koketterie der Selbstdarstellung durch eine aktive kulturelle Erfahrung zu erset­zen. (111)

Dieser Zustand des Mangels kann aber nichtsdestotrotz der Schreibgrund sein, aus dem heraus eine Literatur erwächst, die Fiktion in ‚Wahrheit‘ zu verwandeln möglich macht. Dies ist in der Lyrik Esther Dischereits der Fall. 3.1.2. Esther Dischereits „Als mir mein Golem öffnete“ Jüdische Renaissance I Wir wolln ein bißchen Aleph und wolln die Mazze brechen spielen Mütter, Urgroßväter die haben wir nicht gesehen sind nicht die Kinder von wem und von woher

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sie reden von uns wie Ackerbauern von ihrer Erde Straßenarbeiter hackten den Bäumen in die Wurzel Die Bäume schütteln ihre Kronen und bleiben eine Weile stehen Die anderen Bäume behaupteten sie seien der Wald Mir ist merkwürdig Wenn ich dazwischen gehe128

„Wir … / spielen Mütter, Urgroßväter / die haben wir nicht gesehen /sind nicht die Kinder von / wem und von woher“ – Dischereits Gedicht Jüdische Renaissance, das sich in ihrem 1996 erschie­nenen Lyrikband Als mir mein Golem öffnete findet, liest sich wie eine Bezeugung dessen, was mit Finkielkraut als die Bewusstseinslage der ‚eingebildeten Juden‘ beschrieben wurde. Anders als noch in der oben zitierten Passage von Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte ist hier von Phrasenhaftigkeit nichts zu spüren. Wenn auch nicht buchstäblich gesetzt, so werden doch in Dischereits poetischem Ton und durch die Anordnung der Zäsuren lauter Fragezeichen hörbar („sind nicht die Kinder von / wem [?] und von woher [?]“). Der Riss, der durch die eigene Herkunft und damit auch durch die eigene Zukunft geht, verortet die Nachgeborenen inmitten eines unsicheren Lebensumfeldes. Für die Wir-‚spielenden‘ Mütter – im Fortlauf des Gedichtbandes ist immer wieder von einer Mutter-Tochter-Konstellation die Rede129 – heißt es daher in starkem Maße Umgang mit dem Fiktiven zu ha­ben, wenn es darum geht, den Nachkommen eine Zugehörigkeit zu jenem größeren Wir, dem beschädigten Kollektiv, zu vermitteln. Der Zustand des Entwurzeltseins wird dabei von Dischereit wörtlich aufgefasst, sein Bildpotential durchgespielt. Der TempusWechsel zwischen den einzelnen Strophen („hackten“, „schütteln“, „behaupteten“, „gehen“), der das Bild vom zer­störten Wald begleitet, demonstriert das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart. Die Wurzeln der Bäume, die hier 128 Esther Dischereit, Jüdische Renaissance, in: Dies., Als mir mein Golem öffnete. Gedichte, Passau 1996, S. 9. Alle zitierten Textpassagen sind dieser Ausgabe entnommen. Die Seitenangaben erfolgen in runden Klammern hinter dem Zitat. 129 Zum doppelten Ausschluss als Jüdin und Frau siehe u. a. Jeanette Jakubowski, „Die Jüdin“, in: Schoeps, Schlör 1999, S. 196–209; Itta Shedletzky, Eine deutsch-jüdische Stimme sucht sich Gehör – Zu Esther Dischereits Romanen, Hörspielen und Gedichten, in: Braese 1998, S. 199–221 sowie Andrea Heuser, „Ihr habt mich getaucht in diese immerwährende Schwärze“. Der weibliche jüdische Körper als Fremdkörper in Esther Dischereits Lyrikband „Als mir mein Golem öffnete“, in: transversal. Zeitschrift des Centrums für Jüdische Studien 4. Jg., Heft 1 (2003).

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sinnbildlich für die Tradition des deutschen Judentums ‚stehen‘, wurden von „Straßenarbeitern“, eine Metapher für die Wegbereiter des ‚neuen Deutschlands‘ unter Hitler, zerstört („in die Wurzel gehackt“). Von denen also, die den gesamten Lebensraum für sich allein beanspruchen („Die anderen Bäume behaupteten / sie seien der Wald“), womit deutlich auf das feindliche, nicht-jüdische Umfeld angespielt wird. Gleichzeitig wirkt sich dieses Beschädigt-Sein auch auf die Gegenwart aus, in der das Ich zwi­schen diesen Bäumen, den alten, beschädigten und den neuen umhergeht wie durch einen Geisterwald („mir ist merkwürdig / wenn ich dazwischen gehe“). Das alte Sprichwort „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“, die Blindheit für die Zusammenhänge zu Gunsten des Details, wird damit von Dischereit gegen den Strich gelesen und erhält mit dem Hinweis auf die Ver­nichtung des Einzelnen zu Gunsten eines ideologisch definierten Ganzen, eine geradezu denunziatorische Note. So ist es erst der Blick auf die Gewalt an den Wenigen (den Bäumen), der die Gestalt, das Gespenstische des Ganzen (des Waldes) klar hervortreten lässt. Anders als in der Kleistschen Formel, der zufolge der Sturm den gesunden Baum fällt, weil er in seine Krone greifen kann,130 kommt in Jüdische Renaissance die bereits eingesetzte Vernichtung gerade bei der ‚Krone‘ nur zögerlich an. („Die Bäume schütteln ihre Krone / und bleiben eine Weile stehen“). Der informierte Leser fühlt sich an das ungläubige Nicht-Wahrhaben-Wollen insbesondere seitens der deutschnational gestimmten Juden erinnert. Darüber hinaus liefert der Titel Jüdische Renaissance ein wichtiges Signal dafür, dass hier mittels literarischer Selbstvergewisserung genau derjenige Vorgang erprobt wird, den Finkielkraut als Jüdisch-Werdung beschrieben hatte: „Mein emsiges Gedächtnis speichert, soviel es kann: Bruchstücke einer Zivilisation, die im Exil überlebt haben, Redwendungen und die sie begleitenden Gebärden, eine Existenzphilosophie und Bezugssysteme des Denkens.“ Entsprechend lässt Dischereit die Jüdische Renaissance beginnen: „Wir wolln ein bißchen Aleph / und wolln die Mazze brechen / spielen Mütter, Urgroßväter“ … Die hier in Anlehnung an Fin­kielkraut gefundene Formel Erinnernd-Jüdisch-Werden gilt für Dischereits Lyrik in abgewandelter Form als ein Jüdisch-werden-wollen, denn ihr Sprechen bleibt im Dazwischen verhaftet, „zwischen den Gleisen“, wie es ein weiteres Gedicht aus dem Band bekundet:

130 In Kleists Penthesilea sagt Prothoe über Penthesilea: „Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, / Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, / Weil er in ihre Krone greifen kann.“ (3040–3043) Heinrich von Kleist, Penthesilea, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, Band 1, hrsg. von Helmut Sembdner, 2. Aufl. München 1994, S. 321–428, S. 428.

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Ich ziehe mir die Farben aus der Haut lege meine Blöße aus mit Plastik durchsichtig daß du meine Art die Luft vertrinken schaust und deren Menge zwischen den Gleisen fährst du mich daß mich dein Wagen in den Tönen fängt und in den Ohren sich verschließt bis mir die Gleise bersten (23)

Der Versuch der Sprecherin, den Morden, begangen an ihrer „Art“ und begangen auf eine spezi­fische „Art“ und Weise, im wahrsten Sinne des Wortes ‚auf die Spur zu kommen‘, scheitert, da sich das lyrische Ich nicht auf denselben Gleisen bewegt, die ihre Vorfahren, die Mütter und Großväter, in die Vernichtung geführt haben, sondern „zwischen den Gleisen“. Assoziierbar ist eine Erinnerungsfahrt – naheliegend wäre der ‚Besuch‘ in einer KZ-Gedenkstätte –, die das Ich mit einem nicht betroffenen und dadurch als antagonistisch empfundenen Begleiter, dem „du“ unternimmt. Eine weitere Verschiebung entsteht dadurch, dass die gegenwärtige Fahrt mit dem Auto („dein Wagen“) und nicht mit dem Zug unternommen wird. Dennoch geht dieses Verfahren der Distanznahme nicht auf, denn die Stimmen der Toten („in den Tönen“) holen das Ich zwischen den Gleisen ein und bringen diese zum Bersten („bis mir die Gleise bersten“), was bedeutet, dass dem Ich schlechterdings kein Weg mehr bleibt, weder vor noch zurück. Dischereits lyrisches Sprechen folgt dem Vorgang des Erinnernd-Jüdisch-Werden also darin, dass nicht nur Bruchstücke jüdischer Kultur beschwört werden – was sich außerhalb von Jüdischer Re­naissance („Aleph“, „Mazze“) in einer ganzen Reihe von Gedichten auch im Einspeisen jiddischer Wörter zeigt („chabibi“ (13); „mein waibele“ (13); „schejn“ (14); „chava, mein igele“ (18); „dibbuk“ (13); „Mesuse“ (13); „Mespochen (13)“ ) – beschwört wird auch die Gegenwärtigkeit der Toten. Auf intertextueller Ebene knüpft Dischereit damit an einen literarischen Traditionsraum jüdischer Stimmen an, insbesondere an Else Lasker-Schüler und Paul Celan, und zwar mit einer ganzen Variationskette metonymischer Verschiebungen, die in Als mir mein Golem öffnete um das Bild der „schwarzen Milch“ kreisen („Statt Milch haben wir / die Angst getrunken“ (7)), indem Gedicht über-

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greifend die flüssige „Schwärze“ gegen die flüssige „Bleiche“ gesetzt wird: „Ihr habt mich getaucht / in diese immerwährende Schwärze“ lautet etwa die erste Zeile des Gedichts Deutsches Lied (16). Während das eben zitierte Gedicht genau die gegensätzliche Bewegung vor­nimmt: „Ich ziehe mir die Farben / aus der Haut / lege meine Blöße aus / durchsichtig“. Mit der Wendung „die Luft vertrinken“ wird Celans Todesfuge direkt mit aufgerufen. Dem Vorgang des ErinnerndJüdisch-Werden zur Seite gestellt aber wird die Dokumentation des Schei­terns eines Jüdischseins, wie es in Jüdische Renaissance bereits anklang. Im wahrsten Sinne des Wortes ‚verdichtet‘ erscheint diese Unmöglichkeit in dem folgenden Gedicht, das, sich der Paradoxie des Vorgangs vollends bewusst, ein ‚Sprechverbot ausspricht‘: Ich darf nicht sagen jüdisch wenn ich es sage gibt es Krieg sagt mein Kind (15)

Damit ist zugleich der augenfälligste Punkt von Dischereits Lyrik berührt: ihre ausgeprägte Diskursivität. Die Schreibbewegungen als Suchläufe der Orientierung und Verortung innerhalb eines poetischen Terrains kommen der wörtlichen Bedeutung von Diskurs als discurrere für ein Hin- und Herlaufen, sehr nahe. Dischereits Lyrik, so könnte man daher sagen, ist Diskurs. Dies zeigt auch das folgende Gedicht, das aus einer literarischen und biographischen Positionierung besteht, die eine eigene Form jener Positionierung der Randständigkeit beschreibt, für die Andreas Kilcher den Begriff der „Exterritorialität“ geprägt hatte.131 Jahrgang 52 Das Zimmer ist mein Land Ich spreche Deutsch Mit meiner Schreibmaschine Einen Fetzen an den Rand Das Zimmer ist mein Land (25)

Aber nicht nur Aussageweisen werden als Modi der literarischen Selbstvergewisserung auspro­biert. Auch andere Formen der außerliterarischen Rede finden Ein131 Kilcher, in: ZfdPh 2002, S. 131–146.

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lass in den lyrischen Diskurs, werden transformiert und diskutiert, wie Sprichwörter und Redewendungen („den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“; jemandem „auf die Spur kommen“), die tradierten Vorstellungsbilder von den Juden, die gesellschaftlichen und politischen Praktiken der Gewalt und Ausschlussverfahren wer­den rekapituliert und anhand der Schreibbewegungen nachvollzogen. Und zwar: der Ausschluss („Ihr habt mich getaucht in diese immerwährende Schwärze“; „die anderen Bäume behaupteten / sie seien der Wald“), die Assimilation („Ich ziehe mir die Farben / aus der Haut“), die Vernich­tung („meine Art / die Luft vertrinken“). Um der Diskursivität von Dischereits Lyrik folgen zu können, ist ein ausgeprägtes Vorwissen allerdings Voraussetzung. Eine gelingende Lektüre hängt davon ab, ob der Leser den kommu­nikativen Gestus der Gedichte aufzunehmen vermag, die ansonsten Gefahr laufen, für (zu) kryptisch gehalten zu werden. Damit ist ein wichtiger Aspekt angesprochen: Das Verhältnis zwi­schen der Autorin und ihrer überwiegend nichtjüdischen Leserschaft. Letztere erschließt sich nicht nur allein aus dem Umstand, dass Dischereit innerhalb einer nichtjüdischen Mehrheitsge­sellschaft lebt und publiziert. Auch auf Ebene der Texte gibt es Signale, die dafür sprechen, dass sie bei ihrem imaginären Leser ein antagonistisch geprägtes Gegenüber vor Augen hat. An das Du, oder an das Ihr, zu denen das Ich konstant spricht, wird gerade aufgrund des historisch determinierten Spannungsverhältnisses appelliert, zu hören, zu sehen: „Ihr habt mich getaucht / in diese immerwährende Schwärze“; „an meinen schwarzen Haaren / euer Glied gerieben“ (16); „daß du meine Art / die Luft vertrinken / schaust“; „daß mich dein Wagen / in den Tönen fängt“ ; „jetzt fegst du / Staub / vor Deiner Tür“ (5). Ein wissender, nachvollziehender Leser wird einerseits vorausgesetzt, andererseits kann dar­aus kein ‚Bündnis‘ zwischen Autorin und Leser erwachsen. Die Gedichte suchen das Streit-Gespräch. Für ein Verhältnis der Distanzliebe etwa ist die an Scholem erinnernde Entgegensetzung von Deutschen und Juden, innerhalb der sich Sprecherin und Adressat(en) begegnen, zu elementar. Das Ich bleibt vielmehr Außenseiterin im doppelten Sinne. Entfremdet gegenüber der eigenen Tradition, fremd gegenüber ‚den Deutschen‘. „Ihr Zärtlichen, / Kein falsches Bild! / Ihr müsst mich sehen / Ich bin nicht wild, / V ielleicht gar schön!“ – hatte Isachar Falkensohn Behr zweihundert Jahre zuvor noch an seine deutschen Lese­rinnen und Leser appelliert und sich besorgt gefragt: „Erregen nicht die Worte: polnischer Jude, in der Seele das Bild eines Mannes, schwarzvermummt, das Gesicht verwachsen, die Blicke finster, und rauh die Stimme?“ Und nun Esther Dischereit, gewissermaßen in literarischer Nachfolge: „Ihr habt mich getaucht in diese immerwährende Schwärze“ – Dischereits Schreiben jedenfalls bleibt dem Diaspora-Modell literarisch-jüdischer Identitäts­ ent­würfe durchaus verbunden. Die „Schwärze“ als Bild des Ausschlusses und Stigmatisierung des ‚Anderen‘, mit der sich bereits Behr auseinandersetze, wird

,Der eingebildete Jude‘

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bei Dischereit als „immerwährend“ festgeschrieben. So ‚hört‘ der Leser, wie schon in Schindels Gebürtig, auch in den Versen Dischereits noch die Stimme Falkensohn Behrs, ebenso wie übrigens in den Werken Rafael Seligmanns oder Maxim Billers, in denen die Exponiertheit der Juden in all ihren Spielweisen durchgespielt und, insbesondere bei Biller, auch gerne satirisch auf die Spitze getrieben wird.132 Für dieses Insistieren auf der Sichtbarkeit, die als Kriterium heute in der Tat eher auf Migrantengruppen, etwa auf die türkischen und deutsch-türkischen Jugendlichen und ihre ‚Kanaksprache‘ zutrifft, für das Festhalten an jenem, laut Forschung, „überholten Modell“ einer vergangenen Zeit also, gibt es gute Gründe. Zum einen kann dieser Vorgang durchaus als poetisches Verfahren, als ein Erinnernd-Jüdisch-Werden mittels einer Anbindung an die lange Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden verstanden werden, wie es hier für Dischereits Lyrik gezeigt wurde – eine Perspektive, die der Historiker Dan Diner als ‚jüdisches‘ Geschichtsnarrativ bezeichnet hat und die sich hier in den Formen literarischer Geschichtsschreibungen wiederfindet. Zum anderen verhilft die Opposition zwischen Deutschen und Juden, wenn auch ex negativo, zu einer Orientierung innerhalb einer immer ausdifferenzierteren und fragmentierten gesellschaftlichen Umwelt, die die Kategorie des ‚Anderen‘ mehr und mehr obsolet erscheinen lässt und dadurch gewissermaßen stabilisierend und identitätsstiftend wirkt. Gleiches gilt auf Ebene des literarischen Betriebs: Dem Autor wird es möglich, eine sichtbare Position zu beziehen, für den Kritiker, Lektor und Buchhändler wiederum wird der Autor kate­gorisierbar. Letzteres deutete sich in dem Kommentar von Dischereits Lektor an, der sich die Jüdischkeit in ihrem Schreiben extrapolierter gewünscht hatte: Er [Der Lektor] findet das Stück gelungen und gratuliert. Aber er gibt zu bedenken, ob nicht die Passagen, die das spezifisch Jüdische aus­machen, besser zu streichen sind. Das Jüdische gehe unter, werde im Fortgang der Handlung ja nicht weiter beachtet, dadurch vielleicht minimiert. Der Leser erwarte für das Folgende hingegen eine Konzentration auf das Jüdische. Ein deutscher, ein mehrheitsdeutscher Einwand.133

Zugleich ist die Einsicht in die Unsichtbarkeit, in die mit Gilman konstatierte „Marginalisierung“ der Juden, für die Betroffenen ein schmerzhafter Bewusstseinszustand, der in die literarische Transformation drängt. Die mit Finkielkraut als „Romane des gelben Sterns“ bezeichneten Texte würden vor diesem Hintergrund weniger als pure Selbstdar­stellungen und Phrasen, sondern auch als bewusste Gegendiskurse gelesen werden können, in­dem die Autoren ihre Fiktionen 132 Siehe besonders Maxim Billers Erzählung “Harlem Holocaust“, Köln 1990. 133 Dischereit 1998, S. 17.

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der Sichtbarkeit gegen den Prozess des Verschwindens setzen. So wirkt auch Dischereits Lyrik gerade im Bezeugen des Inauthentischen, in der Dokumen­tation eines unmöglichen Sprechens („ich darf nicht sagen jüdisch“), authentisch. Dies ist nur scheinbar paradox. Denn ihre literarischen Selbstzeugungsversuche erweisen sich als produktive, sinnstiftende Phantasmen. Dies signalisiert nicht zuletzt der Titel des Bandes: Als mir mein Golem öffnete. Der Golem, der mythische, fiktive Riese aus Lehm, erfunden von den Prager Juden des Mittelalters zu ihrem Schutz, konfrontiert das Ich mit sich selbst und im Hinblick auf dessen jüdische Herkunft mit seiner Wir-Werdung. Diese Innenschau wird zum Initiator poetischer Suchbewegungen, die über das Dokumentieren der Unwiederbringlichkeit hinaus wirksam sind. Dischereits Gedichte zeugen und sprechen vom Mangel, von der Untröstlichkeit, von der Leer­stelle, von Gegeneinanderstellungen. Darin aber generieren sie ‚wahre‘ Fiktionen. To turn fiction into truth – dies zeigt, abschließend, das Titelgedicht: Ich saß vor deiner Tür als mir mein Golem öffnete führte mich abseits und strich mir die Zeile aus jetzt fegst du Staub vor Deiner Tür

II. 4. Die Struktur des Mythos‘. Zwischenresümee Jüdischkeit nach 1945 ist eine semantische, biographische und lexikalische Leerstelle. Die deutschen Diskurse der Nachkriegsliteratur antworten auf diesen Befund, die Vernichtung jüdischer Identität aufgrund des Genozids, indirekt mit Sprachlosigkeit, die jüdischen Diskurse mit einer komplementären Schreibbewegung, mit der sie Durch-die-Sprachlosigkeit-hin­durchgehen. Jüdische Figuren bewegen sich als Nicht-Nichtjuden, ‚eingebildete Juden‘ und ‚Protagonisten des gelben Sterns‘ in einem gewissermaßen entleerten Raum des Fiktiven, oder ihre Autoren produ­zieren wie Celan Umschriften jüdisch-kanonischer Texte, um die Radikalität der Zäsur zu doku­mentieren, die die Shoah auch

Die Struktur des Mythos. Zwischenresumée

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innerhalb der jüdi­schen Leidens- und Exilgeschichte darstellt. Was die so unterschiedlichen Werke der jüdischen und nichtjüdischen Autoren in Bezug auf ihre jüdischen Diskurse und Judendarstellungen verbindet, ist das direkte oder indirekte Bezeugen des durch die Shoah erzeugten Verlusts jüdischer Substanz. Dass der Schmerzhaftigkeit, die dieser Leerstelle innewohnt, jenseits ihres Status’ als indi­viduel­lem wie kollektiv applizierbarem Bewusstseinszustand auch eine poetologische Qualität zu­kommt, hat die Analyse der literarischen Werke Celans, Hildesheimers und Dischereits gezeigt. Die hier vorgeführten poetischen Umgangsformen mit der Leerstelle Jüdischkeit sowie mit dem Mythos der ‚Stunde Null‘, lassen sich durchaus auch strukturell beschreiben, wenn man den strukturanalytischen Ansatz von Claude Lévi-Strauss zur Struktur der Mythen zu Hilfe nimmt: Lévi-Strauss zufolge kann der Mythos als ein Organisationsmodell von Aporien verstan­den werden. Als ein solches dient der Mythos zunächst ganz allgemein der „Umschreibung von Leerstellen“.134 Darüber hinaus kommt ihm aber auch die Funktion zu, „nominose Unbestimmtheit in nominale Bestimmtheit zu überführen und das Unheimliche ver­traut und ansprechbar zu machen.“135 Die Bewältigungsformen der Aporie bestehen bei Lévi-Strauss jedoch nicht in dem Versuch, die Grenzen des Sagbaren sprachlich zu überschreiten, sondern vielmehr in dem Ver­such, das Vergebliche dieser Anstrengung poetisch zu überspielen. Die struktur- und ordnungs­stiftende Funktion des Mythos‘, die laut Levi-Strauss in jenem Vorgang des poetischen Über­spielens von Sagbarkeitsgrenzen begründet liegt, ist auch dem Mythos von der ‚Stunde Null‘ als dem Versuch, eine soziale Ordnung der Erinnerung zu etablieren, immanent. Die damit einherge­henden Poetiken des Überspielens – von Sagbarkeitsgrenzen und Leerstellen – liefern in ihrer Kunst, etwas zu benennen, damit zugleich etwas anderes ‚beschwiegen‘ werden kann, den exakten Be­schreibungsmodus, der die Diskursivität der literarischen Redeweisen über Juden rund um die mythologische Stunde Null vor Augen führt: So erfüllten die Judendarstellungen in den ‚deutschen Diskursen‘ der Nachkriegsliteratur in ihrer Stereotypie ja geradezu den Zweck, eine wirkliche Rede über jüdische Erfahrungen und jüdische Identität zu ersetzen. Das wortreiche Überspielen jener tabuisierten Leerstelle, die die Vernichtung der Juden hinterlassen hatte, arbeitete auf Ebene der literarischen Nachkriegsdiskurse einem allgemeinen deutschen Opfer­mythos entgegen, in dessen Kontext den Nicht-Nichtjuden wie Heinrich Bölls Ilona Kartök oder Alfred Anderschs Georg Efraim die Funktion zukommt, nicht nur als Sprachrohr der eigenen Entlastung zu fungieren, sondern auch einer Universalisierbarkeit der jüdischen Leid- und Fremd134 Claude Lévi-Strauss, Die Struktur der Mythen, in: Ders., Strukturale Anthropologie, Bd. 1, Frankfurt am Main 1981, S. 226–254, hier S. 238. 135 Hans Blumenberg, in Anschluss an Lévi-Strauss, in: Ders., Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, S. 29.

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Das Erbe. Jüdischkeit als Leerstelle

heitserfahrung Ausdruck zu verleihen, indem die Vergeblichkeit dieser Anstrengung (einer Übertragbarkeit und Identifikation mit den jüdischen Opfern) und die damit verbundene Sprachlosigkeit mittels der Narration von „Anti-Faschismus-Geschichten“ überdeckt wird. Im Hinblick auf die ‚jüdischen Diskurse‘ kann Lévi-Strauss’ struktureller Mythosbegriff als ein „Organisationsmodell von Aporien“ als treffendes Moment der Charakterisierung für den Umgang der Autoren mit der Leerstelle Jüdischkeit, den Konstruktionen der ‚eingebildeten Juden‘ im Raum des Fiktiven sowie als Bezeichnung für das unausgesprochene Spannungsverhältnis herangezogen werden, das zwischen dem Bezeugen der Leerstelle einerseits und andererseits dem Überspielen der damit verbundenen Folgen einer faktischen Unsichtbarkeit mittels tradierter Formen der Sichtbarkeit und den Kategorien des ‚Andersseins‘ besteht.

III. Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

„Das Jahr 1945 rückt uns deshalb so nah, weil alles, was in der Zeit bis 1989 kam, inzwischen so fern gerückt ist.“ So der Publizist Michael Jeismann zu den literarischen Geschichtskon­struktionen, die auf der Basis des Mythos von der Stunde Null entstanden sind.1 Stimmt das? Oder, anders gefragt: Wie gehen die Autorinnen und Autoren, deren literarisches Schaffenszentrum in der Zeit nach 1989, also in der jüngsten Gegenwart liegt, mit diesem ‚Erbe‘ an Leerstellen um? Das jüdische Schreiben, das ist, als schriebe ich autonom und dem Künstlerischen verpflichtet, tat­sächlich schreibt sich ein Gedächtnis, und dieses scheint mir bloß aus der Hand zu fallen aufs Pa­pier.2

Tatsächlich schreibt sich ein Gedächtnis – was Schindel in seinem Auskunftsbüro der Angst beschreibt, ist Jüdischkeit als Text: „Text“ wird hier in seiner wörtlichen Bedeutung von texere, lateinisch für weben, als eine Schreibbewegung aufgefasst. Wobei das poetische Verfahren, das mit der Tätigkeit des ‚Webens‘ assoziiert wird, zunächst einmal ganz allgemein darin besteht, die eigene Stimme in einen größeren Diskursraum ‚einzuflechten‘. Mit der Produktion eines neuen Textes wächst proportional die Akkumulation von bereits vorhandenem Wissen und tradierten kulturellen Mustern. Die Kontexte (contexere: verweben) stellen die verschiedenen geschriebenen und ungeschriebenen Schichten eines Textes vor, die das Gesagte in Relation zu etwas anderem stellen und damit das spezifische Textverständnis bestimmen. Dabei gilt es zwischen den Kontexten als Formen des Vorwissens und denjenigen, die der Text unmittelbar provoziert, zu unterscheiden. Als poetisches Element sind die Text-Schichten zugleich Erinnerung an die dem Text eingeschriebenen Sinn- und Stimmbezüge. Im Aufrufen eines jüdischen Stimmraumes, des Meridians, schreibt sich, im Sinne Schindels, also ein Gedächtnis. Diese Sinn- und Stimmbezüge gilt es im Folgenden, gleich einem archäologischen Lektüreverfahren ‚freizulegen‘. Die Wirkung der getroffenen Aussagen, der gewählten Analogien und Bilder wird von den Autoren bei der Produktion des literarischen Textes nicht nur bewusst eingeplant, sondern, wie zu zeigen sein wird, auch zum Gegenstand der Reflektion im Text selbst erhoben, wie dies bereits bei Falkensohn Behr der Fall war: „Ihr Zärtlichen, / kein falsches Bild!“ 1 Michael Jeismann, in: Literaturen, 05/2005, S. 19. 2 Schindel 1995, S. 106.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Die mögliche Reaktion des Lesers strukturiert daher die Ordnung des jeweiligen Textes mit, woraus deren spezifische Dialogizität resultiert. Die Diskurstheorien sprechen in diesem Zusammenhang von einem ‚Pakt‘ zwischen Autor und Leser oder gar von einer Ko-Autorschaft des Lesers. Stößt aber ein möglicher Pakt zwischen jüdischem Autor und nichtjüdischem Leser und umgekehrt zwischen nichtjüdischem Autor und jüdischem Leser, wenn über Juden und Jüdischkeit gesprochen wird, nicht von vornherein an unüberwindliche Grenzen? Kann überhaupt von Dialogizität gesprochen werden? Und wenn, in welchem Sinne? Wie also lässt sich über Jüdischkeit oder gar über die Möglichkeiten und Unmöglichkei­ten eines heutigen Deutschjudentums miteinander ins Gespräch kommen vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs der Shoah einerseits und der Wiedervereinigung, der Neuordnung Deutschlands und Europas anderer­seits, und damit im Zuge eines wechselseitigen spannungsreichen Selbstvergewisserungsprozesses? Zu diesem großen Hintergrundkontext schreibt der Literaturwissenschaftler Hanno Loewy: Der zionistische Lippendienst besänftigt und überspielt nicht länger die eigenen Widersprüchlichkeiten und die Verunsicherung darüber, im Lande der Täter zu leben; eigene Aspirationen auf eine posttraumatische Integration in eine neu zu definierende deutsche Gesellschaft melden sich seit Jahren mehr oder weniger eloquent zu Wort. Daß sich die deutsche Gesellschaft selbst seit der Vereinigung wieder auf der Suche nach der „eigenen Mitte“ befindet, ist dabei ein eher verstörender Kontext. Anstatt endlich die deutsche Staatsbürgerschaft aus dem Joch ihrer völkischen Definition auszuspannen und die in der Zweistaatlichkeit gewachsene Realität einer Einwanderungsgesellschaft nachzuvollziehen und politisch zu gestalten (worüber ja auch, aber folgenlos, debattiert wird), beziehen sich Versuche der Stiftung eines Gründunsgmythos eines neuen Deutschland ausgerechnet auf die vernichteten Juden und die „gemeinsame Schuld“ im Nationalsozialismus. Daß sich kritische Juden in Deutschland angesichts dieser Welle von öffentlicher und nach Kontinuität und Erbe suchender Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus vom „shoah business“ eher mit Grauen abwenden, gehört nun ebenso zur Unübersichtlichkeit einer unmöglich gewordenen „deutschen Identität“ wie die Tatsache, daß der Streit über ein deutsches „Holocaust“-Denkmal zu keinem Ende kommen kann. Der Traum einer deutsch-jüdischen Symbiose – also die Vision einer gemeinsamen kulturellen „Sendung“ hat sich doch längst als Projektion jeweils eigener Sehnsüchte entpuppt. 3

So Hanno Loewy. Bevor nun unter dem poetologischen Stichwort Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text einer ‚neuen‘ Redeweise über Jüdischsein im Diskursraum der deutschen Literatur nachgegangen wird, erscheint es sinnvoll, die besag3 Hanno Loewy, Im Dreieck springen, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaften Nr. 616 (1997), Schwerpunkt: Jüdische Identität, S. 919–923, hier S. 923.

„1989“ – Was Kommt? Was bleibt?

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ten Textlektüren mit einer kurzen Diskussion über die zeithistorische Verortung „nach 1989“ einzuleiten, in der sich Deutschland, so Loewy, nicht nur auf der neuen Suche nach einer „eigenen Mitte“ befindet, sondern seinen neuen Gründungsmythos ausgerechnet „auf die vernichteten Juden und die ‚gemeinsame Schuld‘ im Nationalsozialismus“ bezieht. Fungiert ‚der Jude‘ damit als ‚letzter Anderer‘ einer bundesdeutschen Mittelstandsgesellschaft? Handelt es sich bei „nach 1989“ um eine Zäsur oder um die Inanspruchnahme einer Zäsur im Hin­blick auf ein neues Nachdenken über jüdische Identität und die damit verbundene Kategorie des ‚Anderen‘? Oder anders gefragt: Was kommt? Was bleibt?

III. 1. „1989“ – Was kommt, was bleibt? 1.1. Über Justierungsprozesse, literarische Geschichtskonstruktionen, Opfernarrative und: Jüdischkeit? „Wir – sind – das – Volk! Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen.“ So Christa Wolf in ihrer Rede Sprache der Wende am 4. November 1989.4 Zu diesem Zeitpunkt, im Zuge der herrschenden Wiedervereinigungseuphorie, ahnte sie noch nicht, dass ihre ästhetischen Positio­nen schon wenig später zum Auslöser, und ihre Person zur Zielscheibe einer ersten deutsch-deutschen Literaturdebatte werden würden. Diesen Debatten kommt ein besonderer Stellenwert bei der Situierung der deutschsprachigen Literatur in Bezug auf das deutsch-jüdische Gespräch ‚nach 1989‘ zu. 1.1.1. Ins-Gespräch-Treten? Die Literaturstreits

Was aber sind die Charakteristika einer solchen Debatte? Lothar Bluhm hat die wesent­lichen Merkmale eines Literaturstreits folgendermaßen beschrieben: Literaturstreits [sind] ausgezeichnet durch Öffentlichkeit, eine thematische Zentrierung, die eine mindestens duale Streitkonstellation aufweist, Interdiskursivität und Komplexität, wobei die Initialtexte und ein rele­vanter Anteil der Beteiligten primär dem literarischen Feld zugehören. Nicht zuletzt gehören dazu die Prominenz der zentralen Handlungsakteure, wechselnde Diskursformen im Zuge einer zeitlich und räum­lich weiteren Streitfolge, eine herausragende Rolle der Massenmedien und schließlich ein symptomatischer, exemplarischer Charakter, der den Streit zu einem Fokus der geistigen und mentalen Situation der Zeit macht. Zur thematischen Zentrierung gehört [zudem] eine gewisse 4 Christa Wolf, Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz [4.11.1989], in: Dies., Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994, München 1996, S. 11–13, S. 13.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Fälligkeit, die aus einem gesellschaftli­chen Problemdruck entsteht. Dabei wird ein öffentliches Reiz- oder Tabuthema angerührt, das meist re­duktiv aus einem sehr viel weiter gespannten Problemhorizont herausgelöst wird. Nicht selten ist es dabei ein Nebendiskurs, der von der eigentlichen Thematik und Intentio des Initialtextes beträchtlich abweicht.5

Das Zurücktreten des Literarischen oder des Literaturkritischen hinter politischmoralische Fra­gestellungen provoziert einerseits die Frage, ob man in einem solchen Falle überhaupt noch von einem Literaturstreit sprechen kann, andererseits wird ein Abstraktum, der für den Kontext jüdischer Identitätsdiskurse elementare Umstand nämlich, dass Literatur immer auch ein meta­historischer Diskurs ist, evident, da sich auf dem weiteren literarischen Feld der Debatten „gegenwartsrelevante Interferenzerscheinungen in wünschenswerter Offenheit“ zeigen.6 Bestes Beispiel hierfür ist die Rede Martin Walsers anlässlich der Verleihung des Friedens­preises des deutschen Buchhandels, deren Implikationen eingangs bereits diskutiert wurden. In den sogenannten Literaturstreits überschneiden sich in der Tat nicht nur historisch-politische, gesellschaftsmentale und literarischästhetische Diskurse. Ihrem Aktualitätswert liegt zumeist auch ein mittel- bis langfristiger Diskursraum zu Grunde.7 Im Falle der Debatte um Martin Walser war es die Frage nach einer Funktionalisierung und damit einer Politisierung der nationa­len Erinnerung an Auschwitz und die deutschen Kriegsverbrechen. Die Intensität und Nachhaltigkeit der von namhaften Literaten ausgelösten oder provozierten Debatten, wie sie in den 1990er Jahren in Deutschland zu beobachten waren, und die sich außer mit den Namen Christa Wolf und Martin Walser auch mit denen Peter Handkes und Botho Strauß’ verbinden, sprechen dafür, diese als Nachvereinigungsdebatten zu bezeichnen, da sie, so noch einmal Bluhm, in den Kontext eines umfassenden gesellschaftlichen Justierungsprozesses gehö­ren, innerhalb dessen die deutsch-deutsche Vereinigung und deren Folgen einen zentralen Moment ausmachen: 5 Lothar Bluhm, Standortbestimmungen. Anmerkungen zu den Literaturstreits der 1990er Jahre in Deutschland – eine kulturwissenschaftliche Skizze, in: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, hrsg. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher, Heidelberg 2004, S. 61–74, hier S. 66. 6 Ebd., S. 62. 7 Auf die einzelnen Literaturstreits kann im Folgenden nur kurz eingegangen werden. Es wird dabei jeweils auf die einschlägigen Dokumentationen an anderer Stelle verwiesen: Vgl. stellvertretend dazu Wilfried Barner, Was sind Literaturstreite? Über einige Merkmale, In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 47 (2000), Heft 4: Literaturstreit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bachorski, Georg Behütuns und Petra Boden, Bielefeld 2000, S. 374–380 sowie für einen bibliographischen Überblick Clemens Kammler, Jost Keller, Reinhard Wilczek u. a., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Gattungen – Themen – Autoren. Eine Auswahlbibliographie, Heidelberg 2003, S. 63–88.

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Die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten und der damit einhergehende Systemzusammenprall hatten für eine Zeit eine Überkomplexität entstehen lassen, die zwangsläufig mit dem Verlust von Selbst­verständlichkeiten – von gesellschaftlichem Konsens – verbunden war. Da die gesellschaftlichen Parameter in Ost und West ihr bis dato gültiges Bezugssystem verloren hatten, ergab sich die Notwendigkeit einer Neusituierung bzw. die Suche nach neuen Parametern als diskursive Gegenbewegung. Dieser Zusammen­hang prägte in besonderer Weise den Christa-Wolf-Streit, der am Beginn der Streitstafette rangiert.8

1990 – Ausgangspunkt der ‚Streitstafette‘ war die im Juni 1990 erschienene Erzählung Was bleibt von Christa Wolf.9 Schon im Vorfeld der Veröffentlichung erschienen in der „FAZ“ und der „Zeit“ ebenso ausführliche wie harsche Kritiken über diese Erzählung, in der Christa Wolf mit­tels innerer Monologe und Dialoge die Konflikte einer Schriftstellerin thematisiert, die, eindeutig als Wolfs alter ego identifizierbar, trotz der Repressivität des DDR-Regimes darum ringt, ein autarkes literarisches Sprechen zu entwickeln. Die nicht nur hoch angesehene, sondern insbesondere in der ostdeutschen Bevölkerung auch als eine Identifikationsfigur fungierende Autorin, wurde seitens der bundesrepublikanischen Literaturkritik mit dem Vorwurf konfrontiert, eine Staatsdichterin zu sein, die nun versuche, sich nachträglich als Opfer des Regimes zu stilisieren.10 Der daraufhin ausbrechende Streit über ‚Gesinnungsästhetiken‘ machte auch vor einer grundsätzlichen Neueinschätzung des bis dato auch in der ‚alten‘ Bundesrepublik überwiegend positiv einge­schätzten Gesamtwerks der Autorin nicht halt. Diese lang anhaltende, den gesamten Feuilleton­sektor umfassende Kontroverse weitete sich im Laufe der folgenden Monate schnell auf die ge­samte DDR-Literatur sowie auf Teile der westdeutschen gesellschaftskritischen Literatur der Gruppe 47 aus. Die tatsächliche oder vermeintliche Fehlbarkeit der kulturellen Elite der ehemali­gen DDR mündete, so Lothar Bluhm, in einer umfassenden Intellektuellenschelte. Adressat war hier der intellektuelle Mainstream der sogenannten 68er Generation die seit den siebziger Jahren als die Repräsentanten eines neuen ‚besseren Deutschlands‘ galten, und deren linkslibera­les Selbstverständnis mit den Attributen ‚links‘, ‚fortschrittlich‘ und ‚aufgeklärt‘ verbun­den war.11 Das Resultat war eine allgemeine 8 Ebd., S. 63. 9 Christa Wolf, Was bleibt. Erzählung, Hamburg, Zürich 1990. 10 Dazu siehe neben Lothar Bluhm insbesondere auch Thomas Anz (Hrsg.), „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991 sowie: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“. Analysen und Materialien, hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss, Hamburg/ Zürich 1991 und Franz Josef Görtz (Hrsg.), Deutsche Literatur 1990. Jahresüberblick, Stuttgart 1991, S. 228–314. 11 Das ging soweit, dass bald von einer „Krise des intellektuellen Auserwählungsparadigmas“ gesprochen wurde. Siehe Johano Strasser, Intellektuellendämmerung? Anmerkungen zu einem

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Ernüchterung hinsichtlich der Möglichkeit eines deutsch-deutschen sowie eines generations- und gesinnungspolitisch übergreifenden Gesprächs, verbun­den mit der vehementen Forderung nach einer gesellschaftspolitisch und moralisch vor­ urteils­f reien, sprich autonomen Literatur und Literaturkritik. 1993 – Geradezu konträr verliefen die ‚Frontlinien‘ im Falle des Streits, den Botho Strauß im Februar 1993 mit seinem Spiegel-Essay Anschwellender Bocksgesang auslöste und der ihm den Vor­wurf des „Rechtsintellektualismus“ einbrachte.12 Dabei bestand das Problem nicht so sehr in der viel augenscheinlicheren Polemik gegen die moderne Mediengesellschaft, die Strauß als eine „Kloake“ titulierte,13 oder in der Forderung, sich gegen die „Totalherrschaft der Gegenwart“ mittels einer Rückbesinnung auf Glauben, Mythos und die Phantasie des Dichters zu stellen. Aus­löser war vielmehr die Diktion des Essays, in welchem Strauß den politisch eindeutig besetzten Begriff ‚rechts‘ als positive Leitvokabel zu nutzen versuchte. Ein „verklemmter deutscher Selbsthaß“ und eine verkorkste „Vergangenheitsbewältigung“ hätten, so Strauß, den aktuellen gewalttätigen Rechtsradikalismus hervorgerufen und befördert.14 Seine Entscheidung, den Artikel als Leitartikel in einem rechtskonservativen Sammelband drucken zu lassen, gab diesem vielerorts erhobenen Vorwurf weiter Nahrung.15 1996 – auch der Streit um Peter Handkes Serbienberichte ging von Veröffentlichungen in den Massenmedien aus. In zwei Folgen, die in der „Süddeutschen Zeitung“ im Januar 1996 erschie­nen, schilderte Handke die Eindrücke seiner Serbienreise im Anschluss an den soeben in Dayton/Ohio beendeten blutigen Bosnien-Krieg.16 Handke attackierte dort die verlogene, kriegstreiberische AntiSerbien-Berichterstattung der Medien, insbe­sondere in Deutschland und Frankreich, und zog die Wahrhaftigkeit der Gräuelberichte und Fernsehbilder aus Bosnien grundsätzlich in Zweifel. Seine anschließende Öffentlichkeitskam­pagne

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Machtkampf im deutschen Feuilleton, in Neue deutsche Literatur 40 (1992), H. 478, S. 110–127, S. 121 sowie Bluhm 2004, S. 64. Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel, 8. 2. 1993, S. 202–207. Abdruck sowie Bibliographie über die Dokumentation siehe Görtz 1994, S. 255–269. Einzelne Phrasen werden nach dieser Ausgabe zitiert, in: Deutsche Literatur 1993. Jahresüberblick Stuttgart 1994, weitere Dokumentationen im Jahresüberblick Deutsche Literatur 1994, Stuttgart 1995, S. 260–314. Strauß, Bocksgesang, nach: Görtz, S. 269. Ebd., S. 258. Dazu Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewußte Nation – „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin 1994. Peter Handke, Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Moraa und Drina. In: Süddeutsche Zeitung 5./6. und 13./14. Januar 1996. Als selbstständiger Druck unter dem Titel: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Mora und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt am Main 1996. Siehe auch Thomas Deichmann (Hrsg.), Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, Frankfurt am Main 1999.

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machte den Autor in den Augen vieler zu einem Propagandisten der MilosevicDiktatur und zum Proklamateur großserbischer Ansprüche. Die öffentlichen Reaktionen reichten vom Vorwurf der „Niedertracht“17 und einem Verriss der Reiseberichte als einer „monomentale[n] Katastrophe der Selbstgerechtigkeit“18 bis zu ihrer Einschätzung als einem politischen Skandal. Dass der Autor, der immer schon Skandale zu inszenieren und die Medien dafür zu nutzen wusste, das Grab Milosevics besuchte, war in der Tat ein Schlag ins Gesicht, nicht nur für eine sensibilisierte Öffentlichkeit, sondern auch für große Teile der serbischen Bevölkerung, die unter der Diktatur Milosevics gelitten hatten. Wie unabgeschlossen auch diese Debatte ist, zeigte sich jüngst anhand des Skandals um die Verleihung des Heine-Preises an Peter Handke im Juni 2006. 1998 – als politischer Skandal galt dann auch die besagte Rede Martin Walsers in der Paulskirche. Die eingangs geführte Diskussion um die Gerichtsförmigkeit der sich dieser Rede anschließenden bundesweit geführten Debatte um die Funktionalisierung des nationalen Gedenken an Auschwitz unter ebenjenen Auswüchsen rhetorischer Verkehrungen der Opfer-Täter-Dichotomie, im Zuge derer die Juden als die ehemaligen Opfer nun zu imaginären Klägern und die Deutschen zum Opfer von „Moralkeulen“-Argumentationen stilisiert wurden, diese Konstruktion eines nationalen deutschen Opfermythos, der bei Walser motiviert scheint durch den auf Betroffenheit basierenden Versuch der Schuldumkehr und Verlagerung eines politisch-öffentlichen Diskurses des Gedenkens in eine rein private Gewissensfrage – diese Debatte zeigt, wie unbefangen sich seitens des westdeutschen Literaturbetriebs ein derartiger Vorwurf wie der einer Opfer-Mythologisierung gegenüber Christa Wolf und anderen in Bezug auf die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit äußern lässt, während die Gesellschaft der ‚alten‘ Bundesrepublik, im Falle der Walser-Bubis-Debatte im Grunde mit selbigem Vorwurf konfrontiert, nur zögernd selbstreflexiv darauf reagiert. Mit dem Schlagwort des Antisemitismus-Verdachts gegenüber Martin Walser wurde seitens des deutschen Feuilletons19 ein Nebendiskurs aufgemacht, der vom eigentlichen Thema, der Funktionalisierung des Opferbegriffs und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Implikationen von Täterschaft und Eingedenken, ablenkt.

17 Peter Schneider, in: Der Spiegel vom 15.1.1996, siehe Görtz 1997, S. 283. 18 Wolfram Schütte, in: Frankfurter Rundschau vom 17.1.1996, siehe Görtz 1997, S. 285. 19 Dass diese Frage von Bubis, der zu Recht sensibel auf einen gewissen Gestus der Latenz reagiert, in die öffentliche Diskussion eingebracht und dort auch aufgegriffen und diskutiert wurde, steht damit selbstverständlich nicht zur Disposition. Die Kritik richtet sich hier lediglich darauf, dass der Diskurs, ob Walser und seine literarischen Werke nun antisemitisch seien oder nicht, in Bezug auf seine Friedenspreis-Rede einen viel grundlegenderen verdrängt hat und die für das deutsche Kollektiv schmerzhaftere Frage nach der Konstruktion nationaler Opfermythen überspielt.

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1990, 1993, 1996, 1998 – die Zeit ‚nach 1989‘ erweist sich als ein gesellschaftspolitischer Justierungsprozess eines wiedervereinigten Deutschlands, an dem Literaten und Literaturdebatten einen wesentlichen Anteil haben, indem sie auf eine gewisse Fälligkeit der Themen reagieren und Reiz-Fragen für eine breitere Öffentlichkeit diskutierbar machen. Zudem zeigt gerade der Vergleich zu anderen Ländern, dass es sich bei dieser Form des Litera­turstreits, wie er hier skizziert und definiert wurde, interessanterweise um ein spezifisch ‚deutsches’ Phänomen handelt.20 Er bildet einen Interdiskurs, der auf literarischem Feld Bewusst­seinszustände und Befindlichkeiten diskutiert, die auf politischer Ebene nicht verhandelt werden können. Und in Deutschland nach 1945 handelt es sich hierbei vor allen Dingen um das Problem der Täterschaft und des öffentlichen Umgangs mit diesem Erbe, insbesondere im Selbstverständnis einer sich neu definierenden Bundesrepublik an der Schwelle zum neuen Jahr­tausend. Die damit verbundenen Ressentiments der Deutschen gegenüber den Juden, das Zwi Levi auf die prägnante Formel Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen gebracht hat, führen andererseits dazu, im jüdischen Gegenüber den Adressaten für die eigene Entlastung zu suchen. Es sei hier noch ein­mal an Ignatz Bubis’ Aussage hinsichtlich auf Walser erinnert: Ich kann ihm seinen Seelenfrieden nicht wiedergeben. […] Es stört ihn [Walser], daß es mich gibt, nicht, weil er mich tot haben will, nein, aber es stört ihn, wenn er mich sieht […] Jeder sucht nur seine eigene seelische Entlastung. Man erwartet von mir, die Ängste zu nehmen, die die Kinder und Enkel der Tätergeneration in sich tragen.21

Die kollektiven Denkweisen, Vorstellungen, Wissensformen und Denkschemata sozialer Wirk­lichkeit, wie sie nicht nur offen, sondern insbesondere auch verdeckt zum Tragen kommen, und deren ‚Lösung‘ jede Gesellschaft traditionell an ihren ‚Anderen‘, an ihr Gegenüber deligiert, die­ses Kulturphänomen spiegelt sich auch in dem wider, was mit Lothar Bluhm die mentale Seite des Literaturstreits genannt werden kann: Der verdeckte Subtext solcher Kulturerscheinung ist die Überzeugung, dass eine soziale Übereinkunft in der gegenwärtigen modernen Gesellschaft nicht oder nicht mehr möglich sei. Eine solche Konstellation be­fördert Durchsetzungsstrategien, die mit Diffamierung und antagonistischen Schematisierungen, mit Freund-Feind-Denken, einhergehen. Eine bleibende Entgegensetzung aber bedeutet immer Lähmung.22

20 Bluhm, in: Kammler, Pflugmacher 2004, S. 61. 21 Siehe: Rensmann 2000, S. 187. 22 Bluhm 2000, S. 67f.

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Das Eingedenken an die Shoah hat also auch ‚nach 1989‘ – dies zeigt sich sehr deutlich an der Widerständigkeit der Literaturdebatten – eine grundlegende Bedeutung für das Selbstverständnis vom Einzelnen und von der Gesellschaft. Das jüdische Gegenüber übernimmt – im wahrsten Sinne des Wortes – demgegenüber nicht nur die Aufgabe, im Dienste der Opfer für das kollektive Eingedenken immer wieder einzustehen, sondern vor allen Dingen auch die subtilere, indirekte Funktion, den nationalen Selbstvergewisserungsversuchen der Deutschen in Furcht vor einer ‚Zweiten Stunde Null‘ einen Diskursraum der Nervosität entgegenzusetzen. 1.1.2. Der ‚eigene Andere‘. Opfer-Täter-Dichotomien (III)

Die Entgegensetzung von Deutschen und Juden, wie sie den öffentlichen Diskursen innewohnt, erschwert, wie gezeigt, einerseits die Möglichkeiten eines deutschjüdischen Gesprächs, anderer­seits trägt eine solche Schematisierung gewissermaßen auch zur Stabilisierung von Identität bei und bietet tatsächlich noch eine mögliche Orientierung innerhalb der inzwischen hyperkomple­xen, fragmentierten gesellschaftlichen System- und Strukturzusammenhängen an. Moshe Zimmermann etwa hält die Opfer-Täter-Dichotomie für eine wesentliche Grundlage von „Gegenwartsidentität.“23 Die Eskalation der Opfer-TäterDichotomie in Auschwitz wird von Zimmermann als Fortset­zung jener älteren „ewigen kollektiven Dichotomie“ von Christen und Juden, von Gojim und Juden gedeutet.24 Das geschichtliche Modell dient Zimmermann als Paradigma für die Zeitgeschichte der Gegenwart. Nur wird die Täterschaft heute, so Zimmermann, sowohl vom Staat Israel als auch von Deutschland relativiert. In Israel, indem mit Blick auf die lange Geschichte der Juden als Opfer der Opferbegriff funktionalisiert wird, um die Last der Gegenwart, die in den kriegerischen Konflikten mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten bestehen, auszugleichen. In Deutschland wird laut Zimmermann wiederum versucht, die Last der Vergan­ genheit auszugleichen, indem das Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Luftkrieg25 um Dresden seit einiger Zeit die vielthematisierte Zäsur ist, die die deutsche Bevölkerung deutlich als Opfer dieses Krieges ausweist, sodass das 23 Moshe Zimmermann, Täter-Opfer-Dichotomien als Identitätsformen, in: Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt am Main 2002, S. 199–215, hier S. 200. Eine ausführlichere Erörterung der Thesen Zimmermanns findet sich unter Punkt III. 2.3 dieser Arbeit. 24 Zimmermann, ebd., S. 202. 25 Auch hier haben Autorenstimmen die Debatte mitbestimmt. Siehe insbesondere W. G. Sebalds Essay über den Luftkrieg. Eine eingehendere Erörterung findet sich unter Punkt III. 2.2.

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Kriegsende dann auch als ‚Befreiung‘ bezeichnet wer­den kann.26 In so „extrem traumatisierten Gesellschaften wie der deutschen und der israelischen“ laufe Erinnerungsarbeit Gefahr, so Zimmermann, „neurotischer Prägung durch die Vergangen­heit“ zu unterliegen.27 Das, was Moshe Zimmermann als die Rolle der Zeithistoriker beschreibt, nämlich, dem „Täter im Opferpelz“ entgegenzuarbeiten, auf dass Erinnerungskultur und Zeitgeschichte möglichst wenig miteinander in Konflikt geraten, kann im Fall der soeben diskutierten Literaturstreits durchaus auch die Funktion der durch die Literaten und ihre schriftlichen wie mündlichen Reden ausgelösten Debatten sein, denen in all ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam ist, dass sie sowohl bei Wolf und Walser als auch bei Strauß und Handke im engeren wie im weiteren Sinne um die angemessenen Paradigmen des öffentlichen Gedenkens und der Konstruktion dessen kreisen, was mit Zimmermann „Gegenwartsidentität“ genannt werden kann. Um sich der Frage weiter zu nähern, was ‚nach 1989‘ kommt, ist es also tatsächlich sinnvoll, sich erst einmal eingehend mit dem zu beschäftigen, was bleibt. Als wesentliche Elemente derar­tiger Kontinuitätsstränge ist erstens die Opfer-TäterDichotomie zu nennen, zweitens die damit verbundenen Funktionalisierungen des Opferbegriffes, wie sie vor den Literatur­streits der neunziger Jahre bereits in der deutschen Nachkriegsliteratur zu beo­bachten waren. Wir – sind – das – Volk! Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen – es wird wohl noch eine ganze Weile vergehen, bis Christa Wolfs „schlichte Feststellung“ tatsächlich den Status einer solchen haben wird. Denn derzeit haben das Gedächtnis und der „Erinnerungsbedarf“ derer, die die DDR erlebt haben meist wenig mit der offiziellen Darstellung ihrer Vergangenheit zu tun, wie Dietrich Mühlberg in seinem Essay Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR fest­stellte.28 Noch fehlt es, so Mühberg, an einem „nationalen Traditionsverständnis“, das die Ostdeut­schen mit einschließt.29 Es mag die Aufgabe der Literatur sein, diesem Erinnerungsbe­darf entgegen zu kommen und damit einem gemeinsamen kommunikativen Gedächtnis in Form von Texten Vorschub zu leisten, wie dies etwa mit Ingo Schulzes Roman Simple Stories. Roman aus der ostdeutschen Provinz oder in den Werken Thomas Brussigs Am unteren Ende der Sonnenallee, Helden wie wir und insbesondere mit Wie es leuchtet bereits der Fall ist. 26 Der sechzigste Jahrestag des Kriegsendes wurde am 8. Mai 2005 offiziell als ‚Tag der Befreiung‘ bezeichnet, als seien die Deutschen Gefangene und Opfer ihres eigenen Regimes gewesen. Eingedenk des Tages der ‚Befreiung von Auschwitz‘ am 27. Januar wird deutlich, dass nur bei letzterem Datum der Begriff der ‚Befreiung‘ angebracht ist. 27 Zimmermann, in: Jarausch, Sabrow 2002, S. 215. 28 Dietrich Mühlberg, Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR, in: ebd., S. 217–252. Zum Begriff „Erinnerungsbedarf“ siehe S. 217. 29 Ebd., S. 220.

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Wie aber reagieren jüdische Schriftsteller auf die Wende? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, da die entsprechenden Äußerungen seitens jüdischer Autoren, so etwa Jurek Beckers Fernsehserie Wir sind auch nur ein Volk (1994/1995), Stefan Heyms Rede Filz. Gedanken über das neueste Deutschland (1992), Günter Kunerts Streit-Artikel Der Sturz vom Sockel. Feststellungen und Widersprüche (1992), Ralph Giodarnos Publikation Wird Deutschland wieder gefährlich? Mein Brief an Kanzler Kohl – Ursachen und Folgen (1993) oder auch Wolf Biermanns Abrechnungsschrift Über das Geld und andere Herzensdinge. Prosaische Versuche über Deutschland (1991) von der deutschen Öffentlichkeit nicht als dezidiert jüdische Stimmen wahrgenommen wurden.30 Ob darin, wie Steinecke vermutet, die alte Furcht mitspielt, als Antisemit missverstanden zu werden, wenn man die Ressentiments dieser Autoren gegenüber der Wende attackierte, oder ob deren Furcht, in einem erstarkten Deutschland erwache wieder die „Großmachtsucht“, und es sei eine „Entsorgung der Vergangenheit“ zu befürchten, von Rezipientenseite in der allgemeinen Kritik als Stimmen unter Stimmen unterging oder sich generell mit den Befürchtungen der hinsichtlich der Wende kritisch gestimmten Schriftsteller31 mischte, ist hier nicht abschließend zu entscheiden. „Großdeutschland droht wieder Wirklichkeit zu werden. Den meisten Juden war der 9. November 1989 kein Freudentag, sondern ein Tag voll Schrecken und dumpfer, irrationaler Ängste. Geht jetzt alles wieder von vorne los? Diese Frage stellen sich wohl Juden in der ganzen Welt“32 – das Statement des ostdeutschen Schriftstellers Richard Chaim Schneider fasst die dezi­diert jüdischen Ängste stellvertretend zusammen. Die Doppeldeutigkeit des 9. Novembers als Tag des Mauerfalls 1989 und der sogenannten ‚Reichskristallnacht‘ 1938 – zu erinnern ist hier auch noch einmal an die unsensible Debatte, ob nicht der 9. November der neue deutsche Nationalfeiertag werden sollte – wird etwa von Esther Dischereit in ihrem Roman Merryn zumin­dest stellenweise literarisch gestreift. So sinniert die Protagonistin beim Gang durch das Berlin der Wendezeit: „Prenzlauer Allee? Der Mauerfall, der Sturz, der siegreiche Be­triebsunfall öffnet die Tore. Besitzstände zu reklamieren. Soll sie die verjudete Wohnung ihrer Großmutter reklamieren? Ist schon verjährt.“33 Und wenig später: „Geh schlendern auf dem Alexanderplatz. Die Lieder der Novembernacht verstummt, das Weinen übertönt; das Schweigen auch, das über den Dächern hing. Bei Bauarbeiten fällt es den Vorü30 Steinecke, „Geht jetzt wieder alles von vorne los?“ in: ZfdPh 2002, S. 162–173. 31 Einen Überblick bietet Volker Wehdeking, Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989, Stuttgart 1995 sowie Ders., Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), Berlin 2000. 32 Richard Chaim Schneider, Wir sind da! Die Geschichten der Juden in Deutschland von 1945 bis heute, Berlin 2000, S. 39. 33 Esther Dischereit, Merryn, Frankfurt am Main 1992, S. 77.

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bergehenden auf den Kopf.“34 Diese kurze Passage bestätigt laut Forschung aber vor allen Dingen die Ausnahme von der Regel, die da mit Steinecke resümierend lautet: Die Autoren behandeln als Journalisten und Feuilletonisten zwar ein sehr breites Spektrum an tagespoliti­schen Fragen, die mit der Wende zu tun haben, aber im Zentrum stehen nicht so sehr, wie bei vielen nicht­jüdischen Schriftstellern, die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit, oder die Mauer in den Köp­fen. Wichtiger sind für sie die Gefahren eines zur neuen europäischen Großmacht werdenden Deutschland: Nationalismus, beginnend in Großmannssucht, erkennbar im Wunsch nach Entsorgung der Vergangenheit und einem „Schlussstrich“, in neuem Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Brennpunkt solch ge­schärfter Wahrnehmung sind zum Beispiel die Reaktionen auf den Golfkrieg, die Diskussionen über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das GoldhagenBuch „Hitlers willige Vollstrecker“ und die Wehrmachtsaus­stellung, schließlich die Walser-Bubis-Debatte. Die „Wende“ hat – soviel ist wohl sicher – den Charakter dieser Diskussionen wesentlich mitgeprägt, die ein wichtiger Indikator für die geistige Verfassung der „Ber­liner Republik“ und ihren Umgang mit der Geschichte sind. […] Aber auch mein Fazit lautet: Innerhalb die­ser reichen und mittlerweile erstaunlich umfangreichen [deutsch-jüdischen] Literatur bilden die Vereinigung und ihre Folgen allenfalls ein Randthema. Dieses Ergebnis lässt sich über Seligmann, Biller, Honigmann, Noll und Dischereit hinaus durch weitere Namen und Werke stützen und belegen. […] Für sie alle gilt mehr oder weniger: die deutschen Entwicklungen der neunziger Jahre spielen bei dem Hauptproblem ihrer bellet­ristischen Werke – bei der Suche nach einer jüdischen Identität – eine vergleichsweise geringe Rolle.35

Die Frage, warum die jüngsten deutsch-deutschen Entwicklungen bei der Suche nach einer jüdischen Identität zumindest auf den ersten Blick eine eher marginale Rolle zu spielen scheinen, ist eine interessante Frage, die sich lohnt weiter zu verfolgen. Denn in den zentralen Punkten, in denen sich jüdische Identität und die bundesdeutsche Geschichte berühren: im Umgang mit den Juden in fünfzig Jahren Nachkriegsdeutschland, im Antisemitismus, in den Auseinandersetzun­gen mit Israel sowie im nationalen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und der Shoah, wird seitens der jüdischen Schriftsteller auf die bundesdeutsche Geschichte ja nicht nur sehr sensibel reagiert, sie findet als solche auch Eingang in die literarischen Werke. Zugleich aber ist es gerade nicht der große historische Einschnitt der „Wende“ direkt, der für das Geschichtsempfinden der deutsch-jüdischen Schriftsteller besonders relevant zu sein scheint. Dazu kommt jenes von Steinecke herausgestellte augenfällige Merkmal, dass es gerade die Belletristik ist, die auf die Wende kaum reagiert. Die journalistisch-essayistischen Formen hinge34 Ebd., S. 79. 35 Steinecke, in: ZfdPh 2002, S. 172f.

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gen scheinen den Autoren der angemessenere Diskursraum zu sein. Bleibt zu fragen: warum? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst den Bogen spannen von der Rolle der Literaten im gesellschaftlichen Justierungs- und nationalen Identitäts­bildungsprozess ‚nach 1989‘ zur Literatur selbst und ihrer Rolle als Geschichtsschreiberin: Auch am Ausgangspunkt dieser Frage steht wieder die Chiffre „Auschwitz“.36 Denn aufgrund von Auschwitz muss das Verhältnis von Literatur und Geschichte grundlegend neu bedacht werden. Nicht nur, dass die zentralen Erklärungsmuster geschichtlichen Handelns in Bezug auf den planmäßigen Völkermord an den Juden keineswegs mehr greifen, da hier alle Kategorien historischen Verstehens gesprengt wurden. Die Konsequenzen für die Darstellungsmodi sind sowohl für die Literatur – zu denken ist hier an die von Adorno ausgelöste Undarstellbar­ keitsdebatte – als auch für einen historischen Zugriff auf Auschwitz erheblich. Dazu Nicolas Berg: Auschwitz bleibt eine permanente Verunsicherung, und damit eine ständige „theoretische Herausforde­rung“. Als einzige Gewissheit bleibt zuletzt, daß der nachdrückliche Alleinanspruch auf eine wahrheitsge­treue Darstellung des Holocaust angesichts seiner mannigfaltigen Darstellung nicht länger angebracht sein kann, ein Anspruch, den auch die Geschichtswissenschaft aufzugeben hätte.37

Bergs Position, die nicht einer Undarstellbarkeit das Wort spricht, sondern vielmehr einer Plura­lität der Darstellungsmodi, wird auch von James E. Youngs grundlegendem Werk Beschreiben des Holocaust gestützt,38 das auf der These basiert, dass jede Darstellung des Holocaust, ob fiktiv doku­mentarisch oder wissenschaftlich, auf Interpretation beruhe und daher prinzipiell gleichwer­tig sei. Allein schon der Stellenwert der lyrischen Arbeiten Paul Celans für das Eingedenken an die Shoah bestätigt Youngs These. Dem zentralen Paradigma der sich in den letzten Jahren neu definierenden Kulturwissenschaften: dem Gedächtnis, kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Lutz Niethammer etwa hat das konstitutive Verhältnis von Literatur und Geschichte beschrieben als „die Umformulierung von Ge36 Siehe: Literatur und Geschichte. Neue Perspektiven, hrsg. von Michael Hofmann und Hartmut Steinecke, ZfdPh 123 (2004) Sonderheft, S. 7. 37 Nicolas Berg, „Auschwitz“ und die Geschichtswissenschaft. Überlegungen zu Kontroversen der letzten Jahre, in: Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, hrsg. von Nicolas Berg, Jess Joachimsen und Bernd Stiegler, München 1996, S. 31–52, hier S. 50. 38 James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, dt. Frankfurt am Main 1992.

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schichte in die Metapher des Gedächtnisses“.39 Ungeachtet der Krise, in der sich die tradierte Geschichtswissenschaft seit Auschwitz befindet, bleibt der Bedarf an historischem Wissen als Orientierungshilfe weiterhin bestehen. Das kulturelle Gedächtnis als Metapher für Geschichte könne, so Niethammer, dazu beitragen, „die Theoretisierung historischer Perspektiven vom uneinholbaren Zwang zu exekutierbaren Wahrheiten“ zu lösen sowie „den differenten Erfahrungen der Vielen im Alltag und in den Brüchen der Gesellschaft reichere andere Perspektiven zu erschließen“.40 Der enge Zusammenhang, der zwischen Geschichtsschreibung und literarischen Geschichtskon­struktionen, also zwischen Geschichte als Historiographie und Erzählung besteht, wird von der Forschung inzwischen auch unter dem Stichwort ‚Metahistory‘ verhandelt, ein auf Hayden Whites Essay Metahistory aus dem Jahre 1978 zurückgehender Begriff, der, diskursanalytisch moti­viert, die Narrativität in der Darstellung von Wirklichkeit betont und die Problematik des Erzäh­lens innerhalb der Geschichtstheorie kritisch reflektiert.41 Sowohl bei der Historiographie als auch bei literarischen Geschichtskonstruktionen handelt es sich White zufolge um fiktionale Narrationen, die die Erzeugung von Sinnzusammenhängen zum Ziel haben. Andererseits rückt damit vice versa auch wieder die Interdiskursivität von Literatur verstärkt ins Bewusstsein. 39 Lutz Niethammer, Die postmoderne Herausforderung. Geschichte als Gedächtnis im Zeitalter der Wissenschaft, in: Geschichtsdiskurs, hrsg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Bd. 1: Grundlagen und Methode der Historiographiegeschichte, Frankfurt am Main 1993, S.  S.  31–49. Zum elementaren Zusammenhang von Literatur und Geschichte siehe auch: Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp (Hrsg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin, New York 2002. 40 Niethammer, ebd., S. 46. Ein Referat der Thesen Niethammers findet sich etwa bei Michael Hofmann 2004 (wie Anm. 418), S. 6f. Niethammers Versuch, das Gedächtnis der Kultur und die Erinnerungen der Einzelnen durch diese metaphorische Geschichtsschreibung aufeinander zu beziehen, kann hier in all seinen Für und Wider nicht diskutiert, sondern lediglich als prominenter Ansatz erwähnt werden. 41 Eine gute Einführung in den Zusammenhang von Literatur und Geschichte bieten, neben der Einleitung von Michael Hofmann, die Aufsätze von Peter Pütz, „Künstlerische Mimesis und Geschichtsschreibung bei Aristoteles“, und Volker C. Dürr, „Wie dichtet Klio? Zum Zusammenhang von Mythologie, Historiographie und Narrativität“, beide in: Hofmann, Steinecke 2004. Sowie grundlegend: Hayden White, Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, in: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einführung von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1986 (Sprache und Geschichte 10), S. 145–160 und dessen kritische Besprechung in: Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1995 (Literatur – Imagination – Realität 11), S. 129–144. Außerdem insbesondere zum Begriff des Interdiskurses in diesem Kontext: Klaus Weimar, Der Text, den (Literar-) Historiker schreiben, in: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, hrsg. von Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich und Klaus R. Scherpe, Stuttgart 1990, S. 29–39.

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Die Narrative fiktionaler Texte diskutieren und transformieren aber nicht nur ganz allgemein politische und gesellschaftliche Diskurse. Bei Autorinnen und Autoren, die die deutsch-jüdische Thematik in ihren Werken behandeln, ist dieser interdiskursive Aspekt ihrer Poetik besonders bedeutsam, da – dies wird noch zu zeigen sein – allen Unterschieden in den Schreibweisen eines Maxim Billers, einer Barbara Honigmann oder eines W. G. Sebalds zu Trotz, niemals ‚mit dem Rücken zur Welt‘ geschrieben wird. Was kommt, hängt also (noch einmal wiederholt) sehr stark von der Interpretation dessen ab, was war und was bleibt.

1. 2. Deutsche Geschichte(n) als Belastungsgeschichte(n) Für die Frage was bleibt? und damit für die Gewichtung der Kontinuitätslinien gegenüber der Zäsur sind insbesondere Axel Schildts Überlegungen zu einer Historisierung der Bundesrepublik von Bedeutung, die sich gegen eine déformation professionelle, das Denken der Zeithistoriker in be­endeten Epochen, wenden. Ungeachtet der Faszination, die die Zäsur 1989/90 ausübe, sei, so Schildts Forderung, die Position zu vertreten: Die Bundesrepublik ist nicht, aber hat eine Geschichte: Nicht selten wird […] behauptet, daß mit der Wende 1989/90 die „alte“ Bundesrepublik ihren endgülti­gen Abschluss gefunden habe, und zwar nicht nur hinsichtlich ihres Staatsgebiets und der Erweiterung ihrer Bevölkerung, sondern mit allen politischen gesellschaftlichen und kulturellen Weiterungen. Anders ausgedrückt: 1989/90 fungiert als Stunde Null, und dies wiederum wird als Mischung aus Tatsachenfest­stellung und politischem Postulat vorgebracht. […] Mit der „Berliner Republik“, so wurde daran an­ schließend gefordert, sollte nun das machtvergessene Bonner Zwischenspiel der Geschichte beendet werden, sollte sich Deutschland wieder seiner Großmachtsverantwortung stellen. Für eine solche Besin­nung wiederum sei es notwendig, die zwanghafte Aufarbeitung des „Dritten Reichs“, den nationalen Ni­hilismus, die Selbstkasteiung zu beenden und zur „Normalisierung“ überzugehen, eine nationale Identi­tät, sprich Nationalstolz, wie andere Länder auch auszubilden und die nationalen Interessen zur Maxime des Handelns zu machen. […] In der Rede von der „Berliner Republik“ schwingt [jedoch] häufig die Konnotation einer Rückkehr zu einstmaliger „Normalität“ mit – m. E. besonders anachronistisch im Anspruch, wieder eine führende kulturelle Metropole Europas zu bilden. […] Gerade in den geschichts­politischen Debatten sieht man deutliche Kontinuitätsstränge von den achtziger in die neunziger Jahre, [schon daher] kann von einer Historisierung im Sinne eines Abschlusses der alten Republik und der Öff­nung eines gänzlich neuen Diskurses keine Rede sein. Forderungen nach einer „Historisierung“ als end­gültigem Abschluß der „alten“ Republik ist mit der Forderung ihrer Historisierung im eigentlich ge­ schichtswissenschaftlichen Sinne zu begegnen.42 42 Axel Schildt, Überlegungen zur Historisierung der Bundesrepublik, in: Jarausch, Sabrow 2002, S. 253–273, hier S. 258f.

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Um der Historisierung im geschichtswissenschaftlichen Sinne gerecht zu werden, hat Schildt einige signifikante Aspekte herausgearbeitet, deren Wechselwirkungen und Gleichzeitigkeit durch die unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten, die mit der jeweiligen Perspektivenwahl einher­gehen, nicht in Abrede gestellt werden. Die historisierenden Blickwinkel, die Schildt vorschlägt, lauten: Die Bundesrepublik als eine Erfolgsgeschichte, die Bundesrepublik als eine Misserfolgsgeschichte, die Bundesrepublik als eine Modernisierungsgeschichte, als Verwestlichungsgeschichte oder als Belastungsge­schichte zu interpretieren.43 Im Kontext der deutsch-jüdischen Frage gilt das Hauptinteresse der Bundesrepublik als Belastungsgeschichte. Die ausgewiesene Erfolgsgeschichte der Bundesrepu­blik, die sich mit den Stichworten Wirtschaftswunder, Modernisierung, Wohlstand, stabiler De­mokratie und Rechtsverfassung sowie einem halben Jahrhundert Frieden verbindet, wird mit einer solchen Perspektive nicht geleugnet oder gar relativiert, aber eben auch nicht harmonisiert. Vielmehr wird mit Schildt kritisch nach den politischen und gesellschaftlichen Ausgangsbedin­ gungen jener „Erfolgsstory“ gefragt und danach – wissend, dass diese Frage derzeit unbeantwor­tet bleiben muss – inwiefern diese „Ankunftserzählungen“ der erweiterten Bundesrepublik und einer veränderten weltpolitischen Lage eigentlich gerecht werden?44 Die Belastungsgeschichte ist in erster Linie mit einem Blick auf das „moralische Erbe“ verbunden. So sieht Schildt etwa einen engen Zusammenhang zwischen der Erfolgs- und der Belastungsgeschichte der Bundesrepublik, die sich gewissermaßen gegenseitig bedingen. Deutlich werde dies laut Schildt insbesondere am Zusammenhang von Wirtschaftswunder und der Re-Integration der NS-Verbrecher. Mit wem sollte auch sonst der wirtschaftliche Aufschwung gelingen, wenn nicht mit den führenden Kräften aus Industrie, Forschung und Handwerk, mit den Beamten und Ingenieuren im eigenen Land? Die aber waren noch vor kurzem zum überwiegenden Teil Nationalsozialisten gewesen. Mit Schildt lässt sich daher kontrafaktisch fra­gen: Welche gefährlichen Radikalisierungsprozesse hätten sich wohl ergeben, wenn die westdeutsche Gesell­schaft in ihrer anfänglichen Armut – mit Millionen von frustrierten Menschen in überfüllten Flüchtlingsla­gern – verblieben wäre? Es ist in diesem Zusammenhang von der „heilsamen Kraft des Opportunismus“ (Ulrich Herbert) gesprochen worden, die den durch den Nationalsozialismus belasteten Eliten die Integra­tion in das Erfolgsmodell Bundesrepublik ermöglichte.45

43 Ebd., S. 260–262. 44 Ebd., S. 271. 45 Ebd., S. 266.

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Es wäre allerdings weit gefehlt, die moralische Belastung der westdeutschen Gesellschaft nur auf deren „Elitenkontinuität“ zu beziehen. Vielmehr ließ sich auch eine „Volkskontinuität“ hinsichtlich der politischen Mentalitäten und Wertmuster beobachten: Die Bundesrepublik war in ihren Gründerjahren zwar nicht ohne, aber mit nur wenigen aktiven Demokra­ten ausgestattet. Der Bevölkerung saßen Krieg und auch die Hungerjahre in den Knochen, man interes­sierte sich weithin nicht für Politik, sondern für das private Fortkommen. Meinungsumfragen förderten An­fang der fünfziger Jahre immer wieder große Sympathien für eine Monarchie oder irgendeine Art autoritä­ren Systems zutage, das Sicherheit verheißen würde – der Wert der Sicherheit rangierte weit vor dem der Freiheit und der Demokratie.46

Wenn Schildt hier vom ‚Fortkommen‘ spricht, so lässt sich dieser Begriff tatsächlich auch weiter, nämlich psychologisch fassen, als ein Fortkommen-Wollen von den moralischen Lasten der Ver­gangenheit. Neben den Berichterstattungen über die öffentlichen Auschwitz-Prozesse brachte erst der sogenannte Generationenkonflikt Ende der sechziger Jahre eine breitenwirksame Auseinandersetzung mit dem, was Schild das „moralische Erbe“ nennt: Es war vor allem die nachwachsende Generation, die erste, die ihre Jugend in der Friedensgesellschaft der Bundesrepublik erfahren hatte, die sich in den sechziger Jahren zu Wort meldete. Im Generationenwechsel scheinen sich die düsteren Züge der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik, die ihrem beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg angehaftet hatten, aufzulösen. Allerdings wird es der künftigen Zeitgeschichts­schreibung vorbehalten bleiben, auch nach fortwirkenden Belastungen zu fragen, die z. T. hinter der mas­senmedial vermittelten Öffentlichkeit nur sporadisch aufscheinen. Die demoskopischen Erhebungen, die seit den sechziger Jahren – parallel zur öffentlichen Intensivierung der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit – den notorischen Wunsch nach einem „Schlußstrich“ registrierten, sind nur ein Beispiel.47

Während die materiellen Kriegsfolgen also schon bald nicht mehr sichtbar waren und in einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte mündeten, so verhielt es sich mit dem moralischen ‚Erbe‘ komplizierter. Die Literaturstreits der letzten Jahre sowie die eingangs geführten Überle­gungen zum deutsch-jüdischen Gespräch und die Diskurse über Juden in der Literatur der Nach­kriegszeit, die zwischen Mythologisierung und Zeugenschaft oszillieren, haben dies gezeigt. 46 Ebd., S. 267. 47 Ebd., S. 268.

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1.2.1. Ruth Klügers „weiter leben“

„Einer legt an / Einer legt aus / Still die Tage nervös /Der Meridian“ – anknüpfend an Schindels Vers werden im Folgenden zwei literarische Werke vorgestellt, in denen die bundesdeutsche Geschichte in den „nervösen neunziger Jahren“48 explizit als eine Belastungsgeschichte interpretiert wird. „Wie konnte angesichts der bedrückenden materiellen und moralischen Belastungen überhaupt ein zivilisiertes demokratisches Gemeinwesen entstehen, das sich heute so selbstverständlich in die ‚normalen‘ internationalen Standards einfügt?“49 – Schildts offene Frage nach der Gleichzeitig­keit des Ungleichzeitigen, nach bundesdeutscher Normalität und Belastetheit, taucht gespiegelt wieder in Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend auf.50 Die 1992 erschienene Autobiographie, in der Ruth Klüger ihre Kinderjahre im besetzten Wien schildert und die Stationen ihrer anschließenden Deportation in die Lager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt sowie die ersten Nachkriegsjahre in Bayern bis zu ihrer Auswanderung in die USA und ihre ersten Jahre in New York, stieß nicht nur deutschlandweit auf ein großes Leser-Echo, sondern war als „eines der wichtigsten Erinnerungsbücher dieses Jahrzehnts“51 auch kanonbildend für eine neue Form von Erinnerungsliteratur.52 In weiter leben kommt nämlich nicht nur das Erinnerte zur Sprache, sondern auch die Problematik des Erinne­rungsvorgangs selbst. Das Traumatische des Erlebten, das der Erinnerung als Erzählung Wider­ stand leistet, ist dabei aber nur der eine Widerhaken, der andere, der das Gedenken und seine offiziellen Formen betrifft, lässt sich begrifflich am besten mit dem fassen, was Ruth Klüger in Anlehnung an Peters Weiss’ Ortschaften als Zeitschaften begreift, den Konflikt, der – etwa bei einem nachträglichen Besuch der zu Museen umfunktionierten Lager – zwischen dem erlebten Ort in der Zeit und dem besichtigten Ort außerhalb der erlebten Zeit entsteht: Dachau habe ich einmal besucht, weil amerikanische Bekannte es wünschten. Da war alles sauber und or­dentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Men48 Ebd., S. 272. 49 Ebd., S. 265. 50 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992. Zitiert wird hier nach der 4. Aufl. München 1995. Die Seitenzahlen erscheinen jeweils in Klammern hinter dem Zitat. 51 Siehe Kammler, Pflugmacher 2004, S.  8 sowie Irene Heidelberger-Leonard, Ruth Klügers weiter leben revisited, in: ebd., S. 127–138. 52 Dazu siehe insbesondere der Aufsatz von Irene Heidelberger-Leonard: Ruth Klügers weiter leben – ein Grundstein zu einem neuen Auschwitz-„Kanon“? in: Braese, Gehle 1998, S. 157–170. Siehe auch das Kapitel zu Klügers weiter leben in: Elisabeth H. Debazi, Zeugnis – Erinnerung – Verfremdung. Literarische Darstellung und Reflektion von Holocausterfahrungen, Marbach 2008.

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schen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde. […] Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben. Das mindeste, was dazu gehörte, wäre die Ausdünstung menschlicher Körper, der Geruch und die Ausstrahlung von Angst, die geballte Aggressivität, das reduzierte Leben. […] Sicher helfen die ausgehängten Bilder, die schriftlich angeführten Daten und Fakten und die Dokumentar­filme. Aber das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es ge­ben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher. (77f.)

Klügers Zeitschaften – man hört ein ‚dennoch‘ mit. Klügers erzähltechnisches Verfah­ren des Ineinanderblendens verschiedener Zeit- und Erfahrungsebenen und der leidenschaftlich reflexive Duktus machen aus der Zeitschaften-Graphie eine Konfession. Das Sich-erinnernd-weiter-Leben ist dabei Programm und zugleich schwankender Boden. Dies ist nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern auch ganz konkret. Ein schwerer Zusammenstoß mit einem Fahrradfahrer in Göttingen am 4. November 1988, eine von Klüger als existentiell und lebensbe­ drohlich erfahrene Grenzsituation, wird für sie zum Auslöser ihre Erinnerungen aufzuschreiben: Seine Fahrradampel, ich war stehengeblieben, um ihn ausweichen zu lassen, er versucht aber gar nicht, um mich herumzukommen, er kommt gerade auf mich zu, schwenkt nicht, macht keinen Bogen, im letzten Bruchteil einer Sekunde springe ich automatisch nach links, er auch nach links, in dieselbe Richtung, ich meine, er verfolgt mich, will mich niederfahren, helle Verzweiflung, Licht im Dunkel, seine Lampe, Metall, wie Scheinwerfer über Stacheldraht, ich will mich wehren, ihn zurückschieben, beide Arme ausgestreckt, der Anprall, Deutschland, ein Augenblick wie ein Handgemenge, den Kampf verlier ich, Metall, nochmals Deutschland, was mach ich denn hier, wozu bin ich zurückgekommen, war ich je fort? (271f.) Seit ich mit meinen kalifornischen Studenten nach Göttingen kam, ist Zeit vergangen, Jahre, in denen in Deutschland wieder Geschichte und nicht nur Geld gemacht wurde, Zeit, in der sich etwas zutrug. Und für mich die Zeit, in der ich einen Bericht zu schreiben begann, weil ich auf den Kopf gefallen war. (279)

Die Wende als Zeit, in der sich „etwas zutrug“, wird Klüger nicht zur historisch markanten Zäsur, sondern metonymisch verschoben zu einer privaten Tabula rasa. In der Bundesrepu­blik Deutschland, kurz vor dem fünfzigsten Jahrestag der Kristallnacht und ein Jahr vor der Öff­nung der Mauer, wird durch einen „Anprall, Deutschland“, der in die Erinnerung bereits als ein Gedeutetes eingeht, die Spur gelegt, zurück in die Vergangenheit. Causa movens des erzäh­lenden Erinnerns ist damit nicht nur das tradierte Erzählen vom Ende her, von Klüger als „Epilog“ betitelt, sondern ein ‚nervöser‘ Bewusstseinszustand („was mach ich denn hier“,

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„war ich je fort?“), so wie er sich in Robert Schindels besagtem Vers verdichtet findet: „Einer legt an / Einer legt aus / Still die Tage nervös / Der Meridian“ – dieser Vers führt tatsächlich direkt ins poetologische Zentrum von weiter leben und kann hier als interpretierender Kommentar hinzugezogen werden: Geschrieben wird in einem Spannungsraum von Konfrontation: „einer legt an“ (Schindel) / „Anprall, Deutschland“ (Klüger) und Interpretation: „einer legt aus“ (Schindel) / eine legt aus (Klügers Erinnerungen). „Durch die Inszenierung von ‚Blitzlichterinnerungen’“, so auch Karolin Machtans, „wird zudem auf dem Zusammenhang von Emotionen und Erinnerung verwiesen: Es sind emotional besonders besetzte Szenen, die durch die Schilderung im Präsenz bis in die Gegenwart hinein verlängert werden.“53 Der Zeitpunkt ist die demnach Ge­genwart, die geprägt ist von der Geschichte nach der Geschichte. Den stillen Tagen; „Zeit, in der sich etwas zutrug“. Die Sprachhaltung der Autorin ist entsprechend eine an der Angst geschulte Nervosität, gekennzeichnet einerseits durch die „Tendenz des Außenseiters, zu urteilen, in Frage zu stellen, versteckte Motive aufzudecken, Bestehendes zu analysieren, diese als jüdisch bekannte Neigung“ und ein „verunsicherndes, aber hellwaches Nachdenken“, wie sie es als Jugendliche in Theresienstadt erlebte. Ein Denken auch, das „womöglich zu keinem Ergebnis“ kam. (92) Sich Klügers Autobiographie über die Zeilen eines von ihr geschätzen Lyrikers54 anzunähern, ist auch deswegen legitim, weil für die Autorin selber Gedichte eine existentielle Form der Lebensbegleitung darstellen. Das Aufsagen von Schillers Balladen half ihr, die ins Endlose gedehnte Zeit beim Appellstehen Vers für Vers „einzuteilen“ (123f.). Ihre ersten Versuche, die traumatischen Erfahrungen der Lagerwirklichkeit zu verarbeiten, fanden in Form selbstgeschriebener Gedichte statt, deren Notwendigkeit und Unmöglichkeit Klüger, in kritischer Replik auf Adornos Diktum, so kommentiert: Es sind Kindergedichte, die in ihrer Regelmäßigkeit ein Gegengewicht zum Chaos stiften wollten, ein poeti­scher und therapeutischer Versuch, diesem sinnlosen und destruktiven 53 Karolin Machtans, Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt: Saul Friedländer und Ruth Klüger. (Conditio Judaica 73. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte), Tübingen 2009, S. 177. Auf Machtans Studie wird auch noch einmal in Zusammenhang von Katharinas Hackers Lektüre der Autobiographie Saul Friedländers zurückzukommen sein. (Siehe Kap. III. 2.3.) 54 So bezeichnet Klüger Robert Schindel als einen der vielleicht „letzte[n] Dichter deutsch-jüdischer Lyrik“ in der Nachfolge Heines, Lasker-Schülers und Celans. „Ich weiß jedenfalls von keinem anderen lebenden Lyriker“, so Klüger, „der, oder die, über die zerstörte und vielbeschworene deutsch-jüdische Symbiose hochrangige Verse schreibt in der Sprache, die gleichzeitig die Sprache der Täter und der Opfer gewesen ist.“ Ruth Klüger, Der Lyriker Robert Schindel, in: Robert Schindel. Text + Kritik, Heft 174, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2007, S. 10–18, hier S. 17.

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Zirkus, in dem wir untergingen, ein sprachlich Ganzes, Gereimtes entgegenzuhalten; also eigentlich das älteste ästhetische Anliegen. […] So gut reden hab ich wie die anderen, Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben. Die Forde­ rung muss von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie ge­braucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten. […] Und was ist das überhaupt für ein Dürfen und Sollen? Ein moralisches, ein religiöses? Welchen Interessen dient es? Wer mischt sich hier ein? Das Thema wird brennender Dornbusch auf heiligem Boden, nur mit nackten Füßen und unterwürfiger Demut zu betreten. […] Ich verfasse eine harmlose Parodie auf ein abstruses Gedicht von Celan. Leute, die ich noch nie schockiert habe, sind schockiert. Über Gott und Goethe darf man lästern, der Autor der ‚To­desfuge‘ ist unantastbar. (126ff.)

Der Meridian besteht in weiter leben aber nicht nur aus einem literarischen Stimmkreis, den Klüger immer wieder aufruft, allen voran Schiller, Schnitzler, Brobrowski, Weil und Weiss. Es sind ins­besondere die Toten, mit denen sie im Zwiegespräch bleibt, an die sie erinnern will – ein Vorha­ben, das ans Unmögliche grenzt, wie Klüger es unter anderem am Beispiel ihres Vaters aufzeigt: Von Menschen, die wir lieben und kennen, haben wir doch ein Bild, das in einen geistigen Rahmen paßt und nicht in ein Dutzend Momentaufnahmen zersplittert. Ich sehe meinen Vater in der Erinnerung höflich den Hut auf der Straße ziehen, und in der Phantasie sehe ich ihn elendig verrecken, ermordet von den Leu­ten, die er in der Neubaugasse begrüßte, oder doch von ihresgleichen. Nichts dazwischen. […] Ich kanns nicht besser machen und versuche vor allem, dieses, wie mir scheint, unlösbare Dilemma am Beispiel mei­ner eigenen Unzulänglichkeit zu demonstrieren. Mein Vater ist zum Gespenst geworden. Unerlöst geistert er. Gespenstergeschichten sollte man schreiben können. (29f.)

Klügers weiter leben ist in diesem Sinne tatsächlich eine Gespenstergeschichte und damit: eine Be­lastungsgeschichte – solche Geschichten aber sind nicht mitteilbar. Sie sind der Ballast der Ver­gangenheit und eine Belastung der Gegenwart. Sie sprengen den Rahmen eines jeden Gesprächs und machen nicht nur die Zuhörenden, sondern in nächster Konsequenz auch den Erzähler mundtot: Neulich sprachen wir hier in Göttingen beim Nachtisch von Engpässen, die wir erlebt haben, etwa ein Auf­zug, der steckenbleibt, […] und auch, schon näher an meiner Erfahrung, von den Luftschutzkellern in der Kindheit einiger Anwesenden. Ich hatte meine Fahrt im Viehwaggon anzubieten und habe natürlich unent­wegt daran gedacht, aber wie soll ich das beisteuern? Diese Geschichte hätte das Gespräch derart gedämpft, den Rahmen dermaßen gesprengt, daß nur ich noch gesprochen, die anderen mehr oder minder betroffen, bedrückt, geschwiegen hätten, mundtot gemacht von meinem Erlebnis. Ich er-

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

zählte also statt dessen etwas anderes […] Über eure Kriegserlebnisse dürft und könnt ihr sprechen, liebe Freunde, ich über meine nicht. Meine Kindheit fällt in das schwarze Loch dieser Diskrepanz. (110f.)

Weiter leben – eine Gespenstergeschichte, eine Belastungsgeschichte. Die Autobiographie der Wiener Jüdin und heutigen amerikanischen Staatsbürgerin ist aber vor allem eines: eine deutsche Geschichte. Nicht nur, dass die historische Erfahrung Hitler-Deutschlands, die Ruth Klügers Leben von Kindheit an entscheidend geprägt hat, eine deutsche Geschichte ist. Das entscheidende LektüreSignal gibt darüber hinaus der Paratext: Den Göttinger Freunden … ein deutsches Buch lautet die Widmung.55 „Göttingen“ fungiert hier als eine ambigue Chiffre. Einerseits steht sie für Freundschaft, gedacht und gedankt wird ja explizit den Göttinger Freunden, die Klüger als Gast-Professorin nach Deutschland einluden und die sie nach ihrem Unfall im Krankenhaus besuchten und pflegten. Andererseits assoziiert Göttingen aber auch Feindschaft. Eine schwelende Bedrohung, die durch den Zusammenstoß („Anprall“) mit dem Fahrradfahrer zu einem konkreten traumatischen Erlebnis wird, dem sich dieses deutsche Buch in seiner Ambiva­ lenz, seinem Sowohl-als-auch verdankt. Deutschland, das ist Schiller und Hitler, die Lager und der bundesdeutsche Hörsaal, die Göttinger Freunde und die Fremdenfeindlichkeit, wie sie der Fahrradfahrer repräsentiert. Das Aushalten dieser Ambivalenz sowie die damit verbundene Perspektive des kritischen In-FrageStellens der bundesdeutschen Gegenwart verbindet weiter leben mit Schildts offe55 Dass die veränderte deutsche Neuauflage des Buches im Jahre 2003, die wiederum auf die amerikanische Fassung Still alive von 2001 rekuriert, einen anderen Adressaten hat, nämlich die amerikanische Leserschaft, zeigt Klügers ganz bewussten Umgang mit dem Rezipienten. Diese Ausgabe ist dann auch kein ‚deutsches Buch‘ mehr, es ist dem Gedenken der jüngst verstorbenen Mutter gewidmet. Zu einem Vergleich zwischen den beiden Ausgaben siehe auch Irene Heidelberger-Leonard, Ruth Klügers weiter leben revisited, in: Kammler, Pflugmacher 2004, S. 127–138. Sowie jüngst die elaborierte Studie von Karolin Machtans, die Ruth Klügers autobiographischen Texte weiter leben (1992) und Still alive: A Holocaust girlhood remembered (2001) als Grenzgängerformen zwischen Literaturwissenschaft und autobiographischem Projekt verortet. Wobei sie in Anlehnung an Klüger sehr überzeugend darauf hiweist, dass es sich bei der amerikanischen Fassung des Erinnerungstextes weder um eine wie in der amerikanischen Ausgabe missverständlich angekündigt schlichte Übertragung des deutschen Textes handelt, noch um ein davon unabhängiges neues Werk. Klüger spricht selbst von einem ‚Paralleltext‘; Machtans Bezeichnung der ‚kulturellen Übersetzung‘ des deutschen Ausgangstextes ist jedoch noch zutreffender. Vor allen Dingen weil Still alive u. a. auch einige Passagen enthält, die sich aus dem spezifischen Umfeld der amerikanischen Kultur speisen, beispielsweise die Vergleiche zwischen jüdischer und afroamerikanischer Erfahrung der Stereotypisierung. Siehe Machtans 2009, S. 162–220, besonders S. 164ff. sowie S. 215–220. Darüber hinaus erschien 2008 ein weiteres autobiogaphisches Werk von Ruth Klüger, das die Jahre in den USA als Mutter und Literaturwissenschaftlerin, als Jüdin und Frau in den Mittelpunkt rückt: Ruth Klüger, Unterwegs verloren, Wien 2008.

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ner Frage: Wie konnte angesichts der moralischen Belastungen überhaupt ein zivilisiertes demokratisches Gemeinwesen entstehen? Klüger diskutiert diese Inkongruenz unter anderem am Beispiel zweier junger Zivildienstleisten­der, die in den späten achtziger Jahren in Auschwitz die Zäune weiß streichen: Neulich lernte ich zwei sympathische deutsche Studenten kennen, ernste junge Leute mit Grundsätzen. […] Ich erfuhr, sie hätten eben ihren Zivildienst hinter sich gebracht. Ihre Aufgabe war es gewesen, in Auschwitz die Zäune weiß zu streichen. Ja, das sei möglich. Zivildienst als Wiedergutmachung. Ob das sinnvoll sei, fragte ich zweifelnd. Aber das Gelände muß doch erhalten bleiben, erwiderten sie, ihrerseits verdutzt über die Frage. (69) Meine jungen Bekannten […] weigerten sich hartnäckig, den Unterschied zwischen Polen und Juden zu­zugeben und den Antisemitismus der polnischen Bevölkerung in ihre Besinnungsstunden und Beschaulich­keiten miteinzubeziehen. Das geschundene Volk muß gut gewesen sein, wo kämen wir sonst hin mit dem Kontrast von Tätern und Opfern? (71) Meine Zaunanstreicher glaubten alles, auch das Ärgste, von ihren eigenen Großvätern, viel Arges von den Alliierten und nichts Schlimmes von den Opfern. Das heißt: von der Großvätergeneration, daß sie noch immer vieles verdränge; von den Alliierten, daß sie die KZs nicht rechtzeitig befreit hätten, auch wenn und wo es möglich gewesen wäre; aber keineswegs, daß die Polen Antisemiten waren und ihre Juden nicht un­gern loswurden. (78)

Die jungen, engagierten Hoffnungsträger des zivilisierten, demokratischen Gemeinwesens, die „nicht mit den Tätern und nicht mit den Opfern fühlen wollen und können“ (142), begegnen den moralischen Belastungen, dem Erbe ihrer Väter- und Großvätergeneration, indem sie sich an einer Opfer-Täter-Dichotomie orientieren, die, damit sie identitätsstiftend wirksam sein kann, kein Nebeneinander, keine Zwiespältigkeit innerhalb der einmal gebildeten Entgegensetzung, der Verteilung von ‚gut‘ und ‚böse‘ duldet. Dafür ist der Boden, auf dem derlei gesinnungsethische Fragen gedeihen sollen, in der traumatisierten nachkriegsdeutschen Gesellschaft noch zu unstet. Wird das eigene Nachdenken und Hinterfragen als Basis einer jeden tatsächlichen Auseinander­setzung, und damit die Auseinandersetzung selbst, auf diese Weise aber nicht dem jüdischen Ge­genüber allein überlassen? Klügers Antwort auf die Frage, wie sie sich einen sinnvollen Umgang mit der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit vorstellt, ist klar und deutlich: Ihr müßt euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut; […] Aber laßt euch doch mindestens reizen, verschanzt euch nicht, sagt nicht von vornherein, das gehe euch nichts an oder es gehe euch nur innerhalb eines festgelegten, von

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euch im voraus mit Zirkel und Lineal säuberlich abge­grenzten Rahmen an. […] Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung. (142)

„Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung“ – Klügers Plädoyer für das deutsch-jüdische Gespräch, das ihr zufolge eben kein Mythos bleiben muss, ist ermutigend. Und Mut braucht es schon, um sich nicht zu verschanzen, sondern sich jene Art von Streitsucht, die auf wirklichem Interesse gründet, auch als Nachkomme der ‚Täter’-Generation zuzugestehen, und das heißt: jene Art von freien Fragen zu stellen (und sich mit den Antworten konfrontieren zu lassen), die Klüger insbesondere von ihren Leserinnen und den, wie sie sagt, vermutlich wenigen männli­chen Lesern erwartet. Stellvertretend für den Dialog zwischen Autorin und Leserin stehen auf Ebene der Narration die Streitgespräche Ruth Klügers mit ihrem Studienfreund Christoph, alias Martin Walser. Eine „zähe Freundschaft“, die Klüger mit einer „brüchigen, rissigen Schnur“ ver­gleicht, mit Knoten, „die man nicht mehr entwirrt, ohne Gefahr, das Ding ernstlich zu schädigen“. (213) Die Inkongruenz von Verbindendem und Belastendem, die ein solches deutsch-jüdisches Verhältnis in der jungen Bundesrepublik kennzeichnete, beschreibt Klüger so: So verschieden waren wir gar nicht. Ich wollte ja auch, daß das Leben weitergehe, wollte nicht, wie Lots Frau, in der Rückschau auf die Totenstadt versteinern. […] Christophs Gesellschaft machte es mir leichter, nicht über das unverständliche Unrecht meiner Herkunft zu sprechen, und gleichzeitig war da der Drang, doch darüber zu sprechen, es miteinzubeziehen in den neuen Anfang. Es war beides, Sowohl/Als-auch, undurchsichtiges Nebelzwielicht, wo die Schwermut ihren Ursprung hat und die Gespenster gedeihen. (215)

Ein Nebeneinander von Nähe und Distanz ist es also, das Klüger zufolge die Beziehung zwi­schen Deutschen und Juden sowohl ermöglicht als auch immer wieder gefährdet, wenn die Distanz zu überwiegen droht. Und zwar eben nicht aufgrund einer unterstellten unterschiedli­chen Wesensart („Bin ich euch so unähnlich, daß nur eine hochgradige Bewußtmachung euch davon abhält, mich zu verfolgen?“; 218), sondern aufgrund der trennenden geschichtlichen Erfahrungen. Walser, dessen Friedenspreis-Rede 1998 die Freundschaft zu Ruth Klüger erneut belastet hatte, dessen Buch Der Kritiker, eine ‚Abrechnung‘ mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki, ihre freundschaftliche Beziehung im Jahre 2003 dann aber endgültig zerstörte,56 hatte in den neunziger Jahren Klügers weiter leben noch so kommentiert: „Jeder Leser wird auf dieses Buch mit seiner eigenen Geschichte ant56 Ebd.

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worten müssen.“57 Was an Walsers Kommentar deutlich wird, ist vor allen Dingen zweierlei: zum einen, dass die deutsch-jüdische Geschichte eines Dialogs bedarf. Zum anderen aber, dass zwischen deutschen und jüdischen Geschichtserzählungen eine Form von Konkurrenz-Zusammenhang besteht. Eine Geschichte wie die von Ruth Klüger ist Walser zufolge nämlich eine, die, wenn auch nicht einer direkten Relativierung, so doch der Entgegnung bedarf. Sie muss „mit der eigenen Geschichte“ beantwortet werden. Eine solche Entgegensetzung von Deutschen/Österreichern und Juden ist es dann auch, inner­halb derer Ruth Klüger ihre jüdische Identität am deutlichsten gespiegelt findet – stärker als in der Jüdischkeit, die sich ihr als Kind in erster Linie über faszinierende Traditionen vermittelte, von denen sie als weibliches Mitglied jedoch ausgeschlossen blieb. Wie kann sie, so lautet ihre offene Frage in weiter leben, eine gläubige Jüdin sein, wenn sie noch nicht einmal das Kaddisch, das Totengebet für ihren Vater sprechen darf? (25) Die „Mischpoche“, die „Sippschaft“ war für Klüger daher eine „Großfamilie“, in die sie „nie eingebettet“ war und die zudem „zersplitterte“, ehe sie sie ausreichend kennengelernt hatte. (12) Jüdischsein wird von Klüger also ex negativo und durch den Einbruch von Antisemitismus und Shoah in die Familiengeschichte in erster Linie als ein Außenseiter-Dasein erfahren. („An juden­feindlichen Schildern [in Wien] hab ich die ersten Lesekenntnisse geübt“ (19)) Darin ist sie, dies wurde eingangs erörtert, repräsentativ für ihre Generation der europäischen Juden. Und so ver­danken wir Ruth Klüger eines der eindringlichsten literarischen Bilder für das Bezie­hungs­ verhält­nis von Deutschen und Juden – eine Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, Klügers Zeitschaft: Unser Zug fuhr an einem Ferienlager vorbei. Da war ein Junge, von weither gesehen, der eine Fahne ge­schwungen hat, Geste der Bejahung der Lichtseite des Systems, an dessen kotiger Unterseite man uns ent­langschleifte. Soviel Helle, wie konnte das sein? Später habe ich diesen Jungen in freier Assoziation mit meinem Freund Christoph, der mit ein Inbegriff des deutschen Nachkriegsintellektuellen werden sollte, in Verbindung gebracht. Sicher unfair. Aber immer noch sehe ich mich an ihm vorübersausen, ich sehe ihn, er mich nicht, kann er ja nicht, ich bin im Zug, vielleicht sieht er den Zug, fahrende Züge passen in eine solche Landschaft, vermitteln ein wohliges Fernweh. Für uns beide ist es derselbe Zug, sein Zug von außen gese­hen, meiner von innen, und die Landschaft ist für uns beide dieselbe, doch nur für die Netzhaut dieselbe, dem Gefühl nach sehen wir zwei unvereinbare Landschaften. (145)

57 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Klappentext der Ausgabe von 1995.

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1.2.2. Bernhard Schlinks „Die Beschneidung“

Eine Belastungsgeschichte erzählt auch Bernhard Schlink mit Die Beschneidung.58 Es ist die fünfte von insgesamt sieben Geschichten in dem 2000 erschienenen Prosaband, der mit dem Titel Liebes­fluchten das Thema vorgibt: die Anziehungsund Fluchtformen der Liebe. „In Liebesfluchten ist der Erzähler Bernhard Schlink der Archäologe des Gefühls. Er findet den wunden Punkt der deutschen Gegenwart. Das ist ergreifend und kühn“ lautet etwa Verena Auffermanns zusammenfassendes Urteil in der Süddeutschen Zeitung.59 Worin aber besteht der „wunde Punkt“ der deutschen Gegenwart in Bernhard Schlinks Die Beschneidung? Da ist zum einen der Titel selbst, der ein entsprechendes Signal gibt: Die Beschnei­dung fügt demjenigen, der sie erfährt, eine Wunde zu. Derjenige, der sich ihr unterzieht, ist in diesem Fall der Protagonist der Erzählung. Andi ist ein deutscher Jurastudent, der Ende der neunziger Jahre für ein Jahr nach New York geht und sich dort in Sarah, eine amerikanische Jüdin verliebt. Nach einer anfänglichen Phase der Unbeschwertheit werden die Spannungen und Differenzen zwischen den beiden immer größer. Insbesondere nach einer gemeinsamen Deutschlandreise und Sarahs Konfrontation mit einem Baustellen-Berlin, das sich in ihren Augen seiner Vergangenheit schnellstmöglich zu erledigen trachtet („Bei euch sieht alles aus, als sei es gerade fertig geworden“ (224)), und der Vätergeneration, für die der Krieg „schon fünfzig Jahre her ist“. Ganz anders, nämlich entgegengesetzt, verhält es sich für Sarah, deren On­kel und Tante in Auschwitz gewesen waren: „Besondere Vergangenheit? Jeder hat eine Vergangenheit, die für ihn besonders ist. Davon abgesehen wer­den Vergangenheiten gemacht, allgemeine und besondere.“ „Ja, für meine Verwandten haben die Deutschen eine besondere Vergangenheit gemacht.“ Sarah sah Andis Onkel kalt an. […] Sarah schwieg, bis sie einen Tisch gefunden hatten und saßen. „Du bist doch nicht der Meinung deines On­kels?“ „Welcher Meinung?“ „Daß die Vergangenheit ruhen soll und auch ruhen würde, wenn die Juden nicht Unruhe stiften würden.“ „Hast du nicht immer wieder gesagt, daß der Krieg fünfzig Jahre her ist?“ „Also doch.“ Nein, ich bin nicht der gleichen Meinung wie mein Onkel. Aber so einfach, wie du tust, ist es auch nicht.“ 58 Bernhard Schlink, Die Beschneidung, in: Ders., Liebesfluchten, Zürich 2000, S. 199–257. Zitiert wird nach der 1. Ausgabe 2000, die Seitenangaben erfolgen in runden Klammern hinter dem Zitat. 59 Zitiert nach dem Klappentext der Ausgabe der Liebesfluchten von 2000.

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„Wie kompliziert ist es?“ Andi hatte keine Lust mit Sarah zu streiten. „Müssen wir darüber reden?“ (226f.)

„Müssen wir darüber reden?“ Der wunde Punkt zwischen Andi und Sarah ist also ganz offen­sichtlich die deutsch-jüdische Vergangenheit, die sich immer wieder in die Gegenwart der Liebenden drängt und sie belastet. Konträr zu Klügers Plädoyer für die Streitsüchtigkeit, wie sie in ihrem Gespräch mit den beiden Zaunanstreichern möglich schien, begegnen wir in Schlinks Erzählung einem als offen, differenziert und sensibel charakterisierten Protagonisten, der den­noch „keine Lust hat“ sich mit seiner Liebsten auf diese von Ruth Klüger geforderte Streitkultur einzulassen. Die Begründung des Erzählers, der aus Andis Perspektive spricht, lautet, dass diese Form des Sich-Aussetzens zwangsläufig zur Selbstdemontage führt, und damit zu einer ‚Verwundung‘, die wiederum eine aggressive Defensivität erzeugt: „Schlag nicht alles kurz und klein, Andi. Meine Leute begegnen dir mit Neugier und mit Anteilnahme, wie du ihnen auch, und alles, was ich gesagt habe …“ „Vor allem begegnet ihr mir mit Vorurteilen. Ihr wißt schon alles über die Deutschen. Also wißt ihr auch schon alles über mich. Also müßt ihr euch auch nicht mehr für mich interessieren.“ „Wir interessieren uns nicht genug für dich? Nicht so, wie du dich für uns interessierst? Warum haben wir so oft das Gefühl, daß du uns mit spitzen Fingern anfaßt? Und warum kennen wir diese kalte Art nur von Deutschen?“ Sie redete laut. „Wie viele Deutsche kennst du denn?“ Er wußte, daß der ruhige Ton, den er anschlug, sie reizte, und konnte ihn doch nicht lassen. „Genug, und zu denen, die wir gerne kennengelernt haben, kommen die, die wir lieber nicht kennengelernt hätten, aber kennenlernen mußten.“ Sie stand weiter in der Tür, die Arme in die Hüften gestemmt, und sah ihn herausfordernd an. Wovon redete sie? Mit wem verglich sie ihn? Mit Mengele und dessen kalter, grausamer, sezierender und analysierender Neugier? Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht fragen, was sie gemeint hatte. Er wollte nicht wissen, was sie gemeint hatte. Er wollte nichts sagen und nichts hören und nur Ruhe haben, am liebsten mit ihr, aber lieber ohne sie, als gar nicht. (236f.)

Laut Schlinks Beschneidung scheint ein gelingendes deutsch-jüdisches Gespräch also nach wie vor unmöglich zu sein. Wie aber ließe sich zwischen Deutschen und Juden eine Sprache finden, die nicht alles „kurz und klein schlägt“? Wenn Andi und Sarah, wie zu Beginn ihrer Beziehung, ihre Liebe befragen, so führt diese Vorgehensweise noch zu einer katalogartigen Bestandsaufnahme ihrer jeweiligen Liebenswürdigkeit. Sarah: „[Ich liebe dich] Weil du lieb bist und klug, anständig, groß­zügig. Weil du mein treuer kleiner Soldat bist und es dir so schwer im Leben

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machst. […] Weil du eine gute Art mit Kindern und Hunden hast. Weil ich deine grünen Augen mag und deine braunen Locken. […]“ Und Andi: „Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die so viel sieht, die so sorgsam und einfühlsam hinschaut. Dafür liebe ich dich. Ich bin in deinem Blick aufgehoben. Und ich liebe dich für die Computerspiele, die du erfindest. Du nutzt deinen Kopf, damit andere fröhlich sind. Du wirst eine wunderbare Mutter sein. […]“ (217) Selbst dieser Liebessprache sind die späteren Konflikte aber schon inhärent. Denn ihr gespiegeltes Bild im Auge des Anderen zeugt weniger von dem, was Andi und Sarah tatsächlich sind, als vielmehr davon, was sie selbst im jeweils Anderen suchen. Dass Andi etwa in Sarahs Blick „aufgehoben“ ist, stellt sich sehr schnell als illusorisch heraus, während wiederum vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Vergangenheit Sarahs „treuer kleiner Soldat“ als Koseformel für Andi seltsam verfehlt anmutet. Mag diese Schere zwischen Realität und Imagina­tion noch den typischen Regeln eines Liebesdiskurses entsprechen, so wird dem Leser darüber hinaus jedoch auch nichts von dem, was da gegenseitig an Eigenschaften aufgezählt wird, mit erzählerischen Mitteln selbst gezeigt. Es gibt zum Beispiel keinerlei geschilderte Szenen oder Er­innerungen, die dem Leser Andis Kinder- und Hundefreundlichkeit nachvollziehbar machen. Der Liebesdiskurs kann im Hinblick auf den belasteten Hintergrund also als ein Gegendiskurs gelesen werden, der dem des Beschweigens jedoch mehr und mehr zu unterliegen droht: Wenn sie auf ihre Religionen zu sprechen kamen, oder das Deutsche in seiner Welt und das Jüdische in ih­rer, paßten sie auf, daß sie einander nicht in Frage stellten. Wenn er mit ihr in die Synagoge ging, fand er es eindrucksvoll; wenn er mit ihr einen Vortrag über Chassidismus hörte, fand er es interessant. […] Was ihn befremdete, verschwieg er nicht nur ihr, sondern sich selbst; er gestand es sich nicht ein. (213)

Die Selbstvergewisserung, Basis einer funktionierenden Liebesbeziehung, wird in der Beschneidung folglich mehr und mehr zum wunden Punkt, wenn das Bild im Auge des Anderen vom Exempla­rischen eingeholt wird und das Individuelle aus dem Fokus drängt. Ein Blick, den Andi durch die besagte Beschneidung schließlich zu tilgen versucht. In diesem Akt laufen nun gleich mehrere symbolische Stränge zusammen: Zum einen ist die Beschneidung ganz offiziell der rituelle Über­gang, der die männlichen Konvertiten bei ihrem Eintritt ins Judentum erwartet. Zum zwei­ten hofft Andi damit aber auch, sich in einer Art symbolischen Wiedergutmachung wieder für die Beziehung zu öffnen, die er zuvor seinerseits immer kleiner „zugeschnitten“ hatte: So schnitt er seine Liebe immer kleiner zu. Über die Familie zu reden war heikel, über Deutschland und die Juden, über seine Arbeit und ihre, von der das Gespräch wieder leicht auf seine kam. Er gewöhnte sich an, was er sagen wollte, zu zensieren, diesen und

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jenen kritischen Eindruck vom Leben in New York lieber zu verschweigen und lieber nicht zu erwähnen, wenn er Äußerungen ihrer Freunde über Deutschland und Eu­ropa falsch und anmaßend fand. Es gab genug anderes zu reden, und es gab die Vertrautheit der gemeinsa­men Wochenenden und die Leidenschaft der gemeinsamen Nächte. (237)

Dadurch, dass Schlink als Narrativ eine Liebesgeschichte wählt, um vor dessen Folie das heutige Spannungsverhältnis von Deutschen und Juden so differenziert wie thesenartig zu diskutieren, erfährt dieser Diskurs gewissermaßen eine Potenzierung. Denn wenn die Liebe als das probate Mittel, die Differenzen zwischen zwei Menschen versöhnlich zu überbrücken, nicht ausreicht, sondern die Betroffenen erfahren lässt, „daß die Versöhnung nichts löst, nichts erledigt, sondern nur Erschöpfung anzeigt“ (243), dann ist es um ein deutsch-jüdisches Miteinander nicht gut be­stellt. Die Entgegensetzung von Deutschen und Juden wird unter den Nachgeborenen, die hier von Andi und Sarah repräsentiert werden, allenfalls zu einem tolerierenden Nebeneinander, was für eine Liebesbeziehung entschieden zu wenig ist. Und so ist die Beschneidung für Andi, drittens, nicht nur Gegengabe, sondern auch Aufgabe und Absage an seine alte Identität, resultierend aus der Einsicht, dass eine deutsch-jüdische Beziehung augenscheinlich nur durch eine Nivellierung der Differenzen, und damit um den Preis der Selbstverleugnung zu haben sei: Gibt es nur ein Entweder-Oder? Ist man entweder Mann oder Frau, Kind oder Erwachsener? Entweder Deutscher oder Amerikaner, Christ oder Jude? Hat das Reden keinen Zweck, weil es zwar hilft, den ande­ren zu verstehen, aber nicht, ihn zu ertragen, und weil das Entscheidende das Ertragen ist, nicht das Verste­hen? Was aber das Ertragen angeht – erträgt man letztlich nur seinesgleichen? Natürlich kommt man mit Unterschieden zurecht, und wahrscheinlich kommt man ohne sie überhaupt nicht aus. Aber müssen sie nicht einen gewissen Rahmen wahren? Kann es gutgehen, wenn wir uns in unserer Verschiedenheit grund­sätzlich in Frage stellen? Kaum hatte er sich diese Frage gestellt, erschrak er. Man erträgt nur seinesgleichen – ist das nicht Rassismus oder Chauvinismus oder religiöser Fanatismus? Kinder und Erwachsene, Deutsche und Amerikaner, Christen und Juden – wie sollten sie einander nicht ertragen? Sie ertragen einander überall auf der Welt, je­denfalls überall, wo die Welt so ist, wie sie sein sollte. Aber dann fragte er weiter, ob sie einander vielleicht nur ertragen, weil die einen oder die anderen aufgeben, was sie sind. (229f.)

Was sie sind: Der ernsthafte Andi und die spöttische Sarah, der gewissenhafte Jurastudent und die kreative Computerspieldesignerin, der Europäer und die Amerikanerin, der Deutsche und die Jüdin – der Prozess der gegenseitigen Identifizierung führt vom Individuellen, und darin liegt das Scheitern dieser Beziehung begründet, mehr und mehr ins Exemplarische anstatt umgekehrt. So führt

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auch Andis Beschneidung nicht zum gewünschten Ergebnis. Eine Jüdischkeit, die, so lautet die ‚Botschaft‘ der Erzählung, sich ohne den Prozess einer inneren Annäherung und intensiven Auseinandersetzung nur der großen und bloßen Geste wegen ange­eignet wird, ist inhaltslos und damit nicht wirklich vorhanden. Dementsprechend bemerkt Sarah, die stets behauptet hatte, Andis Körper nicht nur zu mögen, sondern regelrecht „zu brauchen“ (217), gar nicht erst den Unterschied. Schon nach einem ihrer ersten großen Streits hatte Andi sich die Schuhe angezogen, um „zu sich“ zu gehen. (237) Eingelöst wird dies dann, sehr symbolisch, mit dem letzten Satz der Erzählung: „Er zog die Schuhe an und ging.“ (255) ‚Zu sich‘ wird der aufmerksame Leser ergänzen. Die allmähliche Verfertigung der Identität beim Reden – so ließe sich, in einer freien Anverwandlung der Kleistschen Formel, der Diskurs der Beschneidung in einem Satz bündeln. Denn die sich zuspitzenden Streitgespräche zwischen den sich mehr und mehr als Antagonisten gegenüber­stehenden Liebenden, denen es um ihre Selbst-Legitimierung zu tun ist, führen schließlich, über den Umweg der Selbstverleugnung, als die Andis Versuch der Konstruktion einer jüdischen Schein-Identität ja bezeichnet werden kann, zur Selbstvergewisserung, zu einem Zu-sich-Kommen. Die von Axel Schildt so allgemein konstatierte Inkongruenz von Normalität und moralischer Belastung der bundesdeutschen Bürger wird in Schlinks Erzählung so konkret wie exemplarisch am Scheitern der Liebesbeziehung der Protagonisten gezeigt. Offen bleibt in der Beschneidung je­denfalls nichts. Bis auf eins: Inwiefern handelt es sich bei dieser deutsch-jüdischen Liebesge­schichte, in Bezug auf den übergreifenden Titel des Bandes, eigentlich um eine Liebesflucht? Bedeutet für Andi die Beziehung mit Sarah eine Flucht aus der Liebe, im Sinne dessen, dass er die Auseinandersetzung flieht, oder eine Flucht in die Liebe? Letzteres könnte zumindest auf meta­sprachlicher Ebene der Fall sein als eine Strategie des Autoren den Liebesdiskurs zu nutzen, um die Konflikte einer deutsch-jüdischen Vergangenheitsbewältigung im autarken Raum der Fiktion zu diskutieren. Die ‚Entweder-oder’-Position des Erzählers steht dabei neben der eines ‚Sowohl-alsauch‘, wie es Ruth Klüger in weiter leben fordert. Beide Werke, Autobiographie und Erzählung, sind darin als Antworten auf eine Umbruchszeit: die „nervösen“ neunziger Jahre, zu lesen, in denen, fünfzig Jahre nach der Shoah und so kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands, ein mögliches Neben- oder Miteinander von Deut­schen und Juden sowie die Wechselbeziehungen zwischen deutscher und jüdischer Identität diskutiert werden. Literatur als Geschichtsschreibung im Sinne der narrativen Erzeugung von Sinnzusammenhängen, die Aussagen über eine Gesellschaft möglich machen, wird hier einmal evident anhand der eigenen Lebensgeschichte (Klüger), das andere Mal wird die Brisanz dieses gesellschaftlichen Themas mittels der Liebes-Narra-

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tion diskutierbar (Schlink). Die Personen- und Figurenkonstellationen zeugen in beiden Werken einerseits von der Auflösung binärer Oppositionen, sodass die jüdische Integration mitunter tatsächlich wie ein Prozess erscheint, der, um noch einmal an Finkielkrauts These zu erinnern, an keinen „gesellschaftlichen Auftrag“ mehr gebunden scheint. Andererseits wird der historische Zwischenzustand der jüngsten Gegenwart darin deutlich, dies haben auch die erörterten Literaturstreits gezeigt, dass Belastetheit und Normalität auch in der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1989 koexistieren und im Zusam­menhang mit der Frage nach jüdischer Identität besonders komprimiert erscheinen. Das Fazit lautet daher: Ruth Klügers Autobiographie weiter leben und Bernhard Schlinks Erzäh­lung Die Beschneidung sind als Beispiele für literarische Geschichtsschreibungen nach 1989 anzuse­hen, die nicht direkt im Zeichen der Zäsur stehen. Die indirekte Inanspruchnahme der Zäsur als causa movens des Erzählens dient vielmehr dem Aufzeigen von Kontinuitätssträngen und steht damit einer ‚zweiten Stunde Null‘ entgegen.

III. 2. Geschichten eines Adjektivs. Jüdischkeit als Text Schrieb ich meine Autobiographie, würde ich sie ‚Geschichte eines Adjektivs‘ nennen. (Isaak Babel)

„Erzählen. Deutschland erzählen. Es nicht begrübeln, besprechen, beraunen – nicht noch einmal“ – so formulierte der Schriftsteller Wolfgang Büscher anlässlich der Verleihung des Börne-Preises im Juni 2006 sein narratologisches Programm.60 Dass es sich lohnt, das heutige Deutsch­land erinnernd zu befragen und darin, wie etwa Ruth Klüger, meisterlich zu erzählen, haben die vorausgegangenen Erörterungen gezeigt. Sie haben zudem gezeigt, dass seine Gültigkeit behaupten kann, was eingangs so allge­mein mit Robert Schindels Vers Nervös der Meridian als ein ‚neues‘ literarisches Schreiben über Jüdischkeit bezeichnet wurde: Deutsch-jüdische Geschichtsschreibungen nach 1989 lassen sich in einem Schwel­ len­raum verorten zwischen Konfrontation (‚einer legt an‘) und Interpretation (‚einer legt aus‘), zwischen dem was war und dem was kommt. Statt im Zeichen der (zweiten) Zäsur zu stehen, begeben sie sich auf die Spurensuche, nach dem was war und nach dem was bleibt. Dies sollen nun auch die nachfolgenden Lektüren der Werke Schindels, Sebalds, Hackers, Honigmanns, Leupolds und Billers dokumentieren. Robert Schindels Gebürtig, W. G. Sebalds Die Ausgewanderten, Katharina Hackers Eine Art Liebe, Barbara Honigmanns Alles, alles Liebe!, Dagmar Leupolds Nach den Kriegen und Maxim Billers Die Tochter – sie alle erzählen auf ihre 60 Süddeutsche vom 26. Juni 2006, S. 14.

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Weise die Geschichte eines Adjektivs. In den jeweiligen Werken wird Jüdischkeit nicht nur thematisiert, sondern auch zuallererst literarisch erzeugt.

2. 1. Die Kindeskinder des Doppeladlers – Robert Schindels „Gebürtig“ Die Kinder des Doppeladlers waren in ihrer Mehrheit Schafe, die ihr Leben damit verbrachten, sich in Scheiße und Blut zu wälzen, so daß ihre letztendliche Schlachtung keinen sättigte, außer Gott. Deren Kinder sind wir, sagte der Lektor Demant zu seinem Herzen, derweil er Ende April gegen elf abends zu seinem Beisel trottete. Diese Lämmer sind gelegentlich mittelwild, und den meisten sind längst zwei Köpfe aus der Wolle gewachsen. Der eine blökt, der andere mampft das Blöken. An einem Hals hängt eine kröpfige Glocke, am anderen ein schlipsähnlicher Klöppel. 61

Die Kindeskinder des Doppeladlers – als Schriftsteller, so Robert Schindel, habe er in Gebürtig versucht zu zeigen, dass „sowohl Täter- als auch Mitläuferkinder als auch Opferkinder allesamt Opferkinder jener barbarischen Zeit sind“.62 Der verbindende Umstand einer gemeinsamen Ge­schichte von Deutschen und Österreichern unter dem ehemals kaiserlichen und später unter dem reichsdeutschen Wappen des Doppeladlers sei, so Schindel, dabei gar nicht hoch genug einzu­ schätzen, denn: Deutsche und Österreicher verbindet immerhin die gemeinsame Durchführung der Shoah. Zwar waren die Deutschen schwache Antisemiten und hervorragende Nationalsozialisten, dafür die Österreicher schlampige Nazis und herausragende Antisemiten, das ergänzte sich, und wie es sich ergänzte. […] Heute beginnt in der Bevölkerung zaghaft ein Umdenken von der reinen Opferrolle zur damaligen Mittäterschaft. Aber wie schnell das Opferlamm wieder herhalten kann, zeigt die gegenwärtige Krise.63

61 Robert Schindel, Gebürtig, Frankfurt am Main 1992, S. 7. Zitiert wird im Folgenden nach der ersten Aufl. 1994. Die Seitenangaben erfolgen jeweils in runden Klammern hinter dem Zitat. 62 Schindel, Rede auf Elisabeth Reichart, in: Ders., Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen, Frankfurt am Main 2004, S. 137–139, hier S. 137. 63 Schindel, Ein doppelter Blick. Deutschland, von außen gesehen, in: ebd., S. 47–65, hier S. 56. Mit der „gegenwärtigen Krise“ spielt Schindel auf die sogenannte Kurt-Waldheim-Affäre an. 1986 wurde mit Kurt Waldheim ein ehemaliges SA-Mitglied mit belasteter nationalsozialistischer Vergangenheit zum Bundespräsidenten Österreichs gewählt. Kritiker sahen in der Person Waldheims, der in seiner Biographie nur lückenhafte Angaben zu seiner Verstrickung mit dem Hitler-Regime gemacht hatte, das Symbol für den unbewältigten Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit, der sich durch kollektives Verdrängen äußerte. Erst 1991 erfolgte ein eindeutiges, offizielles Bekenntnis zur Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen durch den Bundeskanzler Vranitzky.

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Das zweiköpfige Lamm, das Schindel dem Bild des Doppeladlers genealogisch folgen lässt, und dessen Charakterisierung gleich einer Miniaturfabel den Erzählverlauf eröffnet, spielt auf das Doppelbewusstsein der Nachgeborenen in den Täterländern an, zugleich sie selbst und sich den­noch fremd zu sein. Dieser bekannt anmutende innere Widerspruch wird nun aber nicht etwa zur condition humaine des modernen, entfremdeten Menschen erklärt, sondern erweist sich ganz konkret als das Resultat des unauflösbaren Zwitterzustands, sowohl mit dem Ballast der Ver­gangenheit als auch mit der Sinneslust der Gegenwart zu leben: Wenn sie ihre Köpfe heben und in den herrgottsfreien Himmel blicken, dann kommt von dort ihre Angst vor Bombe und Regengift und bringt sie zum Glockenläuten, Parolen singen, derweil aus ihren Gedärmen Lebenslust und Liebeslist die Wolle feucht machen. In Herz und Lunge sitzen Glaube und Aberglaube, welche sich im Hirn als IDENTITÄT und ICH-SEIN ausdrücken. Falls die Lämmer sich dann benennen, führt ein jedes vor seinem Eigennamen ein HÖRT HÖRT oder ein WEDER VERWANDT NOCH VERSCHWÄGERT als Titel. (8f.)

Jüdische Lebensläufe lassen sich also nur in der narrativen Auseinandersetzung mit den Lebens­läufen nichtjüdischer Zeitgenossen erzählen, da sich das Benennen, die Identitätsbildung des Einen vor dem Spiegel des Anderen vollzieht. Mit seinem 1992 erschienenen Roman hat der 1944 geborene Schindel dann auch ein Werk geschaffen, das immer wieder um das heutige Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden kreist, die sich im täglichen Umgang miteinander ‚in die Wolle kriegen‘. Gebürtig, so fasste es andernorts Maxim Biller treffend zusammen, Gebürtig liege die schlichte Herzensfrage zu Grunde, ob denn Deutsche und Juden miteinander glücklich werden könnten.64 Diese Frage bildet tatsächlich den causa movens des Romans. Die Biographien der Opfer- und Täternachkommen dienen sich dabei gegenseitig als Kontext, um dieser Frage auf die Spur zu kommen. Und so lässt Schindel im Wien der Beisls und Kaffeehäuser seine Figuren aneinander geraten, lässt sie streiten, philosophieren, genießen, schweigen, sich verschwenden, verlieben und entlieben: Allen voran der Protagonist, der Lektor Danny Demant. Ihm zur Seite steht sein alter Ego, der Schriftsteller Alexander alias Sascha Graffito, der sich mit Danny die Rolle des Erzäh­lers teilt. Die Konstruktion eines gedoppelten, selbstreflexiven Erzählers ist in seiner Gespalten­heit zwischen erlebendem und handelndem Subjekt (Danny) und aufzeichnendem beobachten­dem Subjekt (Alexander) durchaus metaphorisch zu verstehen, da sich in der Figur des zweiköp­figen Erzählers Danny/Alexander das (Lämmer-)Doppeldasein der Nachgeborenen auf Ebene der Handlung wie auch auf erzähltechnischer Ebene widerspiegelt: „Der eine blökt, der andere mampft das Blöken.“ (7) 64 Biller 2001, S. 95.

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Um ein derartig abstraktes erzähltechnisches Konstrukt anschaulich und nachvollziehbar zu gestalten, werden Danny und Alexander zu Zwillingsbrüdern erklärt, eine schindelsche Variation der Zwei-Seelen-ach-in-einer-Brust-Konstellation: „Der also schreibt, damit der andere leben, erleben kann. […] Später gehen wir auseinander, als habe jeder sein Leben, wie es gerade sich lebt in Disposition“. (18) Die erzählstrategische Doppelung ermöglicht es zudem, das zwiespältige Begehren des Protagonisten Danny/Alexander auszuagieren: Während sich Danny in die katholi­sche Kurärztin mit dem sprechenden Namen Christiane Kalteisen verliebt und mit ihr eine lei­denschaftliche on-off-Beziehung unterhält, fühlt sich Alexander mehr zu der melancholischen Mascha Singer hingezogen, deren jüdischer Vater bei einem Autounfall ums Leben kam und die sich ihrerseits von dem steirischen Burschen Erich Stiglitz ebenso angezogen wie provoziert fühlt: Mauthausen ist eine schöne Gegend [sagt Erich zu Mascha]. Mascha nickt und hört auf mit dem Nicken. […] Sie hat nie erfahren können, ob sie so was aufregt, denn sie hat sich ganz einfach auf­geregt. Hörst du, sagt sie, das ist eine geschmacklose Bemerkung. Aber geh, sagt er, ich bin dort aufgewachsen. […] Er sieht genau, wie sie ihn durch ihre Empörung verspottet; unbefangen zieht sie einen toten Verwandten nach dem andern aus ihrem Schoß, ohne auch nur ein Wort zu sagen […] Mascha sieht nichts dergleichen. Schon wieder ist sie zugleich außer sich und zugleich tief in sich gesunken, als ob ihre Sandkisten mit Asche gefüllt sei. (10f.)

Da Mascha von dem jüdischen Teil ihrer Familie durch den frühen Tod des Vaters abgeschnitten ist, versucht sie ihre brüchige jüdische Identität durch Überkompensation auszuloten, indem sie das Leid des jüdischen Volkes wie eine „verstimmte jüdische Orgel“ (41) bei jeder Gelegen­heit zu Gehör bringt: „Die Geschichten hängen ihr buchstäblich aus dem Mund heraus, sie kann sie weder schlucken noch ausspeien.“ (40) Während Alexander im Bann von Mascha diese Ge­schichten immer wieder hören muss, bringen sie Danny auf die Palme: „Dürfen unsere Toten auch einmal ein bißchen tot sein oder müssen sie auch als Knochenmehl ständig gespitzt sein?“ (16) „Red nix“ entgegnet wiederum Christiane Kalteisen, als Danny nach ihrer ersten leidenschaftlichen Liebesnacht in intellektuelle Gedankenspiele verfällt: Ich mach schon wieder alles falsch, sagte Danny zu seinem Herzen. Dauernd geb ich abendländi­sches Kulturgut von mir, zitiere die Denker und Dichter, finde kein eigenes Wort. Warum zieh ich sie in mein angewohntes Denkkabinett, statt ins Freie zu gehen? Sie will mit Energie sprechen, ich antworte mit Büchern. Was schlepp ich meinen alten Scheiß in alle neuen Gegenden mit? (47f.)

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Zu dem Kreis um Danny Demant und Alexander Graffito gehört neben Mascha Singer und Christiane Kalteisen auch der fünfunddreißigjährige Schriftsteller Emanuel Katz, der seinen El­tern zuliebe, die „Auschwitz auf erbarmungslose Weise überlebt“ (20) haben, in einem ungelieb­ten, aber sicheren Bankjob steckt: „Bis vor zwei Jahren hat er [Katz] nichts getan als seiner tod­wunden Familie das Auffangbecken für deren Melancholie zu sein.“ (20) Erst nach dem Tod des Vaters schreibt Emanuel Katz ein Buch, dessen Manuskript Danny dann als Lektor betreut: „Noch eins, welches der Welt erklärt, wie wenig die Juden aus den Kazetts herauskommen, falls sie herauskamen.“ (25) Über die Vermittlung von Katz wird wiederum der Kreis weitergespon­nen zu zwei weiteren Täter-Opfer-Geschichten: Zum einen ist es die Geschichte des deutschen Kritikers Konrad Sachs, der sich mit der Vergangenheit seines Vaters Ernst Sachs als einem der Haupt-Kriegsverbrecher der NS-Zeit bis an die Grenze der Selbstzerstörung auseinandersetzt (angespielt wird hier auf Hans Frank, den ehemaligen Statthalter von Polen) und der erst durch die Ermunterung Dannys, diese traumati­sche Vergangenheit in einem öffentlichen Bericht zu bannen, erlöst wird. Diese ‚Beichte‘ bewegt den erfolgreichen Theaterregisseur Peter Adel, einen engen Freund von Sachs, sich zu seiner bislang verleugneten jüdischen Identität zu bekennen, und er reagiert etwas düpiert, als ihm klar wird, dass dieses Bekenntnis niemanden überrascht. Zum anderen ist es die Geschichte des nach Amerika emigrierten jüdischen Schriftstellers Herrmann Gebirtig, der als Hauptzeuge für den Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Aufseher, den „Schädelknacker Egger“ in seine alte Heimat Wien zurückgerufen wird, und zwar von der jungen Susanne Ressel, deren Vater, ein alter Sozia­ list, ebenfalls das Opfer von Egger wurde. Zwischen beiden entwickelt sich eine Lie­besgeschichte. Gebirtig überlegt, ein neues Leben in Wien zu beginnen, doch als Egger freigesprochen wird, reist er fluchtartig wieder zurück nach New York. Bereits anhand dieser kurzen Synopse, die nur die zentralen Figurenkonstellationen benennt, wird deutlich, wie, mit Schindels eigenen Worten, „die Vergangenheit der Gegenwart in den Schritt fährt“ und dass, noch einmal wiederholt, „sowohl Täter- als auch Mitläuferkinder als auch Opferkinder allesamt Opferkinder jener barbarischen Zeit sind.“65 Mit dem wesentlichen Unter­schied allerdings, dass der Sehnsucht der Täterkinder nach Normalität das Bewusstsein für die Obszönität einer solchen Normalität auf Seiten der Opferkinder entgegensteht, was zum Beispiel zwischen Mascha und Erich zu tiefgreifenden Konflikten und Kommunikationsstörun­gen führt. Wie aber wird nun Jüdischkeit, gelebte jüdische Identität, in Gebürtig zum Text? Diese Frage ist weniger eine nach der Thematik, sie richtet sich vielmehr an das sprachliche Universum von Gebürtig. Denn dass Schindels Roman thematisch von Juden und jüdischen Be­wusstseinslagen handelt, das wird schnell offenkun65 Schindel, Rede zu Elisabeth Reichart, in: Schindel 2004, S. 137f.

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dig.66 Um aber der literarischen Qualität in Bezug auf die Vergegenwärtigung des Jüdischen auf die Spur zu kommen, gilt es außer der Thematik auch die ‚Grammatik‘ des Romans in den Blick zu nehmen. Eine Grammatik, die etwa Amir Eshel für Celans Lyrik als ein „sprachliches Universum“ definiert hat; als ein „nicht-mimetisches Vermögen, sich anderen mitzuteilen“.67 Dieses nicht-mimetische Vermögen der Mitteilung spiegelt sich auf formalästhetischer Ebene insbesondere in der vielschichtigen Anlage von Gebürtig wider, einem linguistischen Pandämonium von Figuren, Geschichten, Zeit-, Erfahrungs- und Sprachebenen. 2.1.1. Die Anderen. Vielstimmigkeit

Schindels Operieren mit zwei Erzähler-Protagonisten sowie mehreren jüdischen Schriftstellern (unter anderem Katz und Gebirtig), aus deren Blickwinkeln einzelne Episoden erzählt werden, die zudem, je nach Sozialisation des Sprechenden zwischen jiddisch, hochdeutsch und Wiener Mundart wechseln, erzeugen eine narrative Konstruktion, die es ermöglicht, eine einheitliche Sprache zu relativieren. Dieser Umstand hat etwa Thomas Nolden dazu veranlasst, die Struktur der Polyphonie in Gebürtig mit Michail Bachtins Begriff der Vielstimmigkeit zu assoziieren.68 Laut Bachtin ist die Gattung des Romans in der Lage, eine „Aufspaltung der Nationalsprache“ in soziale Dialekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Gattungssprachen, Sprachen von Ge­nerationen und Altersstufen, Sprache von Interessengruppen, Sprachen von Autoritäten, Spra­chen von Zirkeln und Moden, „bis hin zu den Sprachen sozial-politischer Aktualität“ 69 vorzunehmen: Alle Formen, die einen Erzähler oder fiktiven Autor in eine Erzählung einführen, bezeichnen in gewissem Maße die Freiheit des Autors gegenüber der einheitlichen und einzigen Sprache, die mit der Relativierung literarisch-sprachlicher Systeme zusammen66 Siehe u. a. Hannes Stein, Sch’ma Jisruel, kalt is ma in die Fiß. Die neue deutschsprachige jüdische Literatur, in: Braese, Gehle 1998, S. 401–410; Ingrid Spörr, Robert Schindel’s novel Gebürtig, in: Sander L. Gilman, Jack Zipes (ed.), Yale Companion to Jewish Writing an Thought in German Culture 1096–1996, New Haven, London 1997, p. 827–832; Schruff 2000, insbesondere S. 122–126 und S. 207–210; Volker Kaukoreit, Robert Schindel, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, 10 Bd., Bd. 8/9, 51. Neuaufl. Oktober 1995, S. 1–8; Hubert Winkels, Doppellämmer und Tätersöhne, in: Die Zeit (10. April 1992); Konstantin Kaiser, Kühler Kopf und warme Füße, in: Literatur und Kritik, Heft 263/264 (1992), S. 99–102 sowie Manuel Köppen, Auschwitz im Blick der zweiten Generation. Tendenzen der Gegenwartsprosa (Biller, Grossman, Schindel), in: Ders. (Hrsg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin 1993, S. 67–82. 67 Amir Eshel, Die Grammatik des Verlusts, in: ZfdPh 2002, S. 59–74, hier S. 60. 68 Nolden 1995, S. 75f. 69 Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, hrsg. von Rainer Grübel, Frankfurt am Main 1979, S. 154–300, hier S. 157.

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hängt, bezeichnen die Möglichkeit, sich sprachlich nicht selbst zu bestimmen, seine Intentionen aus dem einen Sprachsystem in das andere zu übertragen, die „Sprache der Wahrheit“ zu verschmelzen mit der „Sprache des Alltags“, Eigenes in der fremden Sprache und Fremdes in der eigenen zu sagen.70

Wenn Bachtin von der Freiheit des Autors gegenüber einer einzigen Sprache und einem einheitli­chen System spricht, die es ihm erlaubt, die „Sprache der Wahrheit“ mit der des Alltags zu ver­schmelzen, so schwingt in dieser Redevielfalt eine eminent politische Auffassung des Begriffes mit. Gerade dem Schriftsteller scheint es Bachtin zufolge gegeben, mittels der Vielstimmigkeit, der Subversion einstimmiger, allgemeingültiger Aussagen, eine Form von Wahrheit zu erzeugen, die alltagsrelevant ist. Eine Wahrheit, die über den Vorgang der Verschmelzung von Eigenem und Fremden, der „Möglichkeit, sich sprachlich nicht selbst zu bestimmen“, dem nahe kommt, was Schindel in einem Essay über Schreibtechniken und poetische Verfahren der Aussparung und des Indirekten sagt: „Die Wiederkehr eigener Erfahrung aber verfremdet, so dass ich bloß ahne, aber nicht weiß, dass es meine Erfahrung ist, die in fremder Gestalt vor mir steht, wie ein Spalt, eine Dunkelheit, ein poetisches Déjà-vu.“71 Denn, und hier fühlt sich der Leser noch direkter an Bachtin erinnert, „die Ideologieinfizierung, eine Plage dieses Jahrhunderts, gedeiht am besten in klaren Räumen mit festen Begrenzungen, guter Beleuchtung“.72 Anders als Bachtin scheint es Schindel mit seinen Verfahren des Indirekten und der Vielstimmigkeit in Gebürtig jedoch weniger um die Relativierung sprachlicher Systeme zu gehen73 und auch nicht allein um die poetischen Möglichkeiten des Nicht-Identischen, welche ja inzwischen als ästhetisches Elementargut des modernen Romans gelten können, sondern konkreter um Begegnung. Wie ist das zu verstehen? Eine der urpoetischsten Möglichkeiten der Begegnung ist das Gedicht. Dazu Paul Celan in seiner Meridian-Rede: Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung? Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses An70 Ebd., S. 204. 71 Schindel, Schreibtechniken: Über das Geheimnis, über Aussparung, in: Schindel 2004, S. 97–103, hier S. 101. 72 Schindel, Die zwei Leben des Paul Celan, in: ebd., S. 118–136, hier S. 133. 73 Unter eben diesem Aspekt erwähnt auch Thomas Nolden Bachtin in Bezug auf Gebürtig. Nolden zufolge dient die an Bachtin angelehnte Redevielfalt Schindel zur ironisch-humoristischen Brechung, der Vorführung von Sprachsystemen, etwa dem antisemitischen Sprachstereotyp. Nolden 1995, S. 75f.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

dere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das An­dere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.74

Nun ist eines der auffälligsten poetischen Verfahren gleich zu Beginn von Gebürtig das Verwen­den von verschiedenen Gattungssprachen, was schon für Bachtin als eines der zent­ralen Kriterien zur Erzeugung von Redevielfalt galt. Für Gebürtig heißt das konkret: die Konfron­tation von Erzählung und Gedicht. So versieht Schindel etwa seinen dreiteiligen Prolog mit ein­zelnen Versen, die das Thema des jeweils folgenden Erzählabschnitts vorab in einem lyri­schen Bild verdichten und damit: anders zur Sprache bringen. Lyrische Rede und erzählerische Rede werden also in Form eines wechselseitigen Kommentars explizit miteinander in Beziehung gesetzt, sie werden einander, im Sinne Celans, zum Gegenüber: „Jedes Ding ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.“ Damit ist der Kontext angedeutet, mit dessen Hilfe sich im Folgenden der Konstruktion von Jüdischkeit in Gebürtig genähert werden soll. Erstens: Wie gerät das Gedicht in den Text? Inwiefern ist es Begegnung? Und zweitens: Welche Funktion kommt den Namen in Gebürtig zu? Beide Fragestellungen legen es nahe, die ausgewiesen ‚jüdischen Komponenten‘ einer Grammatik der Vielstimmigkeit in Gebürtig mit der Poetologie Paul Celans lesend nachzuvollziehen, auch wenn die Forschung stets einen Bruch zwischen der Generation Celans und derjenigen Schindels konstatiert und daher, wenn auch nicht auf Ebene der geistigen Nähe, so doch zumindest auf der poetologischen Ebene keinerlei Anknüpfungspunkte sieht. Es sei hier noch einmal stellvertretend Noldens Resümee zitiert: Immer wieder wird das Begehren der jungen jüdischen Literatur sichtbar, sich in einer jüdischen Tradition von Autoren, Stilen und Gattungen bewegen zu können, die ihr letzten Endes jedoch unzugänglich bleibt. […] Der aus der eigenen Erfahrung gezeugte Ton, der etwa die Gedichte Paul Celans auszeichnet oder die Grotesken Edgar Hilsenraths legitimiert, läßt sich nicht erben oder er­borgen, sondern allenfalls zitieren.75

Inwiefern aber müssen sich der ‚eigene Ton‘ und der poetologische Vorgang des (allenfalls) Zitierens, dessen sich ja bereits Celan selbst in seiner Meridian-Poetik bediente, zwingend wider­sprechen? Oder anders gefragt: Wie gerät das Gedicht in den Text?

74 Celan 1960, S. 197. 75 Nolden 1995, S. 79f.

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2.1.2. Wie gerät das Gedicht in den Text?

Eigenen Aussagen zufolge hat Robert Schindel seinen Roman Gebürtig eigentlich nur geschrieben, um zu beweisen, dass er Lyriker ist. Das aber ist ihm, so Thomas Kraft, „gründlich misslungen“, denn „dieses Debüt über das mögliche und unmögliche Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden ist eine glänzende Mischung aus Elegie und Satire, ein geradezu von Geschichten und Anekdoten überquellendes Wortgebirge mit bitter-süßem Schlagobers und rüdem Wiener Schmäh.“76 Es lohnt sich jedoch durchaus, Schindels Auskunft einmal ganz wörtlich zu nehmen und den Romancier Schindel mit dem Lyriker Schindel zu lesen, die erzählerischen Fäden mit der anderen Sprache des Gedichtes in einen poetologischen Zusammenhang zu bringen. Inwiefern nämlich hat Schindel mit Gebürtig bewiesen, dass er eigentlich Lyriker ist, und was sagt das aus über die spezifische Ästhetik des Romans? Ein Textbeispiel vermag da Aufschluss verschaffen: Der zweite Erzählabschnitt des Prologs beginnt etwa mit folgendem Vers: „Das doppelköpfige Unschuldslamm / Weidet ab die innerlichen Schollen / Herausmodelliert aus dem Zeitenschlamm / Muß jeder Kopf sich im anderen wollen.“ Unmittelbar im Anschluss wird der Leser auf die Ebene der Handlung zurückgeführt: „Was soll der fünfunddreißigjährige [Erich] Stiglitz, blond und aus Oberösterreich mit der jüdischwienerischen [Mascha] Singer aus Ottakring reden, frag ich mich, und sicher fragt sich das Stieglitz auch.“ (9) In welchem Verhältnis stehen nun diese beiden Formen der Rede zueinander? Während der Gedichtvers von der Notwendigkeit eines Miteinanders spricht („Jeder Kopf [muß] sich im anderen wollen“), stellt der Erzähler ein solches Miteinander sofort wieder infrage, indem er das antagonistische Verhältnis betont, das zwischen den Kindeskindern des Doppeladlers be­ steht. Denn wie sollen Opfer- und Täterenkel, der blonde Erich aus Mauthausen und die jüdische Mascha aus Wien, miteinander reden, ohne in anderer Sprache zu sein? Im Zusammenhang gele­sen klingt der Prosasatz daher wie ein Kommentar auf den Vers: „Was [aber] soll der […] Stiglitz […] mit der […] Singer […] reden, frag ich mich, und sicher fragt sich das Stiglitz auch“. Dieser offene Zwiespalt zwischen wollen und (nicht) können ist auch schon im Gedicht selbst angelegt. Das entsprechende Signalwort bildet das Verb „wollen“, das sowohl einen ersehnten Zustand als auch ein Sinnbild für Streit meint: die Lämmer, die „sich wollen“, d. h. sich begehren einerseits und ‚in die Wolle kriegen‘ andererseits. Ein weiteres Beispiel findet sich im nächsten, im dritten Abschnitt des Prologs, der einen Wechsel der Erzählperspektive von Danny auf Alexander vollzieht: 76 Thomas Kraft, Robert Schindel, in: Ders. (Hrsg.), Lexikon der deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, 2 Bde., München 2003, Bd. 2, Sp. 1099–1101, hier Sp.1100.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Da steht das Lamm mit zwei Köpfen / W ill erbleichen, zugleich erröten / Um sich dabei nicht zu erschöpfen / Sind beide Köpfe vonnöten. Während ich mein Viertel leere, sehe ich Mascha mit herabgezogenen Schultern zum Tisch De­mant und Kalteisen laufen. In ihren Rücken starrt Erich Stiglitz, bevor er seine Augen zu Boden senkt, hinter sich greift, das leere Glas betrachtet, sich von der Wand löst und ums Eck zur Toilette geht. (12)

Um sich nicht zu erschöpfen, sind beide Köpfe vonnöten, sagt die lyrische Rede, während der Erzählverlauf unmittelbar darauf zeigt, dass beide genau das tun, was dem Gedicht zufolge nicht sein sollte: getrennt sind sie dabei, sich zu erschöpfen. Die Signale sind eindeutig: Maschas herab­gezogene Schultern, als sie von Erich weggeht, Erichs gesenkter Blick aufs leere Glas. Auf Ebene der Handlung wird damit sowohl die Notwendigkeit dessen bestätigt, was der Vers aussagt, als auch die an Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit dessen gezeigt. Die zwei ‚anderen‘ Formen der Rede, Vers und Erzählung, stehen also in einem Spannungsver­hältnis zueinander, das sich nicht zu Gunsten der einen oder anderen Aussage löst, sondern unauf­gelöst bleibt. Ein Verhältnis, das zugleich Notwendigkeit wie Unmöglichkeit, Begehren wie Kon­flikt signalisiert. Damit wird auch auf ‚grammatikalischer‘ Ebene deutlich, was Schindel in seinem Bild vom Doppellamm eingangs so komplex als Doppeldasein der Nachgeborenen skizziert hat. Diese beiden kurzen Textpassagen veranschaulichen, was zuvor mit Celan so abstrakt behauptet wurde: Dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, ist jedes Ding eine Gestalt dieses Anderen. Der bildlich verdichteten Sprache des Gedichtes wird die Sprache der Figuren zum Gegenüber. Dazu noch einmal Celans Diktum aus der Meridian-Rede: Das Gedicht ist einsam und unterwegs. Aber steht es nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung? Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.77

Der betonte Gesprächscharakter des Gedichts bedeutet, so Celan, freilich oftmals „ein verzweifeltes Gespräch“, eine „ins Offene weisende Frage“: Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer offen bleibenden, zu keinem Ende kommenden, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage – wir sind weit draußen.

Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen Ort.78 77 Celan 1960, S. 197. 78 Ebd., S. 199.

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Ob die lyrische Rede mit ihrer Dialogsuche beim Gegenüber ankommt, bleibt auch in Gebürtig eine ins Offene weisende Frage; ebenso wie diejenige, die eingangs als causa movens des Erzäh­lens ausgemacht wurde: Können Deutsche und Juden miteinander glücklich werden? Auf Ebene der Grammatik wird in Form einer lyrischen, offenen Suchbewegung, mit der Möglichkeit, das Nicht-Identische auszuloten, das geleistet, was auf Ebene der Thematik den handelnden Figuren wie Erich und Mascha so schwer fällt: Die Begegnung oder die Fähigkeit, Erfahrung zu machen.79 Es spricht für die literarische Qualität des Romans, dass der innere Wider­spruch zwischen Wollen und Können, Begehren und Belastung auf Ebene der Bewusst­seinslage der Figuren ebenso wie zwischen den verschiedenen Formen der Rede auf grammatikalisch-struktureller Ebene nicht aufgeklärt wird. Mit Schindels eigenen Worten: kein Lichtzwang: „Ich sage bloß: Aussparung, indirektes Schreiben, Verfahrensweisen also, in denen aufgeschrieben wird, wovon das Aufgeschriebene eben nicht handelt. Kein Lichtzwang.“ 80 Dass Schindel in seinen Auskünften zur Poetik direkt auf Celan Bezug nimmt, hier auf dessen Gedicht Lichtzwang („Doch konnten wir nicht / hinüberdunkeln zu dir: / es herrschte / Licht­zwang“),81 spricht einmal mehr für die poetologische Nähe zwischen diesen beiden Autoren und macht es plausibel, Gebürtig mit Celan zu lesen. Ein Lektüreangebot, das von der Forschung bis­lang übersehen wurde.82 Nicht nur, dass Celan der Autor ist, der Schindel „die Kunst des Indirekten lehrte.“83 Als Celan, so Schindel, „im Mai neunzehnsiebzig, aller möglichen Sprache bar, in der Seine verschwand“, habe er bereits geahnt: Leben ohne ihn heißt mit ihm leben. Denn nicht nur die Überlebenden müssen später dem monst­rösen Verbrechen den eignen Tod als jüdischen Tod geben, wie Celan, wie Améry, wie Primo Levi, wie Glasar, auch ich als Nachgeborener komme nicht umhin zu dunkeln.84 79 Die Formulierung „Fähigkeit, Erfahrung zu machen“ spielt auf Adorno an. Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1977, S. 121f. Erläuterung, siehe Kap. I.2. dieser Arbeit. 80 Schindel 2004, S. 101–103. 81 Celan, Lichtzwang, hier zitiert nach Schindel 2004, ebd., S. 135. 82 Eine der wenigen Ausnahmen bildet neben dem bereits erwähnten Porträt Ruth Klügers über den Lyriker Schindel (in: Arnold 2007, S. 10–18), ein Aufsatz von Dieter Lamping, der Schindels Lyrik mit der Celans vergleicht. Für Gebürtig steht eine solche Lektüre noch aus. Dieter Lamping, „Deine Texte werden immer jüdischer.“ Robert Schindels Gedicht „Nachthalm (Pour Celan)“, in: ZfdPh 2002, S. 29–42. Über die oben genannten Parallelen ließen sich noch weitere Bezüge aufzeigen. Zum Beispiel wählt Schindel für seine insgesamt sieben Romankapitel Celansche Überschriften, wie zum Beispiel „Enge“ und „Weite“. 83 Schindel 2004, S. 125. 84 Ebd., S. 135.

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In diesem elementaren Sinne hat sich Schindel als Lyriker in Gebürtig eingeschrieben. Mittels des nicht-mimetischen Vermögens der Mitteilung durch die andere Sprache des Gedichts bleibt Schindel seinem Roman tatsächlich im Celanschen Sinne ‚mitgegeben‘. Und ebenso wie Celan stellt sich Schindel nach eigenen Auskünften, siehe die Nennung Amérys, Levis, Celans, Glasars, explizit in die Tradition jüdischer Denker. „Sein Zauber“, so auch der Autor Doron Rabinovici über Robert Schindel, „verdankt sich einer seltenen Fähigkeit, mit der er Neues wagt und sich dabei der Traditionen bedient.“85 Eine vergleichbar traditionssichtende Funktion wie sie der Etablierung des Gedichts im Prolog von Gebürtig zukommt, ist daher auch den Namensnennungen auf Ebene der Handlung zueigen. 2.1.3. Welche Funktion kommt den Namen in Gebürtig zu? Oder: Wo liegt Galizien?

„Falls die Lämmer sich dann benennen, führt ein jedes vor seinem Eigennamen ein HÖRT HÖRT oder ein WEDER VERWANDT NOCH VERSCHWÄGERT als Titel.“ (9) Gleich zu Beginn von Gebürtig wird dem identitätsstiftenden Vorgang des Benennens eine große Bedeutung zugemessen. Davon zeugt schon allein die Hervorhebung in Großbuchstaben. HÖRT HÖRT und WEDER VERWANDT NOCH VERSCHWÄGERT geben den jeweiligen Eigen­namen wie etwa den zunächst fast homonym klingenden Namen (Emanuel) „Katz“ und (Konrad) „Sachs“ einen gewichtigen Beiklang, der über das Individuelle, das ICH-SAGEN hinausweist und die Opfer- und Täterkinder sowie Kindeskinder unwillkürlich einem gegensätzlichen Kollektiv zuordnet, mit dem die Vergangenheit in die Gegenwart hineinruft. Dan Diners Formel von der negativen deutsch-jüdischen Symbiose findet hier, literarisiert, ihre Anwendung. Dem Vorgang des Evozierens einer deutschen/österreichischen und einer jüdischen Genealogie haftet dabei ein jeweils konträrer Sprachduktus an. Während sich mit einem Nachkommen, der einen hörbar jüdischen Namen trägt (Hirschfeld, Katz, Singer, Löwenstein) ein appellatives „Hört, hört!“ verbindet, schwingt bei einer Person mit einem belasteten deutschen Namen wie Sachs (alias Frank) oder Egger ein defensiv-relativierendes „Weder verwandt noch verschwägert“ mit. Was aber soll ein nichtjüdisches Gegenüber wie Erich Stiglitz oder Konrad Sachs, was aber sollen die Leser von Gebürtig eigentlich hören, wenn Schindel seine jüdischen Figuren „Mascha Singer“, „Danny Demant“, „Paul Hirschfeld“, „Hanna Löwenstein“, „Emanuel Katz“ oder „Herrmann Gebirtig“ nennt? HÖRT, HÖRT – in diesem Appell schwingt nicht nur die uralte Aufforderung an das jüdische Volk „Sch’ma, Israel“ („Höre, Israel!“) mit, sondern auch, in einer der Shoah 85 Doron Rabinovici, Zwischen den Gebürtigkeiten, in: Arnold 2007, S. 44 –51, hier S. 50.

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geschuldeten Ver­schiebung, der Appell, diesem Volk Gehör zu verschaffen: „Hört, hört! Dies ist ein jüdischer Name, vergesst ihn nicht, er gemahnt an die Toten.“ Das unwillkürliche Heraufbeschwören der Toten und Ermordeten, der Singers, Katzens, der Demants und Hirschfelds, die verstummt sind, deren Namen von der jüngsten Geschichte dem Vergessen anheim gestellt wurden, stellt für das nach ihnen benannte Individuum in der Gegenwart sowohl eine Verpflichtung als auch eine Belastung dar, wie dies explizit an der Figur Mascha Singers gezeigt wurde. Dass diese ‚Botschaft‘ zumindest auf Ebene der Handlung beim nichtjüdischen Gegenüber als Provokation ankommen kann, davon zeugt die bereits zitierte Szene zwischen Mascha und Erich: Er [Erich] sieht genau, wie sie ihn durch ihre Empörung verspottet; unbefangen zieht sie einen toten Verwandten nach dem andern aus ihrem Schoß, ohne auch nur ein Wort zu sagen […] Mascha sieht nichts dergleichen. Schon wieder ist sie zugleich außer sich und zugleich tief ins sich gesunken, als ob ihre Sandkiste mit Asche gefüllt sei. (11)

Wenn Schindel die Gebürtigkeit, die jüdische Herkunft seiner Figuren so ausdrücklich beim Namen nennt, hat dies neben der Schilderung seiner konfliktreichen Auswirkungen auf das deutsch-jüdische Verhältnis aber noch einen anderen Hintergrund. Im Hinblick auf seine jüngeren Leser geschieht dies auch wissentlich, dass diese Namen nicht nur Geschichten, sondern auch ein Wissen transportieren, das zunehmend verloren zu gehen droht. Wer von der Generation der in den siebziger und achtziger Jahren Geborenen weiß noch, dass es sich bei Namen wie „Hirschfeld“, „Katz“ oder „Singer“ um dezidiert jüdische Namen handelt? Und wer sich mit der Geschichte der Judenverfolgung und des Nationalsozialismus nicht auskennt, der würde auch bei Täter-Namen wie Hans Frank (Sachs, Egger) nicht hellhörig werden. Die poetische Eigenschaft des Eigennamens als einem Bedeu­tungsträger, der nicht mehr hinreichend als ein solcher von den Lesern erkannt wird, verliert seine Signalwirkung, da er wie alle soziosemantischen Codes, welche Informationen über eine spezifische Gruppe oder Bewusstseinslage von Personen liefern, zeit- und wissensgebunden ist. 86 In solch einem Fall bedürfen die Eigennamen der Erläuterung oder, literarischer, einer Geschichte.87 Das scheint der tiefere Hintergrund zu sein, weswegen Schindel seinen Erzähler Danny Demant einleitend so explizit über den Vorgang des Sich-Benennens reflektieren lässt. Daraus ergibt sich sowohl die Frage als auch die Antwort, an wen sich Schindel mit seinem Roman eigentlich wendet: An eine vorwiegend nichtjüdische Leserschaft nämlich. Auch das Glossar im Anhang, das jiddische Wörter und die 86 Dazu siehe Shaked 1986 sowie die diesbezüglichen Erläuterungen in Kap. I. 3. dieser Arbeit. 87 Zur Bedeutungs- und Diffamierungsgeschichte der jüdischen Namen siehe Dietz Bering, in: Schoeps, Schlör 1999, S. 153–166.

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Bedeutung jüdischer Sitten und Gebräuche erklärt, spricht für diese Annahme. Ein hohes Maß an Verständlichkeitswillen wird hier sichtbar, das auch dem Erzählgestus anzumer­ken ist, ohne dass deswegen die jüdischen Leser ausgeschlossen werden, die in Gestalt von Rachel Salamander und Georg Stefan Troller, denen der Roman gewidmet ist, ausdrücklich mit angesprochen werden. Die Selbstauskünfte des Autors, die einleitenden Reflektionen des Erzählers über die Kindeskinder des Doppeladlers sowie die Verse über das zweiköpfige Unschuldslamm und nun die Reflektion über den Vorgang des Sich-Benennens wei­sen aber darauf hin, dass sich Schindel mit Gebürtig ganz bewusst über den Binnendiskurs der deutsch-jüdischen Literatur hinaus im Spannungsraum der allgemeinen deutschen Literatur be­wegen will, dass er vornehmlich zu den ‚deutschen‘ Lesern spricht, was den jüdischen Namen („hört, hört“) einen anderen oder mit Schindels eigenen Worten einen „nachgedunkelten“ Resonanzboden verleiht. Genau hierin aber liegt auch der inhärente Widerspruch oder: das eigentliche Wagnis von Schindels Roman begründet. Denn trotz der von Schindel selbst betonten ‚Gleich­wertigkeit‘ von Opfer- und Täterstimmen spricht er zwar zu einem überwiegend nichtjüdischen Leserpublikum, aber auf der poetologischen Ebene hauptsächlich im Namen einer dezidiert jüdischen Perspektive der Opferkinder. Hier geraten der Anspruch einer allgemeinen Adressierbarkeit seiner Poetik und die an Celans Hermetik angelehnte Lektüre-‚Arbeit‘ miteinan­der in Konflikt. Schindel fordert seinem nichtjüdischen Leserpublikum die Anstrengung ab, spezifisch jüdische Perspektiven und Belange nachzuvollziehen. Darin liegt die durchaus produktive ‚Zumutung‘ des Romans: die Forderung nach Erinnerungsarbeit, die im Zeichen des ‚Anderen‘ steht. Auch dieser Punkt erschließt sich argumentativ am besten über Celans Meridian-Poetik. Der Um­stand nämlich, dass ein wesentliches Element der Vielstimmigkeit in Gebürtig im Aufrufen einer Vielzahl jüdischer Namen besteht, verbindet die Poetologie des Romans wiederum eng mit der Poetologie der Celanschen Lyrik als einer Sprache der Opfer und Geopferten: In der Meridian-Rede zieht Celan eine große Zahl jüdischer Autoren zu seiner Orientierung heran, unter anderem Kafka, Büchner, Schestow, Heimann, Landauer, Franzos und Benjamin. Aber nicht nur der Umstand, dass Celan diese Autoren in einer Rede nennt, die ja in erster Linie Auskunft über sein eigenes Schreiben geben soll, sondern die Art und Weise wie er ihre Namen in seine Rede einflicht, ist dabei von besonderem Interesse. Einmal mehr findet sich hier ein an­ schauliches Beispiel für das von Celan und Schindel präferierte Verfahren des Indirekten, der Rede, in der ausgesagt wird, wovon das Ausgesagte eben nicht handelt. So trifft Celan viermal im Verlauf seiner Rede eine wesentliche Aussage, indem er den Namen eines jüdischen Autors scheinbar beiläufig einführt. Eine Bemerkung über Büchners Drama zitierend unterbricht sich Celan beispielsweise: „ – wenn ich ein auf ‚Dantons Tod‘ gemünztes Wort Moritz Hei-

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manns diesen Weg gehen lassen darf –“.88 Ein weiteres Mal rahmt Celan ein Schlüsselzitat mit einer weiteren Namensnennung ein, wenn er von der „Dunkelheit“ der Dichtung spricht: Erlauben Sie mir, an dieser Stelle unvermittelt – aber hat sich hier nicht jäh etwas aufgetan? – er­lauben Sie mir, hier ein Wort von Pascal zu zitieren, ein Wort, das ich vor einiger Zeit bei Leo Schestow gelesen habe: ‚Ne nous reprochez pas le manque de clarté puisqe nous en faisons profés­sion‘ [den Mangel an Klarheit muß man uns nicht vorwerfen; wir bekennen uns ja dazu!].89

Erlauben Sie mir, sagt Celan damit eigentlich, erlauben Sie mir, christlich-westliches Denken zu ergänzen und zu brechen. Und zwar zum einen in der Person des russischen Juden Leo Schestow, der im Pariser Exil gestorben ist, und zum anderen in Gestalt des deutsch-jüdischen Autor und früheren Lektor des Fischer Verlages, Moritz Heimann, der heute ebenso wie Schestow fast in Vergessenheit geraten ist. Heimann, Schestow, Benjamin, Kafka, Franzos – das unvermittelte Aufrufen ihrer Namen evoziert einen Stimmkreis jüdischer Geisteskultur in der Diaspora, in den Celan sich sprechend einbindet. Celans Meridian markiert die Herkunft, vermisst den Standort des Dichters sowie der ursprüngli­che Meridiankreis die Ortsbestimmung von Gestirnen vornimmt. Der Meridian als der größte Längenkreis der Himmelskugel verleiht als Titel der celanschen Rede über jüdisches Schreiben und Denken, deren Trägern von den Deutschen unter Hitler, mit Celans eigenen Worten, „ein Grab in den Lüften“ beschert wurde, eine tiefe, symbolische Bedeutung. So auch an der Nahtstelle der Rede, in der, wie bereits zitiert, vom Geheimnis der Begegnung gesprochen wird: „Aufmerksamkeit“, heißt es hier unmittelbar im Anschluss der Aussagen über das Wesen des Gedichtes, „ Aufmerksamkeit – erlauben Sie mir hier, nach dem Kafka-Essay Walter Benjamins, ein Wort von Malebranche zu zitieren – ‚Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.’“90 Der Celan-Biograph John Felstiner sieht darin eine Aufforderung zu potentierter Aufmerksamkeit: „Benjamin, über Kafka schreibend, differiert allein von Kafka; Celan, der Kafka durch die Brille Walter Benjamins sieht, eines deutschen Juden im Pariser Exil, der 1940 Selbstmord beging, verlangt so viel Aufmerksamkeit, wie sie kein Publikum der Welt ‚erlauben‘ würde.“91 Eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die jüdischen Schriftsteller erlaubt sich auch der Autor von Gebürtig und verlangt diese Aufmerksamkeit, als Grundvoraussetzung einer wirklichen Begegnung zwischen Rezipient und Werk, auch vom 88 89 90 91

Celan 1960, S. 196. Ebd., S. 197. Ebd. Felstiner 1997, S. 116.

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Leser. Eine kurze Erläuterung anhand der Namen „Mascha Singer“, „Danny Demant“ und „Herrmann Gebirtig“ mag dies verdeutlichen: Die Figuren Singer und Demant etwa rufen allein schon durch ihre Namen die Erinnerung wach an eine andere Singer und einen anderen Demant: an die Figuren aus der Romanwelt Joseph Roths. Dieser sei ihm, so Schindel, „in die Seele gefahren“, denn Roth „besang die alte Welt als eine schlechte und erbärmliche, bloß um festzustellen, es kommt nichts besseres nach“.92 Damit legt Schindel subtil die Fährten zur literarischen Tradition. So hört der Leser im Namen und in der Figur Mascha Singer, der „verstimmten jüdischen Orgel“, der „die Geschichten […] buchstäblich aus dem Mund heraus [hängen]“, die „sie weder schlucken noch ausspeien [kann]“ (40), auch weiterhin die Klage von Mendel Singer mit, dem modernen Hiob aus Joseph Roths berühmtem Roman Hiob (1930). Während Mendel Singer, von Schicksalsschlägen verfolgt, nach New York flieht und seinen Sohn allein zurücklässt, wird Mascha Singer von ihrem Vater auf tragische Weise verlassen. In Schindels Roth-Fortschreibung ‚besingt‘ nun also eine weibliche Singer/Hiob-Ausgabe ihr Schicksal und reiht sich damit ein in den Stimmkreis der Klage um die Leiden des jüdischen Volkes. Mascha Singer steht damit in der Tradition der Diaspora-Figuren, die mit einer extrapolierten Sichtbarkeit bzw. Hörbarkeit aus­gestattet waren. Der Protagonist Danny Demant wiederum hat nicht nur einen bekannten Roman-Namensvetter, den jüdischen Regimentsarzt Dr. Demant aus Roths Radetzkymarsch (1932), der über seine Familie sagt: „Mein Großvater war ein Schankwirt; ein jüdischer Schankwirt aus Galizien. Galizien, kennen Sie das?“ 93 In Dannys Aussagen über seine eigene Herkunft wird zudem Roths Generationenepos über den Verfall des Habsburgerreiches und die versunkene Welt des ostjüdischen Schtetls gewissermaßen nacherzählt, in welchem der Arzt Demant wegen seiner leichtlebigen, nichtjüdischen (goischen) Frau ins Duell gezwungen wird und stirbt: „Simon Demant, mein Großvater“, erzählt Danny der Christiane, „war Gastwirt in der Leopold­stadt gewesen. Gegründet hat das Gasthaus mein Urgroßvater, ich glaube, der hat Jakob geheißen. Es hat noch bis neunzehnhundertachtunddreißig existiert. […] Der Onkel von Jakob zum Beispiel war ein jüdischer Regimentsarzt in Galizien. Er hatte eine kapriziöse, goische Frau, die ihn offen­sichtlich gelegentlich mit den Leutnants der Kaserne hinterging. Wegen irgend so einer Geschichte fiel er schließlich im Duell.“ „Merkwürdig“, sagte Christiane und schaute beim Fenster hinaus in den Nebel. „Wo liegt Galizien?“ (157)

92 Schindel, Über Hiob, in: Schindel 1995, S. 115–117, hier S. 116. 93 Zum Radetzkymarsch-Bezug in Gebürtig siehe auch: Kaukoreit 1995, S. 7f .

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Wo liegt Galizien? – Christianes Frage, die sich, stellvertretend für den Leser, durch das Ge­spräch mit Danny „jäh auftut“ (Celan), führt ins Zentrum von Schindels Romanpoetik. Galizien – ein Name, der dasteht und einsteht für einen Ort, der samt seiner jüdischen Geschichten und Menschen „in den Nebeln“ verschwunden ist, wird, wie die Namen in Celans Meridianrede, durch seine scheinbar beiläufige Erwähnung wieder aktualisiert und damit ins Gedächtnis zu­rückgerufen. Schindel bedient sich hier einmal mehr dem Verfahren des Indirekten, um im Namen des eines (Danny Demant) über den anderen (Dr. Demant) zu sprechen und damit jüdi­sche Geschichte(n) zu erzählen. Wie Celan die Schriftsteller Schestow, Kafka und Benjamin, so ist Schindel mit Roth ein anderer Wiener Autor aus der Vergangenheit „in die Seele gefahren.“ Gerade weil der Name Joseph Roth und der seiner Werke in Gebürtig kein einziges Mal direkt fällt, sondern der Leser sich durch die intertextuell geknüpften Verwandtschaftsbeziehungen der Figuren und die Signale, als welche die Namen fungieren, lesend nach­vollziehend auf die Spurensuche begeben muss, wird der in Galizien geborene und dem Ostjudentum stets verbunden gebliebene Roth umso nachhaltiger im jüdischen Stimmkreis und im Gedächtnis der Leser verortet. Dies ist jene Aufmerksamkeit für die jüdischen Eigennamen und, damit verbunden, die Begegnung mit der jüdischen Welt, die Schindel von seinen Lesern verlangt. Und so verweist schließlich auch die Figur Herrmann Gebirtig auf einen anderen Gebirtig. Den ehemals bekannten polnischjüdischen Liedermacher Mordechai Gebirtig nämlich, der, dies erfährt der interessierte Leser über das Glossar, im Jahr 1942 in Krakau bei einer ‚Aus­siedlung‘ von einem deutschen Soldaten erschossen wurde. Der Wiener Schriftsteller und Exilant Herrmann Gebirtig entpuppt sich als dessen Cousin, der in seiner Trauer, die ihn in einer seinen zahllosen schlaflosen Nächte in New York überkommt, unvermittelt in die Sprache Mordechais verfällt: Lassen wir die Toten weinen, wir können ihren Jammer nicht lindern, können wir nicht. Lachen Sie, liebe Frau, so wie ich lache, sehen Sie her, ich lache. „Wejn nischt, wejn nischt, kleiner Josem Oj wi schlecht, wen’s felt a trer Wen dos hartz i ful miz lejdn Un die ojgen senen ler.“ Ja, ja, Mordechai, sing nur, warum nicht, werd ich halt nicht weinen, hast ja recht. Schlafen werd ich versuchen zu gehen. (148)

Die Möglichkeit sozialer Dialekte und Redeweisen von Gruppen, mit Bachtin, Eigenes in der fremden Sprache und Fremdes in der eigenen zu sagen, wird in dieser Szene vorgeführt, indem die Sprache des Ostjuden Mordechai Gebirtig in die des Westjuden Herrmann Gebirtig einbricht. Und nicht zuletzt wird das anhand der Namen und Redeweisen vorgeführte Verfahren der Indirektheit und

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Vielstimmigkeit in Gebürtig auch durch Formen der Aktualisierung vergangener Gespräche erzeugt, für die in erster Linie Arthur Schnitzlers Künstlerroman Weg ins Freie die Folie bildet. Denn die sprachlichen Manifestationen des Eigenen und Fremden, die psychische Bewusstseinslage des bereits von Schnitzler sogenannten „Doppeldaseins“94 der Menschen unter dem Doppeladler gerät im Ausloten der eigenen jüdischen Identität sowohl für Schindels Figu­ren als auch für Schnitzlers Georg von Wergenthin und sein jüdisches Umfeld der Wiener Künstlerszene um 1900 immer wieder zum Gegenstand der Reflexion. Dies zeigen für Gebürtig exemplarisch die folgenden kurzen Ausschnitte, die den Gesprächen zwischen dem Lyriker Paul Hirschfeld und seinen Freunden, dem Lektor Danny Demant und dem Autor Emanuel Katz entnommen sind: [Hirschfeld:] „Ihr mit eurem jüdisch. Wenn ich nach Kärnten fahre und zurück, wirst du auch sa­gen, Gott ist das jüdisch.“ [Demant:] „Zurück auf jeden Fall“. Jetzt lachte Hirschfeld ein wenig. (275f ) „Jud ist Jud“, sagte Hanna [Löwenstein]. „So ein Unsinn“, ärgerte sich Hirschfeld. „Das ist unsere selbstgebaute Verrücktheit. In erster Linie bin ich ein Mensch, dann erst Jude oder Eskimo oder Pangermane.“ „So hättest du’s gerne“, schnaubte Katz und leerte Pauls Wodka in sich hinein. (142)

Und nun vor dieser Folie eine Miniatur aus einem Gespräch zwischen Nürnberger und Ehren­berg aus Schnitzlers Weg ins Freie, vor dessen Hintergrund die Schindelsche Figur des Paul Hirschfeld wie ein späterer Nürnberger erscheint: „Ich bin nicht getauft“, erwiderte Nürnberger ruhig. „Aber allerdings bin ich auch nicht Jude. Ich bin längst konfessionslos geworden; aus dem einfachen Grunde, weil ich mich nie als Jude gefühlt habe.“ [Ehrenberg:] „Wenn man Ihnen einmal den Zylinder einschlagt auf der Ringstraße, weil Sie, mit Verlaub, eine etwas jüdische Nase haben, werden Sie sich schon als Jude getroffen fühlen, verlassen Sie sich darauf.“95

Die hier vorgeführten Verfahren des Sich-Benennens, des Verortens über eine Genealogie der jüdischen Namen sowie Formen der aktuali­sierten Rede und Redevielfalt, die in der Sprache des Anderen über das Eigene zu sprechen erlauben, machen die Grammatik, die Jüdischkeit von Gebürtig aus. Darin aber verorten sie sich in der Tradition des Celanschen Meridians, dem poetischen Verfah­ren des Zitierens. Wobei sich in dieser Form der poetischen Suchbewegung, die das Eigene über die Stimmen der Vorfahren aufzuspüren versucht, interessanterweise eben nicht zwingend der Mangel einer ‚eigenen Stimme‘ artikuliert, wie dies sei94 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, Frankfurt am Main 1990, S. 118. 95 Ebd., S. 69.

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tens der Forschung so oft angenommen wird. Genauso gut könnte man argumentieren, dass der Begriff des ‚Eigenen‘ im Kontext des jüdischen Schreibens etwas anderes meint, als die herkömmliche Vorstellung von Originalität. Zu denken ist hier auch an Finkielkrauts Aussage über jene für die jüdische Identität unhintergehbare Verbindung von ‚Ich‘ und ‚Wir‘. Weswegen statt jenes unüberbrückbaren Bruchs zur Tradition, die identitätsstiftende Notwendigkeit einer Rückbindung immer wieder so stark betont wird, da in diesem aufgrund der Shoah so mühseligen Unterfangen ja auch die poetische Herausforderung eines Neu-Findens der Sprache liegen kann. Denn gerade jüdisches Schreiben, so Schindel, ist auch heute noch kein autonomes Geschäft, sondern Gedächtnis: Das jüdische Schreiben, das ist, als schriebe ich autonom und dem Künstlerischen verpflichtet, tat­sächlich schreibt sich ein Gedächtnis, und dieses scheint mir bloß aus der Hand zu fallen aufs Pa­pier. Die Wörter […], die mir aus der Hand fallen, jenseits des Paravents aus gestürztem Himmel, diese Wörter, das sind Namen, Namen von Ängsten und Angst.96

Mithilfe der Frage, wie Jüdischkeit in Gebürtig literarisch erzeugt wird, hat sich also auch ein erstes warum ergeben. Die zweiteilige Antwort lautet: Erstens um Gedächtnis zu stiften und zweitens zur Bewältigung der Angst. Indem Schindel dem jüdischen Stimmkreis erzählend die Variationen der eigenen Ängste beisteu­ert, die sich in Gebürtig aus den Begegnungen und Gesprächen zwischen den „Hört-hörts“ und den „Weder-verwandt-noch-verschwägerts“ speisen, gelangt er zur Benennung des Eigenen: „Jeder Dichter wird mit diesen Variationen seiner Angst vielleicht sein unverwechselbar Eigenes her­auslocken und gestalten. Er wird sein eigener Kreis sein, und die Benennung dieses Kreises ist wohl sein Werk.“97 In diesem Sinne müssen Schindels Kindeskinder des Doppeladlers Kippfiguren sein und bleiben. Und so führt auch der folgende Vers aus Schindels späterem Gedicht Stille Tage (2003), das in lyrischer Verdichtung die gegenwärtige jüdische Bewusstseinslage resümiert, noch einmal zurück, direkt ins ästhetische Zentrum von Gebürtig: Einer legt an / einer legt aus / Still die Tage, nervös /der Meridian.98 Wörter, das sind Namen, Namen von Ängsten – Schindel hat mit Gebürtig gezeigt, wie es sich mit dem Schreiben in die „allereigenste Enge“ (Celan) gehen lässt, um sich frei zu setzen. Dass auch dieser fiktionale „Weg ins Freie“ einer ins Offene reichenden Frage gleichkommt (können Deutsche und Juden miteinander glücklich werden?), wurde bereits hinreichend erörtert. Deutlich geworden aber ist, 96 Schindel 1995, S. 106. 97 Ebd., S. 114. 98 Schindel 2003, S. 63.

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dass Schindels Poetologie der herrschenden Forschungsmeinung von der Voraussetzungslosigkeit, des Schreibens in „Bildern ohne Vorbilder“ (Nolden), durchaus eklatant widerspricht. Zur Erinnerung seien noch einmal stellvertretend drei Beispiele ge­nannt. So kommt etwa Dieter Lamping, der sich mit den Celan-Anspielungen in Schindels Ge­dicht Nachthalm auseinandersetzt, für Schindels Poetik insgesamt zu dem Schluss: „Schindel knüpft nicht an die Tradition an, sondern an deren Bruch, den er zu einem Teil seiner Identität macht.“ Er betont, so Lamping weiter, den „Riss in der eigenen Kultur“.99 Und ebenso noch einmal Nolden: Der aus der eigenen Erfahrung gezeugte Ton, der etwa die Gedichte Paul Celans auszeichnet oder die Grotesken Edgar Hilsenraths legitimiert, läßt sich nicht erben oder erborgen, sondern allenfalls zitieren. Aber auch wenn das Zeugnis und die Sprache der Überlebenden […] als ein solches Zitat in den literarischen Diskurs der jungen Autoren aufgenommen werden kann, ist damit noch längst nicht die Frage beantwortet, welche Wege dem Schreiben der jungen Autoren offenstehen. Die Shoah markiert aber nicht nur eine Kluft in der unmittelbaren Generationsfolge der schreibenden Generationen, sondern unterbricht darüber hinaus auch die ästhetische Entwicklungslinie zwi­schen der Gegenwart und den Vertretern der literarischen Moderne, die vor 1933 schrieben.100

Und direkt zu Gebürtig noch ein Kommentar von Helene Schruff: Robert Schindel bekennt sich zwar in seinem Roman Gebürtig durch die Namensgebung seines Protagonisten und dessen fiktive Familiengeschichte eindeutig zu Joseph Roth als literarischem Vorbild und sein Buch wird auch mit Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie verglichen,101 jedoch nimmt er in beiden Fällen thematisch und nicht strukturell Bezug.102

Die vorausgegangenen Erörterungen haben gezeigt, dass es gerade die „strukturellen Bezüge“ sind, die für das sprachliche Universum von Gebürtig kennzeichnend bleiben. Wobei sich selbst in umgekehrten Fall immer noch die Frage stellen würde, ob es so etwas wie einen „rein thematischen“ Bezug überhaupt gibt, bzw. ob dies nicht die Frage nach sich zieht, was durch die Wahl dieses literarischen Themenbezugs eigentlich ausgesagt werden soll? Der „aus eigener Erfahrung gezeugte Ton“, nach dem Nolden fragt, entsteht für die junge Generation – wie gesagt – durch den täglichen Umgang mit einer 99 Lamping, in: ZfdPh 2002, S. 42. 100 Nolden 1995, S. 79f. 101 Rothschild, Thomas, Die gläserne Wand der Vergangenheit: Robert Schindels Debütroman über das Nicht-Verstehen: „Gebürtig“, in: Frankfurter Rundschau Nr. 75, 28.03.1992 sowie Manuel Köppen, Auschwitz im Blick der Zweiten Generation, in: Köppen 1993, S. 73. 102 Schruff 2000, S. 26.

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Leerstelle: den erfahrenen Mangel an Jüdischkeit. Die Schlussfolgerung eines zeitgenössischen Autors wie Robert Schindel besteht nun eben nicht in der repetierenden Festschreibung dieses Mangels oder dieses „Risses“ in der Kultur, sondern – als mögliche Antwort auf Noldens Frage, welche Wege für die jungen Schriftsteller denn heute zu gehen seien – in der Entwicklung literarischer Gegenstrategien. Dazu noch einmal Schindel selbst in seinem Essay mit dem sprechenden Titel Judentum als Widerstand: Denn der Humus, aus dem diese Phantasie wächst, ist eben dieses kulturhistorische Gedächtnis, das uns in der Brust sitzt, seit wir wissen, daß wir jene sind von jenen, die es nicht mehr gibt. Um dieses Gedächtnis auch ins Gehirn zu bekommen, also Formen der Identitätsstiftung zu entwi­ckeln, muß dieser Zusammenschluß mit den verschwundenen Vorfahren auf phantastische Weise ausgebildet werden.103

Die Namen, die zeigen „daß wir jene sind von jenen, die es nicht mehr gibt“ – der Zusammenschluss also mit den Vernichteten, Verstummten, Vergessenen und damit: die schöpferische Wiederaneignung der eigenen Wurzeln, ist es nicht das, was sich hinter dem Vor­gang des „allenfalls zitieren“ (Nolden) verbirgt? Ein Zusammenschluss, den vielleicht nur die Literatur zu leisten vermag. Wen nämlich ruft Schindel mit Roth, Schnitzler, Gebirtig und Wassermann (dessen Grab „aunda Maua“ Gebirtig besucht (267)) auf? Es sind diejenigen Stim­men aus dem insgesamt so spannungsreichen und vielschichtigen Raum der deutsch-jüdischen Literaturtradition vor 1933, die als Kritiker der Assimilation gelten bzw. deren Namen für eine authentisch gelebte jüdische Sozialisation stehen, wie etwa der Mordechai Gebirtigs. Eine Tradi­tion, die zu sichten und in eigener Sprache fortzuführen nach der Shoah dringlicher erscheint als je zuvor. Daraus ergibt sich das nächste und letzte Warum hinsichtlich der literarischen Kon­struktion von Jüdischkeit in Gebürtig, das Kriterium der Zugehörigkeit. 2.1.4. Wien ist ein nachblutender Witz – Zugehörigkeit

Die hier vorgestellten Verfahren der Konstruktion von Jüdischkeit (Vielstimmigkeit, Genealogie der Namen, Intertextualität) basieren, zusammengefasst, auf folgenden poetologischen Prämissen: 1.) Jüdisches Schreiben ist Gedächtnis 2.) Das „Aufnotieren“ (17) von Namen und Geschichten fungiert als Bewältigungsmittel der Angst und schließlich 3.) Jüdischkeit als Text bedeutet: die Produktion von Zugehörigkeit. 103 Robert Schindel, Judentum als Erinnerung und Widerstand. Vortrag, gehalten am 17. November 1984 in Ljubljana, in: Schindel 1995, S. 27–34, hier S. 32f.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Gebürtig ist in dieser Hinsicht nicht nur der Titel des Romans, sondern zugleich sein Schlüsselbegriff. Um nachvollziehen zu können, was sich unter der literarischen Produktion von Zugehörigkeit konkret verstehen lässt, ist eine Aussage Schindels zum Begriff der Heimat aus dem Jahr 1984 von Belang: [Es] geht um den Unterschied, der darin besteht, ob ich eine Heimat vorfinde, in sie hineingeboren werde, oder ob ich eine Heimat nach und nach produzieren muß, in die vorgefundene Umwelt hinein, denn diese Umwelt hat uns Juden stets gelehrt, daß sie unsere Heimat nicht sein mag. Man kann daher verstehen, daß Heimat den Juden zum politischen Begriff wurde. Sie ist es noch, obs uns nun paßt oder nicht. […] Hier gibt es noch viel zu sagen.104

Zur Produktion von Heimat inmitten von Heimatlosigkeit gibt es laut Schindel also „noch viel“ zu sagen. Einige Jahre später formuliert er mit Gebürtig selbst eine erste literarische Antwort, in­dem er seine Figuren trotz ihrer konfliktreichen Identitäten mit Zugehörigkeiten ausstattet, die sich in erster Linie auf ihr Wiener Gebürtig-Sein gründen. So lässt Schindel seinen Protagonisten Danny Demant zum Beispiel gleich zu Beginn der Handlung in „sein“ Beisl (7) gehen, „sein Lokal“ (8) betreten, in welchem er bereits von einer Gruppe von Leuten wie üblich erwartet wird, und auch im Fortlauf der Ereignisse wird offensichtlich, wie sehr Demant, Paul Hirschfeld, Emanuel Katz und Mascha Singer in den Kaffeehäusern und Szenelokalen Wiens, in der Leo­poldstadt mit ihren Gassen und Straßen beheimatet sind. Sogar die nichtjüdische Christiane hat von einer Bekannten von Dannys „Open House in der Halmgasse“ gehört (19) und taucht am Weihnachtsabend unvermittelt dort auf: „Die Inge Haller hat gesagt, bei dir ist heute ein Fest, zu dem jeder kommen darf“. (25) So mischen sich im „Wiener Sumpf“ (30) bei Danny die „Gesichter von Freunden und Konkurrenten“, „Unbekanntes und Allzuvertrautes“ (28). Und auch, wenn sich Danny bei einem Spaziergang gegenüber Christiane „in die Kindheit hin­unter redet“, wird seine Zugehörigkeit zu seinem Wiener Bezirk überdeutlich: „Das ist die Jesuitenwiese“, begann Demant. „Hier bin ich aufgewachsen. Erst haben wir in der Friedensgasse – da hinten – mit Steinen Fußball gespielt, dort bin ich in die Schule gegangen, hier waren die großen Fußballschlachten, erst mit Tennisbällen, hernach mit Gummi, schließlich mit Plastikbällen. (32f.)

Es verhält sich für Gebürtig daher gerade nicht so, wie es etwa Eva Reichmann für Schindels Werk behauptet: „Jüdische Existenz nach 1945 in Österreich bedeutet 104 Ebd., S. 33f.

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für Schindel, keine Heimat und keine Identität zu haben.“105 Ganz im Gegenteil, mit Gebürtig schreibt Schindel bewusst gegen das tra­dierte Klischee vom ewig heimatlosen Juden an, während er zugleich der spezifisch historischen Situation der Juden in den ehemaligen Täterländern gedenkt. Wie aber wird die, laut Schindel, für Juden politische Bedeutung von Heimat in Gebürtig realisiert und Schindels Schreiben damit zum politischen Schreiben? Ins selbe Jahr wie das Erscheinen von Gebürtig fällt auch Schindels Rede über Jean Amérys Tortur-Aufsatz. Amérys zentrale Aussage, „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“, wird wie von Améry selbst so auch von seinem Leser Schindel als ein explizit „jüdischer Satz“ über „die psychische und physische Vernichtung der Juden in den Täterländern, also Deutschland und Österreich“ verstanden.106 „Das Zerbersten des Weltvertrauens“, so Schindel, „geschieht, wenn die Selbstverständlichkeit ausbleibt, zum Beispiel das Recht auf Leben, das Améry Würde nennt.“107 Die daraus resultieren­den Überlegungen Amérys zur Frage „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, mündet in den zwei zentralen Aussagen: „Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“ und: „Umso mehr Heimat braucht der Mensch, umso weniger er davon mit sich tragen kann.“108 Damit wendet sich Améry gegen eine Universalisierung jüdischen Leidens als condition humaine des modernen Menschen, wie sie auf literarischer Ebene in Werken wie Alfred Anderschs Efraim, und gegen eine globale menschliche Unbehaustheit, wie sie auf Ebene der aktuellen philosophischen Strömungen in den poststrukturalistischen Ansätzen zum Beispiel Michel Foucaults zu finden sind, mit denen sich Améry auch andernorts kritisch auseinandersetzt. „Genealogie“, so behauptet Foucault etwa in seinem Aufsatz zu Nietzsches Genealogie der Moral, „lehnt eine nostalgische Wiederkehr zum eigenen Ursprung ab, es gibt kein Nachhause-Gehen, sondern die genealogische Arbeit führt zu den Verzweigungen des Unbehausteins.“109 Aus Amérys Diktum aber folgt, dass der Grad der Bedürftigkeit nach Heimat für den Betroffe­nen aussagekräftiger ist als das Fak105 Eva Reichmann, Identität als Problem. Leben als Jude in Österreich im Werk von Doron Rabinovici, Robert Menasse und Robert Schindel, in: Dies., Informationen zur Deutschdidaktik, 2/2001, S. 40–47, hier S. 46. 106 Schindel, Wer der Folter erlag, der kann nicht mehr heimisch werden in der Welt, in: Schindel 1995, S. 121- 136, hier S. 135. Sowie Jean Améry, Die Tortur, in: Améry 1977, S. 46–73, hier S. 73. 107 Ebd., S. 55f. 108 Jean Améry, Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Améry 1977, S. 74–101, hier S. 78f. und S. 81. 109 Michel Foucault, Nietzsche, Genealogy, History, in: Language, Counter-Memory, Practice: Selected Essay and Interviews, hrsg. von Donald F. Bouchard, Ithaca, New York 1977. Foucaults Lesart Nietzsches einer Genealogie der Unbehaustheit findet ihre Anwendung auf die Werke der deutsch-jüdischen Literatur u. a. bei Karen Remmler, Orte des Eingedenkens in den Werken Barbara Honigmanns, in: ZfdPh 2002, S. 43–58, hier S. 50–53.

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tum der Heimatlosigkeit selbst. Denn viele Entwurzelte und Vertriebene, zum Beispiel politische Flüchtlinge, können Améry zufolge zumindest ihre Erinne­ rungen mitnehmen, während in Amérys Fall auch die erlebte Vergangenheit als Kind unterm Weihnachtsbaum und in Tiroler Tracht im Nachhinein als ein fiktives Trugbild erscheinen muss, dem er, in dem Glauben, dies sei sein Leben und sein berechtigter Platz als Kind unter Öster­reichs Kindern, aufgesessen war.110 Das Wiedererlangen von Würde im Sinne Amérys könnte auf literarischer Ebene für das heutige jüdische Schreiben darin bestehen, der Aberkennung der Heimat in der Geschichte die eigene Produktion von Heimat in Geschichten revoltierend entgegenzusetzen, und diese ausdrücklich als Heimat in der Heimatlosigkeit zu kennzeichnen. In diesem Sinne lassen sich die zitierten Zuge­ hörigkeiten in Gebürtig als das begreifen, was Schindel unter dem spezifischen Heimatbegriff der Diaspora-Juden versteht: eine politische Aussage. Dazu auch Matthias Beinlein: Als die Affirmation eines Andersseins ist Schindels Bekenntnis zum Judentum ein politischer Akt, der Versuch „selbständig zu bleiben als eine in sich variantenreiche Gestalt in der Vielgestalt“ und zugleich Ausdruck eines politischen Engagements, das das Engagement als Anderer für die Anerkennung anderer einschließt.111

Im Kriterium der Zugehörigkeit laufen also alle Stränge der Vielstimmigkeit in einer Quintessenz zusammen. „Mit sich tragen“ kann man ein Bündel aus Namen und Geschichten, die eine Zuge­hörigkeit zu einer Gedächtnis- und Erfahrungsgemeinschaft signalisieren. Diese Form des erin­nernden und zitierenden Zusammenschlusses ermöglicht es dem schreibenden Subjekt auf intertex­tueller Ebene sich seiner selbst zu vergewissern. Ein Verfahren, das der Thematisierung und da­ mit der Bewältigung von Angst dient. So verortet Schindel seinen Protagonisten Danny Demant etwa in der geistigen „Nachbarschaft“ Celans, indem er Danny in der „Halmgasse“ wohnen lässt. Diese Adresse birgt eine Anspielung auf Celans Gedicht Aus Herzen und Hirnen („Aus Herzen und Hirnen“ / sprießen die Halme der Nacht“).112 Schindel hat nicht nur sein eigenes Gedicht Nachthalm Paul Celan gewid­met,113 er nimmt auch in seinen Auskünften zur Poesie direkt dazu Stellung: „Denn auch ich ward aufgezogen von diesen Halmen der Nacht, und so wollte ich tief in die Sprache hinein.“114 Und ebenso wie für Celan Gedichte 110 Améry 1977, S. 77. 111 Matthias Beinlein, 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs, Berlin 2008, S. 256. Beinlein zitiert hier eine Aussage aus Schindels Essay „Judentum als Erinnerung und Widerstand“, a.o.a.O, S. 33. 112 Paul Celan, Aus Herzen und Hirnen, in: Ders., Gedichte in zwei Bänden, Bd.1, Mohn und Gedächtnis, Frankfurt am Main, 12. Aufl. 1995, S. 70. Hervorhebung A. H. 113 Dazu Lamping, in: ZfdPh 2002, S. 29–42 sowie Klüger, in: Arnold 2007, S. 12. 114 Schindel 2004, S. 135.

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„Wege“ sind zu einem „wahrnehmbaren Du“ – die französische Homonymie von Weg (voie) und Stimme (voix) mag Celan hier inspiriert haben115 – sind auch Schindels Verse in Gebürtig auf der Suche nach einem Gegenüber und damit: nach einer Art Heimkehr. Auf der Handlungsebene von Gebürtig wird Amérys Formel „Umso mehr Heimat braucht der Mensch, je weniger er davon mit sich tragen kann“, insbesondere dann für die jüdischen Figuren virulent, wenn sie Wien verlassen. So etwa, als sich Danny „an den Quellen der Christiane“ mit deren Herkunft auseinandersetzt: „Die Sippe kommt ja teils auch Sankt Ägyd und teils aus Wilhelmsburg […] die sind eben alle immer da. Leute wie Bäume. Sie biegen sich hin und her, und schon ist ein Jahrhundert um.“ (118) Das Bild der verwurzelten Bäume für eine gesicherte Identität und Herkunft fand sich bereits in der Lyrik Esther Dischereits. Wenn auch Deutsche und Juden, um im Bild zu bleiben, gemeinsam „den Wald“ bilden, so sind doch die „Wurzeln“ der jüdischen Deutschen und Österreicher „angehackt“. Ihr Zugehörigkeitsgefühl wurde einer tiefen Verwundung ausge­setzt, es ist so fragil, dass sich dessen jederzeit versichert werden muss, so auch in jener Szene zwi­schen Christiane und Danny während ihres Ferienaufenthalts in Lilienthal an der Traisen. Als Danny von einem Spaziergang durch die niederösterreichische Landschaft zurückkommt, findet er einen Zettel von Christiane vor: „Sind in Sankt Ägyd. Kommen am Abend. Wir hoffen, du bist noch da. Christiane, Alice, Sabrina.“ Aha, dachte sich Demant. Er ging zurück zum Bahnhof […] und nahm den Zug um vier. Abends war er in Wien, ging zum Zeppelin, traf Paul Hirschfeld, Hanna Löwenstein, und sogar Wilma [seine nichtjüdische Exfreundin] schaute herein, verschwand aber gleich wieder. Demant zuckte unangenehm zusammen, als er Emanuel Katz vor dem Tisch stehen sah. „Hallo, schon zurück.“ „Und wie!“ Katz zog den Mantel aus […] [Er] erzählte, wie froh er sei, wieder aus Nordanien zu­rück zu sein. (141f.)

Während sich die Kinder und Enkel des Doppeladlers ihrer Zugehörigkeit zwar immer wieder vergewissern müssen, diese aber zumindest wieder in den Bereich des Möglichen gerückt ist, ist sie für die Generation der Zeitzeugen der Shoah unwiederbringlich dahin. Diese Kluft zwischen ‚heute‘ und ‚damals‘ zeigt sich insbesondere an der Person Herrmann Gebirtigs, dessen Versuch einer Rückkehr aus dem Exil scheitert. Dieses Scheitern ist schon in seinem Namen symbolisch angelegt, in der Metonymie von ‚Gebirtig‘ und ‚Gebürtig‘. So gelingt es der Stadtrat115 Celan 1960, S. 197. Siehe auch Felstiner 1997, S. 166f.

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Delegation, die den zurückgekehrten Herrmann Gebirtig in Wien begrüßt, nicht, Herrmanns Namen korrekt auszusprechen, geschweige denn, ihn in der gemeinsamen Sprache anzusprechen („Willkommen in Vienna, Mister Gebörtig“ (271)). Die Brüchigkeit der jüdischen Figurenidentität scheint also weniger einer, wie Bernd Stiegler es ausdrückt, Ironie geschuldet: „Schindels Roman spielt virtuos mit Rollen und Identitäten, Zu­schreibungen und Bildern, die in der Darstellung immer schon ironisch gebrochen ist.“116 Der Auslöser für die Virtuosität des Rollenspiels ist bei Schindel vielmehr der an Heine gemahnende „Judenschmerz“117 – ein Weh ohne Wehwehchen, das statt in die Kontrollin­stanz der Ironie in die unmittelbarere Form des Witzes kippt. „Mein Wien ist ein nachblutender Witz“, heißt es dementsprechend in Schindels Essay Mein Wien.118 Und weiter heißt es: Ich möchte so gern von meinem Wien erzählen, wie es sich in mir aufbaut, wenn ich nicht da bin. Von den kranken Kastanienbäumen, vom Flieder, von der Meierei im Prater, von den Kaffeehäu­sern, um die herum diese Stadt gebaut ist, von meiner Leopoldstadt, von den Solidaritäten und Verhaberungen […]. Aber die Wiener sind doch die bösartigsten Leute der Welt, und die Stadt selbst ist eine einzige Genievernichtungsmaschine, sagt Thomas Bernhard, der jüngste Heilige de­rer, die ihn vernichten wollten. Deshalb ist Wien noch unter Narkose gefährlicher als das histori­sche Chicago. Unblutig, mit einem leichten Kater schubst man sich selber in die Grube, nicht ohne vorher noch ein Aspirin geschluckt zu haben. Man lacht und wird leer. Man trinkt und stirbt. Man singt, und die Leute bleiben stehen. Man erzählt Witze, und die Vergangenheit kommt zurück.119

Schindels Wien – ein nachblutender Witz. Man lacht, und die Vergangenheit kehrt zurück.120 Am Eindrücklichsten findet sich die literarische Realisation eines solchen Umschlagmoments von Lachen in Verzweiflung und umgekehrt im Epilog von Gebürtig, der bezeichnenderweise mit „Verzweifelte“ überschrieben ist und aus den Tagebuchaufzeichnungen Danny Demants besteht, der zusammen mit vierzig anderen Juden als Statist die Verschleppung der Juden nach Theresien­ stadt nachstellt. Hier erlebt Danny am eigenen Leib, wie die Vergangenheit der 116 Bernd Stiegler, Die Erinnerung der Nachgeborenen. Bernhard Schlinks „Der Vorleser“, Marcel Beyers „Flughunde“ und Robert Schindels „Gebürtig“ im Kontext der Gedächtnistheorien, in: Grauzone. Zeitschrift über neue Literatur, Ausgabe 7, Mai 1996, S. 11–15, hier S. 14. 117 Zu Heines „Judenschmerz“ siehe u. a. Marcel Reich-Ranicki, Über Ruhestörer: Juden in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989. 118 Schindel, Mein Wien, in: Schindel 2004, S. 23. 119 Ebd., S. 32. 120 Zu Schindels Wien-Verhältnis siehe auch das sehr persönlich verfasste Porträt von Georg Stefan Troller: Robert Schindel aus Wien, in: Arnold 2007, S. 3–9.

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Gegenwart im wahrsten Sinne des Wortes ‚spielend‘ in den Schritt fährt und, damit verbunden, wie die ‚andere‘ Sprache in die ‚eigene‘ einbricht: Wie soll ich’s notieren, ich kann nicht notieren. Als einundvierzigster über die vierzig notieren, das ist ein Schreiben aus der Hüfte, aus der Gurgel, ach was. […] a Glück, das wir haben, wir sinen bloß Komparsen in einem Film, in einem Spiel, Millionen werden können sehn vorm Fernseh­schirm, daß mer leben, a Glück. Wir spielen und wahrlich, das müssen Verzweifelte nur. (342f.)

Robert Schindels Gebürtig – ein jüdischer Text. Und so hört der Leser in den letzen finalen Sätzen, in denen lyrische und prosaische Sprache in eins fließen, den „nachblutenden Witz“ jener Verzweifelten und auf dem Boden dieses Lachens jede Menge ungelebtes Leben: Und so kommt es, daß der des Betens nahezu unkundige Doktor Klang im Schlauch von Daniel Kohns Theresienstadt an der Drau, als die Kamera vorbeifuhr an ihm, und der Ton sein rhythmisches Gebetsge­murmel, ohne daß man die Worte verstehen sollte, einfing, ein inneres Wesen des jüdischen Gebets preis­gab, denn er betete murmelnd in Wörtern voll Klarheit und Wahrheit: „Sch’ma Jisruel, kalt is ma in die Fiß, Sch’ma, die Fiß so kalt, oj is ma in die Fiß Israel. Sch’ma Jisruel, in die Fiß is ma soi koit in die Fiß adonai.“ Da denk ich mir, wann endlich warm werden die Füße, und Kopf bleibt wunderbar kühl, kann passieren, daß kommt nicht der Messias, sondern ein schönes Gefühl. (353)

2. 2. Figuren der Unzugehörigkeit – W. G. Sebalds „Die Ausgewanderten“ „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ – dieser bekannte Satz aus der Winterreise liest sich wie ein Motto auf W. G. Sebalds Die Ausgewanderten; eine Kom­position von vier langen Erzählungen, die, so lässt es sich dem Buchrückentext entnehmen, „von unbeheimateten, unzugehörigen, vertriebenen Menschen“ handelt, „vier Geschichten, die nicht auszulesen sind, weil sie ihre Untröstlichkeit und ihr Geheimnis bewahren.“121 So treffend dieser RezensentenKommentar einem Kenner der Erzählungen zunächst erscheint, so ungenau ist er zugleich. Denn bei den so allgemein charakterisierten „unbeheimateten Men­ schen“ und ihren Lebensgeschichten handelt es sich um explizit jüdische Exil121 W. G. Sebald, Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, 6. Aufl., Frankfurt am Main 2001, Covertext. Sämtliche der hier zitierten Passagen sind dieser Werkausgabe entnommen. Die Seitenangaben erfolgen in runden Klammern hinter dem Zitat.

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schicksale. Damit stellt sich die Frage: Hat es der potentielle Leser und Käufer bei einer solchen Ankündigung mit jener altbe­kannten Tendenz zur Universalisierung jüdischen Leidens zu tun, oder aber ist eine solche ‚Aus­sparung‘ Sebalds Poetik des Erzählens selbst geschuldet? Schlägt der Leser schließlich das Buch auf, so scheint eine solche Frage durch den Klappentext des S. Fischer Verlags sogleich wieder relativiert zu werden, denn hier wird nun behauptet, Sebald schildere in seinen Geschichten „mit großem Feingefühl […] die Lebens- und Leidensgeschichten von vier aus der europäischen Heimat vertriebenen Juden“.122 Dies aber sei, so Ruth Klüger, eine „kühne Behauptung“, denn lediglich über das Schicksal zweier Juden werde hier berichtet, deren Geschichten wiederum eingebettet seien in die zweier heimatloser Nichtjuden.123 Derartige Unstimmigkeiten in Bezug auf die Frage, von wem denn die Geschichten nun eigentlich genau handeln, verweisen auf einen spannenden Irritationsmoment in Sebalds Schreiben. Das Verhältnis des Ich-Erzählers zu seinen jüdischen Figuren, genauer: zwei Juden (Dr. Henry Selwyn und Max Aurach in der ersten bzw. letzten Geschichte), dem Sohn eines Halbjuden (Paul Berey­ter in der zweiten Geschichte) und einem Nichtjuden, dessen Leben sich unauflösbar mit dem Schicksal einer jüdischen Exilantenfamilie verbindet (Ambros Adelwarth, dem Butler der Familie Solomon und Lebensgefährte von Cosmo Solomon in der dritten Geschichte), wirft nämlich eine für diesen Kontext zentrale Frage auf: Ist jüdisches Exilschicksal, von dem die Er­zählungen primär handeln, bei Sebald wirklich als „paradigmatisch für den modernen Men­schen“ anzusehen, wie dies unter anderem etwa Ruth Klüger behauptet?124 Ist der Kommentar des S. Fischer Verlags tatsächlich so „kühn“? Mit anderen Worten: Wird die Heimatlosigkeit jüdischer und nichtjüdischer Ausgewanderter von Sebald als ein und dasselbe vorgeführt? Dieser keinesfalls rhetorischen Frage, die zugleich ins poetische Zentrum der Geschichten führt, soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei zeigt es sich, dass Sebald in Die Ausgewanderten eine (dem Titel entsprechend) konträre Schreibbewegung zu Schindels Gebürtig verfolgt, das im selben Jahr wie Sebalds Er­zählungen erschien. Während Schindels Roman um das Erzeugen von Heimat in der Heimatlosigkeit kreiste, ist es Sebalds Erzählen gerade um das Umgekehrte zu tun: die literarische Produktion von Heimatlosigkeit in der Heimat.

122 Ebd., S. 2. 123 Ruth Klüger, Wanderer zwischen falschen Leben, in: W. G. Sebald, Text + Kritik, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, Nr. 158 Heft IV/2003, S. 95–102; hier S. 97. 124 Ebd.

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2.2.1. Heimatlosigkeit und Habe „Zerstört das Letzte / die Erinnerung nicht“ – Dr. Henry Selwyn (5) „Manche Nebelflecken / löst kein Auge auf“ – Paul Bereyter (39) „My field of corn is / but a crop of tears“ – Ambros Adelwarth (95) „Im Abenddämmer kommen sie / und suchen nach dem Leben“ – Max Aurach (217)

Wie Nachrufe klingen die kurzen Verse, welche die jeweilige Erzählung um Dr. Henry Selwyn, Paul Bereyter, Ambros Adelwarth und Max Aurach einleiten. Diesen Namen, die zugleich als Titelgeber der Erzählungen fungieren, kommt damit eine exponierte Bedeutung zu. Ebenso wie in Schindels Gebürtig sind es auch hier Eigennamen, die die Geschichten benennend heraufbe­schwören. Geschichten, die, so noch einmal die These, nicht etwa von einer allgemeinen Unzu­ gehörigkeit zeugen, sondern von einer spezifisch jüdischen Erfahrung der Heimatlosigkeit. Exemplarisch soll dies anhand der Figuren Dr. Henry Selwyn und Paul Bereyter gezeigt werden. Dr. Henry Selwyn, der Protagonist und Dialogpartner des Ich-Erzählers in der ersten Geschichte, erscheint auf den ersten Blick durchaus als heimat- und erdverbunden. Vorge­stellt wird Selwyn auf seinem Anwesen in Hingham bei Norwich, das geradezu symbio­tisch mit der Landschaft verwoben ist: „Jenseits des Rasens, nach Westen, öffnete sich die Land­schaft. […] Dahinter die sanften Wellen der Äcker und das weiße Wolkengebirge am Horizont.“ (9f.) Ebenso wie sein ‚An-Wesen‘ verschmilzt auch Selwyn selbst mit seiner Umgebung. So bemerkt ihn der Erzähler zuerst gar nicht, bis er ihn schließlich „im Halbschatten einer hohen Zeder“ auf dem Rasen liegend, „ganz versunken in den Anblick des Fleckchens Erde“ entdeckt. (10) Erst nach und nach erfährt der Ich-Erzähler und mit ihm der Leser, wie sehr dieser erste Anschein trügt, genauer gesagt, welche Abgründigkeit, was für eine Form der Selbstauflösung sich hinter dem zunächst harmonisch anmutenden Aufgehen Henry Selwyns in der Natur eigentlich verbirgt. Selwyn charakterisiert sich selbst als Person, die sich ihre Grenzen eng gesteckt hat. So sei er „nur ein Be­wohner des Gartens, a kind of ornamental hermit“. (11) Sein Haus mit dem „altdeutschen Interieur“ betrete er kaum noch. (15) Darüber hinaus befindet sich das gesamte Anwesen zunehmend im Zustand des Verfalls, der gemäß der hier vorgeführten engen Wechselbeziehung von Mensch und Natur auch vor letzterer nicht halt macht: „[A]uch die unbeaufsichtigte Natur, er spüre es mehr und mehr, stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns.“ (13) Die Ungeheuerlichkeit der Gewalt, an der Mensch wie Natur zu Selwyns Lebenszeit zu zerbre­chen drohen, bleibt in der Erzählung namen- und gesichtslos, und erscheint damit nur umso wir­kungsmächtiger. Dass dieses der menschlichen wie botanischen Natur aufgeladene Gewicht den­noch historisch verankerbar ist,

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wird nur in Form von Andeutungen offenkundig, deren Tatbe­stände Selwyn die Sprache verschlagen: „Die Jahre des zweiten Kriegs und die nachfol­genden Jahrzehnte waren für mich eine blinde und böse Zeit, über die ich, selbst wenn ich wollte, nichts zu erzählen vermöchte.“ (35) Was Henry Selwyn hingegen wirklich zu erzählen drängt, deutet sich gegen Ende der Geschichte in Form einer Frage an, denn Selwyn will von dem beruflich von Deutschland nach England gezogenen Ich-Erzähler wissen, ob dieser denn nie Heimweh verspüre. Diese so unvermittelt geäußerte Frage lässt die beiden in eine längere Unterhaltung „geraten“: … die davon ausging, daß Dr. Selwyn mich fragte, ob ich nie Heimweh verspüre. Ich wußte darauf nichts Rechtes zu erwidern, Dr. Selwyn hingegen machte nach einer Bedenkpause mir das Geständnis – ein anderes Wort träfe den Sachverhalt nicht –, daß ihn das Heimweh im Verlauf der letzten Jahre mehr und mehr ange­kommen sei. Auf meine Frage, wohin es ihn denn zurückziehe, erzählte er mir, er sei im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie aus einem litauischen Dorf in der Nähe von Grodno ausgewandert. Im Spät­ herbst des Jahres 1899 sei es gewesen, als sie, die beiden Eltern, seine Schwestern Gita und Raja und sein Onkel Shani Feldhendler auf dem Wägelchen des Kutschers Aaron Wald nach Grodno gefahren seien. Jahrzehntelang seien die Bilder von diesem Auszug aus seinem Gedächtnis verschwunden gewesen, aber in letzter Zeit, sagte er, melden sie sich wieder und kommen zurück. Ich sehe, sagte er, wie mir der Kinderleh­rer im Cheder, den ich zwei Jahre schon besucht hatte, die Hand auf den Scheitel legt. Ich sehe die ausge­ räumten Zimmer. Ich sehe mich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen, sehe die Kruppe des Pferdes, das weite, braune Land, die Gänse im Morast der Bauernhöfe mit ihren gereckten Hälsen und den Wartesaal des Bahnhofs von Grodno mit seinem frei im Raum stehenden, von einem Gitter umgebenden überheizten Ofen und den um ihn hergelagerten Auswandererfamilien. (30f., Hervorhebung, A. H.)

Anhand dieser eindringlichen Erzähl- und Erinnerungssequenz zeigt sich bereits, dass jüdisches Exilschicksal in den Ausgewanderten eben nicht als Paradigma für den modernen, insbesondere für den melancholischen Menschen schlechthin zu lesen ist, wie dies von der Forschung häufig explizit wie implizit behauptet wird,125 sondern dass hier im Gegenteil eine spezifisch jüdische Erfahrung von Heimatlosigkeit beschrie­ben wird. Der elementare Unterschied zwischen der Unzugehörigkeit Henry Selwyns und der des Ich-Erzählers wird nämlich bereits anhand der Frage deutlich, welche den Ausgangspunkt des Gesprächs bildet. Der Ent125 Siehe exemplarisch die gesammelten Aufsätze zu Sebald in Arnold 2003, darin besonders Sigrid Löffler, „Melancholie ist eine Form des Widerstands“. Über das Saturnische bei W. G. Sebald und seine Aufhebung in der Schrift, S. 103–111 sowie Sigrid Korffs sensible Studie: Die Treue zum Detail – W. G. Sebalds Die Ausgewanderten, in: Braese 1998, S. 167–198.

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wurzelte (Selwyn) befragt in Punkto Heimweh den Wahlexilanten (Ich-Erzähler), der „darauf nichts Rechtes zu erwidern wusste.“ In Selwyns Frage und in seinem daraus resultierenden „Geständnis“ spricht auch noch ein ande­rer mit: Jean Améry. Denn in dieser Schlüsselszene werden dem Leser die zentralen Einsichten aus Wieviel Heimat braucht der Mensch? in Form einer Geschichte, Selwyns Geschichte mitgegeben: „Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben“, und „Umso mehr Heimat braucht der Mensch, umso weniger er davon mit sich tragen kann.“126 Während der Ich-Erzähler in seine Heimat, das deutsche Alpenland, das er aus beruflichen Gründen freiwillig verlassen hat, jederzeit zurückkehren könnte, wenn er es denn wollte, der eine Heimat im Sinne Amérys also nicht „nötig“ hat und seinem modernen Gefühl des Wanderdaseins zwischen den Welten nachgehen kann, gibt es für Henry Selwyn nicht nur kein Zurück in eine Heimat, die er bereits im Alter von sieben Jahren verlassen musste und aus der in den folgenden Jahrzehnten der Pogrome und Vertreibungen auch die letzten alteingesessenen jüdischen Familien verschwanden. Auch sein ‚Heimat-Bündel‘, das er mit sich zu tragen vermag, ist ungleich schmaler, beschädigter. Die Intensität und Gegenwärtigkeit der evozierten Erinne­rung bleibt gezeichnet von dem Gewicht, das auf ihr lastet. So fällt etwa das Wort ‚Jude‘ kein einziges Mal. Indirekte Hinweise wie auf den „Kinderlehrer im Cheder“, auf „Grodno“ als einem litauischen Ort, der bekannt geworden ist für seine Pogrome gegenüber der jüdi­schen Bevölkerung, sowie die ausgewiesen jüdischen Eigennamen „Aaron Wald“ und „Shani Feldhendler“, fungieren für den wissenden Leser als die entsprechenden Signale. Der Name sei­nes Dorfes, das „in der Nähe von Grodno“ liegt, ist Selwyn jedoch für immer abhanden gekom­men. Unter dem Gewicht der Ereignisse wurde er ebenso getilgt wie der eigene Name, den er als Junge in England von „Hersch Seweryn“ auf „Henry Selwyn“ ändern ließ, was mit einer sichtbaren Verminderung seiner „Lernfähigkeit“ einherging. (33) Noch nach seiner Heirat mit Heidi, einer geschäftstüchtigen Schweizerin, verschweigt er lange seine Herkunft, und es ist eben diese Herkunft, hinter der er die Ursache für die späteren Ehekonflikte vermutet. Im Gegensatz zu seiner Frau hat Selwyn „es [auch] nie fertiggebracht etwas zu verkaufen, except perhaps, at one point, my soul“. (34) Auffällig ist dabei der unmittelbare Wechsel von der deutschen in die englische Sprache. Selwyns sukzessive und nur rar gegebenen Selbstauskünfte werden, wie ein­gangs in der Aussage über sein Einsiedlerdasein, von Sebald stets mit einem Wechsel der Spra­ chen verbunden, wodurch nicht nur die Intensität der Aussage den Identitätsverlust Selwyns betont, sondern auch die Unzulänglichkeit der Sprache gegenüber den Geschehnissen offenkundig wird. Denn das Englische ist hier ja nicht etwa, 126 Jean Améry, Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Améry 1977, S. 74–101. Hier S. 78f. und S. 81.

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wie der Leser anfangs noch glaubt, Ausdruck von Authentizität, sondern eine von Selwyn angeeignete Zweitsprache. Das späte Heraufbeschwören seiner verdrängten Herkunft kommt, was die Qualität der Mitteilung angeht, also tatsächlich einem Geständnis gleich. Ein Geständnis, das Selwyn im wahrsten Sinne des Wortes ‚einen Standpunkt einnehmen‘ lässt, sodass er, der zuvor geradezu unsichtbar mit seinem englischen Anwesen verwoben schien, in seinen Persönlichkeitskonturen erstmals deut­lich hervortritt. So hat er, Selwyn, mit dem vorgenommenen Namenswechsel und dem Ver­schweigen seiner Herkunft seine Seele verkauft. Eine Handlungsweise, die nicht nur auf das zu Grunde liegende Trauma der gewaltsamen Entwurzelung verweist, sondern ihn auch von ande­ren Auswandererviten unterscheidet. Denn üblicherweise ändern Exilanten, wie zum Beispiel politisch Verfolgte oder wirtschaftliche Flüchtlinge, weder ihre Namen, noch verschweigen sie ihre Herkunft. Ebenso wie Robert Schindel hat sich auch Sebald intensiv mit Jean Améry auseinanderge­setzt.127 Und gerade Améry hat in seinen Bewältigungsversuchen eines Überwältigten die eigene Heimatlosig­keit ja wie gezeigt als eine explizit jüdische bestimmt. Während jedoch Schindel Améry einen politi­schen Heimatbegriff abgewinnt und sein literarisches Verfahren dementsprechend in der Kon­struktion von Heimat, von Gebürtigkeiten liegt, wird die jüdische Erfahrung der Heimatlosigkeit bei Sebald in ihren psychologischen Dimensionen und Abgründigkeiten vorgeführt. Die daraus resultierende Gegenstrategie besteht dabei im Erzeugen von Habe: „Umso mehr Heimat braucht der Mensch, umso weniger er davon mit sich tragen kann“ – je weniger Zugehörigkeit der Mensch also ‚besitzt‘, umso mehr versucht er der Welt stellvertretend durch die Dinge habhaft zu werden. Die Figuren weisen, siehe Henry Selwyn, zumeist eine aus­geprägte Liebe zur Botanik auf. Auch Paul Bereyter, der Protagonist der zweiten Geschichte wohnt auf dem Grund einer Handelsgärtnerei und hilft dort an den Nachmittagen oft aus. In den letzten Lebensjahren im Zuge seiner Vereinsamung hat er immer mehr „in das um ihn herum sich vermehrende Grün hineingeschaut“. (85) Eine Leidenschaft, die komprimiert in der Kunstfi­gur des nabokovschen Schmetterlingsfängers erscheint, der mal direkt, mal indirekt durch die je­weiligen Geschichten geistert, Symbol für den Versuch des Erzählens, das Flüchtige einzufangen. Ambros Adelwarth sieht ihn in den Anlagen der Heilanstalt umherwandern, Paul Bereyter liest ein Buch von ihm und der jüdische Maler und Exilant Max Aurach begegnet ihm beim Abstieg einer Bergwanderung ebenso wie Henry Selwyn. Seine aus dieser eindringlichen Begegnung resultie­rende „Arbeit an dem gesichtslosen Porträt Man with a Butterlfly Net“, die ihn „ärger hergenommen“ habe als jede andere, gilt Aurach fortan als eines „seiner verfehltesten Werke“ (260), weil er diese „Erschei127 Siehe die Aufsätze Sebalds zu Améry, vor allen Dingen: W. G. Sebald, Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry, in: Etudes Germaniques 43 (1988).

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nung“ mittels seiner Kunst nicht einzufangen vermochte. Henry Selwyns Hinwendung zum Gras, zur Erde und zur Bergsteigerei, die Kästen, Vitrinen, Einweck­gläser und Kästen des Emporiumsinhabers Theo Bereyter, die Leidenschaft seines Sohns Paul Bereyter für Eisenbahnen, die ihm den hellseherischen Spruch einbrachte, er werde noch bei der Eisenbahn ‚enden‘, Max Aurachs Obsession für Schlote und Staubbilder, Cosmo Solomons Schwäche fürs Roulettespiel und Flugapparate sowie die Architektur-Besessenheit des Prager Juden Jacques Austerlitz, in dessen Person und Lebensgeschichte die vier Geschichten der Aus­gewanderten noch einmal komprimiert erscheinen – das, was also von der Forschung als die skurrilen Eigenarten der Sebaldschen Figuren gewürdigt wird, all diese Sammler- und Objektleidenschaften sind auf das Entwurzeltsein ihres überwiegend jüdischen Figurenpersonals zurückzuführen und entfalten durch diesen Kontext erst ihre ganze abgründige Dimension. Das Besitz- oder das obsessive Objektdenken, nach Abraham der „anale Charakterzug des Eigensinns“, gilt der Psychoanalyse als ein wesentliches Merkmal melancholischen Verhaltens,128 und laut Freud erfolgt die jeweilige Objektwahl des Melancholikers auf einer narzisstischen Grundlage, da das begehrte Objekt ins Ich introjektiert wird. Das bedeutet, dass ein Teil des Ichs sich mit dem ursprünglichen, verlorenen Objekt identifiziert, weswegen in einer Art manischen Folge verschiedene Ersatzobjekte an dessen Stelle treten können.129 Der Trost, der im Sammeln und Anhäufen von Dingen liegen kann, wird von der Psychoanalyse also als eine verfehlte oder sich selbst verfehlende Form der (Selbst-)Vergewisserung und Bewältigung der Verlusterfahrung gedeutet. In seinem Essay über Chatwin bekennt sich Sebald, der sich nach eigener Auskunft „im Zeichen des Saturn“130 verordnet und in der Forschung unumstritten als der Melancholiker unter den Gegenwartsautoren gilt, geradezu zu der „Manie des Auflesens und Sammelns“ in der Hoffnung, dass dieses literarische Verfahren zu einer „Transformation der gefundenen Frag­mente in geheimnisreiche Mementos [führt], die uns erinnern an das, wovon wir, als Lebende, ausgeschlossen sind“.131 So gehören die euphorischen Schilderungen der gesammelten und aufgelesenen Dinge, der Habe, die gegen die Heimatlosigkeit ins Feld geführt werden, zu den schönsten Passagen innerhalb der Sebaldschen Prosa. In lang ausgreifenden, rhythmisch schwingenden Sätzen, die Sebalds Stil­merkmal sind, wird die Distanz 128 Blamberger 1985, S. 51. 129 Zum Verhältnis von Trauer und Melancholie bei Freud und Abraham, siehe ebd., S. 50. 130 Siehe Sebalds Programmgedicht „Nach der Natur. Ein Elementargedicht.“, Nördlingen 1988, S. 76 sowie seinen Roman Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt am Main 1995. Auf beides wird an späterer Stelle noch näher eingegangen. 131 W. G. Sebald, Das Geheimnis des rotbraunen Fells. Annäherungen an Bruce Chatwin aus Anlass von Nicholas Shakespeares Biographie, in: Literaturen 11 (2000), S.  74 sowie Sven Meyer, Imaginierte Konjekturen bei W. G. Sebald, in: Arnold 2003, S. 75–81, hier S. 79.

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zum beobachteten Objekt mehr und mehr zu Gunsten einer In­nenschau, oder psychoanalytisch gewendet, einer Introjektion gebrochen. Als stellvertretendes Beispiel kann hier Jacques Austerlitz’ bewundernde Schilderung der gemeinhin geschmähten Motten – Metonymie für die symbolischen Schmetterlinge, die auch in den Ausgewanderten immer wieder vorkommen132 – genannt werden. Sein Großonkel Alphonso, mit dem er die Motten nach­ts stundenlang beobachtete, hielt Motteneier in Kästen, um sie zu schützen: … wie aus dem Nichts heraus [begannen sie] einzuschwärmen in tausenderlei Bogen und Schraubenbahnen und Schleifen, bis sie, schneeflockengleich, um das Licht ein stilles Gestöber bildeten […] viele Dutzende sind es gewesen, deren so verschiedene Gestalt und Erscheinung weder Gerald noch ich zu fassen ver­mochten. Manche trugen Halskragen und Umhänge wie vornehme Herren […] auf dem Weg in die Oper; einige waren von einfacher Grundfarbe und zeigten, wenn sie die Flügel rührten, ein phantastisches Unter­ futter, Quer- und Wellenlinien sah man, Verschattungen, Sichelflecken und hellere Felder, Sprenkelungen, gezackte Bänder, Fransen und Nervaturen und Farben, wie man sie sich nie hätte ausmalen können […] Die […] Leuchtstreifen, die sie dabei in verschiedenen Kringeln, Fahrern und Spiralen hinter sich herzuziehen schienen, existierten in Wirklichkeit gar nicht, erklärte Alphonso, sondern seien nur Phantomspuren, die verursacht würden von der Trägheit unseres Auges, das einen gewissen Nachglanz noch an der Stelle zu se­hen glaube, von welcher das im Widerschein der Lampe nur einen Sekundenbruchteil aufstrahlende Insekt selbst schon wieder verschwunden sei. […] In den wärmeren Monaten geschieht es nicht selten, daß sich der eine oder andere Nachtflügler […] zu mir herein verirrt. Wenn ich am frühen Morgen aufstehe, sehe ich sie still irgendwo an der Wand sitzen. Sie wissen, glaube ich, sagte Austerlitz, daß sie sich verflogen haben, denn wenn man sie vorsichtig wieder nach draußen entläßt, so verharren sie reglos, bis der letzte Hauch von ihnen gewichen ist, ja sie bleiben, festgehalten durch ihre winzigen, im Todeskrampf erstarrten Krallen, am Ort ihres Unglücks haften bis über das Lebensende hinaus, bis ein Luftzug sie ablöst und in einen stau­bigen Winkel verweht. Manchmal […] frage ich mich, was für eine Art Angst und Schmerz sie in der Zeit ih­rer Verirrung wohl verspüren.133

Abgesehen von den Personalisierungen („vornehme Herren“), in die Austerlitz verfällt, und der Freude, die der „Nachglanz“ der „Verschwundenen“ in ihm auslöst, lässt auch die Art und Weise, in der er ihr Streben und Sterben schildert, vermuten, dass er hier nicht nur über die Motten spricht, sondern dass der Leser zugleich etwas über Austerlitz‘ eigenen Lebensimpuls, über seine „Zeit der Verir132 So lässt beispielsweise Paul Bereyter in der zweiten Erzählung der Ausgewanderten die Schüler einen Schmetterling sezieren; Ambros, der Protagonist der dritten Erzählung, begegnet in der Heilanstalt – eine der vielen Anspielungen auf Nabokov – einem Schmetterlingsfänger, und er geht zusammen mit seinem Freund Cosmo Salomon selbst auf Schmetterlingsjagd. 133 W. G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt am Main, 2. Aufl., 2003, S. 136–141.

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rung“ erfahren soll. Der Leser spürt dabei zugleich den Trost, der für Austerlitz darin besteht zu erleben, „wie sich die Strömung der Zeit im Gravitationsfeld der ver­gessenen Dinge verlangsamt“.134 Dieselbe Trost spendende Verlangsamung empfindet der Ich-Erzähler auch beim Anblick von Henry Selwyns Diashow: Ein Bild aus Griechenlands Berglandschaft, vor dem sie schließlich lange schweigend saßen, „so lang sogar, daß zuletzt das Glas in dem Rähmchen zersprang und ein dunkler Riß über die Leinwand lief“ (28f.), erinnert an Austerlitz’ Motte, ein fragiles Gebilde, das vergeht, wenn man es zu lange dem Licht aussetzt. „Der so lange, bis zum Zerspringen festgehaltene Augenblick der Hochebene von Lasithi hat sich mir damals tief eingeprägt, und dennoch hatte ich ihn geraume Zeit vergessen gehabt.“ (29) Dieses „tiefe“ Erinnerungsbild des Erzählers bedarf also erst eines anderen Bildes, das ersteres als ein solches „wiederbelebt“ und zwar durch einen Kinofilm, in dem es ein Traumgespräch zwischen Kaspar Hauser und seinem Lehrer Daumer gibt, und „wo Kaspar, zur Freude seines Mentors, zum ersten Mal unterscheidet zwischen Traum und Wirklichkeit, indem er seine Er­zählung einleitet mit den Worten: Ja, es hat mich geträumt. Mich hat vom Kaukasus geträumt.“ „Die Kamera“, so heißt es weiter, „bewegt sich dann von rechts nach links in einem weitem Bogen und zeigt uns das Panorama einer von Bergzügen umgebenen […] Hochebene, […] die in dem pulsierend das Bild überblendenden Licht mich stets von neuem erinnern an die Segel der Windpumpen von Lasithi, die ich in Wirklichkeit noch gar nicht gesehen habe“. (29) Der unwillkürliche Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsenz betont zum einen den Aktualisie­rungsprozess der Erinnerung; zum anderen dient Sebalds Verfahren der Kombination von Fakten und Fiktionen, Substitutionen und Ersatzerinnerungen der Bewältigung und Vermittlung von Vergangenem. In der dritten Erzählung der Ausgewanderten, der Geschichte von Ambros Adelwarth und seinem Gefährten Cosmo Solomon etwa wird das „Korsakowsche Syndrom“ beschrieben, „bei dem […] der Erinnerungsverlust durch phantastische Erfindungen ausgeglichen wird“. Im Falle von Cosmo handelt es sich bei diesen phantastischen Erfindungen um die Konstruktion von Flugap­paraten, einer weiteren Metonymie für die allgegenwärtigen Schmetterlinge. Sebald erklärt die „in vielfacher Abwandlung auftretende Koinzidenz von Hypermnesie und Amnesie“, wieder in Aus­einandersetzung mit Jean Amérys Poetik, dadurch, „daß ein diffuses Vergessen in eins geht mit einem rekurrenten Aufwallen von Bildern, die nicht aus dem Gedächtnis zu bringen sind und die in einer ansonsten ausgeleerten Vergangenheit als die Instanzen einer ans Pathologische grenzen­den Hypermnesie wirksam bleiben“.135 134 Ebd., S. 363. 135 Sebald 1988, S. 316.

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Dieses „Konfabulieren“136 der sebaldschen Figuren findet seine Entsprechung in besagter Diashow Henry Selwyns, dem Bild Lasithis, das sich im wahrsten Sinne des Wortes ‚einbrennt‘ und das laut Sebald „nicht aus dem Gedächtnis zu bringen ist.“ Selwyns Substitutionen, die er für seine „ausgeleerte Vergangenheit“ findet, bestehen nicht nur im Sammeln und Ankaufen von Pferden, die stellvertretend für das erste Pferd stehen, das ihn als sie­benjährigen Jungen aus dem Heimatdorf herausführte, und von denen eines seinen ursprünglichen, nun vergessenen Namen („Seweryn“) trägt, sondern ins­besondere in ausgedehnten Bergwanderungen. Selwyn wird daher nicht einfach als ein begeister­ter Bergsteiger geschildert. Vielmehr heißt es, er sei der Bergsteigerei „geradezu verfallen“ (23): „Überall sei er mit Naegli [seinem Freund] gewesen, auf dem Zinggenstock, dem Scheuchzerhirn und dem Rosenhorn, dem Lauteraarhorn, dem Schreckhorn und dem Ewig­ schneehorn, und er habe sich nie in seinem Leben, weder zuvor noch später, derart wohl gefühlt wie damals in der Gesellschaft dieses Mannes“, der „kurz nach der Kriegsmobilmachung auf dem Weg von der Oberaarhütte nach Oberaar verunglückt und seither verschollen“ sei. Während es Selwyn war, als sei er selbst seitdem „begraben unter Schnee und Eis.“ (25) Ähnlich den Eigennamen in Gebürtig kommt hier dem Vorgang des Benennens der ge­liebten Berge ein – scheinbar – identifikationsstiftender Moment zu.137 Aufgelistet oder vielmehr aufgerufen wird unter den Namen „Rosenhorn“, „Lauteraarhorn“, „Zinggenstock“ eine ‚Habe‘, die in ihrem Memento für das stehen könnte, wovon der entwurzelte Henry Selwyn ausgeschlossen blieb. Durch den plötzlichen Tod Naeglis aber kippt dieser Trost für immer in die Untröstlichkeit. Die Ersatzheimat, die die Schweizer Bergwelt für Selwyn vielleicht hätte darstel­ len können, wird „begraben unter Schnee und Eis“. Bereits in der ersten Geschichte der Ausgewanderten wird daher der Einbruch der Heimatlosigkeit in die Heimat, die sich im Nachhinein als eine fiktive erweist, nicht nur gezeigt, sondern auch psychologisch motiviert und historisch als ein jüdisches Exilschicksal, Jean Amérys – jüdischer – Satz in nunce vorgeführt: Umso mehr Heimat braucht der Mensch, umso weniger er davon mit sich tragen kann. Dass Heimat nicht das ist, was sie zu sein scheint, wird auch in der zweiten Geschichte um den Sonthofener Volksschullehrer Paul Bereyter deutlich, der 136 Meyer, in: Arnold 2003, S. 79. 137 Zur Sprache der Eigennamen siehe auch Max Aurach, die vierte Geschichte der Ausgewanderten, in der der Ich-Erzähler auf dem jüdischen Friedhof, wo „keiner der beiden Schlüssel in das Schloß paßte“ (334), zu entziffern versucht, „was an Namen noch lesbar“ war: „Hamburger, Kissinger, Wertheimer, Friedländer, Arnsberg, Frank, Auerbach, Grunwald, Leuthold, Seeligmann, Hertz, Goldstaub, Baumblatt und Blumenthal – das gab mir den Gedanken ein, daß die Deutschen den Juden vielleicht nichts so mißgönnt haben als ihre schönen, mit dem Land und der Sprache, in der sie lebten, so sehr verbundenen Namen“. (335)

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Ruth Klüger als „Übergang zu den jüdi­schen Figuren“ gilt,138 und auf dessen besondere Geschichte, den Aspekt „Heimatlosigkeit und Habe“, abschließend eingegangen werden soll: Im Januar 1984 erreichte mich aus S.  die Nachricht, Paul Bereyter, bei dem ich in der Volksschule gewesen war, habe am Abend des 30. Dezember, also eine Woche nach seinem 74. Geburtstag, seinem Leben ein Ende gemacht, indem er sich, eine kleine Strecke außerhalb von S., dort, wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinen Weidengehölz herausführt und das offene Feld gewinnt, vor den Zug legte. […] In einer weiter nicht näher erläuterten Bemerkung hieß es in dem Nachruf [Trauer um einen beliebten Mitbürger] allerdings auch, das Dritte Reich habe Paul Bereyter an der Ausübung seines Lehrerberufs gehindert. (41f.)

Das an Kleists Novellistik erinnernde, die Erzählung einleitende Argumentum enthält mit dem Verweis auf den Selbstmord nicht nur den causa movens des Erzählens, sondern zugleich den zentralen Konflikt der Figur Bereyter: die Heimatlosigkeit in der Heimat. Der Widerstreit von Fluch und Bindung, der für Paul Bereyter der Ort S. im Leben bedeutete, wird erst durch seinen Frei-Tod aufgelöst, „indem er sich, eine kleine Strecke außerhalb von S., wo […] die Bahnlinie das offene Feld gewinnt“ vor den Zug wirft. Die nachfolgenden Ein­sichten, die der Ich-Erzähler durch den Tod Bereyters gewinnt, bestätigen diese Vermu­tung. So heißt es weiter: „Paul Bereyter hatte, wie ich bald herausfand, in S. bis zuletzt seine Wohnung gehabt […], hatte aber in dieser Wohnung kaum je sich aufgehalten, sondern war stän­dig auswärts gewesen, ohne daß man gewußt hätte, wo.“ (42f.) Und: „Die Leute von S., unter denen Paul Bereyter aufgewachsen war und mit gewissen Unterbrechungen stets gelebt hatte, redeten immer bloß vom Paul“: Auch wir in der Schule [hatten] ausschließlich vom Paul gesprochen […], als gehöre er zu uns oder wir zu ihm. Das freilich war, wie mir inzwischen klar geworden ist, eine Einbildung, denn wenn auch der Paul uns gekannt und verstanden hat, so hat doch keiner von uns gewußt, wer er war und wie es aussah in ihm. Darum habe ich – sehr verspätet –, versucht mich ihm anzunähern, habe versucht mir auszumalen, wie er gelebt hat in der großen Wohnung im oberen Stock des alten Lerchenmüllerhauses. (43f.)

Bereyters Gebürtigkeit, seine Zugehörigkeit zu einem Ort, an dem er dennoch nicht heimisch ist, wird also schnell offenkundig. Die zentrale Frage aber lautet, worauf sich diese Heimatlosigkeit gründet. Das Argumentum legt bereits eine erste Spur, denn: „In einer weiter nicht näher erläuterten Bemerkung hieß es in 138 Klüger, in: Arnold 2003, S. 97.

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dem Nachruf [Trauer um einen beliebten Mitbürger] allerdings auch, das Dritte Reich habe Paul Bereyter an der Ausübung seines Lehrerberufs gehin­dert.“ So augenfällig diese Bemerkung gerade wegen ihrer Beiläufigkeit erscheint, so vage ist sie zugleich. Daher ist es in dieser „unerhörten Begebenheit“ eben der Verweis auf die Historie, die nebulöse Anspielung auf das „Dritte Reich“, die, verbunden mit dem gewaltsamen Tod Bereyters, den Ich-Erzähler nachfragen und sich auf die Lebensspuren seines ehemaligen Lehrers begeben lässt. „Manche Nebelflecken / löst kein Auge auf“, lautete der vielsagende Eingangsvers – warum aber handelt es sich bei jenen ‚Nebelflecken‘ im tragischen Leben Bereyters um Hinweise auf ein explizit jüdisches Schicksal, wo Paul Bereyter, wie Ruth Klüger bemerkte, streng genommen doch ‚nur‘ der Sohn eines Halbjuden ist und es sich ihrer Ansicht nach in seinem Fall um das Schicksal eines heimatlosen Nichtjuden handelt? Während in der Geschichte um Dr. Henry Selwyn das Wort Jude kein einziges Mal auftaucht, so fällt es hier, in der zweiten Geschichte, erst sehr spät. Hinweise auf Bereyters jüdische Sozialisa­tion werden bewusst nur in Form von Andeutungen formuliert. So geht beispielsweise „das Ge­rücht“ um, dass Paul Bereyter „gottgläubig“ sei (53), wenngleich er die katholische Kirche und den Katechismus offenkundig verabscheut und der Religionsunterricht der einzige ist, den er nicht selbst erteilt: „Mit Sicherheit […] haben sowohl der Benefiziat als auch der Katechet den Paul für eine verlorene Seele gehalten, denn wir sind mehr als einmal aufgefordert worden zu beten, daß unser Lehrer zum rechten Glauben übergehe.“ (54) Die Wendung „zum rechten Glauben übergehen“ impliziert, dass der Betreffende einem anderen Glauben anhängt, der von seinem Gegenüber als „falsch“ angesehen wird. Bereyters Jüdischkeit wird unter den Einwohnern von S. also im Diskurs der Latenz verhandelt. Bei den Kindern kommt diese Aussage in Form von Gerüchten an, die dem Ich-Erzähler lange Zeit „unverständlich“ blieben. (53) Ebenso wie Selwyns Schicksal erschließen sich auch die wahren Sachverhalte im tragischen Leben Paul Bereyters dem Ich-Erzähler erst nach und nach und entlarven die zuvor gewonnenen Eindrücke als oberflächlich oder trügerisch. So erfährt der Erzähler erst zum Ende seiner Nachforschungen, dass Paul Bereyters „Grausen“ vor der Frömmigkeit der Einwohner von S. nicht mit einer allgemeinen Verachtung für alles Scheinheilige allein zu erklären ist, sondern dass dahinter ganz konkrete Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen stecken. Die blutigen Ausschreitungen gegen die Juden im Heimatort von Pauls Vater etwa, die diesen in einer verzögerten Reaktion das Leben kosten, werden lapidar als „Palmsonntagstreiben“ bekannt (81). In dessen Verlauf erhielten die katholischen Schul­ kinder in den geplünderten jüdischen Läden, nachdem ihre Besitzer erhängt, verjagt oder miss­handelt worden waren, einen Gratisbasar. Paul Bereyters Leben und Leiden ist also unauflöslich mit dem Schicksal der deutschen Juden und der soge-

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nannten „jüdisch Versippten“, mit der Aberkennung ihrer Bürgerrechte im Schatten der Nürnberger Rassengesetze von 1935 verbunden: [K]aum, daß er die Namen der Kinder sich eingeprägt hat, [erhält er] einen amtlichen Bescheid, in dem es heißt, sein Verbleiben im Schuldienst sei, aufgrund der ihm bekannten Gesetzesvorschriften, nicht mehr tragbar. […] Es verschwimmt jede Aussicht vor seinen Augen, und er spürt, spürte damals zum ersten Mal jenes unüberwindliche Gefühl der Niederlage, das ihn später oft heimsuchen sollte und dem er zuletzt nicht mehr auskam. Ende Oktober […] fuhr Paul über Basel nach Besancon, wo er eine […] Hauslehrerstelle an­trat. (72)

Im Jahr 1936 stirbt Theo Bereyter, Pauls Vater „wie es hieß, an einem Herzversagen […] in Wahrheit je­doch […] an Wut und Angst“ (79). Eine Angst, die er nicht mehr loswurde, seit es zu jenen Aus­schreitungen gegen die seit Generationen in seinem Heimatort ansässigen jüdischen Familien gekommen war. Beerdigt wird der bis 1935 hochangesehene Bürger und Ladenbesitzer Bereyter in einer abseitigen Friedhofsnische in S., die reserviert war für Selbstmörder und Konfessions­lose. Pauls Mutter Thekla versinkt daraufhin in Depressionen und verstirbt einige Wochen später. Pauls große Liebe Helen Hollaender wird über Wien nach Theresienstadt deportiert. All dies sind die Stationen der Isolation, Demütigung und Entwurzelung Pauls, die nichts mit einer wie auch immer motivierten Erfahrung der Heimatlosigkeit von Nichtjuden zu tun hat, sondern die ganz im Gegenteil gerade aufgrund der Stigmatisierung der Juden und ihrer Angehörigen über Paul hereinbrechen: Stück für Stück trat also das Leben Paul Bereyters aus seinem Hintergrund heraus. Mme. Landau wunderte sich keineswegs darüber, daß mir, trotz meiner Herkunft aus S.  und meiner Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen, die Tatsache, daß der alte Bereyter ein sogenannter Halbjude und der Paul infolgedessen nur ein Dreiviertelarier gewesen war, hatte verborgen bleiben können. Wissen Sie, sagte sie mir […], die Gründ­lichkeit, mit welcher diese Leute in den Jahren nach der Zerstörung alles verschwiegen, verheimlicht und, wie mir manchmal vorkommt, tatsächlich vergessen haben, ist eigentlich nur die Kehrseite der perfiden Art, in der beispielsweise der Kaffeehausbesitzer Schöferele in S. die Mutter Pauls […] darauf aufmerksam machte, daß die Anwesenheit einer mit einem Halbjuden verheirateten Dame seiner bürgerlichen Kund­schaft unangenehm sein könne und daß er sie daher aufs höflichste, wie es sich verstehe, bitte, von ihrem täglichen Kaffeehausbesuch Abstand zu nehmen. (74)

In dieser Schlüsselpassage wird über die Aufklärung von Bereyters Herkunft hinaus dem Leser zugleich modellhaft vorgeführt, worin eine heutige Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Geschichte sinnvollerweise noch bestehen

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kann: in Gesprächen mit Zeitzeugen und ihren Nachkommen – hier zwischen dem Ich-Erzähler und Madame Landau – als Möglichkeit einer verspäteten Annäherung, die sich aufgrund offener Fragen aus dem eigenen Umfeld ergibt, – den „Nebelflecken“ (39), die einen nicht zur Ruhe kommen lassen sollten. Auf die kleinen, alltäglichen Geschichtsklitterungen, bestehend aus Fluchten ins Allgemeine so­wie die fortwirkenden, wenn auch moderateren Mechanismen der Ausgrenzung, lässt Sebald sei­nen Ich-Erzähler bereits im Argumentum hinweisen mit Formeln wie der „Trauer um einen be­liebten Mitbürger“ sowie der nebulös-abstrakten Aussage, „das Dritte Reich“ habe Paul Bereyter an der Ausübung seines Lehrerberufs gehindert. Die alltäglichen Praktiken des Verdrängens in der bundesdeutschen Öffentlichkeit werden von Sebald somit anhand des Voralpenstädtchens S., seiner Einwohner und Medien gespiegelt. Auch das landläufige Argument, man habe ja nichts gewusst, wird in der Bereyter-Erzählung sehr geschickt aufgegriffen, indem die kursierenden Formen der Ausblendung nicht nur vorgeführt, sondern auch ernst genommen werden, da sich der Erzähler von ihnen nicht ausschließt. Zugleich aber wird gezeigt, dass sich dieses Nichtwissen auch später noch beheben lässt, durch Nachfragen, Interesse und Einfühlung: Auch wir in der Schule [hatten] ausschließlich vom Paul gesprochen […], als gehöre er zu uns oder wir zu ihm. Das freilich war, wie mir inzwischen klar geworden ist, eine Einbildung, denn wenn auch der Paul uns gekannt und verstanden hat, so hat doch keiner von uns gewußt, wer er war und wie es aussah in ihm. Darum habe ich – sehr verspätet –, versucht mich ihm anzunähern. (43)

Der geschichtskundige Leser darf dem Ich-Erzähler in diesem Annäherungsprozess sogar etwas voraushaben, da er Hinweise wie auf die Gottesgläubigkeit Bereyters früher zu entziffern vermag als der Erzähler und den Nachvollzug daher in seinem eigenen Tempo leisten kann. Nicht eine universale Heimatlosigkeit oder Unzugehörigkeit (etwa des postmodernen Menschen in uto­pielosen Zeiten) ist also Thema und Gegenstand der Ausgewanderten, sondern jene spezifische Form der Heimatlosigkeit, die aus der deutsch-jüdischen Geschichte und der jüdischen Leiderfahrung resultiert: die Heimatlosigkeit in der Heimat selbst. Denn was Paul Bereyter in den Worten seiner späteren Le­bensgefährtin, der nach Frankreich emigrierten Jüdin Madame Landau, tragischerweise zur Rück­kehr nach S. bewegte, war gerade das Nötighaben von Heimat, seine unauflösliche Bindung an das Städtchen S.: Daß er von Grund auf ein Deutscher gewesen ist, gebunden an dieses heimatliche Voralpenland und an dieses elende S., das er eigentlich haßte und in seinem Innersten, dessen bin ich mir sicher, sagte Mme Lan­dau, samt seinen ihm in tiefster Seele zuwideren Einwohnern am liebsten zerstört und zermahlen gesehen hätte. (84)

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Und auch Pauls Formen der Habe sind eng mit dem verbunden, was Madame Landau als sein „deutsches Unglück“ bezeichnet: So las Paul geradezu fieberhaft Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietzky, Benjamin, Koestler und Zweig. Schriftsteller also, die sich aufgrund des deutschen Unglücks das Leben genommen hatten. Zum anderen hatte er seit der Kindheit eine Obsession für Züge, was sein Onkel, wie bereits zitiert, mit der Bemerkung quittierte, „er werde nochmal bei der Eisenbahn enden“ (92): Die Eisenbahn hatte für Paul eine tiefere Bedeutung. Wahrscheinlich schien es ihm immer, als führe sie in den Tod. Fahrpläne, Kursbücher, die Logistik des ganzen Eisenbahnwesens, das alles war für ihn, wie die Wohnung in S. sogleich erkennen ließ, zeitweise zu einer Obsession geworden. Die im leeren Nordzimmer auf einem Brettertisch aufgebaute Märklinanlage steht mir heute noch vor Augen als das Sinn- und Abbild von Pauls deutschem Unglück. (90f.) [Hervorhebung, A.H.]

Die Eisenbahn, die in den Tod führt – gemeint sind hier auf der tieferen Bedeutungsebene die Todestransporte der Juden in die Vernichtungslager im Osten. Ein nicht wiedergutzumachen­der, unwiederbringlicher Verlust, der, psychoanalytisch gewendet, von Paul eher unbewusst empfunden wird und durch den Objektbesitz der Eisenbahnanlage wieder ins Ich zurückgeholt werden soll. Dass Paul zu den ‚anderen‘ Deutschen gehört, wird vom Erzähler zudem an seiner Sprache festgemacht. Ganz im Gegensatz zu dem althergebrachten Unterscheidungsmythos von der ‚anderen Sprache der Juden‘ kommt diese andere Sprache, der „Klangfehler“ Pauls, der „ohne jede Dialektfärbung“ und „in schön geordneten Sätzen“ sprach, „aus der Herzgegend heraus“ (52). Die deutsch-jüdischen Lebensspuren müssen vom Leser mit Empathie gelesen werden, denn, wie das Eingangs-Epitaph sagt: „Manche Nebelflecken löst kein Auge auf.“ In diesem Appell an die Empathie des Lesers können Sebalds Erzählungen ebenso wie Lessings Werke Nathan, der Weise und Die Juden als Verständigungstexte gelesen werden, wobei auch hier die Untröstlichkeit der jüdischen Figuren ohne jenen Kitsch auskommt, der den Judendarstellungen, die aus der Außensicht erfolgen, wie gezeigt, oftmals anhaftet. Der Ich-Erzähler fungiert dabei als Gedächtnisbewahrer, der die ihm mitgeteilte Lebensge­schichte dem Vergessen entreißt. So steckt bereits in dem ersten Epitaph „Zerstört das Letzte / die Erinnerung nicht“, eine Aufforderung sowie eine poetologische Auskunft über den Text als Bewahrer deutsch-jüdischer Geschichte(n) und damit Träger jüdischen Gedächtnisses. Wobei bei den Ausgewanderten, darauf hat Sven Meyer bereits hingewiesen, die Toten gemeint sind.139 So nimmt Sebald in seinem KafkaEssay Bezug auf die Zeit, in der „Kafka sich anschickte, aus dem Werk seines 139 Meyer, in: Arnold 2003, S. 78.

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Lebens auszuwandern“. Auszuwandern, so Meyer, hat hier die Bedeutung von sterben. Die „Ausgewanderten“ sind daher „die Gestorbenen“.140 Auch Jakob Hessing hat jüngst noch einmal auf die Bedeutung des Totengedächtnisses bei Sebald hingewiesen. Sebalds Protagonisten, so fasst Hessing es prägnant zusammen, seien die Toten.141 Sebald versuche „seine Figuren in einer Landschaft des Todes zu gestalten, die er immer wieder erforscht, und in den Ausgewanderten begegnen uns einige von ihnen.“142 In der Tat stützt der Text selbst diese Lesart in mehr als einer Hinsicht. Nicht nur begehen so­wohl Selwyn als auch Bereyter und Solomon Selbstmord, während sich Adelwarth durch die wil­lentlich herbeigeführten Strom-Schockbehandlungen selbst zerstört und Aurach, mit einem Lun­ genemphysem ins Krankenhaus eingeliefert, von Müdigkeit überwältigt, nur noch vor sich hindämmert. Man fühlt sich bei diesen „Ausgewanderten“ unwillkürlich an Austerlitz’ Motten erinnert, deren Schilderung in diesem Kontext wie eine Allegorie erscheint: „… so verharren sie reglos, bis der letzte Hauch von ihnen gewichen ist, ja sie bleiben, festgehalten durch ihre winzigen, im Todes­krampf erstarrten Krallen, am Ort ihres Unglücks haften.“143 Gerade die Geschichte von Paul Bereyter hat dies eindringlich gezeigt. Darüber hinaus bezeichnet Madame Landau Bereyter aber auch ganz wörtlich als „den Exilierten zugehörig“ (88), was Seven Meyer wie folgt kommentiert: Zu den Exilierten zu gehören, heißt, zu den Selbstmördern zu gehören. Die Wortbildung „Exilierter“ (nicht: „Exilant“) ist analog zu „Ausgewanderter“ (nicht: „Auswanderer“); beide Wörter sind vom Partizip Perfekt abgeleitet, das eine abgeschlossene Handlung anzeigt, und auf den bereits vorgezeichneten, sich am Ende der Erzählung ereignenden Tod verweist. […] In der Nicht-Zeitlichkeit dagegen liegt die Hoffnung auf Kontinuität, in der sich die intendierte Wahrheit im literarischen Gedächtnisraum ad infinitum fortschreibt.144

So treffend Meyer hier die Sebaldsche Prosa als literarischen Gedächtnisraum entwirft, so schade ist es, dass er nicht noch einen Schritt weitergeht, denn auch er nimmt die explizit jüdische Dimension der Exilerfahrungen der Toten, derer die Geschichten gedenken, nicht in den Blick. Deren Trauma von Vertreibung 140 Ebd. 141 Jakob Hessing, Deutscher Erzähler, jüdische Geschichte. Zu W. G. Sebalds Austerlitz, in: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag, hrsg. von Mark H. Gelber, Jakob Hessing und Robert Jütte, Tübingen 2009, S. 455–466; hier S. 463. 142 Ebd., S. 456. 143 Sebald 2003, S. 140. 144 Meyer, in: Arnold 2003, S. 78.

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und Vernichtung aber ist es, was selbst das Letzte, die Sprache, noch bedroht, sodass wie bei Selwyn die Erinnerung dem Verdrängen und Substituieren weichen muss. Und so lautete besagtes Epitaph im Erstdruck der Selwyn-Erzählung noch fragend: „Verzehret das Letzte / Selbst die Erinnerung nicht?“145 In diesem speziellen Sinn kann daher in Sebalds Die Ausgewanderten von Jüdischkeit als Text ge­sprochen werden: Die Erzählungen wollen Teil einer Erinnerungsarbeit sein. Als solche schreiben sie mit an einem Gedächtnis, das den jüdischen Opferstimmen Gehör verleiht. Denn „wie sollen wir sie einquartieren, die Toten, die zurückzukommen scheinen?“ fragt etwa auch Carol Jacobs im Blick auf Die Ausgewanderten.146 2.2.2. To turn fiction into truth – Der erinnerte Autor

Auch auf Ebene des intertextuellen Verweisungsgeflechts147 finden sich deutschjüdische Stimmen aufgerufen. Neben Jean Améry und Kafka wird in den Aus­ gewanderten vor allen Dingen einem Werk ein Denkmal gesetzt: Wolfgang Hildesheimers Roman Tynset, den Sebald zu Recht für „eines der sträflichst vernachlässigten Bücher in der Nachkriegsliteratur“ hielt.148 So erinnert gleich die Eröffnungssequenz, die Schilderung von Selwyns Anwesen, an den Verfall des Tynset-Hauses: „Die Fassade des Hauses […] war überwachsen mit wildem Wein, das Haus­tor schwarz lackiert. […] Es war nicht, als ob irgendjemand hier wohnte.“ (8f.) Und weiter heißt es: „But now the court has fallen into disrepair, like so much else around here. Nicht nur der Küchengarten […] sei nach Jahren der Vernachlässigung am Erliegen, auch die unbeaufsichtigte Natur, er spüre es mehr und mehr, stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht des­sen, was ihr aufgeladen werde von uns.“ (13) In Tynset wiederum „knackt“ es bereits zu Beginn „hin und wieder im Holz der Täfelung […], ein Riß huscht entlang einem Balken der Zimmerdecke, von einer Ecke bis tief in die andere […], anstelle der Substanz klafft Hohlraum in Form von Ritzen oder Fugen […], ein Fenster verschiebt sich, 145 Ebd., S. 77. Sowie W. G. Sebald, „Verzehret das letzte selbst die Erinnerung nicht?“, in: Manuskripte, Heft 100 (1988), S. 150–158. Sebald spielt mit diesem Epitaph auf die folgenden zwei Halbverse aus Hölderlins Elegie an: „Danken möchte ich, aber wofür? Verzehret das Letzte / Selbst die Erinnerung nicht? Nimmt von der Lippe denn nicht / Bessere Rede mir der Schmerz.“ 146 Carol Jacobs, Was heißt Zählen? W. G. Sebalds Die Ausgewanderten, in: Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W. G. Sebalds, hrsg. Von Sigurd Martin und Ingo Wintermeyer, Würzburg 2007, S. 49- 68, hier S. 50. 147 Zur Intertextualität bei Sebald siehe auch: Irene Heidelberger-Leonard (Hrsg), W. G. Sebald. Intertextualität und Topographie, Berlin 2008. 148 W. G. Sebald, Zu Konstruktionen der Trauer – Zu Günter Grass’ ‚Tagebuch einer Schnecke‘ und Wolfgang Hildesheimers ‚Tynset‘, in: DU 5 (1983), S. 45f.

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wird windschief, wird undicht“.149 Und am Ende strömt die unbeaufsichtigte Natur in die Räume und ergreift von ihnen Besitz: „Der Winter zieht über den Fußboden, meine Füße stehen in einer Schicht von eisigem Hauch, der in Schwaden über die Türschwellen zieht, […] Besitz ergreifend von meinem Haus.“150 Auch die akribische Beschäftigung Paul Bereyters mit Eisenbahnen und Streckennetzlinien in der zweiten Geschichte erinnert an die skurrile Vorliebe des Ich-Erzählers in Tynset, der nachts stun­denlang in den Kursbüchern der norwegischen Staatsbahnen liest, die „kein Wort, keine Zahl und kein Zeichen zuviel“ enthalten,151 und denen er den Sehnsuchtsort „Tynset“ entnimmt, bis sich auch dieser Name schließlich in „Schall und Rauch“ auflöst und nur der Schrecken in Form erin­nerter Gewalttaten zurückbleibt.152 Die Schienen führen sowohl bei Bereyter als auch in Tynset letztendlich immer in den Tod. Und ebenso wie den Reisenden Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth in der dritten Geschichte der Ausgewanderten, sind es die abgelegenen, abseitigen Ge­genden, ist die Wüste auch für Hildesheimers Ich-Erzähler eine Art innere Ortschaft. Bevor er in Masante endgültig mit einem Regenschirm in der Wüste verschwindet, hat er sich schon in Tynset mit Wüstenphantasien geplagt. Und so teilt schließlich auch Max Aurach in der vierten und letz­ten Geschichte der Ausgewanderten von sich mit, dass er „in seinen Tag- und Nachtträumen durch sämtliche Stein- und Sand­ wüsten der Erde bereits gezogen sei“. (244) Neben all diesen grundlegenden wie detailreichen Übereinstimmungen zwischen dem Tynset-Erzähler und den Figuren der Ausgewanderten, von denen hier nur einige wenige genannt wurden, ist es aber vor allen Dingen die Geschichte des Münchener Juden, Englandexilanten und Malers Max Aurach, in der dem Autor Hildesheimer, ebenfalls Maler und während der Nazizeit nach England emigriert, samt seinem autornahen Ich-Erzähler ein literarisches Denkmal gesetzt wird, und zwar, gemäß Sebalds Einsicht in die Unzulänglichkeit abbildhafter Erinnerung,153 in Form eines – schwarzen – Bildes: In Tynset gilt ein solches schwarzes Bild dem Ich-Erzähler als einer der wenigen, vereinzelten Gegenstände, die sich noch anbieten als „Zeugen vergangener Rätsel“, als „stummes Material, ohne Versprechen einer Enthüllung“: 149 Wolfgang Hildesheimer, Tynset, Frankfurt am Main 1995, zitiert nach der 1. Aufl. 1992, S. 7f. Vgl. Anm. 354. 150 Ebd., S. 259. 151 Ebd., S. 11. 152 Ebd., S. 269. 153 Dazu siehe besonders den Aufsatz von Heiner Boehncke, Clair obscur. W. G. Sebalds Bilder, in: Arnold 2003, S. 43–62; Markus R. Weber, Die fantastische befragt die pedantische Genauigkeit. Zu den Abbildungen in W. G. Sebalds Werken, ebd., S. 63–74 sowie noch einmal Sigrid Korff, Die Treue zum Detail – W.G. Sebalds Die Ausgewanderten, in: Braese 1998, S. 167–199.

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Da hängt es, ein Querformat, in einem schweren vergoldeten Stuckrahmen, ein Stück verhärteter alter Leinwand, die Ölfarbe darauf vielleicht vor hundertfünfzig Jahren aufgetragen, brüchig, rissig und matt, tief gedunkelt, schwarz, so daß es auch nicht den geringsten Schluß zuläßt, was es einmal dargestellt haben mag. Links unten ist es signiert „Jean Gaspard Muller“. Die Signatur ist nicht gedunkelt. Es gibt hier also zwei Möglichkeiten: entweder ist die Signatur später entstanden […] oder dieses Bild war schon immer schwarz; hier hat, vor hundertfünfzig Jahren, ein Mann, der Muller hieß, ein schwarzes Bild gemalt. Jean Gaspard. Gaspard de la nuit.154

Und nun Sebalds Max Aurach: Der Staub, sagte er, sei ihm viel näher als das Licht, die Luft und das Wasser […] dieses Zeichnen und Hin­undherfahren auf dem dicken, lederartigen Papier sowohl als auch das mit dem Zeichnen verbundene an­dauernde Verwischen des Gezeichneten mit einem von der Kohle völlig durchdrungenen Wollappen war in Wirklichkeit eine einzige, nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion. […] [Das Bild] hatte […] für den Betrachter den Anschein, als sei es hervorgegangen aus einer langen Ahnen­reihe grauer, eingeäscherter, in dem zerschundenen Papier nach wie vor herumgeisternder Gesichter. (238f.)

Als Metapher kann das schwarze bzw. das aschefarbene Bild zunächst einmal sowohl für die Omnipräsenz einer dunklen Vergangenheit als auch für die unerfüllbare Sehnsucht nach deren Abwesenheit stehen. Die Signatur des vollkommen schwarzen Bildes, die „trotz all der Jahre nicht dunkelt“ sowie Aurachs verwischte Staubbilder auf dem „zerschundenen Papier“ signalisieren darüber hinaus aber in einem Grad der Absolutheit die Unlesbarkeit von Bildern als Bedeutungs­ trägern.155 Seit der antiken ars memoria steht Dunkelheit für die Unzugänglichkeit, denn die Imagines, die Gedächtnisbilder, müssen gut ausgeleuchtet sein, um im Gedächtnis zu haften. Sind sie zu dunkel, kann sie der innere wie äußere Betrachter nicht erfassen.156 Genau dieser Sachverhalt einer scheiternden Welt- und Sinnvergewisserung aber wird nun sowohl von Sebald als auch von Hildesheimer als Vorgang selbst wieder lesbar gemacht. Die Undeutbarkeit wird dadurch deutbar, dass sich Sebald und Hildesheimer der Koinzidenz der Metaphern bedie­nen und sie ausspielen, anstatt gänzlich auf sie zu verzichten. Diese Verfahrensweise

154 Hildesheimer 1965, S. 86f. 155 Auf das Ideal des Schwarzen als einem der „tiefsten Impulse der Abstraktion“ verweist auch Adorno. Siehe Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 66. 156 Dazu siehe u. a. Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 10–26.

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verleiht ih­rem Erzählen durchaus etwas Traditionelles.157 Wobei der Trost, den das Auflesen und Sammeln, die Hinwendung zu den schönen Dingen zumindest zeitweilig bedeuten kann, im Insistieren auf einer Bestandsaufnahme abendländischen Kultur- und Naturguts bei beiden Autoren eine große Rolle spielt. Denn, so der Ich-Erzähler in Tynset: „Da sind noch Augenblicke, […] in denen die Fremdheit aufleuchtete: hier ich – dort die trügerische Schönheit der Welt – und dann wieder vorbei.“158 Der Diskurs zwischen dem Auffinden von Spuren, die auf die jeweiligen Lebensgeschichten der Figuren verweisen und deren Engführung, welche die Spuren selbst als unlesbar entlarvt, of­fenbart nicht nur den engen Zusammenhang zwischen Erinnern und Lesen, da an Letzteres der Vorgang des Entzifferns komplett abgegeben wird, sondern er liefert darüber hinaus auch Infor­mationen über die spezifische Verfasstheit der modernen Gedächtnismetaphern in ihrer unver­ brüchlichen Verbindung zu den Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens. Sind Metaphern für das Erinnern unerlässlich, so kommt der Schrift, wie etwa Hildesheimers Signatur des schwarzen Bildes in Tynset, oder die den Bildern eingeprägten Einschreibungen (graphé) des Verwischens in Max Aurach, eine Signalwirkung zu, die zum einen deren Unlesbar­keit und Unzulänglichkeit markiert und zum anderen mittels der zur absoluten Metapher gewor­denen ‚graphischen Spur‘ eine adäquate, wenn nicht die letztmögliche Repräsentationsform des Verdrängten und Unsagbaren schafft. Begründet wird eine solche Poetologie der Unlesbarkeit bei Hildesheimer nicht ontolo­gisch, oder anthropologisch, sondern – wie gezeigt – historisch, und zwar über jenes unfassbare Verbrechen an der Menschlichkeit und an den Juden im Besonderen, für das Auschwitz in den letzten Jahrzehnten zur Chiffre geworden ist: Die Welt schweigt, sie gibt keinen Urtext her. Pathetisch gesagt: der Sinn der Schöpfung enthüllt sich nicht. Im Gegenteil: er wird immer rätselhafter – wir können hinzufügen: seit Auschwitz. Denn hier ist der Ansatz­punkt absurder Prosa: nicht das Auffinden des Urtextes, sondern das Sich-Abfinden damit, daß er nicht ge­funden wird; das Registrieren von Ersatzantworten.159

Für Hildesheimer wird Auschwitz zum Ansatzpunkt seiner absurden Prosa, für Sebald zur tiefe­ren Begründungsschicht seines melancholischen Schreibens in 157 Hildesheimer wurde der ‘schöne Formalismus‘ bereits früh vorgehalten, bei Sebald äußert sich diese Kritik über den Vorwurf des Manierismus, der Biedermeierlichkeit. Siehe u. a.: Hugo Dittberner, Der Ausführlichste oder: ein starker Hauch Patina. W. G. Sebalds Schreiben, in: Arnold 2003, S. 6–14. 158 Hildesheimer 1965, S. 73. 159 Hildesheimer, Interpretationen. James Joyce. Georg Büchner. Zwei Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1969, S. 81f. Hervorhebung, A. H.

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Die Ausgewanderten und in Auster­litz. Auf das Thema der Melancholie als Ursprung der geschichtlichen Gewalterfahrung bei Sebald wird noch einmal gesondert zurückzukommen sein. Charakteristisch und in diesem Zusammenhang bedeutsam ist zudem eine sowohl für Tynset als auch für die Geschichte Max Aurach signifikante Topologie des Erinnerns, die sich poetologisch als Erzählen – Gehen – Erinnern bezeichnen lässt: „Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde“. – So Walter Benjamin in seinem Essay Ausgraben und Erinnern.160 Für eine Poetik der Memoria bedeutet Benjamins Denkbild: Erinnerung lässt sich nur von einem Ort der Erinnerung her denken. Dieser ‚Fundort‘ gestaltet sich in Tynset und Max Aurach samt der dazugehörigen Verhaltenschoreographie seines Bewohners geradezu synchron. Das Haus war und ist von oben bis unten voll von Uhren, Kalendern, Barometern […] in jedem Zimmer, im Treppenhaus, Keller, Schuppen und Speicher, überall Ablesbares, Kontrolle des Spürbaren oder Prognosen des zu Verspürenden […] mit dem Tod im Körper führte er [der Onkel] die Listen weiter, […] zuletzt krit­zelte er nur noch unentzifferbare Chiffren und dann starb er. […] 161 Die meisten seiner Spuren führen in den […] Teil des Hauses, wo der Stein sich verliert, zu dem großen staubigen Raum der Galerien, […] des Gerümpels und der gestrandeten Dinge.162

Und nun eine Passage aus Max Aurach, in der das Zimmer des Malers beschrieben wird, „der dort seit Ende der vierziger Jahre arbeitete, Tag für Tag zehn Stunden, den siebten Tag nicht ausgenommen“ und nur von der Nacht unter­brochen: Das in den Ecken angesammelte Dunkel, der salzfleckige, aufgequollene Kalkputz und der abblätternde Anstrich der Wände, die mit Büchern und Stapel von Zeitungen überfrachteten Stellagen, die Kästen, Werkbänke und Beistelltische […], die ineinander verschobenen Papier-, Geschirr- und Materialberge […], das gesamte Mobiliar bewegte sich auf den zentralen Bereich zu, wo Aurach in dem grauen Schein, der durch das hohe, mit

160 Walter Benjamin, Ausgraben und Erinnern (1932), in: Walter Benjamin. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Opitz, Frankfurt am Main 1996, S. 17. 161 Hildesheimer 1965, S. 141f. 162 Ebd., S. 145. Zum Interieur des Tynset-Hauses als einem Museum „abendländischen Kulturgutes“, siehe u. a. Wolfgang Rath, Das Symptom Wort und die Warnung davor. Über Wolfgang Hildesheimers Tynset und Masante, in: Sprache im technischen Zeitalter 93 (1985), S. 27.

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dem Staub von Jahrzehnten überzogenene Nordfenster einfällt, seine Staffelei aufge­stellt hat. (237)

Die Zugänglichkeit von Erinnerung ist in beiden Werken eng mit ihrer räumlichen Komponente verbunden. Dieser Ansatz hat eine lange Tradition: „tópos“, seiner etymologischen Bedeutung nach das grie­chische Wort für „Ort“, galt in der antiken Rhetoriklehre, von der die ars memoria ein Teil war, als ein „Fundort“ für Beweise oder Argumente, die man in einer Rede verwenden konnte.163 Dieser Fundort einer schlüssigen Rede für das Geschehene ist in Tynset ebenso wie in Max Aurach alles andere als begeh- und entzifferbar. Vielmehr ist er überwuchert von Aufzeichungs­systemen (Barometern, Uhren, Kalendern in Tynset, Zeitungen, Material- und Papierbergen in Max Aurach), die sich in ihrer Unübersichtlichkeit gegenseitig ausblenden und musealen Charak­ter annehmen. Aber auch die „stummen Zeugen“ der jüngsten Verbrechen finden sich hier. So stößt etwa der Erzähler in Tynset, der es sich als „Erbe“ zur „nächtlichen Aufgabe“ gemacht hat, „mindestens einmal durch das Haus zu gehen“,164 auf mancherlei beängstigende Funde, auf Gegens­tände, zu denen er tastend einen Zugang sucht: ich […] betrete andere Räume, in denen ich kein Licht mache, ich […] betaste Gegenstände und werde von anderen erschaudernd betastet wie der nächtliche Wanderer von Erlenzweigen am Weg, ziehe aus, das Gruseln zu erlernen, aber ich habe es schon gelernt und verlernt […] ich gehe vorbei, streiche über Oberflächen, rauh oder weich oder straff – Wo war es, daß ich eine Trommel sah, bezogen mit dunkler menschlicher Haut, in Sansibar verfertigt? – und wo war es, daß ich einen Lampenschirm sah, aus heller menschlicher Haut, verfertigt in Deutschland von einem deutschen Bastler, der heute als Pensionär in Schleswig-Holstein lebt?165

163 In der lateinischen Übersetzung des aristotelischen ‚konios tópos‘ weist der ‚locis communis‘, der ‚Gemeinplatz‘, auf die sich im Laufe der Jahrhunderte herauskristallisierende zweite Bedeutung voraus: Von der Suchformel für ein Argument verschiebt sich die Akzentuierung auf den Inhalt des Arguments selbst. Daher wird seit Curtius der Topos oftmals als „festes Cliché bzw. als Denk- und Ausdrucksschemata“ definiert. Siehe Metzler Lexikon Kultur- und Literaturtheorie, hrsg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 1998, S. 583f. Analog zum gegenstandskonstitutiven Status der Metaphern „entwerfen die Techniken der Erinnerung eine Topologie der memoria, deren Modelle und Literarisierungen einem Ensemble rhetorischer Strukturen folgt, die jeder Text, der sich erinnert, miterinnert.“ Nicolas Pethes, Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen 1999, S. 35. 164 Hildesheimer 1965, S. 19. 165 Ebd., S. 139.

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In Sebalds Max Aurach findet diese ‚sprachlose‘ Verortung des Schreckens mittels der die Wohnung einschließenden „aus dem flachen Häusergewirr herausragenden“ Schlote Manchesters statt: Diese Schlote, sagte Aurach, sind heute nahezu ausnahmslos niedergelegt oder außer Betrieb. Damals aber rauchten sie noch, zu Tausenden, einer neben dem andern, bei Tag sowohl als in der Nacht. Es waren diese viereckigen und runden Schlote und diese ungezählten Kamine, aus denen ein gelbgrauer Rauch drang, die sich, so sagte Aurach, dem Ankömmling tiefer einprägten als alles, was er bis dahin gesehen hatte. Genau vermag ich es nicht mehr anzugeben, sagte Aurach, […], aber ich glaube, daß ich das Gefühl hatte, angelangt zu sein am Ort meiner Bestimmung. (250f.)

Die bei Tag und Nacht in Betrieb stehenden Schlote, der gelbgraue Rauch der Kamine, die von Aurach grausamerweise als „Ort seiner Bestimmung“ angesehen werden, greifen das Bild der rauchenden Kamine der Vernichtungslager von Auschwitz auf; einziger sicht- und spürbarer Hinweis auf die Shoah. Dass diese Lesart nicht nur legitim, sondern vom Autor geradezu erwünscht und eingefordert wird, ist spätestens gegen Ende der Erzählung überdeutlich, wo die tragischfatale Symbolträchtigkeit seiner Wohnstätte von Aurach selbst noch einmal aufgerufen und weiter ausgedeutet wird: Größer als in jeder anderen europäischen Stadt ist das ganze letzte Jahrhundert hindurch in Manchester der deutsche und der jüdische Einfluß gewesen, und so bin ich […] bei meiner Ankunft in Manchester gewis­sermaßen zu Hause angelangt, und mit jedem Jahr, das ich seither zugebracht habe zwischen den schwarzen Fassaden dieser Geburtsstätte unserer Industrie, ist es mir deutlicher geworden that I am here, as they used to say, to serve under the chimney. Weiter hatte Aurach nichts mehr gesagt … (287)

Den Texträumen sind die schwierigen Bedingungen merklich eingeschrieben, unter denen ‚wahrhafte Erinnerungen‘ nach Auschwitz überhaupt noch geborgen werden können. Während Hil­desheimer die literarische Darstellung dieser Brüchigkeiten mittels formaler Zäsuren, Parenthesen und Absätze allerdings stärker verfolgt, sind bei Sebald diese traumatischen ‚Einschriften‘ auf Ebene der Bildsprache angelegt. So ist auch in der eben zitierten Schlüsselpassage Sebalds Wille zur Verständlichkeit besonders zu spüren, der für die Lesbarkeit des Unlesbaren, für einen statischen Bezug zwischen Zeichen und Bezeichnetem sorgt, dem Leser keine Ausweichmöglichkeiten der Deutung mehr lässt. Der ‚Botschaft‘ wird hier durchaus den Vorzug gegeben gegenüber einer literarischen Vielschichtigkeit und Multivalenz, was eine Lektüre, die die spezifisch jüdischen Leid- und Exilerfahrungen der Protagonisten in den Blick nimmt, für das Textverständnis besonders zwingend erscheinen lässt.

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Die Verhülltheit und Unzugänglichkeit der Fundorte wird in Hildesheimers Tynset und Sebalds Die Ausgewanderten daher zugleich vorgeführt und in ihrer tieferen Bedeutungsschicht wieder frei­gelegt, sprich: lesbar gemacht. Dadurch wird die Monstrosität des Schreckens und das Nichtheimischsein in der Welt historisch „nach Auschwitz“ verortet. Insofern werden sowohl Tynset als auch Die Ausgewanderten zu Text-Stätten der Erinnerung. Im „heutigen Boden“ geben sie Auskunft über die Verfasstheit der ihnen inhärenten, fragmentarischen Erinnerungen. Die Funktion von Erzählungen als Stätten der Erinnerung sowie die Bedeutung des Buches als ältestem jüdischem Erinnerungsmedium hat insbesondere Edward Young in Auseinandersetzung mit Formen des Gedenkens an den Holocaust betont: Im Einklang mit der auf das Medium Buch konzentrierten, bilderstürmerischen Seite der jüdischen Tradi­tion, waren die ersten Holocaust-Denkmäler nicht aus Stein, Glas oder Stahl, sondern Erzählungen. Die Yizkor Bikher-Gedenkbücher erinnerten an das Leben und die Zerstörung jüdischer Gemeinschaften mittels dieses ältesten jüdischen Erinnerungsmediums: Worten auf Papier […] Die Verfasser der Schrift hofften, daß beim Lesen des Yizkor Bikher der Ort des Lesens sich in eine Gedenkstätte verwandle. Als Reaktion auf das Bedürfnis nach einer kathartischen Zeremonie, auf das sogenannte „Syndrom der fehlenden Gräber“ wurden von den Überlebenden zunächst innere Räume, imaginierte Grabstätten als Erinnerungsstätten ge­schaffen. 166

In diesem Sinne lassen sich Tynset und Die Ausgewanderten durchaus als Erinnerungsbücher bezeichnen. Dabei realisieren die verschiedenen poetischen Verfahren der Metaphorisierung, der Figurenkonstellationen und Erzählstrukturen die literarische Ordnung der beiden Werke so, dass diese zu einer Dokumentation über die Bedingungen des Erinnerns „nach Auschwitz“ werden. Vor dem Hintergrund von Benjamins Denkbild Ausgraben und Erzählen wird zudem verständlich, was zuvor schon im Kontext der Selwyn-Erzählung behauptet wurde, wenn Sebald das Freilegen von Schichten als das eigentliche literarische Verfahren bezeichnet: „Von den Schichten des schriftstellerischen Verfahrens ist dies [die Transformation der gefundenen Fragmente in Mementos] wohl die tiefste.“167 Gehen – Erzählen – Erinnern: Die Terminologie der „Zu-Gänglichkeit“ von Erinnerung168 ver­weist dabei buchstäblich auf ein Gehen, welches idealiter die in 166 James Edward Young, Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, (dt.) Wien 1997, S. 35. 167 W. G. Sebald, Das Geheimnis des rotbraunen Fells. Annäherungen an Bruce Chatwin aus Anlass von Nicholas Shakespeares Biographie, in: Literaturen 11 (2000), S. 74. 168 Zur Terminologie der Zu-Gänglichkeit, siehe: Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden, Frankfurt am Main 1997, S. 186.

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den Gedächtnisräumen vorhan­denen und in Bildern übertragenen Informationen abruft und rückübersetzt. Dass dieses ‚Gehen‘ und das daraus resultierende Erzählen in Tynset und in den Ausgewanderten dem Gegenstand ge­mäß ein beschwerlicher, unzugänglicher Vorgang ist und, siehe die zitierte Passage aus Tynset, eher aus einem Vorwärtstasten im Dunkeln besteht, ist offenbar. Dass dieser Gang, bei Sebald oftmals ein Wandern,169 neben seiner handlungstragenden Rolle aber auch Metho­dik meint, wird zudem deutlich, wenn man „Methode“ hier im wörtlichen Sinne als „gehen“ oder „einen Weg abschreiten“ auffasst.170 Auf diese Weise bedeutet etwa der regelmäßige, nächtliche Gang des Tynset-Erzählers durch sein Haus nicht nur bewusstes Erinnern, sondern dieser Gang wird vielmehr selbst zum Erinnerungs­bild für das tradierte mnemotechnische und hier scheiternde Verfahren der ‚ars memoria‘, der räumlich artifiziellen Organisation des Gedächtnisses, zum Zweck einer externen Materialisie­rung des Innerlichen. Erzählen wird also zum Erinnerungs-Weg, der auch in Max Aurach durch die einbrechende Dunkelheit beschwerlich wird. So lauten die Impressionen des IchErzählers auf dem Weg in das „um das sternförmige Gefängnis Strangeways herum gelegene vormalige Judenviertel“: Ich bin auf diesen Wanderungen, während der wirklich taghellen Stunden, in denen das Winterlicht die menschenleeren Straßen und Plätze durchflutete, immer wieder erschüttert gewesen von der Rückhaltlosig­keit, mit der die anthrazitfarbene Stadt, von der aus das Programm der Industrialisierung über die ganze Welt sich ausgebreitet hat, die Spuren ihrer augenscheinlich chronisch gewordenen Verarmung und Degra­diertheit dem Betrachter preisgab. Derartig verwaist und leer wirkten noch die kolossalsten Gebäude […] Und vollkommen irreal wurde mir alles, wenn in der Nachmittagsdämmerung, die an düsteren Dezem­bertagen um drei Uhr schon einsetzen konnte, die Stare […] in dunklen Wolken über die Stadt hereinbra­chen und […] dicht an dicht für die Nacht sich niederließen. (230ff.)

Ein Gang, den der Erzähler unternimmt, „um Gespräche zu führen mit dem Maler, der dort seit Ende der vierziger Jahre arbeitete, Tag für Tag zehn Stunden, den siebten Tag nicht ausgenom­men.“ (236) Anders als der göttliche Schöpfungsprozess kommt der des Menschen in seiner manischen Produktion von Aschengesichtern also niemals zu Ruhe. Diese Gespräche zwischen Aurach und dem Erzähler, zwischen dem Juden und dem Deutschen, kommen allerdings nur zögerlich in Gang. So stellt sich für 169 In seinem späteren Roman Die Ringe des Saturn hat Sebald dieses Wandern besonders deutlich zum poetischen Prinzip erhoben. 170 Methode, gr. Méthodos: „Der Weg auf ein Ziel hin, den Weg abschreiten“, bezeichnet allgemein „ein planvoll eingesetztes Mittel zur Realisierung eines Zieles bzw. eine systematisches Verfahren zur Lösung einer gestellten Aufgabe“. Siehe Metzler Lexikon 1998, S. 367f.

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den Erzähler erst mit einer gewissen Nachzeitigkeit ein wirklich tiefergehendes Interesse an der Lebensgeschichte Aurachs ein, als er Manchester und damit die Gesellschaft Aurachs längst schon wieder verlassen hat. Wie schon in der Geschichte von Paul Bereyter wird dieser verspätete Nachvollzug, wieder stellvertretend für den Leser, ausgelöst durch die „spärlichen Angaben“ eines Magazins, dem er die folgenden bio­graphischen Angaben zu Aurach entnimmt: Friedrich Maximilian Aurach […] war im Mai 1939, im Alter von fünfzehn Jahren, aus München, wo sein Vater eine Kunsthandlung geführt hatte, nach England gekommen. Weiter hieß es, die Eltern Aurachs, die die Ausreise aus Deutschland aus verschiedenen Gründen hinausgezögert hatten, seien im November 1941 mit einem der ersten Deportationszüge aus München nach Riga geschickt und in der dortigen Gegend er­mordet worden. (265f.)

„Unverzeihlich“, so daraufhin der Erzähler, „erschien es mir nun im Nachdenken, daß ich da­mals in Manchester entweder verabsäumt oder nicht fertiggebracht hatte, Aurach jene Fragen zu stellen, die er erwartet haben mußte von mir; und also fuhr ich zum erstenmal seit sehr langer Zeit wieder nach Manchester.“ (266). Diese Nachzeitigkeit, mit der die fragmentarische Speicherung von Erlebnissen einhergeht, ent­spricht mit Hildesheimer der dem „Bewusstsein hinterher­ hinkende[n] Erinnerung“.171 In der spekulati­ven Biographie, die sich mit Benjamins Formel einer Poetik des Eingedenkens am besten begrifflich fixieren lässt,172 171 Hildesheimer, Das Ende der Fiktionen, in: ders: Warum weinte Mozart? Reden aus fünfundzwanzig Jahren, Frankfurt am Main 1984, S. 243. 172 Walter Benjamin unterscheidet in seinem Erzähler-Essay zum Werk Nikolai Lesskows zwischen dem Angedenken als „toter Habe“ von Erinnerungen innerhalb des epischen Gedächtnisses und dem Eingedenken als produktivem Dokumentationsprozess, der die Erinnerungen als Stückwerk, als Scheitern am Daseinszusammenhang registriert: „Das erste [das epische Gedächtnis] ist dem einen Helden geweiht, der einen Irrfahrt […], das andere den vielen Begebenheiten. Es ist, mit anderen Worten, das Eingedenken, das als das Musische des Romans dem Gedächtnis, dem Musischen der Erzählung zur Seite tritt, nachdem sich mit dem Zerfall des Epos die Einheit ihres Ursprungs in der Erinnerung geschieden hatte“. Siehe: Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1937), in: Walter Benjamin. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Opitz, Frankfurt am Main 1996, S. 273. Zu Benjamins „Eingedenken“ siehe auch: Günter Blamberger, Melancholie und Subjektivität. Zur Poetik des Romans, in: Blamberger 1985, S. 38ff. sowie Stéphane Moses, der Benjamins historische Kategorie des Eingedenkens in Verbindung mit der jüdischen Variante des Zekher bringt: „Der Benjaminsche Begriff des ‚Eingedenkens‘ [nimmt] die jüdische Kategorie des Zekher auf, die nicht meint, daß Begebenheiten der Vergangenheit im Gedächtnis aufbewahrt werden, sondern die ihre Reaktualisierung in der gegenwärtigen Erfahrung bezeichnet.“ Stéphane Moses, Eingedenken und Jetztzeit – Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins, in: Memoria. Vergessen und Erinnern. (Poetik und Hermeneutik XV), hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, München 1993, S. 385–405, hier S. 392.

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findet diese Poetik ihren konsequenten formalästhetischen Ausdruck, und zwar sowohl in Hildesheimers als auch in Sebalds Prosa, indem in den jeweils erinnerten und erzählten Lebensgeschichten ein lediglich fragmentarischer Zugriff auf Erinnertes erfolgt, das eine eindeutige Referenz verweigert, so wie es anhand der Geschichten Selwyns und Bereyters bereits erörtert wurde. „Not to turn truth into fiction, but to turn fiction into truth“ – darin besteht laut Hildesheimer die Aufgabe des heutigen Schriftstellers. So ist sowohl für Hildesheimer als auch für den ihm poetologisch nahen Sebald das Arbeiten mit autornahen Ich-Erzählern, mit einer eigenwilligen, zur Perfektion gerierenden Mischung von Fakten und Fiktionen sowie die Form der spekulativen Biographie besonders charakteristisch.173 In der Geschichte Max Aurach wird dies nicht nur beson­ders deutlich, sondern als Verfahren auch explizit thematisiert. Der Erzähler bekommt schließlich den Nachlass Aurachs zuerkannt, der ihn gebeten hatte, seine Lebensgeschichte festzuhalten. Doch wie nicht anders zu erwarten, geht die Schreib-Arbeit nur mühsam voran. Auch die Erklärung lässt nicht lange auf sich warten: „… spürte ich doch in zunehmendem Maß, daß die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugrei­fen begann.“ (338) Das Schreib- und Erinnerungsverfahren des Erzählers nähert sich in seinem manischen Scheitern schließlich immer mehr dem künstlerischen Verfahren Aurachs und seinen Staub- und Kohleschwärzebildern an, unter dessen Schichten der kundige Leser eben noch ein weiteres Porträt zu erblicken meint: das des Malers, Autors und Kollagisten Hildesheimer und seines Tynset-Erzählers, dessen ‚Bild‘ in Max Aurach gewissermaßen reaktualisiert wird: Dieser Skrupulantismus bezog sich sowohl auf den Gegenstand meiner Erzählung, dem ich, wie ich es auch anstellte, nicht gerecht zu werden glaubte, als auch auf die Fragwürdigkeit der Schriftstellerei überhaupt. Hunderte von Seiten hatte ich bedeckt mit meinem Bleistift- und Kugelschreibergekritzel. Weitaus das meiste davon war durchgestrichen, verworfen oder bis zur Unleserlichkeit mit Zusätzen überschmiert. (345)

Ähnlich und ebenfalls an Benjamins Erzähler-Aufsatz orientiert, argumentiert etwa auch Ben Hutchinson, wenn er sehr plausibel das Verhältnis von „Geschichtsschreibung“ und „Geschichtserzählung“ in Sebalds Prosa mit Benjamins Übergang von „betten“ zu „Einbettung“ erläutert, da Sebald „die Schichten der 173 Zu Hildesheimer siehe besonders seine fiktive Biographie Marbot, Frankfurt am Main 1981 und Mozart, Frankfurt am Main 1977 sowie die zu diesem Thema exemplarischen Aufsätze von Alexander von Bormann, Der Skandal einer perfekten Biographie, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, Heft 89/90. Wolfgang Hildesheimer, München 1986, S. 69–82 sowie Wolfgang Hildesheimer/Hanjo Kesting, „Mozart“ und „Marbot“ – Spiegelbücher? Ein Gespräch, in: Ebd., S. 83–89.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Vergangenheit nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch, durch die Struktur seiner Erzählweise“, so Hutchinson, wiedergibt: Denn die Sebald’sche Erzähltechnik beruht grundsätzlich auf einer Art kontinuierlicher Einbettung, beinahe ad absurdum möchte man sagen. Von der Perspektive des Erzählers gesehen wird eine Geschichte nach der anderen übereinandergelagert, ein „langsames Einander-Überdecken“ in Benjamins Worten […] In Die Ausgewanderten oder Austerlitz werden die Geschichten der ausgewanderten Protagonisten oft durch mehrere Filter erzählt: Der Erzähler erzählt etwa die ihm von Mme Landau erzählte Geschichte des Lehrers Paul Bereyter […] Die Schichten der erzählten Geschichten sind also selbst gewissermaßen „ausgewandert“.174

Sebald mit Hildesheimer oder auch mit Benjamin zu lesen bedeutet, wie gezeigt, mehr als einem intertextuellen Verweis­spiel zu folgen. Mit Sebalds poetischem Eingedenken an Hildesheimers Tynset und Amérys Wieviel Heimat braucht der Mensch? wird nicht nur ein deutsch-jüdischer Stimmraum aufgerufen, die Ausgewanderten tragen auch klar und deutlich die Signatur „nach Auschwitz“. Jüdischkeit als Text wird in den Ausgewanderten also vor allen Dingen durch eine zentrale Schreibfigur erzeugt, die sich, gegenläufig zu Schindels Gebürtig, als Heimats-Heimatlosigkeit beschreiben lässt, die als eine explizit jüdische Erfahrung historisch begründet wird. Sebalds Buch fungiert da­bei im oben erläuterten Sinne als eine Stätte der Erinnerung an die deutsch-jüdische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Gerade dieser Sachverhalt aber wirft anstatt eines einfachen Fazits zwei schwierige Fragen auf, die das Verhältnis Sebalds zu seinen jüdischen Figuren betrifft: Erstens, um was für ein Verhältnis handelt es sich hier eigentlich? Ist das jüdische Gegenüber für den Erzähler überhaupt ‚der Andere‘? Und zweitens: Wie verträgt sich die schöne Melancholie, die ‚Traurigkeit ohne Grund‘ des autornahen Ichs mit der Trauer, von der seine jüdischen Figuren geradezu aufgezehrt werden? Inwiefern erscheint also die Sebaldsche Melancholie in ihrer sprachlich-stilistischen Schönheit als Schreibfigur im Kontext der deutsch-jüdischen Katastrophe überhaupt angemessen? Und ist eine solche Frage selbst überhaupt angemessen?

174 Ben Hutchinson, „Seemann“ oder „Ackermann“? Einige Überlegungen zu Sebalds Lektüre von Walter Benjamins Essay „Der Erzähler“, in: W. G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing, ed. by Gerhard Fischer, Amsterdam, New York 2009, S. 277–296, hier S. 284. Ausführlicher zu Sebalds Erzähltechnik siehe auch Hutchinsons Monographie: W. G. Sebald – die dialektische Imagination, Berlin 2009.

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2.2.3. Das jüdische Gegenüber. Der Andere?

Die Heimat-Heimatlosigkeit der jüdischen Figuren wird, wie bei Paul Bereyter, insbesondere in der schmerzlichen Distanznähe, in der Hassliebe zu ihrer nichtjüdischen Umgebung deutlich, die sich mitunter, wie bei Henry Selwyn und Cosmo Solomon, in einer Weltflucht bzw. bei Max Aurach in der tragischen Affirmation des als jüdisch verstandenen Schicksals (hier in Form einer langsamen Selbstzerstörung „under the chimney“) äußert. Wie viel Nähe vertragen diese Figuren in der Berührung mit und in Momenten des Brückenschlags zu anderen Zeitgenossen und ihren Lebensgeschichten? Dies ist ein sensibler Punkt, der dem Autor Sebald selbstredend bewusst war. Falsche bzw. eine billige Identifikation zwischen dem Ich-Erzähler und seinem jüdischen Gegenüber wird auch gar nicht erst angestrebt. Die Distanz wird im Gegenteil durchweg betont. Indem etwa die blin­den Flecken in der Wahrnehmung jüdischen Schicksals seitens der Zeitgenossen Sebalds in den Geschichten als die des Erzählers selbst erscheinen, der nur langsam und, wie er selbst mit Blick auf Paul Bereyter sagt, „viel zu spät“, eine Annäherung in Form von Gesprächen und Nachfor­schungen versucht. Auch versäumt er es, Max Aurach die naheliegenden Fragen zu stellen, und Selwyns Selbstmord hatte er über geraume Zeit erst einmal wieder aus seinem Bewusstsein ver­bannt, bis jeweils ein aktueller Auslöser ihn dazu bringt, sich der Person und seiner Leidensge­schichte wieder anzunähern. Über weite Strecken wird das jüdische Gegenüber als der historisch zum ‚Anderen‘ Gewordene also anerkannt, und zwar gerade durch die Differenz, die zur Erzäh­lerfigur besteht und die nicht negiert oder gar geleugnet wird. Dennoch sind diese Distanzierungsstrategien, die Sebald in Bezug auf seinen Ich-Erzähler an­wendet, zweiseitig wirksam. Denn ebenso fremd erscheinen dem Wahlexilanten seine Landsleute, die immer wieder als ‚die Deutschen‘ bezeichnet werden. Zwei kurze Passagen aus der Ge­schichte Max Aurach seien zur Verdeutlichung noch einmal genannt: Obgleich ich während meines mehrtägigen Aufenthalts in Kissingen […] zur Genüge beschäftigt gewesen bin mit meinen Nachforschungen und meiner wie immer nur mühevoll vorangehenden Schreibarbeit, spürte ich doch in zunehmendem Maß, daß die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinne­rungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven an­zugreifen begann. (337f.) [Hervorhebung, A.H.]

Und auf dem jüdischen Friedhof, auf dem symbolträchtigerweise keiner der ihm von der Aufsicht ausgehändigten Schlüssel ins Schloss passt, beim Entziffern dessen, was „an Namen noch lesbar“ war:

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Hamburger, Kissinger, Wertheimer, Friedländer, Arnsberg, Frank, Auerbach, Grunwald, Leuthold, Seelig­mann, Hertz, Goldstaub, Baumblatt und Blumenthal – das gab mir den Gedanken ein, daß die Deutschen den Juden vielleicht nichts so mißgönnt haben als ihre schönen, mit dem Land und der Sprache, in der sie leb­ten, so sehr verbundenen Namen. (335) [Hervorhebung A.H.]

Wie anders, nämlich um vieles eindringlicher, würden sich diese Sätze lesen, hätte Sebald sie sei­nem Ich-Erzähler in Form eines „wir Deutschen“ bzw. oben als ein „von uns Deutschen“ in den Mund gelegt: „das gab mir den Gedanken ein, daß wir Deutschen den Juden vielleicht nichts so mißgönnt haben als ihre schönen, mit dem Land und der Sprache, in der sie lebten, so sehr ver­bundenen Namen …“ Was Sebald zwischen seinem Ich-Erzähler und seinen jüdischen Figuren hingegen etabliert, ist gewissermaßen eine Art Wahlverwandtschaft, die ebenso wie das Wahlexilantentum des Ichs die Dichotomie zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ für die eigene Person, wenn auch nicht aufhebt so doch aufweicht, wodurch, so scheint es, die Gespräche, für die ein gewisses Zutrauen zwischen den Gesprächspartnern die Basis bildet, erst ermöglicht werden. So kommt etwa das „Geständnis“ Henry Selwyns nur dadurch zustande, dass er den Erzähler fragt, ob dieser denn nie Heimweh verspüre. Kann es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch, das im Sinne Gershom Scholems diesen Namen auch verdienen würde, und wie es hier im Raum des Fiktionalen zwischen Ich-Erzähler und seinem jüdischen Gegenüber exemplarisch vorgeführt wird, nur dann geben, wenn die Deutschen sich selbst nicht mehr zu ‚den Deutschen‘ zählen? Sebald selbst hat sich einst mit seiner harschen Kritik an den Werken Alfred Anderschs, denen seines Erachtens anzumerken sei, weswegen moralische Belastetheit keine gute Literatur hervor­bringen könne, sowohl vehementen Unmut zugezogen als auch eine spannende Diskussion aus­gelöst. Läuft aber umgekehrt die Betonung der Distanz zu jener Generation ‚der Deutschen‘ und das Wissen um die eigene Unversehrtheit nicht Gefahr, einen selbstgefälligen literarischen Ton zu produzieren, der – im Kontext der deutsch-jüdischen Katastrophe gelesen – nicht wirklich überzeugt? Wer ist es also, der da spricht? Jemand, der den Schmerz der Schuld oder Mitschuld nicht nachvollziehen muss oder kann, daher die Einfühlung in die Opfer fordert, ein Involviert­sein in das Kollektiv der Täternachkommen, von dem er ja ausgeht, dabei aber weitestgehend umgeht? Kann er seine Leser mit einer solchen Form der Erinnerungsliteratur überhaupt erreichen? Das Wissen um die unaufhebbare Differenz zwischen deutschem und jüdischem Schicksal und zugleich der Versuch, diese Differenz sowohl zu bewahren als sie dennoch – zumindest für die eigene Person – aufzuweichen, macht wohl die Zwiespältigkeit und zugleich das Faszinosum der Erzählperspektive in Die Ausgewanderten aus.

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Im Erinnern und Aufzeigen jener Leerstelle Jüdischkeit, die aus der deutschen Geschichte resultiert, und zwar in einem literarischen Raum, der seit 1945 bis weit in die Gegenwart hinein seine jüdischen Figuren überwiegend mythologisiert, funktionalisiert oder in ihrer Jüdischkeit gar ausgeblendet hat, liegt sicherlich der unbenommen große Verdienst der Sebaldschen Geschichten. Was aber passiert, wenn dem Schmerz der Leerstelle die schöne Melancholie als Schreibfigur zur Seite gestellt wird? 2.2.4. Untröstlichkeit ohne Trauer? Sebalds „terra incognita“

Unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren gilt Sebald unumstritten als der Melancholiker schlechthin. Und das zu Recht, zumal der Autor nicht nur eines seiner Haupt­werke Die Ringe des Saturn genannt, sondern auch sich selbst und sein Schreiben unter dem Zeichen des Saturns, dem für den Melancholiker zuständigen Planeten, verordnet hat. In seinem literarischen Debüt, dem Prosagedicht Nach der Natur. Ein Elementargedicht heißt es programmatisch: Als ich am Christi Himmelfahrtstag des Vierundvierzigerjahrs auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle an unserem Haus vorbei in die blühenden Maifelder hinaus. Die Mutter nahm dies zunächst für ein gutes Zeichen, nicht ahnend, daß der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug.175

Sebalds Einschreibung in die literarische Tradition der Melancholie unter dem Zeichen des Saturns sei, so Sigrid Löffler, als „eine hochgemute Demutsgeste, ein Akt der literarischen Selbstnobilitierung durch ostentative Selbstoffenbarung“ zu verstehen.176 Und in der Tat, nicht erst seit der Renaissance, der man die Renobilitierung des melancholischen Künstler-Ingeniums in der Neuzeit verdankt, sondern seit jeher sind die Melancholiker als subversive Kritiker bestehender Ordnungen gezeichnet und ausgezeichnet zugleich. „Geschlagen“, so noch einmal Löffler, „mit der ‚Traurigkeit ohne Ursache‘ sind sie es, die über­empfindlichen 175 W. G. Sebald, Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Nördlingen 1988, S. 76. 176 Löffler, in: Arnold 2003, S. 103–111, hier S. 103.

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Trübsalbläser, die sich an den Schrecken der Welt unentwegt imaginativ anstecken, um ihr Leid in der Kunst produktiv zu machen“.177 Hat Sebald sich also vom Schrecken der von den Deutschen an den Juden verübten Verbrechen „imaginativ anstecken“ lassen, um deren Leid in der Kunst produktiv zu machen? „Seine untröstliche Spurensuche im Staub und in den Ruinen der Vergangenheit“, so resümiert Löffler weiter, „verweist auf all das Vernichtete, Verschüttete und Vergessene, das im Schatten des Aufschwungs zu verschwinden drohte, den Nachkriegsdeutschland erlebte“.178 Und: „Alle seine Bücher sind auch untröstliche Klagen über das Verschwinden, sind Rettungsarbeiten am Versunkenen.“179 Löfflers Einschätzung der Sebaldschen Poetik als einer „Rettungsarbeit am Versunkenen“ bestätigt nur, was die vorangegangenen Erörterungen gezeigt haben. So untröstlich jedoch insbesondere die jüdischen Figuren in den Ausgewanderten gezeichnet wer­den, so tröstlich erscheint dem Leser im Kontrast dazu die Melancholie des Ich-Erzählers zu sein, insbesondere, wenn er sich, wie gezeigt, der Betrachtung und Schilderung der Dingwelt zu­wendet. Susan Sontag zufolge verlaufen die „tiefen Transaktionen zwischen dem Melancholiker und der Welt immer über die Dinge“: Eben weil der melancholische Charakter vom Tod verfolgt und heimgesucht wird, deshalb wissen die Melancholiker am besten die Welt zu lesen. Vielmehr: die Welt gibt sich der Erforschung durch den Melan­choliker bereitwilliger hin als durch sonstwen.180

Und weiter mit Blick auf den Melancholiker Walter Benjamin heißt es: Das Kennzeichen des saturnischen Temperaments ist das verspannte und unerbittliche Verhältnis zum ei­genen Ich, das niemals als selbstverständlich hingenommen werden kann. Das Ich ist ein Text – man muß ihn entziffern. (Daher ist es das passende Temperament für Intellektuelle).181

Der Lektürevorgang, das Verfahren des Entzifferns, ist folglich ein wesentlicher Teil jener ‚Bergungsarbeit‘ am Versunkenen. Allein darin liegt schon der Trost für Leser und Ich-Erzähler begründet. Ein Trost, der seinen jüdischen Figuren verwehrt bleibt, die ihr Ich keinesfalls gleich einem Text entziffern können. Nur für sie ist jene „Untröstlichkeit“, die Löffler hier in kurzen Abständen gleich zweimal zur Sprache bringt und die in der Forschung zu einem zentralen Begriff der Beschreibung von Sebalds Prosa avanciert ist, im Grunde wirklich in Anspruch zu 177 Ebd., S. 104. 178 Ebd., S. 106. 179 Ebd., S. 110. 180 Susan Sontag, Under the Sign of Saturn, New York 1980, S. 117. 181 Ebd.

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nehmen. Wo aber bleibt in der ganzen Rede von der Untröstlichkeit eigentlich die Trauer? Oder anders gefragt: Kann es Untröstlichkeit ohne Traurigkeit überhaupt geben? Ist der einsame, der „untröstlich klagende“ Wanderer zwischen den Welten und Ruinen182 nicht eine Inszenierung? Trauer und Melancholie sind, spätestens seit Freud, nicht dasselbe. Sie sind vielmehr die gesunde respektive die pathologische Reaktion auf den Verlust eines Objekts, wobei mit „Objekt“ auch eine so persönliche Bezugsgröße wie die geliebte Person oder „eine an ihre Stelle gerückte Abstraktion“ wie das Vaterland gemeint sein kann.183 Während sich der Trauernde seines Verlustes stets bewusst ist, durch „Trauerarbeit“184 nach und nach seine Bindungen an das verlorene Objekt löst und schließlich frei wird für eine neue Bindung, bleibt der Objektverlust dem melancholischen Bewusstsein stets entzogen. Daher spricht man bei der Melancholie auch gemeinhin von der ‚Traurigkeit ohne Grund‘. Der Melancholiker ist in seinem Begehren wie in seinem Schmerz also niemals frei. Vielmehr kommt es zu jener, bereits in Bezug auf die Figur Henry Selwyn erörterten „Introjektion“ des Ichs, da der Melancholiker ein Teil des verlorenen Objekts mit sich selbst identifiziert und somit immer an das narzisstisch in sich selbst hinein verlagerte, verlorene Objekt gebunden bleibt. Wer also melancholisch ist, der trauert nicht, oder vielmehr: er hat mit der Trauerarbeit nie beginnen können. Folgt man dieser Lesart, so handelt es sich bei Sebalds Erzähler-Ich also keinesfalls um den untröstlichen Wanderer, für den er so oft gehalten wird, sondern um einen, der im Sinne Sontags die Unlesbarkeit von Welt in besonderem Maße zu lesen versteht und der sich im Sinne Löfflers imaginativ, das heißt künstlerisch produktiv, vom Schrecken der Welt anstecken lässt. Hierin liegt der eigentliche Unterschied zwischen der Erzählerfigur und den jüdischen Figuren begründet, denn den Juden ist die Ursache ihres Leidens, ihr sogenannter Objekt-Verlust ja stets bewusst: Bei Selwyn der frühe Verlust seiner Heimat und der „Ausverkauf“ seiner Seele durch Konvertierung und Namenswechsel, bei Bereyter die Aberkennung seiner Zugehörigkeit durch die Nationalsozialisten und die Bewohner von S., bei Cosmo die Erfahrung der an den Juden begangenen Verbrechen, bei Aurach die Deportation seiner Eltern. Ein bis an die Integrität der Persönlichkeit rührendes Trauma der Gewalterfahrung also, das die Personen jenseits von Trost sich wiederfinden lässt – der Kontrast zu jenem Akt der Selbstnobilitierung, die sich Sebald durch seinen melancholischen Ich-Erzähler angedeihen lässt, wird hier besonders deutlich. Vielleicht liegt darin auch der 182 Zu den Topographien und Raumfigurationen siehe auch: Anja K. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der deutschen Gegenwartsliteratur. W. G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008. 183 Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud, u. a. Band 10, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1973, S. 427–446, besonders S. 429–432. 184 Ebd., S. 431.

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tiefere Sinn begründet, weswegen dem einen oder anderen Kritiker der manierierte Stil oder der biedermeierliche Ton der Sebaldschen Prosa so missfällt. Es bleibt zu erörtern, ob diese spezifische Form der Differenz, die Sebald zwischen seinem Erzähler und seinen jüdischen Figuren etabliert, nun eigentlich eine bewusste oder eine uneingestandene ist. Es ließe sich ganz grundsätzlich einwenden, dass nur der, der trauert, letztendlich auch getröstet werden kann, weswegen der melancholische Zustand doch gerade der untröstliche ist. Stimmt das? Oder liegt nicht in der Abwendung von der Trauer und in der Hinwendung zur schönen Melancholie der Trost schon begründet? Wie also verhält es sich mit jener ‚Traurigkeit ohne Grund‘ des Ich-Erzählers in Bezug auf die deutsch-jüdische Katastrophe? Vielleicht kann man diesen Fragen auf die Spur kommen, wenn man sich mit dem be­schäftigt, worüber Sebald eben nicht geschrieben hat. „Erinnern, wiederholen, durcharbeiten“ – so lautet Freuds Formel zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen.185 „Was derart wiedergeholt werden muss“, so Christian Schulte, „ist zuvor vergessen worden, das Geschehene wurde verdrängt und mit einem Ausdruckstabu belegt“: Ein solches Tabu lag wie eine kollektiv-unbewusste Verabredung in den Jahren des Wiederaufbaus ebenso über den Verbrechen des Nationalsozialismus wie über den Erschütterungen der Bombennächte. Neutrali­sierende Mythologeme wie die von der „Stunde Null“ oder des „Zusammenbruchs“ hatten dazu beigetra­gen, einen Schlussstrich zu ziehen und das kollektive Bewußtsein auf die Zukunft einzuschwören.186

Als Resultat jenes „Ausdruckstabus“ erklärten Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrer populären Studie Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens von 1967 die Melan­cholie zum gesellschaftlichen Phänomen der Nachkriegszeit, dem durch die enormen Anstren­gungen des Wiederaufbaus und einer ins Manische gesteigerten Produktivität begegnet werden musste.187 Die Deutschen, so die Mitscherlichs, seien in ihrer Mehrheit deswegen unfähig zu trauern, weil der Verlust des Führers, der hier gleichgesetzt wird mit der psychoanalytischen Instanz des Über-Ichs, dem freudschen Ich-Ideal, aufgrund der Schuld belasteten Tabuisierung nie offiziell hätte betrauert werden dürfen, was eine Herabsetzung, eine Verarmung des Ichs bei der Bevölkerungsmehrheit zufolge gehabt hätte. Dadurch, dass alle Bindungen, alle Erinnerungen und Gespräche auf Basis jener „kollektiv-unbewussten Verabredung“ abrupt abgebrochen 185 Sigmund Freud, Studienausgabe. Ergänzungsband, Frankfurt am Main 1975, S. 207–215. 186 Christian Schulte, Die Naturgeschichte der Zerstörung. W. G. Sebalds Thesen zu „Luftkrieg und Literatur“, in: Arnold 2003, S. 82–94, hier S. 82. 187 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, erw. und überarb. Neuaufl., München 1977.

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wur­den, konnte keine Trauerarbeit in Bezug auf die Opfer der Nationalsozialisten wie auch hinsicht­lich der Opfer der Bombennächte geleistet werden. Die Vergangenheit wurde vielmehr derealisiert. „Diese gewaltige psychische Anstrengung“, schreibt Günter Blamberger, „bedinge den sozialen und politischen Inmobilismus der Nachkriegsgesellschaft, erspare ihr aber die Melancholie“.188 Wobei Blamberger in seiner Kritik der empirisch unzureichend abgesicherten und vom Bereich der In­dividualpsychologie auf gesellschaftliche Phänomene fragwürdig übertragenen Thesen Mitscher­lichs zu Recht darauf hinweist, dass Melancholie eben stets eine individuelle und keine kollektive Befindlichkeitslage sei. Sebalds Poetik setzt genau hier an, indem er die Aufgabe der Schriftsteller wie der Historiker darin begründet sieht, das aus dem Bewusstsein Verdrängte im Freudschen Sinne zu ‚wiederholen‘. In diesem Sinne sei Melancholie, die das Unglück beschreibe, so Sebald, tatsächlich auch eine politische Angelegenheit, indem sie Widerstand gegen das kollektive Verdrängen leiste: „Melancholie, das Überdenken des sich vollziehenden Unglücks, hat […] mit Todes­sucht nichts gemein. Sie ist eine Form des Widerstands. […] Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein.“189 Sebald bezieht sich zudem ausdrücklich auf die Thesen der Mitscherlichs, wenn er, so Gerhard Fischer, von einer „Derealisierung“ der Vergangenheit spricht: „Die Unfähigkeit zu trauern, in einem Akt der kollektiven wie individuellen, öffentlichen wie privaten Erinnerung an die Verluste […], d. h. die vertane Chance, so etwas wie aktive Erinnerungs- und Trauerarbeit zu leisten, hat Sebald zufolge zu einer Derealisieung der Vergangenheit geführt, die auf alle Gruppen der Gesellschaft, Politiker und Kunstschaffende eingeschlossen, zutrifft.“190 In seinem Essay Luftkrieg und Literatur, den Sebald 1997 thesenartig an der Universität Zürich vortrug, beschreibt er zudem den blinden Fleck, der der Beschreibung als Unglück bedürfe, genauer: Der Luftkrieg der Alliierten und deren Folgen sei, so seine Argumentation, „nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden“. Und dies „vor allem wohl deshalb nicht, weil ein Volk, das Millionen von Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlangen konnte über die militärische Logik, die die Zerstörung der deutschen Städte diktierte.“191 Und weiter heißt es: Die in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion ist in die Annalen der neu sich konstituie­renden Nation nur in Form vager Verallgemeinerungen eingegangen, scheint 188 Blamberger 1985, S. 54. 189 W. G. Sebald, Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Salzburg, Wien 1985, S. 12. 190 Gerhard Fischer, Schreiben ex patria: W. G. Sebald und die Konstruktion einer literarischen Identität, in: Fischer 2009, S. 27–44, hier S. S. 40. 191 W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München/Wien 1999, S. 22.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

kaum eine Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Bewußtsein, ist aus der retrospektiven Selbsterfahrung der Betroffenen weitgehend ausgeschlossen geblieben, hat in den sich entwickelnden Diskussionen um die innere Verfas­sung unseres Landes nie eine nennenswerte Rolle gespielt, ist nie, wie Alexander Kluge später konstatierte, zu einer öffentlich lesbaren Chiffre geworden – ein durchaus paradoxer Sachverhalt, wenn man bedenkt, wie viele Menschen dieser Kampagne Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr ausgesetzt waren und wie lange sie, bis weit in die Nachkriegszeit hinein, konfrontiert geblieben sind mit ihren realen, jedes posi­tive Lebensgefühl […] erstickenden Folgen.192

Das Ereignis und seine Folgen der nachträglichen Selbsterfahrung zugänglich zu machen, dies sei, laut Sebald, vor allem Aufgabe der Historiker und Schriftsteller gewesen, die in diesem Punkt jedoch bis auf wenige Ausnahmen, versagt hätten.193 Sebalds provokanten Thesen, die, so Ingo Wintermayer, aus der Retrospektive mitunter wie ein „Wetterleuchten“ anmuten,194 ist eine sehr fruchtbare Debatte zu verdanken, in dessen Verlauf die Forschung vor allen Dingen eine eigene Art von ‚Bergungsarbeit‘ leistete, indem sie eine Reihe von Ausnahmen aus der literarischen Versenkung holte und neben die Werke des von Sebald selbst bereits erwähnten Alexander Kluge stellte (etwa dessen exzeptionelle Kollage Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945).195 Die Trümmer, unter denen die Deutschen lebten und aus denen sie (in erstaunlich kurzer Zeit) ein neues Gemeinwesen aufbauten, sind Sebald zufolge die „terra incognita des Krieges“ 196 geblie­ben, eine der Trauerarbeit unzugängliche Region: „Nicht als das grauenvolle Ende einer kollektiven Aberration erscheint also diese totale Zerstörung, sondern, sozusagen, als die erste Stufe des erfolgreichen Wiederaufbaus“, der „einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam“.197 Die beiden geschichtlichen Extremereignisse der Shoah und der Bombennächte werden also ge­koppelt und zu einem ‚deutschen Tabu‘ zusammengedacht. Sebald, der, 1944 geboren, als Kind selbst unter dem sich tief einprägenden Ein-

192 Ebd., S. 12. 193 Ebd., S. 6. 194 Ingo Wintermeyer, „…kaum eine Schmerzensspur hinterlassen…?“ Luftkrieg, Literatur und der „cordon sanitaire“, in: Martin, Wintermeyer 2007, S. 137–162, hier S. 140. 195 Alexander Kluges Collage Der Luftangriff auf Halberstadt findet sich in: Alexander Kluge, Neue Geschichten. Hefte 1–18, „Unheimlichkeit der Zeit“, Frankfurt am Main 1977. Auch Kluges jüngstes Werk Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt am Main 2007, widmet sich diesem Thema. 196 Sebald 1999, S. 41. 197 Ebd., S. 14.

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druck der zerstörten Städte stand, beklagt diese feh­lende „Schmerzenspur“ im öffentlichen Bewusstsein in seinen Thesen, ohne sie jedoch selbst literarisch zu thematisieren. Ob sein plötzlicher Unfalltod ein solches Vorhaben verhindert hat, oder ob ihm dieses „Ausdruckstabu“ vielleicht zu nahe stand, um poetisch bearbeitet zu werden, darüber ließe sich nur spekulieren. Aber das Nichtgeschriebene wirkt sich als anwesende abwe­sende Leerstelle des Schmerzes auch auf die geschriebenen Texte aus. In den Ausgewanderten etwa wird der prägende Anblick der Zerstörung deutscher Städte nur einmal in einem Nebensatz erwähnt: „… denn nichts war für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden wie Schutthalden, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft sehen konnte.“ (46) Die zerstörten deutschen Städte bleiben im Grunde Sebalds wahre „terra incognita“, während sein einsamer Wanderer andere Ruinen durchstreift, Rettungsarbeiten am Versunkenen unter­nehmend. Er wendet sich also von dem einen, ihm biographisch näherstehenden ‚deutschen Trauma‘ ab und dem ‚anderen‘ zu. Handelt es sich hierbei um eine Ersatz-Trauerarbeit? Wäre dem so, würde dies erklären, warum in den Ausgewanderten zumindest auf formalästhetischer Ebene alles immer so aufgeht, sich nichts der Kontrolle des Ich-Erzählers entzieht. So passen die Obsessionen der Figuren immer exakt zu dem erlittenen Verlust: Paul Bereyters Eisenbahnen etwa, die in den Tod führen und bei denen er ‚endet‘. Sowohl seine Lebensgefährtin als auch sein Onkel machen explizit diese Ausdeutung, damit im Hinblick auf dieses Referenzsystem auch kei­nerlei Zweifel aufkommen. Die Pferde bei Henry Selwyn, von denen er eines nach sich selbst, nämlich nach seinem abgelegten jüdischen Namen benennt, und Aurachs Aschebilder, die er manisch produziert umgeben von Kaminen und Schloten, die für Auschwitz stehen – das Trauma, auf das sie so ‚zielsicher‘ verweisen, bleibt unbewältigbar, aber der Erzähler vermag das Unglück zu beschreiben. Denn für Sebald schließt „die Beschreibung des Unglücks […] in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein“. Selten liest man in der Gegenwartsliteratur solch schöne „Beschreibungen des Unglücks“. So ist es gerade die Schönheit der lang ausgreifenden Sätze, das euphorische Hineinsteigern in das Detail, das den Leser so unvergleichlich in seinen Bahn zieht und berührt, wie es ihn in Bezug auf die Untröstlichkeit, den Schmerz der jüdischen Figuren mitunter auch provozieren und latent verstören muss. Im Kontext des Themas Jüdischkeit als Text bleibt daher die Frage durchaus bestehen: Ist die Schönheit der Sebaldschen Prosa trotz der erinnerungsstiftenden Resonanz nicht auch eine literarische Form von Anästhesie?

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

2. 3. Kain und Abels Erben – Katharina Hackers „Eine Art Liebe“ Jude zu sein bedeute[t], von Generation zu Generation eine Geschichte weiter­zuerzählen, deren Umrisse im Ungewissen zerfließen. (Saul Friedländer)

Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe aus dem Jahr 2003198 beginnt mit einem Bild. Das Buchco­ver zeigt dem Leser einen Abdruck von Kain und Abel, ein Deckengemälde Tizians, das in der Kirche Santa Maria della Salute in Venedig im Original zu besichtigen ist. Diesen Ort sucht auch Jean, einer der beiden Protagonisten im Roman auf. Die unvermittelte Konfrontation mit Tizians Kain und Abel wird ihm dabei zur Offenbarung: Schon im Gehen, hob er erwartungslos den Kopf zur Decke. Der Effekt war so täuschend, daß Jean sich unwillkürlich duckte. Der kompakte muskulöse Körper stürzte auf ihn herab, bevor er ihn erkannte, aus einer Kopfwunde, be­wußtlos oder schon tot, tot wie die Erde, wie nur tot sein konnte, was erschlagen war, ein Mensch, von ei­nem anderen umgebracht. Abel stürzte herab. Kain hielt noch in den hochgerissenen Händen das Holz, mit dem er seinen Bruder erschlagen hatte, hob den Fuß, um ihn – als sei ein Tod nicht genug – hinunterzustürzen in den Abgrund. Mit aufgerissenen Augen stürzte der Tote durch den leeren, stummen Raum. Wo ist dein Bruder Abel? […] Kain aber schwieg. Zwei stumme Körper, der eine lebend, der andere tot, ein leerer Raum, der Tote stürzte, wer unten stand, hinaufschaute, würde ihn nicht auffangen. Bin ich meines Bruders Hüter? Der Himmel hatte sich verfinstert, und Gott war nicht zu sehen. Eine wütende Landschaft, schroffe Felsen, darüber der Himmel ebenso wüst, das war alles. Zwei Körper, sah Jean jetzt, die ununterscheidbar waren. Bis der eine das Stück Holz – fast einen Pfahl – gegriffen hatte, um den anderen zu erschlagen, waren sie einander gleich gewesen. Des einen Entscheidung hatte sie getrennt, der Maler sie in ihrer Ähnlichkeit ge­malt, Brüder oder mehr als Brüder, fast noch eins, während sie sich schon voneinander endgültig entfernten in dem lautlosen Sturz. Gott war vom Maler, willentlich oder nicht, aus seiner Darstellung verbannt wor­den. (223f.)

Opfer und Täter werden durch die Tat des einen nicht nur auf entgegengesetzten Seiten verortet, sondern jener Akt der Gewalt erzeugt laut Jeans Interpretation dieser biblischen Urszenerie erstmals eine Differenz überhaupt, die Spaltung dessen, was zuvor ununterscheidbar war. Das Kain-und-Abel-Bild wird in Hackers 198 Katharina Hacker, Eine Art Liebe, Frankfurt am Main 2003. Die Seitenangaben erscheinen jeweils in runden Klammern hinter dem Zitatende.

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Roman also in seiner ganzen Potentialität ausgereizt: Neben das Cover tritt in der Schlüsselszene des Romans die Bilddeutung, die rückwirkend jene Abbil­dung nicht nur als höchst symbolträchtig für das Verhältnis zwischen den Protagonisten, dem deutsch-französischen Mönch Jean Clement und dem deutschen, über Frankreich nach Israel emigrierten Juden Moses/Moshe Fein, ausweist. Der Bereich der indirekten Aussage, des Sym­bolischen, wird zudem insofern über- bzw. unterschritten, als dass dem Leser eine eindeutige Lesart dieser modernen Kainund-Abel-Geschichte, als die einer Freundschaft und eines Verrats zwischen Jean und Moshe, präsentiert wird: Jean hatte ihn [Moshe] am Arm gefaßt, durch die Kirche bis in die Sakristei gezogen und zur Decke gezeigt. Er grollte, als wollte ihm Jean etwas aufzwingen, ein Bild oder eine Erklärung; was wollte er sagen? Moshe sah Abraham, […] er sah Kain und Abel – es war das Bild, auf das Jean zeigte. Jetzt verstand er auch, was Jean gerade sagte: daß der Himmel genauso gemalt sei wie die Erde, daß die beiden Körper einander zum Verwechseln ähnelten. „Worüber redest du da?“ „Wir sind Kain und Abel.“ Moshe glaubte, nicht richtig verstanden zu haben, was Jean sagte, der sehr leise und schnell sprach, als müßte er die Zeit selbst überreden, in die Zukunft oder zurück die Vergangenheit, und Moshe begriff nur so viel, daß die Aufregung seines Freundes etwas bewirken wollte; er ärgerte sich. „Willst du mich über die Erbsünde belehren? Oder mich, nachdem du mich in Tournus freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht hast, daß ich Jude bin, fürs Christentum zurückgewinnen? Denn soweit ich weiß, habe ich niemanden erschlagen, und trotz aller Mühe, die man sich gegeben hat, bin ich auch nicht er­schlagen worden.“ Seine Stimme hatte die von Jean übertönt, der blaß geworden war und weitersprach oder eher flüsterte – […] Eigentlich heißt er Moses Fein, seine Eltern sind weggefahren, mit all ihren Koffern. Wieder hörte er laut und deut­lich seine eigene Stimme. Als Moses bewußtlos lag und er bei ihm wachte, sagte Madame Clemenceau es ihm: Man hatte in St. Croix nach Moses gesucht, wenige Tage nach dem Besuch von Jeans Eltern im Inter­nat. […] Moshe lehnte an der Mauer im Schatten, er sah müde aus. Als Jean ihn um Verzeihung bitten wollte, unterbrach er ihn. Er sei zu alt für Schuld und Buße, sein Name sei immer Moses Fein gewesen, auch ohne Jeans Zutun hätte er das früher oder später begriffen. (228f.)

Durch die Übertragung des urzeitlichen Bildes von Kain und Abel wird Jeans und Moshes Freundschaftsbeziehung zur Dichotomie umgedeutet, die aufgrund ihrer biblischen Referenz ( Jean als Kain und Moshe als Abel) eine gewisse überzeitliche Gültigkeit signalisiert und Moshe damit das Profil des ‚jüdischen Gegenübers‘ verleiht. Dass sein engster Freund, dem er sich eher symbio-

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tisch verbunden fühlt („Ich wurde sein Gesicht, er mein Rücken“ (186)) zu einem derartigen Unterscheidungsmythos greift, stellt für Moshe eine Provokation dar. Auch deu­tet er wiederum das Kain-und-Abel-Bild ganz anders. So schreibt Moshe an Jean: „Wenn ich an das Gemälde von Tizian denke, sehe ich die beiden kräftigen Körper und sehe, wie jung sie sind. Und ich beneide sie.“ (230f.) Wie unterschiedlich Juden und Nichtjuden ein und dasselbe Bild betrachten, wenn bei diesem Bild Szenen der Gewalt oder des Todes Gegenstand sind, ist auch Thema einer Dissertation aus den siebziger Jahren mit dem Titel Todeswahrnehmung bei Kindern in Israel und in der Schweiz, die in einer Studie Kindern aus beiden Ländern jeweils Bilder mit Todes- oder Gewaltsymbolik zeigt. Während die Schweizer Kinder die Bilder jeweils konkret zu­ordnen, den Friedhof etwa als Friedhof, sieht das israelische Kind im selben Bild einen Park. Dazu der Historiker Saul Friedländer, der diese Arbeit, ohne allerdings die Verfasserin aufzu­ schlüsseln, in seinen Memoiren Wenn die Erinnerung kommt, zitiert: „Wir Juden errichten Mauern um unsere quälendsten Erinnerungen und die furchterregendsten Perspektiven, sogar der detail­lierte Bericht dient manchmal nur der Verdunkelung.“ Während sowohl bei Schindel als auch bei Sebald die Geschichten überwiegend aus der Perspek­tive der Opfer und Opferkinder erzählt werden, handelt es sich bei Hackers Roman tatsächlich um eine stärkere Verzahnung der Opfer- und Täter-Perspektive. Diese Verschränkung ist dann auch Thema und zugleich der Ansatzpunkt, die Geschichte von Jean und Moshe aus der Per­spektive einer Nichtjüdin, der deutschen Studentin Sophie, die nach Israel geht und dort Moshe kennen lernt, überhaupt erzählbar zu machen. Gelingt es der Autorin Hacker nun, diese Ge­schichte, die laut Titel „eine Art Liebe“ beschreibt, zu erzählen? Es wird zu zeigen sein, um wessen Geschichte es sich dabei eigentlich handelt: ob um eine israelische, eine jüdische oder um eine deutsch-jüdische Geschichte. 2.3.1. Der Andere. Opfer-Täter-Dichotomie als Urtext

Der Historiker Moshe Zimmermann setzt sich in seinem Essay Täter-Opfer-Dichotomien als Identitätsformen mit den gesellschaftspolitischen Funktionalisierungen des Kain-und-Abel-Bildes als Grundlage von deutscher und jüdischer „Gegenwartsidentität“ auseinander: Die biblisch-mythologischen Figuren Kain und Abel sind von hohem Symbolwert und bestimmen im jü­disch-christlichen Kulturkreis durch ihre Übertragung auf gesellschaftliche Kollektive die Selbstdarstellung von Menschengruppen. Kain und Abel sind unabdingbar und instrumental geworden bei der Konstruktion des kollektiven Bewusstseins von Gruppen in allen Konflikten, die sich als Täter-Opfer-Relation beschrei­ben lassen. […] Im 20. Jahrhundert ist die Beziehung zwischen Deutschen und Juden zu einer der

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markan­testen Täter-Opfer-Dichotomien geworden, die sich mit den Figuren Kain und Abel beschreiben lassen. Auf der einen Seite steht der Idealtypus des Täters – der NSVerbrecher; auf der anderen Seite aber finden sich die absoluten Opfer – die der Vernichtung anheimgegebenen Juden.199

Gegenwartsidentität ist laut Zimmermann demnach ein Zustand, der „durch die Geschichte ak­tuell geworden ist“, wobei Geschichte hier verstanden wird als „Zeitgeschichte, die der Betrach­ter für aktuell hält.“200 Das Kain-und-Abel-Bild, das im Kontext der Shoah zur Selbstbeschreibung von Deutschen und Juden herangezogen wird, fungiert auf Ebene des kollektiven Gedächtnisses von Gruppen (hier der deutschen bzw. der jüdischen) demnach als eine Art „Urtext“, der als Paradigma für die Konstruktion von Gegenwartsidentität instrumentalisiert wird. Man könnte auch sagen: Dadurch, dass einem empirischen Ereignis wie der Shoah eine allgemeine kulturelle Bedeutung beigemessen wird, wird Identität auf der Ebene des kollektiven Bewusstseins von Gruppen mythologisiert, und zwar insbesondere im Hinblick auf Juden als „ewige Opfer“. Dazu noch einmal Zimmermann: Es hängt mit der semantisch mehrfach besetzten, metaphorischen Bedeutung des Begriffs des Opfers (hebr. korban) zusammen, daß sich sowohl im Judentum als auch in der westlichen, in ihrem Wesen nach christli­chen Welt diese Dichotomie im Hinblick auf Juden so tief verankern konnte. Opfer ist nicht nur einfach Objekt und Zielscheibe der Tätergewalt. Es ist mehr: Es ist eine Gabe an die Gottheit, an die Moral und ein Zeichen für moralische Überlegenheit. Daher darf es nicht verwundern, wenn die Aura der Opferexistenz eher als Auszeichnung gilt und zunächst weniger als Schwäche oder Makel gewertet wird. (202)

Die Eskalation der Opfer-Täter-Dichotomie in Auschwitz wird in diesem Sinne als Neuinterpre­tation, als Fortsetzung jener älteren, „ewigen“ kollektiven Dichotomie von Christen und Juden, von Gojim und Juden wahrgenommen. Der Auszug aus Ägypten habe, so Zimmermann, früh Eingang in die heiligen Schriften gefunden und konnte damit zum „Gründungsmythos“ des jüdi­schen Volkes werden.201 Seitdem wurde die gesamte jüdische Geschichte als Verfolgungsgeschichte gelesen. In Akzentuierung von Knechtschaft und Befreiung wurde, so Zimmermann weiter, der Grundstein für die dichotomische, manichäistische Weltvorstellung im Judentum gelegt: Wir sind die Opfer, die Gojim die Täter. Nach der 199 Moshe Zimmermann, Täter-Opfer-Dichotomien als Identitätsformen, in: Jarausch, Sabrow 2002, S. 199. 200 Ebd., S. 200. Siehe auch Peter Burkes umstrittene, aber spannende These, mit der er versucht, Gesellschaften ein unterschiedliches Gedächtnis nachzuweisen. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne, Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 289–304. 201 Zimmermann, in: Jarausch, Sabrow 2002, S. 206.

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gleichen Struktur vollzieht sich die Inanspruchnahme der Kain-und-Abel-Geschichte, indem durch die Auslegung der heiligen Überlieferung die Juden zu den Erben Abels erklärt werden. Man könnte hier auf den bemerkenswerten Umstand verweisen, dass Kain und Abel ja aus dem­selben Volk stammen. In Hackers Eine Art Liebe etwa schwingt diese Interpretation durchaus mit, wenn Jean beim Anblick von Tizians Gemälde erkennt, dass beide „Körper“ von ihrem Schöpfer ununterscheidbar gezeichnet sind und erst die Tat die Differenz erzeugt. Zimmermann referiert indirekt auf dasselbe Argument, wenn er konstatiert, dass das Opfer im Laufe der Geschichte durchaus zum Täter werden kann, und er dies kritisch an der Machtpolitik des Staates Israels auf­zeigt. Interessant ist, dass mit Zimmermann auch die Strategie der Deutschen, sich als Opfer zu fühlen, eine lange Tradition hat: Er verweist hier unter anderem auf die Nationalbewegung des neunzehnten Jahrhunderts, auf die Rhetorik der Politiker des Kaiserreichs mit ihren Vorstellungen von „Einkreisung“, „Erz-Feinden“, der „Dolchstoß-Legende“ und eben der antisemitischen Auffas­ sung von der „Verschwörung des Weltjudentums“. Das Problem von so „extrem traumatisierten Gesellschaften wie der deutschen und israelischen“ sei, so Zimmermann, dass die „Erinnerungs­arbeit“ stets einer „neurotische[n] Prägung durch die Vergangenheit“ zu unterliegen drohe.202 Mit dem Unterschied, dass Israel mit seiner offiziellen, öffentlichen Inanspruchnahme des Opferbegriffs die Last der Gegenwart auszugleichen und Deutschland die Last der Vergangenheit zu relativieren versuche. Zimmermann verweist in punkto Deutschland unter ande­rem auf Dresden und die Diskussion über die Bombennächte, von denen wiederum Sebald meinte, dass gerade dieses Ereignis im öffentlichen Gespräch immer noch ein Tabu darstelle. Andere, aktuelle Formen dieser Inanspruchnahme der Opferrolle auf Ebene der öffentlichen Rede und für das kollektive Bewusstsein des wiedervereinigten Deutschlands wurden hier schon am Beispiel der Walser-Bubis-Debatte sowie anhand der sogenannten Lite­raturdebatten erörtert. Wenn Zimmermann abschließend von der „Aufgabe“ des Zeithistorikers in allen Gesellschaften spricht, „dem Täter im Opferpelz entgegen[zu]arbeiten“203 und zur Erklärung des gesellschaftsinhärenten Widerstands darauf verweist, dass die moralische Entlastung psychologisch effektiver sei als eine Aufarbeitung der Zeitgeschichte oder Sühnearbeit, spürt man den Konflikt, in dem sich ein solcher Ansatz befindet, und zwar zur tradierten jüdischen Überliefe­rung und Geschichtsschreibung einerseits sowie zur gegenwärtigen deutschen und israelischen Gesell­schaft und ihren institutionalisierten Diskursen andererseits. Eine Form von ‚Erinnerungsarbeit‘ im Sinne Moshe Zimmermanns hat Axel Schildt mit seiner Geschichte der Bundesrepublik als einer Belastungsgeschichte geleistet, ebenso wie 202 Ebd., S. 215. 203 Ebd.

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– in literarischer Form – Ruth Klügers Autobiographie weiter leben und Bernhard Schlinks Erzählung Die Beschneidung, aber vor allem Katharina Hackers Roman Eine Art Liebe, der eine Art Erinnerungsarbeit im hier erörterten Sinne darstellt. „Ich schenke dir Jeans Geschichte, schreibe sie auf.“ (11) – so lautet der Auftrag des Protagonis­ten Moshe Fein an die junge deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin Sophie im Januar 1999, kurz nach Jeans Tod. Zu diesem Zeitpunkt lernen sich der achtundsechzigjährige Moshe und die knapp dreißigjährige Sophie, die zuvor als Studentin acht Jahre lang in Jerusalem und Tel Aviv gelebt hatte, kennen. Durch Moshes Auftrag gleichermaßen beschenkt wie herausgefordert, versucht sich Sophie, Kindeskind der Tätergeneration, der Geschichte einer Tat zu nähern. Ihre Skrupel im Umgang mit der Geschichte werden von Moshe, der von ihr keineswegs einen Tatsa­chenbericht erwartet, aber insbesondere von Sophie selbst immer wieder thematisiert. „[ J]edesmal, wenn ich glaubte, den roten Faden in der Hand zu haben, verlor ich ihn aufs neue.“ (235) und: Schreibe Jeans Geschichte auf, hatte Moshe gesagt. Aber es gab keine Geschichte. Es gab einen Mönch, der nicht an Gott glaubte, es gab einen Brief und einen Unfall und dann ein Mißgeschick. Es gab den Satz: Ich glaube längst nicht mehr an Gott, seit Jahren nicht. Und immer wieder: Wir sind Kain und Abel. Daß Jean seinem [Naziregime-freundlichen] Vater gesagt hatte, eigentlich hieße sein neuer Freund nicht Jean Marie, sondern Moses Fein – war das ein Verrat? War er schuld am Tod von Moshes Eltern? Worauf kam es an? Moshe wollte, daß ich erfinde, was er nicht wußte; daß ich erfinde, woran er sich erinnerte. Lange schien mir, es sei nur Mangel an Konzentration, der mich daran hinderte, seine und Jeans Geschichte zu verstehen. Die Nacht in der Uhlandstraße, im Hotel Bismarck, brach diesen Bann. Ich war dort gewesen. Es ging um seine Eltern, es ging um seinen Freund, aber Moshe sagte nicht, was er dachte und empfand. Es ist nicht mein Fall, sondern deiner; daran hielt er fest, ich wußte, daß sich daran nichts ändern würde, bis ich mit der Geschichte fertig war. (257f.)

Die Imagination oder besser: die Einfühlung, die an die Stelle der Erinnerung tritt, ist es also, die sich Moshe für Sophie als Zugang zu der ihr fremden Geschichte wünscht. Sophies eigener Aus­sage zufolge aber gelangt sie zu einem tieferen Verständnis von Jeans Geschichte erst durch das Aufsuchen des Ortes, an dem Jean starb. „Ich war dort gewesen“. Dies erinnert an Benjamins besagte Denkfigur Ausgraben und Erinnern, wonach „wahrhafte Erinnerungen den Ort bezeich­nen [sollten], an dem der Forscher ihrer habhaft wurde“.204 204 Benjamin 1932, S. 17.

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Hackers Eine Art Liebe ist in diesem benjaminschen Sinne eine hartnäckige, durchaus mühselige Form der literarischen Erinnerungsarbeit und wird als solche ja auch von der Erzählerin durch­weg reflektiert, was den Erzählverlauf immer wieder hemmt, unterbricht, Zäsuren unterwirft. Letzteren bleibt die stetige Frage eingeschrieben: Was ist Schuld? Was macht den Täter zum Täter? Bevor sich für Sophie Jeans und Moshes Geschichte zusammensetzt, gibt es zunächst: Sätze. Genauer gesagt, Glaubenssätze: „Ich glaube längst nicht mehr an Gott“ und „Wir sind Kain und Abel“. Der Impuls, hinter diesen Sätzen die Geschichte zu suchen, kann gerade im Nicht-Verstehen begründet liegen: „Es gibt zwei Auffassungen, hat mir Moshe neulich gesagt. Man erzählt eine Geschichte, weil man sie erzählen kann, oder man erzählt sie, weil man sie nicht erzählen kann.“ (249) Die Legitimationsstrategie, zu der Hacker daher greift, um über die Geschichte des Täters ( Jean) auch die des Opfers (Moshe) erzählbar zu machen, die innerhalb der Handlung den größten Raum einnimmt, besteht neben dem ausgewiesenen Schreibanlass, dem „Auftrag“ Moshes an Sophie, in der Etablierung eines Subtextes oder vielmehr: eines Ur-Textes. Es sei noch einmal an Zimmermanns These erinnert: „Kain und Abel sind unabdingbar und in­strumental geworden bei der Konstruktion des kollektiven Bewusstseins von Gruppen in allen Konflikten, die sich als Täter-Opfer-Relation beschreiben lassen.“ Hackers Rückbindung der Gegenwartsgeschichte an die mythologisch-religionsgeschichtliche Tradition bleibt dabei, ganz im Sinne von Moshes Auffassung über das Nicht-Erzählbare als Erzählgrund, das Nicht-Verstehen eingeschrieben: Moshe lehnte an der Mauer im Schatten, er sah müde aus. Als Jean ihn um Verzeihung bitten wollte, unter­brach er ihn. Er sei zu alt für Schuld und Buße, sein Name sei immer Moses Fein gewesen, auch ohne Jeans Zutun hätte er das früher oder später begriffen. (228f.) Als Abt Nicolas anrief, um Moshe mitzuteilen, daß es sich [bei dem Leichnam] tatsächlich um Jean han­delte, wurde Moshe wütend. Wir sind Kain und Abel, hatte Jean gesagt. Kain, der durch die Länder wan­dert, den nur das Zeichen Gottes, das Zeichen seiner Schuld davor bewahrt, erschlagen zu werden. (257) Irgendetwas muss er sich ja gedacht haben. [schreibt Moshe an Sophie] Über sein Christentum, über seinen Versuch, ein unmögliches Leben zu führen, das er nicht als sein Leben anerkennen konnte. Was soll ein Mönch, der nicht an Gott glaubt? Über seinen Versuch, Buße zu üben für einen Verrat an einem Juden und dieses so christliche Unterfangen damit ad absurdum zu führen, dass er Gott leugnet? Was soll das alles? Wollte er damit, dass er sich fast erschlagen lässt, wollte er beweisen, dass er nicht Kain war, sondern Abel? (264)

Jüdischkeit offenbart sich mittels der Autorität des biblischen Textes als ein durch die Geschichte immer wieder neu realisiertes Opferdasein, das nur in Differenz

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zum nichtjüdischen Gegenüber, dem Täter, an Profil gewinnt. In Moshes Ärger schwingt dabei nicht nur die Abwehr mit, als Opfer abgestempelt zu werden, sondern zugleich das Gespür für das, was sein außerliterarischer Namensvetter Moshe Zimmermann als Mythologisierung und Funkti­onalisierung dieses Andersseins beschrieben hat. Zudem schwingt im Hebräischen in der meta­phorischen Bedeutung des Opfers als „Gabe“ (korban) – im Englischen kennt man etwa die se­mantische Unterscheidung „victim“ und sacrifice“, die es im Deutschen so nicht gibt – nicht nur eine moralische Überlegenheit mit, darauf hatte Zimmermann ja bereits hingewiesen, sondern der Urheber dieser „Gabe“, der Täter, wird im selben Akt zugleich erhöht. Diese Form der Selbstüberhöhung ist es, die Moshe so provoziert; dieses „Gemisch aus Selbstanklage und Anmaßung“ (236), da sie ihm im Grunde nur einen weiteren Verlust beschert. Denn aus der einstigen Symbiose mit Jean wird dieser ihm durch jenen interpretato­rischen Vorgang, den er Moshe in der Kapelle sozusagen aufzwängt, der „etwas bewirken wollte“ (228), zum ‚Anderen‘. Die vormals symbiotische Beziehungsstruktur zwischen den beiden Protagonisten Jean und Moshe wird im Roman auf Ebene der Selbstcharakterisierung der Figuren, insbesondere von Moshe immer wieder betont: Das Leben des einen, so Moshe, sei ohne das des anderen nicht denkbar: „Wenn du so willst, versuchten wir ein Leben zu leben: Ich wurde sein Gesicht, er mein Rücken – oder umgekehrt.“ (186) Und: „Ich gehe auch erst dann schlafen, wenn Jean zur ersten Vergilie aufsteht.“ (188) Moshe beschreibt sich nicht nur als Jeans „Spiegelbild“ (28), nach dessen Tod verliert Moshe seine Umrisse und die der Welt, die ihn umgibt: Es kam vor, daß ich zur Tür hereintrat und er [Moshe] auf dem schwarzen, abgeschabten Sessel saß, ohne aufzuschauen. […] Als wäre das Bild unscharf, als fehlte die Umrandungslinie oder der Hintergrund, die Brechung des Lichts, denn es schien, als wollte er sich wieder und wieder umdrehen, um zu suchen, was verloren war, unstet und mit fahrigen Bewegungen. Es war ihm nicht recht, wenn man ihn anschaute. Schreibe Jeans Geschichte auf. (42)

Hacker geht so weit, ihren beiden Protagonisten die gleichen Namen zu geben: „[ Jean] legte seinen Arm um meine Schulter und sagte, ich könne seinen Namen haben, ich könne heißen wie er. Jean. Er sagte das mit fester Stimme, als wäre dann alles gut […] Und wirklich hörte ich auf zu weinen.“ (95) So überlebt Moshe die letzten drei Jahre der Naziherrschaft im Versteck des fran­zösischen Klosters St. Croix unter dem Namen Jean, auf den er dann auch getauft wird. Jean wiederum, der seine Schuld gegenüber Moshe nicht verkraftet, verlässt nach seiner ‚Beichte‘ das Kloster und die Bruderschaft, in der er sein ganzes Leben verbracht hat, um in Berlin, in den Straßen, in denen Moshe aufgewachsen ist und seine Kindheit verbracht hat, unter dem Namen Moshe Fein im Hotel Bismarck unterzutauchen und einige Monate als Bewacher in einem Nachtclub zu leben, bis er

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dort symbolträchtigerweise bei einer Schlägerei erschlagen wird oder vielmehr: beinahe erschlagen, denn der Schlag auf den Kopf, den er erhält, löst ein Blutge­ rinnsel in seinem Hirn, an dessen Folgen er unmittelbar darauf stirbt. Sophie, die diesen Ort auf­sucht und die Augenzeugen befragt, kommt nicht nur zu dem Schluss, dass er zufrieden gestor­ben ist, da er laut Polizei „so friedlich dalag“ (259), sondern auch, dass diese letzte kurze Lebens­spanne für Jean, der dort auch Umgang mit einer Frau hatte, eine glückliche gewesen sein muss. Indem Jean die letzte Zeit seines Lebens Moshes Namen führt und schließlich selbst zum Opfer, zum Erschlagenen wird, wird die Differenz also getilgt, die ursprüngliche Symbiose wiederhergestellt. An den zitierten Passagen wird das Exemplarische der Geschichte von Jean und Moshe deutlich. Als sei es der Autorin weniger darum zu tun, etwas zu erzählen, als etwas zu zeigen. Was aber möchte sie zeigen? Eine Ebene des Zeigens wurde mittels des Kain-und-Abel-Bildes als Beschreibungsmodell der OpferTäter-Beziehung und des dieser Dichotomie eingeschriebenen Mythologisierungsmoments schon erörtert. Man merkt Hackers Roman darin deutlich die kritisch-reflexive Distanz zu den uneingestandenen Mythologisierungen und Funktionalisierungen an, welche die Darstellungen der jüdischen Figuren in der deutschen Literatur nach 1945 jahrzehntelang geprägt haben. Ein anderer Grund für die Formelhaftigkeit des Erzählten liegt in der zwingenden Authentizität der Ausgangsgeschichte. Denn mit der Geschichte von Jean und Moshe wird noch eine weitere Geschichte erzählt. Welche, das kann der Leser der nachgestellten Anmerkung der Autorin entnehmen, die zugleich rückwirkend die Widmung erklärt, unter deren Signatur Eine Art Liebe steht: Dieses Buch ist Saul Friedländer gewidmet. Wer seinen autobiographischen Essay „Wenn die Erinnerung kommt“ gelesen hat, wird in diesem Buch seine Geschichte erkennen. Zwar haben meine Figur Moshe Fein und Saul Friedländer (soweit ich es irgend beurteilen kann) keinerlei Ähnlichkeit, aber die Erzählung von Feins Jahren in Frankreich ist nichts als der Versuch, durch eine andere, erfundene Geschichte diese Ge­schichte Shaul Friedländers zu verstehen.

2.3.2. Weiter erzählen. Der erinnerte Autor

„Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe“ – mit diesem Zitat aus Gustav Meyrinks Golem beginnt der bekannte Historiker Saul Friedländer seinen autobiographischen Essay Wenn die Erinnerung kommt.205 Der narrativen Verfasstheit von Erinnerung und 205 Saul Friedländer, Wenn die Erinnerung kommt, 2. Auflage München 1998. Friedländers Memoiren erschienen erstmals unter dem französischen Originaltitel Quand vient le souvenir

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Identität bei Saul Friedländer hat Karolin Machtans jüngst eine elaborierte Studie gewidmet. Friedländers Autobiographie, so Machtans, bewege sich zwischen Literatur und Geschichtsschreibung. In Anlehnung an Rom Harrés Theorie von der „Identität als Projekt“206 verortet Machtans Saul Friedländers Werk ebenso wie das von Ruth Klüger zwischen Fakten und Fiktionen. Eine Grenzgängerform also, die sich laut Machtans durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität bezüglich der Funktionsweise individueller und kollektiver Erinnernungsprozesse auszeichne. Anders als bei dezidiert postmodernen Ansätzen bleibe bei Friedländer ebenso wie bei Klüger die Autor- und Ich-Instanz allerdings gewahrt. Dem Schreibakt komme vielmehr die Aufgabe zu, Kohärenz zu erzeugen ohne das Fragmentarische einzudämmen. Dieser Balance-Akt wird in Friedländers autobiographischem Erinnerungstext von dem Verlangen getragen, sich der Vergangenheit schreibend anzunähern, ohne diese durch den Schreibakt jedoch ‚abbildend‘ abzuschließen: Wird einerseits durch die Komposition des Textes, insbesondere durch die Betonung der Gegenwärtigkeit und Unabschließbarkeit von Identitätsentwürfen, hervorgehoben, dass sich auch die persönlichste Geschichte nicht als integrierendes, abgeschlossenes Selbstnarrativ schreiben lässt, wird dennoch durch die Wahl des Genres des autobiographischen Textes und seiner Kennzeichnung als auf eine außertextuelle Wirklichkeit verweisender faktualer Text das Ziel des autobiographischen Schreibakts – der Annäherung an die persönliche Vergangenheit (‚Wissen‘), um auf diese Weise Kohärenz zu erzeugen – unterstrichen.207

Die Gleichsetzung von ‚Erinnerung‘ und ‚Wissen‘ impliziert dabei, dass ‚Wissen‘ über die persönliche Vergangenheit immer nur ‚Erinnerung‘ als (gelebte Wirklichkeit) sein kann.208 „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe“ – Auch in Hackers Eine Art Liebe wird diese Aussage mehrmals direkt und indirekt zitiert209 und als zentral für den Erzählvorgang herausgestellt, dabei allerdings mehr und mehr in die Distanzper­spektive der Er1978 in Paris in französischer Sprache, dann 1979 auf deutsch in der DVA, Stuttgart und waren dann lange Zeit vergriffen. 2007 erschien „Wenn die Erinnerung kommt“ in der Übersetzung von Helgard Oestreich dann wieder in einer 3. Auflage bei C. H. Beck München. 206 Rom Harré, Identity projects, in: Threatened idenities, ed. by Glynis M. Breakwell, Chichester, New York 1983, S. 364–279. Harré betont hier ganz allgemein die zukunftsorientierte Prozesshaftigkeit von Identitätsentwürfen. Siehe auch Machtans 2009, S. 3. 207 Ebd., S. 131. 208 Ebd., S. 127. 209 Siehe u. a. Moshes Bemerkung zu Sophie an einem regnerischen, nebeligen Tag im Jerusalem der späten neunziger Jahre: „Siehst du, wir haben den Golem mitgenommen. Unsere gesamte Geschichte nehmen wir mit, das da draußen ist der Prager Nebel.“ (72)

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zählerin verschoben: „Das Wissen war wie das Tuch, durch das ich an Kinderge­ burtstagen versucht hatte zu ertasten, welche Gegenstände darunter verborgen waren; sie schie­nen fragil und geheimnisvoll, selbst dann noch fremd, wenn man sie erraten hatte.“ (255) Eine Geschichte ertasten, die nicht die eigene ist, die, so die Erzählerin Sophie, nur Sinn ergibt, solange erzählt wird: „Einer erzählt, und nur solange er spricht, fügen sich die Teile zusammen.“ (16) Benjamins Erzähler, dessen Präsenz mittels des aktualisierenden Erzählvorgangs allein die Verbindung zwischen der erzählten Zeit der Geschichte und der Jetzt-Zeit des Gegenübers her­zustellen vermag, Hildesheimers Erzähler, der sich im Tynset-Haus durch die dunklen Räume tastet, der poetologische Vorgang des Ausgrabens und Erinnerns, Celans Poetik des Zutage-Förderns der Sprache aus dunklem Raum, Schindels ‚Nachdunkeln‘ – die poetologische Tradition deutsch-jüdischer Autoren wird hier in Sophies Denkbild der zu ertastenden Gegenstände unter dem Tuch für den ‚wissenden‘ Leser aufgerufen. Diese Lesart erscheint besonders legitim bei einer Autorin, die gleich ihrer autornahen Er­zählerin Sophie nicht nur jahrelang in Israel gelebt und Judaistik studiert hat, sondern die sich über ihre persönliche Beziehung zu Saul Friedländer hinaus auch in ihren früheren literarischen Werken bereits intensiv mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit auseinandergesetzt hat.210 Zu fragen bleibt, ob bei Hacker dem Wissen und damit der dazu analog gesetzten kulturellen und/oder persönlichen Erinne­rung der Status einer ‚Habe‘ im Sinne Jean Amérys zukommt. Zweifelsohne handelt es sich (dies wurde anhand der zitierten Romanpassagen bereits deutlich) um eine ambiva­lente Habe, denn das Wissen allein kann die Distanz zur Zeitlichkeit des Erlebten und ihrem Träger nicht überwinden: Das Buch „Eine Art Liebe“ handelt von der Frage, wie es möglich ist, mit Hilfe der Imagination da zu ver­stehen, wo es kein eigenes Erinnern gibt. Das ist der zweite Grund dafür, daß ich dieses Buch Saul Friedländer widmen möchte. Denn von ihm, durch die Freundschaft zu ihm habe ich gelernt, über Erinnerung und über Wissen, das die Distanz – die Unmöglichkeit, zu begreifen – nicht überwinden kann, nachzudenken.

Hackers Roman, auf dem Boden der Erinnerungen Friedländers geschrieben, der, 1932 als Kind deutschsprachiger Juden in Prag geboren, seine Kindheit unter den Nationalsozialen in einem französischen Kloster unter falschem Namen verbringen musste, um zu überleben, und dessen Eltern, denen die Flucht über die 210 So unter anderem in Der Bademeister, Frankfurt am Main 2000. Hackers Roman ist, mit Carsten Hueck gesprochen, „ein großartiges Buch über das Unbewusste in der deutschen Geschichte“. (Klappentext)

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Schweiz misslang, in Auschwitz umkamen – dieser Roman, dem Friedländers Lebensgeschichte als Paratext zu Grunde liegt, ist ein wissendes Buch im eben erör­terten Sinne. Darin liegt zugleich der Dreh- und Angelpunkt, die Stärke und Schwäche des Textes begründet. Denn das Übermaß an Reflektion lässt den lebendigen Raum der Geschichte, den sich der Leser gerne in seinem eigenen Prozess des Nachvollzugs erschlossen hätte, mitunter allzu formelhaft erstarren (Man will ja als Leser eine Geschichte in erster Linie erzählt und nicht erklärt bekommen). Dieser Skrupulantismus wird, anders als in W. G. Sebalds Max Aurach bei Katharina Hacker nicht nur thematisiert, sondern auch formalästhetisch zum strukturbildenden Erzählprinzip. Das Element der Nachzeitigkeit, des retardierenden Moments des Nachvollzugs, das schon in Sebalds Die Ausgewanderten signifikant war, wird in Eine Art Liebe damit geradezu zum Thema des Romans selbst erhoben. Man folgt der Autorin und ihrer Erzählerin also in erster Linie beim Nachdenken. „[D]as Nachvollziehen einer Geschichte [ist] ein schwieriger, mühseliger Prozeß, der unterbro­chen oder blockiert werden kann. Eine Geschichte […] muß letztlich annehmbar sein; man müßte eigentlich sagen: sie muß es trotz allem sein“ – mit diesem Ausspruch Paul Ricoeurs, der der Ge­schichte als Motto vorangestellt ist, beginnt Hackers Roman. Eine Geschichte muss annehmbar sein. Ist Eine Art Liebe in diesem ricoeurschen Sinne ‚annehmbar‘? Nimmt man sich als Leser dann nicht lieber gleich der ‚wahren‘ Geschichte Saul Friedländers an, die als Referenz von der Autorin selbst als so zwingend herausgestellt wird? Und, noch einmal an die Eingangsfrage anknüpfend, was für eine Geschichte wird hier eigentlich erzählt? Wie Robert Schindel, so präferiert auch Katharina Hacker in Eine Art Liebe das erzähltechnische Verfahren des Indirekten: Aussagen, wovon das Aufgeschriebene gerade nicht handelt. Das heißt: In der fiktiven Geschichte Moshe Feins über die andere Geschichte, die Erinnerungen Saul Friedländers sprechen, der Hacker zufolge mit ihrer Figur Moshe Fein nichts gemein hat. Die Analogien sind also nicht in den Eigenschaften von Figur und realem Vorbild zu suchen, sondern im erzähltechnischen Verfahren selbst: So lassen sowohl Hacker als auch Friedländer Vergangenheit und Gegenwart zumeist kommentarlos ineinander übergehen, mitunter wird die Unmittelbarkeit der Überblendungen durch das Einfügen eines Absatzes ein wenig gebremst, die Zäsur damit formal markiert oder durch einen Tempuswechsel vom Präsens ins Präteritum betont. So heißt es in Friedländers Wenn die Erinnerung kommt: Zu dieser Stunde sind nicht so viele Touristen da, und von den Treppenstufen über dem Platz, wo ich mich niederlasse, hört man deutlich den monotonen Rhythmus der Gebete. […] Hunderte von Stimmen steigen jenseits der Mauern aus den arabischen Dörfern des Silo-Tals empor, wie das Piepsen einer Kinderschar, die irgendwo weit weg in der Abenddämmerung spielt.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Am frühen Morgen fuhren wir bei Kehl über den Rhein, der noch im Nebel lag. Wenige Minuten später waren wir im Bahnhof von Straßburg. Zum ersten Mal sah ich die runden Käppis und die über die Ohren gezogenen Baskenmützen: Wir waren also in Sicherheit. […] Paris: Der ungewohnte Geruch der Gare de l’Est, der Métro, der Baguettes. Für ein Kind lassen sich die großen Umschwünge oft in diese ganz simplen Veränderungen fassen wie zum Beispiel den ersten für den Laden neben dem Hotel Montholon auswendig gelernten französischen Satz: „Je voudrais une boîte d’allumettes, s’il vous plaît.“ Paris und seine zugleich alten und neuen Ängste: Meine Eltern glauben, daß ich ruhig schlafe, […] vergessen aber, daß dieses Kind in der neuen Umgebung erregt, beunruhigt ist, vergessen auch, daß das Gefühl der Verlassenheit die Mauern des Schlafes durchdringen […] und ihm sagen kann, daß die Gefahr da ist, symbo­lisch, doch gewiß. 211

Und nun Hackers Eine Art Liebe:

„Mir fällt das Reisen schwer“, sagte ich zu Moshe. Er sah mich belustigt, beinahe empört an. „Von welchen Reisen sprichst du denn? Von deinem komfortablen Dahin, Dorthin, wie es uns beliebt?“ „Willst du“, verteidigte ich mich, „daß ich mit dem Schiff nach Palästina fahre und drei Wochen mit Malaria in einem verdreckten Krankenhaus in Haifa liege? Und dann darf ich auch übers Reisen reden?“ Aber ich wußte, was er meinte. Im Frühsommer 1938 leerte sich die Charlottenburger Wohnung der Feins. Möbel wurden herausgetragen, um bei Freunden eingelagert zu werden, jedes Stück von seiner Mutter noch einmal sorgfältig poliert, in große, hölzerne Kisten wurde das Geschirr verpackt, in Holzwolle die Gläser, Gegenstände wurden un­sichtbar, eine geschäftige Operation verbarg, was endgültig war. […] Der Tag der Abreise (große Koffer zwischen denen seine Mutter hin- und herlief, während der schmale Vater am Bahngleis stand, mit hängenden Armen und still wie ein Signalpfosten) war mild, das dicke, pelz­gefütterte Mäntelchen viel zu warm, Moses weinte und wollte es ausziehen. Er erinnert sich, daß ihm heiß gewesen war (es war Anfang Juni), wie er weinte, weil er den Mantel nicht ausziehen durfte. An die Zugfahrt und Ankunft in Paris erinnert er sich nicht, vage nur an das enge Hotel­zimmer, an Nächte, in denen seine Eltern das Zimmer verließen, im Glauben, er schliefe. (12f.)

Bei Friedländer evozieren die Stimmen der Gegenwart – „hunderte von Stimmen steigen jenseits der Mauer empor“ – gleich einer Proustschen memoire involontaire die Stimmen der Vergangenheit. Durch den akustischen Sinnesreiz ausgelöst, 211 Friedländer 1979, S. 40f.

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werden mittels einer assoziativen Verschaltung – „wie Kinderstimmen“, „irgendwo weit weg“ – die Gebetsstimmen Jerusalems mit der Stimme der Kindheit verbunden, mit dem auswendig gelernten Satz: „Je voudrais uns boite d’allumettes, s’il vous plait“, der der großen Erschütterung im Leben des Kindes Friedländer eine Kinderstimme verleiht, gerade durch diese simple, alltagspraktische, aber fremde Bedeutung des ersten französi­schen Satzes. Auch auf der Bildebene werden die Stimmen „jenseits der Mauer“, die der Gegen­wart mit denen der Vergangenheit, durch das „Käppi“ verbunden: Heute die Käppis der Beten­den an der Klagemauer, damals die runden Käppis der Franzosen, die der junge Friedländer in Straßburg das erste Mal erblickt und die dem erwachsenen Friedländer vielleicht gerade durch die Gebetsstimmen als Erinnerung wieder wachgerufen werden. Bei Hacker funktioniert die assoziative Verschaltung von Gegenwart und Vergangenheit weniger über einen sinnlichen als vielmehr über einen thematischen Auslöser: im Streitgespräch über das Reisen. Hier und heute das „komfortable Dahin, Dorthin“, damals, 1938, die Endgültigkeit der Reise ohne Wiederkehr, die im Gegensatz zum heutigen Reisen nichts Freiwilliges an sich hat, sondern eine gewaltsame Vertreibung war. Bei Friedländer die Erinnerung an die Ankunft in Paris, die Gerüche von Bahnhof und Baguette, bei Hacker wird genau diese Erinnerung als feh­lend ausgewiesen: „An die Zugfahrt und Ankunft in Paris erinnert er sich nicht“. Die Distanz zur außerliterarischen Erinnerung Friedländers wird damit gewahrt, die Unüberbrückbarkeit zwi­schen Wirklichkeit und Fiktion herausgestellt. Und dennoch, oder vielmehr: gerade deswegen handelt es sich bei den Geschichten Feins und Friedländers gewissermaßen um die gleiche Ge­schichte, denn auf Ebene der Imagination, der Einfühlung, werden beide Geschichten schließlich zu einer: Der Zerstörung einer Familie durch die Nationalsozialisten und dem Ende einer Kind­heit in der Illegalität, im fremden Land Frankreich. Beide Erinnerungen sprechen zudem ganz konkret vom kindlichen Verlassensein, von fremden Stimmen, unvertrauten Gerüchen, Durch­gangsorten und enger werdenden Räumen, vom Ausgeliefertsein des Kindes, jener Schlaflosig­keit, die auf tiefsten Ängsten, dem Instinkt für Lebensgefahr basiert, den Unpässlichkeiten, in den falschen Kleidern zu stecken und später sogar in einem falschen Namen. Zugleich sind da die biographischen Eckdaten, die der Autorin das Wissen an die Hand geben, die es mit Leben zu füllen gilt. Was etwa die Jahre des zehn- bis zwölfjährigen Friedländers im Versteck des französischen Klosters, der Soda­lität Montneuf betrifft, so finden sich in Hackers Roman für diese so zentrale Lebensphase Friedländers auch detaillierte Übertragungen auf die Geschichte Moshe Feins. Die Ver­ehrung der resoluten Direktorin des Klosters für den Kollaborateur Marshall Pétain etwa, unter dessen Bild im „Salon“ des Klosters die Kinder beten müssen für Frankreichs Rettung sowie das umständliche Ritual des abendlichen Entkleidens und der strikten Regelung der Schlafensproze­dur: Die Jungen müssen auf dem Rücken liegend, die Hände über der Brust gefaltet, schlafen. Bei

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Friedländer wird dies so beschrieben: „Zuerst wurde das Hemd ausgezogen und ein langes, rau­hes, verwaschenes Nachthemd übergestreift. Dann mußte man die Decken und das Bettuch zu­rückschlagen, sich aufs Bett setzen, Leintuch und Decken über die Beine ziehen, und erst dann durfte man die Hose ausziehen“. (117) Bei Hacker: „… zuerst Hemd und Unterhemd, die ordent­lich über den Stuhl neben dem Bett gehängt wurden. Dann streifte jeder das Nachthemd über, ein langes Nachthemd, verwaschen und grau. Erst wenn man Bettuch und Decke über die Beine und bis über die Taille gezogen hatte, durfte man die Hose ausziehen.“ (108) Die Authentizität des Details, wie etwa das des „verwaschenen, langen grauen Nachthemds“, das beide Kinder, Moses/Jean-Marie und Paul/Paul-Henri, tragen, verwebt die fiktive Figur mit der realen Person und bindet ihre Geschichten durch Ähnlichkeitsbezüge und Faktizität zusammen. Ein besonde­res Gewicht kommt dabei jenen Sequenzen zu, in denen trotz des unterschiedlichen Handlungsverlaufs die innere Bewusstseinslage Moses/Jean-Maries analog zu derjenigen Pauls/ Paul-Henris geschildert wird, wie etwa angesichts des Verteilens von Post im Kloster: Friedländer schreibt: Wenn Madame Robert jede Woche, die Arme voller Briefe, auf der obersten Terrasse erschien, stürzten alle herbei – ich genauso wie alle anderen. Hätte ich mich in dem Moment von der Gruppe entfernen sollen, wo die Namen aufgerufen wurden? Wie aber erklären, daß ich von vornherein mit nichts rechnete und wie auch wissen, daß dieses Mal ebenfalls nichts für mich dabei sein würde? Ich wartete von einer Woche zur ande­ren, drei Jahre lang. Und seltsam, während sich das Bild meiner Eltern langsam immer mehr verflüchtigte, wurde ihr Brief, der niemals ankam, immer wichtiger, wuchsen Sehnsucht und vergebliche Hoffnung, die sich damit verbanden. Wage ich es zu sagen? Ich habe den Eindruck, daß, je mehr die Zeit verstrich, der Brief zu einem viel unmittelbareren Bedürfnis wurde als die Rückkehr meiner Eltern; als Symbol der Zunei­gung und Liebe nahm er den Platz des Menschen selbst ein.212

Hacker schreibt: Blaß stand Moses vor ihr und streckte ungläubig, zittrig die Hand nach dem weißen Umschlag aus. Von deinem Freund, sagte Madame Clemenceau, gab ihm den Brief und umarmte ihn. Ohne Zweifel war das Jeans Schrift, und auf der Rückseite des Umschlags stand der Name, deutlich geschrieben, Jean Clermont. Moses nahm den Brief, entfernte sich langsam – die anderen wichen zurück, und Madame Clemenceau, wie Moses im Gehen hörte, sagte leise zu Gilbert: Er hat einen anderen Brief erwartet. 212 Ebd., S. 124f.

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Seit seiner Ankunft hatte er sich jede Woche mit den anderen am Fuß der Treppe versammelt, aber er stand abseits, während die anderen drängelten und erwartungsvoll die Blicke auf den Stapel Briefe richteten, weil sie wußten, daß ihr Name aufgerufen werden würde. Jetzt trug er einen Brief davon, nicht wie eine Beute, sondern wie einen Ausweis. Es war also denkbar, daß er, Jean Marie, wie alle anderen einen Brief erhielt. Er lief in den Park, ohne den Umschlag zu öffnen, er drängte sich durch die Lücke im Zaun und lief alleine bis zur Saône. […] Den Brief habe er lange aufgehoben und versteckt, sogar vor Jean habe er ihn versteckt. Es war ein Talisman: der Umschlag, die Briefmarke, sein Name, Jean Marie Ferrin. Dieser Brief, der mit seinen Eltern nichts zu tun hatte, war die Verbindung, die Brücke zu seinen Eltern; sie würden schreiben, eines Tages. (132f.)

Auch in dieser zentralen Passage stimmen die Details jeweils überein: Am Fuße der Treppe ste­hend erwarten die Klosterschüler einmal wöchentlich die Post, die von der Madame verteilt wird, die jeden Empfänger laut beim Namen ruft, Moses/Paul unter ihnen und doch abseits, jeweils mit einem über­wältigenden Gefühl von Sehnsucht, aberwitziger Hoffnung und abgrundtiefer Traurigkeit. Eine wöchentliche, über drei Jahre andauernde Prozedur, in deren Verlauf der Brief zum Symbol für das Dasein der Eltern und als ein solches beinahe präsenter, drängender wird als die Eltern selbst. Erst in dieser Verschiebung, der allwöchentlichen Vergegenwärtigung des Ver­lassenseins auf das Symbol dieses Verlassenseins in Gestalt des ausbleibenden Briefes, erscheint die elementare Verlusterfahrung des Kindes gerade noch mitteilbar. Umso bemerkenswerter ist hier die Abweichung, die Hacker einführt: Denn in Eine Art Liebe bildet nun Jeans Brief eine Brücke zu jenem anderen, ausbleibenden Brief, signalisiert, dass Erwartun­gen berechtigt sind – „es war also denkbar, daß er, Jean Marie, wie alle anderen einen Brief er­hielt“; „sie würden schreiben, eines Tages.“ Durch diesen Kunstgriff unterstreicht Hacker nicht nur die Bedeutung der Freundschaft, die ja das Zentrum ihrer Geschichte ist, sondern an dieser Stelle weicht auch die Ebene der Reflektion, der Rückblick des Erwachsenen auf das Kind, der Imaginationskraft der Geschichte und des Erzählens. Neben den Übereinstimmungen auf Ebene der Erzähltechnik und in der Faktizität des Details sind es also gerade die erfundenen Passagen, die für Eine Art Liebe so aussagekräftig sind und die man, wissend um ihren Status als Abweichung von der Originalgeschichte, noch einmal anders liest. Schon, um der Frage weiter auf die Spur zu kommen, welche Geschichte hier eigentlich erzählt wird. Aufschlußreich sind diesbezüglich zwei weitere Beispiele: Das erste betrifft die Perspektive der Opfer und den damit verbundenen Analogieschluss auf das JudeSein. Dazu heißt es in Friedländers Autobiographie, als er als Schuljunge in Prag von einem Rabbiner die biblischen Geschichten erzählt bekommt:

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Der Rabbiner erzählte, erklärte jedoch nichts […] Ich stellte mir Abraham vor, wie er in der Wüste dahin­schritt, unter der Last seiner Jahre gebeugt, neben ihm sein Sohn Isaak und hinter ihnen der mit Bündeln und dem Opferschwert beladene Esel. […] Warum ist dies eine der ersten Erzählungen unseres Volkes? Warum hat die Bibel sie bewahrt? Ich habe viele Interpretationen und Erklärungen darüber gelesen, doch läßt mich dieser Text nicht los: „Nimm dei­nen Sohn, deinen einzigen Sohn … bringe ihn zum Brandopfer dar …“ Der Gehorsam Abrahams erklärt unsere ganze Geschichte. Noch heute sind Juden das Volk des Gehor­sams – nicht mehr den Geboten Gottes gehorchend, sondern den Befehlen eines geheimnisvollen Schick­sals. Warum diese Treue? Wofür?213

Die Juden als Volk des Gehorsams – diese Ergebenheit in Gott und später, insbesondere wäh­rend der Verfolgung unter den Nationalsozialisten, die Ergebenheit ins Schicksal, über die Fried­länder hier reflektiert, ist auch Gegenstand der kritischen Infragestellung seitens der jungen Israelis, die nicht nur ihre Elterngeneration mit der quälenden Frage konfrontierten: Warum habt ihr euch nicht gewehrt?, sondern die sich auch gegen diese Definition des Jüdischseins stellen. So heißt es exemplarisch in einem Brief, den der erwachsene Friedländer von seinem Freund Uri erhält, der einen jungen Soldaten aus dem Sechstagekrieg zitiert: „Ich will wissen, wohin ich gehe und warum ich kämpfe. Ich weigere mich, ewig ein Isaak zu sein, der zum Opferaltar empor­steigt, ohne zu fragen, ohne zu verstehen, warum.“214 Auch in Hackers Eine Art Liebe wehrt sich Moshe gegen die ihm von Jean zuge­schriebene Stilisierung als Opfer, die zugleich den Täter mit erhöht. Indem Hacker auf Ebene der biblischen Urtext-Folie jedoch eine Verschiebung von Isaak, dem Zu-Opfernden, auf Abel, den Erschlagenen, vornimmt, stellt sie in ihrer Version der Geschichte die Täterperspektive neben die des Opfers und rückt jene spezifische Verschränkung in den Blickpunkt. Wie schon in der zitierten Passage über das Erwarten der wöchentlichen Post bewirkt die Etablierung Jeans als Moshes Gegenüber eine Re-Akzentuierung der Geschichte von der Einsamkeit auf die Freundschaft, vom Opfer auf die Dichotomie von Täter und Opfer. In diesem Sinne ist dann, zweitens, auch Hackers Umdeutung des Namensänderungsprozesses zu verstehen, den der junge Friedländer durchlaufen muss. Dazu Friedländer selbst: Als Paul fühlte ich mich schon nicht mehr ganz wie „Pavliĉek“, doch „Paul-Henri“ war weitaus schlimmer: Ich hatte eine Linie überschritten, war auf die andere Seite übergewechselt. Paul hätte Tscheche und Jude sein können, ein Paul-Henri jedoch konnte nur 213 Ebd., S. 33. 214 Ebd., S. 62.

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Franzose und Katholik sein; das zu sein war mir noch nicht natürlich. Im übrigen sollte es nicht bei diesen Namensänderungen bleiben: Bei meiner Ankunft in Israel wurde ich zu „Shaul“, dann als Kompromiß zwischen der französischen Schreibweise „Saϋl“ und dem „Paul“, der ich einst gewesen war, wurde daraus „Saul“. Unmöglich, sich da zurechtzufinden – was mir letztlich nur der angemessene Ausdruck einer wahrhaftigen, tiefen Verwirrung zu sein scheint.215

Wie für Robert Schindels Poetik so ist auch für Friedländer der Vorgang der Benennung durch den Eigennamen von einer nicht zu unterschätzenden, identitätsstiftenden Bedeutung. Dement­sprechend kommt dem Verlust des Eigennamens eine ebenso identitätsraubende Funktion zu. Mag der Leser sich darüber hinaus an eine genaue Umkehrung der biblischen Konversion von Saul(us) und Paul(us) erinnert fühlen, so wird bei Hacker die Namensverwirrung auf eine Namensspaltung zugespitzt. Moses Taufname „Jean-Marie“ ist nicht nur ein phonetisches Zitat von „Paul-Henri“. Dadurch, dass Moses (in Israel wird aus Moses dann „Moshe“) von Jean sei­nen eigenen Namen angeboten bekommt, wird das brüdergleiche Paar, das sich später als Opfer und Täter gegenübersteht, höchst symbolträchtig miteinander verbunden. Es sei noch einmal an Jeans Interpretation der Kain-und-Abel-Geschichte erinnert: Kain ( Jean) und Abel (Moses), vor­her eins, und bei Hacker nun auch namentlich eins, werden erst durch die Tat des Einen einander zum jeweils ‚Anderen‘. Während Friedländer die Namens- und Identitätsverwirrung als das Resultat einer Gewalterfahrung erlebt, werden aus Hackers Außenperspektive die Gewalt und der Täter in der Figur des unschuldig-schuldigen Jeans selbst hervorgehoben als ein Verrat am eige­nen Namen, am eigenen Fleisch und Blut. Eine deutsch-jüdische Geschichte. Mittels analoger Erzähltechniken, durch Übertragungen und Erfindungen, auf dem indirekten Weg der fiktiven Geschichte also, nähert sich Hacker der realen Ausgangsgeschichte ihres Freundes Saul Friedländer, um diese zu verstehen.216 Eine Poetik der Annäherung, das ist, um die Eingangsfrage zu beantworten, der Status von Eine Art Liebe. Ein Text, der nicht nur die Ge­schichte Jeans und Moshes erzählt, sondern durch die Freundschaft und den Auftrag Moshes auch zu Sophies Geschichte wird: „Über einen Zeitraum von acht Jahren habe ich gehört, was ich jetzt aufzuschreiben versuche. Es ist, als würde man sich an eine Erinnerung erinnern, die zugleich eine fremde und eigene ist“ (53) – eine deutsch-jüdische Geschichte eben. 215 Ebd., S. 100. 216 Wie präsent nicht nur die Kindheitsgeschichte Friedländers ist, sondern auch seine Gewichtung als Wissenschaftler, zeigen die Ziate, die Hacker ihrer Figur Moshe in den Mund legt, wie etwa Friedländers prägnante Formel über den Kitsch: „Kitsch ist, was jedermann gehört.“ (17)

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

„Jude zu sein bedeute[t], von Generation zu Generation eine Ge­schichte weiterzuerzählen, deren Umrisse im Ungewissen zerfließen,“217 schreibt Friedländer. An die Stelle der verlorenen Bilder, denen der Vorgang des Schrei­bens, so Friedländer, Konturen verschafft, treten damit die sogenannten Deck­erin­ne­rungen:218 „Schreiben bedeutet, die Konturen der Vergangenheit mit Linien nachzuzeichnen, […] bedeutet, von einem Kind erzählen zu können, das eine Welt untergehen und eine andere entstehen sah.“219 Entsprechend verhält es sich in Eine Art Liebe. So klagt Hackers autornahe Erzählerin Sophie: „Das Entsetzliche an der Erinnerung ist nicht, daß sich die Dinge wiederholen, sondern daß sie sich bewegen.“ (123) Jüdischkeit als Text be­deutet daher nicht Erzählen, sondern Weitererzählen. Von jener Untröstlichkeit her schreibend, die auch Sebalds jüdische Figuren kennzeichnete, bil­den die Ersatz- oder die Deckerinnerungen Brückenschläge zu einer ausgeleerten Vergangenheit: eine Shoah-Geschichte. Hackers Eine Art Liebe ist ein Beispiel dafür, wie eine solche Geschichte aus der sogenann­ten Fremdsicht erzählt werden kann, da Hacker ihre Re-Lektüre von Friedländers Leben aus einer Perspektive erzählt, der – im Vergleich etwa zu Sebalds zwiespältigem Erzähler – das Wissen um die Unüberbrückbarkeit mitgegeben bleibt. Gerade dadurch aber kann eine authentische Beziehung zwischen den Figuren überhaupt erst entstehen. Eine Art Liebe also, die von dem zeugt, was Gershom Scholem, in Anlehnung an Max Brod, als das wünschenswerteste Verhältnis von Deutschen und Juden bezeichnet hat: die Distanzliebe.220 2.3.3. Auf dem Herzen – Fragmente einer Sprache der Liebe

„Ich war über jeden einzelnen Tag bekümmert, der verging, und wartete doch ungeduldig auf die Abreise. Moshe sah ich oft, sei es in Jerusalem, sei es in Tel Aviv. Es schien absurd, wegzugehen. Was uns verband, war zweifellos eine Art Liebe.“ (149f.) Das Wissen der Autorin, das Eine Art Liebe als eine deutsch-jüdische Geschichte allererst erzähl­bar sowie für den Leser mitunter recht sperrig macht, tritt immer dann zu Gunsten der Geschichte zurück, wenn sich die Gegenwart zwischen Moshe und Sophie in ihrer ganzen Lebendigkeit entfaltet, und sich die Geschichte Moshes (und Jeans) mit Sophies eigener Geschichte verflicht. So in Jerusalem während eines überraschenden Wintereinbruchs:

217 Ebd., S. 74. 218 Ebd., S. 19. 219 Ebd., S. 141. 220 Scholem 1970, S. 42.

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… Moshe und ich redeten und lachten laut, während wir einen Schneemann bauten, uns mit Händen voll Schnee bewarfen. Er erzählte, daß er sich an den Pelzmantel erinnerte, den seine Mutter an kalten Tagen in Berlin getragen hatte, und daran, daß er mit seinem Vater einen Schneemann gemacht hatte, daß er die Nase, eine Mohr­rübe, von einem Gemüsehändler geschenkt bekam. Moshe stapfte durch den Schnee, als wäre es ein halber Meter, er faßte mich unter, um mit mir über eine glattgetretene Fläche zu schlittern. Wir kauften in der Alt­stadt Brot und Käse, und als wir müde und durchgefroren waren, gingen wir in meine Wohnung, zündeten den Ofen an, der Strom war ausgefallen, ich hatte Kerzen, Fenek [die Katze] saß auf meinem Schoß. Moshe ging und kam mit einer Flasche Wein zurück. Ich vergaß Jaron und Sebastian und wo wir waren, ich glaube, Moshe vergaß es auch. Wir sprachen Deutsch und Hebräisch durcheinander und merkten nicht, ob es die eine oder andere Sprache war. […] Kaum war er gegangen, vermißte ich ihn schon. Dann schmolz der Schnee. Ich fuhr zur Universität und rasch wieder nach Hause, ich wußte, daß es sinnlos war zu warten, aber ich kochte Suppe, ich dachte, daß er vielleicht doch kommen würde. (36f.)

Oder später in Tel Aviv: Was Moshe erzählte, wurde Teil unserer Spaziergänge durch die schäbigen Straßen Tel Avivs. Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar – Moshe sprach von den Gottesdiensten, von seiner Liebe zur Muttergottes, in Moshes Geschichte von Frömmigkeit und Angst und Andacht, hier Lärm, Zerstreuung, Vergänglichkeit. Ich hörte ihm zu, während ich in den Schaufenstern der Allenby Straße die Abendkleider aus Kunstseide mit ihren Pailletten und Federn und Spitzen bestaunte oder auf der King George Straße die bleichen Verpa­ckungen altmodischer Küchenmaschinen und Bügeleisen mit dem Namen Alaska. Dinge, zu denen man sich keinen Käufer denken konnte und die auf geheimnisvolle Weise nur sich selbst oder Gott zu gehören schienen. Wenn Moshe von St. Croix sprach, veränderte sich seine Stimme, sie klang vorsichtig. Er wird alt, dachte ich, er ist bewegt, und dachte nicht daran, daß die Straßen laut, die Fahrten von Jerusalem anstrengend wa­ren. Er wollte die Fragen begreifen, auf die sein gegenwärtiges Leben die Antwort sein mußte. (106f.)

„Was Moshe erzählte, wurde Teil unserer Spaziergänge“ – beim Begreifen jener Fragen, auf die sein gegenwärtiges Leben die Antwort sein musste, hilft Moshe der Austausch mit Sophie. Mit ihr wählt er sich eine junge Deutsche zum Gegenüber, die dort lebt, wo er seine Kindheit verbracht hat, in Berlin. Kompensieren die Spaziergänge mit Sophie im Israel der Gegenwart die Spazier­gänge der Vergangenheit, stellt die Form der Bindung, die zwischen Sophie und Moshe wächst, gewissermaßen auch eine Art Rückbindungssehnsucht, den unterschwelligen Versuch eines Brückenschlags zu der untergegangenen Welt seiner Kindheit dar? Mit anderen Worten: Verliebt sich Moshe mit Sophie auch in die Möglichkeit

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

der Mitteilbarkeit? Wird seine Ge­schichte in diesem Sinne zur ‚Währung?‘ Ist sie daher ebenso Gegengabe wie auch ein Geschenk an Sophie? (265) Das sind Fragen, die Eine Art Liebe provoziert und die sicherlich ins Zent­rum des Miteinanders der Figuren führen, ohne dass sie ihr Geheimnis erschöpfend preisgäben: „Dieser jungen Frau, Sophie“, sagte er [zu Jean] auf dem Weg zum Flughafen, „habe ich unsere ganze Ge­schichte erzählt, kannst du dir das vorstellen?“ Er sah Jean ins Gesicht. […] „Immer wieder ein Stück, über fünf oder sechs Jahre hinweg […] Manchmal hatte ich Angst, es nur zu tun, um Sophie an mich zu binden, als würde man die eigene Geschichte benutzen, um sich jemanden vertraut zu machen, als wäre sie die letzte Münze, die man hat. Und mir kam es vor, als wärest du mein Double oder umgekehrt.“ (232)

Die Liebe zwischen dem so ungleichen Paar Sophie und Moshe wird nie direkt formuliert, sondern in der Sprache des Indirekten gehalten; gezeigt in den Reflektionen und im Handeln der Figuren: Wir gingen oft spazieren. […] Wenn er [Moshe] wütend oder niedergeschlagen war, beachtete er weder die stechende Sonne noch regenkalte Wintertage. „Hast du Jerusalem vergessen?“ fragte er, wenn er bemerkte, daß ich fror oder in der lähmenden ChamsinHitze blaß wurde. […] „Warum mußtest du auch nach Berlin ziehen“, sagte er manchmal. Wenn wir am Grab des Seefahrers oder Kaufmanns Jason vorbeikamen, einem kleinen Kuppelbau aus hellenistischer Zeit, den man entdeckt hat, als man die Erde für einen Neubau aushob, sagte er: „Dort haben wir uns oft getroffen, weißt du noch?“ und er fügte vorwurfsvoll hinzu: „In Jean hättest du dich verliebt.“ „Bist du sicher, daß Sebastian zu dir paßt?“ sagte Moshe, der mich oft gedrängt hatte, die abgerissene Ver­bindung wiederaufzunehmen und zu heiraten. „Schau mich an“, sagte er. „Ich habe eine fünfzehn Jahre jüngere Freundin, die mich liebt. Meine Frau wollte sich scheiden lassen, aber ein Auto hat sie überfahren. Juristisch betrachtet bin ich Witwer. Wie kommst du mit Jeans Geschichte voran?“ „Wie soll ich schreiben, wenn ich mit dir durch Jerusalem renne?“ Manchmal besuchte Moshe mich in Tel Aviv. Moshe meidet, wie die meisten Jerusalemer, Tel Aviv, aber er fuhr nach Tel Aviv und wartete in meinem Lieblingscafé, bis ich dort auftauchte. „Da bist du ja.“ (18f.)

Die gemeinsamen Spaziergänge bilden ein wesentliches Element in der Verschränkung von Ver­gangenheit und Gegenwart, zwischen der Geschichte Moshes und Jeans einerseits und der Geschichte Moshes und Sophies andererseits: „Was Moshe erzählte, wurde Teil unserer Spazier­gänge.“ Dieser Vorgang des Ineinander-

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Verwickelns, den Moshe gegenüber Jean als Strategie der „Bindung“ bezeichnet, das wörtliche wie sinnbildliche Hin- und Herlaufen Moshes und Sophies zwischen Erlebtem, Erinnertem, Gegenwärtigem und Vergangenem auf semanti­scher Ebene, verschafft zugleich Einblick in die strukturelle Ebene des Romans, in die Choreo­graphie der Figuren und ihren Diskurs. So heißt es in Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe entsprechend unter „Figuren“: Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin- und Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind „Schritte“, „Verwicklungen“. Der Liebende hört in der Tat nicht auf, in seinem Kopf hin und her zu laufen, neue Schritte zu unternehmen und gegen sich selbst zu intrigieren. Sein Diskurs existiert immer nicht in Gestalt von Sprach„Anwandlungen“, die ihm nach Maßgabe geringfügigster, aleatorischer Um­stände zustoßen. Man kann diese Redebruchstücke Figuren nennen.221

Auch in Eine Art Liebe stehen die Protagonisten als Liebende im Bann ihrer Figuren, der „Rede­bruchstücke“ im bartheschen Sinne: „Die Figuren heben sich nach Maßgabe dessen ab, was sich, im Zuge des Diskurses, daran als Gelesenes, Gehörtes, Erlebtes wiedererkennen läßt. Die Figur ist eingekreist (wie ein Zeichen) und erinnerbar (wie ein Bild oder eine Geschichte).“222 In diesem Sinne dieser erweiterten Interpretation sei das obige Gespräch zwischen Moshe und Sophie noch einmal wiederholt: Wir gingen oft spazieren. […] Wenn er [Moshe] wütend oder niedergeschlagen war, beachtete er weder die stechende Sonne noch regenkalte Wintertage. „Hast du Jerusalem vergessen?“ fragte er, wenn er bemerkte, daß ich fror oder in der lähmenden ChamsinHitze blaß wurde. „Warum mußtest du auch nach Berlin ziehen“, sagte er manchmal. Wenn wir am Grab des Seefahrers oder Kaufmanns Jason vorbeikamen, einem kleinen Kuppelbau aus hellenistischer Zeit, den man entdeckt hat, als man die Erde für einen Neubau aushob, sagte er: „Dort haben wir uns oft getroffen, weißt du noch?“ und er fügte vorwurfsvoll hinzu: „In Jean hättest du dich verliebt.“ „Bist du sicher, daß Sebastian zu dir paßt?“ sagte Moshe, der mich oft gedrängt hatte, die abgerissene Ver­bindung wiederaufzunehmen und zu heiraten. (18f )

„Weißt du noch?“ – Das erinnernde Wiedererkennen, hier des Grabes von Jason, das Moshe und Sophie oft miteinander besucht haben, setzt unvermittelt ein erneutes Bruchstück des Liebes-dis-cursus in Gang: „In Jean hättest du dich ver221 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, dt. Frankfurt am Main 1984, zitiert nach der ersten Aufl. 1988, S. 15. 222 Ebd., S. 16.

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liebt.“ Und: „Bist du sicher, daß Sebastian zu dir paßt?“ Dieses im wahrsten Sinne des Wortes übergangslose Sich-Verausgaben zwischen den die Figuren verbindenden Elementen, die sich aus Erlebtem, Gehörtem, Erinnertem zusammensetzen, wer­den von Hacker ganz im Sinne Roland Barthes als Bruchstücke einer Rede vorgeführt, wel­che die Sprache der Liebe zwischen Moshe und Sophie in immer wieder neuen Fragmenten und Choreographien vorführt. Auf die Frage, welche Geschichte Hacker mit Eine Art Liebe eigentlich erzählt, sind hier schon verschiedene Antworten gefunden worden. Eine deutsch-jüdische Geschichte, eine Shoah- Geschichte und eine jüdische Geschichte im Sinne einer Poetik des Weitererzählens. Es ist aber auch und vor allen Dingen eine Liebesgeschichte, Fragmente einer Sprache der Liebe, die Hacker ihren Lesern da „auf die Herzen“ legt, in der Hoffnung auf Einfühlung. Denn allen Unüber­brückbarkeiten und Fremdheiten zu Trotz gibt es, so Hacker, den unermüdlichen Versuch zu verstehen, und die Imagination: In Bubers Sammlung findet sich folgende chassidische Erzählung: Rabbi Mendel von Kosk sprach: „Es heißt: ‚Und diese Worte, die ich heute dir gebiete, sollen auf deinem Herzen sein‘. Es heißt nicht ‚in deinem Herzen‘. Denn das Herz ist zeitenweise verschlossen, die Worte liegen aber auf ihm, und wenn es in heili­gen Zeiten sich öffnet, fallen sie in seine Tiefe.“

2. 4. Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies – Barbara Honigmanns „Alles, alles Liebe!“ „Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies“ – so lautet eine Zeile aus Robert Schindels Gedicht Lieblied 3, die zugleich den übergeordneten Titel des Gedichtbandes bildet.223 Was auf den ersten Blick wie eine Liebeserklärung klingt, erweist sich beim näheren Hinsehen als abgründig. Das Paradies (persisch: paradeis = umzäunt), der geschützte Ort des vorbewussten Daseins der Geschlechter, wird in Schindels Vers nämlich ausdrücklich als eine Form von Zustand beschrie­ben, der zwischen den Liebenden erwächst. Laut Schöpfungsgeschichte befindet sich das archety­pische Paar von Mann und Frau bis zum Sündenfall („und sie erkannten, dass sie nackt waren“) in den umhegten Seinsgründen der Unwissenheit. Bei Schindel schiebt sich dieser Urzustand nun zwischen zwei Personen, die bereits als ein Ich und ein Du ausgewiesen werden. Bei genau­erer Lektüre ist es der trügerisch tröstliche Zustand des Nicht-Erkennens, der hier zwischen dem Du und dem Ich nach und nach an Tiefe gewinnt. Ein Moment der Distanzierung und 223 Robert Schindel, Lieblied 3, in: Ders., Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies. Liebesgedichte, Frankfurt am Main und Leipzig 2003, S. 74.

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Entfrem­dung also, wo ursprünglich Geborgenheit und Symbiose gemeint war. Und so lautet der anschlie­ßende Vers: „Wir wolln uns gegenseitig vorwärtsführen / Und ernten uns als Schweigeschatten­riss.“ Diese so lyrisch komprimierte Deutung einer Liebesbeziehung als einer Liebesverwicklung führt – wie zu zeigen sein wird – auch ins poetische Zentrum von Barbara Honigmanns Briefroman Alles, alles Liebe! (2000).224 Alles, alles Liebe! – Was soll dieser Titel dem Leser bedeuten? Verweist er auf jene in der Briefsprache gebräuchliche Formel, die üblicherweise den Abschied zwischen Sender und Emp­fänger markiert? Ist er als Herzenswunsch gemeint? Oder ist der Titel vielleicht ganz programmatisch und schlicht als Aussage zu verstehen: Alles ist Liebe. Und inwiefern handelt es sich hierbei um einen literarischen Entwurf von Jüdischkeit? 2.4.1. Verbrieft. Fragmente einer Sprache der Liebe

„Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin- und Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind Schritte, Verwicklungen“ – auch bei Barbara Honigmann hat es der Leser mit den Verwicklungen eines Liebes-discursus in Sinne von Roland Barthes Fragmente[n] einer Sprache der Liebe zu tun. Anders als in Katharina Hackers Eine Art Liebe handelt es sich in Honigmanns Choreographie der Figuren, den „Redebruchstücken“, allerdings nicht um Spaziergänge und Spaziergänger, sondern um Briefe. Als „konvergierende literarische Gattungen“, so Michael Braun, setzen Brief und Roman auf Dialog und Multiperspektivität. Der Briefroman sei demnach „besonders geeignet, die Dynamik und Dramatik von Liebesbeziehungen auszudrücken“.225 Honigmanns literarischer Stil scheint nun für diese Form der Vermittlung von Liebesbezie­hungen wiederum besonders geeignet zu sein, denn ihre Sprache befindet sich, laut Luc Bondy, „nahe an ihrem Herzschlag, besteht nicht aus Metaphern, Allegorien oder zu entschlüsselnden Konstruktionen: Taktile Erzählkunst möchte man das nennen, sie berührt nicht nur, sie rührt direkt an: Wörter, Sätze sagen, was sie sind“.226

224 Barbara Honigmann, Alles, alles Liebe!, München, Wien 2000. Die Seitenangaben erfolgen in runden Klammern hinter dem jeweiligen Zitat. 225 Michael Braun, Barbara Honigmann. Artikel vom 1. 8. 2001, in: KGL – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 69. Nlg., 10/01, S. 8. Mit der Formulierung „konvergierende literarische Gattungen“ nimmt Braun auf eine Aussage von Paul Michael Lützeler Bezug. 226 Luc Bondy, „Hier ist es zu schön, da können wir nicht bleiben“. Laudatio für den Kleist-Preis an Barbara Honigmann, in: Kleist-Jahrbuch (2001), S. 7. Zuerst erschienen in der NZZ, Nr. 247 vom 23. Oktober 2000, S. 33.

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Bereits im achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter des Briefes, hatte Gellert gefordert, der Briefeschrei­ber solle „sein Herz mehr reden“ lassen als den Verstand, indem er „von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe“ wisse.227 Eine solche „Kunst der gewollten Kunstlosig­keit“, wie es Wilhelm Vosskamp in Bezug auf den Brief des achtzehnten Jahrhunderts so treffend formuliert,228 liest neben Luc Bondy auch Hanns-Joseph Ortheil aus Honigmanns Stil heraus: „Die Wortwahl bleibt einfach und klingt manchmal bewusst hilflos, beinahe naiv. Kein prunken­der Stil und erst recht keine „Erzähltechnik“ soll die Schwere des Inhalts überwölken.“229 Gegenüber einer solch klassischen Briefschreibekunst des Herzens scheint also weniger ein decodierender Blick als vielmehr verstehender Nachvollzug die angemessene Lektürehaltung zu sein. An die Empathie des Lesers wird appelliert, und der professionelle Leser wiederum lässt gerade diesem ‚naiven‘ Sprachhabitus von Honigmanns Prosa ein besonderes Augenmerk zu­kommen. Sei es kritisch wertend wie bei Harald Wiesner („unglückliche Wortspiele“) oder Joachim Kaiser („banal reden­sartliches Palando“),230 sei es lobend wie etwa bei Reinhard Baumgart, demzufolge Honigmanns Texten „das seltene Kunststück [gelänge] Alltagserfahrungen aufleuchten [zu lassen] wie bedeu­tende epische Abenteuer“.231 Marcel Reich-Ranicki spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Naivität der höheren Art“.232 Und, noch einmal Ortheil: „Bücher von Barbara Honigmann sind wie Einladungen: Der Leser betritt einen privaten Raum und wird von der Gastgeberin ge­führt, zurückhaltend, aber mit einem unverwechselbaren, persönlichen Ton.“233 Eine derartige Reaktion auf die Privatheit, die ‚Herzenssprache‘ der Prosa Honigmanns liegt insofern nahe, als dass sich ihr Schreiben ja stets, wie Sander L. Gilman, Hartmut Steinecke, Dagmar Lorenz, Guy Stern und zuletzt Amir Eshel hervorgehoben haben, an der „Grenze zwi­schen Fiktion und Autobiographie“ bewegt.234 In diesem Sinne kommt auch Thomas Kraft konsequen227 Gellert, Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: C. F. Gellerts sämtl. Schriften, 4. Theil 1769, S. 4. Zitiert nach Vosskamp, ebd., S. 51. 228 Siehe Wilhelm Vosskamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: DVJS 45 (1971), S. 80–116, hier S. 80. 229 Ortheil, Über Barbara Honigmann, in: NZZ, zitiert aus dem Anhang von Alles, alles Liebe!, S. 183. 230 Rezensions-Überblick nach Braun 2001, S. 2. 231 Reinhard Baumgart, Buchrückentext zu Honigmanns Roman von einem Kinde, Ausgabe München 2001. 232 Braun 2001, S. 2. 233 Ortheil 2000, S. 183. 234 Siehe Guy Stern, Barbara Honigmann, A Preliminary Assessment, in: Insiders and Outsiders. Jewish and Gentile Culture in Germany and Austria, edited by Dagmar C. Lorenz und Gabriele Weinberger, Detroit, Michigan 1994, p. 329; Sander L. Gilman; Jews in Today’s German Culture, Bloomington, Indianapolis 1995, S.  2f.; Hartmut Steinecke: Schriftsteller

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terweise zu dem Resümee: „Im Briefroman Alles, alles Liebe! (2000) rekapituliert Honigmann die Zeit […] als Dramaturgin an DDR-Bühnen und verknüpft eine Liebesgeschichte mit antisemitischen Erfahrungen in der DDR.“235 Was jedoch so schlicht als „Sprache des Herzens“ daherkommt, birgt – wie zu zeigen sein wird – als Schreibimpuls des Authentischen, als eine Suche nach Jüdischkeit, noch eine an­dere, eine brüchige Tiefendimension, da sich in den „Wörtern, die sagen, was sie sind“ (Bondy), eine Fremdheit, eine Vagheit auftut, die es literarisch zu füllen und zu konstruieren gilt. Denn, so Honigmann im Gespräch mit Ariane Thomalla: „Das narrative Verfahren besteht darin, autobiographische Erinnerungen, Erlebnisse und Reflexionen mit fiktionalen Gedankenspielen, Wunschbildern, Symbolen zu vermischen,“ um so „die Schalen der Fremdheit, die über der Ver­gangenheit liegen, zu durchstoßen.“236 Die prinzipielle „Literaturfähigkeit“ jeder Privatkorrespondenz237 wird in Honigmanns Briefroman daher bewusst als eine solche eingesetzt und ausgereizt, oder wie Jeffrey M. Peck in seinem Essay Jüdische Geschichte und Geschichten: Barbara Honigmann und ihr Roman „Soharas Reise“ bemerkt: Honig­mann gelingt es, „ihre eigene persönliche Biographie in individuelle Erzählungen über Exil und jüdische Geschichte zu übersetzen“.238 Wie genau gestaltet sich nun der Vorgang des Hinüber-Setzens von einem Standpunkt zum anderen,239 von einem Redebruchstück zum nächsten? ‚Übersetzt‘ oder narrativ verbrieft wird in Alles, alles Liebe! zunächst einmal die Liebesverwicklung zwischen der Protagonistin Anna, einer jungen jüdischen Regisseurin, die in der DDR Mitte der siebziger Jahre an einem Provinztheater ihre erste Stelle antritt, und ihrem nichtjüdischen Ge­liebten Leon, der allerlei schöne Dinge um sich herum zu sammeln versteht, ohne in sich selbst jedoch etwas Liebenswertes zu finden. Zeitlich umfassen die Briefe den kurzen Zeitraum von Anfang November 1975 bis Anfang Januar 1976, atmosphärisch beschreiben sie den Übergang zwischen Herbst und Winter. Die Briefform mutet dem an E-Mails gewöhnten Leser der Jahrtausendwende dabei etwas altmodisch an, auch wenn dieses Medium den üblichen Kommunikationswegen der siebziger Jahre durchsind, was sie schreiben: Barbara Honigmann, in: Signaturen der Gegenwartsliteratur, hrsg. von Dieter Borchmeyer, Würzburg 1999, S. 90. Dagmar C. Lorenz, Keepers of the Motherland. German Texts by Jewish Women Writers, Lincoln, London 1997, S. 288–315. Amir Eshel, Die Grammatik des Verlusts, in: ZfdPh 2002, S. 67f. 235 Thomas Kraft, Barbara Honigmann, in: Ders. (Hrsg.), Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsautoren, Bd. 1., München 2003, Sp. 575–578, hier 578. 236 Braun 2001, S. 3. 237 Vosskamp 1971, S. 86. 238 Jeffrey M. Peck, Jüdische Geschichte und Geschichten: Barbara Honigmann und ihr Roman „Soharas Reise“, S. 179. 239 Diese Formulierung spielt auf Walter Benjamins Auffassung des Übersetzungsvorgangs an, als einem Über-Setzen von einem Ufer zum anderen, von einem Standpunkt zum nächsten.

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aus entspricht. Warum also hat Honigmann gerade diese Form der Narration gewählt? Um, wie Michael Braun es ausdrückt, in geeigneter Form über die Dynamik und Dramatik von Liebesbeziehungen sprechen zu können? Aber wenn, in welchem Sinne? Denn die den Roman konstituierenden Briefe setzen sich nur zum Teil aus jener Art von Liebeskorrespondenz zusammen, unter der im Allgemeinen der Austausch zwischen zwei Liebenden verstanden wird. Der andere Teil besteht aus Briefen, die zwischen Anna und ihrem Freundes- und Familienkreis gewechselt werden. Dort heißt es zum Beispiel im Brief von Eva an Anna: Natürlich werde ich Dir oft schreiben, Anna. Jetzt zum Beispiel werde ich Dir beschreiben, wie ich gerade wieder bei einer großen Veränderung meines Lebens gescheitert bin. Ich wollte endlich einmal die Stecker und Schnüre in meinem Zimmer so verbinden, daß alle Lampen und Geräte gleichzeitig gehen und leuch­ten, das habe ich nämlich noch nie geschafft. […] Also bin ich auf der Erde rumgekrochen, um alles rauszu­ziehen und wieder neu zusammenzustecken, aber das eine sind Verlängerungsschnüre und das andere sind Doppelstecker, und nichts paßt ineineinander, und nie geht alles gleichzeitig – ich stand dauernd im Dun­keln. […] Anna, ich glaube, wir suchen uns immer untereinander, und wir finden uns immer wieder. (17f.)

Auch wenn die Freunde im Dunkeln stehen, sie suchen und finden sich doch immer wieder neu. Die „Schreibergegenwart“ als Moment und Mittel psychologischer (Selbst-)Darstellung der Figu­ren240 sowie der für einen Liebesdiskurs typische Vorgang des Sich-Spiegelns im Anderen findet damit seine Entsprechung auf Ebene der Selbstvergewisserung des Einzelnen im Kreise seiner Freunde. Ich schreibe dir, also bin ich – so ließe sich Evas Brief an Anna deuten. Das „Album der Freunde“, das Anna und ihre Freunde gründen, wird von ihnen auch dezidiert als „EINE FREIE LIEBENDE VERBINDUNG UNTER UNS!“ (85) aufgefasst und als solche in Großbuchstaben gesetzt, welche die Signalwirkung unterstreichen sollen. In diesem erweiterten Sinne ist in Honigmanns Roman also von „Liebes“Briefen zu sprechen, und diese Form der Ver­bindung wird von Eva auch in dem Vorgang des erhellenden Verbindens und Zu­sammensteckens, symbolisch angesprochen. Die Liebesverbindungen, „das einzige, was wir denen hier entgegenzusetzen haben“ (85), bilden dabei ein Gegengewicht zu den zunehmend enger werdenden Artikulationsspielräumen, die das totalitäre DDR-Regime seinen Künstlern und Intellektuellen zugesteht. Da der Brief, seiner Mit­teilungsfunktion entsprechend, wie jede sprachliche Äußerung an das fundamentale Dreiecksver­hältnis von Sender, Empfänger und Botschaft gebunden bleibt, brechen auch andere Rede­ bruchstücke wie etwa das Sitzungsprotokoll zu einer freien Wohnzimmer-Thea240 Vosskamp 1971, S. 98.

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terveranstaltung („Protokoll des Bernada-Treffens, 55) oder ein Märchenentwurf („Die zwei Brüder“ von Eva Gelb, 150) die reine Briefform ansatzweise auf und erzeugen so die Ahnung einer Redevielfalt, mittels derer sich der Einzelne im Anderen immer wieder seiner selbst zu vergewissern sucht.241 Der Brief als das Kommunikationsmedium der Innerlichkeit, von dem man zudem nie so genau weiß, ob er die Zensur passiert und beim Anderen ankommt („Brief an den Mitleser“, 61), bringt den Zustand der Verinselung von Anna und ihren Freunden treffend zum Ausdruck. Richtiggehend protokolliert wird diese Verinselung anlässlich des Theater-Probentreffens: Sanda: Meint ihr, draußen lebt man und drinnen geht man kaputt? Das stimmt doch irgendwie auch nicht ganz. Wera: Nein. Draußen ist es unerträglich und drinnen ist es vollkommen steril. Ric: Ich glaube, was wir spielen wollen und müssen, ist: nicht „die Gesellschaft“ ist schuld, sondern jeder ist selber schuld. Katy: Wie wahr! Anna: Genau! Wera: Stimmt! (58)

Intertextualität ist neben der Multiperspektivität der Briefe dabei ein weiteres literarisches Mittel, um die innere Sprachlosigkeit in eine Äußere zu übersetzen, da sich – siehe etwa das Beispiel des Theaterstücks – dem Gestus des indirekten Sprechens bedient werden muss. Dazu Michael Braun: Mit Mitteln der Intertextualität verleiht die Autorin ihrem Roman Züge einer politischen Parabel. In Garcia Lorcas Tragödie „Bernada Albas Haus“, einer düsteren Parabel auf Diktatur und Tyrannei, die von Annas Berliner Freunden geprobt, besprochen und dann – ohne Anna – in einer Privatwohnung inszeniert wird, liegt ein Schlüssel zum Verständnis jener Atmosphäre von „Starre und Sehnsucht und Hoffnung nach ‚draußen’“, die die künstlerische Szene der DDR in den Monaten vor dem Biermann-Skandal lähmte.242

Aber nicht nur die Briefe und Protokolle sowie das Mittel der Intertextualität dienen als Orte der Externalisierung innerer, der öffentlichen Zensur verborgenen Vorgänge. Wobei das Genre des Briefromans die ideale Form bereit hält, den, so 241 Zum metahistorischen Diskurspotential des Briefromans noch einmal Vosskamp: „Als literarisches Kunstwerk bleibt der Briefroman prinzipiell von gesellschaftlicher Wirklichkeit unterschieden – aber eben darin fungiert er auch als Medium und Instrument eines historischen Bewusstseinsprozesses. Die Autoren selbst definieren den Roman nicht als ästhetisch-autonome Gegenwelt zur Realität, sondern als ein Element dieser Wirklichkeit.“ Ebd., S. 82. 242 Braun 2001, S. 8.

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Petra S. Fiero, Vorgang des Enthüllens und Versteckens zu manifestieren.243 Es gibt darüber hinaus aber auch eine ganz konkrete Ortschaft. So wird die „Einsiedelei“ (37) eines abgelegenen Gartenhauses für Anna und ihre Freunde einen Sommer lang zu der Enklave, die der Gruppe das Ausgeschlossensein und die Exklusivität ihrer Existenz gleichermaßen vor Augen führt. Und hier, in diesem umzäunten Be­reich, dem Paradeis eines selbst geschaffenen Refugiums, verliebt sich Anna in Leon. Der archety­pisch konstruierte Ort, an dem sich die Liebenden begegnen – Leon: „wo wir alle nackt herumge­laufen sind wie im Paradies“ (35) – ist nicht das einzige Indiz, das für den überindividuellen ex­emplarischen Status spricht, den Honigmann dieser Liebesbeziehung verleiht. Denn Leon betritt das Paradies nicht unbeschädigt. Er hat vielmehr eine Wunde am Fuß, die nicht heilen will. Später erfährt der Leser, dass diese Verletzung von einem Fenstersturz, einem misslungenen Selbstmordversuch herrührt. Die Versehrtheit wird also schon in den Beginn der Liebe mit hineingetragen, in Form einer für die Autorin Honigmann typischen Analogisierung von Innen und Außen, von Psyche und Körper. Dementsprechend wird auch die ‚Physis‘ der Briefe von der Protagonistin Anna in ihrer elementaren Bedeutsamkeit für die Sprache der Liebe hervorgehoben: Dein Brief! Das Kuvert war noch ein bißchen offen, Leon, Du hast nicht richtig angeleckt, da habe ich selbst nochmal an dem Streifen geleckt, weil Deine Zunge daran gewesen ist. Großer ferner Kuß. Am liebsten würde ich Deinen Brief Wort für Wort abschreiben, um ihn noch mehr in mich aufzunehmen. (11)

Durch den Brief will Anna den Geliebten „in sich aufnehmen“, sich ihn lesend einverleiben, was, wie schon im Falle von Sebalds Henry Selwyn, an die Objektliebe des Melancholikers gemahnt. Da die Liebe für Anna vor allen Dingen etwas Körperliches bedeutet und „das Herz die körperliche Nähe leichter aufbewahren kann, weil es selbst Körper ist“ (36), ist auch der Brief als Aufbewahrer von Nähe in erster Linie ein Liebes-Körper: Wenigstens muß ich deine Schrift bald wiedersehen, das einzige, was mir jetzt noch von dir geblieben ist, Abdruck und Enthüllung Deines Körpers und Deiner Seele, nach denen ich mich so sehr sehne, die ich will und liebe, obwohl ich sie noch so wenig kenne, aber eben ersehne. Dich, Deinen Körper und Deine Seele. Ich habe einmal gehört, daß, wenn es in der Bibel heißt „er erkannte sie“ und eigentlich gemeint ist, sie ha­ben miteinander 243 Petra S. Fiero, Zwischen Enthüllen und Verstecken. Eine Analyse von Barbara Honigmanns Prosawerk, Tübingen 2008. Zum Genre des Briefromans in „Alles, alles Liebe!“ siehe: S. 155–158.

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geschlafen, daß es nicht bedeutet, miteinander schlafen sei wie erkennen, sondern genau umgekehrt, erkennen ist wie miteinander schlafen. Sich nähern und nahe sein, fühlen und zu fühlen be­kommen, vertraut werden und sich anvertrauen, begreifen, in die Tiefe gehen. Ist schön, nein? Bitte, Liebster, es ist dringend, schreibe mir bald wieder, nur damit ich Deine Schrift wiedersehen kann, und weil ich sie so liebe und brauche, ist es auch ganz egal, was in Deinem Brief steht. (26)

Ebenso wie für das Kind Moses in Hackers Eine Art Liebe wird der Brief, als Stellvertreter für den geliebten Menschen, für Anna bald konkreter als die Person selbst. „Wenn du schreibst, ist jedes Wort Liebe, und wenn du sprichst, ist jedes Wort Eifersucht“, (12) sagt Leon bezeichnenderweise zu Anna. Die Briefe kommunizieren daher nicht die Liebe, sie realisieren und derealisieren sie. In diesem fundamentalen Sinne ist in Honigmanns Roman tatsächlich alles, alles Liebe. Die Teleo­logie von Briefanordnung und Brieffolge reicht narrativ vom Einverleiben des Liebsten bis hin zu dessen ‚Entsorgung‘. Denn auch das Ende ihrer Liebe, die Trennung, wird von Anna dadurch vollzogen, dass sie Leons letzten Brief in Fetzen reißt und, in einer Übersteigerung, dem schnellen Verfall zuführt: Leon, weißt Du, was ich mit Deinem Brief gemacht habe? Ich habe ihn zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Aber das reichte nicht, ich habe ihn wieder heraus­geholt und geglättet, um ihn leichter zerreißen zu können, und dann in viele Fetzen zerrissen. Aber das reichte immer noch nicht, ich habe die Fetzen aus dem Papierkorb wieder rausgeholt und in den Mülleimer geworfen und dann den ganzen nächsten Tag meinen Abfall darauf gekippt, Apfelsinenschalen und Apfelgriepsche, Joghurtbecher, das altgewordene Brot mit Schimmelflecken und die Asche meiner Zigaret­ ten, und zuletzt habe ich alles unten in den großen Müllkübel der Kneipe ausgeleert und voller Lust zugese­hen, wie sie immer weiter Abfälle auf die Papierfetzen mit Deinen Worten gekippt haben, mit denen Du mich verletzt hast und die mir widerwärtig sind. (143f.)

Statt also die Liebe zu bezeugen, wird sie durch die Schrift allererst erzeugt. Oder anders gewen­det: Die Liebe zwischen Anna und Leon, zwischen der Jüdin und dem Nichtjuden, existiert im Grunde nur innerhalb eines Paradieses, im Raum des Fiktiven. 2.4.2. Der Andere. Du und ich als Urtext

„Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies / W ir wolln uns gegenseitig vorwärtsführen / Und ernten uns als Schweigeschattenriss.“ Was da in Schindels Vers

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zwischen dem Du und dem Ich, und zwar gegen deren Absichten, so archetypisch heranwächst, ist die Unkenntlichkeit, ge­paart mit Verstummen. Die Liebenden ernten einander schließlich nur als „Schweigeschattenriss“. Derselbe discursus ist auch für die Sprache der Liebe kennzeichnend, wie sie sich zwischen Anna und Leon ent- bzw. verwickelt.

2.4.2.1. Vom Gespräch zum Schweige-Riss Nach Artemons Definition ist der Brief „gleichsam die Hälfte eines Dialoges.“ In seiner Bewe­gung vom Ich auf ein Du hin, die er unternimmt, „hält [der Brief ] das Gespräch zwischen ge­trennten Freunden und durch die Illusion des Beieinanderseins die Freundschaft selbst aufrecht“. Wobei, so Artemon weiter, „an die Stelle des mündlichen Gesprächs […] das schriftliche treten [kann], wenn man sich wechselseitig die Gegenwärtigkeit des abwesenden Partners vorstellt.“244 Gellert knüpft an diese ursprüngliche griechische Definition wieder an, indem er in Ab­ grenzung zu der etwa von Gottsched vertretenen, an der lateinischen Rhetorik orientierten monologischen, kunstmäßigen Rede in gehobenem Stil, den reinen Gesprächscharakter des Briefs betont: „Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. […] Er ist die freye Nachahmung des guten Gesprächs.“245 Das, was also bei Robert Schindel, mit Paul Celan gelesen, strukturell wirksam wurde als der Gesprächscharakter des Gedichtes, das unterwegs ist zu einem Gegenüber, gilt hier, in Anleh­nung an die antike Brieftheorie, auch für die Poetik des Briefromans bei Barbara Honigmann. Die Mitteilung eines Senders an einen Empfänger stellt immer genau die Hälfte, den einen Teil eines Ganzen dar, das erst ergänzt und vollständig wird durch die Antwort, die Entgegnung sei­nes Gegenübers. Diese dialogische Eigenschaft der ‚Teilhabe‘ des Briefs lässt sich, vermittelt über die spezifische Form des Liebesbriefs analog zur wesensmäßigen Beschaffenheit von Mann und Frau setzen, die nach archaischen Vorstellungen die zwei Hälften eines vollkommenen Ganzen bilden. Sowohl der Brief als auch die Liebe halten jene „Illusion des Beieinanderseins“ kraft ihrer dialogischen, mitteilenden Struktur aufrecht, von der bereits Artemon und später Gellert spricht. Hierin erweist sich die ganze Potentialität der Fiktion, die ihre Kraft gerade aus dem durch die physische Abwesenheit des Empfängers frei gewordenen Raum bezieht, den es zu füllen und zu überbrücken gilt. Gleiches gilt, so Leon, für die Imaginationskraft, die ja der Liebe als Form der Fiktion ebenso wie dem Brief zueigen ist: „Für den Liebenden ist die Abwesenheit die allersicherste, die allerlebendigste, die wirksamste, die unzerstörbarste aller Gegenwarten und die treue244 Vosskamp 1971, S. 82. 245 Gellert, zitiert nach Vosskamp, ebd., S. 83.

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ste.“ (35) Die Materialität der Schrift, die Sinnlichkeit des Brief-Körpers kann dabei eine Stellvertreterfunktion für den abwesenden Körper des Geliebten übernehmen. Dies haben Annas Versuche, sich Leons Briefe gewissermaßen einzuverleiben, gezeigt. So schreibt Anna: „Weil ich sie [die Schrift] so liebe und brauche, ist es auch ganz egal, was in Deinem Brief steht.“ (26) Indem der Liebesbrief bei Honigmann durch die Sinnlichkeit der Schrift die Abwesenheit des Schreibenden zu negieren sucht, spielt als wesentliches Element eine spezifische Form der Zeit­lichkeit in den Vorgang des Briefeschreibens und -lesens mit hinein: die Vergegenwärtigung. Hin­sichtlich einer Poetik des Briefromans kann man mit Vosskamp also von einer Vergegenwärtigungs­technik sprechen: „[I]m momentanen Schreibvollzug spiegelt sich die Dreidimensionalität des Briefromans, insofern zurückliegende und unmittelbare Vergangenheit aktualisiert, Zukunft aus der Gegenwart intentional entworfen oder erfragt und beides im Akt des Schreibens zusammen mit dem Schreibvorgang selbst vergegenwärtigt wird.“246 Was Vosskamp hier auf Ebene der Zeitstruktur des Briefromans als Dreidimensionalität be­schreibt, lässt sich genauso gut als ein Aushebeln von Zeit verstehen. Denn wenn „alles jetziger Augenblick“247 zu sein vermag, kommt man einer Daseinsvorstellung nahe, die im Grunde nur dem Paradies als vorzeitlichem Zustand zueigen ist. In diesem Sinne, nämlich im Betonen der Gegenwärtigkeit, bedeutet das Schreiben eines Briefromans – der Autor setzt die einzelnen Briefe ja unter teleologischen und erzähldramaturgischen Gesichtspunkten zusammen – selbst „werdende Handlung“, da, so noch einmal Vosskamp, im Schreibvorgang „neues Geschehen initiiert“ wird.248 Und initiiert wird in Honigmanns Alles, alles Liebe! das Geschehen einer Entmystifi­zierung. Überdeutlich kommt dies im Vorgang der gewaltsamen Entsorgung von Leons letztem Brief zum Ausdruck. Auch einem „klärenden Gespräch“ wird das Schweigen von beiden Seiten schließlich vorgezogen. Anna erklärt Leon: „in Ruhe über alles reden werde ich ganz bestimmt nicht.“ (144) Leon zieht es daraufhin vor, „nicht zu Hause zu sein“ (158), wenn Anna nach Berlin kommt. „[B]itte bestrafe mich nie mit deinem Stummsein“ (38), weiß Anna am Beginn ihrer Beziehung noch zu sagen, wissentlich, dass genau hierin das Ende der Liebe begründet liegt. Was mit einem großen Kuss, dem Nachziehen des Kuvertstreifens mit der Zunge, beginnt, endet im wahrsten Sinne des Wortes in (Papier-)Fetzen. Oder, mit Schindels lyrischen Worten, im Schweige-Riss.

246 Ebd., S. 99. Vosskamp bezieht sich hier auf Johann-Jakob Engels Poetik des Briefromans. 247 Ebd., S. 103. 248 Ebd., S. 104.

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2.4.2.2 Vom Angesicht zum Schatten-Riss Leon an Anna, sehr spät: Du weißt also nicht mehr, wie ich aussehe, Anna? Also wollte ich Dir ein Bild mitschicken, bin extra zum Bode-Museum gefahren, aber natürlich hatten sie keine Postkarte von Doryphoros, von dem Du meinst, ich würde ihm ähneln. Das hast Du in Deinem Überschwang ja schon in der Einsiedelei dauernd gesagt, wo wir alle nackt herumgelaufen sind wie im Paradies. (35)

Der Speerträger Doryphoros, die bekannteste Statue des Polyklet, verkörperte in der Antike das „rechte Maß in jedem Sinne“, das heißt sowohl in den Körperformen wie auch in der Haltung, die in der Antike stets auch ein geistiger Ausdruck ist. Erst dadurch, also nicht durch die idea­len Körpermaße allein, konnte diese Statue zum Musterwerk der griechischen Plastik avancieren. Dass Honigmann ihre Protagonistin Anna den Geliebten mit der Statue des Doryphoros verglei­ chen lässt, zeigt zweierlei: Zum einen jene für Honigmann typische Orientierung an der klas­sischen Referenz von Innen und Außen, Geist und Körper als Folie der Figurencharakterisierung sowie, zweitens, damit verbunden die archaisch-stilisierte Skizzierung des Liebespaares Anna und Leon, die in der „Einsiedelei“ noch „nackt herumgelaufen sind wie im Paradies“. Damit ist drittens die Fallhöhe umrissen, die Honigmann für besagten Vorgang der Entmystifizie­rung aufbaut. Denn nach und nach wird nicht nur dem Leser, sondern auch Anna trotz ihres „Überschwanges“ klar, was Leon längst weiß. Die Ähnlichkeit zwischen jener Statue im Museum und seiner eigenen Person aus Fleisch und Blut besteht vor allen Dingen darin, dass beide gewis­sermaßen ‚beschädigt‘ sind. Während Doryphoros zwar schön ist, „aber oben und unten ist er auch ganz schön kaputt“ (35), will Leons Fußverletzung nicht richtig heilen. Hier zeigt sich einmal mehr der subtile, ironische Bruch mit jenem ‚naiven‘ Ton der Herzenssprache, der auf den ersten Blick für Honigmans Erzählweise so bestimmend scheint. Denn für den schönen, hinkenden Leon in der Einsiedelei existiert eine Metaerzählung, auf die hier sehr kunstvoll ange­spielt wird. In ihrer Rede Das Schiefe, das Ungraziöse, das Unmögliche, das Unstimmige an­ lässlich der Verleihung des Kleist-Preises im Oktober 2000, schlägt Honigmann eine Lektüre-Brücke zwischen sich und Kleist, den sie verehrt, gerade weil ihre lebenslange Lektüre von einem „Verhältnis“ erzählt, „in dem fast alles schief gegangen ist, das ‚Schiefe‘ vielleicht gerade der Grund der Anziehung war und immer auch, in jeder neuen Begegnung geblieben ist“.249 So fragt sie in Bezug auf die 249 Barbara Honigmann, Das Schiefe, das Ungraziöse, das Unmögliche, das Unstimmige. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises, in: Kleist-Jahrbuch 2001, S. 13–24, hier S. 13. [Der Erstabdruck dieser Rede erschien in Sinn und Form 53 (2001), Heft 1, S. 31–40.]

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Kleist-Parabel mit dem Dornauszieher, während der Leser von Alles, alles Liebe! dabei bereits ihren Doryphoros vor Augen hat: Warum aber hat Kleist denn für seine Parabel gerade den Dornauszieher gewählt, unter so vielen klassi­schen oder hellenischen Statuen von Jünglingen […], die alle Grazie und Anmut regelrecht erfunden haben und doch nicht Natur sind. Denn auch die allerschönste griechische Statue vermittelt keine ‚natürliche Wahrheit‘, hat keine Grazie des Vorbewußtseins und auch keine des unendlichen Bewußtseins, sie ist, im Gegenteil, nach einem wohldurchdachten Regelwerk erschaffen, Kunst-Handwerk im besten Sinne. Und Kleist wußte es ganz genau. Hat er den Dornauszieher vielleicht wegen des Dorns gewählt, den er „Splitter“ nennt, ein deutlich weniger anmutiges, ein gröberes Ding?250

Die von Honigmann herausgearbeiteten Unstimmigkeiten – in Wahrheit sitzt z. B. der Dornaus­zieher auf dem Schemel, statt wie in Kleists Erzählung seinen Fuß darauf zu stellen – geben der Kleistschen Erzählung vom Jüngling, der seine Anmut verliert, einen doppelten Boden: Sie [die Erzählung] wird selbst schief und ungraziös, in gewisser Weise unwahr, und sie widerlegt sich selbst. Ich denke, es geht um den Splitter. Der Splitter im Fuß des Jünglings ist nämlich eine Scherbe des ‚Zer­brochnen Krugs‘, dessen Unversehrtheit man nicht mehr einklagen und nirgends wiederfinden kann, ge­nausowenig wie das Paradies, weil ein Paradies des ‚Davor‘, das ‚Davor‘ aber verriegelt ist. Und da es eher unmöglich ist, „die Reise um die Welt [zu] machen und [zu] sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“, müssen wir uns also abfinden und mit dem Splitter im Fuß leben, in Prosa wie in Ver­sen.251

Der Splitter im Fuß des Jünglings – nicht nur Kleists Erzählung bekommt durch den Splitter einen doppelten Boden, ebenso verhält es sich mit der Parallelgeschichte in Alles, alles Liebe!. Dort heißt es über den schönen, dem Doryphoros gleichenden Leon: „Über der Wunde an Leons Fuß klebt ein großes Pflaster, das er jeden Tag wechseln muß. Wir machen darüber einen Witz oder „bemerken es gar nicht“. Ich frage ihn natürlich nicht aus nach dieser Sache, und er sagt auch nichts“. (35) Leon, der Geliebte, der sich trotz seiner körperlichen Schönheit, für deren Beschrei­bung Honigmann die griechische Plastik schlechthin gewählt hat, ebenso nackt wie hinkend durch das Paradies der Einsiedelei bewegen muss, da das ‚wahre‘ Paradies des ‚Davor‘ ein für alle Mal verriegelt ist – eine Kleist-Lektüre 250 Ebd., S. 20f. 251 Ebd., S. 21.

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und eine moderne Geschichte der Unstimmigkeit und des Schiefen zu Zeiten des DDR-Regimes. Wider besseren Wissens versucht Anna sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von Leon zu machen, von dem sie schon bald „nicht mehr weiß, wie er aussieht“ (35). Nicht nur ver­gleicht sie ihn mit Doryphoros, sie selbst zeichnet ihn und bittet Leon darüber hinaus um ein Selbstporträt. So hält Anna die Bilder, die sie von Leon und sich erstellt hat, für „die besten Bilder“, die sie je „gemalt“ hat: „Siehst du meine Bilder an, wenn Du hier allein bist? […] [D]as, wo wir beide auf dem Bett liegen, Du auf dem Rücken, ich auf dem Bauch, und wir sind beide nackt, aber wir berühren uns nicht.“ (47) Die Bilder von sich und Leon, die Anna so gelungen findet, zeigen die Liebenden im doppelten Sinn nackt. Zum einen in ihrer körperlichen Beschaffenheit, zum anderen aber auch in ihrem eigentlichen Verhältnis zueinander, das in dieser Bildbeschreibung bloßgelegt und nicht mystifizierend zugedeckt wird: „Du auf dem Rücken, ich auf dem Bauch“ – das Liebespaar ist also voneinander abgewandt, eine Berührung findet nicht statt („wir berühren uns nicht“). Statt einander zugewandt zu sein, befinden sich die Körper im Nebeneinander. Eine Positionierung, die keinerlei Anschauung zulässt. Eine Ahnung über die Unzulänglichkeit dieser Choreographie, in der sich die Liebenden bewegen, beschleicht Anna schon früh: „Vielleicht aber haben wir uns noch nie richtig, mit ruhigem Blick angesehen, ich nicht, weil ich so sehnsüchtig und eifersüchtig war, und Du nicht, ich weiß nicht warum.“ (13f.) Was verhindert, dass die beiden sich wirklich anblicken? Es ist das Wissen um ihr jeweiliges Anderssein, dem in diesem Fall nichts Ergänzendes, sondern mit der Differenz von Annas Jüdischkeit, etwas Trennendes innewohnt. Dass Anna und Leon einander der jeweils ‚Andere‘ sind, wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven immer wieder thematisiert. Zum einen von außen, wenn sich etwa Annas jüdischer Freund Alex äußert: „Leon, der paßt nicht zu Dir, nicht zu uns, er gehört einfach nicht zu uns.“ (23) Zum anderen von Anna selbst, die nicht nur Leon zu einer antiken Schönheit überhöht, sondern sich gegen ihn – also auch hier – mit den typischen tradierten Attributen des Juden als ‚Anderem‘ wie „klein“ und „dunkel“ und „Zwerg“ her­absetzt, was wiederum Leon zurückspiegelt, wenn er sie in An­spielung auf ihr jüdisches Gesicht, wenn auch liebevoll, seinen „Zwerg Nase“ nennt: „Wie schön ich dich finde, mein Zwerg Nase.“ (102) Das offensichtliche Begehren, das Anna und Leon aus ihrer empfundenen Andersheit ziehen, geht also wahlweise mit einer Erhöhung bzw. einer Herabsetzung einher. Man könnte im Sinne Kleists und Honigmanns auch von einer Choreographie der Schiefe sprechen. Dadurch wird nicht nur eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe vermieden, sodass ihre Verliebtheit sich nicht dauerhaft in Liebe wandeln kann. Im Blick des Anderen sich selbst auch als anders ertragen zu müssen, ist ein Zustand, den etwa Anna zugleich „sehnsüchtig und eifersüchtig“ sucht wie scheut. Denn, so Honigmann in ihrer Rede zur Verleihung des Jeanette-

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Schocken-Preises, es ist unter allen Um­ständen eine demütigende Erfahrung, nicht angesehen zu werden: „Bevor wir unseren Nächsten also zu lieben versuchen, sollten wir ihm vielleicht erst einmal einfach ins Gesicht zu sehen und seinen Blick auszuhalten versuchen.“252 Das ist etwas, das Anna und Leon nicht gelingt, denn das Paradies bleibt im Kleistschen Sinne verriegelt. Und so liest sich Honigmanns Aussage auch wie ein Kommentar der Autorin auf die Liebesver­ wicklungen ihrer Protagonisten in Alles, alles Liebe!, wo „Du“ und „Ich“, Jüdin und Nichtjude, als eine Art Urtext initiiert und entmystifizierend gegen den Strich gelesen werden: Und sie erkannten sich nicht. 2.4.3. Das Gesicht wiederfinden Anna an Eva: „Ein Probedruck und dann auf dem Blatt: ein Gesicht. Vielleicht ich. Auflage zwei Stück. Nummer eins liegt bei. Für Dich. Und was versuchst du gerade? Ich hab Dich so lieb, Deine Anna.“ (138) Leon an Anna: „Du hast mich um ein Selbstporträt gebeten, Anna, aber das kann ich nicht. Du weißt, daß ich immer und überall suche und finde. Aber nie mein Gesicht.“ (103)

Leon, der sein Gesicht nicht findet; Anna, die das ihre immer wieder neu versucht abzubilden, die ihre Bilder „zur Wand dreht“, was wiederum Leon am liebsten mit seinem „ganzen Leben“ täte (101), und die sich bewegt „in einem ewigen Kreislauf zwischen Verlieren und Wiederzusammensammeln“ (166) – diese ständige Suchbewegung der Protagonisten ihrer selbst angesichtig zu werden, führt von der Sprache der Liebe ins Zentrum dessen, was in Alles, alles Liebe! die Jüdischkeit als Text ausmacht und was sich als Schreibvorgang auf die Formel bringen lässt: das Gesicht wiederfinden. Dazu Honigmann selbst: Das Wort Gesicht, das in allen indoeuropäischen Sprachen seine Etymologie von „sehen“ bzw. von den Augen herleitet, wie im Griechischen „prosopon“ – „das den Augen Gegenüberliegende“ –, aber eben im Griechischen auch die Bedeutung von Maske, Rolle hat, existiert im Hebräischen nur als ein Pluraletantum, als ob es gar kein einzelnes Gesicht geben könnte, sondern immer nur eine Mehrzahl von Gesichtern. Fol­gerichtig leitet sich das hebräische Wort für Gesicht „panim“ auch nicht von „sehen“, sondern von „sich drehen, sich wenden“, einem Verb der Bewegung also, ab.253

Das Gesicht wiederfinden – eine Sprachbewegung, die als eine solche genuin jüdischen Ur­sprungs ist. So kommt auch das Wort ‚Hebräer‘ von dem hebräischen 252 Barbara Honigmann, Das Gesicht wiederfinden, in: ZfdPh 2002, S. 232–236, hier S. 235. 253 Ebd., S. 234f.

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Verb „durchschreiten, durchqueren“.254 Die Anspielung auf den Exodus, die „Durchquerung“ der Wüste Sinai und das „Durchschreiten“ des Roten Meeres, die hier einem Volk seinen Namen gibt, verweist also be­reits etymologisch auf die elementare Bedeutung der Bewegung für das Judentum. Jüdischsein wäre demnach ein dynamischer Zustand. Diese Auffassung lässt Honigmann auch ihre Protagonistin in Alles, alles Liebe! vertreten, wenn Anna an ihre nach Israel ausgewanderte Freundin Ilana schreibt: „Ich finde es eigentlich gut, daß das Judentum keinen Ort hat und das Innere, wie Du es nennst, ausschließlich Handlung, also etwas Bewegtes und vielleicht Bewegendes ist.“ (130) Den Positionen und Haltungen zum Judentum, wie sie in Alles, alles Liebe! dis­ kutiert werden, ist daher auch eine choreographische Komponente im Sinne Barthes zu eigen: Discurere als Vorgang des Hin- und Hergehens, der Schritte und Verwicklungen ähnelt als Schreibfigur dem hebräischen Panim (= sich drehen, das Gesicht wiederfinden). Zum Ursprung dieses Wortes noch einmal Honigmann selbst: Dieser Ursprung des Wortes und seine grammatikalische Form des Pluraletantum will vielleicht der Tatsa­che Ausdruck geben, daß ein Gesicht, das nur den Augen gegenüberliegt, nicht genug Sinn macht, wenn diese Mehrzahl von Gesichtern nicht in Zu- und Abwendung miteinander verbunden bleiben, einer ständi­gen Bewegung zwischen Annäherung und Entfernung.255

Alles, alles Liebe! entwickelt, ebenso wie Hackers Eine Art Liebe über den Liebesdiscursus, über das Hin- und Hergehen der Figu­rensprache zwischen Zu- und Abwendung, Annäherung und Entfernung (der „liebenden Ver­bindung unter Freunden“), einen Diskurs der Selbstvergewisserung im Hinblick auf das Jüdisch­ sein, der sich entsprechend seiner Eigenschaft als Suchbewegung in Redebruchstücken mitteilt. Deren Übermittlung geschieht per Brief. So schreibt zum Beispiel Ilana an Anna: In Riga […] haben wir doch darüber gesprochen, was es wohl mit unserem Jüdischsein auf sich haben könne und daß es im Inneren des Judentums etwas geben müsse, das es, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, am Leben und lebendig erhält. Und Du hast auch gesagt, wie schrecklich und unerträglich es Dir vorkommt, wenn das Judentum nur zu einer einzigen Verfolgungsgeschichte degradiert wird. Avi und ich haben dann gefunden, daß dieses Lebendige im Inneren des Judentums wohl ein Leben nach der Halacha oder wenigs­ tens das Bemühen um Verständnis des Gesetzes sein müßte, also ein langes Lernen und Nachdenken und die Erkenntnis, daß dieses Gesetz ein Anspruch an uns ist, auf den wir irgendwie zu antworten hätten. (106) 254 Honigmann 2000, S. 28. 255 Honigmann, in: ZfdPh 2002, S. 235.

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Anna schreibt hingegen an Eva: Eva, […] alles, was wir haben, ist nur eine jüdische Nase und einen jüdischen Namen und eine Familienge­schichte, die zu Nase und Namen dazugehört, und das kommt mir so festgelegt und vage zugleich vor, so wie eine scharfe Kontur, die im Inneren leer bleibt. Vielleicht ist das eher der magische Kreis, von dem Börne spricht, man kommt nicht heraus, aber innen ist er hohl. (138)

Eva entgegnet daraufhin Anna: Aber trotzdem bleibt es wahr, daß die Zerstreuung unser Schicksal ist, auch wenn das pathetisch klingt, und unser Leben an diesem Ort, in dieser Zeit und mit diesen Menschen stattfindet, die wir so unverständlich finden und die uns unverständlich finden. (146)

Leon wiederum behauptet gegenüber Anna: Dein ganzer Freundeskreis, Eva und Alex allen voran, gehen mir nämlich auf die Nerven, Dein „jüdischer Kreis.“ […] Ihr fühlt euch als irgendeine Elite, und ich habe bis heute nicht verstanden, woraufhin eigentlich. Werke habt ihr nicht vorzuweisen, und besondere Tapferkeit in irgendeiner Sache habt ihr auch nicht be­wiesen. In Deinem „jüdischen Kreis“ stellt ihr euer Jüdischsein heraus und kokettiert damit. Ihr seid aber bloß eingebildete Juden, denn ihr seid deutsch bis auf die Knochen, gerade darin, daß ihr euch so gerne als Anwohner von Jerusalem seht. Eure Eltern sind Bonzen und Funktionäre, die dieses Scheißland mitzuver­antworten haben, in dem ihr euch so unglücklich fühlt. (159)

Und schließlich wendet sich Eva noch einmal an Anna: Das Reden in der Küche hat uns gutgetan, fanden wir, „weil uns ja sonst keiner versteht“. Auch Kongo-Baby hat das bestätigt, mein Cousin aus Südafrika. […] Wenn die Gojim, wie so oft, glauben, sich unbedingt von uns trennen zu müssen, ist diese Trennung dann immer gewaltsam und irreparabel, und beide, die Juden und die Gojim, gehen aus dieser Trennung ver­stümmelt hervor. […] Das abgehackte Bein wächst ja bekanntlich nicht nach. (42)

Diese Bruchstücke einer Rede über Jüdischsein fangen die verschiedensten Blickwinkel und An­sichten ein, die der Selbstvergewisserung dienen. Dabei ist wieder der häufige Analogieschluss augenfällig, den Honigmann zwischen Innen und Außen, Volk und Körper zieht. Diaspora, Exil und Shoah haben in dem ‚jüdischen Gesicht/Gesichtern‘ ihre Spuren hinterlassen. Denn jener „scharfen Kontur“ nach außen, die die Juden von den Gojim als ‚anders‘ unterscheidet, bleibt heute, so Anna, „im Innern leer“. Die Geschichte sieht Deutschen wie Ju­den also im wahrsten Sinne des Wortes in Gestalt von Leerstellen und den suchen­den Bemühungen, sie zu füllen, ins Gesicht. So formuliert Anna die Zumutung und die Überforderung, als die sie ihr Jüdischsein empfindet:

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… ich will das doch nicht immer wie ein Geheimnis mit mir herumtragen. Bloß, wenn ich es sage, ist es falsch, und wenn ich es nicht sage, ist es auch falsch. Es kam, wie es kommen mußte, mein Michi war ganz bestürzt, denn er hatte ja noch nie einen lebenden Juden gesehen, immer nur die toten Juden […] und ich sitze da und mampfe mein Essen in der Kantine. Gleich fühlte ich mich wieder so schlecht und überfordert, weil ich dachte, daß ich nun alles gleichzeitig darstellen muß, Königin Esther und den kleinen Jungen aus dem Ghetto, der die Hände hebt, und den Staat Israel noch dazu. Dabei gelingt es mir doch noch nicht einmal Anna zu sein, die ruhig einen Baum ansieht, geschweige denn einen Wald. Kannst du das verstehen, Leon? (67)

Das Bedürfnis „ich“ zu sagen, wo eigentlich ein „wir“ gemeint ist, statt Lebensweise pure Identi­fikation oder Pose – man fühlt sich beim Lesen an Alain Finkielkrauts markante These vom ‚ein­gebildeten Juden‘ erinnert, die hier der Figur Leon als indirektes Zitat von Honig­mann in den Mund gelegt wird: „Ihr stellt euer Jüdischsein heraus und kokettiert damit. Ihr seid aber bloß eingebildete Juden, denn ihr seid deutsch bis auf die Knochen.“ Entsprechend ist es ein erklärtes literarisches Ziel Honigmanns, sich als Jüdin „nicht immer nur negativ, über Antisemitismus und Verfolgung (zu) definieren, sondern das biographische Loch auch mit Inhalten [zu] füllen“.256 Finkielkrauts Formel vom ‚eingebildeten Juden‘ wird von den deutschjüdischen Autorinnen und Autoren der Gegenwart oftmals über die Wald-/Baum-Metaphorik ausgedrückt. Sowohl bei Dischereit als auch bei Schindel findet sich dieses Denkbild und nun ebenso bei Honigmann, wenn ihre Prota­gonistin bemerkt, dass sie weder sich selbst (den Baum) noch das Kollektiv (den Wald) wirklich zu sehen vermag. Karen Remmler, die Honigmanns Werke im Kontext der theo­retischen Diskurse über Kosmopolitismus und Post-Kolonialismus liest, argumentiert, dass ge­rade durch die Darstellung der Vielfältigkeit jüdischer Identität das „schwierige Verhältnis zwi­schen Deutschen und Juden durchbrochen“257 wird: „Angesichts des Anderen wird subjektive Erfahrung als Teil gesellschaftlicher Strukturen und Umwälzungen enttarnt. Man verantwortet den Anderen.“258 256 Barbara Honigmann, Gespräch mit der Badischen Zeitung 1987, hier zitiert nach Braun 2001, S.  4f. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Günter Blamberger in seiner Kleist-PreisRede: „Ihre [Honigmanns] Ich-Erzählerinnen mögen nomadische Existenzen sein, unterwegs auf der Suche nach Identität, nach Orten, an denen sie bleiben können, das Pathos ausgangsloser Verzweiflung aber bemühen sie nicht.“ Blamberger, Rede zur Verleihung des KleistPreises an Barbara Honigmann, in: Kleist-Jahrbuch 2001, S.  5. Zur Identitätsthematik bei Honigmann ist zudem jüngst erschienen: Anna Kuschel, Transitorische Identitäten. Zur Identitätsproblematik in Barbara Honigmanns Prosa, München 2010. 257 Karen Remmler, Orte des Eingedenkens in den Werken Barbara Honigmanns, in: ZfdPh 2002, S. 43–58, hier S. 43. 258 Ebd., S. 45.

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Ist der Jude aber dem Franzosen heute überhaupt noch der Andere, hatte Finkielkraut im Hin­blick auf das globalisierte, multikulturelle Europa kritisch gefragt. Für Deutsch­land und Österreich hingegen gilt hinsichtlich der Frage nach einer deutschjüdischen Identität ‚der Jude‘ immer noch als ‚der Andere‘. Zumindest wird auf Ebene der öffentlichen und instituti­onalisierten Rede an dieser Dichotomie weiterhin festgehalten, was ja bereits unter der Formel „negative deutsch-jüdische Symbiose“ erörtert wurde. Honigmanns Alles, alles Liebe! diskutiert nun den offiziellen Umgang mit jenem ‚Anderen‘ inner­halb des sozialistischen Systems der ehemaligen DDR: Juden als Juden kamen in der sich bewusst als atheistisch wie auch als antifaschistisch definierenden DDR offiziell nicht vor. Sie wurden, darauf weist etwa Annas jüdischer Freund Alex mehrfach hin, mit der Floskel „Kämpfer gegen den Faschismus“ unter die Gruppe der ‚guten Genossen‘ subsumiert (25). Diesem Selbstbild des sozialistischen Staates entsprechend gab es in der DDR auch nicht die aus der Bundesrepublik Deutschland bekannte Form des Nachkriegsantisemitismus, den sogenannten Philosemitismus.259 Anna, Eva und Alex empfinden vielmehr die Ambivalenz ihres im Gegensatz zu nichtjüdischen Künstlern vergleichsweise privilegierten Status, denn sie sind „geschützt von unseren Eltern und deren guten Ruf, obwohl sie doch selber so ungeschützt sind“ (41). Der ‚gute Ruf‘ verdankt sich dem Leiden der Eltern in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, für deren Taten und ihre Aufarbeitung sich die DDR nicht zuständig fühlt. Diesem offiziellen ‚guten Ruf‘ stehen die üblen Nachrufe im Alltag gegenüber, die nicht so sehr judenfeindlicher als vielmehr allgemeiner Natur sind. Für das Wort ‚Jude‘ fallen, so Walter Hinck, in der DDR „Ersatzschimpfworte“.260 Dementsprechend beginnt Alles, alles Liebe! mit folgender, exemplarischer Szene: Liebe Eva! Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war „Zigeuner“. Jemand rief es mir nach, kaum daß ich ein paar Schritte aus dem Bahnhof getan hatte, auf der Suche nach meinem Hotel. Aber soviel ich mich auch umgesehen habe, da war kein Mensch und kein Hotel, weit und breit. (5)

Die Verlagerung innerer Stimmen und Wahrnehmungsvorgänge nach außen, wie es diese Szene eindringlich dokumentiert, zeigt, dass Annas Ansicht zufolge das 259 Vgl. dazu grundlegend die Studie von Lassner und Trubowitz, in der Antisemitismus und Philosemitismus als interferierende Bilder der vorurteilsbehafteten Haltung gegenüber Juden betrachtet werden, die sich über die Jahrhunderte in ihren Erscheinungsformen wandeln: „Philosemitism and antisemitism are never discrete manifestations of a particular cultural and/ or political movement, but rather engage and interweave images, myths, and ideas whose forms and meanings transform over centuries“. In: Antisemitism and Philosemitism in the Twentieth and Twenty-first centuries. Representing Jews, Jewishness, and Modern Culture, edited by Phyllis Lassner and Lara Trubowitz, Newark 2008, p. 9. 260 Walter Hinck, zitiert nach Braun 2001, S. 7.

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Unterschwellige die öffentliche Atmosphäre in der DDR bestimmt. Dass dieser ‚Ton‘ durchaus auch an die Oberfläche ge­langen kann und zwar in Form von Ressentiments lässt Honigmann anhand einer kleinen histori­schen Begebenheit aus dem Jahr 1975 einfließen, und zwar mit der UNO-Resolution von Helsinki, in der sich die Mehrheit der beteiligten Staaten auf folgende Formulierung gegenüber der Politik Israels festgelegt hatte: „Der Zionismus ist eine Form des Rassismus und der rassischen Diskriminierung.“ (70) Die Bandbreite der Reaktionen, wie sie die Briefe spiegeln, reicht von Frust und Aufruhr bei An­nas Familie und Freunden bis hin zu offener Zustimmung zur Resolution und entsprechenden Kundge­bungen am Theater. Nicht nur eine allgemeine Infragestellung der Existenz­berechtigung Israels wird hier aus Annas Sicht bei erster Gelegenheit kundgetan, sondern es zeigt sich auch, dass die spezifisch jüdische Gewalterfahrung mit der jüngsten deutschen Geschichte im öffentlichen Bewusstsein der DDR keinen Platz hat. Als Opfer der Faschisten werden die Eltern geehrt, als Juden bzw. als jüdische Opfer ignoriert. Auf diese im Modus der Latenz und der Ignoranz wirksam bleibende Ausgrenzung wird von Annas jüdischem Kreis reagiert, indem sie ihre eigenen Formen der Absonderung dem entgegenstellen, wie zum Beispiel die Einsiedelei, was für Leon als Außenstehendem wiederum als elitär empfunden wird. Die Abgrenzung als Gestus der wechselseitigen Selbstfindung – dieser Vorgang bildet in der Tat eine Schnittstelle zur Autobiographie. So lassen sich Honigmanns Texte etwa Amir Eshel zufolge als „höchst lite­rarische Formen von Selbstgespräch und Selbstbefragung deuten“. 261 Für ihre eigene Person gibt Barbara Honigmann hinsichtlich des Abgrenzungsvorgangs dann auch die folgende Selbstauskunft: „Fragte man mich, ob ich deutsch oder jüdisch sei, würde ich schon deshalb jüdisch sagen, um mich von den Deutschen abzugrenzen. Das deutsche Volk steht ja nicht in Frage, der Begriff vom jüdischen Volk aber bleibt doch immer im Vagen und Unge­wissen.“262 Privat stellt die Autorin diesem Vakuum ein Leben nach der Thora entgegen, wie sie es in Alles, alles Liebe! über die Figur Ilana formuliert: „Die Erkenntnis, daß dieses Gesetz [die Halacha] ein Anspruch an uns ist, auf den wir irgendwie zu antworten hätten.“ Mit der Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes nach Straßburg wagt Honigmann eigenen Auskünften zufolge den „dreifachen Todessprung ohne Netz“, und zwar „vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der 261 Eshel, in: ZfdPh 2002, S. 68. Eshel untersucht Honigmanns Roman Soharas Reise nach Formen poetischer Figuration historischer Zeit, nach einer „Poetik und Grammatik fortdauernden Verlusts“. Siehe auch: Kanon und Diskurs. Über die Literarisierung jüdischer Erfahrungswelten, Göttingen 2009. 262 Barbara Honigmann, Selbstporträt als Jüdin (1992), zitiert nach Helene Schruff, Barbara Honigmann, in: Kilcher 2000, S. 266–268, hier S. 266.

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Assimilation mitten in das Thora-Juden­tum hinein“.263 Honigmanns bewusst vollzogener Ortswechsel von der DDR nach Straßburg ist dabei, so Michael Braun, „keine Heimkehr ins orthodoxe Judentum, sondern eine Rückkehr nach Hause in die Fremde und bleibt damit Zeichen für ein ständiges Unterwegssein ohne feste Heimat“.264 Anders als in Schindels Gebürtig, wo es um die literarische Erzeugung von Zugehörigkei­ten, von Heimat in der Heimatlosigkeit ging, bedeutet Schreiben für Honigmann gemäß ihrer Definition des Hebräischen als einem Vorgang des Durchschreitens, in erster Linie: Unterwegssein. Es bleibt aber zu fragen, ob nicht doch eine Form von Heimat in Sicht ist. Wenn Heimat im Sinne Jean Amérys der Ort ist, der einen immer wieder aufnimmt, dann könnte – wenn schon nicht Deutschland als Land – so doch die deutsche Sprache ein solcher Ort für Honigmann sein. Eine solche Form von Heimat würde für die Autorin ein „Zurückkehren“, ohne anzukommen bedeuten: Ich denke aber, der Schriftsteller ist das, was er schreibt, und er ist vor allem die Sprache, die er schreibt. Ich schreibe nicht nur auf deutsch, sondern die Literatur, die mich geformt und gebildet hat, ist die deut­sche Literatur, und ich beziehe mich auf sie, in allem was ich schreibe, auf Goethe, auf Kleist, auf Grimms Märchen und die deutsche Romantik […] Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache, kehre ich immer wieder zurück.265

Anders als in Schindels Gebürtig erfolgt die literarische Selbstvergewisserung in Honigmanns Alles, alles Liebe! also nicht über die Einbindung des eigenen Textes in einen dezidiert jüdischen Stimm­kreis. Honigmanns Raum ist vielmehr der der deutschen Literaturtradition, und damit steht auch ihr Schreiben nicht im Zeichen eines Bruchs mit der Tradition. Karen Remmler zufolge beruft sich Honigmann in ihrem Briefroman geradezu auf die Romantik: Nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt des Briefromans nimmt Motive der Frühromantik auf. Die Briefe zeugen nicht nur von einer schmerzhaften und heftigen Liebe, sondern zeigen auch Gespräche im Freundeskreis, in der Einsiedelei, Gartenkult, die Aufführung von Garcia Lorcas „Bernada Albas Haus“, die Entfremdung des Andersseins […] und das Entfremdungsgefühl von jungen, selbsternannten Genies, die an der Enge des (DDR-) Kleinbürgertums verzweifeln. Die Erlösung durch Kunst, Liebe und Freundschaft sowie die Erinnerungsarbeit gegen die Staatsideologie gehören genauso zum Erbe der deutschen Romantik wie zu den Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus, von denen das Buch stark geprägt ist. 266 263 Ebd., S. 267. 264 Braun 2001, S. 2. 265 Barbara Honigmann, Damals, dann und danach, München 1999. S. 18. 266 Remmler, in: ZfdPh 2002, S. 56.

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So bruchlos wie es Remmlers Ausführungen zu entnehmen ist, ist die Anbindung, die Parallelisie­rung zu den „Entfremdungsgefühlen“ in der Frühromantik nicht. Feine Ironiespuren sowie der erörterte Vorgang der Entmythologisierung insgesamt signalisieren eher eine Kontinuität der Brüche im Kleistschen Sinne, „in Prosa wie in Versen“. Die Honigmann zueigene Verbindung zwischen einer realen Heimatlosigkeit und einer ideellen Heimat in der deutschen Sprache lässt sich besser mit Andreas B. Kilchers Begriff der „Exterritorialität“ fassen: Im Zustand der Exterritorialität gegenüber dominanten ge­sellschaftlichen Systemen – hier Honigmanns räumliche Distanz zu Deutschland – wird die Sprache, das Schreiben, die Literatur zur eigentlichen, dezidiert jüdischen ‚Heimat‘. Genauer gesagt: die deutsche Sprache. Daher ist es wichtig, Honigmanns Werke als Ge­genstand der „deutschen Literatur nach 1989“ zu lesen. Kilcher schreibt zu diesem „sublimen“ Raum des Fiktionalen bei Honigmann: Die deutsche Gesellschaft ist damit nicht der gesicherte Ort eines neuen deutsch-jüdischen Schreibens; es steht vielmehr in einem exterritorialen Verhältnis: ein Schreiben am Rand oder gar außerhalb Deutschlands im imaginären und symbolischen Raum einer sublimierten deutschen Kultur. Solche Distanznahme zum aktuellen Deutschland geht bei Honigmann […] mit einer Ästhetisierung zum Land der Klassiker einher. […] Wenn also Honigmann auf Distanz zum realen Deutschland geht, so lokalisiert sie ihren kulturellen Schreib ort nicht etwa im hebräischen Osten, sondern eben im Kultur-Deutschland Goethes und Kleists […] Dieses Schreiben im sublimen Raum der deutschen Literatur ist zudem nicht nur im inhaltlichen Sinne klassizis­tisch. Es schließt auch in seinen ästhetischen und poetologischen Praktiken eher problemlos an klassische Formen – Linearität und Verständlichkeit – an und lässt die komplizierten und hermetischen Ästhetiken beziehungsweise Anästhetiken der Shoah hinter sich.267

Honigmanns starke Bindung an das, was Kilcher als klassizistische Formen ausmacht, wird auch daran deutlich, dass sie jenseits des Krisenbewusstseins des modernen Romans am Potential der „schönen Kunst und Literatur“ festhält: Bei allem Zweifel jedoch wird man der schönen Kunst und Literatur nicht absprechen können, daß sie je­dem Geschöpf, welches sie erfindet oder nachzeichnet, in seinem Abbild, in den Geschichten und Be­schreibungen seiner Irrfahrten, seiner Komödien der Irrungen, seiner Wahlverwandtschaften, seiner verlo­renen Illusionen, und seiner Suche nach der verlorenen Zeit, nicht die Einzigartigkeit gegeben hätte, in der jeder Mensch sein eigenes Gesicht wiedererkennen kann.268

267 Kilcher, Ebd., S. 137. 268 Honigmann, Ebd., S. 236.

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Die eigenen Gesichter in Zu- und Abwendung zum Anderen wiedererkennen – hierin mag die Aufgabe einer deutschjüdischen Schriftstellerin heute bestehen. So sei abschließend noch einmal Honigmann zum engen Wechselverhältnis zwischen Schreiben und Jüdischsein zitiert: „Ich begriff, daß Schreiben Getrenntsein heißt und dem Exil sehr ähnlich ist, und daß es in die­sem Sinne vielleicht wahr ist, daß Schriftsteller sein und Jude sein sich ähnlich sind, wie sie näm­lich vom Anderen abhängen, wenn sie auf ihn einreden, mehr oder weniger verzweifelt.“269 Jüdischkeit als Text, genauer als ein ‚deutscher‘ Text, bedeutet für Honigmann daher in erster Linie: Sprach-Handlung. In-Bewegung-bleiben heißt somit der discursus, der ihr jüdisches Figurenpersonal kennzeichnet. Oder, mit Emmanuel Lévinas gesprochen: „Die Kunst besteht darin, das Gesicht wieder zu finden.“270

2.5. Alle Tage – Dagmar Leupolds „Nach den Kriegen“ Dagmar Leupolds Roman Nach den Kriegen (2004)271 setzt dort ein, wo – mit Ingeborg Bachmann gesprochen – „nichts mehr geschieht“.272 In dem stark autobiographisch geprägten Roman eines Lebens, so die von der Autorin gewählte Gattungsbezeichnung, spürt Leupold anhand des Lebens ihres Vaters Rudolf Leupold dem nach, was seit ihrer Kindheit Mitte der Fünfziger Jahre nun alle Tage präsent ist: den Beschädigungen, die den vergangenen Krieg in der Zeit nach den Kriegen innerhalb ihrer Familie lebendig halten. Gegenwärtig bleibt diese Vergangenheit durch den Vater, einen ehrgeizigen Mathematiker schlesischer Herkunft, einen charismatischen, geselligen Kettenraucher, der, als Vertriebener im Alltagsleben der Bundesrepublik nun „ernüchtert und angepaßt“ zu den „beneideten Durchschnittsmenschen“ (151) gehörend, der Tochter mit seinem behaupteten Erfahrungsmonopol im Hinblick auf das sogenannte richtige Leben gewissermaßen ‚seinen Stempel aufgedrückt‘ hat: „Der Krieg beherrschte die Gespräche – vielmehr das Reden des Vaters – derartig, daß die Tochter das, was sie selbst erlebte, nicht für wirklich, also erzählbar hielt“. (45) Und so heißt es einleitend, das Bild des Stempels als Vorgang der Einprägung wörtlich nehmend: 269 Honigmann 1999, S. 47. 270 Emmanuel Lévinas, zitiert von Barbara Honigmann, in: ZfdPh 2002, S. 236. 271 Dagmar Leupold, Nach den Kriegen, München 2004. Die Seitenangaben der jeweiligen Textpassagen erfolgen in runden Klammen hinter dem Zitat. 272 Ingeborg Bachmann im Kontext mit Leupolds Nach den Kriegen als Patin anzuführen, ist allein schon deswegen legitim, da Leupold in ihrer Poetik-Vorlesung, in der sie anhand der Begriffe Vergessen, Erinnern und Korrespondieren eine Poetologie entwickelt, die sich mit der Genese der Poesie beschäftigt, Ingeborg Bachmann selbst ausdrücklich als eine „Patin“ bezeichnet, deren Sprache und deren Blick auf das Jahrhundert sie geprägt haben. Siehe Dagmar Leupold, Poetischer Stoffwechsel. Vergessen, Erinnern, Korrespondieren. Oder: Wie die Poesie entsteht, in: dies. Alphabet zu Fuß. Essays zur Literatur, München 2005, S. 61–112, hier 64.

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Der Stempel gehört nun mir. Mein Vater hat ihn anfertigen lassen, in der Absicht, diesem dem Roman folgen zu lassen, der es geschafft hätte, sein Leben zu bezeugen. […] Im Roman hätte sein Leben eine Form und ein Format erhalten, da er ungeschrieben blieb, schien es ihm immer vergeblicher und ungestalteter. Auch mir geht es hier um diese vermißte Gestalt, eine Gestalt, deren Beschädigung durch Krieg geschah, eine Gestalt, deren Bestätigung durch Krieg geschah. Der Krieg geht mitten durch die Familie, ein Graben. Auf der einen Seite diejenigen, die ihn erlebt, und auf der anderen diejenigen, die ihn nicht erlebt haben. Vielleicht wäre ein Buch die Brücke gewesen, vielleicht wäre ein Buch die Lüge schlechthin gewesen. Erst in der Imagination gewinnt Gestalt, was mir in der Wirklichkeit entging. (7, Hervorhebung A.H.)

Wie bei Katharina Hacker, so tritt auch bei Dagmar Leupold die Imagination, die Einfühlungskraft an die Stelle der zu vermittelnden Faktizität und ermöglicht so erst den Nachvollzug. Das Ich, das in Gestalt der Tochter spricht, die sich den Vater erzählend erfindet – diese Schreibbewegung kann zudem als eine genaue Umkehrung derjenigen Erzählhaltung gelesen werden, die – wie im Anschluss noch zu zeigen sein wird – dem Leser in Maxim Billers Die Tochter begegnet. Beide Romane situieren sich ‚nach den Kriegen‘, thematisieren mittels einer heiklen Vater-Tochter-Konstellation die Beschädigungen, die der Krieg bei den Betroffenen und ihren Nachkommen hinterlassen hat. Beschädigungen, die, verbunden mit der Macht des Vaters, diese Beschädigungen auf Kosten der Familie zu kompensieren, zugleich Verhaltenslehren der Kälte sind.273 Wie zu zeigen sein wird, gewinnt die vermisste Gestalt des Vaters bei Leupold gerade durch den jüdischen ‚Anderen‘, kontrastiv an Konturen. 2.5.1. Der Vater. Ein Tochterbuch

„Weil er so fremd blieb, lud der Vater dazu ein, ihm Vorlieben und Aversionen anzudichten, überhaupt ihm durch Zuschreibungen eine Gestalt mit festen Umrissen zu verleihen.“ (217) – Die Tochter, die sich, ausgelöst vom Tod des Vaters, diesen „neu zu erfinden“ trachtet,274 erhält wiederum selbst erst durch den Vater klar umrissene Strukturen: „Der Vater war verstrickt, so viel stand fest, und war nur nebenher auch Vater. Vater beschrieb kein Verhältnis, sondern war ein Name, der Vater war nicht mit Vatersein beschäftigt, das Kind aber mit Tochtersein“. (67) Causa movens des Erzählens ist folglich ein Mangel an Identität. Ein Mangel, der zweifacher Natur ist. Denn der Tod des fremden, in gewisser Weise ‚fehlenden‘ 273 Die Formulierung „Verhaltenslehre der Kälte“ ist inspiriert von Helmut Lethens einschlägigem Werk: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994. Nähere Erläuterungen siehe im Folgekapitel 2.6. 274 Werner Jung, Versuch im Familienarchiv. Wenn Verstehen unmöglich wird: Dagmar Leupold erfindet ihren Vater neu, in: Frankfurter Rundschau, 5. Januar 2005, S. 16.

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Vaters wird zwar einerseits zur Voraussetzung, dass der Vater zum Gegenstand der Interpretation erhoben werden kann.275 Mit dessen Literarisierung geht jedoch auch erst die Konstituierung des Ichs als Autorfigur einher, die, in ihrer relational bestimmten Identität als ‚Tochter von …‘ nach einer Positionierung im Umgang mit diesem Erbe sucht. Nach einer Haltung, die die Tochter gegenüber dem vom Vater an sie weitergegebenen Namen einnehmen kann. Nach den Kriegen ist damit weniger, wie Jörg Magenau behauptet, „ein Versuch, sich vom Vater zu befreien, sich wegzuschreiben“,276 als sich ihm schreibend überhaupt erst einmal anzunähern und dabei die eigenen Zuschreibungen des Tochterseins und die damit verbundene Autorinnenrolle zu reflektieren. Denn dass das eigene Erleben von der Ich-Erzählerin als unwirklich, und damit als nicht erzählbar und mangelhaft erfahren wird,277 ist eine der nachhaltigsten Folgen jener am Vater diagnostizierten „Unfähigkeit zur Gegenwart“ (193), die von der Tochter als eines des Hauptkennzeichen der Beschädigungen des Krieges und als seine elementarste Folge für den Alltag des Familienlebens ausgemacht wird. Man kann die Stärke des Romans daher gerade in dem begründet sehen, was Magenau „nichts Außergewöhnliches“ nennt: [D]ie Tochter [berichtet] vom kleinbürgerlichen Familienleben in den sechziger Jahren, von einem väterlichen Despoten, der immer ein Stück mehr vom Sonntagsbraten bekam und die Wohnung mit seinem Zigarettenqualm vernebelte. […] Gäbe es nicht die NSVergangenheit und den Verdacht, den sie nun im Rückblick über den Vater legt, hätte diese beklemmende Kindheit nichts Außergewöhnliches.278

Die alltäglichen Tätigkeiten Rudolf Leupolds sind gerade ganz bewusst auf das Stillstellen, auf ein Negieren der Gegenwart ausgerichtet, wie es sich etwa in Form des alltäglichen Rituals der ausgedehnten Mittags-‚Pause‘ zeigt: Sie [die Mittagspause] wurde blaue Stunde genannt, bestand zum Teil aus Schlafen, zum anderen Teil aus langen Gesprächen im Wohn- und Herrenzimmer, zwei Räume, die ineinander übergingen und nicht getrennt genutzt werden konnten. Die Töchter mußten, während der Vater der Mutter die neuesten Schmähungen zutrug, absolute Ruhe wahren, durften nicht in der Diele sprechen, nicht Türen schlagen, nicht klingeln oder die Treppe 275 Dazu siehe auch Jörg Magenau, Die schrecklichen Kriegsväter. Erinnerungsliteratur: Dagmar Leupold und Martin Pollack betreiben Familien-Recherche und entdecken schmerzhafte Wahrheiten, in: Literaturen 12/04, S. 70f. 276 Ebd., S. 71. 277 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Werner Jung, der konstatiert, dass der „poetologische Kern“ von Leupolds Roman in den „ständigen Selbstzweifeln der Erzählerin“ steckt. Jung, Versuch im Familienarchiv, S. 16. 278 Magenau, Kriegsväter, S. 70.

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hinaufstürmen, sie mußten verschwinden. […] Allmählich breitete sich durch die Türritzen überall der Rauch aus – ging, nach Stunden, dann die Tür auf, stand man vor einer Wand aus qualmigen Schwaden, blau die Luft und das verbleibende Licht. Die dahinter auftauchenden Töchter wurden leicht übersehen. Bei Regen wurde, bis auf die Diebestour zum Bad, die blaue Stunde im Kinderzimmer abgesessen, zugeschaut, wie der Tag hinter dem Fenster verging, die Puppen schikaniert, gehäkelt, gestritten – schlecht, weil Flüstergebot bestand. Jeden Tag dasselbe geheimnisvolle Familien-Ballett, das einer Vorgabe folgte, die es gab – so wie es Wetter gab. Ein Drehen und Springen, Stemmen und Abwenden, Anflehen und Verstoßen. (65f )

Der kriegsgeschädigte Vater zwingt den Töchtern ein Verhältnis der Ohnmacht auf und bestätigt dadurch seine Macht. Dieses Machtverhältnis wird vor allen Dingen territorial geregelt: So ist das Wohnzimmer unabdingbar an das Herrenzimmer gebunden; der Vater erscheint als der Herr über den Alltag und die Zeit. Die „blaue Stunde“, wie sie täglich im Hause Leupold zelebriert werden muss, birgt zudem eine Anspielung auf Gottfried Benns Gedicht Blaue Stunde. Die Bedeutung der oben zitierten Passage für die atmosphärische Beschaffenheit der Gesamthandlung erweist sich auch darin, dass Leupold ursprünglich vorhatte, ihren Roman Blaue Stunde zu nennen, bevor schließlich eine Kapitelüberschrift daraus wurde. Eine Verszeile aus Blaue Stunde hat Dagmar Leupold dem Roman zudem als Motto vorangestellt, sie lautet treffenderweise: Das Schweigende ist so weit vorgeschritten / Und füllt den Raum und denkt sich selber zu. Dort, wo in der Literaturkritik also mitunter der Eindruck entstand, es handele sich um ein „Sachbuch in eigener Sache“279 oder um ein „eckiges und sperriges“ Buch,280 wird von der Autorin bereits einleitend eine klare poetologische Aussage getroffen: Das Schweigende „denkt sich selber zu“ – Das ist der Diskursraum, innerhalb dessen die Reflexionen der Ich-Erzählerin eine genau gegenläufige Erzählbewegung vornehmen: Indem ihre Reflexionen das Schweigende sozusagen auf-denken, bildet die Rede der Tochter einen Gegendiskurs, der dem Mangel an Gespräch einen Text entgegenstellt. Aus dem Buch über den Vater wird also ein Tochterbuch, das auch um die offene Frage kreist, was es heißt „Tochter zu sein, Tochter dieses Mannes“. Den Versuchen der Forschung Leupolds Roman zu verorten, bieten sich wiederum insbesondere drei Schlagworte an: ‚Erinnerungsliteratur‘, ‚Vertriebenenliteratur‘ und ‚Vaterbuch‘. Mit diesen verbindet sich eine Reihe von Namen, deren Träger mit ihren Werken inzwischen zur Kanonbildung der jeweiligen literarischen Form beigetragen haben. Exemplarisch zu nennen seien für die ‚Erinnerungsliteratur‘ die hier bereits besprochenen Werke weiter leben von Ruth Klüger 279 Ebd. 280 Jung, Versuch im Familienarchiv, S. 16.

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(1992) und Die Ausgewanderten (1992) von W.G. Sebald, für die ‚Vertriebenen­ literatur‘ Reinhard Jirgls Die Unvollendeten (2003) und Christoph Heins Landnahme (2004) sowie für den ‚Vaterroman‘ Ruth Rehmanns Der Mann auf der Kanzel (1979), Christoph Meckels Suchbild (1983), Ludwig Harigs Ordnung ist das ganze Leben (1986) sowie – zeitgleich zum Erscheinen von Leupolds Nach den Kriegen – Wibke Bruhns Meines Vaters Land (2004) und Martin Pollacks Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater (2004). All diesen Werken gemein ist – siehe die zeitliche Signatur der Werke, die sich vom Anfang der achtziger Jahre bis in die jüngste Gegenwart hinein datieren – eine vermittelte Haltung zum Geschehen der NS-Zeit, der Versuch des erzählenden Nachvollzugs aus der zeitlichen oder generationsbedingten Distanz. Zu den allgemeinen, formalästhetischen und thematischen Kriterien des ‚Vaterbuchs‘, der für Leupolds Roman naheliegenden literarischen Formvorlage, schreibt Jochen Vogt: Eine Generation wird – einer frühen Definition Karl Mannheimers zufolge – weniger durch den Geburtsjahrgang als durch gemeinsame Erfahrungen in einem sozialhistorischen Zeitraum definiert. Solche Erfahrungen werden in Zeiten schneller und tiefgreifender sozialer Veränderungen stärker ausfallen und schärfer empfunden als in vergleichsweise statischen Phasen. Aus Sicht unserer Autorinnen trennt der historische Schnitt von 1945 mit seinen lebensweltlichen Auswirkungen die pränatale Familiengeschichte […] Dieser Bruch, verstärkt durch die innerfamiliäre Schweigebarriere gegen das „Vorher“, darf insofern als exzeptionelle Generationserfahrung gelten (und erklärt ganz nebenbei auch die große formale und erzählstrukturelle Ähnlichkeit der Texte). Ein Generationsdiskurs also, aber auch ein Diskurs zwischen den Generationen? Die Utopie der Väterbücher ist das nachholende, herrschaftsfreie, womöglich befreiende Gespräch zwischen Vätern und Kindern. […] Eben dies kann aber, nach den faktischen Voraussetzungen dieser Erzählungen selbst, grundsätzlich nicht gelingen; vielmehr tritt das Protokoll dieses Mißlingens an seine Stelle […] Daß sie mißlingen, ist – wie gesagt – nicht Zufall oder individuelles Versagen, sondern diskursvier Ausdruck des in Deutschland schwer gestörten Generationenverhältnisses, speziell zwischen Väter und Söhnen. Mit dem Absturz aus kollektiven Größenphantasien, den die Zäsur 1945 markiert, ist auch das wilhelminisch geprägte, von den Nazis nochmals soldatisch zugespitzte deutsche Männer- und Väterbild, mitsamt seinen habituellen Ausstaffierungen, seinen Erziehungsnormen und -praktiken, zumindest langfristig entwertet. […] Die Väterbücher sind keine Dialoge, sondern pseudo-dialogische Auslotungen eines nicht heilbaren Bruchs zwischen zwei Generationen.281

Vogt sieht in der ‚Mode‘ dieser von der Literaturkritik schon wieder totgesprochenen Väterbücher282 rückblickend also durchaus einen Generationsdiskurs am Werk. 281 Vogt, Väterbücher, S. 386f. 282 Auch Werner Jung spricht vom „Tod des Vaterromans“, dessen Ende und Vollendung er mit Ludwig Harigs Ordnung ist das ganze Leben gekommen sah, und Leupolds Roman daher in

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Mit den von Vogt herausgearbeiteten Kriterien des Vaterromans hat Leupolds Roman über das Leben ihres Vaters einige zentrale Kriterien gemeinsam, die sich bereits den wenigen, hier schon vorgestellten Textpassagen entnehmen lassen: Erstens, die Neigung zum autobiographisch stilisierten Schreiben.283 Zweitens, eine Thematik, die sich vorherrschend mit dem Scheiterns des Vaters in seiner Vaterrolle, seinem „Absturz aus Größenphantasien“ sowie mit seiner fehlenden Reflektion der politisch-ideologischen Implikationen seines Handelns auseinandersetzt. Und schließlich drittens, die Textarbeit, die an die Stelle des – scheiternden – Gesprächs tritt. Das Entschlüsseln der Dokumente und Aufzeichnungen des Vaters, die von der Tochter ebenso wie in fast allen Vaterromanen entschlüsselt und gegen den Strich gelesen werden, um „das Vergessene, Verschwiegene oder Verfälschte zu rekonstruieren“.284 Im Gegensatz zum geringen Grad der Fiktionalisierung,285 den Vogt beim überwiegenden Teil der Väterbücher feststellt, wird die Fiktionalisierung bei Leupold geradezu zum Strukturprinzip erklärt. Auch fehlt Nach den Kriegen jegliche Form von Teleologie, es erfolgt keinerlei Klärung der Haltung zum Vater.286 Eine Form von Conclusio, die laut Vogt für die Werke dieser Gattung geradezu signifikant zu sein scheint. Die einzige Form der Gewissheit, die sich beim Lesen von Leupolds Geschichte einstellt, ist die, dass die Utopie eines „befreienden Gesprächs“ uneingelöst bleiben muss und zwar sowohl für die Tochter als auch für den Leser dieses Tochterbuches. Leupolds Nach den Kriegen lässt sich, in Anlehnung und Abgrenzung von Vogts Thesen zum Vaterroman, daher als eine Form der Teilhabe am Generationendiskurs beschreiben, der als Diskurs zwischen den Generationen ein Denken vorführt, das nicht klärt, sondern (be)fragt. Dass sich diese Befragung, das Aufdenken der Tochter nun insbesondere an der fragwürdigen Haltung des Vaters gegenüber ‚den Juden‘ entzündet, ist in gewisser Weise auch eine Antwort auf den indirekten Aufruf Klaus Brieglebs. Da die „letzte Unmittelbarkeit des Vaters zu seinen Untaten“ fehle sei, so Briegleb, „das Begehren [der schreibenden Kinder] umso größer, sich das Schweigen der Eltern aufs eigene Verhalten und Schreiben übertragen zu lassen – es ist ein sehr geschwätziges Schweigen – und diese Passivität als zweites, vermitteltes Opfersein in solcher Familienverschwörung auszulegen. So suchen wir“, schreibt Briegleb

einem „Zwischenbereich“ ansiedelt, siehe Jung, Familienarchiv, S. 16. Siehe auch Jochen Vogt, Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt … Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher, in: Braese, Gehle 1998, S. 385–399, hier besonders S. 386. 283 Vogt, Väterbücher, S. 391. 284 Ebd., S. 393. 285 Ebd., S. 389. 286 Ebd.

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weiter, „auch vergebens nach den Juden in der Väterliteratur und über sie hinaus“.287 Jochen Vogt wiederum weist zumindest auf eine vage Entwicklungstendenz hin. Während in Bezug auf die Juden in der Väterliteratur überwiegend eine „Marginalisierung“ festzustellen ist, sei es doch ein Kriterium der jüngsten Zeit, dass die Texte durch die „Besonderheit der erzählerischen Präsentation“ die Aufmerksamkeit des Lesers gerade auf diese Marginalisierung richten.288 Ganz konkret hingegen wird die Aufmerksamkeit des Lesers von Dagmar Leupold immer wieder auf den Zusammenhang zwischen den Handlungen des Vaters und dem Schicksal der Juden gelenkt und zwar mittels direkter Fragen: Ist der Triumph der ehemals deutschen Minderheit, die nun, in der Zivilverwaltung an die Macht gekommen, mit Polen und Juden nach Belieben grausam verfährt, so groß, die vorangegangene Kränkung so gewaltig, daß er [der Vater] schlechterdings unerörtert lassen kann, womit der Triumph erkauft, die Kränkung gerächt wurde? Daß jedes Mitgefühl für die Gequälten fehlt? Reichen die wenigen, verquasten Darlegungen bezüglich der rassistischen Andersartigkeit der Juden in den Leitsätzen der Jungdeutschen [denen der Vater angehört] aus, derartig gleichmütig die daraus folgende Vernichtungspolitik als nur mehr logistisches Problem zu sehen? Anscheinend. Der Duktus des Tagebuchs, der wenigen Seiten darin, die sich mit dem Kriegsgeschehen befassen, ist so emotionslos wie die mathematischen und physikalischen Überlegungen und Ausführungen, die ihnen folgen. Für R.L. [Rudolf Leupold] ist die Herausforderung in beiden Disziplinen der Kriegsführung und der Mathematik strategischer Natur; es gibt Probleme (das Polen = Ukrainer = Juden = Problem oder das reeller Funktionen), und die muß man lösen. (129) Die Fragen sind immer dieselben: Wie kann ein kluger, gebildeter Mann so verblendet sein, daß er Krieg und Völkermord nicht mit einem einzigen kritischen Wort kommentiert, sondern diese als eine Wegbereitung wahrnimmt, die ihm das Erreichen seiner ehrgeizigen Ziele wesentlich erleichtert. (134)

Für die fragende Tochter kann es daher kein Gespräch geben, weil der Erzählende, der Vater, stets „in Deckung geht“, sich „nicht ausdrückt, sondern verdrückt“ (111). Leupolds Ich-Erzählerin sucht daher ebenso wie die autornahen Erzählerfiguren Katharina Hackers und W. G. Sebalds nicht nur das Gespräch zwischen den Generationen und zeigt die Belastungen, die Bedürftigkeiten hinsichtlich eines solchen Gesprächs auf, sondern sie weist zudem auf den Mangel hin, der – im 287 Klaus Briegleb, in: Ders., Sigrid Weigel (Hrsg.), Gegenwartsliteratur seit 1968, München, Wien 1992, (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd.12), S. 18. 288 Vogt, Väterbücher, S. 395.

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Sinne Gershom Scholems – in Bezug auf das deutsch-jüdische Gespräch bis heute besteht. Im Hinblick auf eine mögliche Zuordnung von Nach den Kriegen böte sich daher ein weiteres Schlagwort an und zwar im argumentativen Anschluss an Axel Schildts Überlegungen zur Historisierung der Bundesrepublik. Dagmar Leupolds Roman Nach den Kriegen erzählt eine Belastungsgeschichte. 2.5.2. Im leeren Raum des Fiktiven – Schweigediskurse Der Krieg war unvorstellbar. Ohne ihn gab es nichts zu erzählen, aber das Erzählte anverwandelte ihn nicht. Klar war nur, daß man sich im Krieg irgendwie hätte bewähren können, während in der Wirklichkeit der Schultage, der Klavierstunden, der Spaziergänge, Mahlzeiten und Rollschuhnachmittage eine mögliche Bewährung jeden Tag anders ausfallen, auch ausbleiben konnte und immer neu berechnet werden mußte. Man konnte unendlich viel falsch machen in Friedenszeiten. Und: Bevor man selbst Erfahrungen machen kann, widerfährt einem alles. Sprachlos. (47)

Die Sprachlosigkeit, die an die Stelle des Erleb- und Mitteilbaren tritt, wird zur elementarsten Erfahrung der Tochter. „Das Schweigen blieb der Inbegriff jedes Gesprächs“ (99) – und von den Varianten dieses Schweigens werden dem Leser im Fortgang von Nach den Kriegen einige vorgeführt. Seien es die „gefürchteten Vorträge“ (98) des Vaters über den Krieg, die, da sie immer exakt gleich verliefen, als mögliche „Deckversionen, Tarnungen des Schwierigen, Widersprüchlichen“ (33) die Tochter misstrauisch werden lassen. Sei es das tägliche Ritual der „blauen Stunde“, das indirekte Sprechverbot, das über den Töchtern liegt, was ihre eigenen Geschichten betrifft, oder auch das Aussparen des wirklich Erlebten, das sich vielleicht, so hofft die Tochter, über die spätere Tagebuchlektüre doch noch „anverwandeln“ ließe. Stattdessen stößt die Erzählerin jedoch nur auf neue Variationen einer an Ernst Jüngers Strahlungen geschulten Verhaltenslehre der Kälte: Das ist am Schwierigsten zu verstehen: daß für ihn im Schreiben nicht die Möglichkeit der Distanzierung, des Ausdrucks einer Verstörung und des Ringens um Verstehen lag, sondern daß es zunächst der Selbst-Stilisierung, der koketten Selbstreflexion im Spiegel der Schrift diente, um dann, als mit der eigenen Verwundung, der Länge des Krieges, der sich abzeichnenden Niederlage und der zunehmenden Verheerung deutscher Städte mit unzähligen zivilen Opfern eine derartige Umwertung nicht mehr durchführbar war, zum Ort des Schweigens wurde und der Ausflucht. (152)

Das Tagebuch mit all seinen Notizen, wortreichen Eintragungen und Beobachtungen ist für die Tochter ein Ort des Schweigens. Und so heißt es in direktem Vergleich zu Ernst Jünger:

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Der Abstand zum Krieg wird gewonnen, indem man ihn betrachtet, unter die Lupe nimmt wie ein Naturereignis, über dessen Genese und Verlauf man nun in der künstlichen Rekonstruktion Aufschlüsse zu finden hofft. Jünger tut dies allerdings bereits während des Kriegs; selbst die letzten Botschaften der Geiseln vor ihrer Erschießung, die er übersetzt, werden diesem eher statistischen Impuls unterworfen. So stellt er etwa fest, daß die am häufigsten gebrauchten Worte in den Abschiedsbriefen Liebe, Mut und Lebewohl sind. (171)

Nicht nur den Männern, sondern vor allem dem Krieg scheint also die Sprache zu gehören. In der Literaturkritik wurde schon auf das Phänomen hingewiesen, dass Leupolds Roman im Grunde aus zwei Büchern oder aus zwei Teilen besteht, ohne dass von der Autorin selbst jedoch dementsprechende formalstrukturelle Signale gesetzt würden.289 Und zwar aus einem erzählerischen ersten Teil, der von der letzten Begegnung mit dem sterbenden Vater am Krankenbett und den frühen Kindheitserinnerungen an der Lahn und dem Umzug nach Mainz handelt, und aus einem zweiten Teil, in dem die Tochter sich, vermittelt über den schriftlichen Nachlass, mit der Vergangenheit, dem Leben des Vaters vor dessen Vatersein reflektierend und kommentierend auseinandersetzt. Der damit verbundene Perspektivenwechsel – nach der Tochter spricht nun im weiteren Fortgang ein Ich, das als das der erwachsenen Frau, Schriftstellerin und Kritikerin gekennzeichnet ist – dieser Perspektivenwechsel markiert auch strukturell das Auseinanderfallen, das Sperrige dieses Roman eines Lebens und ist somit auch ein Diskurs, der auf metasprachlicher Ebene den Zustand des Disparaten, den Mangel als Haltung gegenüber seinem Gegenstand vorführt. Ähnlich wie bei Katharina Hacker bilden somit auch bei Dagmar Leupold Wissen und Erzählen eine schwierige, sich immer wieder neu konstituierende, heikle Liaison. Den zahlreichen intertextuellen Verweisen, die die Autorin für ihren ‚Diskurs des Aufdenkens‘ bemüht, sei es auf werkimmanenter Ebene durch die Vergleiche des väterlichen Nachlasses mit den Werken Benns und Jüngers, sei es durch die Literaturverweise im Anhang (wo auch auf Lethens Verhaltenslehren der Kälte verwiesen wird) – diesem diskursiven Feld ist unbedingt ein weiterer Name hinzuzufügen: Walter Benjamin. Benjamins Auseinandersetzung mit Ernst Jünger führte diesen zu Schlussfolgerungen über den Zusammenhang von Gedächtnis, Kriegs289 Neben den bereits mehrfach zitierten Stimmen von Werner Jung und Jörg Magenau lässt sich hier stellvertretend noch eine weitere Kritikermeinung zitieren. So kommt etwa Angelika Overath in der Neuen Züricher Zeitung zu folgendem Fazit: „Ein Roman ist der Text nicht, seinen Ausgang allerdings nimmt der Text bei einem Roman, genauer bei einem Romanprojekt, das der Vater der Autorin für sich nicht einlösen konnte.“ Was entstanden ist, sei laut Overath daher „mehr eine Collage aus fiktionaler Prosa und Kindheitsbildern, historischer Dokumentation, soziologischem und literaturkritischem Essay.“ Angelika Overath, Vaterarbeit. Dagmar Leupolds Roman „Nach den Kriegen“, in: NZZ vom 14. 9. 2004.

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trauma und Verlust, die sich auch in Leupolds Roman als zentrale Reibungspunkte wiederfinden. „Wir haben viel, vielleicht alles, auch die Ehre verloren. Eines bleibt uns: die ehrenvolle Erinnerung.“290 – So konnte Jünger nach Ende des Ersten Weltkrieges noch sprechen, und in seinen Aufzeichnungen Stahlgewittern Erinnerung und Verlust auf eine Art und Weise verknüpfen, welche die Erinnerung gegen den Verlust stellt. Dass Jüngers Text diesem Vorhaben der Bewältigung nicht standhält, lässt sich, mit Inka Mülder-Bach, als „Markierung des Traumas“ lesen: „Eben weil die Erinnerung selbst von dem Verlust betroffen ist, muß Jünger seine Kriegstexte zwanghaft wieder und wieder umschreiben.“291 Und so wird der von Jünger herausgegebene Sammelband Krieg und Krieger für Walter Benjamin zehn Jahre später zum Anlass für eine der klarsten Analysen des Erinnerungsproblems der Nachkriegszeit. In seinen Überlegungen zum Wesen des deutschen Faschismus, den Theorien des Deutschen Faschismus, heißt es: Den Krieg aus ihrem Innersten heraus geführt zu haben, könnten auch andere Völker von sich behaupten. Ihn aus dem Innersten verloren zu haben, nicht. […] Was heißt, einen Krieg gewinnen oder verlieren? Wie auffallend in beiden Worten der Doppelsinn. Der erste, manifeste meint gewiß den Ausgang, der zweite aber, der den eigentümlichen Hohlraum, Resonanzboden in ihnen schafft, meint ihn ganz, spricht aus, wie sein Ausgang für uns seinen Bestand für uns ändert. Er sagt: der Sieger behält den Krieg, den Geschlagenen kommt er abhanden; er sagt: der Sieger schlägt ihn zum Seinigen, macht ihn zu seiner Habe, der Geschlagene besitzt ihn nicht mehr, muß ohne ihn leben. […] Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift, wenn wir der Sprache folgen, so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, daß wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind.292

Über die Reflektion des Doppelsinns von „verlieren“ erschließt Benjamin eine ganz neue Dimension im Hinblick auf die psychischen und sozialhistorischen Folgen des Krieges. Denn nicht schon der Krieg an sich, sondern erst sein Verlust erzeugt jene Traumatisierung des kollektiven Gedächtnis‘, die hier als der Entzug eines gemeinsamen Fundus an Malen und Bildern skizziert wird. Laut MülderBach bleibt Benjamins Denken allerdings selbst von dem Diskurs der Zäsur geprägt, dessen Dynamik er freilegt. Das Erlebte, das durch den Entzug der dazu290 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Leisnig 1920, S. IX 291 Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 7. 292 Walter Benjamin, Theorien des Deutschen Faschismus, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band III, Frankfurt am Main 1972, S. 242.

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gehörigen Sprache und Bilder nicht in das kulturelle Bewusstsein integriert werden kann, bildet ein Vakuum, das jede Zäsur, wie die von Krieg zu Frieden, mit einer Diskontinuität belegt, die diesem Anfang eingeschrieben bleibt. Ungeachtet dessen, dass Begriffe wie „kollektives Bewusstsein“ oder „kulturelles Bewusstsein“ heute verständlicherweise populär sind, weil sie die einerseits so gut beobachtbaren wie zugleich komplexen gesellschaftlichen Phänomene und diffusen Beschaffenheiten begrifflich zu fassen scheinen, bleiben diese Begriffe problematisch. Denn ebenso wie bei jener kollektiven „Unfähigkeit zu Trauern“ kann es sich auch bei „dem Bewusstsein“ generell stets nur um die Summe individueller Vorgänge handeln, die, da ihnen ähnliche sozialhistorische Erfahrungen zu Grunde liegen, Gemeinsamkeiten erzeugen. Gemeinsamkeiten, die zu Aussagen auf Ebene des Kollektivs verleiten. Festzuhalten bleibt allerdings, dass mit Benjamin der medizinische Begriff des Traumas in die Geschichte einzuwandern beginnt. Seit der Zwischenkriegszeit und umso radikaler nach dem Zweiten Weltkrieg ist Geschichte in der Moderne ohne den Bruch nicht mehr zu denken.293 Jener Entzug der Bilder, Worte und Funde aber, und dies ist im Kontext von Nach den Kriegen besonders von Belang, gewinnt laut Benjamin gerade mit wachsendem Abstand zum Krieg an produktiver, identitätsbildender Kraft. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg heißt es daher bei Leupold in einem geradezu ‚benjaminischen‘ Resümee: „Ohne Krieg gab es Unfrieden. Gegen das Verlorene kam das Gewonnene nicht an“ .(87) Nach den Kriegen lässt sich der Tochter zufolge auf Basis des Verlorenen also nichts befrieden, innerhalb des Disparaten nichts kitten: „Was bleibt“, so die Tochter weiterhin ganz im Sinne Benjamins, „ist eine Fundstelle“. (113) Das Aufdenken der Beschädigungen, die die Tochter im Laufe ihrer Reflektionen und Erinnerungen zum Roman eines Lebens zusammenträgt, sind daher wie eine negative Form der Habe: [V]ielleicht nimmt der Krieg auch denen, die ihn überstehen, die Regie ihrer Biographie aus den Händen, den Tätern wie den Opfern – wenn auch aus entgegengesetzten Gründen. Sie erinnern sich anders: Die einen beharren auf ihrer Version der Geschichte, die sie entlasten soll, die anderen trauen keiner Geschichte mehr über den Weg: Zuverlässigkeit haben sie nur als Gewißheit der Vernichtung erlebt. (34)

Mit dem Krieg kommt den Verlierern, die, im Sinne Benjamins in Nach den Kriegen selbst Verlorene sind, also auch ihr Leben, die gelebte Zeit abhanden. Wie lässt sich so eine Lebensgeschichte anverwandeln, wie beerben, wenn die Gegenläufigkeit der Opfer und Täterdiskurse sogar mitten durch Rede und 293 Mülder-Bach 2000, S. 7.

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Schweigen selbst verlaufen? Indem die Tochter sämtliche Formen der Stillstellung und Mythenbildung über den Krieg zutage fördert, die seitens des Vaters erfolgen, um das Abhanden-Gekommene zu kompensieren, öffnet sich ein gewaltiger Raum des Fiktionalen, indem jede Rede des Vaters ein geschwätziges Schweigen markiert, das der Tochter das beredete Schweigen der Opfer umso stärker hörbar macht. Jene ‚Spracharmut‘ des Vaters (im Sinne Leupolds und Benjamins) erscheint interessanterweise nun dort besonders eklatant, wo der Vater sich ganz bewusst im Raum des Fiktionalen erprobt. In seinem Romanentwurf Rote Erde, bleicher Schnee, den die Tochter im Nachlass findet, lässt Vater Leupold seinen Protagonisten Georg Larisch, einem gleich seinem Schöpfer vielversprechenden Assistenten der Mathematik, in Lemberg ins Tuchgeschäft seinen Onkels eintreten. Im Hause eines seiner jüdischen Handelspartner trifft Larisch schließlich auf die schöne Rebekka. Als der Vater Rebekkas ihm zum Abschied ein Seidentuch schenkt, reagiert Larisch instinktiv mit einer Gegengabe: Mit einem Griff zog sich Larisch seinen roten Schal vom Hals und legte ihn Rebekka um die Schultern. Da war es wieder, das samtene Glimmen, auf­ zuckend, gleich vorbei, und schnelles Vibrieren spielte über den feuchten Mund. (212) Larischs erotisches Erlebnis mit der Jüdin Rebekka, „ein Kind, das keins mehr ist“, deren „weiche, samtene Augen“ ihn in seinen Bann ziehen, wird nun von der Tochter, die hier als Lektorin fungiert, nicht nur in all seiner Klischeehaftigkeit dekonstruiert. Im Hinblick auf eine Lesart von Nach den Kriegen, die nach der Jüdischkeit als Text fragt, ist von besonderer Signifikanz, dass die Tochter es eben nicht beim Vorgang des Entmystifizierens allein belässt. In einem weiteren Schritt versucht sie nun vielmehr den „Spielraum“ (212) zu nutzen, um aus der „schwülstigen Szene“, in der Rebekka ihrer Ansicht nach bei Larisch „nur eine vorübergehende Intoxikation“ bewirkt (212), eine eigene Geschichte zu stricken. Mittels dieses Verfahrens der Umschrift erzeugt sie einen Gegendiskurs. Aus Vater Leupolds Rebekka wird bei der Tochter Leupold nun eine Frau, die eigentlich Ilse heißt. Als diese Ilse Jahrzehnte später, als Holocaust-Überlebende in Israel das Manuskript mit besagter Szene in die Hände bekommt, ist sie empört: Sie hatte sich unter ihresgleichen gefühlt, die Schlagfertigkeit genossen, das Frotzeln. Rebbach! Von wegen. Als sie jetzt, Jahrzehnte später, vom Leben mürbe und müde, liest, wie der junge Mathematiker und Schriftsteller in spe sie damals seinen Zwecken gemäß umgedeutet hat, ist sie hell empört. Und entzieht dem in irgendeiner Ferne Verschollenen ihr Wohlwollen. Er hatte einen Mund, sensibel, ironisch, immer kurz vor dem Lächeln und doch ernst – dem hatte sie getraut. Das war ein Fehler, sie würde sich fortan nicht mehr an ihn erinnern, an diesen Larisch-Rudi-Verschnitt. […] Der rote Schal war ein Pfand – auf nichts, wie sich jetzt herausstellt. Hier ist es zehn Monate im Jahr warm. Man braucht wirklich keinen Schal. Und jener [der Schal] hat die Ausreise sowieso nicht geschafft.

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Aber behalten hätte sie ihn, wenn aus Rudi nicht Larisch geworden wäre, sein Versprechen von Wärme hätte sie behalten. (212f.)

Der Raum des Fiktionalen dient dem Vater, der Lektüre seiner Tochter zufolge, also in erster Linie zur Selbststilisierung, zur Kompensation des Abhanden-Gekommenen. Hier deutet sich bereits das Phänomen an, dass die vermisste Gestalt des Vaters gerade durch jenen ‚Anderen‘, das jüdische Gegenüber, an Konturen gewinnt. 2.5.3. Die vermisste Gestalt. Der Andere und die ‚andere Sprache’ Auch der erste Angestellte war bereits eingetroffen, Leo Rappaport, der künftige Chef des Ladens. […] Rappaport, fünfzigjährig, mit schlauen Mandelaugen, war einer jener hochgewachsenen, sich gebückt haltenden Juden, die weich und kraftlos wirken, aber bis ins vorgerückte Alter schlank und agil bleiben. So spricht er: Ä Plan muß vernünftig sein! Als ich noch war gewesen in Tarnow, hab‘ ich Taschen gesteppt. Ein Jahr, zwei Jahr, drei Jahr, Rappaport – hab ach mer gesugt, Du mußt weg, sonst biste noch in zwanzig Jahren an die Taschen! Nebbich hab ach mer gesugt … In diesem Ton, einer Art österreichisch-schlesisch unterwandertem Jiddisch hat der Vater Witze erzählt, zum Vergnügen der Töchter. Auch hier ist keine Gemeinheit intendiert, sondern es wird, dem naturalistischen Erzählen verpflichtet, eine Art O-Ton erzeugt; die Wertungen – schlaue Mandelaugen – sind organischer, integraler Teil der Beschreibungen. Das ist das Gemeine – auch in der anderen Bedeutung des Worts: das ganz Gewöhnliche. (196)

Die Sprache des ‚Anderen‘, das österreichisch-schlesisch unterwanderte Jiddisch, ist dem aus Oberschlesien stammenden Vater gerade im ‚Gemeinen‘ ein Ausweis der Zugehörigkeit und Garant einer Heimat, welche durch Sprache erzeugt, bzw. im Raum des Fiktionalen in Form von Authentizitätssignaturen wieder evozierbar wird. Das Jiddische, das im Kontrast zum Deutschen zumeist als soziokultureller Code der Andersheit fungiert und als ein solcher – wie gezeigt – von nichtjüdischen Gesellschaften überwiegend als ein Kriterium der Ausgrenzung geltend gemacht wurde, wird im Romanentwurf des Vaters stilisiert und erfährt innerhalb dieser sentimentalen Stilisierung eine durchaus positive Besetzung. So erzeugen auch die jüdischen Witze, die der Vater zum Vergnügen der Töchter erzählt, eine Form der Wärme, die die „gefürchteten Vorträge“ (98), die immer gleiche Dramaturgie der Monologe sonst vermissen lassen. Die jeweiligen Pointen werden mitunter sogar als Familiensprichwörter im wahrsten Sinne des Wortes „eingemeindet“. (24) Die Sprache des Anderen, das Jüdische – sei es in Gestalt des Jiddischen,

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sei es in Form eines jüdischen Witzes – wird hier also zur ‚anderen Sprache‘, die in ihrer Mündlichkeit und Unvermitteltheit gewissermaßen die Macht eines Gegendiskurses besitzt. Diese ‚andere Sprache‘, die an eine abhanden gekommene Seite der nach Deutschland vertriebenen Familie Leupold rührt, generiert dabei eine eigenwillige Form der mémoire involontaire.294 Der jüdische Witz, die Pointe, tritt an die Stelle der Sinnlichkeitsparameter, die bei Proust als Auslöser der jeweiligen Erinnerung fungieren. So „fallen“ die Pointen aus Salcia Landmanns Jüdische Witze die am Krankenbett des Vaters sitzenden Tochter immer „unvermittelt“ aus dem „Hinterhalt“ an (25) und lösen eine neue Erinnerung aus, in der die Stimme des Vaters zum Vergnügen der Töchter jenen Witz erzählt: Während ich unter Schwester Hildegards zerstreuten Blicken einen zweiten Teebeutel ins Wasser tunkte, zusah, wie er sich blähte, an die Oberfläche trieb wie eine gedunsene Wasserleiche, fiel der zweite Witz aus dem Hinterhalt über mich her, der mit dem Wunder. Es dauerte Jahre, bis ich ihn verstand, denn er lebt ausschließlich von der Betonung. Der alte Moische geht zum Rabbi, besorgt; seine junge Frau Sarah, vierundzwanzig, ist schwanger, und er fragt den Rabbi, ob alles mit rechten Dingen zugegangen sei. „Wenn sie von dir schwanger ist, ist es ein Wunder“, erwidert der Rabbi, „ist sie es nicht, ist es ein Wunder??“ 294 In Marcel Prousts mnemopoetischem Prinzip der „mémoire involontaire“, wie er es in seinem großen Romanprojekt, dem Fragment A la recherche du temps perdu entwickelt, versammeln sich, so die Proust-Forschung, alle wichtigen Positionen des abendländischen Nachdenkens über Erinnern und Vergessen. Siehe Rainer Warning, Vergessen, Verdrängen und Erinnern in Prousts ‚A la Recherche du temps perdu‘, in: Memoria. Vergessen und Erinnern. (=Poetik und Hermeneutik XV), hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, München 1993, S. 161–193. Die „mémoire involontaire“ betont die Unwillkürlichkeit des Erinnerungsprozesses, welcher sich außerhalb der intendierten Verfügungsgewalt vollzieht (involontaire). Sie wird durch Sinnlichkeitsparameter aktiviert; dies kann ein flüchtiger Geruch, ein Geschmack oder ein Bild sein. Betont werden hier die wahrnehmungspsychologischen Prozesse, durch die sich Erinnerung vollzieht. Als wichtigste Metapher für Proust hat Warning hier das Modell der geologischen „Schichtung“ herausgearbeitet, welches der zeitlichen Sukzessivität entspricht, in der sich Eindrücke in Schichten überlagern, so etwa im Bild der Erzminen, die auf ihren Abbau warten („bassin minier“; „Gisemnets précieux“) und mittels sinnlicher Aktivierung wieder an die Oberfläche steigen: Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, Gesammelte Werke IV, S. 614, zitiert von Warning, a.o.a.O., S. 161. Diese Memoriametapher impliziert eine Tiefenstruktur, die an das hier im Kontext von Sebalds Erzählungen erörterte Denkbild „Ausgraben und Erinnern“ von Walter Benjamin erinnert. Bei Proust werden diese Erinnerungen allerdings noch schützend bewahrt („Soigneusement enférmes dans l’oubli“, II, 4). Dieses „Verwahrungsvergessen“ wird wiederum von Ernst Jünger aufgegriffen und für seine eigene Erinnerungsliteratur produktiv zu machen versucht. Siehe Warning, a.o.a.O., S. 162. Jenen Verflechtungen kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden; es wäre aber an anderer Stelle hochinteressant, die Spuren ‚jüdischer‘ Erinnerungsnarrativik in der deutschen Gegenwartsliteratur dezidiert nachzuzeichnen, so wie dies hier im Kontext von Sebald und Leupold jeweils mit Benjamin und Proust gelesen, ansatzweise versucht wurde.

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Ich drehte und wendete den Witz wie die Münze einer unbekannten Währung. Das Grinsen, das der Pointe vorausging, sie abschmeckte, ihre Würze vorausnahm, hatte nichts mehr mit dem schweratmenden Mann nebenan zu tun, auf dessen Nachttisch Zahnprothese und Erdbeeren einander mutlose Nachbarn waren. (25)

Erinnern, so formuliert es Dagmar Leupold in Auseinandersetzung mit Proust auch dementsprechend in ihrer Poetik-Vorlesung Poetischer Stoffwechsel. Vergessen, Erinnern, Korrespondieren, Erinnern ist „nicht der Versuch zu entrinnen, aber es ist der Versuch zu runden: zur vollendeten Geschichte, zum ganzen Körper, zum intakten Bewusstsein“.295 Die Stimme, das Grinsen des Vaters, das in dieser unwillkürlichen Erinnerung über den Witz wieder ins Bewusstsein hochsteigt und damit: der junge Vater, wie er der Tochter noch aus der Kindheit vor dem inneren Auge steht, setzt sich für den Augenblick gegen den beschädigten Körper („Zahnprothese“, „mutlos“, „schweratmender Mann“) durch. Das Sinnlichkeitsparameter, das hier den ‚Trigger‘ bildet, besteht im Blick der Tochter, der auf den „aufgedunsenen Teebeutel“ fällt, der über die Assoziation der gewölbten „Wasserleiche“ den Witz mit der Schwangeren dem Bewusstsein wieder freilegt. Dass der Witz von Moische und dem Rabbi in diesem Falle in der Betonung liegt, macht die Erinnerung an die Stimme des Vaters, die zudem noch mit seiner Stimmlosigkeit in der Gegenwart kontrastiert wird, besonders sinnlich-konkret. Es ist also, wie bereits anfangs behauptet, insbesondere der Zustand des Mangels, der erlebten, beobachteten und erfahrenen Beschädigungen, aus denen sich das Erzählen der Tochter hier speist, geboren aus der Sehnsucht nach „Rundungen“ von Körper und Geschichte. Dieser kreative Zusammenhang von Erinnern und Wünschen setzt daher auch das frei, was Leupold in ihren Vorlesungen somatische Poetik nennt: Wer oder was besorgt das Erinnern? Zunächst einmal der Körper: somatische Poesie. Warum Poesie? Weil sich der Körper erst erinnert, wenn ein Wunsch unerfüllt, ungestillt bleibt, und dann beginnt er mit allen Sinnen zu reklamieren, was fehlt.296

Leupold spielt hier auf Henning Teschke an, der in Zusammenhang mit seiner Analyse der Erinnerungspoetik Prousts und Benjamins die wunderbare Formel prägt: „[ J]eder ist so alt wie sein erster unerfüllt gebliebener Wunsch.“297 295 Dagmar Leupold, Poetischer Stoffwechsel, S.  82. Zu Proust direkt heißt es gleich im Anschluss an obiges Zitat: „Erinnern ist also ein kreativer Akt. Es erfindet Spuren, es findet Spuren. Spuren, die zu dem führen, was wir mit Ich zusammenfassen, radikal diskontinuierlich wie bei Proust oder als Souverän all seiner heterogenen Zustände wie Bergson deklariert.“ 296 Ebd., S. 82. 297 Henning Teschke, Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild, Würzburg 2000, S. 13.

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In diesem speziellen Sinne handelt es sich bei der Tochter tatsächlich auch um eine ‚kindliche‘ Erzählerin, deren Reklamationen des Mangels dem Wunsch entspringen, sich den Vater, aber auch die eigene Geschichte unversehrt neu zu erfinden. Wissentlich, dass diese erfundenen und gefundenen Spuren wie bei Proust nur ein sehr diskontinuierliches Ich erzeugen; das Disparate, die „vermisste Gestalt“, das „Gerundete“ immer wieder einholen. Der Griff nach der ‚anderen Sprache‘, das Disparate, Unvermittelte und Mündliche des jüdischen Witzes und zugleich die abhanden gekommene Heimat, die diese andere Sprache wieder mit hinauf beschwört, markieren daher tatsächlich einen Gegendiskurs zu den ritualisierten Formen der Rede, des Schweigens, wie sie die Tochter in Nach den Kriegen mehr und mehr ‚aufdenkt‘. Erinnerung und Witz kennzeichnen nach Ansicht des Schriftstellers Doron Rabinovici zudem die „Demarkationslinie“, die jüdisches Erzählen gegenüber dem nichtjüdischen ausweist.298 „Man erzählt Witze, und die Vergangenheit kehrt zurück.“299 So Robert Schindel in seinem Essay Mein Wien. Als Schreibverfahren ist der Erinnerung und dem Witz aus poetologischer Sicht gemeinsam, das beide aus einer Brucherfahrung heraus entstehen. Grundsätzlich ein Element und Gegenstand literarischer Sprache, tauchen sie als zentrale poetische Kriterien überall dort auf wo, wie beim Erzählen deutsch-jüdischer Geschichten, Erinnerung in Gefahr und der Witz mitunter die letzte Möglichkeit des mentalen Widerstands gegen die Katastrophe, gegen den Verlust der Würde ist. Der Umstand wiederum, dass dem Vater als Angehörigem der deutschen Minderheit in Polen, die jiddische ebenso wie die polnische Sprache ein Mittel zur Selbstüberhöhung bieten, wird von der Tochter dabei kritisch mit reflektiert: Im Klang des Polnischen war also paradoxerweise der Wahn einer deutschen Überlegenheit konserviert, die so lange unbestreitbar war, wie das anderen denselben intimen Lebensraum – Speisen, Getränke, Gebräuche, Dialekt, Landschaft, teilte. Dieses Miteinander gab seiner Identität die gewünschten Konturen. (200f.)

Die Selbststilisierung zwecks Kompensation des Verlorenen zugunsten einer identitätsbildenden Kontur, geschieht in Rudolf Leupolds literarischen Entwürfen also auf Kosten des Anderen, der ebenso unersetzlich wie fremd bleibt. Zwei weitere Beispiele aus den Text-‚Fundstellen‘, die die Tochter zusammenträgt, um zu zeigen, wie dem Vater „die Abschätzigkeit, die Möglichkeit der eigenen Sprache“ entgeht (195), seien hier abschließend zur Verdeutlichung zitiert. So heißt es 298 Doron Rabinovici, Angeln aus christlicher Sicht oder: Gibt es ein jüdisches Erzählen im Deutschen, in: Altes Land, neues Land. Verfolgung, Exil, biographisches Schreiben, Texte zum Erich Fried Symposium 1999, Wien 1999, S. 62–68, hier S. 67. 299 Schindel, Mein Wien, S. 23.

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im Gespräch zwischen dem besagten Protagonisten Larisch und seinem Onkel, dem Ladenbesitzer: „Gut das Rappaport da ist.“ „Das ist es eben nicht! – Aber wenn Du Dich auf Lemberg kaprizierst, muß ich ihn dazugeben – einer muß ja was verstehen, ni wahr – er [der Onkel] lacht trocken auf, „aber gut ist es nicht. Beim nächsten Judenprogrom schmeißen sie den Laden ein, paß’ auf, was ich dir sag!“ (197)

Konfrontiert wird diese Passage nun mit dem ‚Aufdenken‘ der Tocher: Die Herzlosigkeit, mit der einerseits der jüdische Geschäftssinn gelobt und ausgenutzt wird und andererseits die Folgen des Judenhasses im nüchternen Schadenskalkül veranschlagt werden, ist so groß, weil trotz allem das Register der Gemütlichkeit gezogen bleibt, Neffe und Onkel fallen immer stärker in den Bielitzer Dialekt, man ist zu Hause, und hier gehören ein wenig Chauvinismus, ein wenig Rührseligkeit und ein wenig galizische Folklore zum Heimatgefühl, zum regionalen Eintopf. (197)

Und an einer weiteren Stelle stellt Rudolf Leupolds Larisch folgende Überlegung an: „Im Café de la Paix werden Juden Schach spielen: wer verliert bezahlt […] Sie wittern Drohendes, die Juden, und das ist echt.“ (201) Die Entgegnung der Tochter Leupold lautet: Der junge Larisch findet nichts dabei, daß den Juden Drohendes bevorsteht […] die Juden müssen als ewige Verlierer mit ihrer Vernichtung rechnen, immer schon gab es Jäger und Beute: eine anthropologische Konstante. Larisch ist, was ihn, den Deutschen betrifft, ein sentimentaler, was die anderen betrifft, ein abgebrühter Ethnologe im melting pot Lembergs […] überhaupt sie [die Juden] gehören dazu, zum Flair, zu der Atmosphäre, zum Lokalkolorit, ebenso die Polen und die Ukrainer, die Huren und die Herrenmenschen – das ändert aber nichts daran, daß jedes Volk sein Schicksal hat. (202f )

In diesem interliterarischen Gespräch zwischen Vater und Tochter wird die ganze Zwiespältigkeit, die für den Vater in der Begegnung mit dem ‚Anderen‘ liegt, offenbar: Die Juden sind fremd und sollen es bleiben, aber darin sind sie zugleich vertraut. Ein, so die Tochter, „unverzichtbarer Teil des Atmosphärischen, ohne das kein Heimatgefühl auskommt“. (211) Jüdischkeit, eine mit positiven Inhalten gefüllte jüdische Identität, wird in Leupolds Roman eines Lebens also im wahrsten Sinne des Wortes zum Text. Zum einen in Form eines Gegendiskurses, der in seiner Unmittelbarkeit und Mündlichkeit (des jüdischen Witzes und des Jiddischen) die Schweigekonventionen der väterlichen Monologe aushebelt. Zum anderen spiegelt die Jüdischkeit als Ausweis des ‚Anderen‘ die Bedürftigkeit des Vaters nach Selbstvergewisserung und literarischer Stilisierung, in all der damit verbundenen Ignoranz, die dem Sprechenden dabei aus einer Position der Stärke heraus gegenüber dem Anderen zu-

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wächst. In diesem Sinne ist Nach den Kriegen nicht nur ein aktueller Bestandteil der so genannten Erinnerungsliteratur und der Väterbücher, sondern insbesondere auch eine deutsch-jüdischen Geschichte.

2.6. Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt – Maxim Billers „Die Tochter“ „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt“ – So lautet der Beginn des bekannten Nachkriegsgedichts Alle Tage von Ingeborg Bachmann.300 Das scheint auch den existentiellen Bewusstseinszustand zu treffen, in dem sich Motti (Mordechai) Wind, der junge israelische Protagonist aus Maxim Billers Die Tochter (2000)301 befin­det. Ein Roman, der wie Norbert Otto Eke es bereits treffend zusammenfasste, um die Fragen von „Schuld und Schuldverstrickung“ kreist,302 der die Geschichte einer tiefen Entfremdung, einer „psychedelisch dichte[n] Irrfahrt“303 und einer – vergeblichen – Suche nach Erlösung erzählt. Ebenso wie Leupolds Roman situiert sich auch Billers Die Tochter ‚nach den Kriegen‘, thematisiert anhand einer traumatischen Vater-Tochter-Konstellation die Beschädigungen, die der gegenwärtige Krieg (Israel) und der vergangene Krieg (Deutschland) in der Psyche des Betroffenen und seiner Nachkommen hinterlassen hat. Nach den traumatischen Erfahrungen, die er als Soldat im Libanonkrieg gemacht hat, verlässt Motti Wind seine Heimat Israel und beginnt ein neues Leben in Deutschland. Von Israel, dem Land des Lärms („das ganze Land bestand aus Lärm“; 15), in dem ewig Krieg erklärt wird („weil hier alles immer nur Krieg war, echter und falscher Krieg. Krieg gegen die Araber wie Krieg gegen die eigenen Leute“; 70f.), geht Motti nach Deutschland in das „Totenland“ (11), wo es „immer sehr still“ (34) war:„Jeder Tag war wie der andere – egal, ob es am Morgen draußen hell oder dunkel war.“ (33) Ein Land, das zudem seit Jahrzehnten keine Kriegserklärung mehr ausgesprochen hat: „Er hatte in München von einem Tag auf den anderen den Krieg ver­gessen. Ja, wirklich, er hatte ihn praktisch aus seinem Gedächtnis gelöscht.“ (90) 300 Ingeborg Bachmann, Alle Tage, in: Ingeborg Bachmann, Werke Bd. 1. Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, München, Zürich, Sonderausgabe 1982, S. 46. 301 Maxim Biller, Die Tochter, München 2000, zitiert wird nach der Ausgabe München 2001. Die Seitenangaben erfolgen jeweils in runden Klammern hinter dem Zitat. 302 Norbert Otto Eke, „Was wollen Sie? Die Absolution?“ Opfer- und Täterprojektionen bei Maxim Biller, in: ZfdPh 2002, S. 89–107, hier S. 96. 303 Georg Dietz, Maxim Biller, in: Lexikon deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Thomas Kraft. Bd. 1, München 2003, S. 128–132, hier S. 131.

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Den Krieg, den Motti aus seinem Bewusstsein „gelöscht“ hat, führt er nun unbewusst in seiner Ehe mit Sophie fort. Ihr Lebensalltag wird in all seiner Monotonie und Stummheit zum „Kriegs­schauplatz.“304 Als Zeichen innerer wie äußerer Beschädigungen fungiert dabei der Körper der gemein­samen Tochter. Nurit, die ‚Frucht‘ dieser sich als unmöglich herauskristallisierenden Be­ziehung zwischen einer Deutschen und einem Juden, wird von Motti vergöttert, geschändet und schließlich aus dem Fenster gestoßen. Die Deutung liegt nahe: Der traumatisierte Motti Wind, der den jungen Araber Muamar im Libanonkrieg grausam tötete, geht nach Deutsch­land, in das Land, aus dem seine deutschstämmigen Eltern einst nach Israel geflohen waren. Als Kind deutscher Juden, die die Shoah überlebt haben, und damit: als Opferkind305 kommt er also ins Land der Täter und wird dort erneut schuldig, diesmal durch Gewalttaten, die er an seinem eigenen Fleisch und Blut begeht. In welcher Rolle aber findet sich der Leser wieder, der, indem er dieser Geschichte der Gewalt- und Schuldverstrickung Zeile für Zeile folgt, all diese Opfertäter-Projektionen nachvollzieht? Die Tochter ist – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – in all ihrer Schwärze306 eine moralische und, was den Umgang mit dem Katastrophischen angeht, nicht nur eine sehr jüdische, sondern auch eine deutsch-jüdische Geschichte, ein Stück Gegenwartsgeschichte, von der Biller selbst sagte: „Ein so trauriges Buch will ich nie wieder schreiben.“307 2.6.1. Verhaltenslehren der Kälte. Ehen in Wien und München

„Gordweil stieß ein ersticktes Ächzen aus. Er meinte, vor Schmerz und Lust zugleich ohnmäch­tig zu werden. Bisher hatte noch keine Frau ihn in eine ähnliche Lage versetzt“ – mit diesem Zitat aus David Vogels Eine Ehe in Wien (1929/1930)308 lässt Biller seinen Roman beginnen. Wie Paul Celan und Joseph Roth in Schindels Gebürtig, Saul Friedländer in Hackers Eine Art Liebe oder Wolfgang Hildesheimer in Sebalds Die Ausgewanderten, ist David Vogel derjenige jüdische Autor, dem Biller mit Die Tochter ein literarisches Gedächtnis gestiftet hat. 304 Eke, in: ZfdPh 2002, S. 99. 305 Diese psychische Konstellation macht gerade die Brisanz von Mottis neuer Wahlheimat Deutschland aus, mit der er eben nicht nur, wie Thomas Wirtz behauptet, „Auschwitz-Erzählungen“ verbindet, sondern vor allen Dingen verdrängte Familiengeschichte, die dadurch umso subtiler wirksam wird. Zu Thomas Wirtz: Beglückend wie die Nähe von Galeerensklaven auf der Ruderbank. Wo Hass und Liebe eins sind: Maxim Biller hat einen großen Roman über die gegenwärtige Vergangenheit geschrieben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 68, 21. 3. 2000, S. 2. 306 Marko Martin nannte Billers Roman in „Die Welt“: „ein Stück aufregende schwarze Prosa“, siehe Klappentext zu Biller, Die Tochter, Ausgabe München 2001. 307 Biller 2001, München 2001, S. 290. 308 David Vogel, Eine Ehe in Wien. Neuausgabe Jerusalem 1986, dt. München 1992.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Wo Menschen sind, kann es kein Paradies geben – so überschrieb Maxim Biller seinen Essay über David Vogel, der, so Biller, ein genuin jüdischer Schriftsteller war, ob er nun auf Franzö­sisch, Deutsch, Hebräisch oder, zum Ende seines Lebens hin, in Jiddisch schrieb. Tief berührt habe ihn an Vogels Roman Eine Ehe in Wien insbesondere diese „helle, fast strahlende Traurig­keit“309 des Tons: „Der traurige, gehetzte, eingebildete junge Mann [Rudolf Gordweil], der sich hier Seite für Seite immer tiefer in das Herz des Lesers hineinleidet, bleibt, wie es sich für jede anständige Gestalt der Weltliteratur gehört, auf immer darin versiegelt.“310 Ebenso wie Vogels Rudolf Gordweil ‚leidet sich‘ auch Billers Antiheld Motti Wind Seite für Seite immer tiefer, wenn auch nicht in das Herz so doch in die Aufmerksamkeit des Lesers ‚hinein‘. Warum gewinnt Motti Wind aber nicht, wie Rudolf Gordweil, auch das Herz des Lesers? Die naheliegende Antwort lautet: Weil man es in der Gestalt Gordweils in erster Linie mit einem Opfer, im Falle von Motti Wind aber mit einem ge­störten Täter, noch dazu mit einem Kinderschänder zu tun hat. Darüber hinaus bildet Billers Die Tochter jedoch geradezu den poetischen Kontrapunkt zu Vogels Ehe in Wien. Ein solcher bislang noch nicht gezogener intertextueller Vergleich zwischen den beiden Werken zeigt: Dort, wo Vogel basierend auf der Jüdischkeit seines Protagonisten die Geschichte einer fatalen Liebesbeziehung erzählt, und zwar trotz seines bedrückenden Inhalts in einer warmen, lebendigen Sprache, die von „Schmerz und Lust“ zeugt, führt Biller dem Leser umgekehrt Verhaltenslehren der Kälte vor. Besonders deutlich wird dieser Kontrast im Hinblick auf Sprache und Tonfall der Schilderungen ihrer Wahlheimaten Wien (Vogel) und München (Biller), in denen die beiden Autoren jeweils auch ihr literarisches Figurenpersonal verorten. Aus David Vogels „hell-melancholischem“ Verhältnis zu Wien schlussfolgert Biller: Es ist wie bei vielen anderen Juden seiner Generation das überwältigende Gefühl, alles hinter sich gelassen zu haben und zu wissen, daß man für den Verrat an der Tradition nicht belohnt, sondern immer und immer wieder nur bestraft werden kann und muß. Es ist der Preis für die Freiheiten der Moderne, den ein Jude wie ich nun, da alle Kämpfe gekämpft sind, nicht mehr zahlen muß. David Vogel, Franz Kafka, Arthur Schnitzler und den anderen sei Dank.311

Neben der Melancholie, die sich aus dem jüdischen Diasporazustand, dem „Verrat an der Tradition“ speist, ist der literarischen Sprache David Vogels aber eben noch jene “Überwältigung“ deutlich anzumerken. Und so sind es gerade die Wienpas309 Maxim Biller, David Vogel: Wo Menschen sind, kann es kein Paradies geben, in: Biller 2001, S. 278–290, hier S. 283. 310 Ebd., S. 281. 311 Biller 2001, S. 282f.

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sagen in Vogels „zermürbender Geschichte“,312 die durch eine liebevolle, geradezu zärtliche Erzählhaltung gekenn­zeichnet sind. Eine Perspektive, die dem Blick eines Werbenden gleicht, der weiß, wie wenig selbstverständlich seine Beziehung zum Gegenstand seiner Liebe eigentlich ist. Drei recht unter­schiedliche Stimmungsbild-Passagen aus Eine Ehe in Wien seien hier beispielhaft zitiert: Draußen hüllte ihn [Gordweil] ein lauer Morgen mit einem besonderen, unbestimmten Duft ein, der ent­fernt an schöne, noch unreife Mädchen erinnerte. Alles schien wie neu. Das Pflaster war bereits gesprengt, die winzigen Pfützen in den Ritzen verdunsteten langsam und machten die Luft noch frischer. Die Fiaker, die Automobile, die Trambahnen, die Etagenhäuser und auch die Menschen – alles glänzte im Schein einer jungen Sonne, verbreitete Heiterkeit. Auf wunderbare Weise wirkten alle vorbeigehenden Frauen hübsch und sahen aus, als trügen sie neue Kleider. Die Bonnen mit Spitzenhäubchen und gestärkten weißen Schür­zen schoben die Kinderwagen mit solch ruhigem Stolz vor sich her, als entstammten die schönen, lachen­den Babys ihrem eigenen Schoß. Gordweil spazierte die Nordbahnstraße entlang und bog dann in die Pra­terstraße ein.313 Im schmalen, schattigen Tiefen Graben, einer ruhigen Innenstadtstraße mit zahlreichen Leder- und Textil­lagern für den Großhandel, luden Arbeiter in Hemdsärmeln riesige Kisten auf breite Wagen. Die schweren Gäule, denen sommers wie winters Haarbüschel über den Hufen wuchsen, fraßen währenddessen aus den umgehängten Futtersäcken, mahlten hingebungsvoll und trübsinnig vor sich hin. Ein Wächter in Holzpan­tinen, dem eine lange Pfeife von den Lippen baumelte, sprengte den Gehsteig mit einem rostigen Schlauch. In einem Tor stand eine junge Bedienerin mit weißer Schürze und rief eins ums andere Mal mit gedehnter Stimme: „Flooo---ckiii, kommst du heeer!“ Aber das braune Hündchen mit den kurzen krummen Beinen rannte derweil in großem Bogen einer im Wind wirbelnden Zigarettenkippe nach und dachte gar nicht daran heimzukehren.314 Die Laternenanzünder in ihren verdreckten Leinenkitteln tauchten auf, […] und löschten die Flammen durch eine Berührung ihrer Bambusstangen […]. Hier und da warteten schon Leute an den Haltestellen auf die erste Tram: Huren mit müden, welken Käsegesichtern, die verwischte Augenschminke sammelte sich in den Falten – deprimierend anzusehen in ihren grellen, spärlichen Kleidern und den kunterbunten, schiefsit­zenden Hüten; Frauen der ärmsten Schichten, mit Bündeln von Morgenzeitungen in einen dunkelgrünen Schal eingeschnürt oder mit riesigen Gemüsekörben. Und es warteten vereinzelte Arbeiter. Der neugebo­rene Morgen ließ milchig fahles Licht in die Straßen sickern, und alles erschien Gordweil traumhaft und sonderbar. Von der Nacht war ihm ein

312 Ebd., S. 285. 313 Vogel 1992, S. 9. 314 Ebd., S. 16.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

ungeheuer bedrückendes Gefühl in eigenartiger Verquickung mit leichtsinnigem Übermut geblieben.315

Nicht nur die Stadt Wien erscheint in Vogels Schilderungen als die eigentliche Hauptperson des Romans, ihre Geschöpfe spiegeln auch die vielschichtigen Facetten von Gordweils Diaspora-Existenz wider und visualisieren seinen eigenen Zustand: Die Gäule, die „hingebungsvoll und trübsinnig“ ihre Mahlzeiten einnehmen, das „Hündchen mit den kurzen krummen Beinen“, das nicht daran dachte heimzukehren – auch Gordweil wird mehrfach als kleinwüchsig ge­schildert und von seiner großen stattlichen Frau Thea, gegenüber der er ein hündisches Verhalten an den Tag legt, zu sei­ner Demütigung „Häschen“ und „Kleiner“ genannt – , die Bonnen, die stolz die Babys spazieren fuhren, „als entstammten sie ihrem eigenen Schoß“ – der stolze Vater Gordweil erfährt später, dass das Kind, das Thea ihm geboren hat, nicht von ihm stammt – sowie das „ungeheuer bedrückende Gefühl“ gepaart mit „leichtsinnigem Übermut“, das Gordweil, ganz exemplarisch, von der Nacht in den neuen Tag mit hineinnimmt. So lautet auch Billers allgemein gehaltener Kommentar zu Eine Ehe in Wien entspre­chend einfühlsam: „Wien [ist] neben all den Menschen die wichtigste Figur in Vogels Roman, es ist wahrscheinlich sogar die, die er am meisten liebt.“316 Ganz anders verhält es sich mit München, wiederum der wichtigsten ‚Figur‘ in Billers Roman, das in Die Tochter seltsam unbelebt, geradezu kulissenhaft kühl erscheint. Und dies, obwohl Biller, im Gegensatz zu Vogel, seinem Protagonisten ganz konkrete Liebeserklärungen in den Mund legt: „[E]r […] sah dann die Türkenstraße herunter, die in dem milchigen, feuchtkalten Abendlicht mit ihren vielen freundlich leuchtenden Schaufenstern und den überall in zweiter Reihe parkenden Autos noch enger und dörflicher wirkte als sonst. Mein Gott, wie sehr liebte er den Herbst in Deutschland!“ (35) Diese ‚Liebe‘ will man Billers Motti Wind nicht so recht abnehmen, und soll dies wohl­möglich auch nicht. Mehrere Gründe spielen dabei eine Rolle. Zum einen bemüht Billers Sprache, selbst wenn sich sein Protagonist wie in der eben zitierten Passage positiv über seine Wahlheimat äußert, stets ein nur schmales Set an Bildern, die durchweg mit Attributen der Kälte und Trübheit verbunden sind (hier: „milchig“; „feuchtkalt“; „eng“). Mottis ‚Liebe‘ zum Herbst in Deutschland und München generiert sich zum zweiten rein ex negativo dadurch, dass diese Jahreszeit keinerlei Vergleichspunkte zu Israel, dem Land seiner Herkunft, bereithält. So gesehen ist auch die obige Schilderung der herbstlichen Türkenstraße nicht mehr als ein Ausgangspunkt der Ima­ gination Mottis, um im Folgenden über den Herbst in Israel zu sprechen, so als hielte die Sprache kurz inne, bevor sie zum Eigentlichen kommt: 315 Ebd., S. 49. 316 Biller 2001, S. 184

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In Israel kam der Herbst viel unauffälliger, schleichender über das Land, die Tage blieben noch bis in den November hinein heiß, nur abends brauchte man manchmal einen Pullover. Auch das Meer begann sich nur langsam zu verfärben, es wurde grau, fast braun, dann wieder war es tagelang fast sommerlich grün, al­lein in den Schaumkronen, die dann immer häufiger vom kühlen Scharkiawind über die Wellen gejagt wur­den, schwammen ab und zu abgebrochene Zweige, Tang und der Dreck der zu Ende gehenden Badesaison. (35)

Allein die Aufmerksamkeit, die der Landschaft Israels in der detaillierten Schilderung der unter­schiedlichen Farbschattierungen und Veränderungen des Meeres in dieser kurzen Sequenz zu­kommt, stattet Billers Sprache mit mehr Lebendigkeit, mit mehr ‚Farbe‘ aus, als sie allen Mün­chenpassagen auf den über vierhundert Seiten zusammengenommen jemals zuteil wird und dies, obwohl die erzählte Zeit überwiegend und die Erzählzeit gänzlich in München angesiedelt ist. Der folgende Ausschnitt von einem der zahlreichen Spaziergänge Mottis durch München mag diesen sprachlichen Gegensatz exemplarisch verdeutlichen: An der Münchener Freiheit würde er die Rolltreppe zur U-Bahn hinunterhasten und dabei jeden zur Seite drängen, der ihm den Weg versperrte […], und die von der Sonntagsmüdigkeit wie gelähmten Menschen in ihren dunklen, unförmigen Winterjacken und wattierten bunten Stiefeln würden ihm stur und träge Platz machen. […] Dabei würde er kurz um sich blicken, in dieser riesigen Halle mit ihrer viel zu niedrigen, schmutzigen Decke, mit den stumpf glänzenden grauen Boden, mit den schwach beleuchteten Telefonzel­len, in denen es immer nach Zigaretten stank, obwohl die Türen schon vor Jahren ausgebaut worden waren, mit dem sich ständig verflüchtigenden Neonlicht, das jedes Gesicht, auch das eines Südländers oder Schwarzen, gelb erscheinen ließ. […] Erst kurz vor dem Siegestor, dort, wo die Leopoldstraße breiter wurde und sich zwischen den winterlich nackten Pappeln ein düsterer Korridor zur Stadt hin öffnete, würde er seine Schritte verlangsamen, und kurz darauf würde er ganz stehenbleiben. (60f.) Und dann würde er wieder losstürmen, er würde den oberen Teil der Ludwigstraße, der nun vor ihm läge, so schnell wie möglich hinter sich bringen, diese endlose, meist windgepeitschte Strecke von einigen hundert Metern, die ihn so anödete, weil einem hier auf dem breiten Bürgersteig nur selten jemand entgegenkam. […] Schließlich würde er, fast ein wenig erleichtert, in die Schellingstraße einbiegen, er würde sie nach alter Ge­wohnheit ein paar Meter hinter der Fußgängerampel überqueren, bei der ziegelroten Mauer der Universi­tätsbibliothek, in der bis heute Einschüsse vom letzten Krieg zu sehen waren, und von da wären es nur noch wenige Meter […] und wenn er dann endlich auf die Amalienstraße käme, würde er merken, wie sein Herz zu schlagen anfinge, laut und ängstlich, aber er würde dennoch weitergehen und ganz fest das Haus anblicken, in dem er mit Nurit und ihr gewohnt hatte. (64)

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Ein augenfälligerer Kontrast zu Gordweils Wien lässt sich kaum denken: „Gelähmte Menschen in dunklen, unförmigen Jacken“, „stumm und träge“, ein „stumpfer, grauer Boden“, „verflüchtigen­des Neonlicht“, „düstere“, „nackte“ Straßenkorridore, „windgepeitschte“ Wegstrecken, men­schenleere Straßen und „Einschüsse vom letzten Krieg“ – dies ist das München, das sich Motti zur Heimat gewählt hat, ein Ort der Kälte. Und als ein solcher erfüllt es durchaus, wie eingangs behauptet, seine Funktion. Denn nach dem hitzigen Krieg Israels („Land des Lärms“) mit dem Nachbarstaat Libanon verhilft dem traumatisierten Motti diese kalte deutsche Stadt mit ihren Bewohnern, die analog in angenehmen Zügen als höflich, zurückhaltend und leise geschildert werden, zum tagtäglichen Einüben des Vergessens und zu einem Zustand emotionaler Betäubtheit. Was dem Leser hier in nunce vorgeführt wird, entspricht exakt jenem „zivilisierten Verhalten der Distanz“ als Mittel der Orientierung in desilluionierten Zeiten, wie es Helmut Lethen in seinem eingängigen Werk Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen beschreibt. Lethen selbst hat dabei die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg vor Augen, wenn er, in Aktualisierung von Plessners Maximen, die dieser im Hinblick auf die sozialpsychologischen Folgen des Ersten Weltkriegs, als eine Kritik des sozialen Radikalismus entwickelt hatte, den öffentlichen Verhaltensweisen historisierend nachspürt, die es erlauben, „die Künstlichkeit der Gesellschaftsformen als natürliches Milieu des Verhaltens zu erschließen: In Augenblicken sozialer Desorganisation, in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt, werden Verhaltenslehren gebraucht, die Eigenes und Fremdes, Innen und Außen unterscheiden helfen. Sie ermöglichen, Vertrauenszonen von Gebieten des Mißtrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen.317

Es geht also, so Lethen in Anlehnung an Plessner weiter, um das Erlernen von Techniken, „mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen“.318 Was in Übertragung auf Billers Die Tochter bedeutet, dass jeder am liebsten unbehelligt, das heißt: unberührt bleibt, so­dass alle Appelle von Kommunikation und Auseinandersetzung so versanden müssen, wie zwischen Motti und Sofie:

317 Lethen 1994, S. 7. 318 Lethen zitiert hier Plessner: Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt am Main 1981, S. 80.

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Es ging um Nurit und um ihn selbst, und es ging darum, daß das alles endlich aufhören mußte. Niemand wußte das besser als er – es war eine Droge, ein Segen, ein Verbrechen, und er hätte jede Hilfe angenom­men, um diese schreckliche Sache in den Griff zu kriegen, die Hilfe mußte nur ehrlich gemeint sein. Aber was wäre überhaupt die richtige Hilfe gewesen? […] Sie mußten zusammenbleiben, denn ohne ihn war Nurit völlig verloren, ohne ihn konnte sie gleich aufhören zu atmen, zu sprechen, zu sein, zumindest so lange sie in Sofies Land lebten. […] Ach, Sofie – immer wollte sie ihre Ruhe haben, das war das einzige, was sie inte­ressierte. So wollte bloß keinen Ärger, sie hatte, wie sie fand, mit ihrem eigenen Leben Probleme genug, und wenn sie sich auch noch mit seinen Sorgen hätte beschäftigen müssen, wäre der Streß für sie zu groß gewe­sen. Streß. Streß! Wie sehr haßte Motti dieses Wort. Immer war alles Streß für Sofie, Studieren war Streß, Ausgehen war Streß, Arbeit wart Streß, Erkältungen waren Streß, Wegfahren war Streß, Zurückkommen war Streß, Erwartungen waren Streß, Ausgehen war Streß, Reden war Streß, Erziehen war Streß, mehr als zwei Leute an einem Tisch waren Streß. […] Kalte, böse Frau, dachte Motti, er steckte das Hemd in die Hose und machte den Gürtel zu. (263f.)

Der hier vorgeführte Interpretationsansatz erscheint in Bezug auf Die Tochter auch deshalb so gewinnbringend, weil nicht nur die Umsetzung der Thesen Lethens und Plessners auf Ebene der Romanhandlung für die Zeit nach den Kriegen so augenfällig ist („der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt“), sondern weil sich über die von Biller geschilderten, aktuellen Verhaltenslehren der Kälte auch erschließt, warum es sich bei der Tochter auf tieferer Ebene der Aussagen um ein moralisches Werk handelt. Am unmoralischen Verhalten des Protagonisten Motti, der in jener pragmatisch-strategischen Einübung der kollektiven Verhaltenslehren der Höflichkeit und Distanz versagt und in dessen traumatisierter Psyche sich stattdessen Innen und Außen, Eigenes und Fremdes wahnhaft verqueren – an Mottis Identitätsflucht ganz im Sinne Lethens zeigt sich, wie sehr die Moral in der heutigen Zeit laut Biller an Überzeugungskraft eingebüßt hat. Unüber­sehbar wird daher in der Tochter die individuelle Verdrängung eines schuldig gewordenen Menschen mit der kollektiven Schuldverdrängung eines ganzen Landes, mit der „bizarre[n] Verdrängungs­leistung der Deutschen“319 zusammengebracht. Darin, in einer solch alltagspraktischen Verhaltens­lehre der Kälte also ist diese Aus-Zeit in Deutschland „das beste, was ihm [Motti] hatte passieren können“: Die Wochen und Monate mit ihr [Sofie] verstrichen, als wäre sein Leben nicht sein eigenes, und das war sicher das beste, was ihm hatte passieren können. Jeder Tag war wie der andere – egal, ob es am Morgen drau­ßen hell oder dunkel war. Sie […] gingen sonntags regelmäßig im Englischen Garten spazieren, bei jedem Wetter, bei jeder Jahreszeit, sie aßen um punkt acht Abendbrot, genau zur Tagesschau, und sie gingen zweimal in der 319 Eke, in: ZfdPh 2002, S. 99.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Woche zum Hochschulsport ins Agnes-Gymnasium. […] In der Umkleidekabine […] war es ebenfalls immer sehr still, man hörte nur selten jemanden guten Tag sagen, obwohl sich viele, die hierher kamen, schon seit Monaten und Jahren kannten […], und er dachte daran, wie beruhigend es war, hier zu sein, nackt und schutzlos unter all diesen wildfremden Menschen, die alle nichts von ihm wollten. (33f.)

Aber nicht nur die Menschen in „Sofies Totenland“ (11) werden regelmäßig als unnahbar und stumm beschrieben. Die Beruhigung, die „Verhaltenssicherheit“, die für Motti von dieser Form von Kälte ausgeht, lässt ihn sozusagen selbst erkalten.320 Und dieser Zustand steigert sich noch, spiegelt seine seelische Verfas­sung endgültig auch in Form von physischen Kälteschüben wider, nachdem ihm die Frau vom Jugendamt wegen des Missbrauchs an seiner Tochter Nurit einen Besuch abgestattet hatte: Er wachte morgens steif vor Kälte auf, er fröstelte unter der heißen Dusche, beim Anziehen legte sich die Unterwäsche wie ein großer eisiger Verband auf seine überempfindliche Haut, und wenn er auf die Straße ging, war sein Körper bereits so abgekühlt, dass er in dem trockenen, kneifenden Dezemberwind sofort zu zittern begann. Auch jetzt, während er mit zusammengepreßten Knien und steifem Nacken auf der niedri­gen Holzbank in der Kirche der Englischen Fräulein in Nymphenburg saß, fror er wieder. Er hatte zwar wie alle anderen den Mantel anbehalten, aber das nützte nicht viel, die Kälte kroch langsam an seinen Beinen und seinem Rücken hoch … (203)

München wird in Die Tochter folglich zur Ortschaft, die das Trauma der Schuldverstrickung und seiner psychischen Folgen visualisiert, das soziale, höfliche Miteinander als ein Gegeneinander vorführt, oder in den Worten von Lethen: „Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.“321 Ebenso wie die Stadt Wien für David Vogel wird auch München für Maxim Biller zur wichtigsten ‚Figur‘ seines Romans. Eine Figur, die anders als Vogels Wien, sich deswe­gen mehr ins Bewusstsein und weniger ins Herz des Lesers einprägt, weil sie von seinem Helden gebraucht und gewissermaßen verbraucht, nicht aber umworben, geschweige denn – trotz gegenteiliger Aussagen des Protagonisten – geliebt wird. Damit findet sich in Die Tochter auch jenes Resümee in literarisierter Form wieder, zu dem Maxim Biller in seinem Essay über David Vogel gelangt war: Den Preis der Freiheit, den der Ostjude Vogel für die Teilhabe an der Moderne, für sein Leben in der westlichen Welt noch zahlen musste, braucht er als heutiger jüdischer Schriftsteller „nun, da alle Kämpfe ge­kämpft sind“, nicht mehr zu errichten. 320 Zum Begriff der „Verhaltenssicherheit“ siehe: Lethen 1994, S. 8. 321 Ebd., S. 7f.

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Das Heute, die Zeit ‚nach den Kämpfen‘ scheint jedoch nicht nur geprägt von dem Verlust einer großen Lebendigkeit, die noch die Sprache Vogels prägte, sondern auch von einem Vakuum, jenen Verhaltenslehren der Kälte, die in mehrerlei Hinsicht wirksam sind. Nach der Shoah gibt es ebensowenig noch eine gelebte Tradition, die „zu verraten“ möglich wäre, wie die Hoff­nung auf eine Überwältigung durch das Fremde, auf die Aussicht „alles hinter sich zu lassen“. Die Poetologie von Billers intertextuellem Verfahren liegt in der Tochter also darin begründet, dass Biller mittels seiner Re-Lektüre von Vogels Ehe in Wien die Tradition wieder heraufbeschwört und deren Lebendigkeit auf grammatikalischer Ebene eine Poetik der Kälte entgegenstellt. Mittels dieses Verfahrens der Entzauberung wird jene helle, fast strahlende Traurigkeit des Tons, die Biller an Vogels Sprache so berührt hat, in der Tochter zugleich radikali­siert wie bestätigt. Damit ist ein wesentlicher Punkt der Jüdischkeit als Text, die zentrale Schreibfigur der aktuellen literarischen Geschichtsschreibung bei Biller benannt. Analog zur kontrapunktischen Schilderung der Städte verhält es sich mit den Szenen einer Ehe, auf die hier noch kurz eingegangen werden soll. In beiden Romanen findet sich der jüdische Protagonist in einer fatalen zerstörerischen Liebes­ beziehung zu einer nichtjüdischen Frau wieder, welche zugleich die Mehrheitsgesellschaft und damit: ein anderes Leben repräsentiert, an das sowohl Rudolf Gordweil als auch Motti Wind An­schluss zu finden hoffen. Über Vogels Ehe in Wien gelangt Biller zu folgendem Resümee: David Vogels Geschichte läßt sich mit einem einzigen Satz zusammenfassen und geht so: Ein junger jüdi­scher Schriftsteller aus dem Osten, der in den 20er Jahren in Wien lebt, verfällt einer kalten, bösen österrei­chischen Baronesse [Thea], ohne daß man auch nur eine einzige Sekunde kapiert, warum, und das macht einen bald genauso verrückt wie ihn.322

In Vogels Roman reibt sich der Leser in der Tat an der verstörenden, geradezu provokanten Er­gebenheit Gordweils, für die er den Schlüssel zu finden sucht, zumal Gordweil selbst schon früh weiß, „daß es nie anders werden würde“: Geh, Häschen, roll mir eine Zigarette“, sagte sie [Thea] im Aufstehen. „Und der Tisch muß auch abgedeckt werden.“ […] Gordweil deckte den Tisch ab, spülte das Geschirr und stellte es auf das untere Bord des Waschtischs […] von Zeit zu Zeit [lugte er] zu seiner Frau hinüber, deren weißer, weitgehend entblößter Körper einen un­sichtbaren Hauch scharfer, quälender, verblüffender Erotik ausstrahlte. Der Kopf wurde ihm schwer, be­rauscht. Diese Frau dort, grübelte er umnebelt, ist also meine Frau – meine Frau – meine Frau … Während er so nachsann, spürte 322 Biller 2001, S. 283.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

er plötzlich einen heftigen Schmerz in der Herzgegend, als habe man ihm dort einen scharfen Gegenstand hineingejagt. Und ehe er sich noch verwahren konnte, bestürmten ihn Erinnerungen, die er stets aus seinem Bewußtsein zu verbannen versucht hatte – […] Gordweil sah plötzlich einiger seiner Bekannten nebst mehreren Unbekannten – eine ganze Männerschar – einen nach dem anderen auf seine Frau, seine Thea, zukommen, die da halbnackt auf dem Sofa lag, ihnen zulächelte, ihre Brüste entblößte, ih­nen die Arme entgegenstreckte … […] Und diese Szene verursachte ihm neben dem furchtbaren, überwälti­genden Schmerz auch einen sonderbaren, unerklärlichen Genuß … […] Er blickte vor sich hin, ohne etwas zu erkennen, und seinem Mund entfuhr, als spräche er zu sich selbst: „Ah, wenn alles anders wäre, nur ein kleines bißchen anders … Dann wäre alles wunderbar …“ […] Er zuckte nur in stiller Ergebenheit die Achseln. Spürte mit Sicherheit, daß es nie anders werden würde. (102f.)

Und so scheinen es auch für den Leser Biller gerade die unabschließbaren Fragen zu sein, welche paradox gesprochen den Schlüssel zu dieser deutsch-jüdischen Geschichte herstellen: Ich weiß gar nicht, warum David Vogel uns diese düstere, kranke zermürbende Geschichte erzählt, die Thea am Ende ebensowenig überlebt wie das Kind. Ich weiß nicht, ob es ihm etwa darum ging, zu zeigen, wie absolut unmöglich es für einen Mann und eine Frau ist, zusammen Frieden zu finden, und wie grauen­haft und brutal darum alles wird, wenn sie es trotzdem versuchen. Ich weiß nicht, ob die gewalttätige Bezie­hung, die zwischen Rudolf Gordweil und Thea von Tako herrscht, das ewig kaputte, ewig gestörte Verhält­nis zwischen Juden und Nichtjuden widerspiegeln soll, die sich seit Jahrtausenden um so wütender ineinan­der verbeißen, je weniger sie voneinander loskommen und umgekehrt. Ich weiß nicht, ob die unbegreifli­chen Qualen, die Gordweil mit seiner germanischen Domina durchleidet, als Sinnbild zu deuten sind, für die absurden, endlosen jüdischen Diasporaleiden oder als David Vogels prophetische Vorwegnahme des KZ-Horrors. Ich weiß auch nicht, ob ‚Eine Ehe in Wien‘ nicht allein von Sexualität und Sadomasochismus handelt …323

Während in Eine Ehe in Wien also das Nicht-Verstehen oder anders gewendet das Verstehen-Wollen den produktiven Reibungspunkt bildet, verhält es sich in Bezug auf Die Tochter genau um­gekehrt. Hier ist es gerade das Verstehen-Können von Mottis Situation – ein Nachvollziehen, das nichts mit Billigung zu tun hat – das einem im Fortgang der Handlung immer mehr in die Quere kommt. Denn anders als bei Rudolf Gordweil drängen sich in Bezug auf Motti Wind keine Warum-Fragen auf. Trotz oder besser aufgrund des komplexen Phantasmas, dem 323 Ebd., S. 285.

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Ineinanderfallen der verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven stellt sich im Widerstand gegen die Hauptfigur vielmehr eine gewisse eindeutige Haltung ein, die, dem Anliegen moralischer Literatur gemäß, lauten könnte: So sollte es im ‚wirklichen‘ Leben nicht zugehen. Dement­sprechend ist die Figur Mottis weder als Sympathieträger noch als bemitleidenswert angelegt. Aber der Erzählhaltung ist deutlich an­zumerken, dass man seine Verstrickungen begreifen, sich den ‚Trigger‘ bewusst machen soll, der Motti dazu treibt, dass sich die Liebe zu seiner Tochter in einen Liebes-Missbrauch verkehrt. Seine kleine, stumme Prinzessin war nicht so wie die anderen hier, sie hatte ihm bestimmt alles verziehen, sein Abtauchen, nachdem man sie ihm weggenommen hatte, genauso wie die schrecklich schönen Mo­mente seiner Hilflosigkeit und Schwäche davor, diese Sekunden – es waren doch nur Sekunden gewesen! – , in denen sie ihn in ihre Arme nehmen, in denen sie ihn streicheln und liebkosen mußte, als sei nicht sie das Kind, sondern er. Und auch die Sache mit Muamar [dem von ihm gefolterten und getöteten arabischen Sol­ daten] wäre für sie sicherlich kein Problem gewesen […], sie hätte vielleicht auf ihre kluge, stille Art darüber gestritten mit ihm, aber auf keinen Fall hätte sie gesagt, er sei ein Schwein. Ein Schwein? Wie konnte je­mand nur so seinen Vater nennen? SchweinSchwein-Schwein. Keines der Worte, die er hier gelernt hatte, haßte Motti mehr als dieses. Es war ein niederschmetterndes Wort, es war herablassend und voller Ver­ nichtungswillen, es war ein Terroristenwort, ein Soldatenwort – es war ein Wort, das einer sagte, der lieber allein blieb auf der Welt, bevor er sie sich teilte mit jemandem, der ganz anders war als er, der auf der fal­schen Seite stand, den er nicht kapierte. Schwein-SchweinSchwein. Schwein. Schwein. Wie das gleichmäßi­ge Rattern eines Zuges würde das gräßliche Wort durch seinen Kopf donnern, während er sich frierend durchs nächtliche Puchheim schleppen würde … (142f.)

In Billers ‚Ehe in München‘ werden dem Leser Perversionen vor Augen geführt, in denen sich nicht nur wie in Vogels Ehe in Wien elementare menschliche Gefühle wie Liebe und Zugehörigkeit aufgrund der psychischen Konstitution ihrer Protagonisten verdrehen und verkehren, sondern mittels derer auch eine Aussage über die Konstitution der Gesellschaft getroffen wird.324 Dabei gibt es hier, anders als bei Vogel, keinen zuverlässi­gen Erzähler. Sein Status wird bewusst fragwürdig gehalten. Weder ist Mottis immer wieder auf paranoiden Wahnvorstellungen beruhenden Wahrnehmungen gänzlich zu trauen, noch dem Ich-Erzähler, der sich unvermittelt gegen Ende des Handlungsverlaufs einschaltet. Dazu bemerkt Norbert Otto Eke: 324 Zur „gesteigerten Negativität“ in Billers Werken und dem „programmatischen Konfrontationskurs“ seiner „Hass-Figuren und Gesten“ siehe auch Kilcher, in: ZfdPh 2002, S. 144f.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

Alles ist, wie beschrieben und zugleich anders: nicht auszuschließen ist, daß auch die Geschichte der ge­schändeten Tochter nur das Phantasma, die Projektion des traumatisierten Soldaten und Mörders ist, der über seine Schuld (dem Mord im Krieg und dem Verlust der Tochter) den Verstand verloren hat; mögli­cherweise aber ist auch die Geschichte Motti Winds selbst nur die Projektion des – abgesehen von wenigen, wenn auch nicht zu übersehenden Kurzauftritten zuvor – gegen Ende des Romans als Double seines Hel­den auftretenden Ich-Erzählers, der seine Traumata als Jude in Deutschland, seine Fremdheit im kalten ‚Toten’- und Mörderland in der Kunstfigur des schuldig unschuldigen Täters Motti Wind überhöht und aus einzelnen Fakten und Andeutungen seinem Helden die Geschichte des verzweifelten Mörders und (Kinder-) Schänders auf den Leib geschrieben hat.325

In der allerletzten Szene schließlich wacht Motti, wie Eke es formuliert, „aus dem Albtraum des Romans“ auf, „nur um sich in diesem wiederzufinden“.326 Mit der letzten Sequenz springt die Hand­lung nämlich wieder an ihren Ausgangspunkt zurück: Motti liegt im Bett, ein Pornovideo ist auf Pause gestellt, er drückt auf den Startknopf und der ganze ‚Film‘ (im zweifachen Sinne) be­ginnt von Neuem. Allerdings, um Eke hier zu ergänzen, mit einer kleinen, aber wichtigen Ver­schiebung: Denn nun ist es nicht mehr die Tochter, die Motti vor sich auf dem Bildschirm zu erkennen glaubt, sondern eine junge polnische Frau. Das plötzliche vermeintliche Wiedererken­nen Nurits, das eingangs als ‚Trigger‘ der Erinnerung fungierte, hat am Ende des Romans sozu­sagen ausgedient: „Schade, dachte er, wirklich schade, denn er hatte einen Moment lang tatsäch­lich geglaubt, es sei alles gut.“ (423) Dann drückt Motti den Startknopf und die Einsamkeit und Kälte seiner Existenz setzt sich, übertragen gesprochen, fort, ohne Erlösung, ohne Erklärungen oder Rückzugsmöglichkeiten in die wärmenden Illusionen des Wahns. Trotz der Fragwürdigkeit des Erzählten erscheinen die Fragen, die sich an den Status der Ge­schichte stellen lassen, für das Verständnis der Tochter seltsam irrelevant. Stattdessen hat sich der Leser mit den Antworten auseinanderzusetzen, die der Roman gibt. Dazu bemerkt indirekt der Autor selbst: „[M]ein Roman ‚Die Tochter‘, für den ich fast fünf Jahre lang brauchte, [ist] nicht nur eine Antwort auf meine eigenen Fragen, sondern auch auf die, die Vogel in seinem Buch stellt.“ – Damit ist sowohl Billers eigenes Verfahren als auch die Differenz zu seinem literarischen Vorbild angesprochen. Der eine (David Vogel) fragt, der andere (Maxim Biller) antwor­tet auf Fragen. Welche Fragen sind das, auf die sowohl Vogel als auch Biller eine Antwort zu geben versuchen? Dass diese Fragen und ihre Antworten bei Biller nicht explizit ausgesprochen, sondern vom Leser herausgehört werden wollen, ist selbstredend ein Kennzei325 Eke, in: ebd., S. 97f. 326 Ebd., S. 98.

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chen guter Literatur. Aufschluss verschafft hier ein Blick zurück an den Anfang von Billers Roman, dorthin, wo beide Ge­schichten, die einer Ehe in Wien und die einer Ehe in München zusammenfließen; nämlich in jener eingangs zitierten Textpassage aus Eine Ehe in Wien, die Biller der Tochter ja nicht ohne Grund als Motto vorangestellt hat. Aufschlussreich ist es, diese Textstelle noch einmal zu zitieren, und zwar mit der Auslassung, die Biller hier vorgenommen hat und die im Folgenden kursiv gesetzt ist: Gordweil stieß ein ersticktes Ächzen aus. Er meinte, vor Schmerz und Lust zugleich ohnmächtig zu wer­den. Rote Flammenspieße tanzten ihm vor den Augen, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Dabei wünschte sich Gordweil, dieser Zustand möge unendlich anhalten, sein Schmerz sich vertausendfachen, ihn gänzlich abtöten. Bisher hatte noch keine Frau ihn in eine ähnliche Lage versetzt.327

Den Schmerz so zu bejahen („vertausendfachen“), dass er einen anderen, noch tieferen tilgt: Den Schmerz, Jude und damit anders zu sein. Sich-gänzlich-abtöten lautet daher die zentrale Losung – die Fremdheit überwinden, indem man sich seiner selbst entledigt. In diesem Vorgang, der sich mit Sander Gilman als Phänomen des jüdischen Selbsthasses bezeich­nen ließe, liegt die eigentliche und tiefste Suchbewegung begründet, die sowohl Vogels als auch Billers Protagonisten antreibt, sie ihre fatalen zerstörerischen Liebesbeziehungen durchleiden lässt und zugleich der causa movens des Erzählens. Die Frau, die Gordweil in diese „Lage versetzt“, kann daher selbst keine Jüdin sein, wie Lotte, Gordweils eigentliche Liebe, die er deswegen vor sich selbst verleugnet, sondern sie muss eine Repräsentantin jener ‚Anderen‘ sein, der Deutschen bzw. der Wiener Gesellschaft, welcher der Diaspora-Jude Gordweil so sehnlichst angehören will, und zwar ausgestattet mit möglichst offen­sichtlichen Attributen, die eine Teilhabe an dieser die Macht innehabenden gesellschaftlichen Gruppe auch nach außen hin signalisieren. Dementsprechend hebt Gordweil gegenüber seinem Freund Ulrich, als er das erste Mal die Baronin Thea von Tako im Kaffeehaus sieht, von allen Dingen, die er an der begehrten Frau bemerken könnte, ausgerechnet Folgendes hervor: „Sie hat so etwas an sich. Du merkst es nur nicht. So eine Wiener Tradition. Biedermeierzeit. Sieh mal den herrischen Zug in der unteren Gesichtshälfte. Ich würde sie zu gern kennenlernen.“328 Und wenig später in seinem ersten Gespräch mit Thea gibt er im Grunde die gewünschte Ausrichtung ihrer späteren Beziehung gleich selbst vor:

327 Vogel 1992, S. 48. 328 Ebd., S. 25f.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

… zuweilen trifft man erstmals auf einen Menschen, bei dem man instinktiv spürt, daß das bißchen Trauer, das die Seele zum Dasein braucht, einem allezeit von ihm über verstecke Kanäle zugeflossen ist, bis es an­kam und aufgesogen wurde … Und diesem Menschen ist man dann untrennbar wie ein Schatten verbun­den.329

Während sich besagter Vorgang des „Abtötens“ bei Gordweil halb intuitiv, halb bewusst seinen Weg bahnt, ist derselbe bei Motti strategischer angelegt. So weiß er beispielsweise von sich zu sagen: „Die Wochen und Monate mit ihr [Sofie] verstrichen, als wäre sein Leben nicht sein eige­nes, und das war sicher das beste, was ihm hatte passieren können.“ (33) Um sich selbst abzutöten, kommt für Motti daher nur „Sofies Totenland“ (11) in Frage. Und Sofie mit dem „weißen, fast konturenlosen Gesicht“ (16), ihre „weiße[n] Hände, Knöchel und Schultern“, Sofie, die ihm „so leise und höflich“ antwortete, „wie er noch nie in seinem Leben einen Menschen sprechen gehört hatte“ (16) ist die weibliche Personifikation ihres Landes, so wie Motti es erlebt und dem Leser mittels jener bereits ausführlich zitierten Metaphorik der Kälte beschreibt. Vor dem intertextuellen Hintergrund von Vogels Thea gewinnt die Figur Sofie an Tiefenschärfe. Sie fungiert als deren negatives Spiegelbild: Während Thea hyperaktiv ist und laut, bleibt Sofie passiv und stumm. Die eine (Thea) quält ihr jüdisches Gegenüber mit ihrem gren­zenlosen Expansionswillen, die andere (Sofie) durch Schwäche und Abschottung. Beide Frauenfiguren werden in ihren übersteigerten Charakteristiken gewissermaßen funktionalisiert, um das Leiden ihres jewei­ligen jüdischen Gegenübers herauszustellen und zu überhöhen: Thea in der ‚hitzigen‘, Sofie in der ‚kalten‘ Version desselben Themas von Macht und Unterwerfung. Denn dass Sofie nicht nur die kalte, stumme, labile und gleichgültige Frau aus Mottis Welt sein kann, stellt Biller in wenigen gut platzierten szenischen Kippmomenten heraus, in denen sich, obwohl die Erzählperspektive nah an Motti dranbleibt, sein Wahn etwas lichtet und Sofie auf einmal „ganz anders“ erscheint. Nicht nur ist sie plötzlich von schlanker Gestalt („lange, schlanke Beine“, „heller fester Bauch“, „ihr helles, fast strahlendes Haar“ kam ihm „viel voller und locki­ger vor, als er es in Erinnerung hatte“, (333f.), wo sie doch vorher durchweg als groß, schwer, weich und dick geschildert wurde, sondern, so Motti: „Außerdem wirkte sie, auf ihre blasse Art, ungleich schöner und hingebungsvoller, eben so, wie sie heute war, diese Frau, die ihm vorhin, als sei es das selbstverständlichste auf der Welt, nach zehn langen Jahren wieder die Tür aufgemacht hatte.“ (337) Das übersteigerte Leiden, das Motti und Gordweil in ihren Ehen erleben, steht also für ein ande­res Leiden, das die beiden an ihren jeweiligen Frauen stellvertretend abarbeiten, wobei sie wissentlich igno­rieren, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Thea und Sofie fungieren damit als Figuren eines Diskurses, 329 Ebd., S. 27.

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der sich mit Vogel und Biller folgendermaßen formulieren ließe: „Was das wohl für eine Welt ist, in der ein Jude nur dann glücklich werden kann, wenn er auf­hört, Jude zu sein, lebendig oder tot.“330 Die unausgesprochene aber alles bestimmende unabschließbare Frage, die sich aus Biller wie Vo­gels Roman so schlicht wie fundamental herauslesen lässt, lautet daher: Was bedeutet es, Jude zu sein? Eine Antwort, die beiden Werken gleichermaßen eingeschrieben ist, lässt sich so formulieren: Jüdischkeit bedeutet, Umgang mit dem Katastrophischen zu haben. Nicht nur, dass es laut Biller, „sehr jüdisch ist, gerade in den schönsten Momenten mit dem Schlimmsten zu rechnen.“331 Er selbst sieht auch Vogels Schreibimpuls über das Katastrophische motiviert: „Die jüdi­sche Angst vor der nächsten Katastrophe damit auszutricksen, daß man sie Tag und Nacht will­kommen heißt – das ist sicher eine Erklärung für Vogels fast schon masochistische Melancholie.“332 Und zur Normalität der Katastrophe notierte wiederum Vogel in seinem Tagebuch: „Ich brauche Leiden, eine ungesicherte Lage, ein ungeregeltes Leben.“333 Vogels Katastrophenpoetik, derzufolge alle Wege fort von der Bodenhaftung der Tradition zu­letzt zwangsweise fatal erscheinen, kommt sehr feinsinnig in der Aussage des Flickschusters Rubicek, einem Freund Gordweils, zum Ausdruck. Denn nur: „Wenn die Schuhe in Ordnung sind, tut auch der Kopf nicht weh.“334 Die „ganz normale jüdische Katastrophen-Paranoia“,335 bei Vogel wirkt sie authentisch. Bei Biller, dem Autoren, der nach der Shoah schreibt, erscheint sie in erster Linie, und sicherlich nicht un­bewusst, wie ein Zitat, was auch den intertextuellen Verweiszusammenhang erklärt, das Be­dürfnis nach Zusammenschluss mit Vogel, jenem Diaspora-Juden, dessen Ton, so Biller, sich „für immer“ in ihm versiegelt hat. Dementsprechend liegt die Authentizität der Tochter gerade in der Einsamkeit, in der Kälte seiner Figuren im Allgemeinen und seiner Hauptfigur Motti im Besonderen begründet, die, auch und gerade in ihrer nachträglichen Brechung durch den Ich-Erzähler, immer das Konstrukt einer Rolle, einer Diskurskonfiguration anhaftet. Eine Opfer-Täter-Figuration. 2.6.2. Der eigene Andere. Opfer-Täter-Figurationen

Dass Biller aus den „Widersprüchlichkeiten und Verdrängungsleistungen der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur“336 wesentliche Impulse für sein Schreiben, 330 Biller 2001, S. 289. 331 Ebd., S. 278. 332 Ebd., S. 281. 333 David Vogel, Das Ende der Tage. Tagebuch (1912–1922), zitiert nach Biller, ebd., S. 282. 334 Vogel 1992, S. 53. 335 Biller 2001, S. 278. 336 Eke, in: ZfdPh 2002, S. 90.

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für eine „Literatur der Wut“337 be­zieht, zeichnete sich vor den ersten größeren Prosawerken schon in seiner Arbeit als Redakteur der Zeitschrift Tempo ab.338 Biller wurde dort rasch, so Jan Strümpel, „zum Prototyp einer neuen, dem offensiven Meinungskampf verschriebenen Publizistik“.339 Die dort entstandenen Satiren, Polemiken und Essays zum deutschen Kulturbetrieb und zum „schamhaftverklemmten“ Alltag im „Post-Holocaust-Deutschland,“340 wie sie „so bislang nicht formuliert wurden“,341 machen deut­lich, dass es Biller um Positionen der Sichtbarkeit, des Antagonismus geht. Und zwar gerade dort, wo sich, mit Finkielkraut, im Grunde bereits eine gegenläufige gesellschaftliche Entwicklung konsta­ tieren lässt, nämlich, dass „die Zahl der Ausschließungskriterien in dem Maße zu[nimmt], wie unsere Welt in Fragmente zerfällt“ und eine „ganze bunte Mischung von Anlässen für unseren Argwohn“ allmählich „die eine große Unterscheidung“ zwischen der Gesellschaft und ihrem Anderen ersetzt.342 Billers provokantes Spiel mit den Klischees über Juden kann also auch als eine Form der literari­schen Selbstvergewisserung gelesen werden, indem er für „die eine große Unterscheidung“ des Andersseins immer wieder Aufmerksamkeit einfordert, wissend, dass „die Aporien der deutsch-jüdischen Beziehungen“ nicht einfach aufzulösen sind.343 Schon in einer seiner ersten größeren Erzählungen Harlem Holocaust (1990) lässt er seinen Prota­gonisten Warszawski, der aus dem ihm entgegengebrachten Philosemitismus der Deutschen selbstbewusst Gewinn schlägt, sagen: „Ich bin […] ein berechnender Schurke, ein cleverer Jid, ein Literatur-Shylock wie Kafka, dieser Schweinehund!“344 Dementsprechend konsequent schlussfolgert auch Eke in seiner Untersuchung von Billers litera­rischen Opfer-Täter-Konfigurationen, dass Biller „auf die widerspruchsfördernde Kraft der Zuspit­zung als Mittel zur Öffnung des verstellten Wahrnehmungsfelds und der Erschließung neuer Denkräume jenseits der geschlossenen Kammern der Erinnerung“ setze und dabei „planmäßig gegen den moralischen common sense, der die Opfer verklärt“ verstoße.345 Billers Texte, so Eke weiter, legen „Sprengsätze an die eingerasteten Vorstel337 Maxim Biller, Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit, in: Die Zeit, Nr.16, 13. 4. 2000, S. 47–49, hier S. 48. 338 Maxim Biller, Die Tempojahre, München 1992. 339 Jan Strümpel, Maxim Biller, in: KLG 6/99, S. 2. 340 Biller, Auschwitz sehen und sterben, in: Biller 1992, S. 115–131, S. 119. 341 Strümpel 1999, S. 3. 342 Finkielkraut 1981, S. 101. 343 Köppen 1993, S. 71. Billers literarische Selbstvergewisserung betreffend ist außerdem jüngst ein Selbstporträt von ihm erschienen: Maxim Biller, Der gebrauchte Jude. Selbstporträt, Köln 2009. 344 Maxim Biller, Harlem Holocaust, Köln 1990, hier zitiert nach der Ausgabe 1998, S. 47. 345 Eke, in: ZfdPh 2002, S. 90.

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lungsbilder und die genormten Wahrneh­mungsweisen im Umgang von Juden und Nicht-Juden“, sie „stören den bequemen Philosemitis­mus“ und räumen „in irritierender Weise das Feld der reinlichen Scheidung in (deutsche) Täter und (jüdische) Opfer“.346 Bleibt im Hinblick auf Finkielkrauts These von der Ausdifferenzierung und Fragmentierung der Gesellschaft – von dem Schlagwort der ‚Globalisierung‘ ganz zu schweigen – die Frage, ob derlei Aussagen über Billers mehrheitlich nichtjüdisches deutsches Diskursumfeld („genormte Wahr­nehmungsweisen“ und „bequemer Philosemitismus“) nicht zu sehr vereinfachen und in diesem Sinne überhaupt haltbar sind. Zumindest für den literarischen Raum bleibt – gerade in Bezug auf die deutsche Nachkriegsliteratur – die Frage bestehen, ob es so etwas wie eine Wahrnehmung des Opfers als dezidiert jüdisches Opfer überhaupt je gegeben hat? Von einer „reinlichen Scheidung“ ganz zu schweigen; und ob nicht vielmehr eine Verwischung jener Opfer-Täter-Dichotomie, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen und Motiven als bei Biller, stets das vorherrschende Verfahren gewesen ist. Lässt sich Billers Pochen auf der Kategorie des ‚Anderen‘ und seine daraus resul­ tierende „Literatur der Wut“ nicht vielmehr als Gegendiskurs verstehen, und zwar nicht gegen jene Stigmatisierung der Juden als ewige Opfer, sondern gegen eine neue Indifferenz, welche die mit der Shoah so elementar gewordene ‚Andersartigkeit‘ von Juden und Nichtjuden zu verwischen droht? Es sei noch einmal an Gilmans Statement erinnert: Des Holocaust als Hauptgegenstand eines selbstdefinierten, authentischen Sprechens über die Andersartig­keit der Juden beraubt, müssen Juden im heutigen Deutschland nach anderen Modellen suchen. Sie haben die Entfernung vom früheren Modell, von der Verinnerlichung einer außergewöhnlichen Sichtbarkeit in­nerhalb der Kultur der Diaspora, gezwungenermaßen vollzogen. Heute steht der Prozess der Verinnerli­chung in Zusammenhang mit der Unsichtbarkeit der an den Rand gedrängten Juden.347

Die literarische Qualität von Billers Texten erweist sich dort am stärksten, wo er die im außerlitera­rischen Raum vorgefundenen Diskurskonfigurationen nicht nur vorführt und mimetisch abbildet, sondern sich auf wirkliche, ihm ‚nahe’348 und daher diskursbildende Fragen einlässt, wie sie sich in Die Tochter finden: Was be346 Ebd., S. 91. 347 Gilman 1993, S. 25. 348 Zu den autobiographischen Referenzen von Billers Die Tochter siehe u. a.: „Mein Bruder, der Biller.“ Der Autor Maxim Biller ist eine Reizfigur. Kaum jemand versteht ihn so gut wie seine Schwester. Ein Erklärungsversuch, in: Die Zeit, Nr. 41, 2. Oktober 2002, S. 51: „Plötzlich fällt mir ein, dass Maxims erste echte Verbindung zu Deutschland von seiner Beziehung zu einer deutschen Frau herrührt, die auch die Mutter seines Kindes ist. Er stimmt mir zu. ‚Und das‘,

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deutet es heute Jude zu sein? Und was ge­schieht, wenn nicht nur ‚der Feind‘ unsichtbar geworden ist, sondern auch man selbst? Vor dem Hintergrund dieser Fragen bekommen die Opfer-Täter-Figurationen in Die Tochter eine andere Dimension. Und zwar, weil sie in ihrer Komplexität gerade nicht gegen ein „verstelltes Wahrnehmungsfeld“ antreten, das es in Form eines Gegendiskurses nun zu ‚ent-stellen‘ gilt, son­dern genau dieses Vorhaben – siehe die unzuverlässige Rolle des Ich-Erzählers – als (im besten Sinne) fragwürdig erscheinen lassen und dieses Dilemma, diese Zumutung damit an den Leser delegieren. Die Frage nach dem ‚Anderen‘ rückt plötzlich näher, denn dieser wird zum eigenen Anderen. Es sei hier noch einmal an die Aussagen Moshe Zimmermanns erinnert, dessen Überlegungen zu den Opfer-Täter-Dichotomien als Identitätsformen hier im Zusammenhang mit Katharina Hackers Kain-und-AbelGeschichte diskutiert wurden. Das Problem von so „extrem traumatisierten Gesellschaften wie der deutschen und israelischen“ sei, so schreibt Zimmermann, dass die „Erinnerungsarbeit“ stets einer „neurotische[n] Prägung durch die Ver­ gangenheit“ zu unterliegen drohe.349 Mit dem Unterschied, dass, so Zimmermann weiter, Israel mit seiner offiziellen, öffentli­chen Inanspruchnahme des Opferbegriffes die Last der Gegenwart auszugleichen suche, während Deutschland die Last der Vergangenheit zu relativieren trachte. Selten wurde in der deutschen Gegenwartsliteratur genau diese These von der neurotischen Struktur, die das Trauma der Vergangenheit in der gesellschaftlichen Gegenwart hinterlässt, so intensiv und konsequent zum Thema eines Romans gemacht wie in Maxim Billers Die Tochter. Was bei Hacker über die mythologische Sinnbildebene als Metageschichte von Opfer und Täter in Eine Art Liebe einfloss, wird bei Biller zum Auslöser der Handlung und, wie soeben erörtert, zur Grundlage der psychologischen Konstruktion seiner Figuren, insbesondere seines Protago­nisten Motti Wind und der beiden Städte Tel Aviv und München. Neben den bereits angeführten Beispielen wird dies insbesondere an den konversionswilligen Frauen, die zum Judentum übertreten wollen, deutlich, denen Motti zu diesem Zweck Religions­unterricht erteilt. Was für ihn anfangs nur ein Job ist, spitzt sich bald weniger zu einer Aussage als zu der Frage zu: „[W]ollten sie alle in Wahrheit nur ihre Spuren in die Vergangenheit verwi­schen?“ (141) Dass Motti genau dieses Bestreben mit seinen deutschen Schülerinnen gemeinsam hat sowie die damit verbundene Sehnsucht nach einer wirklichen Veränderung, ist vielleicht einer der tieferen Hintergründe, dass er mit allen von ihnen auch eine sexuelle Beziehung unterhält, ohne die meisten von ihnen auch nur ansatzweise attraktiv zu finden. So verweben sich die Schil­derungen von Frau fügt er traurig, aber sachlich an, ‚war die zweite tiefe Krise meines Lebens: ein Kind zu haben, mit dem ich nicht zusammenleben kann‘. 349 Zimmermann, in: Jarausch, Sabrow 2002, S. 215.

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Gerbera aus Puchheim, deren Vater als Nazi-Kriegsverbrecher im Stadelhei­mer Gefängnis einsitzt, mit Mottis eigenen Kriegsbildern. So sah er, wenn Frau Gerbera eine ihrer monologischen Beichten hielt, einen „vierschrötigen SD-Mann vor sich“, „mit verschränk­ten Armen“, „am Rand einer Erschießungsgrube“, darüber aber, über die „weiße ukrainische Sonne“ (141) lagerte sich „bunt und gelb“ die „Sonne über Tel Aviv und Ramat Gan,“ , „über Tyros und Al-Biah“, „und in ihrer übergroßen, flirrenden Scheibe taucht auf einmal Muamars verschwitztes Gesicht auf und gleich dahinter erschienen die blutverschmierten Ringe in der Wand, an die er festgekettet ist“ (142). Dementsprechend muss sich Motti immer wieder verge­wissern: „[N]icht seine, es waren ihre verrückten Rabenvatergeschichten.“ (142) Und wenn Frau Gerbera über diesen toten Rabenvater sagt: „Es war der Sarg eines Schweins, eines Mörders, Kriegsverbrechers“ (141), dann bleibt ihre Sprache in Mottis Ohren ebenso grausam und kalt wie es die ihres Vaters gewesen ist. Der Hass wird also in die nächste Generation weitergetragen; ihm entkommt jene zum Judentum konvertierende Frau Gerbera ebensowenig wie ihrer Her­kunft, und ebensowenig entkommt Motti seiner eigenen Geschichte der Gewalt, die er in den Misshandlungen, die er seiner Tochter zufügt, fortschreibt. Oder mit Ingeborg Bachmanns Vers aus Alle Tage gesprochen: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt.“ 2.6.3. „Die Tochter“. Ein Vaterbuch

Neben Werken, die als eine spezifische Form der Erinnerungsliteratur vermehrt seit Ende der neunziger Jahre von den Kindern und Kindeskindern der Kriegsgeneration über die Rolle ihrer Väter im Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, den sogenannten „Väterbüchern“, wird nun durch Romane wie Leupolds Nach den Kriegen und Billers Die Tochter eine weitere Variante des Vaterbuchs aktuell. Denn das Erbe, das die heutigen Generationen in Form von Dispositionen und Prägungen vorfinden, wird sowohl angetreten, als auch ihrerseits weitergegeben. Sowohl in Leupolds als auch in Billers Vater-Tochter-Roman zwingen die kriegsbeschädigten Väter ihrem Gegenüber, der Tochter, ein Verhältnis auf, das dieser eine Ohnmachtsposition zuweist und bestätigen dadurch ihre Macht. Nach der Zäsur der Shoah, dem Verlust von Familie, Tradition und Lebensweise, stellt sich außerdem die Frage danach, was genau die Väter ihren Töchtern weitergeben. Was bedeutet es heute also nicht nur das Kind deutschjüdischer Eltern, sondern auch selbst Vater eines deutschjüdischen Kindes zu sein? Diese Fragen lassen sich durchaus in Billers Die Tochter aus­machen, wenn auch die erste, ernüchternde Antwort des Romans lautet: Von Generation zu Gene­ration weitergegeben wird in erster Linie die traumatische Erfahrung von Versehrtheit und Aus­geliefertsein. Während die alltäglichen Tätigkeiten Rudolf Leupolds in Leupolds autobiographischem Roman ganz auf das Stillstellen, auf ein Negieren der

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Gegenwart ausgerichtet waren, ist es in Billers Die Tochter gerade die kollektive wie individuelle ‚Unfähigkeit zur Vergangenheit‘, die den fundamentalen Kern der Konflikte ausmachteund in den abnormen Tätlichkeiten der paranoiden Vaterfigur Motti Wind mündet. Die Tochter ist so gesehen aber nicht nur ein Buch über die Geschichte von Trauma und Gewalt, der Text übt auch eine Gewalt am Leser aus, indem er ihn Zeile für Zeile zum Mitwisser von Mottis Perversionen macht. Die Motivation hierfür liegt auf der Hand: Der Leser soll sich selbst erklären, Position beziehen, nicht in bequemer Indifferenz verharren können, da wo „das Unerhörte alltäglich geworden ist“. Auch in diesem Sinne ist Die Tochter ein Vater­buch, da es als moralisches Buch eine gewisse Über-Ich-Funktion einnimmt. Denn: „Moral in der Kunst, in der Literatur“, schreibt Biller, „heißt […] nicht Moralisieren – sie heißt fähig sein zu einer Art metaphysischer Wut, zu Gegnerschaft, zur Position, zum Bericht.“350 Und er ergänzt: „Moralische Vorstellungskraft ist die handwerkliche Grundvoraussetzung eines jeden großen Schriftstellers, sie ist eine Fähigkeit zur Poesie.“ Unter dieser Fähigkeit zur Poesie versteht Biller vor allem zwei Dinge: „Wut“ und „Härte: die absolute Entschlossenheit, so brutal, dass das Blut spritzt, die letzten Fragen zu stellen – ohne die ideologische Naivität, zu glauben, man könne sie beantworten.“351 Auch Billers Schriftstellerkol­lege Matthias Altenburg kommentiert in seiner Rezension der Tochter insbesondere den moralischen Impetus: Also Haltungen? Ja. Und Moral. Immer wieder dieses Wort. Moral. Ziemlich selten in einer Umgebung, wo keiner mehr eine Meinung haben will, wo alles sich wegduckt, wo alle so tun, als wären die alten Fronten aufgeweicht. […] Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen, meint Biller. Wir müssen eine Genera­tion erziehen, die wieder Ethos hat und einen Sinn für Qualität. Und Mut. Auch den Mut, uns zu wider­sprechen.352

Dass ein Autor heute so lautstark und scheinbar unbekümmert Moral, Ethos und „das Sagen der Wahrheit“ einfordert, ist ebenso impulsgebend wie ungewöhnlich, zumindest für die jüngere Schriftstellergeneration. Was Biller hierbei zugute kommt ist eine Sprecherposition, die, anders als bei seinen nichtjüdischen Kollegen, nicht durch ein belastetes geschichtliches Erbe und ein daraus resultierendes Selbst-Misstrauen gegenüber solch großen Worten wie dem Sagen­können von „Wahrheit“ beschwert ist. Laut Biller führen diesbezügliche Skrupel, die sich etwa in der Wahl leiserer Zwischentöne bemerkbar machen, allerdings zu nichts weiter 350 Biller, in: Die Zeit, S. 48. 351 Ebd., S. 49. 352 Matthias Altenburg, Der fremde Blick. Matthias Altenburg über seinen Schriftstellerkollegen Maxim Biller und dessen Debüt-Roman „Die Tochter“, in: Die Woche, 17. 3. 2000.

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als einer „Schlapp­schwanzliteratur.“353 Gerade im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Vergangenheit attestiert er dem überwiegenden Teil der deutschen Gegenwartsliteratur, dass sie lediglich aus „Kopfgeburten“ bestünde, ohne Zugang zu den „Seelen“ der Leser zu finden.354 Dieser erzählarmen und ‚blutleeren‘ Literatur stellt Biller eine dezidiert jüdische Literatur entgegen und verbindet dieses Plädoyer mit einer identifikatorischen Aussage, indem er sein Schreiben poetologisch dieser „Gruppe“ zuordnet: Mich verbindet etwas mit einer Gruppe, mit der mich eigentlich sonst – sozial oder von den Verlagen – nicht viel verbindet: es gibt ein paar jüngere jüdische Schriftsteller in Deutschland. Die schreiben in einer unterschiedlichen Qualität, aber ihnen gemeinsam ist erstens eine gewisse Thematik: was das Heute mit dem Damals zu tun hat; und zweitens, was viel entscheidender ist: sie schreiben eine erzählerische Literatur. Also Barbara Honigmann, Robert Schindel, Peter Stephan Jungk, es gibt noch einige andere. Das ist eine andere Art von Literatur als die, die meine deutschen Kollegen schreiben.355

Deutsch-jüdische Schriftsteller zeichnen sich laut Biller also vor allen Dingen durch eines aus: eine erzählerische Literatur. Was heißt das nun für seinen Roman Die Tochter? Jüdischkeit als Text generiert sich in der Tochter vor allen Dingen aus einer, an den Diaspora-Schriftsteller David Vogel genealogisch angelehnten, elemen­taren Frage nach den „letzten Dingen“: Was bedeutet es, Jude zu sein? Und genauer gefragt: Was bedeutet es Jude zu sein, „nun, da alle Kämpfe gekämpft sind?“ 356 Die Antworten, die von Biller so provokant auf Ebene des Romans, seinem, wie er selbst sagt, „traurigsten Buch“ gegeben und damit zur Diskussion gestellt werden, lassen sich in drei Punkten bündeln: Erstens, Jude zu sein bedeutet, einen Umgang mit dem Katastrophischen zu pflegen. Zweitens, über Juden in Deutschland zu schreiben generiert eine Poetik der Kälte, eine Literatur der Härte und es bedeutet drittens, die – vergebliche – Suche nach Erlösung. 2.6.4. Die kleine Fabel vom Plüschfrosch. Oder: Die Suche nach Erlösung

Die Suche nach Erlösung bestimmt in der Tochter die Handlungsweisen fast aller Personen, sie konturiert ihre beschädigten Biographien. Mottis Eltern, deutschstämmige Juden und Shoah-Überlebende, versuchen sich in Israel ein neues Le353 Biller, in: Die Zeit, S. 49. 354 Ebd., S. 47. 355 Biller, Also, ich war nicht dabei … Maxim Biller im Gespräch über die ‚Gruppe 47‘, in: Brauchen wir eine neue Gruppe 47? 55 Fragebögen zur deutschen Literatur. Eingesammelt von Joachim Leser und Georg Guntermann, Bonn 1995, S. 33–50, hier S. 45. 356 Biller 2001, S. 282.

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Zusammenschlüsse. Jüdischkeit als Text

ben aufzubauen, was sich darin äußert, dass der Vater dort im zweifachen Sinne des Wortes ‚Theater spielt‘ und seine Affären hat, wäh­rend Mottis Mutter mit traumatisierten Kriegsveteranen arbeitet. Motti wiederum kehrt als Täter ins „Land der Täter“ zurück, um sich dort als Opfer empfinden zu können, in einem Leben, das bezeichnenderweise besonders darin eine Tröstlichkeit besitzt, dass es „kaum etwas mit ihm zu tun hat“ (34). Ausdruck sowohl seiner Sehnsucht nach Vergessen, als auch des mit dem Trauma verbundenen blinden Flecks, denn gerade hier in Deutschland, im „Totenland“ (11) wird Motti mit seiner Herkunft und der tabuisierten Leidgeschichte seiner Eltern konfrontiert. Was die Frauen in Mottis Münchener Umfeld angeht, so erfährt der Leser über sie hauptsächlich, dass sie konvertieren wollen, um aus den unterschiedlichsten Motivationen heraus einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Wobei sich Motti, als ihrem ‚Lehrer‘ und mit ihm dem Leser die Frage aufdrängt, ob dieser Schritt nicht lediglich dazu gedacht ist, die „Spuren der Vergangenheit zu verwischen“ (141), sich also in einer Überidentifikation mit den Opferkin­dern dem Dasein als Kind bzw. als Kindeskind der Tätergeneration zu entledigen. Darüber hin­aus hält Mottis Frau Sofie, die ebenfalls zum Judentum übertritt, noch eine ganz eigene Form der Erlösung für sich parat: Die Überdosis Tabletten im Badezimmerschrank. Elementarer oder in gewisser Weise universaler aber ist die vergebliche Suche nach Erlösung, die in Die Tochter auf Ebene der Tradition, der jüdischen Mystik, ausgetragen wird, und für die die Geschichte von Bubtschik, dem Plüschfrosch, eine ebenso eindringliche wie bewusst profane, kleine Fabel darstellt: Was mit der Geschichte eines schlichten Verlustes beginnt – der junge Motti verliert eines Tages seinen geliebten Plüschfrosch Bubtschik – endet in einer phantasmatischen, mystischen Schau, in der zum Ende des Romans der erwachsene Motti im Wahn sein Leben sinnbildlich aufgeladen an sich vorbeiziehen sieht, um am Ende, in der letzten Halle, anstelle von Gott seinem Plüschfrosch aus der Kindheit wieder zu begegnen, der dort auf dem feurigen Thron sitzt und Unsinn spricht. Die ans Grausame grenzende Absurdität dieser Szenerie erinnert durchaus an Kafkas Kleine Fabel: „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe“. – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.357

In Billers Fabel verkündet die Lehre von der unausweichlichen Sinnlosigkeit menschlicher Bemühun­gen der Plüschfrosch Bubtschik. Sein Verschwinden ist 357 Franz Kafka, Kleine Fabel, in: Ders., Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, Frankfurt am Main 1983, S. 91.

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ebenso wie sein Wie­derauftauchen mit der Engführung von Mottis Lebenswegen verknüpft. Wird der Abschied von der Kindheit, den der Verlust des geliebten Plüschtiers symbolisiert, noch durch eine Fiktion, die Erzählung des Vaters von Bubtschiks Reisen durch die weite Welt, aufgefangen, so holt jener Frosch als Gottes Substitut – „Und dies also war das Anse­hen der unbeschreibbaren, unbekannten Herrlichkeit des Herrn“ (422) – Motti am Ende seines Lebensweges, als er in seiner mystischen Offenbarung sozusagen im „letzten Zimmer steht“ wie­der ein: „Und da Mordechai es gesehen hatte, fiel er auf sein Angesicht und hörte den Frosch reden. Und er verstand kein einziges Wort, und es war ihm egal.“ (422) Die Schlüsselszene des Romans erhält dadurch besonderes Gewicht, dass Biller hier die frühmit­telalterliche jüdische Kabbalistik zitiert und damit an einen Kern jüdischer Tradition rührt: an die visionäre Merkaba- und Hechalot-Mystik mit ihren Beschreibungen des Seelenaufstiegs durch die sieben Schichten des Himmels und die Durchschreitung der Feuer, der himmlischen Hallen und Torbögen.358 Dieser im Wahn geschaute Seelenaufstieg, den Motti unter seinem eigentlichen Namen Mordechai erlebt, bildet ein Gegengewicht zum real vollzogenen ‚Abstieg‘, den Motti/Mordechai mit dem Verlassen des gelobten Lands Israel auf sich genommen hat. Man könnte auch von einer alternativen ‚Alijah‘ sprechen.359 Natürlich ahnt der Leser bereits, dass jener Seelenaufstieg Mordechais in Wahrheit einen umso tieferen Sturz in die Seeleneinsamkeit bedeu­tet. Die Annäherung an das göttliche Licht, die Motti in seine geistige Umnachtung hinein proji­ziert, besteht in ernüchternder und den Wahn zugleich auflösender Weise in der Erkenntnis, dass es kein letztes Geheimnis, kein Leben außerhalb dieses einen erbärmlichen gibt. Der Weg des Helden durch seine Stationen der Schuld (der begangenen Verbrechen an Nurit und Muamar), der ihn durch alle Feuer und Himmel vorbei an den Torwächtern bis hin zum göttlichen Thron führt, diese sakral anmutende Seelenentblößung, die in der totalen Profanie der Sinnlosigkeit endet, sei aufgrund ihrer innerhalb jener Ästhetik der Kälte herausstechenden Farbigkeit und Eindringlichkeit abschließend ausführlich zitiert: Und da hörte Mordechai die Flügel des Cherubs, der Muamar war, rauschen wie große Wasser […], und der mächtige kalte Wirbel und Sturmwind, der sich davon erhob, fegte ihn nun endlich ganz weit hinauf und hinein und hinunter in die himmlischen Hallen, während Nurit auf dem Rücken des Cherubs, der Muamar war, in entgegengesetzter 358 Siehe: „Traktat von den himmlischen Hallen“, in: Jüdischer Glaube. Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden hrsg. von Kurt Wilhelm, Bremen 1961, S. 211–226 und das spätere, chassidische „Manifest des Baal-Schem-Tov“, über die Dinge, die er bei seinem Seelenaufstieg in den Himmel geschaut hat, in: Jüdische Geisteswelt. Zeugnisse aus zwei Jahrtausenden, hrsg. v. Hans Joachim Schoeps, Dreieich 1980, S. 214–216. 359 „Alijah“, hebr. für „Aufstieg“ bezeichnet die Rückkehr der Juden aus der Diaspora ins gelobte Land und zum heiligmäßigen Leben gemäß der Thora. Auch Eke deutet Mottis mystische Schau als eine alternative Alijah. Siehe Eke, in: ZfdPh 2002, S. 101.

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Richtung davonstob, was genauso war wie einst, in Eilat, am Roten Meer, als sie auf Paschok, dem Delphin, in den blauen jordanischen Abendhorizont ritt. Und die sieben Hallen, in die Mordechai derart geschleudert ward, waren voll Kohlen und Fackeln und Pfeilen und Blitzen, und sie waren wie der Abstand von der Erde bis zur Höhe der höchsten Sphäre. Und jede Halle war innerhalb der ande­ren Halle, und jede Säule von Feuer war innerhalb der anderen Säule von Feuer, und doch konnte Morde­chai jede der Hallen von den anderen sechs unterscheiden, sie hatte jede ihren eigenen Eingang, und jede ihren eigenen Wächter, und jeder der Wächter wollte ihn nicht hineinlassen, aber Mordechai schaffte es trotzdem, an ihnen vorbeizukommen, denn er kannte sie alle, und er wollte auch nicht mehr frieren und brennen, er wollte endlich ankommen vor dem König der Könige und ihm sagen, daß er kein Schwein mehr sei, weil er alles in Ordnung gebracht habe. [… ] (420)

Und Myriaden von Dienstengeln sahen ihm singend und flehend dabei zu, wie er sich im Streit und Kampf mit seinen Widersachern verzehrte. […] Sie schauten, wie er brannte in seinem Kampf und Streit, aber nicht durch die Flammen und Fackeln und Blitze und Feuer um ihn herum, die ihn ebenfalls aufhalten sollten auf dem Weg hinauf und hinab, er brannte aus sich selbst, er brannte-brannte-brannte, er war selbst eine feurige Fackel, sein Fleisch war zu Flammen geworden, seine Adern zu loderndem Feuer. […] (421) Und Mordechai sah also die heiligen Tiere und die Diener der Flammen und die Flügel des Lichts […] und so sie stillstanden wie er, donnerte es hinter dem brennenden Vorhang, aber er hob trotzdem den Blick, und er war der einzige, der sah, wie der Vorhang sich öffnete. Und hinter dem Vorhang war es hoch wie im Himmel, und darüber war es gestaltet wie ein Saphir, und der sah aus wie ein Stuhl; und auf dem Stuhl saß einer, der sah aus wie ein großer grüner Frosch aus durchgescheuertem Plüsch. Und Mordechai sah all dies, und es war lichthell, und in dem Thron des Froschs war es gestaltet wie ein Feuer um und um. Von seinen Lenden auf- und abwärts sah er es wie Feuer glänzen um und um. Gleichwie der Regenbogen schimmert in den Wolken, wenn es geregnet hat, glänzte es um und um. Und dies also war das Ansehen der unbeschreib­lichen, unbekannten Herrlichkeit des Herrn, und da Mordechai es gesehen hatte, fiel er auf sein Angesicht und hörte den Frosch reden. Und er verstand kein einziges Wort, und es war ihm egal. (422)

In dieser Schlüsselszene, im Umgang mit der Tradition jüdischer Sprachkraft, entfaltet Biller seine ganze Erzählkunst. Das poetische Verfahren der Entmystifizierung, das hier praktiziert wird, ist erzählökonomisch so geschickt platziert, dass es den Eindruck erweckt, die Tochter sei nicht nur auf diese eine Szene hingeschrieben, sondern für diese eine Aussage der ganz spezifisch jüdischen Untröstlichkeit und metaphysischen Obdachlosigkeit überhaupt erst geschrieben wor­den. „Doch unsere Jüdischkeit“, erklärt Biller ein Jahr nach Veröffentlichung der Tochter, „unsere Jüdischkeit hatte keine eigene Sub­stanz, unsere Jüdischkeit war bloß eine bestimmte Art zu lachen, zu den­ken, zu widersprechen, sie war Ge-

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schichten-Erzählen und Tee-durch-ein-Stück-Würfelzucker-Schlürfen.“360 Die Sehnsucht der jungen deutsch-jüdischen Generation, pure Identifi­kation in Lebensweise zu verwandeln, das ‚eingebildete‘ Jüdischsein, von dem Finkielkraut spricht, nicht in jenem leeren Raum des Fiktiven zu belassen – der schöpferische Umgang mit dieser elementaren Form von Substanzverlust zeigt: Maxim Billers Die Tochter ist nicht nur ein trauriges und moralisches, sondern vor allen Dingen ein sehr jüdisches, ein deutsch-jüdisches Buch. „Und wenn der Leser dabei kapiert, daß die Realität, in der er lebt, kein gottgegebener, unveränderbarer Zustand ist, umso besser.“361 – So Biller.

360 Biller 2001, S. 332. 361 Biller, in: Die Zeit, S. 49.

Fazit

Man kann von der politischen Unabhängigkeit des jüdischen Volkes noch so sehr ein kulturelles oder mo­ralisches Ausstrahlen auf die Welt erhoffen, man gelangt dennoch nicht über die Erwartung einer weiteren Malerei oder einer weiteren Literatur hinaus. Jude sein, das heißt nicht nur, nach einem Zufluchtsort in der Welt zu suchen, sondern zu spüren, daß man einen Platz in der Ökonomie des Seins hat.1

So schreibt der französische Philosoph Emmanuel Lévinas in seinem lang vergessenen Essay „Être juif“ aus dem Jahre 1947.2 Lévinas, der „den Willen, Jude zu sein“, der sich unmittelbar nach der Shoah existentiell so zwingend „aufs neue geltend macht“, zu analysieren sucht,3 gelangt dabei zu einer Definition von Jüdischkeit, als einer von der absoluten Vergangenheit her bestimmten Existenz. Dieses „Existenzial des Jüdischen“4 gewinnt nun seine Originalität und seine Span­nungsmomente durch die Differenz zu einer rein über die Gegenwart sich definierenden Existenz, die Lévinas hier mit ,dem Christlichen‘ verbindet, dessen „erstaunlichstes Charakter­merkmal“ es sei, „Staatsreligion zu werden und dies nach der Trennung von Staat und Kirche zu bleiben, dem Staat nicht nur seine gesetzlichen Feste zu liefern, sondern auch den ganzen Zu­sammenhang des alltäglichen Lebens“.5 Dementsprechend beruht laut Lévinas die moderne Wissenschaft der westlichen Hemisphäre auf christlichen Grundlagen: 1 Emmanuel Lévinas, Jude sein, in: Ein Bruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung, hrsg. von Jens Mattern, Berlin 2002, S. 65–72, hier S. 65. 2 Zur werkgeschichtlichen Bedeutung dieses Essays, der Lévinas aufgrund der dort getroffenen Unterscheidung zwischen ‚dem Jüdischen‘ und ‚dem Christlichen‘ schon wenig später als zu rigide erschien, siehe u a. Jens Mattern, ebd., S. 9–11: Lévinas Denken von „Selbstheit“, so Mattern, halte sich dabei grundsätzlich „in der Spannung zwischen der jüdischen und der philosophisch-universalistischen Deutung dessen, was die menschliche Existenz in ihrem Grunde ausmacht und ermöglicht“. Denn während sich die Bestimmung des jüdischen Seins über sein Verhaftetsein in einer absoluten Vergangenheit definiert, sucht sich diese Existenz auf dem Weg in die Moderne und damit: die Gegenwart, von dieser grundlegenden Bestimmung menschlicher Existenz immer wieder frei zu setzen. Die daraus resultierende Ambiguität des Lévinaschen Denkens ist daher laut Mattern in „Être juif“ bereits als „Versprechen“ enthalten: „Der Kampf um einen Ausbruch aus dem Sein, den Lévinas als Philosoph führt, zeigt sich hier in aller Deutlichkeit in einer vorphilosophischen, oder besser: anti-philosophischen Existenzerfahrung begründet, die als ‚Existential des Jüdischen‘ zu explizieren wäre.“ 3 Lévinas, in: Mattern 2002, S. 69. 4 Lévinas, ebd., S. 70 sowie Mattern, ebd., S. 10. 5 Ebd., S. 67.

Fazit

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Die idealistische Grundlage der modernen Wissenschaft besteht alles in allem darin, den Ursprung durch die Freiheit zu ersetzen, daß heißt, letzten Endes, durch die Gegenwart, durch diese Weise, sich aus der Zeit und ihrer Kontinuität herauszustellen, zu unterbrechen, von nichts her zu kommen, das heißt: von sich sel­ber her. Aber auch das Christentum ist ein Dasein von der Gegenwart her. Gewiss ist das Christentum in einem hohen Maße Judentum; aber nicht dem Judentum verdankt es seinen Erfolg. Seine Originalität be­stand darin, jenen Vater, an den der Jude geklammert ist wie an eine Vergangenheit, in den Hintergrund zu verbannen und zum Vater nur über den Fleisch gewordenen Sohn zu gelangen, das heißt über eine Gegen­wart, über seine Gegenwart unter uns.6

Das moderne Leben steht demnach im Zeichen der Zäsur, der Unterbrechung, während das ge­genläufige, ja geradezu anachronistische Faktum der jüdischen Existenz, das den „ganzen Lauf der Vergangenheit durchschreiten muss“7 mit dieser allgegenwärtigen „Welt ohne Ursprung“ bricht. Ein gewisser Bogenschluss zu Dan Diners Perspektivierung der jüdischen Historiographie erscheint dabei naheliegend. So lautete, dies sei an dieser Stelle noch einmal wiederholt, Diners Gegen­überstellung des ‚jüdischen‘ und des ‚deutschen‘ Geschichtsblicks: Das ‚jüdische‘ Gedächtnis findet sich, der Gewalt der Ereignisse wegen, eher mittels einer Makroperspek­tive in der Repräsentation des Holocaust angemessen gespiegelt. […] Die ‚deutsche‘ Perspektive des Mikro neigt indessen dazu, durch überaus extreme Annäherung an das Gesamtbild dieses in seine trivial anmuten­den Einzelteile zerfallen zu lassen. So kehren die Erfahrungskontexte des Holocaust in der gedächtnisgelei­teten wie forschungstechnisch relevanten Perspektivenwahl wieder: Monstrosität versus Banalität.8

Das bedeutet, dass die konträre Erfahrung von Geschichte auch keine gemeinsame Geschichts­schreibung mehr zulässt. Die Zäsur der Shoah macht den Raum also nicht, wie oftmals argumentiert, kleiner, sondern größer, ‚monströser‘. Diners Argumentation weist hier eine ähnliche Dichotomie im raumzeitlichen Denken 6 Ebd., S. 68. 7 Ebd., S. 67. 8 Diner, in: Braese 1998, S. 30. Ein Beispiel für Diners These der spezifischen, an Opfer und Täter gebundenen Geschichtsblicke ist die Debatte um Hannah Arendts Formel von der „Banalität des Bösen“, die sie in Auseinandersetzung mit ihrer Berichterstattung des EichmannProzesses entwickelt hat, um das mangelnde Schuld­bewusstsein der Täter politisch-theoretisch zu erklären. Dies hat ihr insbesondere von jüdischer ‚Seite‘ nicht nur lange den Vorwurf eingetragen, die Verbrechen selbst zu banalisieren, sondern auch, sich die Perspektive der Täter anzueignen. Siehe dazu das Werk von Jacob Robinson: And the Crooked shall be made Straight. The Eichmann Trial, the Jewish Catastrohope, and Hannah Arendt’s Narrative, New York, London 1965. Dieser Sachverhalt zeigt einmal mehr, wie hochsensibel bei einem so heiklen Gesprächsgegenstand wie der Shoah mit der Verteilung der Sprecherrollen und Frage der Zuständigkeit umgegangen wird.

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Fazit

von Deutschen und Juden nach, wie es Lévinas, noch universaler ge­dacht, zwischen Juden und Christen veranschlagt: ‚Die Juden‘ denken den geschichtlichen Raum groß und absolut, ‚die Christen‘ mit ihrem Blick auf die Gegenwart punktuell und fragmentarisch. Das Faktum der jüdischen Existenz besteht laut Lévinas demnach aus einer Form der religiösen Ereignishaftigkeit, der eine absolute Passivität innewohnt, die dem christlichen Handlungsbegriff ebenso wie dem philosophischen Aktivitätsdenken gänzlich entgegensteht. Denn der Imperativ der Schöpfung, die Auserwähltheit des jüdischen Volkes durch seinen Gott ist nach Lévinas das „Geheimnis der Personalität selbst“ worin eine vollkommene Hingabe (an den Vater) begründet liegt. Das heißt: „Der Jude ist der Eintritt des religiösen Ereignisses in die Welt, besser noch: Er ist die Unmöglichkeit einer Welt ohne Religion.“9 Diese ontologische Dimension, die Lévinas hier mit dem Geheimnis der Personalität, der religiö­sen Ereignishaftigkeit umschreibt, lässt sich als tieferer, unausgesprochener Hintergrund auch Alain Finkielkrauts besagten Überlegungen zur Fiktionalität des Jude-Seins (Kap II.3) entnehmen, wenn er auf das Problem des Ich-Sagens zu sprechen kommt: „Jude“, so lautete Finkielkrauts Diktum, „Jude ist unter keinen Umständen eine angemessene Antwort auf die Frage: ‚Wer bin ich?’“10 Denn Judentum, begründet Finkielkraut, sei „nicht einfach eine Sache des Ausdrucks oder der persönlichen Aufrichtigkeit“, sondern „es befindet sich außerhalb des Ein­zelnen, schließt jede Definition in der ersten Person aus“.11 Auch für Finkielkraut, der sich mit seiner Analyse des ‚eingebildeten Juden‘ ganz in den Räumen der gesellschaftlichen Problemstellungen der Gegenwart bewegt, bedeutet Jude-Sein letztendlich also etwas Numinoses, da sich die jüdische Identität, Finkielkraut formuliert dies recht vage, „außerhalb des Einzelnen“ befindet. Interessanterweise hat sich das, was sich mit Lévinas „Sakralität“ nennen lässt: „eine Bindung ans Judentum, die bleibt, wenn keine besondere Idee sie mehr rechtfertigt“, also unabdingbar bis in die jüngste Zeit hinein erhalten und zwar, so Lévinas, als „metaphysisches Gefühl“: Der letzte Tuchhändler, der sich ‚befreit‘ glaubt, der Intellektuelle, der sich atheistisch glaubt, atmet noch das Geheimnis seiner Schöpfung und seiner Auserwählung. […] Was man gehässig den jüdischen Hochmut oder die jüdische Frechheit oder die jüdische Anmaßung nennt, drückt nur die Art und Weise aus, in der Böswilligkeit oder Feigheit dieses metaphysische Gefühl deuten, oder stellt die degenerierten Formen dar, die – dies muß zugegeben werden – es selbst annehmen mag. Doch selbst dort, wo solcherart degenerierte Formen des Judentums zu derartigen Reaktionen Anlaß geben kann, ist dieser 9 Lévinas, in: Mattern 2002, S. 71. 10 Finkielkraut 1981, S. 37. 11 Ebd., S. 195.

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Haß ganz anders als der Haß, den irgendeine beliebige verfolgte Rasse hervorruft. Es mischt sich hier ein gewisser Beigeschmack von Obszönität, von Schamlosigkeit und von Unendlichem hinein. Ein Geschmack von Sakralem.12

Lévinas Definition des jüdischen Gegenübers als ‚Anderem‘ (der hier dem ‚Christen‘ gegenüber gestellt wird) bietet im Gegensatz zu den eingangs vorgestellten Definitionen, die, insbesondere durch die Zäsur der Shoah bedingt, eine Bestimmung des Jüdischen ex negativo vornehmen, und von denen diejenige Sartres die prominenteste ist, eine Definition des Jude-Seins, die sich einerseits dem common sense, der Betonung des Außenseiter-Daseins zuordnen lässt, die jedoch andererseits eine positiv besetzte Identitätsbestimmung vornimmt. Zudem ist Jüdischkeit bei Lévinas keine rein „psychologische Qualität“ (Arendt), sondern sie wird ontologisch begründet. Warum nun gerade abschließend noch der Verweis auf eine derartige geschichtstheologische Definition des ‚Anderen‘? Auch wenn man tatsächlich, wie Lèvinas es befürchtet, hinsichtlich der „Ausstrahlung“ der jüdi­schen Existenz auf sein Gegenüber nicht über die „Erwartungen einer weiteren Literatur“ hinaus gelänge, so ist es gerade diese Erwartung einer weiteren Literatur, die für das intertextuelle Ins-Gespräch-Treten zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘, für ihr Ausstrahlen auf die aktuellen Formen der literarischen Selbstvergewisserungen elementar ist: „Doch unsere Jüdischkeit hatte keine eigene Sub­stanz, unsere Jüdischkeit war bloß eine be­stimmte Art zu lachen, zu den­ken, zu widersprechen, sie war Geschichten-Erzählen und Tee-durch-einStück-Würfelzucker-Schlürfen“ – Billers vielzitiertes Statement zum jüdischen ‚Erbe‘ seiner Generation lässt sich als eine Sehnsuchtsbewegung hin und damit zugleich zurück zu jener Form von Substanz lesen, von der Lévinas spricht, wenn er sagt Jude-Sein hieße zu spüren, dass man einen Platz in der Ökonomie des Seins habe. Das Authentische und das ‚Eigene‘ mag also gerade durch eine Rückbindung des Ichs an einen größeren, kontinuierlichen geschichtlichen Raum, an ein Wir gelingen oder, mit Robert Schindel, durch den Zusammenschluss mit den jüdischen Vorfahren, den Namen, die zeigen, „daß wir jene sind von jenen, die es nicht mehr gibt“. An einem dergestalten „Geheimnis der Personalität“ nach der Shoah weiterhin teilzuhaben, ist jenseits des „metaphysischen Gefühls“ (Lévinas) in erster Linie, profan formuliert, Arbeit. Im Sinne Finkielkrauts bedarf es genauer Forschungsund Erinnerungsarbeit: „Mein emsiges Gedächtnis spei­chert, soviel es kann: Bruchstücke einer Zivilisation, die im Exil überlebt haben, Redewendungen und die sie begleitenden Gebärden, eine Existenzphilosophie und Bezugssysteme des Denkens.“13 12 Lévinas, in: Mattern 2002, S. 72. 13 Finkielkraut 1981, S. 195.

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Im Sinne der Literatur bedeutet diese erinnernde Arbeit an der „Substanz“, die Überwindung der Voraussetzungslosigkeit, in erster Linie Schreibarbeit. Eine Arbeit, die ausdrücklich der Zäsur der Shoah, den Beschädigungen ge­schuldet ist, welche jene Brücke zu den vergangenen Generationen so rigide abriss. Diesen Riss allererst zu bezeugen, das war die ‚Aufgabe‘ der Zeitzeugengeneration der Shoah. Ihr Sprechen war von einem doppelten Gegendiskurs geprägt: gegen das Schweigen jener mythenträchtigen ‚Stunde Null‘ und einer deutschen Nachkriegsliteratur, in der „Juden als Juden nicht vorkamen“ (Briegleb) einerseits sowie gegen das ‚Schweigegebot‘ im Hin­blick auf die Toten, die Undarstellbarkeit ihres Leidens (Adorno-Debatte) andererseits: „Die Sprache ging hindurch, sie ging hindurch trotz aller Finsternisse todbringender Rede“ (Celan). Sowohl den ‚deutschen‘ als auch den ‚jüdischen‘ literarischen Diskursen dieser Nachkriegsjahr­zehnte gemeinsam war dabei das Umkreisen der traumatischen Leerstelle Jüdischkeit, sei es im Gestus der Bezeugung, sei es im Gestus der Ausblendung oder Funktionalisierung im Zuge eines allgemeinen ‚Opfermythos‘. Das daraus resultierende Erbe für die nachfolgende Autorengenera­tion lässt sich daher als Fiktionalisierung des Jüdischseins beschreiben, oder mit Finkielkrauts eingängiger Formel: als Phänomen des ‚eingebildeten Juden‘. Um nun der Wirkungsmacht der Shoah zumindest literarisch etwas entgegenzusetzen, sich per­sönlich freizumachen von der Angst, und zudem an jene „Substanz“ der Jüdischkeit wieder anzu­schließen, insgesamt also eine positive Selbstvergewisserung jener negativen Identitätsbestim­mung des Jüdischseins „aufgrund von Auschwitz“ (Weil) entgegenzuhalten, an dieser Schreibar­beit zum wieder Sicht- und Hörbaren hin haben Werke wie Robert Schindels Gebürtig mit ihren so gegenwärtigen Figuren des Doppeldaseins zwischen Ballast und Sinneslust, zwischen Vergan­genheit und Gegenwart, mit ihren Diskursen der literarischen Produktion von Heimat in der Heimatlosigkeit ebenso teil wie Barbara Honigmanns Sprachhandlungen in Alles, alles Liebe!, ihren dezidiert jüdischen Schreibbewegungen, die innerhalb des deutschen Sprach- und Bilderraums darauf ausgerichtet sind „das Gesicht wiederzufinden“ (Lévinas), oder Maxim Billers moralische Literatur einer Poetik der Kälte und der jüdischen Katastrophik in Die Tochter. Diesen drei so unterschiedlichen Schreibweisen und Werken der Autoren gemeinsam ist, dass sie den Weg vom ‚eingebildeten Juden‘ zur ‚Einbildungskraft‘ zurücklegen, und Jüdischkeit als Text literarisch zu erzeugen vermögen. Die übergreifende poetologische Formel könnte dementspre­chend Zusammenschlüsse lauten oder Erinnernd-jüdisch-werden. Dass ihre Stimmen als Stimmen des ‚Anderen‘ nicht ungehört bleiben, dafür sprechen Werke wie W. G. Sebalds Die Ausgewanderten, in dem durch die Thematisierung von Heimatlosig­keit in der Heimat, der Sichtung der zerstörten psychischen wie physischen Habe, den explizit jüdischen Schicksalen ein literarisches Gedächtnis gestiftet wird. Oder Katharina Hackers Eine Art Liebe, einem litera-

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rischen Ins-Gespräch-Treten mit Saul Friedländer, dessen Schicksal der Ver­ treibung wieder erinnert und damit im Sinne der jüdischen Tradition „weitererzählt“ wird. Während Dagmar Leupold in Nach den Kriegen wiederum nicht nur die Beschädigungen, die im Krieg durch Schuld und Verstrickung auf sich geladen werden, aufzeigt sowie den Konturenverlust, den die eigene Identität durch den Verlust des jüdischen ‚Anderen‘, des Miteinanders von Deutschen und Juden erfährt, sondern auch die damit einhergehende Sprachlosigkeit. Diese Sprachlosigkeit wurde auch in den beiden Werken deutlich, die, einmal im Narrativ der Autobiographie, einmal im kleinen Raum der Erzäh­lung, die bundesdeutsche Geschichte als Belastungsgeschichte lesen: Ruth Klügers weiter leben und Bernhard Schlinks Die Beschneidung. Das übergreifende poetologische Stichwort lautet hier, gerade im diskursi­ven Kontrast zu den Schweigediskursen der deutschen Nachkriegsliteratur: Wieder-erinnern. Alle Autorinnen und Autoren legitimieren ihr Sprechen über Jüdischkeit aus der Außensicht zudem durch einen expliziten oder indirekten Rückgriff auf sogenannte Gründungstexte: Bei Sebald ist in erster Linie Jean Amérys Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch?, bei Hacker der biblische Mythos von Kain und Abel, bei Leupold Benjamins Theorie des Deutschen Faschismus zu nennen. In diesen Formen des intertextuellen Verfahrens sind aber insbesondere auch ‚Antworten‘ zu sehen, Antworten auf jüdische Stimmen: Bei W. G. Sebald auf Wolfgang Hildesheimer oder bei Katharina Hacker auf Saul Friedländer. Antworten, die den Anderen im Sinne Scholems als ‚anders‘ gelten lassen. Was sicherlich alle die hier zusammen betrachteten Werke jüdischer und nichtjüdischer Autorinnen und Autoren verbindet, ist der dringliche Impuls aufzurufen und aufgerufen zu werden, sich beim Gegenüber Gehör zu verschaffen. Es handelt sich bei den hier besprochenen deutschjüdischen Geschichten daher im gesteigerten Maße um Verständigungstexte. Zusammenschlüsse, Erinnernd-jüdisch-werden, Wieder-erinnern, Verständigungstexte – die hier anhand der Werklektüren herausgearbeiteten poetologischen Schlüsselwörter lassen sich zu folgender und hierin der herrschenden Forschungsmeinung durchaus widersprechenden Formel zu­sammenfassen: Jüdischkeit in der deutschen Literatur nach 1989 bedeutet eben nicht ein Schreiben in „Bilder[n] ohne Vorbilder[n]“, sondern ganz im Gegenteil: Jüdischkeit in der deutschen Literatur nach 1989 heißt weiter erzählen. Bei der Betonung des Erinnerungsgebots als weiterhin zentral bleibender Denkfigur für das Erzählen nach 1989, gilt es nun freilich einem Missverständnis vorzubeugen: Eine derartige Literatur der Rückbindung14 schließt nicht etwa die Gegenwart aus oder marginalisiert die Zäsur der Shoah. Es ist vielmehr der – an 14 Interessant wäre es, einmal einen Vergleich zu anderen deutschen ‚Literaturen der Rückbindung‘ anzustellen, beispielsweise zu der sogenannten Pop-Literatur, die unter völlig anderen

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Amérys Begriff der Würde erinnernder – Versuch, sich aufgrund von Auschwitz dennoch eine Heimat zusammenzusuchen, beim Bezeugen der Zäsur, des Bruchs allein nicht stehenzubleiben, sondern den erzählerischen Raum im Sinne der Jüdischkeit größer zu machen, die eigene Stimme mit denen der Ahnen zu verbinden. Die Literaturstreits sowie die Diskussionen um die Zäsur 1989 und die Wiedervereinigung haben gezeigt, dass jüdische Autoren hierauf in ihrem Schreiben eher indirekt reagieren, was deren Relevanz nicht schmälert, im Gegenteil: Die durch die Wiedervereinigung ausgelösten nationalen Selbstvergewisserungsversuche der Deutschen erzeugen für die jüdischen Autoren eben jenen eingangs mit Schindel beschriebenen Diskursraum der Nervosität, innerhalb dessen sich die deutsch-jüdische Selbstvergewisserung, unter Abwehr einer ‚zweiten Stunde Null‘, höchst aktuell immer wieder an ihrem ‚deutschen Gegenüber‘ reibt. Wobei, dies sollte ebenfalls deutlich geworden sein, die im literarischen Raum erprobten Gespräche, Rollenzuweisungen und Beziehungen zwischen Deutschen und Juden weiter und spielerisch gediehen sind, als die außerliterarischen öffentlichen Gespräche zwischen Deutschen und Juden. Die offene zukunftsweisende Frage könnte daher abschließend lauten: Wenn die besagte Literatur der Rückbindung, wenn das literarische Gespräch zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ den außerliterarischen öffentlichen Diskursen zwischen Deutschen und Juden so weit voraus ist, wächst diesem Raum des Fiktionalen damit nicht auch die Qualität einer Utopie zu? Zumindest lässt sich für die deutsche Literatur eines sagen und wagen: Das Prinzip ‚Hoffnung‘.

poetologischen Voraussetzungen ebenfalls eine Form von identitätsstiftender Erinnerung betreibt.

Danksagung

Jede Leserin und jeder Leser, die dieses Buch bis zu dieser Stelle gelesen haben, werden wissen, dass ein solches Werk und die ihm zu Grunde liegende Dissertation eine Hybridform sind, die das Gefühl des permanenten Scheiterns ebenso mit sich bringen wie die Herausforderung, lesend und denkend immer wieder an Grenzen vorzustoßen. Dass dieses Buch als solches mit einem Buchrücken, Anfang und Schluss versehen überhaupt zustande kam, verdankt sich wie jedes Werk, das man sich über Jahre abringt, der Arbeit und dem Zuspruch, ja auch der konstruktiven Kritik vieler Menschen, die hier namentlich zu nennen daher weniger als ‚Abspann‘ zu verstehen ist, sondern deren Beiträge eigentlich ins Inhaltsverzeichnis gehören: Fürs Ertragen, Begleiten, Vertrauen und Beraten über einen langen Zeitraum seien zuerst jene Personen mit tiefer Dankbarkeit genannt, denen dieses Buch auch gewidmet ist, denn ohne sie wäre es tatsächlich schlicht nicht denkbar gewesen: Meinem Mann Moritz Eggert, meiner Mutter Ingrid Heuser-Müller, meinem Doktorvater Günter Blamberger und meiner Freundin und ehemaligen Lehrstuhlkollegin Regina Jorde. Der Friedrich-Naumann-Stiftung verdanke ich sowohl die elementare finanzielle Unterstützung als auch eine ausgesprochene Geduld und das Vertrauen, dass diese Arbeit abzuschließen ist. Namentlich möchte ich hier ganz besonders Frau Irina Markmann und Frau Marie-Louise Simon danken. Elementarer Dank gebührt außerdem Frau Dr. Katrin Lange für die ungemein konstruktiv-kritische Sichtung meiner ersten Manuskriptfassung und ihre erhellenden Vorschlägen zum Begriff des ‚Anderen‘. Herrn Dr. Frieder von Ammon verdanke ich inspirierende Einsichten rund um den Begriff der Jüdischkeit, und Herrn Dr. Martin Roussel eine sensible und einfühlsam präzise Korrektur meiner ersten Kapitel sowie Gespräche, die mich die Kreativität von Wissenschaft immer wieder spüren ließen. Gespräche über die Autoren, die Bedeutung des Themas und seine Schwierigkeiten haben die Arbeit an diesem Werk überhaupt lebendig erhalten, dafür danke ich sehr meinen Freundinnen Simone Lutz, Miriam Jakobs, Mirjam Wenzel und Anne Rörig. Und ganz besonders Pamela Moucha für ein wegweisendes gemeinsam organisiertes Seminar zum Thema „Über Jüdischsein reden“. Meinem Bruder Philip Heuser für geteiltes Leid und Freude einer ähnlichen Lebensphase, meinem Vater Dr. Dr. Manfred Heuser für die früh erweckte Lust am Lesen und Frau Stephanie Jana für das gute Korrektorat. Last but not least gilt mein Dank aber vor allen Dingen denen, die das Herz dieses Werkes sind und ohne die es für keine Literaturwissenschaftlerin und Le-

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serin etwas zu sagen gäbe: die Autoren. Ich danke Ruth Klüger, Robert Schindel, W. G. Sebald, Katharina Hacker, Dagmar Leupold, Barbara Honigmann und Maxim Biller für ihre wunderbaren inspirierenden Werke, für Literatur.

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Personenregister A Achternbusch, Herbert 143 Adorno, Theodor W. 34, 73, 98–101, 153ff., 160, 199, 206f., 227, 261, 370, 377, 383 Altwegg, Jürg 152 Améry, Jean 85f., 93, 127, 144–152, 156, 158, 163, 167, 169, 227f., 239ff., 247f., 251f., 259, 270, 290, 321, 371f., 375, 381, 385f. Anders, Günther 145 Andersch, Alfred 124, 126, 131–134, 139–151, 155, 161, 163, 169, 185, 239, 272, 375, 381, 388 Anz, Thomas 191, 377 Arendt, Hannah 58, 78f., 85, 88, 118f., 145, 151, 166, 367, 369, 377, 385 Arnold, Heinz Ludwig 206, 222, 227f., 240, 242, 246, 249, 252f., 257f., 260, 262, 269, 273, 276, 382–387 Artemon 310 Assmann, Aleida 95, 283, 379 Assmann, Jan 95 Auffermann, Verena 212 B Babel, Isaak 217 Bachmann, Ingeborg 57, 126f., 130, 323, 340, 359, 375, 378 Bachrach, Gil 11 Bachtin, Michail 222ff., 233, 377 Baeck, Leo 116, 154, 384 Balibar, Etienne 60, 377 Balzer, Bernd 124, 378 Barner, Wilfried 190, 377 Bartels, Adolf 45 Barthes, Roland 89, 100, 301ff., 316, 377 Battegay, Caspar 53 Baumann, Zygmunt 61, 377 Baumgart, Reinhard 154, 304 Bayerdörfer, Hans-Peter 19, 21, 63, 66, 103, 113, 381 Becker, Jürgen 164, 381 Becker, Jurek 105, 127, 197

Beckermann, Ruth 152 Behr, Isachar Falkensohn 46–53, 56ff., 61, 70, 77, 105, 107, 114, 137, 182f., 187, 375 Beinlein, Matthias 240 Ben-Chorin, Schalom 82, 377 Bendavid, Lazarus 70 Benjamin, Walter 137f., 164, 230f., 233, 257, 263f., 266, 268ff., 274, 285f., 290, 305, 331–337, 371, 377, 382, 384f., 387 Ben-Rafael, Eliezer 33, 377 Benz, Wolfgang 38f., 84, 98, 100, 377, 386 Berg, Nicolas 199, 378 Bering, Dietz 45, 78, 229, 378 Bernhard, Thomas 164, 242, 381 Bhabha, Homi K. 40f., 378 Biermann, Wolf 197, 307 Biller, Maxim 29ff., 36f., 106, 108, 111f., 115, 119f., 122, 174f., 183, 198, 201, 217, 219, 222, 324, 340–365, 369f., 374f., 379, 382 Blamberger, Günter 138, 162, 249, 268, 277, 318, 378 Bluhm, Lothar 189–194, 378 Blumenberg, Hans 185, 378 Bocaccio, Giovanni 74 Böll, Heinrich 124, 126, 131ff., 137, 139,185, 378, 386 Boehncke, Heiner 260 Börne, Ludwig 66, 70, 217, 317 Böschenstein, Bernhard 127, 130, 378 Bollmann, Stefan 82, 380 Bondy, Luc 79f., 303ff., 378 Bormann, Alexander von 269 Bouchard, Donald F. 239 Braese, Stephan 19, 73, 88, 90, 105, 108, 114, 123f., 127, 131, 133, 136, 144, 153, 161f., 170, 178, 204, 222, 246, 260, 328, 367, 378f., 381, 383, 386f. Braun, Michael 303, 306f., 321 Brenner, Michael 84f., 95, 378 Briegleb, Klaus 19, 127–131, 136f., 139, 151, 328f., 370, 378 Brobrowski, Johannes 126, 131, 207 Brod, Max 73, 83, 107, 298, 376

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Personenregister Bronner, Simon J. 33, 379 Bruhn, Wibke 327 Brumlik, Micha 91, 385 Buber, Martin 82, 116, 138, 302, 379 Bubis, Ignatz 21, 90–93, 96f., 100, 193f., 198, 284 Buck, Theo 158, 379 Büchner, Georg 17, 67f., 138, 157, 162f., 230, 262, 375 Büscher, Wolfgang 217 Burke, Peter 95, 283, 379 C Canetti, Elias 104 Carlebach, Elisheva 33 Celan, Paul 17f., 28, 35, 109, 112, 127, 129f., 152–160, 169ff., 180f., 184f., 199, 206f., 222–236, 240f., 290, 310, 341, 370, 375, 378ff., 383, 387 Chatwin, Bruce 249, 266 Cohen, Hermann 116 Colin, Amy 158, 379 D Debazi, Elisabeth H. 204, 379 Deichmann, Thomas 192, 379 Deiritz, Karl 191, 379 Deleuze, Gilles 106, 379 Demetz, Peter 65 Dietz, Georg 340, 379 Diner, Dan 19, 36, 87ff., 93, 95, 101, 143, 161, 166, 183, 228, 367, 379 Dischereit, Esther 25, 29–33, 36, 50, 57, 97, 106, 108, 111, 113f., 116, 120, 175–185, 197f., 241, 318, 375 Dittberner, Hugo 262 Döblin, Alfred 104, 152 Dohm, Christian Wilhelm von 60 Dohnanyi, Klaus 92f., 96 Domin, Hilde 127, 155, 162, 379 Drewes, Ralf 111, 379 Dubnow, Simon 78 Duden, Anne 114, 130, 275, 382 Durzak, Manfred 165, 169, 379 Dürr, Volker C. 200, 379

E Eberlein, Klaus D. 32ff., 379 Eggert, Hartmut 200 Ehrenstein, Albert 62 Eich, Günter 124, 375 Eifler, Günter 59, 387 Eke, Norbert Otto 340, 351 Ellbogen, Ismar 46, 64, 376, 380 Endelman, Todd M. 33 Engel, Johann-Jakob 311 Enzensberger, Hans Magnus 155 Eshel, Amir 111, 222, 304f., 320, 380 F Fassbinder, Rainer Werner 136, 138, 143 Felstiner, John 152, 158, 160, 231, 241, 380 Feuchtwanger, Lion 66, 73, 104, 153 Fiero, Petra S. 308, 380 Finkielkraut, Alain 26f., 36, 38, 45, 118, 171–179, 183, 217, 235, 318f., 356f., 365, 368ff., 380 Fischer, Gerhard 270, 277, 380, 382 Flusser, Edith 82, 380 Flusser, Vilem 82, 380 Forte, Dieter 130 Foucault, Michel 239 Frank, Hans 221, 229 Franzos, Karl Emil 230f. Freud, Anna 275, 380 Freud, Siegmund 40, 42, 249, 275ff., 380 Freytag, Gustav 69 Fried, Erich 129, 338, 385 Friedländer, Saul 173, 206, 252, 272, 280, 282, 288–298, 341, 371, 375, 380, 384 Frisch, Max 85, 131 Fulda, Daniel 200 Funke, Hajo 91, 385 G Gebirtig, Mordechai 233, 237 Geertz, Clifford 116, 380 Gehle, Holger 20, 73, 133, 144, 153, 162, 204, 222, 328, 378, 380f., 383, 386f. Gelb, Eva 307 Gellert, Christian Friedrich 75, 304, 310 George, Stefan 18, 59 Gierlinger, Maria 19, 387

392 Gilman, Sander L. 27ff., 41–46, 51, 62, 73, 82–88, 102, 105f., 108, 141, 156, 171, 183, 222, 304, 353, 357, 378, 380, 382f., 385ff. Giordano, Ralph 197 Göpfert, Herbert G. 74, 77, 376 Görtz, Franz Josef 191ff., 380 Goethe, Johann Wolfgang von 46, 48ff., 57, 63, 66, 107, 114, 207, 321f., 375 Goeze, Johann Melchior 74 Goldfaden, Abraham 159 Goldstein, Moritz 64f., 105, 380 Gollwitzer, Helmut 24f., 50, 121 Goral, Arie 19 Gottsched, Johann Christoph 310 Graetz, Heinrich 78 Grass, Günter 126, 128, 131, 134f., 162, 259 Greiner-Kemptner, Ulrike 164, 381 Grillparzer, Franz 67ff., 375 Grübel, Rainer 222, 377 Guattari, Felix Guntermann, Georg 123f., 361, 381 H Haber, Peter 33, 381 Hacker, Katharina 23, 35ff., 122, 206, 217, 280, 282, 284–298, 302f., 309, 316, 324, 329, 331, 341, 358, 370f., 374f. Härtling, Peter 131 Haffmans, Gerd 145, 150 Halbwachs, Maurice 95 Hallewi, Jehuda ben Samuel 54 Handke, Peter 131, 164, 190, 192f., 196, 277, 376, 379, 381 Harig, Ludwig 327 Harré, Rom 289 Harth, Dietrich 95, 283, 379 Hart Nibbrig, Christian Lucas 165 Haverkamp, Anselm 268, 336, 384, 388 Hebbel, Friedrich 73 Heidelberger-Leonard, Irene 140f., 143f., 146f., 151f., 204, 208, 259, 381 Heimann, Moritz 230f., 381 Hein, Christoph 327 Heine, Heinrich 13, 47, 52–58, 66, 69ff., 105, 140, 158, 193, 206, 242, 375, 385, 387f. Heiz, André V. 164, 381 Herlitz, Georg 64, 380

Personenregister Hertzberg, Arthur 80f., 83f., 381 Herz, Henriette 66 Herzig, Arno 33, 381 Hessing, Jakob 29, 154, 258, 381, 384 Heym, Stefan 197 Hildesheimer, Wolfgang 127, 161–171, 176, 185, 259–270, 290, 341, 371, 375, 379, 381, 385 Hillrichs, Hans H. 169 Hilsenrath, Edgar 28, 105, 127, 156, 224, 236 Hinck, Walter 319 Hitler, Adolf 26, 86, 179, 198, 208, 218, 231 Hochhuth, Rolf 145, 155 Hofmann, Michael 199f., 379, 385 Hoffmann, Daniel 20, 107, 380 Honigmann, Barbara 30f., 36f., 106, 108, 111, 114f., 122, 174f., 198, 201, 217, 239, 302–306, 308–323, 361, 370, 374, 376, 378, 380, 383, 385, 387 Horch, Hans Otto 29, 32, 52, 64, 258, 381, 384 Hueck, Carsten 290 Humboldt, Wilhelm von 59, 376 Hutchinson, Ben 269f., 382 I Ingold, Phillipp 164, 381 J Jacobs, Carol 259, 382 Jäckel, Eberhard 26, 282 Jakubowski, Jeanette 68, 178, 382 Jarausch, Konrad H. 195f., 201, 283, 358, 384, 386, 389 Jasper, Willi 20, 42, 45, 47, 53, 55, 57, 60, 64ff., 69f., 73f., 78f., 104, 108, 113, 382 Jehle, Volker 165 Jeismann, Michael 187 Jens, Walter 131 Jirgl, Reinhard 327 Johannsen, Anja K. 275, 382 Johnson, Uwe 126, 130 Jung, Werner 324f., 327, 331 Jungk, Peter Stephan 361 Jünger, Ernst 330ff., 336, 376

Personenregister K Kafka, Franz 30, 35, 66, 73, 83, 106f., 152, 157ff., 175, 230f., 233, 257, 259, 342, 356, 362, 376, 379, 383 Kaiser, Joachim 128, 140, 142, 304 Kaiser, Konstantin 222 Kallner, Rudolph 19 Kammler, Clemens 190, 194, 204, 208, 378, 381f. Kaniuk, Yoram 25, 38, 376 Kant, Immanuel 65f. Kaukoreit, Volker 222, 232 Kaznelson, Siegmund 62 Kesten, Hermann 63, 129 Kesting, Hanjo 269 Keun, Irmgard 126 Kilcher, Andreas B. 31, 63f., 103, 106ff., 162, 170, 181, 320, 322, 351, 382 Kleist, Heinrich von 179, 216, 253, 303, 312–315, 318, 321f., 378 Klemperer, Victor 156 Kluge, Alexander 130, 278 Klüger, Ruth 37, 51, 66–75, 78, 104, 132–142, 148, 151, 156, 204–211, 213, 216f., 227, 240, 244, 253f., 285, 289, 326, 329, 371, 374, 376, 381f., 384 Köppen, Manuel 222, 236, 356, 382 Koestler, Arthur 257 Kofman, Sarah 156 Korff, Sigrid 246, 260 Kortländer, Bernd 52 Koschel, Christine 57, 340, 375 Kraft, Thomas 225, 304f., 340, 379 Krauss, Hannes 191, 379 Krauss, Karl 61, 66, 69, 150 Krischner, Bruno 64, 380 Küttler, Wolfgang 200, 384 Kuh, Ephraim Moses 47, 70 Kunert, Günter 197 L Lacan, Jaques 40, 42f. Lachmann, Renate 268, 336, 384, 388 Lamping, Dieter 28f., 35, 64, 66, 104f., 107f., 111f., 133, 135, 137, 140, 146, 154, 157–160, 227–236, 240, 375, 383 Lasalle, Ferdinand 61

393 Lasker-Schüler, Else 153, 158, 180, 206 Lassner, Phyllis 319, 383 Lavater, Johann Caspar 74 Lazarus, Moritz 64, 116, 383 Lenzen, Verena 82, 377 Leschnitzer, Adolf 19 Leser, Joachim 361 Lessing, Gotthold Ephraim 57, 63, 65f., 70, 73–79, 117, 138, 144, 257, 376f. Lessing, Karl 57 Lesskow, Nikolai 268, 377 Lethen, Helmut 324, 331, 346ff., 383 Leupold, Dagmar 13, 23f., 35, 37, 122, 217, 323–340, 359, 371, 374, 376 Levi, Primo 156, 167f., 227f., 383 Lévinas, Emmanuel 323, 366, 368ff., 383 Levi-Strauss, Claude 185f., 383 Lindner, Burkhardt 73, 153, 383 Löffler, Sigrid 246, 273ff., 383 Loewy, Hanno 86, 104, 121, 188f., 383 Lorca, Garcia 307, 321 Lorenz, Dagmar 105, 304ff., 383, 387 Lorenz, Matthias N. 129, 132, 383 Lützeler, Paul Michael 303 Lyotard, Jean-Francois 93f., 165f., 383 M Machtans, Karolin 206, 208, 289, 384 Magenau, Jörg 325, 331 Mahler, Gustav 61 Maimon, Salomon 70 Mann, Klaus 257 Mann, Thomas 66, 83, 130 Mannheimer, Karl 327 Mannheimer, Olga 11 Marcuse, Ludwig 19, 141 Marr, Wilhelm 45 Martin, Marko 341 Martin, Sigrud 259, 278, 382, 388 Marx, Karl 61 Mattenklott, Gert 102, 154, 384 Mattern, Jens 366, 368f., 383 Mayer, Hans 20, 63, 81, 83, 384 Meckel, Christoph 327 Menasse, Robert 239f., 377, 385 Mendelssohn, Moses 46, 63–67, 73f., 376, 382

394 Mengele, Josef 213 Meyer, Michael A. 87 Meyer, Sven 249, 252, 257f., 384 Mistahi, Robert 157f. Mitscherlich, Alexander 101, 276f., 384 Mitscherlich, Margarete 101, 276f., 384 Mittelmann, Hanni 29, 384 Mosenthal, Salomon Hermann 66, 70, 73, 105 Moses, Stéphane 47, 103f., 268, 384, 388 Mühlberg, Dietrich 196, 384 Müller, Heidy M. 131–138, 143, 151, 384 Müller-Bach, Inka 332f., 384 Münz, Christoph 95, 384 N Nabokov, Vladimir 248, 250 Neher, André 82, 384 Neumann, Peter Horst 158 Neumann, Robert 127 Neumeier, Beate 33, 384 Niethammer, Lutz 199f., 384 Nietzsche, Friedrich 239 Nolden, Thomas 28f., 106, 108–111, 222ff., 236f., 384 Nünning, Ansgar 200, 264 O Oberwalleney, Barbara 110f., 385 Ortheil, Hanns-Joseph 304 Ossietzky, Carl von 257 Ovaknin, Marc-Alain 82, 385 Overath, Angelika 331 Ozick, Cynthia 158, 385 P Peck, Jeffrey M. 305 Péguy, Charles 61 Perfahl, Jost 71 Pethes, Nicolas 264, 385 Pflugmacher, Torsten 190, 194, 204, 208, 378, 381 Polaschegg, Andrea 60 Politzer, Heinz 19 Pollack, Martin 325, 327 Proust, Marcel 292, 336ff., 387f. Pütz, Peter 200, 385

Personenregister R Raabe, Wilhelm 69 Rabinovici, Doron 108, 112f., 115, 228, 239f., 338, 376f., 385 Rademacher, Cay 33, 381 Rath, Wolfgang 164, 263, 385 Reemtsma, Jan Philipp 149, 385 Rehmann, Ruth 327 Reichart, Elisabeth 218, 221 Reichmann, Eva 19, 238, 385 Reich-Ranicki, Marcel 50, 83, 113, 129, 134f., 141, 210, 242, 304, 385 Reinisch, Leonard 103 Remmler, Karen 105f., 239, 318, 321f., 380, 385 Rensmann, Lars 91, 96f., 194, 385 Richter, Hans Werner 124, 126, 128, 375 Ricoeurs, Paul 291 Robinson, Jacob 88, 367, 385 Romberg, Otto R. 100, 385 Rosten, Leo 42, 385 Roth, Joseph 62f., 66, 73, 153, 232f., 237, 341, 380 Rothschild, Thomas 236 S Saame, Otto 59, 387 Sabrow, Martin 195f., 201, 283, 358, 384, 386, 389 Sachs, Michael 54 Sachs, Nelly 109, 127, 140, 155f. Salamander, Rachel 230 Salfed, Sigmund 159 Sartre, Jean-Paul 84f., 151, 174, 369, 386 Sauder, Gerhard 64, 386 Schacht, Ulrich 192, 386 Scheit, Gerhard 144f., 147, 149, 152, 386 Schestow, Leo 230f., 233 Schicketanz, Till 32 Schildt, Axel 201–204, 208, 216, 284, 330, 386 Schiller, Friedrich von 46, 63, 66, 117, 206ff., 382 Schindel, Robert 17f., 21, 28, 30, 36f., 57f., 86, 106, 108, 112, 115, 122, 175, 183, 187, 204, 206, 217–245, 248, 270, 282, 290f.,

395

Personenregister 297, 302, 309ff., 318, 321, 338, 341, 361, 369f., 372, 374, 376f., 382f., 385ff. Schlink, Bernhard 22f., 35, 37, 212–217, 242, 285, 371, 376, 387 Schlösser, Manfred 18 Schmeichel-Falkenberg, Beate 84, 386 Schmelzkopf, Christiane 132–138, 151, 386 Schneider, Peter 193 Schneider, Richard Chaim 33, 197, 386 Schneider, Wolfgang 129 Schnitzler, Arthur 66, 71f., 105, 137f., 153, 207, 234, 236f., 342, 376 Schnurre, Wolfdietrich 130f., 155 Schöne, Albrecht 47, 49, 63, 103f., 113, 384, 388 Schoeps, Julius H. 26, 42, 44f., 64, 68, 78, 178, 229, 363, 378, 381f., 386 Scholem, Gershom 18–21, 24, 27, 37f., 57, 59, 61, 63, 66, 69, 73f., 84f., 88ff., 93, 100f., 121, 127, 139, 144, 151, 160, 166, 168f., 174, 182, 272, 298, 330, 371, 386 Schrijver, Emile G. L. 70, 388 Schruff, Helene 31, 82, 110f., 222, 236, 320, 386 Schütte, Wolfram 193 Schütz, Hans 19, 24, 49, 52, 57, 62, 65f., 71ff., 104, 113, 121, 386 Schulte, Christian 276, 386 Schulte, Christoph 60, 386 Schwarz, Egon 63 Schweppenhäuser, Hermann 137, 332, 377 Schwilk, Heino 192, 386 Sebald, W. G. 22f., 35ff., 122, 130, 162, 195, 201, 217, 243f., 246–252, 256–279, 282, 284, 291, 298, 308, 327, 329, 336, 341, 370f., 374, 376, 380–384, 386, 388 Seligmann, Rafael 29, 105, 108, 111, 183, 198, 376 Sembdner, Helmut 179 Senocak, Zafer 12 Serrer, Michael 133, 386 Shaked, Gershon 56f., 61, 171,229, 386 Shakespeare, William 63 Shakespeare, Nicholas 266 Shedletzky, Itta 64, 178 Simmel, Johannes Mario 61 Singer, Isaac Bashevid 83

Singer, Isaac F. 153 Sontag, Susan 274f., 386 Spörr, Ingrid 222, 386 Stein, Benjamin 55, 376 Stein, Hannes 222 Steinecke, Hartmut 28, 53ff., 64, 105, 108, 113f., 197–300, 304, 378ff., 382f., 385, 387 Steiner, Georg 101, 137, 387 Stern, Frank 19, 47, 387 Stern, Guy 304 Stern, Susan 86, 383 Stiegler, Bernd 199, 242, 378, 387 Strasser, Johano 191 Strauß, Botho 164, 190, 192, 196, 381 Strümpel, Jan 356 Stüben, Jens 104, 387 Susmann, Margarete 18f. Szondi, Peter 19, 34f., 158, 160, 387 T Tabori, Georg 79, 138 Tauchert, Stephanie 34, 387 Teschke, Henning 337 Tetzlaff, Walter 62 Tholen, Georg Christoph 156 Thum, Harald 59, 387 Tiedemann, Rolf 137, 332, 377 Tizian 280, 282, 284 Toller, Ernst 257 Treichel, Hans-Ulrich Trimberg, Süßkind von 19, 47f. Troller, Georg Stefan 230, 242, 387 Trommler, Frank 130 Trubowitz, Lara 319, 383 Tucholsky, Kurt 61, 66, 69, 73, 84, 257, 386 U Urban-Fahr, Susanne 100, 385 V Varnhagen, Rahel 66 Vogel, David 341f., 348ff., 352, 355, 361 Vogt, Jochen 327ff., 387 Volkov, Shulamith 116f., 119, 388 Vortriede, Werner 71 Vosskamp, Wilhelm 304, 306, 310f., 388 Vranitzky, Franz 218

396 W Wagenknecht, Christian 47ff., 388 Waldenfels, Bernhard 60, 266, 388 Waldheim, Kurt 218 Walser, Martin 21, 90–100, 128–132, 145, 190, 193f., 196, 198, 210f., 284, 383, 385 Warning, Rainer 336, 388 Wassermann, Jakob 66, 105, 237 Weber, Elisabeth 156 Weber, Marcus R. 260 Weber, Werner 140 Wehdeking, Volker 140, 147, 197, 381, 388 Wehrli, Max 103 Weigel, Sigrid 127, 130, 151, 329, 378 Weil, Grete 35, 127, 207 Weimar, Klaus 200 Weinrich, Harald 261 Weiss, Peter 127, 129, 145, 156, 166, 204, 207, 377 Weyrauch, Wolfgang 125, 388 White, Hayden 200, 388 Wiesemann, Falk 70, 388 Wiesner, Harald 304 Wilhelm, Kurt 363

Personenregister Winkels, Hubert 222 Wintermeyer, Ingo 259, 278, 382, 388 Wirth-Nesher, Hana 64, 388 Wirtz, Thomas 341 Witte, Bernd 54f., 70, 388 Woesler, Winfried 104, 387 Wolf, Christa 131, 189ff., 193, 196, 377 Wolfenstein, Alfred 45, 123, 388 Wolff, Lutz-W. 42 Y Yerushalmi, Yosef, Hayim 33, 81, 95, 127, 388 Young, James Edward 199, 266, 388 Z Zimmermann, Moshe 195f., 282ff., 286f., 358, 389 Zipes, Jack 105f., 222, 380, 386 Zohn, Harry 62 Zunz, Leopold 64 Zussmann, Mira 82 Zweig, Arnold 84, 104, 153 Zweig, Stefan 62, 257 Zwerenz, Gerhard 136, 143

Michael Br aun

Die Deutsche GeGenwartsliter atur eine einführunG (utB für wissenschaft 3352 M)

Diese Einführung vermittelt Orientierung im weiten Feld der deutschen Gegenwartsliteratur. In sieben Kapiteln werden literarhistorische Voraussetzungen, mediale Kontexte, folgenreiche Kontroversen sowie maßgebliche Autoren und Werke der letzten zwanzig Jahre vorgestellt, konzentriert auf Prosa und Lyrik sowie auf den Film. Dies geschieht im Wechsel von kursorischem Überblick und modellhafter Kurzinterpretation. Weiterführende Literaturangaben, eine kommentierte Auswahlbibliografie, Kontroll- und Übungsfragen runden die Kapitel ab. Das Buch ist als Lehrwerk und Grundriss angelegt, auf dem Dozentinnen und Dozenten wie Studierende im modularisierten Studium aufbauen können. 2010. 247 S. Mit 15 S/w-Abb. br. 150 x 215 MM. iSbN 978-3-8252-3352-5

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Literatur – KuLtur – GeschLecht Studien zur Literaturund KuLturgeSchichte groSSe reihe

Eine Auswahl.

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Maya Gerig

geSeLLSchaftSpoLitiK im frauenroman um 1800

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haarfarben eine KuLturgeSchichte in europa Seit der antiKe

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der SKLavenaufStand von haiti ethniSche differenz und humanitätSideaLe in der Literatur deS 19. JahrhundertS

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vom SchönSein ideaL und perverSion im zeitgenöSSiSchen franzöSiSchen roman

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paradoxie deS begehrenS LiebeSdiSKurSe in deutSchSprachigen und KoreaniSchen proSatexten

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Julie Miess

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der orient der frauen reiSeberichte deutSchSprachiger autorinnen im frühen 19. Jahrhundert

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Reihe Jüdische ModeRne Herausgegeben von alfred bodenHeimer und Jacques Picard

Eine Auswahl. Band 2: Erik Petry ländlicHe Kolonisation in Palästina deutscHe Juden und früHer Zionismus am ende des 19. JaHrHunderts

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Band 3: Peter Haber, Erik Petry, Daniel Wildmann JüdiscHe identität und nation fallbeisPiele aus mitteleuroPa

2006. VIII, 171 S. 2 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-25605-0

Band 4: Birgit Schlachter scHreibweisen der abwesenHeit JüdiscH-franZösiscHe literatur nacH der sHoaH

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Band 6: Hanna Zweig-Strauss saly mayer (1882–1950) ein retter JüdiscHen lebens wäHrend des Holocaust

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Band 7: Stefanie Leuenberger scHrift-raum Jerusalem identitätsdisKurse im werK deutscH-JüdiscHer autoren

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Mit einem Geleitwort von Heiko Haumann. 2009. X, 216 S. 3 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20177-7

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