Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie: Beiträge auf der 14. Speyerer Demokratietagung vom 6. bis 7. Dezember 2012 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428542659, 9783428142651

Umfragen deuten darauf hin, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, die wichtigsten politischen Entscheidungen würden

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Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie: Beiträge auf der 14. Speyerer Demokratietagung vom 6. bis 7. Dezember 2012 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428542659, 9783428142651

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Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Band 221

Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie Beiträge auf der 14. Speyerer Demokratietagung vom 6. bis 7. Dezember 2012 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

HANS HERBERT VON ARNIM (Hrsg.)

Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie

Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 221

Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie Beiträge auf der 14. Speyerer Demokratietagung vom 6. bis 7. Dezember 2012 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-14265-1 (Print) ISBN 978-3-428-54265-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84265-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Themen der 14. Demokratietagung waren die erforderliche Umgestaltung des Bundestagswahlrechts, die Beseitigung der Sperrklausel bei deutschen Europawahlen, anstehende Bundestags- und Landtagswahlen, die Diskussion um direkte Demokratie auf Bundesebene, ohne die anscheinend auch die notwendigen strafrechtlichen Regelungen gegen die Korruption von Abgeordneten nur schwer durchgesetzt werden können, Auto-Korruption bei missbräuchlichen Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, die Direktwahl des Ministerpräsidenten und ihre mögliche Durchsetzung durch Volksgesetzgebung, parteiinterne Mitgliederentscheide und -urwahlen, Probleme der Euro-Rettung einschließlich der ESM-Verfahren, der Streit um die Besetzung von Richterstellen und andere einschlägige Entwicklungen sowie das grassierende Gefühl der Menschen, die wichtigsten Entscheidungen würden über ihre Köpfe hinweg getroffen. Bei den Beiträgen wurde teilweise der Redecharakter beibehalten. Herrn Dipl.-Volkswirt Andrei Király und Herrn MA Matthias Strunk, MA rer. publ., danke ich für die Hilfe bei der Vorbereitung der Tagung und der redaktionellen Begleitung dieses Bandes. Speyer, im Januar 2014

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Joachim Wieland Begrüßung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gregor Gysi Wer regelt die Regeln des Machterwerbs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günther Beckstein Wahlrecht und direkte Demokratie in Bayern und im Bund . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Herbert von Arnim Die politische, die wirtschaftliche und die mediale Klasse: Ersticken sie die Bürger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dirk Schümer Europa schafft sich ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eckhard Jesse Defizite im deutschen Wahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Grotz Wahlsysteme und direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa: Lehren für Demokratiereformer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frank Decker Mehr Demokratie durch die Direktwahl der Ministerpräsidenten? Perspektiven einer Regierungsreform in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anke Domscheit-Berg Fraktionszwang und Ochsentour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Baldauf Politische Partizipation auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Marco Bülow Postdemokratie im Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Hans-Josef Graefen Probleme der Richterwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Begrüßung Joachim Wieland Als Rektor der Universität Speyer ist es mir eine besondere Freude, Sie zur 14. Speyerer Demokratietagung begrüßen zu dürfen. Wir werden in diesem Jahr über „Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie“ sprechen. Die Demokratietagungen, die Herr Kollege von Arnim veranstaltet, gehören zum Markenzeichen unserer Universität. Wir führen keine andere Weiterbildungsveranstaltung durch, die auf eine so lange Tradition zurückblicken kann und die so erfolgreich ist, wie die große Zahl von Ihnen zeigt, die auch in diesem Jahr wieder den Weg nach Speyer gefunden hat. Der etwas spätere Termin als üblich, der in diesem Jahr mitten in der Vorlesungszeit liegt, ist dem Bemühen um besonders attraktive Referentinnen und Referenten geschuldet. Das Thema „Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie“ hat nicht nur Herrn von Arnim seit langem beschäftigt, es interessiert uns alle. Können wir angesichts der sich stetig verdichtenden Integration in der Europäischen Union noch sinnvoll von Volkssouveränität sprechen? Ist das deutsche Volk noch souverän? Ist die Souveränität auf ein europäisches Volk aus Unionsbürgern übergegangen? Jedenfalls gewinnt die direkte Demokratie immer mehr Freunde, nachdem lange in Deutschland unter Berufung auf Erfahrungen in der Weimarer Republik – ob zu Recht oder zu Unrecht will ich hier offen lassen – eine große Zurückhaltung gegenüber einer Stärkung direktdemokratischer Elemente geherrscht hat. Das Grundgesetz sagt, dass das Volk die Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Viele von uns wählen mehr oder weniger regelmäßig. An einer Abstimmung dagegen haben – wenn überhaupt – nur wenige teilgenommen. Im Grundgesetz sind Abstimmungen nur über Neugliederungen des Bundesgebiets vorgesehen – und Neugliederungen stoßen auf erhebliche Widerstände. Zwar könnte man sich unter volkswirtschaftlichen Effektivitätsgesichtspunkten durchaus eine andere Gliederung Deutschlands vorstellen. Die nach 1945 und 1990 geschaffenen Länder haben jedoch längst ihre Bewährungsprobe bestanden und sind im öffentlichen Bewusstsein verankert. Mehrheiten für einen Fusion von Ländern zu finden, bleibt unter diesen Umständen schwierig. Das gilt auch mit Blick auf den Finanzausgleich. Weder wird aus zwei armen Ländern ein reiches noch wird die Bevölkerung eines finanzstarken Landes gern einem Zusammenschluss mit einem finanzschwachen, überschuldeten Land zustimmen. Auch wirft das Ineinandergreifen von parlamentarischer Demokratie und Elementen direkter Demokratie durchaus Probleme auf. Nachdem der Landtag in Bran-

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denburg eine Lösung für ein Nachtflugverbot gefunden hat, soll es einen Volksentscheid geben. Wenn dieser erfolgreich sein sollte – wie lange ist das Parlament daran gebunden? Wann dürfen sich neu gewählte Abgeordnete über den vom Volk einmal geäußerten Willen hinwegsetzen? Entfaltet eine Äußerung des Souveräns jedenfalls eine politische Bindungswirkung, auch wenn das rechtlich verbindliche Quorum wie im Fall Stuttgart 21 nicht erreicht wurde? Das Thema Volkssouveränität und Wahlen ist betroffen, wenn über einen Verbotsantrag gegen eine politische Partei wie die NPD diskutiert wird. Wie weit reicht die Souveränität des Wahlvolkes? Unter welchen Voraussetzungen darf eine politische Partei vom freiheitlichen Rechtsstaat verboten werden? Sie sehen, Herr von Arnim hat mit dem Thema seiner Demokratietagung wieder ein spannendes Thema gefunden. Die Referentinnen und Referenten lassen interessante Diskussionen erwarten. Ich wünsche der Tagung einen guten Verlauf. Vielen Dank.

Wer regelt die Regeln des Machterwerbs? Gregor Gysi Einen schönen guten Morgen meine Damen und Herren. Ich soll zu dem Thema sprechen „Wahlrecht und Demokratie – Wer regelt die Regeln des politischen Machterwerbs? “ Da Sie das ja wissen, muss ich also ein bisschen ausschweifen, ich habe mich auch vorbereitet. Ich habe aber beschlossen, dem Thema des Vortrags zwar auf der einen Seite treu zu bleiben, aber einige Hüllen zu sprengen. Wenn wir das Wahlrecht diskutieren, tun wir häufig so als sei politische Macht die einzige Form der Macht. Aber selbst wenn wir das machen, so müssen wir dann wenigstens genau vorgehen und überlegen, was alles als politische Macht auftreten kann. Sind es nur Regierungen? Sind es Parlamente? Sind es außerparlamentarische politische Aktivitäten? Ist es also wirklich der politische Bereich, wie man in letzter Zeit im politiktheoretischen Jargon wieder öfter hört? Oder haben auch Konzerne, Ratingagenturen, Fernsehen und Zeitungen Macht? Und wenn ja, kann diese nicht auch politische Färbung bekommen? Wenn man die Frage „Wer regelt die Regeln des Machterwerbs?“ angeht, muss man an den Punkt kommen, wo es politisch wirksame Macht gibt, aber findet keine klare Antwort auf die gestellte Frage. Aber dieser Bereich gehört zur Frage, er ist sogar aus meiner Sicht der Interessantere. Das Grundgesetz stellt Anforderungen an Wahlen für gesetzgebende Versammlungen. Zweck ist es, das Prinzip der Volkssouveränität institutionell abzusichern. Volkssouveränität heißt, etwas unscharf gesprochen, dass das Staatsvolk seine politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten selbst bestimmt. Damit sind drei Dinge angesprochen: Erstens dasjenige was Gegenstand möglicher Bestimmung also Regelung ist und was nicht. Die Grenze zwischen den privaten und den politischen Angelegenheiten ist selbst politisch und daher auch politisch veränderbar. Zweitens bestimmt normalerweise, bei uns allerdings nicht, das Volk durch den Akt der Verfassungsgebung auch die Form, Arbeitsweise und Gliederung des Staates. Drittens und schließlich muss es Verfahren geben, die die Rückbindung insbesondere des Rechtsetzungsprozesses an das souveräne Volk sichern. Daher sollen gesetzgebende Versammlungen aus Wahlen hervorgehen, für die die Anforderungen der Allgemeinheit, Gleichheit, Freiheit und Unmittelbarkeit verbindlich sind. Die Anforderung geheime Wahl wird auch explizit genannt, sie lässt sich aber recht zwanglos in die Anforderung der Freiheit einsortieren. Historisch interessant ist, dass es im 19. Jahrhundert zwar alle möglichen demokratischen Revolutionen gab, aber die Prinzipien Allgemeinheit und Gleichheit miteinander auf Kriegsfuß standen. Entweder hatte Allgemeinheit keine bzw. eine sehr

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eingeschränkte Geltung, weil z. B. nur Männer das Wahlrecht besaßen, oder ein Klassenwahlrecht herrschte, oder rassistische Beschränkungen galten, oder die Gleichheit war eingeschränkt, etwa indem die Stimmen vermögender und gebildeter Schichten mehr zählten. Die Geschichte der modernen Demokratie kann daher auch als eine Geschichte der systematischen Ausschließung von Gruppen beschrieben werden. Wahl- und Parteiengesetze sind an diese Anforderungen gebunden. Sie müssen sie soweit konkretisieren, dass sie in handhabbare Wahlverfahren eingehen können. Konkretisierung und Institutionalisierung erscheint so als der Weg, auf dem Prinzipien in Existenz, das heißt in wirksame Entscheidungen treten. Gleichzeitig wohnt dem immer ein negatives Moment inne. Als Prinzip sind normative Anforderungen immer unmittelbar als Verfahren aber erst konkret und vermittelt. Damit ist aber auch die Möglichkeit gegeben, dass das konkrete Verfahren, das mit den Prinzipien Gemeinte partiell oder in Gänze verfehlen kann. Zumal dem Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Gesetzgebung nicht immer unterstellt werden darf, böswillig die normative Anforderung abzuschwächen oder unwirksam zu machen, sondern er interpretiert sie. Diese Interpretation erfolgt aber immer in Abhängigkeit von den sozialen und politischen Kontexten der jeweiligen Zeit, ohne dass diese Abhängigkeit immer auch bewusst ist. Unter diesem Gesichtspunkt, der Spannung zwischen unmittelbarer Geltung einer Anforderung und realer Wirksamkeit in einem Gesetz erscheint das Bundesverfassungsgericht als eine ungeheuer wichtige Sache. Es muss begutachten und entscheiden, ob eine gesetzliche Regelung den verfassungsrechtlichen Anforderungen ausreichend genügt, eventuelle Abschwächungen hinnehmbar sind, oder ob eine verfassungswidrige Konstellation entstanden ist. Nun will ich kurz etwas zur 5 Prozent-Hürde sagen. Wenn ich mich diesem Problem der 5 Prozent-Hürde zuwende, so spreche ich nicht als Fachjurist. Im Gegenteil. Es wäre verlogen politische Interessen zu leugnen, die mit meiner parteipolitischen Tätigkeit zu tun haben. Die fließen selbstverständlich hier ein. Dennoch werde ich auf einige Teilbegründungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9.11. 2011 zurückkommen. Das Urteil selbst hat die Rechtmäßigkeit der 5 ProzentHürde bei den Europawahlen zum Gegenstand. Da das europäische Parlament völlig andere Funktionen hat als der Bundestag oder die Länderparlamente, ist eine unmittelbare Übertragung des Urteils natürlich nicht möglich. Man muss immer die Verzerrungen an Allgemeinheit, Gleichheit usw. mit der Begründung, warum man eine 5 Prozent-Hürde angeblich benötigt, abgleichen. Das grundsätzliche Problem, das im Gravitationszentrum auch der Urteilsbegründung liegt, ist ja ein höchst politisches. Wahlgesetze werden vom Gesetzgeber, also einem Parlament gemacht. In diesem Parlament sind bekanntlich nicht alle Parteien vertreten. Zudem sind Wahlgesetze wie andere Gesetze auch, einfachgesetzlich. Wahlgesetze können daher leicht in gesetzgegossene Begünstigungen großer Parteien vor kleineren oder gar Kleinstparteien in der Parteienkonkurrenz werden. Das ist ein Aspekt der Frage. Wer regelt die Regeln des Machterwerbs? Sicher, es gibt eine Legitimationskette. Ein aus freien, geheimen, allgemeinen Wahlen hervorgegangenes Parlament kann eine ganze Menge beschließen. Eben auch wie Folgeparlamente zustande kommen. Was

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dabei aber nicht passieren darf, die Äußerungen des Souveräns wie er bei Wahlen zustande kommt, auf verzerrende Weise einzuengen. Wenn beispielsweise SPD und CDU merken, dass das fünf-Parteien-System, aus dem, wie die Piraten zeigen, vielleicht ja auch ein sechs-Parteien-System werden kann, die lieb gewonnene Lagerkonstellationen zerstört, dann könnten sie auch auf den Gedanken kommen, dass ein reines Mehrheitswahlrecht besser für sie wäre und sie nicht ständig in die große Koalition drängt. Diese Debatte wurde während der letzten Legislaturperiode in den Zeitungen geführt, weil man die Linke für ein Ärgernis hielt. Es widerspräche der gesamten Tradition in Deutschland und ließe viele Interessen im Parlament unvertreten sein. Ich bringe ein derartiges Beispiel nur, weil es zeigt, dass bei weniger drastischen Fällen das Argument der Sicherung der Arbeitsfähigkeit durchaus überzeugen könnte. Dieses Argument steht im Zentrum jeder Hürdenregelung, soll sie keine Willkürregel sein. Nun spricht überhaupt nichts zwingend für eine bundesweite 5 ProzentHürde. Der erste Bundestag wurde noch ohne eine derartige Regel gewählt. Allerdings gab es eine andere schwächere Regel. In einem Bundesland mindestens musste die 5 Prozent-Hürde übersprungen werden. Die Ausdehnung der Hürdenregel auf das Bundesgebiet erfolgte dann ohne besondere nachvollziehbare Begründung. Denn der erste Bundestag arbeitete ja ganz gut. Die Funktion und Arbeitsfähigkeit der Regierung wurde nicht beeinträchtigt. Diese Verschärfung der Hürdenregel hatte aber einen Grund: die KPD sollte die bundesweite 5 Prozent-Hürde verfehlen, was sie ja dann auch tat. Die nächste Ausnahme waren die Bundestagswahlen 1990. Hier reichte es in wenigstens einem der Gebiete, Ost oder West, die 5 Prozent-Hürde zu nehmen. Aber diese Regelung kam ja nicht durch den Willen des Gesetzgebers zustande, sondern wiederum durch das Bundesverfassungsgericht. Und dadurch konnten die PDS und auch die Grünen in den Bundestag einziehen. Die beide im Westen scheiterten, aber es halt im Osten schafften. Bislang konnten auch neue Parteien wie die Grünen oder die Linke die Arbeitsfähigkeit von Regierung und Parlament nicht erschweren. Sie verlangten den großen Parteien nur mehr strategische Beweglichkeit ab. Das kann aber kaum als Kritikpunkt gewertet werden. Nun, der leidige Fall NPD, und andere narzisstische Organisationen. Eine 5 Prozent-Hürde vermag kein Parlament vor dem Einzug von Nazi-Parteien zu schützen. Dieser dauert dann nur länger. Erfolg bei Wahlen haben faschistische Parteien ohnehin nur dann, wenn Wählerbewegungen nicht mehr innerhalb des demokratischen Spektrums erfolgen, sondern massiv zu faschistischen Parteien übergehen. Das ist aber mit einer 5 Prozent-Hürde nicht zu verhindern. Verhindert werden kann das nur, indem demokratische Parteien eine Politik machen, die es den Bürgerinnen und Bürgern gestattet, die politische Lebensform der Demokratie wertzuschätzen. Ohne irgendwelche Teufel an die Wand zu malen, in Griechenland konnte man sehen, wie eine faschistische Partei in einer schweren Krise zulegen kann. Der Westen hat Angst vor Syriza aber wirklich Angst muss man vor den Nazis dort haben. Schließlich gibt es die Ablenkung des primären Wählerwillens. Was soll denn eine Wählerin oder ein Wähler machen, die oder der seine Stimme eigentlich nicht verschenken will, eine

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bestimmte Partei wählen will, und davon ausgeht, dass diese Partei aber nicht einziehen wird, weil sie die 5 Prozent-Hürde nicht überschreitet. Da er aber seine Stimme nicht irgendwie sinnlos vergeben will, sucht er sich dann eine Partei, die der eigentlich favorisierten am nächsten steht. Das beginnt aber sozusagen ein Grad an Manipulation. Nun ist unser Wahlgesetz für die Bundestagswahlen beanstandet worden, insbesondere betrifft es die Zurechnung von Mandaten für die Landeslisten bei Bundestagswahlen. Wir haben dazu einen, wie ich finde sehr plausiblen Vorschlag unterbreitet, aber alle anderen Parteien haben sich anders verständigt und vergrößern damit unnötig den Bundestag, aber ich lass das mal alles weg, dazu könnte ich vieles sagen, aber darauf will ich verzichten. Der Marxismus hat sicher das Verdienst, auf das politische Gewicht ökonomischer Macht aufmerksam gemacht zu haben. In verkehrter Gestalt findet sich das aber schon früher. So argumentiert Kant dafür, dass nur Besitzende Wahlbürger sein sollten. Er sieht es als Bedingung der Mündigkeit an, dass man auch ökonomisch selbstständig sein muss, also nicht beeinflussbar durch den Willen eines Herren ist. Man könnte das als liberalen Besitzindividualismus kritisieren, aber ich möchte hervorheben, dass Kant einen Zusammenhang zwischen politischer Mündigkeit, die eine Bedingung für ein vernünftiges Gemeinwesen ist und Abwesenheit ökonomischer Zwänge sah. Aber, Sie können viel weiter zurückgehen. Aristoteles, neben Platon einer der Begründer des Staatsdenkens, sieht klar den Zusammenhang zwischen sozialer Herrschaft und den mit ihr verbundenen Konflikten und der politischen Herrschaft. Er stellt ihn heraus. Die Einsicht, dass Machterwerb und Machtverteilung selbst etwas Außer- und Vorrechtliches ist, Verrechtlichung lediglich die Form dieses Geschehens ändert, ist also nichts Neues. Unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie bedeutet dieser Zusammenhang, dass ökonomische Verhältnisse, die die Freiheit gefährden können, der politischen Regulierung bedürfen. So haben viele Konzerne insbesondere im Einzelhandel Praktiken ersonnen, die Rechte ihrer angestellten Betriebsräte zu bilden, sich gewerkschaftlich zu organisieren, für vernünftige Arbeitsbedingungen zu kämpfen usw. systematisch zu unterdrücken. Das was man früher für dritte Welt Praktiken hielt, hält Einzug auch bei uns. Nun werden sie sagen, dass das ja den Machterwerb bei Ämtern nicht beeinflusse. Das ist auf unmittelbare Weise auch nicht der Fall. Der Unterschied des Kapitalismus zu allen vorkapitalistischen Klassengesellschaften ist gerade der, dass im Kapitalismus Rechtsgleichheit existiert, zumindest existieren soll, Klassenstrukturen trotzdem reproduziert werden. Ein weiterer Unterschied ist der, dass sich Wirtschaft und Politik als unterschiedliche Subsysteme ausdifferenziert haben, die unterschiedlichen Logiken folgen. Sehe ich von Krieg und Frieden einmal ab, dann tangieren ökonomische Entscheidungen von großen Unternehmen, das Leben der Leute oft stärker als politische Entscheidungen. Politische Entscheidungen sind aber mehr oder weniger stark legitimiert, bei wirtschaftlichen kann man das nicht sagen. Weil wirtschaftliche Entscheidungen aber so stark in das Leben eingreifen, prägen sie politische Entscheidungen gelinde gesagt, vor. Wir erleben gerade eine massive Abhängigkeit der politischen

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Sphäre vom Wohlwollen der Finanzmärkte. Politik scheint darauf ausgerichtet zu sein, nervöse Märkte zu beruhigen. Dafür ist in kritischer Absicht das Schlagwort von der marktkonformen Demokratie aufgekommen. Ich weiß noch dass ich bei Jauch saß und neben mir saß Frau Kohl, die ARD Korrespondentin bei der Börse und die sagte, wenn sie Kanzler wären und die Deutsche Bank käme und sagte, dass sie nächste Woche den Insolvenzantrag stellen müsse, müssten sie sie auch retten, weil sonst das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem zusammenbräche. Abgesehen davon, dass ihre und meine Fantasie nicht ausreicht sich vorzustellen, dass ich Kanzler wäre, habe ich aber dann zu ihr gesagt, dann beweisen sie doch damit, dass die deutsche Bank zu mächtig ist. Sie sagen ja gerade, auch als Kanzler hätte ich überhaupt keine Wahl, ich müsste machen was der Ackermann mir sagt. Deshalb unsere Forderung die Banken deutlich zu verkleinern auch zu vergesellschaften, um wieder den ganzen Markt regulieren zu können, beherrschen zu können. Es geht um die Frage des Primats der Politik. Denn das wird durch die Finanzwelt stark verletzt. Nur als ein Beispiel. Also erscheint es fast sinnlos, die Frage zu stellen, wer die Regeln des Machterwerbs denn regele. Aber eben nur fast. Man muss die Frage stellen, um auf ungeregelte und unzureichend geregelte Macht aufmerksam zu machen. Daher ist auf einen Begriff zurückzukommen, der heute schon wie Utopie klingt. Die soziale Demokratie. Insbesondere Wolfgang Abendroth interpretierte die Verfassung nicht nur als Struktur des eigentlichen Staates, sondern als ein die ganze Gesellschaft strukturierendes Regelungssystem. Ziel sollte es sein im Konfliktfall zwischen politischer und ökonomischer Macht zugunsten der politischen Macht zu entscheiden. Das ist kein Sozialismus, auch wenn Abendroth noch dafür den Optimismus besaß, hier Übergänge zur sozialistischen Transformation zu erkennen. Heute muss es darum gehen, Prinzipien sozialer Demokratie im System der EU Governance zu implementieren. Die ökonomische Macht wirft die Fragen nach dem permanent zunehmenden Lobbyismus auf, der auch bei uns in einem Masse Einzug erhalten hat, dass ich das als eine Gefahr der Demokratie ansehe. Ich komme noch zur Medienmacht. Mit der Medienmacht tritt uns eine weitere Gestalt unzureichend geregelter Macht entgegen. Aufgrund der vorwiegend kapitalistischen Eigentumsstrukturen in den Massenmedien könnte man versucht sein, hier nur eine Variante ökonomischer Macht zu erkennen. Ich halte das für eine Vernachlässigung einiger Spezifika. Zunächst fällt auf dass die Medien nicht ohne Einfluss auf die Personenwahl in Parteien sind. Ein normaler Konzern wie die Deutsche Bank kann das nicht so ohne weiteres. Die Deutsche Bank teilt der Kanzlerin zwar mit was sie in der Krise zu tun hat, nämlich die Deutsche Bank vor allen Dingen davon kommen zu lassen, aber sie kann der Kanzlerin nicht mitteilen, dass sie zu gehen hat. Das heiß,t das kann sie mitteilen, aber das wird sie deshalb nicht machen. Deshalb möchte ich einige Fälle kurz erläutern. Sarazin: Selten hat ein Buch des Genres unsachliches Sachbuch so die Gemüter erhitzt wie Sarazins „Deutschland schafft sich ab“. Ich habe das Buch nicht gelesen. Seine mediale Rezeption ist aber bemerkenswert. Es war nichts Neues, dass Sarazin mit rassistischen Sprüchen Stimmung machte. Das war einer der Gründe warum das

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Buch überhaupt breitere Aufmerksamkeit fand. Die ersten Reaktionen waren die üblichen Rechts-Links-Reaktionen. Also entweder: „Aber über das Problem muss man doch reden können“, oder „Sarazin betreibt rassistische Hetze“. Dazwischen hatte man die Wahl. In den Mainstream Medien wurde das Buch zunächst kritisch gewürdigt. Die Probleme bestünden ja wirklich usw. Und darüber hinaus müsse man endlich auch einmal diskutieren können, usw. Zunächst wurde also Sarazin zum Gesellschaftskritiker geadelt. In den Medien. Das änderte sich erst als irgendjemand sich bis zu der Stelle im Buch vorgekämpft hatte, an der der Autor sich darüber auslässt, dass auch Juden Gene haben etc. Offenbar ist den meisten Rezensenten erst zu dem Zeitpunkt aufgefallen, dass Sarazin doch Rassist sein könnte. Das Ganze, Hass und letztlich angsterfüllte Gerede über Menschen anderer Herkunft, hätten sie ihm einfach durchgehen lassen. Nachdem allerdings dies alle wussten, drehte sich der Wind und die Medien erhöhten den politischen Druck auf Sarazin, er ging in den Ruhestand. Guttenberg: Die Plagiatsvorwürfe wurden erhoben von Andreas Fischer-Lescano. Er formuliert in einer Rezension einige Fundstellen, daraus wäre noch nichts Schlimmes für Guttenberg entstanden, wenn darüber nicht Zeitungen wie die Süddeutsche berichtet hätten. Nachdem Angela Merkel erklärte, dass sie ihre Hand über Guttenberg halte, brach eine Art Schlacht aus. Auf der einen Seite die Bildzeitung, sekundiert von der Welt, die Guttenberg retten wollten, auf der anderen Seite alle anderen Medien, einschließlich Spiegel, Spiegel-Online, Zeit, die bereits erwähnte Süddeutsche, die TAZ und die FAZ. Die Leitmedien waren also in zwei große Lager aufgeteilt. Die Frage die in dieser Schlacht entschieden werden sollte war die Frage nach der Ministrabilität von Guttenberg. Die Kanzlerin hätte das natürlich selbst entscheiden können, aber sie hatte schon zu diesem Zeitpunkt Leute aus dem Regierungslager verloren und dazu keine Lust mehr. Wir wissen wie es ausging. Der mediale Druck auf Guttenberg wurde solange aufrechterhalten bis er ging. Das Interessante dabei: Guttenbergs eigener politischer Aufstieg aus der Hinterbänklerklasse in die erste Liga erfolgte ebenfalls mit tatkräftiger Unterstützung einiger Medien. Unter ihnen die Bildzeitung. Die Vollversion von Guttenberg hat freilich noch eine Komplettierung. Man ist selbst Medienmogul, so wie Berlusconi. Dann kann man die politische Macht nutzen um die eigenen Unternehmen besser zu positionieren. Letztere um die politische Macht zu stärken. Auch Stimmenkauf gehört zu den Dingen die man sich erlauben kann, wenn man Regierungschef und zugleich schwer reich ist. Am Fall Berlusconi kann man übrigens auch sehen, was eine gute Justiz, wenn sie einigermaßen hartnäckig ist, wert sein kann. Auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht kamen ihm nur noch Staatsanwälte in die Quere, das aber beachtlich. Ex- Bundespräsident Wulff: Hier waren es auch wieder die Medien. Angefangen hat alles mit einer ungenauen Angabe von wirtschaftlichen Beziehungen, die Wulff zu seiner Zeit als Ministerpräsident hatte. Ich glaube, dass die Fragestellerin, die Grüne Landtagsfraktion in Niedersachsen auch nur den Hauch einer Ahnung

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hatte, was sie damit auslöste. Bestimmt nicht. Hier lag das Heft des Handelns allerdings nicht bei der Bundeskanzlerin, sondern bei Wulff selbst. Denn er kann zwar zurücktreten, aber nur durch äußerst schwierig zu erfüllende Umstände des Amtes enthoben werden. Für Letzteres hätte es des Nachweises einer Verletzung von Bundesgesetzen während seiner Amtszeit als Bundespräsident bedurft. Und anstatt klar zu stellen, dass er die Anfrage unvollständig beantwortet hätte, da er sie zu eng ausgelegt habe, dass er das jetzt in vollem Umfang unverzüglich tun werde, begann er ein würdeloses Rückzugsgefecht. Damit reizte er den Eifer der Medien, eigene Nachforschungen zu betreiben. Das Fass zum Überlaufen brachte jener ominöse Anruf beim Bildzeitungschefredakteur. Damit hatte er die Bildzeitung gegen sich. Die dieses mal ihn loswerden wollte. Steinbrück: Hier war bemerkenswert, dass die Bildzeitung schneller als die SPDFührung bekannt gab, dass er der Kanzlerkandidat der SPD wird. Über den Rest möchte ich schweigen. Das wäre zu sehr Wahlkampf. Ich werde hier auch keine Medienschelte betreiben. Der Medienöffentlichkeit verdanken wir, dass über Dinge informiert und diskutiert werden kann, die jede Regierung lieber still und leise regeln würde. Und es gibt ausreichend Länder in denen das Fernsehen beispielsweise eine nachrichtenfreie Einrichtung ist. Zeitungen nichts taugen, usw. Daher haben Medien in unserem Land einen hohen demokratischen Wert. Nur sind sie auch eine Macht. Und diese Macht ist nicht immer die Macht der Vernunft. Sie prägen den Strukturen politischer Gleichheit ein verzerrendes Moment auf. Das erlebe ich auch in meiner Partei. Wer guten Zugang zu Medien hat, hat es leichter, sich in der Partei Gehör zu verschaffen. Aber du bekommst nur guten Zugang zu den Medien, wenn Du über andere aus Deiner Partei herziehst. Das garantiert Dir immer eine Meldung. Und ist verführerisch. Hier glaube ich nicht ebenso wenig wie bei der ökonomischen Macht an Patentlösungen. Öffentlich-rechtliche Einrichtungen sind sicher nicht der falsche Weg, wenn man als Alternative zu Medienkonzernen Staatsmedien vermeiden möchte. Wenn wir uns schon die Mühe machen über ein möglichst demokratisches Wahlrecht nachzudenken, sollten wir immer auch den Blick auf jene Machtverhältnisse richten, die den Spielraum gewählter Politiker und Gremien einengen können. Deshalb hier nur noch zwei Vorschläge von mir. Ich glaube dass wir unser Bundeswahlrecht erweitern müssen. Es gibt zwei Wege. Bisher ist es ja so, dass die Parteien die Landesverbände ganz allein die Reihenfolge ihrer Landesliste bestimmen. Also könnten sie, ich nehme mal ganz alte Beispiele, auf einer Landesliste Dregger und Geissler haben. Nun könnte es ja aber sein, dass sie sagen den einen finde ich ok, den anderen finde ich abscheulich oder umgekehrt. Aber als Bürgerin oder Bürger, wenn sie die CDU Liste wählen, haben sie auf die Reihenfolge und die Liste nicht den geringsten Einfluss. Es gibt zwei Wege. Der eine Weg wäre, wie in den USA, dass man die Bestimmung auch der Listenkandidatinnen und Kandidaten öffentlich organisiert, dass also jede Bürgerin und jeder Bürger herkommen kann und mitentscheidet und so. Das wäre eine Variante, allerdings muss ich sagen, hat sie auch leicht zufälligen Charakter. Eine andere Variante, die ich bevorzuge, bestünde darin, dass wir eine dritte Stimme einführen, nämlich dass sie das Recht be-

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kommen auf der Liste drei Leute anzukreuzen, das heißt drei Kreuze zu machen. Entweder machen sie die bei einer Person, oder bei zwei Personen, oder bei drei Personen. Das Problem besteht darin, dass man darüber diskutieren kann, ob diese Stimmabgabe zwingend ist oder nicht zwingend ist. Wenn nicht zwingend heißt es, es gilt die übliche Reihenfolge, die festgelegte, wenn Du kein Kreuz machst. Wenn Du Kreuze machst, veränderst Du die Reihenfolge. Ich tendiere ein bisschen dazu zu sagen, man muss das ankreuzen, weil ich möchte, dass die Leute sich damit beschäftigen, wer auf der Liste steht und wen sie ankreuzen wollen oder nicht. Im Landtagswahlrecht haben wir sowas, ich nenne als Beispiel immer Frau Hamm-Brücher. Die ist überhaupt nur deshalb in die Politik gekommen, weil die Wählerinnen und Wähler sie von ganz hinten nach vorne gekreuzt haben. So kam sie in den Landtag und so begann ihre ganze Karriere als FDP-Politikerin. Interessanterweise ausgelöst durch die Bürgerinnen und Bürger. Was ich daran so wichtig finde, will ich auch kurz erklären. Ich möchte eine doppelte Unterstellung der Abgeordneten. Ich muss meiner eigenen Partei so nahe bleiben, dass sie mich überhaupt auf die Liste nimmt. Wenn die so sauer mit mir sind, dass sie mir sagen, Du kannst hier verschwinden von der Liste, habe ich keine Chance als Einzelkandidat. Mit den zweihundert Unterschriften hat es glaube ich noch nie gegeben, dass da einer gewählt worden ist. Weiß ich nicht, bin ich nicht sicher, aber auf jeden Fall will ich nur sagen, hast Du im Kern eigentlich keine Chance. Also muss ich meiner Partei nah bleiben. Aber es reicht nicht. Ich muss außerdem bürgerinnen- und bürgernah sein. Denn wenn sie die Liste meiner Partei ankreuzen, aber mich nicht ankreuzen, dann bin ich ja möglicherweise auch nicht in den Bundestag gewählt. Und daraus resultiert eine doppelte Unterstellung. Und eine doppelte Unterstellung erschwert das, was wir heute den Fraktionsszwang nennen, den es ja eigentlich im Grundgesetz gar nicht gibt. Mit vielen Theorien wird versucht, das Ganze zu rechtfertigen. Deshalb stelle ich mir das als eine wichtige Ergänzung zum Wahlrecht vor. Aber auch in meiner Partei sind nicht alle dafür. Und zwar sind deshalb nicht alle dafür, weil bestimmte Leute fürchten, dass die Medien gegen sie eine Polemik aufmachen und gegen andere nicht, und dass sie dann, wenn sie sich sozusagen mühevoll über alle Schleichwege nach vorne auf die Liste gekämpft haben, plötzlich wieder zurückgestuft werden etc. Also man muss ja immer wissen wie Leute denken. Das zweite, womit ich beginnen will, Volksentscheid auf Bundesebene zu öffnen, ist eine ganz neue Konstellation. Ich schlage vor dass jede Bundestagsfraktion etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl berechtigt sein soll, eine Frage zur Abstimmung zu stellen, die mit ja oder nein beantwortet werden kann. Diese Frage geht in einem verkürzten Verfahren zum Bundesverfassungsgericht, das innerhalb weniger Wochen festzustellen hat, ob sowohl die Antwort ja als auch die Antwort nein grundgesetzkonform ist. Das ist wichtig damit sind Fragen zu Todesstrafe ausgeschlossen oder andere, weil da die Antwort ja immer grundgesetzwidrig wäre. Wenn bei einer Frage das Bundesverfassungsgericht sagt nein, da ist die Antwort nein oder die Antwort ja nicht grundgesetzgemäß, dann kann die Fraktion nochmal eine neue Frage stellen, wieder dasselbe Verfahren. Wenn das wieder so festgestellt wird, ist die Fraktion

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raus. Ansonsten hätten wir zur Zeit bei fünf Fraktionen fünf Fragen. Und das wäre spannend, weil folgendes passiert: der ganze Wahlkampf ändert sich. Auf jeder Kundgebung muss Frau Merkel und ich immer sagen, wie wir eigentlich die fünf Fragen beantwortet sehen wollen. Sie muss immer auch zur Frage der Linken Stellung nehmen, ich muss immer zur Frage der Konservativen Stellung nehmen, das ist völlig klar, das ist das eine. Das zweite, die Leute wissen plötzlich, dass sie in fünf Sachfragen zu entscheiden haben. Wenn sie in fünf Sachfragen zu entscheiden haben und sie entscheiden wollen, dann gehen sie zur Wahl. Wenn sie nun sowieso schon im Wahllokal sind, dann wählen sie gleich noch den Bundestag mit. Das heißt die Wahlbeteiligung würde sich erhöhen. Aber was noch wichtiger ist, sie wären in einer anderen Verantwortung und der Bundestag bliebe eine Legislaturperiode, nicht länger, aber eine Legislaturperiode an die Beantwortung dieser fünf Fragen gebunden. Und zwar ganz egal wer Kanzlerin oder Kanzler wird, ganz egal welche Koalition zustande käme. Das wäre für die Leute wichtig. Dann kommt noch was hinzu. Du wählst als Bürgerin oder Bürger eine Partei die verliert oder gar nicht einzieht, oder was auch immer. Das heißt du hast ein Misserfolgserlebnis. Du hast dich aber vielleicht in drei oder vier Fragen durchgesetzt, weil Du mit zu der Mehrheit gehörtest die das entschieden hat. Dann ist das für Dich doch ein politisches Erfolgserlebnis. Und wenn die Leute an dem Abend politische Erfolgserlebnisse haben, dann animiert sie das auch stärker sich in politische Angelegenheiten einzumischen. Auch daran müssen wir denken. Und leider ist es bei uns so, dass unsere Parteien dazu neigen, diesbezüglich alles so zu belassen wie es ist, es sei denn es gibt wirklich eben mal durch das Bundesverfassungsgericht dann durch irgendwelche Zufälle plötzlich also die Anforderung das Wahlrecht in irgendeinem Punkt zu ändern oder wie wir es jetzt bei der Europawahl oder früher mal bei Kommunalwahlen erlebt haben. Ich möchte, dass wir selber darüber nachdenken wie wir die Demokratie beleben und dazu gehört, die Leute stärker an Entscheidungen zu beteiligen. Ich kenne ein Argument, darauf will ich als letztes eingehen, das besagt, „na, wer weiß, ob die Leute vernünftig entscheiden, wenn sie entscheiden können“. Ich habe eine umgekehrte Erfahrung gemacht. Und zwar glaube ich, die Leute verhalten sich immer dann vernünftig, wenn sie wissen, dass das, was sie entscheiden, auch passiert. Wenn wir auf einen linken Parteitag ein Programm beschließen sollen und wissen, dass es eh keiner umsetzt, das wird furchtbar. Da wird um jeden Halbsatz politisch ideologisch gekämpft bis zum Umfallen. Wenn wir aber am Freitag tagen, und wissen, was wir am Freitag beschließen, passiert am Montag, herrscht Verantwortung. Schauen Sie sich die runden Tische am Ende der DDR an. Die haben so gut wie keinen Blödsinn beschlossen, weil sie wussten, dass das, was sie entscheiden, wirklich zwei Tage später passiert. Hätten sie gewusst, dass das sowieso nicht passiert, wäre da lauter Blödsinn beschlossen worden. So sind wir halt als Menschen unterschiedlich veranlagt, je nachdem, ob wir wissen es geschieht mit Verantwortung oder sozusagen nur zur eigenen Bespiegelung, was ja ein großer Unterschied ausmacht. Also ich denke, es gibt Wege die Regeln des politischen Machterwerbs zu verändern. Wir dürfen bestimmte Seiten wie ökonomischer Macht, Lobbyismus, Medien nicht vergessen und wir müssen trotzdem einen Weg finden das was ja eine Errungenschaft ist,

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nämlich die allgemeinen gleichen freien auch freiwilligen Wahlen aufrechtzuerhalten.

Wahlrecht und direkte Demokratie in Bayern und im Bund Günther Beckstein I. Einführung 845 Millionen Menschen: Mehr als ganz Europa Einwohner hat. Fast das Dreifache der Bevölkerung der USA. 12 Prozent der Erdbevölkerung. – So viele aktive Nutzer hat das Online-Netzwerk Facebook. Mark Zuckerberg hat es 2004 gegründet, da war er 20. Heute ist er 28 und hat 845 Millionen Menschen zusammengebracht. Und von diesen 845 Millionen ist die Hälfte jeden Tag online, aktiv am Bildschirm zugange, mit Freunden im Kontakt aus aller Welt. Diese beispiellose Erfolgsgeschichte der Social Media sagt für mich vor allem eines aus: Die Menschen wollen nicht nur passiv konsumieren, sich nicht nur etwas vorsetzen lassen. Sie wollen aktiv sein. Mitmachen wollen sie – selbstbestimmt und selbstverständlich. Wir leben in einem Zeitalter der Mitgestaltung! Daher kommt es nicht von ungefähr, dass wir auf der politischen Ebene eine so intensive Diskussion über die direkte Demokratie erleben. Ich freue mich, dass sich diese Veranstaltung dieses Themas annimmt. Gleich in zwei Rollen freue ich mich: Als Politiker, der sich mit der direkten Demokratie seit langem beschäftigt. Als Befürworter einer Ausweitung auf die Bundesebene vertrete ich im Übrigen eine Mehrheitsposition in meiner Partei. Seit dem 24. Juli 2012 ist das auch teilamtlich: An diesem Tag ist die erste Mitgliederbefragung in der Geschichte der CSU zu Ende gegangen. Drei Viertel der Teilnehmer an der CSU-Basis im Bezirksverband München stimmten dafür, dass es bei besonders wichtigen Grundsatzentscheidungen wie der Euro-Rettung Volksentscheide auf Bundesebene geben soll [Teilnahme: 34,4 %; Abstimmungszeitraum: 3.–24.7. 2012]. Und ich freue mich als Christ, der hinter diesem Thema immer auch den Punkt der Verantwortung sieht. Bleiben wir kurz bei der Verantwortung: Thomas Mann schreibt 1922 in seiner „Rede von deutscher Republik“: „Der andere Name von Freiheit lautet Verantwortlichkeit.“ Die direkte Demokratie ist meines Erachtens eine große Spielwiese für die Übernahme von solcher Verantwortung in der Freiheit.

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II. Bayern als Beispiel – direkte Demokratie auf Landesebene In Bayern wird diese Spielwiese seit vielen Jahren erfolgreich bespielt. Als eines der wenigen Bundesländer hat Bayern eine echte Tradition der Volksgesetzgebung. Schon bei der Gründung des Freistaates Bayern, in der Bamberger Verfassung von 1919, wurden auf Landesebene Volksbegehren und Volksentscheid eingeführt. Die Verfassung von 1946 hat das dann übernommen. Die Hürden, die das bayerische Volksbegehren zu überwinden hat, werden oft als zu hoch kritisiert. An einer Stelle zu Recht, wie ich meine. Sie müssen sich das Prozedere so vorstellen: • Damit Sie überhaupt ein Volksbegehren beantragen können, brauchen Sie 25.000 Unterschriften von Stimmberechtigten. Das ist in der Regel noch kein allzu großes Problem. • Auch die Zulassung des Volksbegehrens ist nicht das große Hindernis. Der Initiator eines Volksbegehrens ist in der Regel so klug, bereits vor dem ganzen Aufwand zu prüfen, ob sein Begehren möglicherweise unzulässig ist. • Dann aber wird es sportlich: Nach der Zulassung wird ein Eintragungszeitraum festgelegt. Innerhalb von zwei Wochen müssen sich zehn Prozent der Stimmberechtigten in Listen eintragen, damit das Begehren rechtsgültig wird. Die Leute müssen also wie bei einer Wahl in einen Amtsraum ihrer Gemeinde gehen und unterschreiben. Und es ist ja erst einmal nur das Begehren – die Stimmberechtigten können zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch gar nichts entscheiden! Und wenn es dann tatsächlich zum Volksentscheid kommt, müssen sie noch einmal hin. Da braucht der Initiator, der ja nicht über die Mittel und Möglichkeiten von Parteien verfügt, schon eine große Überzeugungskraft. • Überwinde ich die 10 %-Hürde, wird der Gesetzesvorschlag des Volksbegehrens dem Landtag unterbreitet. Nimmt der den Entwurf nicht an, kommt es zum Volksentscheid. Spricht sich eine Mehrheit der Abstimmenden für den Entwurf des Volksbegehrens aus, dann wird dieser zum Gesetz. So ist das Verfahren.

III. Nichtraucherschutz Nun wird gegen die direkte Demokratie oft vorgebracht, sie werte das Parlament ab. Und sei insofern auch gar nicht so demokratisch, wie es scheine, weil das Parlament wegen der höheren Wahlbeteiligung von mehr Stimmberechtigten gewählt werde. Dieses Argument ist mir zu formalistisch. Ich sehe den Volksentscheid nicht als einen Ersatz, sondern als eine gute Ergänzung zum repräsentativen Ansatz. Das Volk wählt für vier oder fünf Jahre. Und es hat zusätzlich die Möglichkeit, den Parlamentariern durch den Volksentscheid punktuelle Weisungen zu erteilen. Dass

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diese Weisungen am Ende die Wahl ersetzen könnten, ist nicht zu befürchten. Dazu ist der Aufwand für einen einzelnen Volksentscheid einfach zu groß. Wir haben in Bayern vor zwei Jahren eine sehr deutliche Weisung per Volksentscheid bekommen. Es ging um den Nichtraucherschutz – ein heftig umkämpftes Thema, das ich als Ministerpräsident regeln wollte. Ende 2007 haben wir ein striktes Rauchverbot eingeführt. Nach heftigen Protesten haben wir ein Vierteljahr später die Bierzelte ausgenommen. In Bayern kommt nach der Kirche gleich das Bierzelt – wenn die Kirche Glück hat. Der Bayer sieht das Bierzelt als einen heiligen Ort, der dem Zugriff der irdischen Mächte entzogen sein muss. Aber dann ging es weiter: 2009 beschloss die neue Koalition eine massive Aufweichung und nahm Nebenräume von Wirtshäusern, kleine Einraumkneipen und Bierzelte dauerhaft vom Rauchverbot aus. Gegen diese Aufweichung wandten sich die Initiatoren des Volksbegehrens. Erfolgreich: In einem Volksentscheid im Juli 2010 stimmten 61 Prozent für einen Gesetzentwurf, der ein Rauchverbot ohne Ausnahmen vorsah. Seitdem hat Bayern das schärfste Rauchverbot in Deutschland. Der Souverän hat abschließend entschieden. Interessant dabei ist: Der Initiator des Volksbegehrens ist ein junger Mann aus Niederbayern, der Theologie studiert hat, Mitglied der CSU war und dann zur ebenfalls christlich orientierten ÖDP gegangen ist. Ich habe einmal mit ihm ein Streitgespräch in der Süddeutschen geführt – das ist ein hochmotivierter Mensch, der sich als Christ und aufgrund seines Christseins in der Pflicht sieht, sich für etwas einzusetzen. Und der dafür auch Anfeindungen in Kauf nimmt. Er wird bedroht, noch heute verweisen ihn viele Wirte des Lokals, und 2010 wurde er auf dem Oktoberfest sogar symbolisch geköpft. IV. Kommunale Bürgerbegehren und -entscheide So weit ist es Gott sei Dank bei einem anderen Volksentscheid nicht gekommen: 1995 gab es in Bayern das Volksbegehren „Mehr Demokratie in Bayern: Bürgerentscheide in Gemeinden und Kreisen“, das zu einem erfolgreichen Volksentscheid führte. Seitdem sehen Verfassung, Landkreis- und Gemeindeordnung in Bayern ein zweistufiges Verfahren aus Bürgerbegehren und Bürgerentscheid vor. Das Verfahren ist einfacher als beim Volksbegehren: Es braucht Unterstützungsunterschriften zwischen 3 und 10 Prozent – je nach Einwohnerzahl der Gemeinde oder des Landkreises. Dann schon kann der Gemeinderat oder der Kreistag das Begehren übernehmen – oder es kommt eben zum Bürgerentscheid. Die mühsame Eintragung bei der Gemeinde innerhalb von 14 Tagen fällt hier also weg. Dem entsprechend erfolgreich ist dieses Modell in Bayern: Zwischen 1995 und 2010 gab es 1.694 Bürgerbegehren. 977 Bürgerentscheide fanden statt, von denen etwa die Hälfte Zustimmung fand und die Hälfte abgelehnt wurde. Auf diese Art und Weise können die Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden und Landkreisen ihre Angelegenheiten auch direkt regeln.

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Das ist nicht nur ein Erfolg für das Prinzip der Subsidiarität. Das ist auch ein Erfolg für die Demokratie insgesamt. Und: Es ist eine Motivation für die Menschen vor Ort, weil sie erkennen: Demokratie ist etwas Lebendiges, Demokratie lebt vom Mitmachen. Das Volk ist in einer Demokratie nicht nur das Wahlvolk, sondern auch das Entscheidungsvolk. Und heimliche Freude ist natürlich auch dabei, wenn der Bürger dem Politiker zeigt, wo es langgeht. Das ist alles gut – eine gewisse Gestaltungskonkurrenz ist sicherlich das Letzte, was einer Demokratie schaden könnte. V. Garmisch: „Über mei’ Wies’n …“ Ich denke dabei mit Schmunzeln an einen Fall aus der jüngeren Vergangenheit: Garmisch-Partenkirchen, am Fuße der Zugspitze gelegen. Die Garmischer Bauern sind ein freundliches und friedliches Volk – aber dumm braucht man ihnen nicht zu kommen. Und, das lassen einen die Garmischer Bauern auch gleich wissen: Über ihre Wiesen und Äcker gehen nur sie selber drüber – niemand sonst. Das führte bei den Planungen für eine Bewerbung um die Olympischen Winterspiele 2018 zu der Situation, dass einige Bauern sich weigerten, Grund herzugeben. Politiker aus München reisten an, legten ihre Krawatten ab, redeten und verhandelten, umwarben die wortkargen, widerstandsfähigen Männer aus dem Oberland – doch es half alles nichts. Die Bauern wollten nicht, aus. Und das Schlimmste war: Mit ihnen schienen immer mehr Menschen in Garmisch gegen die große Vision der Olympischen Winterspiele 2018 in Bayern zu sein. Am Ende kam es in Garmisch-Partenkirchen im Mai 2011 zu zwei Bürgerentscheiden: Eine recht übersichtliche Mehrheit von 58 Prozent sprach sich für die Unterstützung der Bewerbung aus. Und nur 51 Prozent votierten gegen den Bürgerentscheid „Nein zu Olympischen Winterspielen“. Begeisterung sieht anders aus. Die Entscheide hatten damit letztlich zwei Ergebnisse: Sie waren einerseits eine Motivation für die Gewinner, die Olympia-Befürworter. Und gleichzeitig waren sie auch die Mahnung, die Bewerbung noch auf einer deutlich breiteren Zustimmung in der Bevölkerung aufzubauen. VI. Plädoyer für die direkte Demokratie Direkte Demokratie bedeutet also lebendige, diskursorientierte und vitale Politik: • Direktdemokratische Verfahren können den Dampf aus einer Sache herauslassen und die Verhältnisse klären, so wie in Garmisch. Auf diese Weise werden vielleicht auch Wahlkämpfe weniger aufgeregt geführt. • Direktdemokratische Verfahren befördern politische Fragen immer wieder einmal ins Bewusstsein der Bevölkerung. Ein Thema, zu dem ein Volksbegehren angestrengt wird, hat natürlich eine höhere Aufmerksamkeit als ein Thema, das im Parlament ver- und abgehandelt wird. Die Initiatoren eines Volksbegehrens werden

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auf diese Weise zu Botschaftern der Mitmach-Demokratie, die wir uns ja immer wünschen! Nichts schadet der Demokratie so sehr wie Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit macht die Demokratie blutleer. Die Emotionen dagegen, mit denen in Bayern über den Nichtraucherschutz diskutiert worden ist, bringen das Blut zum Pulsieren, teilweise sogar zum Kochen. Recht so! • Und, ein dritter Punkt: Direktdemokratische Verfahren sind Ausdruck des mündigen Bürgers, der durchaus in der Lage ist, seine Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich halte überhaupt nichts von dem Argument, die Bürgerinnen und Bürger seien komplexen Inhalten nicht gewachsen. Demokratie lebt nicht nur von der Informiertheit. Mindestens genau so wichtig ist die Meinung, die auf grundlegenden Überlegungen, auch auf ethischen Überzeugungen gründet. Man muss nicht jede Einzelheit zu einem Sachverhalt kennen, um sich entscheiden zu können. Wäre es so, dann wären wir alle miteinander in der Euro-Krise völlig handlungsunfähig – die Finanzexperten eingeschlossen. Übrigens ist für mich die Euro-Krise geradezu ein Paradebeispiel für die Sinnhaftigkeit direkter Demokratie: Wir gehen bei der Euro-Rettung über die Köpfe der Menschen hinweg Risiken ein, die noch der übernächsten Generation die Luft zum Atmen nehmen können. Wir können es nicht ausschließen, dass unser Lebensstandard durch unsere Rettungsmanöver eklatant sinkt. So etwas kann man doch nicht machen, ohne das ganz real zahlende Volk zu fragen! Oder wollen wir ein Volk von Antieuropäern heranziehen, dass einen jahrzehntelangen Hass auf Europa mit sich herumträgt? Die Frage nach dem Ja oder Nein zur direkten Demokratie wird in dieser Perspektive zur Frage, ob wir unsere Demokratie überhaupt noch ernst nehmen. Aus all diesen Gründen sage ich: Direkte Demokratie ist eine gute Sache. Gerade in Bayern haben wir hervorragende Erfahrungen damit gemacht – inhaltlich bisweilen schmerzliche, aber vom demokratischen Geist her hervorragende. Beim Nichtraucherschutz hat sich sogar gezeigt, dass das Volk noch strenger ist, als es der Gesetzgeber wäre. Gerade als Konservativer verspreche ich mir von der direkten Demokratie Entscheide, die eher auf meiner politischen Linie liegen als auf derjenigen der politischen Linken. Ich würde mir eine Ausweitung direktdemokratischer Verfahren auf die Bundesebene sehr wünschen. Das sollte mit relativ niedrigen Hürden geschehen, aber mit einer ordentlichen zeitlichen Staffelung – so, dass genügend Zeit für eine ausführliche Diskussion in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bleibt. Also: Ein klares Ja zur direkten Demokratie im Bund! VII. Gefahren Ich sage aber auch: Es gibt Gefahren. Ein direktdemokratischer Prozess ist in hohem Maße der Einflussnahme durch die Medien unterworfen. Deren Macht war noch nie so groß wie heute. Statistisch gesehen sitzen wir – also die Deutschen über 14 Jahre – täglich 188 Minuten vor dem Fernseher, hören 186 Minuten Radio und beschäftigen uns etwa eine Stunde mit Printmedien [Quelle: Statisia, Zahlen

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zu 2011]. Und zur Internetnutzung berichtet eine aktuelle Jugendstudie über die junge Generation: „Die Zeit, die Jugendliche nach eigener Einschätzung an einem durchschnittlichen Werktag im Internet verbringen, ist mit 134 Minuten inzwischen deutlich höher als die tägliche Fernsehnutzung […]“ [Jugendstudie JIM, Zahlen zu 2011]. Zu Recht gelten also die Medien als die vierte Säule unserer Demokratie. Mehr denn je haben wir das, was man in der Politikwissenschaft eine Mediokratie nennt. Wenn die Medien ein Thema aufgreifen, dann hat das Wirkung. Das muss gar nicht gleich eine Kampagne sein. Schon die bloße Auswahl des journalistischen Gegenstandes verzerrt die Wirklichkeit. Die medienwirksame Darstellung eines Ausnahmefalls lässt diesen Ausnahmefall in der Wahrnehmung der Menschen schnell zum Regelfall werden. Vorschnell werden dann oft politische Schlussfolgerungen gezogen. Nehmen Sie die Verbrechen an Kindern als Beispiel: Was denken Sie – steigt die Zahl der Gewalttaten an Kindern oder sinkt sie eher? Die Berichterstattung in der Presse lässt eine Zunahme vermuten. In Wirklichkeit aber gab es in den vergangenen Jahren einen Rückgang bei den Todesdelikten bei Kindern. Im Jahr 2000 waren 293 Kinder unter 14 Jahren Opfer von Mord, Totschlag oder tödlicher Körperverletzung. 2009 waren es 152 Kinder, 2010 183. Das sind 183 zu viel, vollkommen klar. Und deshalb ist auch die öffentliche Berichterstattung wichtig. Doch kurzfristige Aufgeregtheit in den Medien kann auch rasch manipulieren – etwa dergestalt, dass die Zustimmung zur Todesstrafe ansteigt. VIII. Schluss Direkte Demokratie braucht also, wenn sie nicht in eine Populismus-Demokratie abgleiten will, eine aufrichtige Begleitung durch die Medien. Auch hier gilt: Je länger Zeit für die Diskussion in einem direktdemokratischen Verfahren ist, desto differenzierter wird das Ganze. Und falls der eine oder andere von Ihnen Journalist ist und Sie sich gerade fragen, wie diese Begleitung aussehen könnte, dann lege ich Ihnen einfach das 8. Gebot ans Herz: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Ein kleiner Hauptsatz in der Bibel – eine große Herausforderung für die schreibende Zunft.

Die politische, die wirtschaftliche und die mediale Klasse: Ersticken sie die Bürger? Hans Herbert von Arnim I. Politische Klasse Wenn man von „politischer Klasse“ spricht, sträuben sich bei Politikern leicht die Haare. Schon das bloße Wort „politische Klasse“ missverstehen sie oft als aggressive Polemik gegen den politischen Betrieb. Dabei verwendet die Politikwissenschaft den Begriff inzwischen ganz neutral bei ihren Analysen. Und auch elder statesmen wie Helmut Schmidt sprechen bewusst von „politischer Klasse“. In seinem Buch „Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral“ (1998, S. 95 ff.) versteht Schmidt unter „politischer Klasse“ Personen, „denen die Politik zum Beruf geworden ist, dem sie ihren Lebensunterhalt verdanken, unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen und unabhängig von ihren politischen Anschauungen.“ Sie unterliegen, wie Schmidt weiter schreibt, „trotz aller Gegensätze in ihren Zielen und Programmen gleichwohl gemeinsamen Verhaltensmustern“ und verfolgen „gemeinsame Interessen“. Zur politischen Klasse gehören vor allem die Abgeordneten des Bundestags und der Landesparlamente, deren Mitglieder sich ein Berufseinkommen bewilligt haben, ebenso die Regierungsmitglieder, die ja häufig auch im Parlament sitzen. Der große Unterschied zu anderen Berufsgruppen besteht darin, dass die politische Klasse über ihren Status selbst entscheidet. Deshalb ist die politische Klasse auch innerhalb der Parteien die eigentlich problematische Gruppe – eben weil sie ihre Stellung mitten im Staat in die Lage versetzt, ihrem Streben nach Macht, Einkommen und Posten selbst nachzuhelfen, wie das kaum ein anderer beruf kann. Wer den Parteienstaat geißelt, wie Richard von Weizsäcker mit seinem berühmten Wort, die Parteien drohten, sich den Staat zur Beute zu machen, meint in Wahrheit die politische Klasse. Andere, zahlenmäßig sehr viel größeren Gruppen in den Parteien, die Mitglieder und die ehrenamtlichen Mandatsträger in den Kommunen, sind über Fehlentwicklungen im Parteienstaat oft mindestens genau so entrüstet wie die Bürgerschaft insgesamt. Die politische Klasse legt nicht nur das eigene Einkommen fest, sondern auch die Finanzierung der eigenen Hilfskräfte und Organisationen: der Abgeordnetenmitarbeiter, der Parteien, der Parlamentsfraktionen und der Parteistiftungen. Es ist allerdings nicht leicht, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, in welchem Umfang die politische Klasse die staatlichen Finanzen für sich nutzt. Das Par-

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teiengesetz nennt nur die unmittelbar an die Parteien gezahlte Summe, die – durch die so genannte absolute Obergrenze gedeckelt – 150,8 Millionen Euro jährlich beträgt. Doch damit wird das tatsächliche Subventionsvolumen grotesk untertrieben. Ausgeklammert bleibt die gesamte mittelbare Finanzierung. Deshalb fordert die Antikorruptionsgruppe des Europarats Deutschland seit längerem auf, eine Gesamtübersicht zu erstellen, in der „die verschiedenen gewährten oder verfügbaren Formen der staatlichen Unterstützungen in einem offiziellen Dokument dargestellt werden.“ Bisher vergeblich. Versuchen wir eine solche Zusammenstellung auf eigene Faust, ergibt sich Folgendes: – Die steuerliche Subventionierung der Parteispenden und Mitgliedsbeiträge macht jährlich über 100 Mio. Euro aus, – die Parteisteuern, die vorab auf die Diäten aufgeschlagen werden betragen über 50 Mio. Euro, – die Mittel für Fraktionen über 200 Mio., – und die Staatsgelder für die persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten betragen weit über 200 Mio., – die Parteistiftungen erhalten rund 440 Mio., von denen rund 340 Mio. im Ausland verwendet werden. Rechnet man alles zusammen (und dabei von den Stiftungen nur ihre Inlandsausgaben), ergibt sich ein Gesamtvolumen der staatlichen Parteienfinanzierung von rund 840 Mio. Euro – fast sechsmal so viel wie die offen ausgewiesenen 150,8 Mio. Euro. Und das Volumen wächst in großen Sprüngen. Der Anteil der Staatsfinanzierung an den Gesamteinnahmen der Parteien, also ihre Staatsquote, wird offiziell mit durchschnittlich 40 Prozent angegeben. Tatsächlich beträgt sie rund 90 Prozent. Während das Bundesverfassungsgericht die Selbstbewilligung der direkten Staatsfinanzierung begrenzt hat – deshalb nur 151 Millionen -, finden die Sicherungen gegen Übermaß auf die Fraktionen und die Abgeordnetenmitarbeiter des Bundes bisher keine Anwendung: weder die absolute noch die relative Obergrenze, noch schließlich auch der Gesetzesvorbehalt. Die Folge ist eine wahre Explosion der Staatsmittel. Diese haben sich in den letzten 40 Jahren vervierzigfacht. „Das Geld fällt wie Manna vom Himmel“ erstaunte sich der Abgeordnete Konrad Schily, der als Neuling in den Bundestag gekommen war. Die Mittel werden vielfach auch für Parteizwecke verwendet – zu Lasten der Bürgernähe der Parteien und der Chancen kleinerer außerparlamentarischer Konkurrenten. Für eine solche habe ich deshalb im Juni eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht eingebracht, die auf meiner Homepage eingesehen werden kann. Wie sehr die Verengung des Parteibegriffs das eigentliche Gewicht der Parteien versteckt, zeigt sich auch am Personal. Während die Parteien rund 1.000 Mitarbeiter bezahlen, beschäftigen allein die Bundestagsabgeordneten rund 6.500 Mitarbeiter auf Staatskosten, die allerdings nur zum Teil vollzeit-beschäftigt sind. Jedes Mitglied des Hohen Hauses hat monatlich rund 20.000 Euro für persönliche Mitarbeiter zur Verfügung. Wenn das neue Wahlrecht

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den Bundestag nach der Wahl im nächsten Jahr aufbläht, wird angebaut werden müssen – vor allem für die vielen Mitarbeiter. Unter den Bundesländern schießt Bayern den Vogel ab. Im Freistaat können Landtagsabgeordnete sogar Geschwister und Vettern auf Staatskosten einstellen, also ganz legal Vetterles-Wirschaft betreiben. Auch über das Wahlsystem, also darüber, nach welchen Regeln Abgeordnete gewählt werden, entscheidet die politische Klasse in eigener Sache, so etwa über Sperrklauseln, mit denen sie sich unliebsame Konkurrenz vom Leibe hält oder über starre Wahllisten, mit denen Parteien und Abgeordnete sich die Personal-Auswahl vorbehalten und den Wähler davon weitgehend ausschließen. Ohne Parteibuch ein bezahltes Mandat zu erhalten, erscheint ohnehin fast unmöglich. Viele andere staatliche Ämter vergibt die politische Klasse ebenfalls, angefangen bei den Richtern des Bundesverfassungsgerichts, die die Union und die SPD im Wesentlichen unter sich aufteilen, bis hin zur Einstellung und Beförderung von Beamten und Richtern, bei denen oft das Parteibuch den Ausschlag gibt. Das kann zwar verfassungswidrig und sogar strafrechtliche Untreue sein. Aber wo kein Kläger, da kein Richter, und die Staatsanwälte sind in Deutschland der Politik unterstellt. Auch Sanktionen gegen individuelles Fehlverhalten in den eigenen Reihen beschließt die politische Klasse in eigener Sache – oder sie beschließt sie eben nicht. Deshalb gibt es immer noch keinen wirksamen Straftatbestand gegen Abgeordnetenkorruption. Auch das hat der Europarat gerade wieder scharf gegeißelt. Und auch die Ratifikation der UN-Konvention gegen Korruption verschleppt der Bundestag seit Jahren – aus demselben Grund. Es ist mir unbegreiflich, dass die große Mehrheit des Bundestags sich das gefallen lässt, nur um einigen Schwarzen Schafen nicht zu nahe zu treten. Oder steckt etwa mehr dahinter? Fürchten die Blockierer in den Reihen der Union und der FDP vielleicht um eine Einschränkung des Privilegs, neben dem voll bezahlten Abgeordnetenberuf noch unbeschränkt dazu verdienen zu können? Innerhalb der politischen Klasse muss allerdings unterschieden werden. Während das Gros der politischen Klasse von fraktionsübergreifenden gemeinsamen Interessen getragen wird, die gleichzeitig befriedigt werden können, stehen die Spitzengruppen der Parteien in Konkurrenz miteinander: Die Regierungssitze kann nur eine Seite einnehmen und damit die Politik bestimmen, die andere steht in Opposition, und die ist „Mist“, wie Franz Müntefering drastisch formuliert hat. Geht es also um die Regierungsmehrheit, herrscht Kampf. Ist die Mehrheit einmal gewonnen, ist die Versuchung groß, sie für den Machterhalt einzusetzen. Man nennt das dann Wahlgeschenke. Oder man versucht gar, das Wahlrecht zu selbigem Zweck zu instrumentalisieren. Ein Beispiel war das vorletzte – inzwischen vom Bundesverfassungsgericht kassierte – Bundes-Wahlgesetz, mit dem die Koalitionsmehrheit Überhangmandate weiterhin unbegrenzt zulassen wollte. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert der Kampf der politischen Eliten um die Macht so sehr, dass die Gemeinsamkeiten der politischen Klasse leicht in den Hintergrund geschoben werden. Wie wir jetzt erkennen können, sind die Regeln, die den Status der politischen Klasse (ein-

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schließlich der politischen Elite) bestimmen, weitgehend identisch mit den Regeln der Macht, d. h. des Machterwerbs, des Machterhalts und des Machtgenusses. Und die sind besonders wichtig und zugleich besonders gefährdet – eben weil überall die Eigeninteressen der politischen Klasse mit hineinspielen. Drastischen Ausdruck findet die Dominanz des Machterhalts in der derzeitigen Eurokrise, die letztlich auf die exzessive Staatsverschuldung zurückgeht. Ohne die riesigen Schulden, die zu ihrer Bedienung dauernd die Aufnahme neuer Kredite verlangen, wären die Staaten nicht auf die Finanzmärkte angewiesen. Nicht nur Griechenland und andere sog. PIIGS-Staaten, auch Deutschland hat viel zu hohe öffentliche Schulden. Für auf Wiederwahl erpichte Regierungen ist eben die Versuchung groß, mehr auszugeben als sie durch Abgaben einnehmen und das Mehr mit Krediten zu finanzieren. So kann die Regierung dem Volk Wohltaten erweisen, ohne die Bürger gleichzeitig mit höheren Steuern zu belasten. In Wahrheit ist die Last nur in die Zukunft verschoben – im Zweifel in die Amtszeit späterer Regierungen. Das süße Gift des Schuldenmachens führt schließlich zum völligen Verlust der politischen Handlungsfähigkeit. Die exzessive Staatsverschuldung ist natürlich nicht die alleinige Wurzel der Euro-Krise. Eine andere beruht auf dem untauglichen Versuch, wirtschaftlich-kulturell völlig unterschiedliche Länder unter einer gemeinsamen Währung zusammenzuketten und ihnen die Möglichkeit der Anpassung durch Ab- und Aufwertung ihrer Währung zu nehmen. Der fatale Versuch, Ungleiches gleich zu schalten, spiegelt sich in einem ganz anderen Bereich besonders deutlich wider: in der Angleichung der Diäten von Europaabgeordneten. Seit 2009 erhalten alle Mitglieder des Europäischen Parlaments gleich hohe Diäten. Das klingt auf den ersten Blick gerecht, und die Öffentlichkeit ist auf diese Brüsseler Sprachregelung auch meist reingefallen. Tatsächlich ist es grob ungerecht. Der Gleichheitssatz verlangt nämlich nicht nur Gleiches, gleich, sondern auch Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Einkommensverhältnisse in den Mitgliedstaaten sind aber völlig unterschiedlich. Ein Monatsgehalt von 8.000 Euro kommt für Abgeordnete z. B. aus Polen, Tschechien oder Rumänien einem Lottogewinn gleich, mit dem sie doppelt oder dreimal so viel haben wie ihre Staats- oder Ministerpräsidenten und zwanzigmal so viel wie ein Durchschnittsbürger. Zu ähnlichem Aberwitz führt die einheitliche Pauschale für Mitarbeiter von Abgeordneten von rund 21.000 Euro im Monat. EU-Abgeordnete aus dem Osten können damit sehr viel mehr Personen für sich arbeiten lassen und damit auch Einfluss „kaufen“ als ihre Kollegen im Westen. So beschäftigt z. B. der rumänische Abgeordnete George Sabin Cutas auf Kosten der Steuerzahler zwei Assistenten in Brüssel und nicht weniger als 21 Assistenten zu Hause. Dieses Beispiel scheint mir geradezu ein Symbol dafür, wie unsinnig es ist, wirtschaftlich-kulturell völlig Verschiedenes gewaltsam zusammen zu ketten. Aber mangels wirksamer öffentlicher und anderer Kontrollen – die Kontrollmängel sind auf europäischer Ebene noch viel größer als

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auf nationaler Ebene – fehlt in der EU eben häufig das nötige Gegengewicht gegen Fehlentwicklungen. In der rein parlamentarischen Demokratie ist es unvermeidbar, dass die politische Klasse selbst ihren Status bestimmt. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Diätenurteil von 1975 festgestellt und deshalb eine wirksame öffentliche Kontrolle angemahnt und häufig auch selbst eine besonders intensive öffentliche Kontrolle vorgenommen, etwa hinsichtlich Teilen der staatlichen Parteienfinanzierung und des Wahlrechts. In den Bundesländern steht mit der direkten Demokratie aber auch ein alternatives Gesetzgebungsverfahren zur Verfügung. Hier entscheidet dann nicht die politische Klasse in eigener Sache, sondern der Auftraggeber, das Volk, was die Abgeordneten und die Parteien für ihre Vertretung erhalten, in welcher Weise es seine Vertreter bestellt und generell über die Regeln der Macht. Was dabei herauskommt, sieht man an der Schweiz. Dort besteht selbst auf Bundesebene ein nebenamtliches Milizparlament, von den Kantonsparlamenten ganz zu schweigen. Eine besondere staatliche Parteienfinanzierung gibt es nicht, und das Wahlrecht ist ausgesprochen bürgernah. II. Die mediale Klasse Von „medialer Klasse“ ist häufig in der Zusammensetzung als „politisch-medialer Klasse“ die Rede, so auch in einem Beitrag der SZ vom 7.4. 2011 („Das Unbehagen an der politisch-medialen Klasse“). Darin kommt der große und offenbar immer weiter noch zunehmende Einfluss der Medien auf die Politik und auf das Verhalten der Politiker zum Ausdruck. Hervorzuheben ist etwa der Druck zur Personalisierung und zur Inszenierung. Ferner die Macht, Personen hochzujubeln oder sie in den Dreck zu ziehen. Politikern und Journalisten haben aber auch Manches gemeinsam. So erliegen beide leicht der Gefahr, im gemeinsamen Korpsgeist vom gemeinen Volk abzuheben. Das spiegelt sich dann in Schlagwörtern wie „Raumschiff Berlin“ und „Planet Brüssel“ wider, findet sich aber auch in den Landespressekonferenzen. Ein Beispiel aus eigenem Erleben: Als ich 1988 mit einem Gutachten für den Bund der Steuerzahler den hessischen Diätenfall aufdeckte, mussten wir uns an überregionale Medien wenden, den Spiegel und das heute-journal. Darauf musste das Gesetz zurückgenommen werden, und der Präsident des Landtags und sein erster Stellvertreter mussten zurücktreten. Die Landespressekonferenz in Wiesbaden hatte, als das Diätengesetz ein halbes Jahr vorher verabschiedet worden war, nichts Schlimmes daran finden können. III. Die wirtschaftliche Klasse Noch ein Wort zur wirtschaftlichen Klasse. Hier sei noch mal Helmut Schmidt zitiert (Schmidt, 95): „Die politische Klasse hat den größten Anteil an der tatsächlichen Entscheidungsmacht im Staat und in der Gesellschaft. Den zweitgrößten Teil haben die Manager in den oberen Etagen der großen privatwirtschaftlichen Unter-

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nehmen und ihrer Verbände. Schon vor einem halben Jahrhundert hat der Amerikaner James Burnham für sie den Begriff ,mangerial class‘ geprägt; heute erscheint er voll gerechtfertigt.“ (96:) Es geht um „Gruppen von Managern, die ihr eigenes materielles Interesse zusammenhält,“ und, das sei ergänzt, auch über ihren finanziellen Status selbst entscheidet. In den Aufsichtsgremien, die mit den Vorstandmitgliedern deren Bezüge aushandeln, sitzen nämlich häufig Bosse anderer Unternehmen, die dann selbst von höheren Chefgehältern profitieren. Da bei Festlegung der Konditionen andere Vorstandschefs als Bezugsgröße dienen, ist es für alle vorteilhaft, wenn das Niveau insgesamt hochgetrieben wird. Auf Grund derartiger Über-Kreuz-Verquickungen, wird mittelbar in eigener Sache entschieden. Hinzu kommt, dass es für die eine Seite nicht um ihr eigenes Geld geht, für die andere Seite aber sehr wohl, und diese deshalb weit stärker motiviert ist, hart zu verhandeln. Die macht der Wirtschaft beruht vor allem darauf, dass sie über Investitionen und Arbeitsplätze verfügt – und über viel Geld und ein Heer von Lobbyisten. IV. Resümee Insgesamt gesehen, werden die politische, die wirtschaftliche und die mediale „Klasse“ durch vier Merkmale gekennzeichnet: – Das eigene Interesse an Macht, Posten, Geld und Einfluss dominiert, und zwar nicht nur wenn es direkt um den eigenen Status geht. Auch bei allen anderen Entscheidungen spielt die Frage mit hinein, wie sich das auf die eigene Situation auswirkt. – Die Dominanz des eigenen Interesses wird kaschiert. Stattdessen wird das Gemeinwohl vorgeschoben – nach der Devise: Was gut ist für die CDU oder die Deutsche Bank oder die Bildzeitung, ist gut für Deutschland und Europa. – Der Einfluss der Bürgerschaft, von der eine wirksame Kontrolle der politischen, der wirtschaftlichen und der medialen Klasse ausgehen könnte, wird minimalisiert. – Die Kontrolle durch Medien und Gerichte erfolgt nur punktuell und kann schleichende systemische Wandlungen kaum erfassen, obwohl diese die Menschen als Bürger immer weiter ersticken. Das sieht man beispielhaft an der Eurokrise. Daraus erwächst eine Real-Verfassung, die hinter der Formal-Verfassung des Grundgesetzes steht und die Abläufe weitgehend dirigiert.

Europa schafft sich ab Dirk Schümer Europa schafft sich ab – dieser Titel ist nicht zufällig dem Bestseller von Tilo Sarrazin entlehnt, wenngleich hier gleich klargestellt werden soll: Es geht nicht um die bundesdeutschen Reizthemen Zuwanderung und Bildung, Islam und Bürgerrechte. Die Parallele ist eine andere, historische. Wann ist der Moment gekommen, dass ein gewachsenes System in seiner Grundordnung in den Nähten kracht? Oder konkreter: Kommt die Europäische Union, die nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und nach dem millionenfachen Morden der Nationalsozialisten, nach der kommunistischen Diktatur den Kontinent in eine Zone des Friedens und des Wohlstands verwandeln half – kommt diese EU nun an ihre Grenzen und schlingert in eine lange Existenzkrise? Glaubt man führenden Europapolitikern, und das sind nach Lage der Dinge alle namhaften Staatsmenschen unserer Tage, dann befindet sich Europa in der tiefsten Krise seit den Römischen Verträgen von 1958. Besonders europhile Lenker, quasi unisono die deutsche Sozialdemokratie, die mit der Westorientierung lange ihre Probleme hatte, rufen in der Krise verzweifelt nach einem Mehr, nicht nach einem Weniger an Europa. Und Angela Merkel, auf deren Führungsstil und europapolitische Entscheidungen in der Finanzkrise besonderes Gewicht liegt, hat es noch drastischer ausgedrückt: Wenn der Euro scheitert, dann scheitert auch Europa. Gegenüber einer solchen Panikparole, auf die noch zurückzukommen sein wird, soll hier etwas begriffliche Klarheit geschaffen werden, was ein gelungenes Europa überhaupt sein mag. Und worauf ein vermeintliches „Scheitern“ der EU im Detail hinauslaufen könnte. Ist Europa eine Weltmacht als Staatenbund mit einer unifizierten Regierung, einer Verfassung, einer Währung, einer übergeordneten Kultur und Wertordnung? Oder ist Europa ein pragmatisch gefasster Wirtschaftsraum, der schrittweise zwischenstaatliche Lösungen für Probleme vom Güteraustausch bis zum Reiseverkehr, von Fischerei bis Zollpolitik, von Verbrechensbekämpfung über Stromerzeugung bis zur Lebensmittelkontrolle findet? Spannend an der gegenwärtigen Krise ist, dass mindestens eine der beiden Visionen scheitern wird: Entweder Europa fährt unter dem Eindruck der Finanzkrise den rabiaten Vereinheitlichungskurs zurück oder wird dazu gezwungen. Dann hätte sich der Bundesstaat mit Einheitsregierung als Utopie am Horizont der europäischen Vereinigung auf lange Zeit erledigt. Oder die bisherige stufenweise Entwicklung von unten voller Ausnahmeregelungen (man denke nur an England, aber auch an ärmere, rechtsstaatliche unterentwickelte Länder wie Bulgarien) wird qua dramatische Initialzündung in einen Superstaat umgeschmolzen, dann drohen dabei Grundprinzipien wie Subsidiarität, regionale Identität, wirtschaftliche Gerechtigkeit und nicht zuletzt

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die Demokratie an sich auf der Strecke zu bleiben. Von dieser letzteren, inzwischen ganz realen Gefahr möchte ich hier handeln. Schauen wir uns die politischen Optionen in Krisennationen wie Griechenland, Spanien, Portugal, Irland – also einem Riesenraum innerhalb der EU mit Millionen von Bürgerinnen und Bürgern – realistisch an, dann hat hier der ökonomische Zwang politischen Richtungsstreit, Mehrheitsmeinung und Willensbildung qua Wahlen bereits außer Kraft gesetzt. Schauen wir nach Griechenland: Hier besteht die Demokratie seit mindestens zwei Jahren nurmehr formal. Gerade die beiden Parteien, Pasok und Nea Dimokratia, hatten im Wechsel ihre jeweilige Klientel mit immer neuen Wohltaten in Staatsdienst und aus EU-Subventionen der Landwirtschaft und Fischerei dreist versorgt und immer neue Versprechungen einer güldenen Zukunft gemacht. Ohne dass von der einstigen restideologischen Aufteilung in konservativ hier und sozialistisch dort noch das Geringste übrig wäre, ziehen beide Bewegungen am selben Strang und versuchen, für ihre Klientel zu retten, was aus der Konkursmasse zu retten ist. Über Details dieses Jammertheaters ist hier nicht zu reden, das kann man als aufmerksamer Medienkonsument leidvoll tagtäglich überprüfen. Uns interessiert hier die gespenstische Wandlung demokratischer Mehrheitsbildung über einen Wettstreit von Ideen und Meinungen in eine schiere „Wählerbestechungsdemokratie“, die danach umschlägt in puren Sparzwang einerseits, Erpressung der Gläubiger mit Gesamtbankrott andererseits. Mit einer Scheindemokratie sind die Griechen in den Konkurs gerutscht. Eine demokratische Alternative, wie die Unterfinanzierung ihres Gemeinwesens zu lösen wäre, steht weiterhin nicht auf der Agenda. Ein Bürger, der einen radikalen Abbau des aufgeblähten Staatsapparats, eine gerechte Steuerlast und Wettbewerbsfähigkeit als Grundlage einer zukunftsfähigen Demokratie sucht, kann auf dem Wahlzettel keine Partei finden. Stattdessen Bewahrer des Status Quo, die alten Bankrotteure notabene, abenteuerliche Spinner, die volle Kredite ohne Rückzahlung fordern und zur Not die Gläubiger, zuvörderst Deutschland, beschimpfen oder orthodoxe Kommunisten, orthodoxe Christen mit rechtsradikalen Pogromprogrammen. Nicht zu Unrecht haben Analysten und Medienbeobachter oft diese Lage mit der Agonie der Weimarer Republik verglichen; eine Jugendarbeitslosigkeit von über sechzig Prozent und immer neue Entlassungswellen samt Verelendung ganzer Schichten und Regionen plus bürgerkriegsähnliche Straßenschlachten in den Großstädten zwischen illegalen Zuwanderern und Schlägertrupps können wir, ohne dass es für all das aus Brüssel Lösungsansätze gibt, noch dazudenken. In solchem Licht gewinnt der Satz, wenn der Euro scheitert, dann scheitert auch Europa, satirische Kraft: Ist der Euro in Griechenland nicht bereits jämmerlich gescheitert? Und härter: Ist Europa nicht gerade wegen des Euro an den Rändern bereits ein Abbruchunternehmen, das den Rest zunehmend in den Abgrund zu reißen droht? Und sind es vielleicht gerade die passioniertesten Europäer, die uns jetzt eine schnellere, vertiefte, mächtigere Union als Rettungsmaßnahme anpreisen, diejenigen, die den nachhaltigen Wohlstand und das friedliche Miteinander der Europäer aufs Spiel setzen?

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Denn schauen wir auf die Austeritätspolitik in Portugal, wo Rudimente von Sozialstaat wieder abgebaut werden, auf Spanien mit hunderttausenden geräumten Immobilienkreditären, auf Irland mit ganzen Gegenden auf Suppenküchenniveau, dann beschleichen sogar Optimisten Zweifel, ob all diese Kahlschläge nach einer harten Sparphase uns wieder in eine gedeihliche Wachstumszeit der guten alten EU zurückführen werden. Indessen sind an „notleidende“ Banken 1.6 Billionen Euro Hilfen überwiesen worden. Ob das eine kohärente Bürgergesellschaft überlebt? Und blicken wir mit etwas Fernsicht auf Deutschland, dann sind die Grundprobleme ja nicht strukturell anders, nur hat Deutschland einstweilen noch Kredit: Doch auch bei uns ist der Staat unterfinanziert, der öffentliche Dienst gegenüber der Realwirtschaft massiv bevorteilt und dadurch auch politisch dominant, auch hier gibt es Zuwanderung ohne Eingliederung, auch hier machen die politischen Parteien weiter mit der einen Hand Geschenke und mit der anderen Hand Schulden, ohne dass eine Rückzahlung irgendwie politisch machbar wäre. Gespenstisch ist es schon, wenn die strengen Gründungskriterien des Euro beim Staatsdefizit und bei den Schulden momentan einzig von Ländern wie Bulgarien oder Lettland erfüllt werden – weil diese Nationen gar keinen Sozialstaat zum Aufblähen hatten, und weil sie außerhalb der Eurozone nie die Kredite bekamen, die sie jetzt nicht mehr zurückzahlen könnten. Die Ärmsten sparen am besten. Ökonomen können, wie das die Mathematik in der Wirtschaft leider meist erst hinterher vermag, die klaren Gründe für alle Krisenländer in der Eurozone angeben. Die niedrigen Zinsen und die anfängliche Stabilität der Gemeinschaftswährung haben Inflations- und Schuldenländer wie Griechenland und Italien dazu bewegt, den Etat aus diesen vom Himmel gefallenen Billigkrediten zu finanzieren und auf Konsum statt Produktion zu setzen – was bei den Wählern aller Couleur gut ankam. Die Rückzahlung der Kredite erfolgt in Euro, welche die Finanzminister jener Nationen aber nicht wie früher beliebig nachdrucken drucken konnten, so dass der Bankrott naherückte – wie bei einem Spieler, dessen Kassen sich im Kasino leeren, der aber von seiner Sucht nicht lassen kann. Seither schreit der Spieler nach frischem Spielgeld und die gemeinsame Bank muss immer neue Summen herausrücken, damit das System nicht sofort kracht. Alle werden zu Zockern. Dieweil ist klar, dass die Chips immer weniger wert werden, auch und gerade bei den sparsamen Mitspielern. Entgegen der in Sonntagsreden und im EU-Parlament beschworenen Solidarität haben wir jetzt eine politische Zockertruppe vor uns, in der keiner keinem traut, in der besonders dreiste Mitwirkende die besonders naiven (und ich denke da auch an Finnland oder die sparsame Slowakei) bereits übers Ohr gehauen haben. Der Streit ist Alltag geworden. Vor der Währungsunion hätte es in Griechenland – pro Kopf auch ohne Sondergelder größer Nutznießer der EU-Strukturfonds – jedenfalls keinen Grund gegeben, Deutsche pauschal als Nazis und Massenmörder und Totengräber Europas zu diffamieren. Kommen wir auf den politischen Preis zurück, den Europa als demokratisches Gebilde für diese wirtschaftliche Unvernunft zu zahlen hat. Die Demokratie erweist sich

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wieder einmal nur dann als eine sehr solide und beliebte Staatsform, wenn sie Mehrwerte zu verteilen hat und sich – man denke an die Sowjetunion – gegen einen bedrohlichen Außengegner formieren kann. Mit dieser simplen Formel ist die EU großartig gediehen: Es kam zur Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse von Lappland bis Andalusien über Wirtschaftswachstum. Salopp, aber keineswegs verkehrt, könnte man sagen: Die Industriegewinne entlang von Rhein und Maas und Seine und Po werden im Urlaub auf Kreta, Madeira und Mallorca ausgegeben – damit haben die Leute dort dann Geld, die Produkte von Siemens und Peugeot, Bosch und Philips zu kaufen, so dass langfristig nicht einmal mehr die Völkerwanderung der Gastarbeiter mehr nötig ist, um Europa qua Wirtschaftsraum als Wohlfahrtsstaat zu tragen. Sogar demo- und geographisch große Volkswirtschaften wie Polen, Tschechien, Rumänien müssten sich nach diesem Vorbild über Strukturfonds eingliedern lassen, während die Konzerne in solchen Ländern hauseigene Billiglohnzonen bekommen. Schief geht alles erst – das sagt jetzt sogar George Soros, der lange am Euro gut verdient hat – seit es die gemeinsame Währung gibt. Jetzt hat sich der Wind gedreht. Geht es aber ums Sparen, um Umverteilung aus einer schrumpfenden Volkswirtschaft, um gerechte Verteilung von Lasten über Generationen, steht die Demokratie in Europa sehr viel schlechter da. Noch einmal: Wenn in Griechenland unter dem drohenden Kollaps der Klientelgesellschaft die verfeindeten ideologischen Lager an einem Strang ziehen und die Regierung zusammen ohne erkennbare Unterschiede stellen, dann war das demokratische Kräftemessen vorher offenbar reines Theater. Und schlimmer: Wie soll vom Trümmergrundstück der Ideologie eine neue politische Willensbildung mit Programmatik entstehen, wenn sich alles politische Handeln ausschließlich ums Erbetteln oder besser: Erpressen neuer Kurzzeitkredite dreht? Können wir uns vorstellen, was im Mutterland der Demokratie noch an würdiger Civil Society übrig ist, wenn in ein paar Jahren immer weitere Aufschübe für Zinsrückzahlungen und Schuldenerlasse eingefordert werden? Und gibt es eine Alternative für eine solche Entwicklung? Anderes Beispiel Italien: Hier hat Silvio Berlusconi die fröhliche Ausgabenpolitik der linken, gewerkschaftsorientierten Parteien durch ein dreistes Enrichez-Vous übertrumpft. Auch hier also hemmungslose Kreditfinanzierung des Staatshaushaltes bei gleichzeitigen Steuersenkungen: Notabene Berlusconi hielt sich als Regierungschef nicht nur Strafverfolgung wegen eigener massiver Wirtschaftsvergehen vom Hals, sondern schaffte kurzfristig die Erbschaftssteuer ab (das sparte ihn persönlich Milliarden), schaffte Grundsteuern ab (das bescherte ihm Millionen Wählerstimmen). Er sparte nur beim Staatsfernsehen und konnte gegenüber der von ihm selbst geschwächten Konkurrenz Werbegeld und Zuschauerquote seiner eigenen Sender steigern. Am Ende strukturierte er sogar noch die Frequenzen und Empfangbarkeit der Sender um. Das Wort Haushaltspolitik bekommt da einen ganz frischen Klang: Es geht hier um den Privathaushalt des Regierungschefs.

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So weit so schlecht. Man sollte nun nach demokratischen Regeln erwarten, dass, wenn das Geld alle ist, so jemand von den Wählern aus dem Amt gejagt wird, doch es waren die Märkte, die gestiegenen Zinsen für italienische Staatspapiere, die Berlusconis parlamentarische Mehrheit kippten und ihn unter Absingen von Lobeshymnen für sich selbst zum Abtreten zwangen. Seither erleben wir in einem der Gründerstaaten der EWG, im Land der Römischen Verträge eine Simulation von Demokratie. Im Parlament beschäftigen sich die Parteien weiter ausschließlich mit den beliebten Grabenkämpfen, Intrigen um Pöstchen, Medienpoker um zukünftige Bosse, um Skandale veruntreuten Geldes und Spesenmaximierung. Gleichzeitig regiert ein Kabinett von politfernen Technokraten. Was die teuerste Politikerkaste der Welt mit ihrem Weltrekord an Dienstwagen, Abgeordnetendiäten, Spesen und Freizeit leisten sollte, übernehmen nun Externe: Gesetze ausarbeiten, Außen- und Sicherheitspolitik machen, einen Etat zusammenrechnen, sich der Bevölkerung stellen. Und das ist sicher die beste, vernünftigste Regierung der letzten Jahrzehnte, nur leider eine aus dem Zeitalter der Post-Demokratie. Hier hat sich also mitten in Europa und ohne Probleme mit der Verfasstheit der EU eine Scheinwelt, ein Papierparlament eingerichtet, dem Buchstaben der Verfassung gemäß legal, doch ohne jede Legitimierung bei den Wählern, denen sich kein Minister, kein Premier (und in Italien sowieso kein Präsident) stellen musste. Und vor der nächsten Wahl sollen alle Technokraten wieder abtreten – bis zur nächsten Existenzkrise. Das Theater erinnert nicht zufällig im Detail an die Brüsseler Herrschaft von technokratisch und über Seilschaften zusammengestellten Kabinetten, die sich keinem Votum stellen müssen. Mit dem nicht unberechtigten guten Gewissen, es ja viel besser zu können und zu machen als die wetterwendischen, gerne korrupten, volksnahen und daher populistischen Politiker legitimieren sich solche Ad-hoc-Herrschaften selbst. Aber sind sie auch demokratisch? Sprechen wir hier ausnahmsweise einmal vom nur halb gelungenen Staatsstreich krimineller Politiker in Rumänien – alle Betreiber sind noch in Amt und Würden. Hier hat Europa wenigstens den gröbsten Verbiegungen der Gewaltenteilung bei der versuchten Absetzung von Präsident Basescu Einhalt geboten. Bis auf weiteres. Man hatte hier – wie bei der nicht funktionierenden und korrupten Jurisdiktion in Bulgarien – wohl eh nichts anderes erwartet und blickt längst wieder auf andere Krisenherde. Dass in Bukarest der Verfassungsgerichtshof entmachtet werden konnte, dass ad personam Gesetze gegen den Präsidenten umgeschrieben wurden, dass eine Volksabstimmung nachweislich manipuliert wurde, hat die EU höchstens geärgert – Einschreiten konnte oder wollte sie nicht. Die Regierung des Plagiators Victor Ponta, voller erwiesener vorbestrafter Antidemokraten, bleibt im Amt. Immerhin kosten Rumänien und Bulgarien nicht unzählige Milliarden Euro, das lenkt die Aufmerksamkeit für diese Länder ab. Es gibt wohl wichtigeres. Doch wenn auch in Belgien, dem Sitz der wichtigsten EU-Institute, vorweg der mächtigen Kommission, die nationale Regierung fast zwei Jahre nicht zustande

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kommt, dann darf man getrost von der drohenden Abschaffung der Demokratie in Kerneuropa sprechen: Sämtliche politische Parteien gibt es zwischen Flandern und der Wallonie doppelt, eine Zweisprachigkeit hat sich nicht durchsetzen können, stattdessen beschimpfen die vom Sozialstaat profitierenden Wallonen die einzahlenden Flamen als unsolidarische Spalter und erpressen den Norden mit den Kosten eines realen Zusammenbruchs der Sozialsysteme. Das erinnert fatal an Europa im Großen. Der italienische, seit 150 Jahren andauernde und immer noch ungelöste Dissens zwischen Padanien und dem Mezzogiorno, die sehr realen Abspaltungsgelüste von Katalonien gegenüber dem ärmeren Restspanien sind ganz ähnlich gelagert. Und wenngleich der deutsche Kassenausgleich zwischen Bayern und Bremen, BadenWürttemberg und Berlin noch nicht ähnliche separatistische Dimensionen angenommen hat, geht es hier um dasselbe Prinzip wie beim Dauerstreit Griechenland versus Nord-Euro: Es ist über den Nationalstaat und nun über den Staatenbund ein System entstanden, das Produktivität und Fleiß bestraft und den Empfängern von Transfergeldern die Macht in die Hände gibt, die produktiven Mitbürger mit ihrer Nicht-Kooperation und ihrer Pleitewirtschaft zu erpressen. In der medialen Öffentlichkeit wird das – Beispiel Belgien – gerne andersherum gedreht: Herzlose, egoistische Nabobs verweigern verarmten Massen mit Kind und Hund den Unterhalt. Und in Europa ebenso: Reiche Deutsche stürzen Griechen in Hunger und Elend. Hier ist nun der Punkt, auf die viel zitierten Stoßseufzer von Jean Monnet, einem Vater der Europäischen Einheit, zurückzukommen: Wenn er noch einmal beginnen könnte, dann würde er nicht mit der Wirtschaft, sondern mit der Kultur anfangen. Für Sonntagsreden eignet sich dieses Bonmot prächtig: Ach ja, wir Europäer müssen uns doch nur der gemeinsamen Wurzeln besinnen: Christliches Abendland, Aufklärung, Wiege der Demokratie: Michelangelo und Beethoven, Rembrandt und Ingmar Bergman, Sokrates und Kopernik, Thomas Mann und Václav Havel und und … Mit der Frage nach der Europäischen Identität könnte man Bibliotheken und hundert solcher Tagungen mühelos ausfüllen. Die gemeinsame kulturelle Wertegemeinschaft kann man als allergrößtes Gut auch unserer Staatsformen gar nicht hoch genug einschätzen. Nicht, dass die Gefahr eines Missverständnisses aufkommt, ich würde mich über solche humanen Errungenschaften lustig machen wollen, weil sie uns nicht aus der Patsche helfen. Im Gegenteil: die staunenswerte Duldsamkeit der Deutschen beim Zahlen ohne messbares anti-europäisches Ressentiment, das Ausbleiben einer Volksaufstandes bei den so ungerecht behandelten Osteuropäern, denen trotz großer Armut niemand Geld hinterherwirft – bis hin zu den bewundernswert pro-europäischen Wahlen in den Niederlanden, einem Zahlmeisterstaat, im September – das alles zeigt doch deutlich, dass weite Teile noch so heterogener Schichten von der Friedensordnung Europa, von den Segnungen von Reiseverkehr und Konsumgüterhandel durchaus überzeugt sind. Würde man über den Euro abstimmen lassen, was wohlweislich vor allem in Deutschland nie geschah, dann sähen die Ergebnisse allerdings ganz anders aus.

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Es gibt indes eine sehr reale Bedrohung durch die angenehm unterschiedliche und widersprüchliche Kultur Europas: Die Gesellschaften haben während der Blütephase doch sehr auskömmlich nebeneinander, oft mit dem Rücken zueinander und ohne große Verschränkung existiert. Wenn man die Gründungspapiere der Stahlunion und der EWG liest, wird man merken, dass dies auch gar nicht der Zweck der Union war: Über die wirtschaftliche Verflechtung den gemeinsamen Markt sollten nach Ludwig Erhardt Konflikte, Kriege gar aufgelöst werden. Das hat staunenswert funktioniert. Doch eine Währungsunion benötigt für ein Gedeihen, das wird immer klarer, auch eines gemeinsamen Bewusstseins: Wir sitzen in einem Boot, unser aller Handeln hat Folgen für alle in diesem Boot, es gibt eine Verantwortung für das Gedeihen der Union, und niemand kann auf Dauer die Solidargemeinschaft mit Füßen treten, denn dann geht das Boot unter. Oft mit Gewalt, mit Mythen, öfter noch mit Ausbildung und medialer Beschallung, in jedem Fall mit Geduld haben die Nationalstaaten, oft über Jahrhunderte ein solches Bewusstsein geschaffen. Deutschland als Nation gab es erst, und schlecht von preußischen Junkern zusammengezimmert, ab 1871. Doch das Bewusstsein eines Kultur- und Zivilisationsraumes war älter, hat selbst schlimmste Abirrungen wie die Nazizeit überstanden und hielt bewundernswert bei der Schaffung der deutschen Einheit. Anders als Ost- und Westberliner, Kasseler und Rostocker sehen Griechen und Finnen nicht dieselben Fernsehprogramme, Deutsche und Malteser lesen nicht dieselben Zeitungen, und Iren hängen mit Polen nun einmal nicht in gleicher Weise zusammen wie Bürger von Strasbourg mit denen von Bordeaux. Das sind Allgemeinplätze, jeder Bürger Europas und schon gar jeder Europapolitiker weiß das genau. Doch nun müsste im Eiltempo diese kruziale Hürde übersprungen werden. Europa bräuchte ein gemeinsames Bewusstsein als ökonomische und kulturelle Schicksalsgemeinschaft – und zwar so tiefgreifend im Alltag, dass auch das politische Handeln einzelner Nationen nurmehr mit dem Konzert aller Mitglieder abgestimmt wäre. Dafür, wir erinnern uns an Monnet, müssten die Europäer aber sehr viel mehr von einander wissen, und ein Beamter in Thessaloniki müsste einen Automechaniker in Flensburg als gleichberechtigten Mitbürger ernstnehmen. In den Sphären des Europaparlaments und unter eurokratischen Beamten weiß man natürlich, dass dies aus ganz simplen Gründen der Sprache, der Tradition der Mentalität nicht geht – ganz sicher nicht so blitzschnell. Daher herrscht hier die Verlockung vor, die Daseinsprobleme der Union von oben, als guter Dämon, zu lösen. Auch das hat Tradition: Schauen wir genau hin, dann sind alle Grundsatzentscheidungen von der Union für Kohle, Stahl und Schrott ab 1950 bis zu Schengen und zum Euro von einer kleinen Avantgarde von visionären Verwaltern durchgesetzt worden. Kaum ein Franzose hätte 1955 einer Rechtsgemeinschaft mit den Deutschen zugestimmt, kein Holländer passlose Einreise aus Sizilien gutgeheißen, kein deutscher Gewerkschafter hätte noch vor ein paar Jahren einen Wirtschaftsraum mit portugiesischen und polnischen Billiglöhnen akzeptiert. Doch es ist so gekommen, und lassen wir keinen Zweifel daran, dass das gut war: eine welthistorische Erfolgsgeschichte.

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Doch genau diese Erfolge stehen angesichts der Erpressung durch Banken, bei denen sich die Staaten (alle Staaten) so gerne verschuldet haben, angesichts der Erpressung durch ganze Nationen, angesichts aufflammenden innereuropäischen Hasses auf der Kippe. Es ist, anders als etwa 1990, durchaus fraglich, ob der glühendste Europäer heute eine immer hektischere und tiefere Unifizierung fordern sollte – oder nicht besser auf die Bremse träte, beim Euro eine ökonomische Lösung versuchte (warum nicht die teure Rückkehr zum status ante 1991?). Damit, ja damit nicht der Rahmen überspannt wird und das komplexe Gebäude womöglich zusammenkracht? Im Elfenbeinturm ihrer Gremien und Behörden und in der Panik, keine langfristig von den Wählern getragenen Lösungen parat zu haben, zeigt sich jetzt immer deutlicher das demokratische Defizit der Brüsseler Führungsebene, welches Verfassungsrechtler, Politologen, Soziologen – ich denke an Larry Siedentop – seit Jahrzehnten beklagen: Alle Kommissare sind nicht gewählt, sondern nach Staatenproporz entsandt und ausgekungelt. Das Europäische Parlament hat nicht die Kontrollrechte nationaler Parlamente, kann Haushalt und Kommission nur en bloc stoppen, nicht effektiv in der Tagesarbeit kontrollieren. Dazu sind die Abgeordneten der vom nationalen Kalkül bestimmten Parteiarbeit entrückt, daher blüht quasi systemimmanent Lobbypolitik und Korruption. Außerdem wurden die EU-Wahlen bisher rein von nationalen Diskursen bestimmt, dienten sozusagen für jedes Land als Protestwahlen unabhängig von Politik und Zustand der EU als ganzes. Das soll sich nach dem Vertrag von Lissabon ändern, es soll ein Kommissionspräsident in europaweitem Wahlkampf bestimmt werden, das Parlament kriegt größere Rechte – doch die europäische Öffentlichkeit kann es schon wegen der babylonischen Sprachvielfalt niemals geben. Wie lange nur eine weitere Vertiefung eines europäischen Zivilbürgertums braucht, ob das in der Not auf die Schnelle aus dem Hut zu zaubern ist, darüber kann man mit Hinweisen auf die historische Entwicklung der Nationalstaaten leider nicht pessimistisch genug sein. Schauen wir nur auf Belgien, wo nach 150 Jahren des Miteinanders die beiden Sprachgemeinschaften rapide auseinander driften – eine Gemeinschaft muss nicht notwendig auf Union hinauslaufen, es kann auch Separation herauskommen. Wohl aus dieser Angst heraus kommen dann Vorschläge wie die des deutschen Finanzministers Schäuble: einen guten Dämon als Finanzkommissar und Haushaltswachhund in Brüssel installieren, der schlecht durchgerechnete Etats per Ukas stoppen darf. Doch wäre das auch nur entfernt demokratisch zu nennen? Mit welcher Legitimation kann ein nicht gewählter Funktionär den repräsentierten Volkswillen außer Kraft setzen? Und außerdem haben die Griechen beim Eintritt in den Euro ja vorgemacht, dass man nur Herr über die selbst gefälschten Zahlen bleiben muss, um in den Club der Reichen vorgelassen zu werden. In solch einem Fall hätte die Entmündigung der Bürger, die nun im Bankrott passiert, von der Union weise vorweggenommen und alle Zahlen von Brüssel selbst erhoben werden müssen – man kann sich das Geschrei über die Abschaffung der Demokratie vorstellen. Nun liegt das Kind im Brunnen, und auf das Versagen der Demokratie im Staatenverbund soll mit noch weniger Demokratie im Superstaat geantwortet werden: eine gemein-

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same Finanz- und Steuerpolitik, strenge Etatrichtlinien, ein diplomatischer Dienst für Europa, de facto: eine mächtige europäische Regierung, von der aber gar nicht klar ist, wie sie gewählt werden soll. Und werden sich rechtsstaatliche Player wie das deutsche Verfassungsgericht ohne demokratische Absicherung auf der europäischen Ebene tatsächlich selbst zu Oberlandesgerichten degradieren. Auch diese legale Delegitimation Europas nach dem Muster des französischen Zentralstaates ist keine gute Aussicht. Panikfußball nennt man auf Niederländisch solch ein Verhalten wie Schäubles Notruf: In den letzten Sekunden vor der Niederlage verzweifelt den Ball nach vorne schlagen und auf ein Wunder hoffen. Ich weiß nicht, ob das wirklich funktionieren kann. Auch der Plan einer Wirtschaftsregierung nach französischem Muster hat den Beigeschmack eines Bonmots aus dem Europaparlament: Für die Franzosen ist Europa die Fortsetzung von Frankreich mit anderen Mitteln. Wie verläuft die Willensbildung über Macht, die dann in die nationalen Demokratien massiv hineinregiert? Paradoxerweise müsste man den Griechen am Ende sogar dankbar sein. Ihr Borderliner-Verhalten hat Europa tatsächlich sehr viel enger zusammenwachsen lassen, hat uns die EU als Schicksalsgemeinschaft vorgeführt, nur leider nicht als hehre Idee, sondern im Schlechten, im Kampf jeder gegen jeden. In antiker Metaphorik ausgedrückt: Es könnte auch ein Scherbengericht der Demokratie übrigbleiben statt Lorbeerzweigen in Vasen. Der jüngste EU-Gipfel zur Planung eines gemeinsamen Haushaltes endete jedenfalls wieder mit Streit. Bezeichnend, dass der oberste Lobbyist der EU-Bürokratie Herman van Rompuy schließlich einen Kompromissvorschlag vorlegte, bei dem vor allem an Forschung und Infrastruktur gespart werden sollte – aber kein Cent bei der hoch privilegierten Beamtenkaste der EU-Institutionen. Solcher Geist weist deutlich darauf hin, dass die Funktionäre der Union – so sagte es der britische Premier Cameron – in einem Paralleluniversum leben, das mit der Sparwirklichkeit in den Nationen und Regionen, schweigen wir von Schulen und Familien – absolut nichts zu tun hat. Sollte diese Zentrale immer mehr Macht bekommen, ist jetzt schon deutlich, dass den Akteuren demokratische Legitimation und ehrliches Haushalten vollkommen gleichgültig sein wird. Und Oskar Lafontaine hat erst jüngst in der FAZ die Verfahrens-Legitimation des Nationalstaates und der EU mit den mahnenden Worten von Habermas gegen den notorisch EU-affinen Philosophen selbst gewendet: „Demokratische Selbstbestimmung heißt, dass die Adressaten zwingender Gesetze zugleich deren Autoren sind.“ Mit der EU ist es ähnlich: Wenn hier unsere Lebensverhältnisse von oben reguliert werden, wird aus dem welthistorischen Projekt alles mögliche herauskommen, aber keine Demokratie. Und weiter Lafontaine: „In Deutschland machen in der Folge eines von der rotgrünen Bundesregierung auf den Weg gebrachten Personalaustauschprogrammes Firmenlobbyisten in den Ministerien die Gesetze. Und wenn der Bundestag den Finanzmarkt reguliert, dann liefern Anwaltskanzleien der Großbanken die Tischvorlagen. In Brüssel ist es nicht besser.“ Es ist gespenstisch, dass Karrieren wie die des

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notorischen Banken-Lobbyisten Asmussen quer durch die Parteienlandschaft im Nationalstaat und unter den Augen der kritischen Medien funktionieren. Und es ist klar: Wo keine geschlossene Öffentlichkeit solche Manöver kontrolliert, nämlich auf EUEbene, ist der Einfluss antidemokratischer Kräfte noch viel dämonischer. Zu fordern, an Europa immer mehr Kompetenzen abzugeben, ohne irgendwie demokratische, mediale oder gar bürgergesellschaftliche Beteiligung zu ermöglichen, läuft auf die Abschaffung sogar noch der repräsentativen Demokratie und die Formung eines überstaatlichen Monsters heraus – und sei es auch aus der kurzfristigen Not einer drohenden Unterfinanzierung heraus. Früher lehrten uns die Griechen die Weisheit, heute leeren sie uns die Taschen – das wäre wohl das passende Bonmot für die merkwürdige Dialektik von abendländischer Kulturgeschichte und europäischer Tagesaktualität. Wir wissen heute, dass die altgriechische Demokratie – zwischen Aristokratie, Despotie und Ochlokratie – nicht entfernt mit den Standards der repräsentativen Volksherrschaft freier und gleicher Mitbürger zu vergleichen ist. Sklaven, Frauen, Fremde – also die übergroße Mehrheit – hatten keine Rechte. Immerhin kam die moderne EU, wenn auch weit entfernt von der einzigen echten Demokratie weltweit, nämlich der Schweiz, lange Zeit einem friedlichen Interessenausgleich unter vielen Millionen heterogenen Menschen des Kontinents bereits sehr nahe: verwirklichte und darum durch Kompromisse und Widersprüche geadelte Utopie. Angela Merkel hat jetzt verkündet, dass das Schicksal dieser Utopie an der Währung hängt: Ohne Euro kein Europa. Ich finde es geradezu eine Obszönität des Kapitalismus, unsere europäische Identität am Ende einzig mit dem Geld gleichzusetzen. Und ich habe berechtigte Zweifel, ob die demokratische Staatengemeinschaft diese Münze langfristig aushält. Momentan ist es genau umgekehrt: Mit dem Euro kein einiges, gerechtes Europa.

Defizite im deutschen Wahlsystem Eckhard Jesse I. Drei-Prozent-Hürde für die Wahl zum Europäischen Parlament? Die demokratischen Parteien – CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – scheinen in der demokratietheoretisch zentralen und politisch sensiblen Frage, welches Wahlsystem zu gelten hat, aus den Erfahrungen in der Vergangenheit offenkundig nicht viel gelernt zu haben. Sie verabschiedeten Ende Juni 2013 ein Gesetz, das eine Drei-Prozent-Hürde für die Europawahlen vorsieht. Die FDP war nur bereit, ein solches Vorhaben bei einer Unterstützung durch mindestens vier Fraktionen mitzutragen.1 Das Kuriosum: Am 9. November 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Klausel bei Europawahlen für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung war mit einer knappen Mehrheit von 5:3 zustande gekommen. Zur Vorgeschichte: Der Speyerer Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim hatte am 23. Juli 2009 beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl der deutschen Abgeordneten zur Europawahl erhoben2 – wegen der Fünf-ProzentHürde und wegen der starren Wahllisten. Der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages wies diesen Einspruch am 8. Juli 2010 zurück.3 Daraufhin erhob Hans Herbert von Arnim Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht.4 Das Gericht verwarf die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen deshalb, weil sie die Chancengleichheit der Parteien verletze und nicht der Wahlrechtsgleichheit Rechnung trage.5 Ohne die deutsche Klausel wären 169 Parteien ins Parlament gelangt – statt 162. Das EUParlament wähle im Gegensatz zum Bundestag keine Regierung. Und die Fraktionen im Parlament bildeten sich nicht nach Ländern, sondern nach länderübergreifenden politischen Richtungen. Die monierten starren Listen beanstandete das Gericht nicht.

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Vgl. Günter Bannas, Keine hundertprozentige Sicherheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. Mai 2013. 2 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Einspruch gegen die deutsche Wahl zum Europäischen Parlament vom 7. Juni 2009. 3 Bundestagsdrucksache 17/2200. 4 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Beschwerde gegen die Zurückweisung meines Einspruchs gegen die Gültigkeit der deutschen Wahl zum Europäischen Parlament vom 7. Juni 2009 durch den Bundestag, unter: http://www.dhv-speyer.de/vonarnim/Einspruch%20Europawahl% 202009/Einspruch%20vom%2024. 7. 2009.pdf 5 Vgl. BVerfGE, 2 BvC 4/10 v. 9. November 2011.

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Die Drei-Prozent-Klausel wird nun u. a. damit begründet, dass das Europäische Parlament an Einfluss gewonnen hat und dass sich eine Entwicklung abzeichnet, die auf eine Profilierung von Regierung und Opposition hinausläuft. „Bei einer starken Zersplitterung der Zusammensetzung des EP steigt dann aber auch das Risiko einer anhaltenden Blockade der parlamentarischen Willensbildung, die zu einer Delegitimierung des Europäischen Parlaments im öffentlichen Ansehen führen könnte.“6 Tatsächlich hat sich an der verfassungsrechtlichen Lage des Europäischen Parlaments nichts Wesentliches geändert. Die Proteste von Hans Herbert von Arnim und weiteren Staatsrechtslehrern (u. a. Jörg-Detlef Kühne, Detlef Merten, Hans Heinrich Rupp, Hans-Peter Schneider, Joachim Wieland) gegen das neue Gesetz sind daher begründet.7 So spricht viel dafür, das Bundesverfassungsgericht werde dieses Gesetz als verfassungswidrig bezeichnen. Das wäre nicht die erste Niederlage für die Parteien in heiklen Wahlrechtsfragen. Bei dem jüngsten Versuch, eine Drei-Prozent-Klausel für die Europawahlen zu etablieren, musste der Verfasser an das Vorhaben der Parteien denken, eine „DreiLänder-Klausel“ zu verankern.8 Danach sollten solche Parteien, die nicht mindestens 0,5 Prozent der Stimmen bei Bundestags- oder Europawahlen erreicht hatten, nur dann in den Genuss der staatlichen Teilfinanzierung gelangen, wenn sie künftig in mindestens drei Ländern 1,0 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Begründung: Eine kleine Partei könne in einem Stadtstaat mit relativ wenigen Stimmen die Ein-Prozent-Hürde überwinden und das dann auch für die staatliche Teilfinanzierung mit Spenden aus anderen Ländern nutzen. Diese problematische Regelung9, deren Inkrafttreten zum 1. Januar 2005 vorgesehen war, scheiterte zu Recht am Bundesverfassungsgericht, das am 26. Oktober 2004 den Klagen der Ökologischen Partei Deutschlands und der „Grauen“ Recht gegeben hatte. So wäre etwa für die „Bayernpartei“ oder für eine „Sachsenpartei“ eine beträchtliche Erschwernis eingetreten. Das ambivalente Verhältnis der Parteien zur Transparenz des Wahlsystems zeigte sich auch in der jüngsten Vergangenheit. Das Bundesverfassungsgericht hatte in spektakulären Urteilen 2008 einen Teil des Wahlgesetzes für verfassungswidrig befunden, ebenso 2012 die Neuregelung (Kapitel 2). Das deutsche Wahlsystem ist im Kern funktionstüchtig (Kapitel 3). Allerdings weist die Fünf-Prozent Hürde (Kapitel 4) ebenso negative Nebenwirkungen auf wie das Zweistimmensystem (Kapi6

Bundestagsdrucksache 17/13705. Hans Herbert von Arnim u. a., „Das Gericht hat entschieden“. Appell wider die Einführung einer Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl, in: Der Spiegel v. 3. Juni 2013, S. 15: „Da seit den erst vor eineinhalb Jahren erlassenen Urteil keine wesentlichen neuen tatsächlichen oder rechtlichen Entwicklungen ersichtlich sind, wären die Einführung einer Drei-ProzentKlausel in das Europawahlgesetz nicht nur verfassungswidrig, sondern sie darf schon wegen der Bindungswirkung des Urteils von 2011 nicht beschlossen werden.“ 8 Vgl. Bundestagsdrucksache 14/8778. 9 Vgl. Jan Köhler, Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbsbedingungen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006, S. 214 – 217. 7

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tel 5). Im ersten Fall plädiert der Verfasser für eine ergänzende Regelung, im zweiten Fall für eine Abschaffung. Es gibt eine Reihe von sinnvollen und weniger sinnvollen Reformvorschlägen (Kapitel 6). Von all diesen Punkten soll die Rede sein, um (tatsächliche oder vermeintliche) Defizite im deutschen Wahlsystem zur Sprache zu bringen. II. Bundesverfassungsgericht und Bundestagswahlsystem seit 2008 In der Vergangenheit war das Bundesverfassungsgericht bei grundlegenden Entscheidungen zum Wahlsystem weithin auf der Linie des Gesetzgebers.10 Das sollte sich in der Gegenwart ändern. Am 3. Juli 2008 hatte das Bundesverfassungsgericht wegen des paradoxen Effekts des inversen Erfolgswertes – mehr Stimmen könnten zu weniger Mandaten führen, weniger Stimmen zu mehr Mandaten – Teile des Wahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt11 und den Gesetzgeber aufgefordert, bis zum 30. Juni 2011 für eine verfassungskonforme Lösung zu suchen.12 Trotz der großzügigen Terminierung kam bis dahin keine Neuregelung zustande. Erst am 29. September 2011 verabschiedete der Bundestag nur mit den Stimmen der Union und der FDP ein äußerst kompliziert anmutendes Wahlgesetz, das zwar weithin den inversen Erfolgswert vermied, aber die Möglichkeit von Überhangmandaten, das eigentliche Übel des Wahlverfahrens, nicht beseitigte.13 SPD und Bündnis 90/Die Grünen reichten beim Bundesverfassungsgericht eine Klageschrift ein. Dessen Urteil vom 25. Juli 2012 durfte nicht überraschen: Es verwarf das Gesetz, u. a. deshalb, weil Überhangmandate in beträchtlicher Größenordnung auftreten könnten. Andreas Voßkuhle, der Präsident des Gerichts, hatte schon zuvor kein Blatt vor den Mund genommen und

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1990 etwa bestand das Gericht auf einer für Ost und West gesondert geltenden FünfProzent-Sperrklausel um Chancengleichheit zu wahren. Vgl. für Einzelheiten Eckhard Jesse, Die institutionellen Rahmenbedingungen der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994, S. 15 – 41. 11 Vgl. Dieter Nohlen, Erfolgswertgleichheit als fixe Idee oder: Zurück zu Weimar? Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2008, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 40 (2009), S. 179 – 195. 12 Bei der Nachwahl 2005 in Dresden konnte dieser Effekt gezielt eingesetzt werden. Durch das schlechte Abschneiden der CDU bei den Zweitstimmen sicherte sie sich ein Überhangmandat. So erregte das Paradoxon große öffentliche Aufmerksamkeit, und das Gericht zeigte sich davon beeindruckt. 13 Vgl. u. a. Niels Dehmel, Eine (un)glückliche Wahlrechtsreform? Die Debatte über eine notwendige Änderung, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), „Superwahljahr“ 2011 und die Folgen, Baden-Baden 2012, S. 153 – 171. Zur Verteidigung Gerd Strohmeier, Die schlechteste Wahlsystemreform – mit Ausnahme aller anderen, in: Zeitschrift für Politik 58 (2011), S. 393 – 409; Christian Hesse, Wahlrecht 2013 mit Schattenseiten. Oder: Ein kritisches Lob dem vom Bundesverfassungsgericht verworfenen Bundeswahlgesetz von 2011, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 44 (2013), S. 177 – 200.

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erklärt: „Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen.“14 Das neue Wahlgesetz, mit den Stimmen der Union, der SPD, der FDP und der Grünen am 21. Februar 2013 verabschiedet, ist zwar besser, aber keinesfalls gut. Überhangmandate werden nunmehr durch Ausgleichsmandate kompensiert. Insofern ist eine Begünstigung einer bestimmten Partei ausgeschlossen, nicht jedoch eine Aufblähung des Bundestages. Das neue Gesetz ist so kompliziert geworden, dass jede Transparenz fehlt.15 Es wäre sinnvoll, die Überhangmandate einer Partei mit deren Landeslistenkandidaten in anderen Ländern zu verrechnen und/oder die Zahl der Wahlkreise zu verkleinern.16 Der Gegner des jetzigen Gesetzes muss auf viele Überhangmandate (und damit auch viele Ausgleichsmandate) hoffen, damit sich die Parteien zu einer gründlichen Revision entschließen, die demokratischen Prinzipien entspricht, ein Höchstmaß an Transparenz aufweist und die von allen demokratischen Kräften getragen wird. Die folgende Auffassung von Reinhard Müller, dem kundigen Rechtsexperten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, kann daher nicht geteilt werden: „Schließlich hat sich das populäre Bürgergericht gerade in der (Macht-)Frage, wie sich Bundestag und Regierung zusammensetzen, beim Wahlrecht also, auf eine heikle Bahn begeben. Hier verhedderte sich das Gericht – ebenso wie seinen Entscheidungen über die Fünf-Prozent Sperrklausel im Kommunal- wie im Europawahlrecht.“17 Auch wenn die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht immer konsistent ist und Widersprüchlichkeiten erkennen lässt (das gilt für die Orientierung an der „Systemtreue“ mit dem bipolaren Wahlsystemverständnis und für die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Überhangmandate)18, so war in diesem Fall eine Intervention des Gerichts sinnvoll. Wahlrechtsfragen sind weithin Machtfragen, und die Parteien, die ein Wahlgesetz gleichsam in eigener Sache beschließen, müssen strikt darauf 14 Andreas Voßkuhle, zitiert nach: „Verhandlung über Reform. Zweifel am neuen Wahlrecht“, in: Süddeutsche Zeitung v. 6. Juni 2012. 15 Vgl. Joachim Behnke, Das neue Wahlgesetz, sicherlich nicht das letzte, in: Recht und Politik 49 (2013), S. 1 – 10; Niels Dehmel/Eckhard Jesse, Das neue Wahlgesetz zur Bundestagswahl 2013. Eine Reform der Reform der Reform ist unvermeidlich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 44 (2013), S. 201 – 213. 16 Auf die Vielzahl der Vorschläge wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Vgl. nur Florian Grotz, Abschied von der personalisierten Verhältniswahl? Perspektiven einer Reform des Bundestagswahlsystems, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2009. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, München 2010, S. 411 – 432; Joachim Behnke, Überhangmandate und negatives Stimmgewicht: Zweimannwahlkreise und andere Lösungsvorschläge, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 41 (2010), S. 247 – 260. 17 So Reinhard Müller, Karlsruher Republik im Wandel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. Mai 2013. 18 Vgl. Nohlen (Anm. 12); Christopher Lenz, Die Wahlrechtsgleichheit und das Bundesverfassungsgericht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 337 – 358; Jochen Frowein, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 99 (1974), S. 72 – 110.

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achten, dass sie Konkurrenten nicht benachteiligen. Um die „Wettbewerbsbedingungen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem“ ist es nicht immer gut bestellt, was etwa das Wahlvorschlagsrecht bei der Bundestagswahl betrifft.19 III. Das bewährte deutsche Wahlsystem Nach 1945 galt für manche das reine Verhältniswahlsystem Weimars als eine Ursache der Zersplitterung des Parteiensystems und der Radikalisierung des Wählerwillens. Im Parlamentarischen Rat konnten sich die Anhänger der Mehrheitswahl allerdings nicht durchsetzen.20 Mit Hilfe der SPD, der FDP, des Zentrums und der KPD kam ein reines Verhältniswahlsystem zustande, denn die (bei der ersten Bundestagswahl nur auf Landesebene geltende) Fünf-Prozent-Klausel verdankt ihre Existenz einer nachträglichen Intervention der Ministerpräsidenten, die sich über den Parlamentarischen Rat hinwegsetzten. Gleichwohl erweckten Gegner der Mehrheitswahl im Parlamentarischen Rat den Eindruck, als basiere die gefundene Lösung auf einem Kompromiss zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahl – dies ist eine schiefe Charakterisierung, die bis auf den heutigen Tag hartnäckig fortlebt. Der „Kompromiss“ bezog sich auf einen eher untergeordneten Punkt: Listenwahl oder Personenwahl? In den fünfziger und sechziger Jahren gab es unter der Ägide der Union zahlreiche, heutzutage weitgehend in Vergessenheit geratene Versuche, ein mehrheitsbildendes Wahlsystem einzuführen.21 Mitte der fünfziger Jahre scheiterte ein sogenanntes „Grabenwahlsystem“, dem in der Tat ein wirklicher Kompromiss zugrunde lag: Die in den Wahlkreisen errungenen Mandate wären nämlich nicht auf die den Parteien über die Listen zustehenden angerechnet worden. Bei der Verrechnung hätte ein „Graben“ zwischen Direkt- und Landeslistenmandaten bestanden. Eine Partei mit acht Prozent der Stimmen hätte ohne Direktmandate dann nur die Hälfte dieses Anteils bekommen. Die FDP verließ aus Protest gegen derartige Initiativen im Jahre 1956 die Koalition. Während der Großen Koalition zwischen 1966 und 1969 brach eine hitzige Wahlsystemdiskussion aus: CDU/CSU und SPD wollten ein mehrheitsbildendes Wahlsystem installieren, das den Einzug der rechtsextremen NPD – sie war zwischen 1966 und 1968 in mehrere Landesparlamente gelangt – in das Bundesparlament verhindert hätte. Aber auch die FDP wäre die Leidtragende einer solchen Reform gewesen. An den Liberalen, die vielfach publizistische Unterstützung erfuhren, ging der Kelch eines Wahlsystemwechsels vorbei, da insbesondere die SPD von dem ursprünglichen Plan abrückte, fürchtete sie doch, auf absehbare Zeit nur zweiter Sieger zu werden. 19

Vgl. den Untertitel des Bandes Köhler (Anm. 9), insbes. S. 101 – 123. Vgl. Erhard H.M. Lange, Der Parlamentarische Rat und die Entstehung des ersten Bundeswahlgesetzes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 280 – 318. 21 Vgl. ders., Wahlrecht und Innenpolitik. Entstehungsgeschichte und Analyse der Wahlgesetzgebung und Wahlrechtsdiskussionen im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945 – 1956, Meisenheim/Glan 1956. 20

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Die Annäherung der FDP an die SPD trug ein Übriges zum Versanden der Reform bei.22 Nach der Bundestagswahl 1969 – die NPD scheiterte mit 4,3 Prozent an der FünfProzent-Hürde, die FDP überwand sie mit 5,8 Prozent – versiegte die Wahlsystemdebatte. Weder durch das Aufkommen der Grünen Anfang der achtziger Jahre noch durch die Erfolge der PDS in den neunziger Jahren ist der Ruf nach Einführung der Mehrheitswahl laut geworden. Beide Parteien konnten sich bundesweit nur durchsetzen, weil das Verhältniswahlsystem auch kleineren Kräften Chancen bietet, in das Parlament einzuziehen. In den siebziger, achtziger und neunziger Jahren spielte der Streit um das „richtige“ Wahlsystem kaum eine Rolle mehr – die Akzeptanz des Proportionalprinzips stand nicht zur Diskussion. Die leidenschaftlichen, oft in Form eines „Glaubenskrieges“ ausgetragenen Diskussionen mit ihren Myriaden von Vorschlägen verstummten. Doch seit einigen Jahren ist eine wissenschaftliche Diskussion entfacht worden. Autoren, die ein mehrheitsbildendes Wahlsystem präferieren, melden sich verstärkt zu Wort.23 Auf die Politik wirkte sich diese Debatte nicht aus. Eine große Kraft, die eine solche Reform ins Auge fasst, würde alle kleinen Parteien gegen sich aufbringen und wäre isoliert.24 Das im Gegensatz zur Weimarer Republik nicht in der Verfassung verankerte Wahlsystem für den Deutschen Bundestag, das keine Wahlpflicht vorsieht, ist ungeachtet der Erststimme für den Wahlkreiskandidaten und der Zweitstimme für die Partei im Kern eine Verhältniswahl. Stimmen- und Mandatsanteil konvergieren. Nur die Fünf-Prozent-Klausel durchbricht das Proporzprinzip, da Überhangmandate seit 2013 ausgeglichen werden – so auch im Wahlrecht in den Bundesländern. Wie die 64-jährige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zeigt, ist sie mit dem durch die Fünf-Prozent-Klausel modifizierten Verhältniswahlsystem „gut gefahren“. Wer es ohne Not ändern will (sei es mittels Aufhebung der Sperrklausel in ein reines Proportionalsystem à la Weimar; sei es in Richtung auf ein mehrheitsbildendes Wahlsystem wie in Großbritannien oder in Frankreich), darf die Beweislast nicht umkehren.25 Die meisten der von den Anhängern der Mehrheitswahl in den fünfziger und sechziger Jahren erhobenen Forderungen (faktische Wahl der Regierung durch das Volk; Schaffung regierungsfähiger Mehrheiten; regelmäßiger Regie22 Vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1983, Düsseldorf 1983, S. 113 – 129; Rüdiger Bredthauer, Das Wahlsystem als Objekt von Politik und Wissenschaft. Die Wahlsystemdiskussion in der BRD 1967/68 als politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung, Meisenheim/Glan 1973. 23 Vgl. etwa Gerd Strohmeier (Hrsg.), Wahlsystemreform (= Sonderband 2009 der Zeitschrift für Politikwissenschaft), Baden-Baden 2009 (Gerd Strohmeier, Florian Hartleb, Jürgen Falter und Hans Herbert von Arnim plädieren für ein mehrheitsbildendes Wahlsystem – mit unterschiedlichen Akzentuierungen). 24 Viele elder statesmen wie Helmut Schmidt votieren für ein System der Mehrheitswahl. 25 Vgl. Eckhard Jesse, Verhältniswahl und Gerechtigkeit, in: Strohmeier (Anm. 23), S. 105 – 131.

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rungswechsel; Verhinderung von Radikalisierung; Verzicht auf Koalitionsquerelen) sind mehr oder weniger durch das geltende System Wirklichkeit geworden,26 wiewohl die politische Zurechenbarkeit der jeweiligen Entscheidungen wegen der in der Bundesrepublik weitverbreiteten Form der „Politikverflechtung“ – zumal angesichts der starken Rolle des Bundesrates27 – zunehmend erschwert wird. Dem geltenden Wahlsystem ist inzwischen beträchtliche Legitimität zugewachsen – nicht nur durch seine Funktionsfähigkeit, sondern auch durch seine Dauerhaftigkeit. Allerdings ist die Situation in den letzten Jahren erschwert worden, u. a. durch die Linke. Welchen Einfluss hat das Wahlsystem auf der Bundesebene gehabt: auf das Parteiensystem, auf die Struktur des Parteienwettbewerbs, auf die Stabilität der Regierungen, auf die Möglichkeit von Regierungswechseln? Wer darauf Antworten gibt,28 muss sich darüber im Klaren sein, dass weitere Faktoren für die Ausprägung der Struktur der Parteien und der Regierungen verantwortlich sind.29 Erstens: Das Parteiensystem hat sich allmählich zu einem Zwei-Lager-System entwickelt. Lange war es durch eine Asymmetrie gekennzeichnet – zunächst zugunsten der Union (in den fünfziger und sechziger Jahren), später zugunsten der SPD (in den siebziger Jahren), dann wieder zugunsten der Union, bis sich die Grünen etablieren konnten. Allerdings ist durch das Aufkommen einer fünften, nicht als koalitionsfähig geltenden Partei, der PDS (1990 – 2005), der Linkspartei (2005 – 2007), seit 2007 der Linken, die Mehrheit eines politischen Lagers nicht garantiert. Das Wahlsystem hat nicht zuletzt dank der Fünf-Prozent-Klausel zu einem System weniger Parteien geführt. Zweitens: Der Parteienwettbewerb war mal mehr durch Konflikt (z. B. in den Anfangsjahren und Anfang der siebziger Jahre), mal mehr durch Konsens gekennzeichnet (z. B. Mitte der sechziger Jahre und gegenwärtig). Als Konflikte zwischen den großen Parteien überwogen, führten diese jedoch nie zu Systemkonflikten. Das Wahlsystem verhinderte neben anderen Faktoren in der Regel den Einzug extremistischer Parteien in das Parlament. Drittens: Die Stabilität der Regierung war stets gegeben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa 1966 und 1982. In beiden Fällen kam es zu einer neuen Koalition während der Legislaturperiode. Einmal (1957) erreichte die Union sogar die ab26 Der Verfasser teilt nicht die Kritik Hans Herbert von Arnims am großen Übergewicht der kleinen Parteien. Vgl. ders., Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009, S. 149 – 155. 27 Dass eine Enthaltung des Bundesrates bei zustimmungspflichtigen Gesetzen als Nein zählt, ist ein Konstruktionsfehler. Gleiche Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat sind wegen der unterschiedlichen Zusammensetzung kaum mehr möglich. Auch eine Große Koalition hätte 2013 keine Mehrheit im Bundesrat. 28 Vgl. ausführlicher Eckhard Jesse, Wahlsysteme und Wahlrecht, in: Oscar W. Gabriel/ Sabine Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich. Struktur, Prozesse, Politikinhalte, 3. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 299 – 322. 29 Generell dazu das Standardwerk von Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl., Opladen 2009.

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solute Mehrheit der Stimmen, ein anderes Mal (1953) wurde aufgrund des Wahlsystems die absolute Mehrheit der Mandate ermöglicht. Diese Zeiten sind längst vorbei. Selbst die Stabilität der Regierung kann gefährdet sein, wenn keine Mehrheit für eine lagerinterne Koalition besteht. Viertens: Die Möglichkeit des Regierungswechsels ist durch das Verhältniswahlsystem nicht ausgeschlossen worden, wie die Jahre 1969 und 1982 zeigen, wenngleich es zu einer „reinen Wachablösung“ erst im Jahre 1998 gekommen ist (und seither nicht wieder): Die Regierungsparteien gerieten in die Opposition, die Oppositionsparteien gelangten in die Regierung. 2005 (von Rot-Grün zu Schwarz-Rot) und 2009 (von Schwarz-Rot zu Schwarz-Gelb) fanden nur „halbe“ Wechsel statt. Auch wer das Wahlsystem zum Bundestag bilanzierend positiv sieht, muss gleichwohl zwei Einschränkungen machen: Zum einen sind die Wirkungen des Wahlsystems nicht zu überschätzen. Denn das politische System in der Bundesrepublik funktioniert nicht in erster Linie wegen des Wahlverfahrens. Die Stabilität der deutschen Demokratie geht wesentlich darauf zurück, dass Klassenkonflikte eingeebnet worden sind und der politische Extremismus nur ein Schattendasein fristet. Wenn Ausländer oft das „einzigartige“ Wahlsystem in der Bundesrepublik bewundern30 und gleichsam als „Modell“31 ansehen, dann neigen sie manchmal dazu, wahlrechtliche Details zu über- und positive Rahmenbedingungen (wirtschaftliche Stabilität, hoher politischer Konsens, Wandel der einst obrigkeitsstaatlichen politischen Kultur) zu unterschätzen. Zum andern springen gleichwohl oft vernachlässigte Defizite ins Auge. Von den aus Sicht des Autors zwei wichtigsten soll nun die Rede sein. Die Überhangmandate sind durch die Einführung von Ausgleichsmandaten kompensiert worden. IV. Nebenwirkungen der Fünf-Prozent-Hürde Die Fünf-Prozent-Hürde besagt bekanntlich, dass nur jene Parteien in das Parlament einziehen, die bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erreicht haben. Die Klausel soll Parteienzersplitterung eindämmen und regierungsfähige Mehrheiten fördern. Sie begünstigt einerseits zwar die Parteienkonzentration, andererseits ist sie aber für neue Kräfte nicht unüberwindlich, wie die Wahlerfolge der Grünen und der PDS bzw. der Linken belegen. Manchen Anhängern der Verhältniswahl gilt sie als eine Verletzung des Gleichheitsprinzips, den meisten Befürwortern der Mehrheitswahl geht sie nicht weit genug. Ihre Existenz muss positiv bewertet werden. Sie (aber nicht nur sie!) hat eine Parteienzersplitterung verhindert und damit die Regierungsbildung erleichtert. 30

Vgl. Eckhard Jesse, The West German Electoral System. The Case for Reform 1949 – 57, in: West European Politics 10 (1987), S. 434 – 448. 31 Häufig ist vom „Modell Deutschland“ die Rede, ohne konkret auf Spezifika abzuheben. Vgl. aber Thomas Hartfelder/Andreas Rödder (Hrsg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007; Tilman Mayer/Karl-Heinz Paque/Andreas H. Apelt (Hrsg.), Modell Deutschland, Berlin 2013.

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Die Fünf-Prozent-Klausel wird durch zwei Bestimmungen eingeschränkt: Parteien nationaler Minderheiten sind von ihr ausgenommen. So zog der Südschleswigsche Wählerverband mit einem Mandat in den Ersten Deutschen Bundestag ein. Eine derartige Ausnahmeklausel stellt „eine ungerechtfertigte Durchbrechung der Chancengleichheit“32 dar und ist schwerlich gutzuheißen.33 Und wer mindestens drei Direktmandate gewinnt, muss die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringen („Alternativklausel“). Die PDS profitierte davon im Jahre 1994. Diese „Alternativklausel“ ist kaum zu legitimieren, da auf diese Weise die Fünf-Prozent-Klausel unterlaufen werden kann. Wieso soll eine Hochburgenpartei repräsentationswürdiger sein? Der Grund für die Einführung der „Alternativklausel“ wurzelte wohl in taktischen Überlegungen der Union, die unter Umständen kleinen, ihnen nahestehenden Parteien helfen wollte.34 Manch ein Wähler votiert für „seine“ Partei nur deshalb nicht, weil er – zu Recht oder Unrecht – fürchtet, sie könne an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern („Papierkorbstimmen“). Und umgekehrt votiert manch einer für eine kleine Kraft, um ihr in jedem Fall die parlamentarische Repräsentanz zu ermöglichen („Leihstimmen“).35 Da die Stimmen für eine Partei unter fünf Prozent keine Berücksichtigung finden, sind deren Wähler ohne parlamentarische Repräsentanz. Diese ließe sich durch folgende Reform vermeiden: Eine Nebenstimme, die allen Wählern zur Verfügung stünde, käme bei den Wählern zur Geltung, die für Parteien votieren, die keine fünf Prozent der Stimmen erreichen.36 Alle Stimmen fänden damit Berücksichtigung – es sei denn, der Wähler gibt seine Nebenstimme erneut einer Partei, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Die intendierte Wirkung der Klausel bliebe erhalten, jedoch nicht mehr die problematische Nebenwirkung. V. Nebenwirkungen des Zweistimmensystems Das Zweistimmensystem ist komplizierter als vielfach angenommen. Jeder Wähler hat zwei Stimmen – die erste für den Wahlkreisbewerber, die zweite für die Partei. Der Hauptgrund für diese Regelung: Dem Wähler sollte die Möglichkeit gegeben sein, zwischen dem Votum für den Kandidaten und dem Votum für die Partei zu trennen. Für die Mandatsvergabe ist jedoch prinzipiell die Zweitstimme maßgebend. Das Zweistimmensystem ist damit ein Zweitstimmensystem. 32

Köhler (Anm. 9), S. 147. In dieser Tendenz auch Angelika Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holstein, Frankfurt a.M. u. a. 1991. 34 Die Deutsche Partei zog 1953 (3,3 Prozent) und 1957 (3,4 Prozent) nur dank der Alternativklausel in den Deutschen Bundestag ein – sie war jeweils an den Koalitionsregierungen nach 1953 und 1957 beteiligt. 35 Vgl. Harald Schoen, Mehr oder weniger als fünf Prozent – ist das wirklich die Frage?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51 (1999), S. 565 – 582. 36 Vgl. bereits Jesse (Anm. 22), S. 254 – 260. 33

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Wer mit der Erststimme den Kandidaten der Partei A und der Zweitstimme die Partei B wählt („Splitting“), hilft ausschließlich der Partei B. Wegen der Verrechnung der Direktmandate mit den Landeslistensitzen zählt die Erststimme für den Erfolg einer Partei nicht.37 Viele Wähler „splitten“ – im fälschlichen Glauben, auf diese Weise einen Kompromiss eingegangen zu sein.38 Die Erststimme – als „Persönlichkeitsstimme“ – ist ihres ursprünglichen Sinnes beraubt worden – und zwar von Anfang an. Mit der Erststimme wird häufig der Kandidat der größeren „Koalitionspartei“ gewählt. Die mangelnde Verständlichkeit erscheint umso gravierender, als sie zum Teil irrtümliche Entscheidungen begünstigt. Mit den Kriterien, die an ein demokratisches Wahlverfahren zu stellen sind, ist das Zweistimmensystem kaum vereinbar: Es gewährleistet nicht die Chancengleichheit, zeichnet sich durch Unübersichtlichkeit aus und trägt unter Umständen zu einer Verfälschung der Repräsentation der politischen Richtungen bei. Die beiden großen Parteien sichern die meisten ihrer Wahlkreiskandidaten auf der Liste ab. Insofern wird die Frage vielfach überschätzt, ob die Partei A oder die Partei B mit ihrem Kandidaten den Wahlkreis gewonnen hat. Ist der Kandidat der Partei A erfolgreich gewesen, so zieht er als Wahlkreisabgeordneter in den Bundestag ein, während der Kandidat der Partei B (in der Regel) über die Landesliste in das Bundesparlament gelangt und vice versa. Faktisch ist die personelle Auswahlfunktion des Wählers wegen der Existenz der Landeslisten nicht so vorhanden, wie vielfach gemeint. Das Zweistimmensystem müsste gänzlich abgeschafft werden. Die eine Stimme, die der Wähler dann hätte, käme ebenso dem Wahlkreiskandidaten wie der Partei zugute.39 Dies war 1949 der Fall. Der Rückschritt wäre ein Fortschritt. Die erwähnten Defizite würden beseitigt, und in gewissem Umfang käme sogar das personelle Element zum Tragen. Wer einen Kandidaten wählt, obwohl er dessen Partei nicht nahesteht, würde auch dieser helfen. Allerdings bliebe der Effekt in engen Grenzen. Immerhin könnten sich die Parteien bemüßigt fühlen, attraktive Kandidaten aufzustellen, denn in der Regel stimmt der Wähler für eine Partei, nicht für einen Kandidaten. VI. Andere Reformvorschläge Obwohl das bundesdeutsche Wahlsystem insgesamt funktioniert, bedarf es stets der Prüfung, ob die Regelungen so ausgestaltet sind, dass sie nicht dazu dienen, die etablierten Kräften zu begünstigen, etwa bei der Wahlvorbereitung.40 Die heutigen 37

Die Rolle der Überhangmandate bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt. Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck, Denn sie wissen nicht, was sie tun… Zum Verständnis des Verfahrens der Bundestagswahl bei westdeutschen und ostdeutschen Wählern, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 24 (1993), S. 393 – 415. 39 Vgl. bereits Jesse (Anm. 22), S. 307 – 311. 40 Einige Beispiele bieten Köhler (Anm. 9); Florian Meinel, Chancengleichheit oder Kooperation? Der Zugang kleiner Parteien zur Bundestagswahl, in: Zeitschrift für Parlaments38

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Wahlrechtsreformbestrebungen sind vielfältig.41 Der Kern besteht wohl darin, den Grundsatz der allgemeinen Wahl immer weiter auszulegen. Die Briefwahl wurde 1957 eingeführt, das Wahlalter 1970 auf 18 Jahre gesenkt (die Grünen fordern nun, das Wahlalter auf 16 Jahre bei Bundestags- und Europawahlen herabzusetzen42), das Wahlrecht für einen Teil der im Ausland lebenden Deutschen 1985 beschlossen (und später allen Auslandsdeutschen gewährt – unter der Voraussetzung, dass sie sich zuvor mindestens drei Monate ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten haben). Hier wurde 2013 allerdings eine gewisse Einschränkung vorgenommen (drei Monate Aufenthalt in Deutschland nach dem 14. Leebnsjahr. Aufenthalte dürfen nicht länger als 25 Jahre zurückliegen). Auch die Einführung des Wahlrechts von Geburt an, in der Bundesrepublik erstmals vom Politikwissenschaftler und Juristen Konrad Löw 1974 gefordert43, strebt die Ausweitung des Wahlrechts an. Bis zum 18. Lebensjahr sollen die Eltern für ihre minderjährigen Kinder das Wahlrecht ausüben. Ein überfraktioneller Gesetzesentwurf, den Abgeordnete der Union (u. a. Rainer Eppelmann), der SPD (u. a. Wolfgang Thierse), der FDP (u. a. Hermann Otto Solms) und der Grünen (u. a. Antje Vollmer) 2003 eingebracht hatten44, scheiterte im Bundestag. Er hätte nur bei einer Verfassungsänderung Erfolg, wonach das Wahlrecht ab der Geburt beginnt. Eine solche Mehrheit ist nicht in Sicht. Die jüngsten Initiativen der Grünen45 und der SPD46 im Bundestag zielen ebenfalls auf eine Ausweitung des Wahlrechts. Die Grünen wollen, dass Menschen, für die zur Besorgung in allen Belangen ein Betreuer bestellt ist (seit 1992 hat die „rechtliche Betreuung“ die „Vormundschaft“ ersetzt), ebenso nicht mehr vom Wahlrecht ausgeschlossen sind wie diejenigen, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben und deswegen in einem Krankenhaus untergebracht sind. Die SPD teilt diese Position, geht sogar darüber hinaus und fordert, damit Analphabeten ohne Wahlhelfer eigenständig von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, eine „Neugestaltung der Stimmzettel mit Hilfe von Parteisymbolen (Wort-, Bild- oder Wortbildmarken) und Fotos der Kandidatinnen und Kandidaten“47, um die Stimmabgabe für diesen Wählerkreis zu erleichtern. fragen 41 (2010), S. 67 – 76; Eckhard Jesse, Das Abschneiden der kleineren Parteien bei der Bundestagswahl 2009 und ihre Perspektiven, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 179 – 197, insbes. S. 180 – 183, S. 191 – 194. 41 Vgl. Eckhard Jesse, Reformvorschläge zur Änderung des Wahlrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52/2003, S. 3 – 11. 42 Vgl. Bundestagsdrucksache 17/13238 und Bundestagsdrucksache 17/13257. 43 Vgl. Konrad Löw, Das Selbstverständnis des Grundgesetzes und wirklich allgemeine Wahlen, in: Politische Studien 25 (1974), Heft 1, S. 19 – 29. 44 Vgl. Bundestagsdrucksache 15/1544. 45 Vgl. Bundestagsdrucksache 17/12068. 46 Vgl. Bundestagsdrucksache 17/12380. 47 Ebd., S. 2.

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Eckhard Jesse

Nicht alle Reformideen betreffen die Ausweitung des Wahlrechts. Ein Reformvorschlag bezieht sich u. a. auf die Einführung der „begrenzt-offenen Liste“. Bei dieser von der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ im Jahre 1976 angeregten Reform soll der Wähler mit seiner Zweitstimme – entsprechend dem bayerischen Landtagswahlrecht – die Möglichkeit haben, die von den Parteien aufgestellte Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste zu ändern (bisher „starre Liste“).48 „Begrenztoffen“ deshalb, weil der Wähler keine neuen Namen einfügen darf (im Gegensatz zur „freien Liste“). Die Parteien zögern seit langem, diese Reformideen in die Praxis umzusetzen, weil sie offenbar fürchten, dass so die Wähler zu starken Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der einzelnen Fraktionen erhalten. Während dieser Vorschlag ebenso eine ernsthafte Diskussion verdient wie die Verlängerung der Legislaturperiode bei Bundestagswahlen auf fünf Jahre, um eine größere Kontinuität zu gewährleisten (nur in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg liegt sie noch bei vier Jahren), gilt das nicht für die Idee des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder aus dem Jahre 2003, die Termine der Landtagswahlen „zusammenzulegen“,49 damit „Dauerwahlkampf“ vermieden werde. Tatsächlich käme es dann indirekt zu einer zweiten Bundestagswahl während der Legislaturperiode – abgesehen davon, dass sich durch vorgezogene Neuwahlen ein solcher Rhythmus gar nicht durchhalten ließe.50 VII. Resümee Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag ist im Kern akzeptabel. Gleichwohl gibt es Defizite. So besitzt das Wahlsystem mit der Fünf-Prozent-Klausel und dem Zweistimmensystem zwei Eigentümlichkeiten, die beide Konsequenzen für die Ausformung des Parteiensystems haben. Wie gezeigt, wohnen ihnen beträchtliche Defizite inne. Wer hier Reformen vornimmt, stellt Schwächen ab und stärkt die Partizipation des Wahlbürgers. Sie wären einfach zu bewerkstelligen, scheitern also nicht an ihrer komplexen Praktikabilität, sondern an den Interessen der Parteien. „Machtinteressen sollten in einer Demokratie genau dann nichts ins Spiel gelangen, wenn es um die Regeln der Machtverteilung selbst geht.“51 Das müssen die Parteien beherzigen. Vielleicht wäre es gut, die Art des Wahlsystems in der Verfassung zu verankern. So wird politischen Begehrlichkeiten ein Riegel vorgeschoben. Dies 48

Vgl. bereits Joachim Hankel, Die Auswahl der Parlamentsbewerber. Grundfragen – Verfahrensmodelle, Berlin/New York 1976. 49 Genauer: Die eine Hälfte der Landtagswahlen soll am Tag der Bundestagswahlen stattfinden, die andere Hälfte in der Mitte der Legislaturperiode. 50 Siehe die berechtigte Kritik von Frank Decker, Zwischen Wahlen, in: ders., Wenn die Populisten kommen. Beiträge zum Zustand der Demokratie und des Parteiensystems, Wiesbaden 2013, S. 127 – 134. Decker zieht in Erwägung, einzelne Wahlen auf einen Termin zu koordinieren. Die Länge der Wahlperioden müsste sich dann flexibler gestalten lassen. 51 Joachim Behnke, Ein sparsames länderproporzoptimierendes parteienproporzgewährendes automatisches Mandatszuteilungsverfahren mit Ausgleich ohne negatives Stimmgewicht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 43 (2012), S. 676.

Defizite im deutschen Wahlsystem

55

schützt aber nur vor einer grundlegenden Revision des Wahlsystems, nicht jedoch vor Änderungen im kleinen Rahmen. Hier muss das Bundesverfassungsgericht darauf achten, dass etablierte Kräfte Wahlrechtsbestimmungen nicht so gestalten, dass die Konkurrenz Wettbewerbsnachteile erleidet. Das ist die eine Seite. Die andere: Nicht jede Reform, etwa die Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten, ist sinnvoll, kann sie doch auf eine Entwertung des Wahlrechts hinauslaufen. Dies gilt z. B. für die Senkung des Wahlalters bei Landtagswahlen auf 16 Jahre – wie in den Ländern Bremen, Brandenburg und Hamburg. Die Begründung leuchtet schwerlich ein: „Die Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre erweitert die demokratischen Teilhabemöglichkeiten Jugendlicher um einen grundlegenden und essenziellen Bereich. […] Eine Misstrauenskultur ihnen gegenüber ist unangemessen, Jugendliche verdienen das Vertrauen der älteren Generationen.“52 Wer an dem engen Zusammenhang zwischen Volljährigkeit und Wahlalter festhält, entwickelt keine „Misstrauenskultur“ gegenüber Jugendlichen. Er erinnert an das Wahlrecht als die wichtigste politische Partizipationsmöglichkeit.53

52

Bundestagsdrucksache 17/13257, S. 5. Der Text ist im Juni 2013 fertiggestellt worden – also vor der Bundestagswahl am 22. September. 53

Wahlsysteme und direkte Demokratie in Mittelund Osteuropa: Lehren für Demokratiereformer? Florian Grotz I. Einleitung In demokratischen Verfassungsstaaten gibt es zwei Wege der institutionalisierten Volksbeteiligung: Wahlen und Abstimmungen. Auf den ersten Blick könnten beide Partizipationsformen nicht unterschiedlicher sein. Freie und faire Wahlen finden regelmäßig statt und gehören zum demokratischen Kerninventar. Sachunmittelbare Abstimmungen sind dagegen ein fakultatives Addendum der repräsentativen Demokratie. Direktdemokratische Verfahren gibt es längst nicht überall, und in den meisten Ländern, in denen sie de jure bestehen, kommen sie allenfalls sporadisch zum Einsatz. Wahlen und Abstimmungen haben allerdings auch eine grundlegende Gemeinsamkeit: Ihrer institutionellen Ausgestaltung wird große Bedeutung zugemessen. Häufig erscheinen die Reform des Wahlsystems und die Einführung plebiszitärer Elemente als probate Mittel, um diagnostizierte Funktionsdefizite der repräsentativen Demokratie zu beseitigen. Dieser Vorstellung liegt die ebenso einfache wie plausible Überlegung zugrunde, dass die „Spielregeln“ eines demokratischen Systems seine Funktions- und Leistungsfähigkeit maßgeblich mitbestimmen. Wenn die politischen Institutionen zum Besseren verändert werden, so die Annahme, dann steigt auch die Qualität der Demokratie. Die politikwissenschaftliche Regierungslehre hat es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, die Auswirkungen institutioneller Regelungen vergleichend zu erkunden und daraus Lehren für die demokratische Staatspraxis zu ziehen. Damit wird nicht selten die Hoffnung verbunden, man könne aus dem Ländervergleich eine optimale Verfassungsarchitektur ableiten und müsse diese dann nur noch politisch implementieren.1 Allerdings ist hier Vorsicht geboten. Wie man aus zahlreichen empirischen Studien weiß, sind die Auswirkungen politischer Institutionen hochgradig kontextabhängig. Wenn beispielsweise ein Wahlsystem besonders gut oder schlecht funktioniert, liegt das nicht allein an seiner institutionellen Struktur, sondern auch an den historisch-politischen Rahmenbedingungen.2 Ähnliches lässt sich für Volksgesetzge-

1 Vgl. Sartori, Giovanni 1994: Comparative Constitutional Engineering. Basingstoke: Macmillan. 2 Nohlen, Dieter 2009: Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Auflage. Opladen: Budrich.

58

Florian Grotz

bung und Plebiszite feststellen.3 Verfassungspolitisch gewendet bedeutet das: Wer die demokratischen Institutionen in einem Land reformieren will, kann durchaus von den Erfahrungen anderer Länder profitieren. Aber man wird nur dann die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen, wenn die dortigen Institutionen in systematischer Verbindung mit dem jeweiligen Kontext analysiert werden.4 In dieser Hinsicht scheinen die mittel- und osteuropäischen EU-Staaten besonders instruktiv zu sein. Nach dem Systemumbruch von 1989/90 haben sich die betreffenden Länder allesamt am westlichen Demokratiemodell orientiert und Verfassungsstrukturen geschaffen, die jenen der alten EU-Staaten grundsätzlich gleichen. Zugleich weisen die post-sozialistischen Demokratien einige institutionelle Besonderheiten auf und sind in einen historisch-kulturellen Kontext eingebettet, der sich von Westeuropa grundlegend unterscheidet.5 Durch diese eigentümliche Kombination homogener und heterogener Rahmenbedingungen ergibt sich eine Vergleichskonstellation, mit der die Vorzüge und Probleme institutioneller Reformoptionen deutlicher zu erkennen sind als aus einer abstrakt-funktionalistischen Perspektive. Der vorliegende Beitrag behandelt die Wahlsysteme und die direktdemokratischen Institutionen in den post-sozialistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas (MOE) mit dem Ziel, einige Aspekte herauszuarbeiten, die auch für die allgemeine Debatte über Demokratiereformen relevant sind. Die nachfolgende Argumentation gliedert sich in sechs Abschnitte. Zunächst werden normative Maßstäbe vorgestellt, mit denen man die Funktionsweise demokratischer Institutionen unter einem einheitlichen Blickwinkel analysieren kann (2). Auf dieser Basis folgt ein vergleichender Überblick über die Grundstrukturen der Wahlsysteme und direktdemokratischen Verfahren in den zehn mittel- und osteuropäischen EU-Staaten (3). Der nächste Abschnitt macht deutlich, dass auch die konkrete Ausgestaltung institutioneller Arrangements deren Funktionsweise erheblich beeinflusst (4). Daraufhin werden die Auswirkungen der Wahlsysteme und direktdemokratischen Verfahren auf die post-sozialistischen Regierungssysteme dargestellt (5), bevor der institutionellen Reformpraxis in MOE das Interesse gilt (6). Der letzte Abschnitt fasst zusammen und versucht einige Lehren zu ziehen, die die mittel- und osteuropäischen Erfahrungen mit Wahlsystemen und Volksabstimmungen für Demokratiereformen anderenorts bereithalten (7).

3 Grotz, Florian 2009: Direkte Demokratie in Europa: Probleme, Erträge und Perspektiven der vergleichenden Forschung, in: Politische Vierteljahresschrift 50/2, 286 – 305. 4 Vgl. auch Grotz, Florian 2013: Vergleichende Regierungslehre: institutionelle Bedingungen des Regierens im demokratischen Staat, in: Schmidt, Manfred G./Wolf, Frieder/ Wurster, Stefan (Hrsg.): Studienbuch Politikwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag, 237 – 263. 5 Müller-Rommel, Ferdinand/Grotz, Florian 2011: Die Regierungssysteme der neuen EUStaaten: institutionelle Konfigurationen und Entwicklungspfade, in: Grotz, Florian/MüllerRommel, Ferdinand (Hrsg.): Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EUStaaten im Vergleich. Wiesbaden: VS Verlag, 303 – 320.

Wahlsysteme und direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa

59

II. Demokratietheoretische Maßstäbe: Inklusion vs. Effizienz Wie sollten demokratische Regierungssysteme aufgebaut sein? In demokratietheoretischen Debatten zu dieser Frage erfahren in der Regel zwei Bewertungsmaßstäbe besondere Beachtung.6 Demnach sollten demokratische Systeme inklusiv sein, d. h. den Bürgern möglichst umfassende und differenzierte Möglichkeiten eröffnen, ihre Interessen in die politische Willensbildung einzubringen („government of the people“). Zudem sollten sie effizient sein, d. h. die Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen innerhalb eines angemessenen Zeitraums ermöglichen („government for the people“). So unstrittig diese beiden Kriterien für sich genommen erscheinen, so schwierig sind sie gleichzeitig umzusetzen. Ein hohes Maß an politischer Inklusion geht in der Regel auf Kosten der Entscheidungseffizienz und umgekehrt. Man muss sich also im Zweifelsfall entscheiden, welchem Kriterium man bei der Ausgestaltung einer demokratischen Verfassung den Vorrang einräumen möchte: der Inklusion oder der Effizienz. Tatsächlich können die Regierungssysteme westlicher Demokratien anhand dieser grundlegenden Alternative in zwei Gruppen eingeteilt werden.7 Auf der einen Seite stehen Länder wie Großbritannien oder Neuseeland mit stärker machtkonzentrierenden Institutionen, die der jeweils regierenden Mehrheit einen großen Handlungsspielraum einräumen und somit das Effizienzprinzip akzentuieren. Auf der anderen Seite finden sich Länder wie die Schweiz oder Belgien, wo die Regierungssysteme durch ein hohes Maß an institutioneller Machtstreuung gekennzeichnet sind, um einen möglichst breiten Einbezug gesellschaftlicher Interessen zu gewährleisten. Für den vorliegenden Zusammenhang ist nun entscheidend, dass nicht nur Regierungssysteme als ganze, sondern auch ihre institutionellen Strukturelemente mithilfe des Gegensatzes „Inklusion vs. Effizienz“ ausdifferenziert werden können. Besonders deutlich wird dies bei den Wahlsystemen. Bekanntlich kann ein Wahlsystem entweder so aufgebaut sein, dass es die Konzentration des Parteiensystems fördert und damit im Sinne des Effizienzprinzips die parlamentarische Mehrheitsbildung erleichtert (Mehrheitswahl), oder es kann so strukturiert sein, dass es gemäß dem Inklusionsprinzip das Wählervotum möglichst unverfälscht wiedergibt, d. h. die Stimmenanteile proportional in Mandatsanteile überführt (Verhältniswahl). Empirische Wahlsysteme lassen sich grundsätzlich nach diesen antagonistischen Repräsentationsprinzipien klassifizieren.8 Allerdings muss dazu nicht nur die jeweilige Entscheidungsregel (Mehrheit oder Proporz), sondern die gesamte Wahlsystemstruktur (mit den jeweiligen Wahlkreisgrößen, etwaigen Sperrklauseln, spezifischen Verrechnungsverfahren etc.) in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Stimmen-Mandate-Verhältnis untersucht werden. Es kommt nämlich häufi6

Vgl. Schmidt, Manfred G. 2010: Demokratietheorien. 5. Auflage. Wiesbaden: VS. Siehe dazu Lijphart, Arend 2012: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries. 2nd Edition. New Haven/London: Yale University Press. 8 Nohlen, Dieter, a.a.O. (Fn. 2). 7

60

Florian Grotz

ger vor, dass der Effekt eines Wahlsystemelements durch ein anderes konterkariert wird. So wirkt ein Wahlsystem mit Wahlkreisen, in denen jeweils zwischen zwei und fünf Sitze vergeben werden, aufgrund der geringen Wahlkreisgröße stark mehrheitsbildend, obwohl die Mandate nach der Proporzregel verrechnet werden. Das ist beispielsweise in Griechenland der Fall.9 Umgekehrt zählt das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag zu den inklusionsfreundlichen Verhältniswahlsystemen, obwohl darin auch die relative Mehrheitsregel zur Anwendung kommt; denn bekanntlich ist hierzulande der Parteienproporz entscheidend für die Verteilung der Gesamtmandate. Nicht zuletzt können in einem Wahlsystem Mehrheits- und Proporzelemente so kombiniert werden, dass der erwartete Effekt genau in der Mitte zwischen beiden Polen liegt. Ein solches „Grabensystem“ findet sich etwa in der Ukraine. Bei direktdemokratischen Institutionen scheint die Zuordnung zu den Polen „Inklusion“ und „Effizienz“ auf den ersten Blick einfacher zu sein. Wenn die Bürger in einem parlamentarischen System überhaupt über Sachfragen abstimmen dürfen, so könnte man meinen, dass das automatisch zu einem stärkeren Einbezug gesellschaftlicher Interessen führt. Demnach wäre bereits die Möglichkeit, Volksabstimmungen abzuhalten, dem Inklusionsprinzip zuzuordnen, während das Fehlen direktdemokratischer Verfahren der mehrheitsdemokratischen Effizienzlogik folgen würde. Bei näherer Betrachtung muss jedoch auch unterschieden werden, um welche Art der sachunmittelbaren Bürgerbeteiligung es sich handelt.10 Nur die wenigsten Volksabstimmungen sind obligatorisch vorgeschrieben und in dieser Form meist auf konstitutionelle Grundlagenentscheidungen – wie Verfassungsannahme oder Beitritt zu internationalen Organisationen – beschränkt. Das Gros der direktdemokratischen Verfahren kann dagegen je nach politischem Bedarf zu bestimmten Sachfragen ausgelöst werden. Dabei ist nun entscheidend, von wem die Initiative ausgeht. Liegt das Initiativrecht bei der parlamentarischen Minderheit (minoritäres Referendum) oder bei einer zahlenmäßig festgelegten Gruppe von Bürgern (Volksinitiative), so wird die amtierende Regierung dadurch in ihrer politischen Gestaltungsfreiheit eingeschränkt. Diese Einschränkung greift nicht nur dann, wenn eine tatsächliche Abstimmung stattfindet. Vielmehr wird eine strategisch agierende Regierung bereits im Vorfeld eines oppositionellen Volksentscheids auf die Initiatoren zugehen und sich mit ihnen zu einigen versuchen, um eine offene Abstimmungsniederlage zu vermeiden. In der Schweiz hat diese psychologische Vorabwirkung der direkten Demokratie das dortige Regierungssystem insofern geprägt, als referendumsfähige Oppositionsgruppierungen nach und nach in die Regierung integriert wurden, was letztlich zu einer dauerhaften Allparteienkoalition geführt hat.11 Konträr zu diesen inklusiven Abstim9 Nohlen, Dieter 1978: Wahlsysteme der Welt. Daten und Analysen. München: Piper, 180 ff. 10 Vgl. zum Folgenden Vatter, Adrian 2009: Lijphart Expanded: Three Dimensions of Democracy in Advanced OECD Countries?, in: European Political Science Review 1/1, 125 – 153. 11 Grundlegend dazu Neidhart, Leonhard 1970: Plebiszit und pluralitäre Demokratie. Eine Analyse der Funktion des schweizerischen Gesetzesreferendums. Bern: Francke.

Wahlsysteme und direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa

61

mungsverfahren stehen Plebiszite, die von den Exekutivorganen oder der parlamentarischen Mehrheit nach deren Belieben angesetzt werden können. Solche „von oben“ initiierten Verfahren sind ein Machtinstrument der amtierenden Regierung und stärken grundsätzlich deren Durchsetzungsfähigkeit im Sinne des Effizienzprinzips.12 Insgesamt eröffnet die idealtypische Gegenüberstellung von Inklusions- und Effizienzorientierung also ein konzeptionelles Spektrum, um Wahlsysteme und direktdemokratische Institutionen hinsichtlich ihrer Funktionslogik systematisch-vergleichend zu erfassen. III. Wahlsysteme und direkte Demokratie in den MOE-Staaten: ein vergleichender Überblick Betrachtet man vor diesem Hintergrund die formalen Strukturen der Wahlsysteme und direktdemokratischen Institutionen in den zehn MOE-Staaten, so lässt sich das daraus resultierende Bild zugespitzt in einem Satz zusammenfassen: Inklusion ist Trumpf. Bei den mittel- und osteuropäischen Wahlsystemen ist eine deutliche Akzentuierung des proportionalen Repräsentationsprinzips zu erkennen. Wie Tabelle 1 zeigt, wenden gegenwärtig sechs der zehn MOE-Staaten Verhältniswahlsysteme an (Estland, Lettland, Polen, Slowakei, Slowenien und Tschechien). Zwei Länder haben erst jüngst kombinierte Wahlsysteme eingeführt. So hat Bulgarien 2009 seinem bisherigen Verhältniswahlsystem 31 Einerwahlkreise hinzugefügt, in denen die Abgeordneten mit relativer Mehrheit gewählt werden. Auf diese Weise ist ein Grabensystem entstanden, bei dem jedoch der proportionale Mandatsanteil deutlich überwiegt (87 % der Gesamtmandate).13 In Rumänien wurde 2008 ein dreistufiges Wahlsystem eingeführt, das von einem absoluten Mehrheitswahlsystem in Einerwahlkreisen ausgeht. Wenn freilich kein Kandidat die absolute Mehrheit (50 %+1 der Stimmen) erreicht, findet – anders als etwa in Frankreich – keine Stichwahl statt, sondern die Mandate werden nach Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen vergeben. Dadurch kann dieses kombinierte System unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems relativ proportionale Auswirkungen hervorbringen. So erklärt sich, dass es bei der Parlamentswahl von 2008 nahezu identische Effekte zeigte wie das vorhergehende Verhältniswahlsystem.14 In Litauen und Ungarn schließlich finden sich Wahlsysteme, die ihrer Struktur nach einen ausbalancierten Effekt zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl erzeugen sollten. Während Litauen seit 1992 ein fast voll12 Morel, Laurence 2001: The Rise of Government-Initiated Referendums in Consolidated Democracies, in: Mendelsohn, Matthew/Parkin, Andrew (Hrsg.): Referendum Democracy. Citizens, Elites and Deliberation in Referendum Campaigns. Basingstoke: Palgrave, 47 – 64. 13 Spirova, Maria 2009: The 2009 Parliamentary Elections in Bulgaria, in: Electoral Studies 29/2, 276 – 278. 14 Marian, Cosmin Gabriel/King, Ronald F. 2010: Plus ça Change: Electoral Law Reform and the 2008 Romanian Parliamentary Elections, in: Communist and Post-Communist Studies 43/1, 7 – 18.

460

334f

Verhältniswahl

Verhältniswahl

Kombiniert

Verhältniswahl

Kombinierte

Verhältniswahl

Verhältniswahl

Verhältniswahl

Estland

Lettland

Litauen

Polen

Rumänien

Slowakei

Slowenien

Tschechien

200

90i

150

141

100

101

240

Kombiniert

Bulgarien

Sitze

Wahlsystemtyp

Land

316

1

8

1

1

a

9,2

209,0

1,0

Mittel

Lose gebundene L.

Starre L.

Individuell

4

1

7

70

1

13

29

1

19

70

1

30

7,3

1,0

11,2

70,0

1,0

20,0

Lose gebundene L.

Individuell

Individuell

Lose gebundene L.

Lose gebundene L.

Individuell

11

150 11

150 11,0

150,0

Lose gebundene L.

Lose gebundene L.

14

5

25

14,3

Lose gebundene L.

Restvergabe auf nationaler Ebene Starre L.

1

2

12

14

1

Max

Kandidatur-/ Listenform

Restvergabe auf nationaler Ebene Individuell

1

3

43

41

1

2

1

5 71

1

1

2

7

4

1

Min

Größe

Restvergabe auf nationaler Ebene Starre L.

31 11

2

1

2

31

Anzahl

Wahlkreise

1

Ebene

Saint-Laguë

d’Hondt

d’Hondt

HB

HB

HB

Hare

Absolute MW

d’Hondt

Hare

Absolute MW

5,0 %j

4,0 %

5,0 %h

5,0 %g

5,0 %g

-

5,0 %d

5,0 %c

-

5,0 %

5,0 %

-

d’Hondt

4,0 %

Hareb

-

Sperrklausel

Hare-Niemeyer

Relative MW

Verrechnungsformel

Tabelle 1 Parlamentswahlsysteme in den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten

62 Florian Grotz

Kombiniertk

Ungarn

199

Sitze

1 2

Ebene 106 1

Anzahl 1 93

Min

Größe 1 93

Max 1,0 93,0

Mittel Individuell Starre L.

Kandidatur-/ Listenform Relative MW d’Hondtl

Verrechnungsformel 5,0 %

Sperrklausel

Quelle: aktualisierte Darstellung von Grotz, Florian/Müller-Rommel, Ferdinand (Hrsg.): Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden: VS, S. 333 – 334 (Stand: 01.02. 2013). Bei den Zweikammersystemen (Polen, Rumänien, Slowenien, Tschechien) sind nur die Wahlsysteme für die Erste Kammer angegeben. Abkürzungen: EWK = Einerwahlkreis; HB = Methode nach Hagenbach-Bischoff; L = Liste; MW = Mehrheitswahl; WK = Wahlkreise. Anmerkungen: a Die Stimmenverrechnung für die 209 Verhältniswahlmandate erfolgt auf nationaler Ebene, erst die Mandatszuteilung auf Parteilisten findet in 31 subnationalen WK statt. Daher ist die mittlere Wahlkreisgröße mit 209 angegeben. b In den Wahlkreisen erhalten zunächst Einzelkandidaten, die die einfache Wahlzahl (Hare-Quota) erreichen, ein Mandat; danach werden die WK-Mandate nach Listengesamtstimmen nach ganzen Hare-Quotas vergeben. Alle nicht vergebenen Mandate werden dann auf nationaler Ebene nach d’Hondt-Methode verteilt. c Sperrklausel für Wahlallianzen (WA): 7 %. d Sperrklausel für WA: 8 %. e Erreichen die EWK-Kandidaten nicht die absolute Mehrheit, werden die Mandate in regionalen WK nach Hare-Quota vergeben (Restvergabe auf nationaler Ebene). f Davon sind insgesamt 18 Mandate für nationale Minderheiten reserviert. g Alternativ: sechs „Direktmandate“. Gestaffelte Sperrklausel für WA: 8 % (2er WA)/9 % (3er WA)/10 % (4+ WA). h Sperrklausel gilt für jede Partei auch innerhalb von Wahlallianzen. i Zu den 88 regulären Sitzen, die in acht 11er WK vergeben werden, kommen zwei weitere Sitze für die ungarische bzw. italienische Minderheit, die nach relativer MW in Einerwahlkreisen gewählt werden. j Gestaffelte Sperrklausel für WA: 7 % (2er WA)/9 % (3er WA)/11 % (4+ WA). k Wahlsystem vom Dezember 2011, das erstmals 2014 zur Anwendung kommen soll. l Die 93 Verhältniswahlmandate werden nach Zweitstimmen und den sog. „Reststimmen“ (Erststimmen der unterlegenen Kandidaten sowie „nicht benötigte“ Stimmen der siegreichen Kandidaten) vergeben. Dadurch erhält das Wahlsystem eine kompensatorische Komponente.

Wahlsystemtyp

Land

Tabelle 1 (Fortsetzung) Wahlkreise

Wahlsysteme und direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa 63

64

Florian Grotz

ständig gleichgewichtiges Grabensystem anwendet (49,6 % Mehrheitswahl; 50,4 % Verhältniswahl), hat sich Ungarn für ein komplexeres System entschieden, bei dem die erfolglosen Stimmen des Mehrheitswahlanteils auf der Seite der Verhältniswahlmandate mitverrechnet werden. Ein Mehrheitsbonus, den die stärkste Partei in den Einerwahlkreisen erhält, wird so an anderer Stelle kompensiert.15 Insgesamt ist das Prinzip Verhältniswahl in MOE noch stärker verankert als in Westeuropa. Reine Mehrheitswahlsysteme, wie sie in Großbritannien oder Frankreich bestehen, finden sich dort ebenso wenig wie ein Verhältniswahlsystem in kleinen Wahlkreisen, das deutliche Disproportionalitätseffekte hervorbringt (wie in Griechenland). Allerdings hat sich auch kein MOE-Land für reine Verhältniswahl entschieden, wie sie in den Niederlanden zur Anwendung kommt. Vielmehr haben alle zehn Staaten eine nationale Sperrklausel von 4 % bzw. 5 % eingeführt, um einer Zersplitterung des parlamentarischen Parteiensystems entgegenzuwirken. Diese Prozenthürde beeinträchtigt jedoch das inklusive Profil der mittel- und osteuropäischen Wahlsysteme nicht grundsätzlich, zumal die meisten von ihnen lose gebundene Listen vorsehen, bei denen die Wähler/innen die Möglichkeit haben, durch personenbezogene Präferenzstimmen auf die von den Parteien vorgegebene Kandidatenreihenfolge Einfluss zu nehmen. Blickt man auf die Verfahrensregeln der direkten Demokratie, tritt die Inklusionsorientierung der Regierungssysteme in MOE noch deutlicher hervor.16 Im Unterschied zu Westeuropa, wo nur einzelne Länder wie die Schweiz oder Liechtenstein über umfangreiche Volksrechte verfügen, sind in den neuen EU-Staaten direktdemokratische Beteiligungsformen nahezu flächendeckend ausgebaut. Dies beschränkt sich nicht allein auf regierungsseitig initiierte Plebiszite, die in allen zehn Staaten möglich sind. Neun Länder kennen auch das Recht, eine Abstimmung über ein bereits verabschiedetes Parlamentsgesetz herbeizuführen (fakultatives Referendum; Ausnahme: Estland). Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass acht MOE-Staaten Volksinitiativen – also Abstimmungen über „von unten“ eingebrachte Gesetzentwürfe – auf nationaler Ebene vorsehen (Ausnahmen: Estland und Tschechien). Lediglich obligatorische Referenden sind etwas weniger verbreitet (Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei). Vor diesem Hintergrund scheinen die neuen EU-Staaten ein vielversprechendes Studienobjekt für Demokratiereformer zu sein. Auf den ersten Blick bieten sich 15 Vgl. Grotz, Florian 1998: „Dauerhafte Strukturprägung“ oder „akrobatische Wahlarithmetik“? Die Auswirkungen des ungarischen Wahlsystems in den 90er Jahren, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29/4, 624 – 647, sowie Renwick, Alan 2012: Im Interesse der Macht. Ungarns neues Wahlsystem, in: Osteuropa 62/5, 3 – 17. 16 Siehe dazu Wagschal, Uwe 2011: Direkte Demokratie: rechtliche Grundlagen und politische Praxis, in: Grotz, Florian/Müller-Rommel, Ferdinand (Hrsg.): Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden: VS Verlag, 237 – 261, sowie die Länderbeiträge in Neumann, Peter/Renger, Denise (Hrsg.) 2012: Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2010/11. Mittel- und Osteuropa. Baden-Baden: Nomos.

Wahlsysteme und direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa

65

ihre inklusionsorientierten Institutionen geradezu als Modell an, um etwaigen „Verkrustungen“ in etablierten Parteiendemokratien entgegenzuwirken. Doch diese Erwartung ist trügerisch, wie im Folgenden deutlich wird. IV. Die Relevanz institutioneller Detailregelungen Wer hierzulande die Debatte über die Reform des Bundestagswahlsystems nur ansatzweise verfolgt hat,17 den wird ein genereller Befund der empirisch-vergleichenden Politikforschung kaum überraschen: Der Teufel steckt in den institutionellen Details. Das gilt in besonderer Weise für Wahlsysteme. Wie oben ausgeführt bestehen sie aus heterogenen Elementen, die in fast beliebiger Weise miteinander kombiniert werden können. Je mehr dieser Elemente ein Wahlsystem umfasst, umso genauer müssen ihre Wechselwirkungen in den Blick genommen werden, um die Funktionslogik des Wahlsystems zu erfassen. Diese allgemeine Überlegung trifft auch und gerade auf die MOE-Staaten zu. Ein aktuelles Beispiel ist das ungarische Wahlsystem, das von der amtierenden Regierung unter Viktor Orbán im Dezember 2011 reformiert wurde und erstmals 2014 zur Anwendung kommen soll.18 Die Grundstruktur blieb dabei unverändert: Auch das neue Wahlsystem sieht eine Kombination von Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen und Verhältniswahlmandaten vor, die auf Basis eines kompensatorischen Verrechnungsverfahrens vergeben werden. Darüber hinaus gibt es einige Regeländerungen, die aus demokratietheoretischer Sicht begrüßenswert sind. So wurde das Parlament von 386 auf 199 Sitze erheblich verkleinert und damit international üblichen Größenverhältnissen angepasst. Zudem wurde die Stimmenverrechnung bei den Proporzmandaten, die bislang auf zwei unterschiedlichen Ebenen stattfand, auf der nationalen Ebene konzentriert und damit wesentlich vereinfacht. Nicht zuletzt wurde durch die Abschaffung der regionalen Wahlkreise ein disproportional wirkendes Element innerhalb des Verhältniswahlanteils beseitigt. Gleichzeitig finden sich auch Neuerungen, die zunächst marginal wirken, jedoch aus inklusionsorientierter Perspektive bedenklich stimmen. So wurde der Anteil der Mehrheitswahlmandate von 45,6 % auf 53,3 % (106 von 199) aufgestockt, d. h. er umfasst nun die absolute Mehrheit der Gesamtsitze. Darüber hinaus wurde die Entscheidungsregel in den Einerwahlkreisen von absoluter Mehrheit (50 %+1) in relative Mehrheit verändert. Diese unscheinbare Modifikation dürfte freilich den Machterhalt der regierenden Fidesz-Partei sicherstellen. Obwohl der Fidesz in jüngster Zeit einen deutlichen Popularitätsrückgang verzeichnete, ist er noch immer die relativ stärkste Kraft im ungarischen Mehrparteiensystem und liegt daher in den Einerwahlkreisen flächendeckend vorn. Da nun die bisherige Stichwahl entfällt, bei der die Oppositionsparteien 17 Dazu u. a. Strohmeier, Gerd (Hrsg.) 2009: Wahlsystemreform. Baden-Baden: Nomos, sowie Behnke, Joachim/Grotz, Florian 2011: Das Wahlsystem zwischen normativer Begründung, empirischer Evidenz und politischen Interessen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 42/ 2, 426 – 432. 18 Ausführlich zum Folgenden Renwick, Alan, a.a.O. (Fn. 15).

66

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hätten vereint antreten können, wird das neue Wahlsystem ceteris paribus eine absolute Parlamentsmehrheit für den Fidesz produzieren, auch wenn dessen Stimmenanteil deutlich unter 50 % liegt. Doch auch bei weniger komplexen Wahlsystemen in MOE kommt es auf das „Kleingedruckte“ an. Ein illustrativer Fall ist Lettland, wo die Mandate – wie in zahlreichen west- und osteuropäischen Ländern – nach Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen vergeben werden.19 Bei der Stimmgebung können die lettischen Wähler innerhalb einer Parteiliste Präferenzen für sämtliche Kandidaten angeben, nach denen die endgültige Listenrangfolge bestimmt wird. Gleichwohl zogen nicht immer die am meisten bevorzugten Bewerber ins Parlament ein: Weil ein- und dieselben Personen in mehreren Wahlkreisen antreten durften, stellten die Parteien ihre „Zugpferde“ mehrfach auf und konnte dadurch ihre Stimmenanteile maximieren. Allein die Logik der Präferenzstimmgebung wurde dadurch konterkariert, dass die beliebtesten Kandidaten nur für einen Wahlkreis ins Parlament einziehen konnten und die für sie in den anderen Wahlkreisen abgegebenen Stimmen den dortigen Parteikandidaten zugutekamen, die deutlich weniger Präferenzstimmen erhielten. Gegen dieses Verfahren regte sich Protest seitens der Zivilgesellschaft, dem sich auch der Staatspräsident anschloss. Daraufhin wurde 2009 das Wahlgesetz dergestalt geändert, dass eine Person nur noch in einem einzigen Wahlkreis kandidieren darf. Bei den Parlamentswahlen von 2010 hat diese Modifikation bereits zu einer deutlich stärkeren Berücksichtigung der Präferenzstimmen bei der Mandatsvergabe geführt. Die Detailregelungen bei den direktdemokratischen Institutionen sind nicht minder bedeutsam. Dies gilt insbesondere für Beteiligungsquoren, die in der Regel kontrovers beurteilt werden.20 Die Befürworter hoher Quoren verweisen meist auf die Notwendigkeit, die politische Repräsentation der direktdemokratischen Willensbildung und Entscheidung sicherzustellen; Quorengegner argumentieren wiederum mit dem individuellen Recht auf politische Partizipation, das nicht durch (zu hohe) Hürden unterminiert werden dürfe. Unabhängig davon, welcher normativen Position man zuneigt: Fest steht, dass Quoren die reale Funktionsweise direktdemokratischer Verfahren maßgeblich beeinflussen. So wurde für die Bundesrepublik Deutschland nachgewiesen, dass die Bürger in Ländern mit hohen Unterschriftenquoren wesentlich weniger bereit sind, ein Volksbegehren zu initiieren, als in Ländern mit geringeren Quoren.21 In ähnlicher Weise können die Erfolgsaussichten von Volksentscheiden beeinträchtigt werden, wenn deren Gültigkeit an ein hohes Beteiligungsquorum gebunden ist. 19 Siehe dazu Millard, Frances 2011: Electoral-System Change in Latvia and the Elections of 2010, in: Communist and Post-Communist Studies 44/4, 309 – 318. 20 Vgl. Meerkamp, Frank 2011: Die Quorenfrage im Volksgesetzgebungsverfahren. Bedeutung und Entwicklung. Wiesbaden: VS. 21 Eder, Christina 2010: Direkte Demokratie auf subnationaler Ebene. Eine vergleichende Analyse der unmittelbaren Volksrechte in den deutschen Bundesländern, den Schweizer Kantonen und den US-Bundesstaaten. Baden-Baden: Nomos.

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Für MOE sind die konkreten Anwendungsbestimmungen von Volksinitiativen und Volksentscheiden noch nicht systematisch dokumentiert und analysiert worden. Gleichwohl dürfte sich hier eine ähnliche Varianz ergeben wie zwischen den deutschen Ländern. So haben Staaten wie Lettland, Litauen und die Slowakei relativ restriktive Hürden für die Einleitung von Volksgesetzgebungsverfahren etabliert.22 Umgekehrt gilt in Slowenien bei fakultativen Referenden keine Mindestpartizipationsregel.23 Daher ist es sicherlich kein Zufall, dass von 21 fakultativen Referenden, die in ganz MOE seit 1990 stattfanden, allein zwölf in Slowenien abgehalten wurden; davon waren wiederum mehr als die Hälfte (sieben von zwölf) erfolgreich im Sinne der Initiatoren. Hätte in Slowenien – wie in den meisten anderen MOE-Staaten – ein Beteiligungsquorum von 50 % der Wahlberechtigten gegolten, so wäre dort der Großteil der Referenden an einer zu geringen Wahlbeteiligung gescheitert.24 Insgesamt sind die Wahlsysteme und direktdemokratischen Institutionen der neuen EU-Staaten nicht so inklusionsorientiert wie es ihre Grundstruktur suggeriert. Auch unterscheiden sich die institutionellen Detailregelungen erheblich zwischen den einzelnen Ländern. Der Eindruck der Heterogenität wird verstärkt, wenn man die empirischen Auswirkungen der institutionellen Arrangements betrachtet. V. Institutionelle Effekte: die Bedeutung von Kontextbedingungen Welche Effekte hatten die Wahlsysteme und die direktdemokratischen Institutionen auf die Regierungssysteme in MOE? Haben sie zur Inklusivität und Effizienz des demokratischen Regierens beigetragen oder waren ihre Auswirkungen eher kontraproduktiv? Der vorliegende Beitrag kann diese Fragen selbstverständlich nicht für alle zehn Länder mit der erforderlichen Detailgenauigkeit beantworten. Stattdessen wird im Folgenden eine zentrale Erkenntnis herausgestellt, die die Forschungsliteratur zu MOE wie ein roter Faden durchzieht: Der Kontext macht den Unterschied.25 Die Feststellung, dass die Auswirkungen politischer Institutionen nicht allein von deren Struktur, sondern auch von diversen historischen, sozioökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängen, gilt grundsätzlich immer und mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Für Mittel- und Osteuropa hat diese Aussage jedoch 22

Setälä, Maija/Schiller, Theo 2012: Comparative Findings, in: dies. (Hrsg.): Citizens’ Initiatives in Europe. Procedures and Consequences of Agenda-Setting by Citizens. Basingstoke: Palgrave, 243 – 259, hier 246 ff. 23 Gallenkamp, Marian/Kassner, Steffen 2010: Slovenia, in: Nohlen, Dieter/Stöver, Philip (Hrsg.): Elections in Europe. Baden-Baden: Nomos, 1761 – 1802, hier 1176 f. 24 Grotz, Florian 2012: Direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa. Befunde und Perspektiven des internationalen Vergleichs, in: Neumann, Peter/Renger, Denise (Hrsg.): Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2010/11. BadenBaden: Nomos, 13 – 34, hier 28. 25 Die Formulierung geht zurück auf Nohlen, Dieter 2003: El contexto hace la diferencia. Reformas institucionales y el enfoque histórico-empírico. México: UNAM.

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insofern besonderes Gewicht, als die neugegründeten Demokratien nach 1989/90 mit einer ganzen Reihe schwieriger Herausforderungen – dem Übergang zur Marktwirtschaft, der nationalstaatlichen Neukonstituierung, dem EU-Beitritt, etc. – konfrontiert waren.26 Zugleich waren die Ausgangsbedingungen für die Herausbildung programmatisch und organisatorisch strukturierter Parteien im post-sozialistischen Kontext wesentlich ungünstiger als in Westeuropa.27 Daher ist die Parteiensystementwicklung in MOE bis heute ausgesprochen dynamisch.28 Auch die dortigen Regierungskoalitionen sind erheblich instabiler als ihre westeuropäischen Pendants.29 In einem solchen Umfeld sollten sich auch die Auswirkungen politischer Institutionen deutlich von jenen unterscheiden, die man in konsolidierten Demokratien beobachten kann. Sehen wir uns wieder zunächst die Wahlsysteme an. Für etablierte Demokratien gilt generell, dass Verhältniswahlsysteme stärker proportionale Effekte erzielen und zugleich stärker fragmentierte Parteiensysteme hervorbringen als jene Wahlsysteme, in denen stärker mehrheitsbildende Elemente eingebaut sind.30 Für MOE bestätigt sich dieses Muster insofern, als die kombinierten Wahlsysteme – vor allem in Litauen und Ungarn – eine durchschnittlich höhere Disproportionalität aufweisen als die Verhältniswahlsysteme in der Region.31 Zugleich liegen die Abweichungen vom Stimmen-Mandate-Proporz bei allen mittel- und osteuropäischen Wahlsystemen deutlich über dem westeuropäischen Niveau. Mit anderen Worten: Obwohl die Wahlsysteme in den neuen EU-Staaten der Form nach inklusiver sind als in den alten EU-Staaten, sind ihre Auswirkungen weniger inklusiv. Die Erklärung dieses paradoxen Befundes liegt in der Struktur der post-sozialistischen Parteiensysteme. In vielen MOE-Ländern entfiel ein beträchtlicher Anteil der Wählerstimmen auf Kleinstparteien, die an den nationalen Sperrklauseln von 4 % bzw. 5 % scheiterten. Dazu ein illustrativer Vergleich: Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag gin26 Vgl. u. a. Beyme, Klaus von 1994: Systemwechsel in Osteuropa. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Gros, Daniel/Steinherr, Alfred 2004: Economic Transition in Central and Eastern Europe. Cambridge: Cambridge UP; Vachudova, Milada A. 2005: Europe Undivided. Democracy, Leverage, and Integration after Communism. Oxford: Oxford UP. 27 Tiemann, Guido 2011: Parteiensysteme: Interaktionsmuster und Konsolidierungsgrad, in: Grotz, Florian/Müller-Rommel, Ferdinand (Hrsg.): Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden: VS, 127 – 146. 28 Dazu jüngst Powell, Eleanor Neff/Tucker, Joshua 2013: Revisiting Electoral Volatility in Post-Communist Countries: New Data, New Results and New Approaches, in: British Journal of Political Science (i.E.); Grotz, Florian/Weber, Till 2013: Normale oder besondere Akteure der Koalitionspolitik? Die Regierungsbeteiligung neuer Parteien in Mittel- und Osteuropa, in: Decker, Frank/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013. Baden-Baden: Nomos, 521 – 541. 29 Grotz, Florian/Weber, Till 2012: Party Systems and Government Stability in Central and Eastern Europe, in: World Politics 64/4, 699 – 740. 30 Lijphart, Arend 1994: Electoral Systems and Party Systems. Oxford: Oxford UP. 31 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf Harfst, Philip 2011: Wahlsysteme: institutionelle Entwicklung und politische Auswirkungen, in: Grotz, Florian/Müller-Rommel, Ferdinand (Hrsg.) 2011: Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden: VS, 107 – 126, hier 117 ff.

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gen seit den 1960er Jahren nur jeweils zwischen 0,4 % und 6,0 % der Stimmen wegen der 5 %-Klausel „verloren“.32 In MOE lagen die entsprechenden „Filtereffekte“ während der 1990er Jahre bei bis zu 10 % der Wählerstimmen, in einigen Fällen sogar deutlich darüber.33 Die zunehmende Konsolidierung der mittel- und osteuropäischen Parteiensysteme hat dann zu einer rückläufigen Filterwirkung der Sperrklauseln geführt, was wiederum die Proportionalität der Wahlsysteme erhöht hat. Gleichwohl kann man nicht von einer generellen „Normalisierung“ der Wahlsystemeffekte in MOE sprechen. In einigen Ländern schwankt die Disproportionalität zwischen Stimmen und Mandaten noch immer beträchtlich von Wahl zu Wahl.34 Der Grund dafür ist die unverändert hohe Dynamik der Parteiensysteme, die zu einer relativ starken Wählerfluktuation führt und auf diese Weise auch die Wirkung des Wahlsystems verändert. Als illustratives Beispiel kann wiederum Ungarn herangezogen werden. Die Struktur des dortigen kombinierten Wahlsystems blieb zwischen 1990 und 2010 nahezu unverändert. Trotzdem waren seine Effekte in diesem Zeitraum höchst unterschiedlich.35 Bei den beiden ersten Wahlen 1990 und 1994 generierte es einen großen Mandatsbonus zugunsten der stärksten Partei, wie ihn normalerweise nur reine Mehrheitswahlsysteme produzieren. Seit 1998 wurde seine Wirkung dann proportionaler und glich sich bis 2008 den Effekten der meisten Verhältniswahlsysteme in der Region an. Bei der letzten Parlamentswahl 2010 brachte es wiederum einen massiven Mehrheitsbonus hervor: Dadurch dass die Fidesz-Partei in den Einerwahlkreisen flächendeckend reüssierte, gewann sie mit knapp 53 % der Stimmen 68 % der Mandate und verfügte damit über eine parlamentarische Zwei-Drittel-Mehrheit, die sie sogleich für ebenso umfangreiche wie umstrittene Verfassungsänderungen nutzte.36 Auch die Funktionsweise der direkten Demokratie in MOE wurde maßgeblich durch die jeweiligen Kontextbedingungen geprägt. Das zeigt bereits die variierende Nutzungshäufigkeit. Wie Tabelle 2 verdeutlicht, kamen seit 1989 alle direktdemokratischen Verfahrensarten in der Region mehrfach zum Einsatz. Allerdings gibt es große Länderunterschiede. So fanden in fünf Fällen jeweils zwischen zehn und 20 Abstimmungen statt (Litauen, Slowenien, Slowakei, Ungarn und Lettland), während Bulgarien und Tschechien im gesamten Zeitraum nur je einen direktdemokratischen Urnengang verzeichneten. Polen, Rumänien und Estland lagen dazwischen. Auch hinsichtlich der Verfahrensarten besteht eine erhebliche Varianz. Mehr als die 32

Grotz, Florian 2012: Abschied von der personalisierten Verhältniswahl? Perspektiven einer Reform des Bundestagswahlsystems, in: Jesse, Eckhard/Sturm, Roland (Hrsg.): Bundestagswahl 2009. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen. Baden-Baden: Nomos, 411 – 432. 33 Genaue Daten bei Nohlen, Dieter/Stöver, Philip (Hrsg.) 2010: Elections in Europe. Baden-Baden: Nomos. 34 Vgl. Harfst, Philip, a.a.O. (Fn. 31), 120. 35 Siehe Grotz, Florian, a.a.O. (Fn. 15), sowie Lang, Kai-Olaf 2010: Rechtsruck. Die Parlamentswahlen in Ungarn, in: Osteuropa 60/6, 3 – 18. 36 Halmai, Gábor 2011: Hochproblematisch. Ungarns neues Grundgesetz, in: Osteuropa 61/12, 145 – 156.

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Hälfte der fakultativen Referenden entfiel auf Slowenien, über drei Fünftel der Volksinitiativen wurden in Litauen und der Slowakei abgehalten. Allein obligatorische Referenden und Plebiszite sind etwas gleichmäßiger – wenn auch keineswegs paritätisch – über die Länder verteilt. Nicht zuletzt fördert der Zeitvergleich beträchtliche Divergenzen zutage.37 So fanden in Litauen zwölf der 20 Volksabstimmungen zwischen 1991 und 1994 statt; seit 2006 waren es nur zwei. In Lettland, Ungarn und der Slowakei sind die Abstimmungen gleichmäßiger über den gesamten Zeitraum verteilt. In Slowenien wiederum hat sich innerhalb des vergangenen Jahrzehnts eine kontinuierliche Referendumspraxis herausgebildet: Seit 2003 fanden hier insgesamt 15 Abstimmungen nahezu im Jahresrhythmus statt. Tabelle 2 Anwendung direktdemokratischer Verfahren in MOE (1989 – 2013) Land

Obligatorische Referenden

Direktdemokratische Verfahren Fakultative Plebiszite Volksinitiativen Referenden

Gesamt

Bulgarien Estland Lettland Litauen Polen Rumänien Slowakei Slowenien Tschechien Ungarn

1 1 5 2 3 1 1

1 4 0 0 0 0 12 0 4

0 3 2 5 7 4 1 3 0 1

0 3 10 0 0 11 4 6

1 4 10 20 7 6 15 19 1 12

Gesamt

14

21

26

34

95

Quelle: aktualisierte Darstellung von Grotz, Florian 2012: Direkte Demokratie in Mittel- und Osteuropa. Befunde und Perspektiven des internationalen Vergleichs, in: Neumann, Peter/Renger, Denise (Hrsg.): Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2010/11. Baden-Baden: Nomos, 13 – 34, hier 17 (Stand: 01.02. 2013).

Für die Erklärung der unterschiedlichen Anwendungspraxis helfen institutionelle Detailregelungen nur bedingt weiter. Zwar hat sich im Falle Sloweniens – wie erwähnt – das fehlende Mindestpartizipationsquorum förderlich auf die Nutzung des fakultativen Referendums ausgewirkt. Bei den Volksinitiativen scheint dagegen kein systematischer Zusammenhang zwischen der Höhe der Quoren und der Anzahl der Abstimmungen zu bestehen: Während Polen trotz niedriger Unterschriftenhürde noch keine erfolgreiche Volksinitiative verzeichnete, wurden in Lettland und der Slowakei trotz deutlich höherer Quoren zahlreiche Initiativen lanciert.38 Allgemein zeigt der MOE-Vergleich, dass die Einführung „offener“ direktdemokratischer Verfahren noch nicht automatisch zur Steigerung der politischen Partizipation führt, sondern

37 38

Vgl. Grotz, Florian, a.a.O. (Fn. 24), 16 ff. Setälä, Maija/Schiller, Theo, a.a.O. (Fn. 22).

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dass es dazu auch eines verstärkten zivilgesellschaftlichen Engagements bedarf, das längst nicht in allen Ländern existiert. Selbst wenn inklusionsorientierte Verfahren der direkten Demokratie verstärkt genutzt werden, so befördert dies nicht unbedingt die Konsensorientierung innerhalb eines Regierungssystems. Zwar hat das fakultative Referendum in der Schweiz – wie erwähnt – zur Herausbildung des dortigen Konkordanzsystems beigetragen, indem die wichtigsten referendumsfähigen Gruppen sukzessive die Regierung einbezogen wurden. Die inklusiven Erfahrungen der Schweiz lassen sich jedoch nicht einfach verallgemeinern. Die bisherige Empirie in MOE deutet eher auf die gegenteiligen Auswirkungen hin. So lancierte die parlamentarische Opposition in Ungarn 2008 eine Volksinitiative, um eine von der Regierung verabschiedete Gesundheitsreform ex post zu verhindern. Im Ergebnis hat diese Initiative nicht nur die parteipolitische Polarisierung verstärkt, sondern auch die Regierungsstabilität beeinträchtigt, da die Koalition aus Sozialisten und Liberalen im Gefolge der Abstimmung zerbrach.39 Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich in Slowenien erkennen, wo in den letzten Jahren etliche fakultative Referenden initiiert wurden, um parlamentarisch beschlossene Reformpolitiken rückgängig zu machen. Parallel dazu sank auch die Dauerhaftigkeit der slowenischen Regierungskoalitionen. Selbstverständlich ist es nicht „verwerflich“, wenn das Ergebnis einer Volksabstimmung zum Rücktritt einer parlamentarischen Regierung führt. In den neuen EU-Staaten, wo die Parteienregierungen noch immer relativ instabil sind, besteht indes die Gefahr, dass die Funktions- und Leistungsfähigkeit der repräsentativen Institutionen durch den protestbedingten Einsatz oppositioneller Volksabstimmungen nachhaltig beeinträchtigt wird. Gerade in den MOE-Ländern, in denen die inklusionsorientierten Formen direkter Demokratie bislang am häufigsten zur Anwendung gekommen ist, haben sie weniger den Einbezug unterrepräsentierter Gruppen befördert, sondern vielmehr die Regierbarkeit beeinträchtigt. VI. Institutionelle Reformen: die Dominanz von Machtkalkülen Für Demokratiereformen ist nicht nur die Frage von Bedeutung, welche institutionellen Alternativen den Status quo verbessern könnten, sondern auch, wie die bestgeeigneten Reformoptionen politisch umzusetzen sind. Da neue Spielregeln immer über Gewinn und Verlust von Machtpositionen entscheiden, sind institutionelle Reformen nicht nur höchst umstritten, sondern auch in besonderer Weise von den Eigeninteressen der politischen Entscheidungsträger geprägt. Daher besteht grundsätzlich die Gefahr, dass ein funktional begründeter Optimierungsbedarf durch Machtkalküle überlagert wird und so entweder überhaupt keine Änderung zustande kommt oder nur eine „Reform“, die den politischen Status quo perpetuiert. 39 Körösényi, András/Fodor, Gábor G./Dieringer, Jürgen 2010: Das politische System Ungarns Vergleich, in: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Osteuropas. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, 357 – 418, hier 380.

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Die genannten Überlegungen gelten auch und gerade für Wahlsysteme. Unter den Bedingungen eines konsolidierten Parteiensystems sind Wahlsystemreformen wenig wahrscheinlich, da die stärksten Parlamentsparteien vom bestehenden Wahlrecht in der Regel am meisten profitieren und daher kein Interesse an substanziellen Veränderungen haben. So erklärt sich, dass die meisten Wahlsysteme in westlichen Demokratien während der vergangenen Jahrzehnte hochgradig stabil waren.40 In den Fällen, in denen es zu größeren Wahlsystemänderungen kam (Frankreich, Japan, Italien, Neuseeland), lassen sich zwei idealtypische Reformprozesse unterscheiden:41 solche, in denen eine breite Mitwirkung der Zivilgesellschaft gegeben war und allgemeine Funktionserwägungen dominierten, und solche, in denen die Regierungsmehrheit ihre Machtinteressen durchsetzen konnte. Blickt man vor diesem Hintergrund auf MOE, so ist zunächst eine deutlich intensivere Reformtätigkeit festzustellen als in Westeuropa. Alle Wahlsysteme in den neuen EU-Staaten wurden seit 1990 nennenswert verändert, etliche sogar mehrfach.42 Dieser Befund könnte den Anschein erwecken, als ob in den post-sozialistischen Demokratien größere politische Handlungsspielräume vorhanden sind, um die vorhandenen Institutionen zu optimieren. Eine nähere Betrachtung der Reformprozesse gibt jedoch eher zu Ernüchterung Anlass. Zwar wurden einige Wahlsystemänderungen umgesetzt, bei denen allgemeine Funktionserwägungen im Mittelpunkt standen. Beispiele dafür finden sich etwa in Polen, wo 1993 eine nationale Sperrklausel eingeführt wurde, um der übermäßigen Zersplitterung des Parteiensystems Einhalt zu gebieten,43 oder in Lettland, wo 2008 die Regelungen zu den Wahlkreiskandidaturen präzisiert wurden.44 In den meisten Fällen erwiesen sich jedoch die Machtkalküle der parlamentarischen Mehrheit als entscheidender Faktor. Dies trifft auch auf die größeren Wahlsystemreformen der jüngsten Vergangenheit zu. In Ungarn baute die Fidesz-Regierung Ende 2011 die mehrheitsbildenden Elemente des Wahlsystems aus, um ihren Machterhalt abzusichern.45 Eine ähnliche Motivation lag dem Wahlsystemwechsel in Bulgarien von 2009 zugrunde, den die regierende Sozialisti40

Siehe Nohlen, Dieter 1984: Changes and Choices in Electoral Systems, in: Lijphart, Arend/Grofman, Bernard (Hrsg.): Choosing an Electoral System: Issues and Alternatives. New York: Praeger, 217 – 229, sowie Katz, Richard S. 2005: Why Are There So Many (or So Few) Electoral Reforms?, in: Gallagher, Michael/Mitchell, Paul (Hrsg.): The Politics of Electoral Systems. Oxford: Oxford UP, 57 – 76. 41 Renwick, Alan 2010: The Politics of Electoral Reform. Changing the Rules of Democracy, Cambridge: Cambridge UP. 42 Vgl. dazu Nohlen, Dieter/Kasapovic, Mirjana 1996: Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa. Genese, Auswirkungen und Reform politischer Institutionen. Opladen: Leske + Budrich; Harfst, Philipp 2007: Wahlsystemwandel in Mittelosteuropa: Strategisches Design einer politischen Institution. Wiesbaden: VS. 43 Grotz, Florian 2000: Politische Institutionen und post-sozialistische Parteiensysteme in Ostmitteleuropa. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, 148 f. 44 Vgl. oben Fn. 19. 45 Siehe oben Fn. 18.

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sche Partei (BSP) initiierte. Ihr ursprünglicher Plan, neben 31 Einerwahlkreisen noch weitere konzentrationsförderliche Elemente einzuführen, wurde indes vom bulgarischen Verfassungsgericht durchkreuzt.46 Auch in anderen MOE-Staaten waren es nicht fehlende Parlamentsmehrheiten, sondern Verfassungsgerichte, die einen Übergang zur Mehrheitswahl verhinderten. So hatten sich die zwei größten Parteien Tschechiens – die Bürgerlich-Demokratische Partei (ODS) und die Sozialdemokratische Partei (CˇSSD) – im Jahr 2000 auf ein mehrheitsbildendes Wahlsystem geeinigt, das die anderen Parlamentsparteien existenziell bedroht hätte. Allein das tschechische Verfassungsgericht erklärte die Reform für nichtig, weil sie gegen das konstitutionell verankerte Verhältniswahlprinzip verstieß.47 Aus ähnlichen Gründen wies das rumänische Verfassungsgericht im Juni 2012 den Wechsel zu einem relativen Mehrheitswahlsystem zurück, den die regierende Sozialliberale Union durchsetzen wollte.48 In den neuen EU-Staaten waren mithin nicht alle Initiativen zur Änderung des Wahlsystems erfolgreich. Dennoch tritt ein Aspekt deutlich hervor: Unter den dortigen Parteien herrscht offenbar eine verbreitete Tendenz, das Wahlsystem nicht als „geheiligte Spielregel der Demokratie“49 anzusehen, sondern als Machtinstrument, das je nach aktuellem „Eigenbedarf“ verändert werden kann. Derartige Reformintentionen drohen freilich den grundlegenden Sinn demokratischer Wahlsysteme zu unterminieren: ein rechtlich kodifiziertes Entscheidungsverfahren an die Hand zu geben, das Erwartungssicherheit erzeugt und dadurch das politische Verhalten von Bürgern und Parteien mittelfristig stabilisiert. Die Entwicklung der direktdemokratischen Institutionen in MOE wurde bislang noch nicht systematisch-vergleichend erforscht. Der Blick auf einzelne Länder bestätigt indes auch hier die Bedeutung machtorientierter Kalküle. So übernahm Tschechien nach der Unabhängigkeitswerdung die gesamte Rechtsordnung der Tschechoslowakei, in der u. a. die Abhaltung von Referenden vorgesehen war. Ein entsprechendes Ausführungsgesetz konnte jedoch bis heute nicht verabschiedet werden, weil sich keine qualifizierten Mehrheiten in beiden Parlamentskammern fanden. Die bislang einzige Volksabstimmung in Tschechien, die 2003 über den EU-Beitritt stattfand, wurde auf Basis eines ad-hoc-Gesetzes durchgeführt.50

46 Barzachka, Nina 2009: Mechanism of Electoral System Choice: Bulgaria 1990, 1991, 2009. Washington D.C.: IREX, 4. 47 Siehe Grotz, Florian 2005: Die Entwicklung kompetitiver Wahlsysteme in Mittel- und Osteuropa: post-sozialistische Entstehungsbedingungen und fallspezifische Reformkontexte, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 34/1, 27 – 42, hier 38. 48 Vgl. http://www.reuters.com/article/2012/06/27/us-romania-politics-idUSBRE85Q1G12 0120627 (zuletzt abgerufen am 10.02.2013). 49 Nohlen, Dieter 2011: Wahlsysteme, in: ders./Grotz, Florian (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik. 5. Auflage. München: Beck, 674 – 681, hier 675. 50 Vodicˇka, Karel 2012: Plebiszite in Tschechien. Ein wertvolles – unzureichend eingesetztes – Konsolidierungsinstrument, in: Neumann, Peter/Renger, Denise (Hrsg.): Sachun-

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Auch in Bulgarien sperrten sich die politischen Parteien lange Zeit gegen die Einführung von fakultativen Referenden und Volksinitiativen. Im Unterschied zu Tschechien gab es hier jedoch zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die sich öffentlichkeitswirksam für mehr Bürgerbeteiligung einsetzten. 2009 wurde dann ein Gesetz verabschiedet, das diesen Forderungen Rechnung trug.51 Das letztere Beispiel belegt erneut, dass direktdemokratische Institutionen – noch weit mehr als andere Verfassungsarrangements – ein aktives bürgerschaftliches Engagement voraussetzen, um jene inklusive Wirkung zu entfalten, die von ihnen erhofft wird. VII. Fazit: Von Mittel- und Osteuropa lernen? Die jungen Demokratien in MOE haben sich nach dem Systemumbruch von 1989/ 90 erstaunlich rasch konsolidiert.52 Daran hatten die bestehenden Verfassungsinstitutionen zweifellos einen maßgeblichen Anteil. Allerdings lässt sich der einschlägigen Literatur nicht eindeutig entnehmen, welche Wahlsysteme und direktdemokratischen Verfahren die politische Entwicklung in der Region am besten befördert haben. Vielmehr fallen die diesbezüglichen Einschätzungen höchst unterschiedlich aus. Wurde das ungarische Wahlsystem noch in den 1990er Jahren von prominenten Beobachtern als besonders konsolidierungsfördernd gepriesen,53 so gilt es heute fast durchwegs als Problemerzeuger.54 Und während die demokratiebezogenen Auswirkungen von Volksabstimmungen in MOE in einigen Analysen positiv beurteilt wurden,55 ziehen andere ein eher kritisches Fazit.56 Der vorliegende Beitrag hat eine Reihe von Aspekten herausgestellt, die solche divergierenden Bewertungen erklären können. Abgesehen davon, dass man die Beurteilung demokratischer Institutionen an unterschiedlichen Maßstäben festmachen kann (Inklusion vs. Effizienz), haben sich die Wahlsysteme und direktdemokratischen Verfahren in MOE als sehr dynamittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2010/11. BadenBaden: Nomos, 117 – 137, hier 125 f. 51 Riedel, Sabine 2012: Sachunmittelbare Demokratie in Bulgarien, in: Neumann, Peter/ Renger, Denise (Hrsg.): Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2010/11. Baden-Baden: Nomos, 189 – 209, hier 192 f. 52 Merkel, Wolfgang 2011: Systemtransformation: Konsolidierung und Qualität der Demokratie, in: Grotz, Florian/Müller-Rommel, Ferdinand (Hrsg.): Regierungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden: VS, 27 – 46. 53 Siehe etwa Merkel, Wolfgang 1996: Institutionalisierung und Konsolidierung der Demokratien in Ostmitteleuropa, in: ders./Sandschneider, Eberhard/Segert, Dieter (Hrsg.): Systemwechsel 2. Die Institutionalisierung der Demokratie. Opladen: Leske + Budrich, 73 – 112. 54 Renwick, Alan, a.a.O. (Fn. 15). 55 Z.B. Hug, Simon 2005: The Political Effects of Referendums. An Analysis of Institutional Innovations in Eastern and Central Europe, in: Communist and Post-Communist Studies 38/4, 475 – 499. 56 Exemplarisch Lásˇtic, Erik 2007: Referendum Experience in Slovakia: a Long and Winding Road, in: Pállinger, Zoltán Tibor/Kaufmann, Bruno/Marxer, Wilfried/Schiller, Theo (Hrsg.): Direct Democracy in Europe. Developments and Prospects. Wiesbaden: VS, 189 – 198.

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misch erwiesen. Das gilt sowohl für ihre institutionelle Struktur, die seit 1990 häufig verändert wurden, als auch für ihre Auswirkungen, die unter den Bedingungen des post-sozialistischen Parteienwettbewerbs hochgradig variierten. Die allgemeine Beobachtung, dass demokratische Institutionen kontextabhängig sind, gilt mithin für die Wahlsysteme und Volksabstimmungen in den neuen EU-Staaten in besonderer Weise. Daher lässt sich aus den mittel- und osteuropäischen Erfahrungen auch kein Institutionenmodell destillieren, das anderenorts als Vorbild dienen könnte. Was kann man dann für die allgemeine Debatte über Demokratiereformen lernen? Die obigen Ausführungen legen zumindest eine pointierte Antwort nahe: „Augenmaß“ – und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens sollten in der Diskussion befindliche Reformoptionen nicht mit zu hohen Erwartungen überfrachtet werden. Die Effekte, die Wahlsystemen und direktdemokratischen Verfahren theoretisch zugeschrieben werden, sind zu einem beträchtlichen Teil von außerinstitutionellen Rahmenbedingungen abhängig, die nicht durch formale Regelungen kreiert werden können. Institutionelle Alternativen zum Status quo sind folglich daraufhin zu prüfen, ob sie unter den gegebenen Kontextbedingungen die intendierten Effekte erzielen, ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu generieren. Die Referendumspraxis in Slowenien verdeutlicht exemplarisch, wie ein inklusiv strukturiertes Verfahren der Bürgerbeteiligung unter spezifischen Bedingungen zum Problemerzeuger werden kann. Zweitens sollten institutionelle Reformvorschläge möglichst konkret ausgearbeitet und auch in dieser Detailgenauigkeit diskutiert werden. Die Ausgestaltung der Präferenzstimmgebung im lettischen Wahlsystem ist nur ein illustratives Beispiel aus MOE, das in diesem Zusammenhang angeführt werden kann. Drittens sollte man mit der Reform bestehender Institutionen wohldosiert umgehen. Gerade die häufigen Wahlsystemwechsel in MOE haben gezeigt, dass die kontinuierliche Veränderung demokratischer Spielregeln deren normativ-stabilisierende Kraft unterminieren kann. Das bedeutet keineswegs, dass man nicht mehr kritisch über den institutionellen Status quo diskutieren sollte. Im Gegenteil: Solche Debatten dienen dazu, sich immer wieder der Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats zu vergewissern, und erfüllen damit einen zentralen demokratiepolitischen Zweck – ganz unabhängig davon, ob es letztlich zu einer Demokratiereform kommt oder nicht.

Mehr Demokratie durch die Direktwahl der Ministerpräsidenten? Perspektiven einer Regierungsreform in den Ländern Frank Decker I. Die Renaissance der Direktwahlidee in den neunziger Jahren Die Regierungssysteme der deutschen Länder (den stattdessen häufig verwandten Begriff der „Bundesländer“ kennt das Grundgesetz nicht) sind in der vergleichenden Politikwissenschaft als Forschungsthema lange Zeit kaum präsent gewesen. Seit zehn Jahren hat sich dies deutlich geändert. Davon zeugen neben einer Reihe von umfangreichen Studien zu Teilbereichen1 nicht zuletzt mehrere Gesamtdarstellungen, die in kurzer zeitlicher Abfolge erschienen sind.2 Das jahrzehntelange Desinteresse verwundert, wenn man bedenkt, dass sich Politologen wie Wilhelm Hennis3 und Theodor Eschenburg4 in den fünfziger und sechziger Jahren eingehend mit der Frage 1

Vgl. z. B. Andreas Kost (Hg.), Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung, Wiesbaden 2005; Herbert Schneider / Hans-Georg Wehling (Hg.), Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder, Wiesbaden 2006, Achim Hildebrandt / Frieder Wolf (Hg.), Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich, Wiesbaden 2008; Uwe Jun / Melanie Haas / Oskar Niedermayer (Hg.), Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008 und Kerstin Völkl u. a. (Hg.), Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2008. 2 Vgl. Markus Freitag / Adrian Vatter (Hg.), Die Demokratien der deutschen Bundesländer. Politische Institutionen im Vergleich, Opladen / Farmington Hills 2008, Sven Leunig, Die Regierungssysteme der deutschen Länder im Vergleich, Opladen / Farmington Hills 2007 (2. Aufl., 2012) und Werner Reutter, Föderalismus, Parlamentarismus und Demokratie. Landesparlamente im Bundesstaat, Opladen / Farmington Hills 2008. Eine komprimierte Gesamtschau wurde vom Verfasser bereits 2004 vorgelegt. Vgl. Frank Decker, Die Regierungssysteme in den Ländern, in: ders. (Hrsg.), Föderalismus an der Wegscheide?, Wiesbaden 2004, S. 169 – 201. Aus demselben Jahr datiert eine umfassende Bestandsaufnahme des Länderparlamentarismus. Vgl. Siegfried Mielke / Werner Reutter (Hrsg.), Länderparlamentarismus in Deutschland. Geschichte, Struktur, Funktionen, Wiesbaden 2004 (2. Aufl, 2011). 3 Wilhelm Hennis, Parlamentarische Opposition und Industrie Industriegesellschaft. Zur Lage des parlamentarischen Regierungssystems, in: Gesellschaft – Staat – Erziehung 1 (1956), S. 205 – 222, wiederabgedruckt in: ders., Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche Abhandlungen I, Tübingen 1999, S. 1 – 23. 4 Theodor Eschenburg [1960], Parlamentarische Regierung in den Ländern, in: ders., Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik. Kritische Betrachtungen 1957 bis 1961, München 1964, S. 223 – 227.

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beschäftigt hatten, ob das parlamentarische System für die Länder die angemessene Regierungsform sei. Vom damaligen kritischen Blick ist in den neuen Publikationen wenig zu spüren. Der föderalismusbedingte Bedeutungsverlust der Länderparlamente wird von den Autoren als Datum hingenommen und die parlamentarische Regierungsform der Länder nicht weiter in Zweifel gezogen. Dies geht soweit, dass die wegweisenden Arbeiten von Hennis und Eschenburg nicht einmal mehr im Literaturverzeichnis auftauchen (bei Leunig und Freitag / Vatter). Wenn die Debatte dennoch neu in Gang gekommen ist, so verdankt sich das allein der Staatsrechtslehre. Das Hauptverdienst gebührt dabei Hans Herbert von Arnim, der sich als streitbarer Kritiker der politischen Parteien über die Grenzen seiner Zunft hinaus einen Namen gemacht hat.5 Von Arnim brachte den Vorschlag einer Abkehr vom parlamentarischen System (mit der Direktwahl des Ministerpräsidenten als Herzstück), der bereits in den fünfziger Jahren von Theodor Eschenburg6 als Konzept für die Verfassung des neu zu schaffenden Landes Baden-Württemberg entwickelt worden war, in den neunziger Jahren wieder ins Spiel (am prominentesten in den 1995 lancierten Thesen der „Frankfurter Intervention“).7 Ohne besonders viel öffentliche Resonanz zu erzeugen, entspann sich daraufhin eine wissenschaftliche Diskussion, an der – mit Ausnahme des Verfassers8 – ausschließlich Verfassungsrechtler teilnahmen.9 Eine gründliche wissenschaftliche Ausarbeitung des Konzepts unter5 Aus der Reihe der zahlreichen Titel vgl. z. B. Das System. Die Machenschaften der Macht, München 2001. Für eine kritische Auseinandersetzung mit von Arnims Parteienkritik siehe Eckhard Jesse, (Über-)Scharfe Kritik am „Versagen der Politik“. Hans Herbert von Arnims „Volksparteien ohne Volk“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 19 (2009) H. 3, S. 421 – 436. 6 Theodor Eschenburg, Verfassung und Verwaltungsaufbau des Südweststaates, Stuttgart 1952. 7 Hans Herbert von Arnim (Verf.), Wege aus der Krise des Parteienstaates. Thesen der „Frankfurter Intervention“, in: Recht und Politik 31 (1995) H. 1, S. 16 – 26. 8 Frank Decker, Direktwahl der Ministerpräsidenten?, in: Recht und Politik 37 (2001) H. 3, S. 152 – 160; ders., Zwischen Placebo und Erfolgsmodell. Direkte Demokratie auf der Landesebene, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 41 (2010) H. 3, S. 564 – 579. Obwohl der Direktwahlvorschlag in dem letztgenannten Aufsatz nur beiläufig, nämlich im Systemzusammenhang der Volksgesetzgebung erwähnt wurde, forderte er zum ersten Mal die Reaktion eines Politikwissenschaftlers heraus. Vgl. Everhard Holtmann, Direkt gewählte Ministerpräsidenten der Länder – eine kritische Folgenabschätzung der von Frank Decker in Heft 3/2010 der ZParl veröffentlichten Überlegungen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 42 (2011) H. 1, S. 194 – 205. Dazu meine Entgegnung Direktwahl der Ministerpräsidenten? Eine Entgegnung auf Everhard Holtmanns Replik in Heft 1/2011 der ZParl, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 42 (2011) H. 4, S. 886 – 890. 9 Vgl. z. B. Hans Hugo Klein, Direktwahl der Ministerpräsidenten?, in: Burkhard Ziemske u. a. (Hg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, München 1997, S. 573 – 587; Fred Esterbauer, Volkswahl der Regierung? Thesen zu einem demokratischeren und stabileren Regierungssystem, in: Hans Herbert von Arnim (Hg.), Direkte Demokratie, Berlin 1999, S. 161 – 175; Hartmut Maurer, Volkswahl des Ministerpräsidenten?, in: Heiko Faber / Götz Frank (Hg.), Demokratie in Staat und Wirtschaft, Tübingen 2002, S. 143 – 162; Hans Herbert von Arnim, Systemwechsel durch Direktwahl der Ministerpräsidenten, in: Arthur Benz / Heinrich Sie-

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nahm von Arnims Schüler Jan Backmann in seiner 2007 veröffentlichten Speyrer Dissertation.10 Die Renaissance der Direktwahlidee muss vor dem Hintergrund der verfassungspolitischen Entwicklung gesehen werden, die ab Ende der achtziger Jahre in den Ländern einsetzte. Auf der einen Seite kam es zu einer flächendeckenden Reform der Kommunalverfassungen. Die Volkswahl der Bürgermeister, die bis dahin nur in Bayern und Baden-Württemberg üblich war, wurde in den anderen Ländern der alten Bundesrepublik übernommen und in den neuen Ländern von Beginn an eingeführt. Dies war gleichbedeutend mit dem Übergang von der parlamentarischen zur präsidentiellen Regierungsform. Auf der anderen Seite hielten Verfahren der direkten Demokratie Einzug. Wo sie nicht vorhanden waren, wurden sie neu eingeführt, wo sie bereits bestanden, ausgebaut und ihre Anwendungsbedingungen verbessert. Dies galt sowohl für die kommunale (Bürgerbegehren / Bürgerentscheid) als auch für die staatliche Ebene (mit der zwei- oder dreistufig ausgestalteten Volksgesetzgebung). Ob plebiszitäre Sachentscheidungen und die Direktwahl von Amtsträgern gleichermaßen unter den Begriff „Direktdemokratie“ subsumiert werden können, ist umstritten.11 Auch über die systemischen Zusammenhänge zwischen beiden Verfahren hat man sich in der Literatur bisher keine großen Gedanken gemacht – weder in der Staatsrechtslehre noch in der Politikwissenschaft. Dabei wäre, wie wir weiter unten sehen werden, gerade das Vorhandensein eines zu Oppositionszwecken einsetzbaren Gesetzgebungsrechts des Volkes ein Grund, dem Beispiel der Kommunen zu folgen und auf der Länderebene vom parlamentarischen zum präsidentiellen System zu wechseln. Ein anderer Effekt der Volksgesetzgebung ist den Beobachtern dagegen nicht verborgen geborgen. Diese kann von den Bürgern als Hebel benutzt werden, um institutionelle Reformen notfalls in eigener Regie zu betreiben. Beim Wahlrecht und den direktdemokratischen Verfahren selbst waren die gegen die Parteien gerichteten Initiativen häufig von Erfolg gekrönt. Warum sollte das nicht irgendwann genauso bei der Direktwahl funktionieren? Die Abkehr vom parlamentarischen System ist also längst keine bloße theoretische Denkmöglichkeit mehr. Umso merkwürdiger ist, dass sich die Politikwissenschaft mit dem Für und Wider einer solchen Reform nicht stärker beschäftigt.

dentopf / Karl-Peter Sommermann (Hg.), Institutionen in Regierung und Verwaltung, Berlin 2004, S. 371 – 385. 10 Jan L. Backmann, Direktwahl der Ministerpräsidenten. Als Kern einer Reform der Landesverfassungen, Berlin 2006. 11 Zur Begriffsdiskussion vgl. Frank Decker, Regieren im „Parteienbundesstaat“. Zur Architektur der deutschen Politik, Wiesbaden 2011, S. 168 ff.

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II. Die „falschen“ Argumente für die Direktwahl: Mehr Demokratie und Gewaltenteilung Diese Beschäftigung scheint auch deshalb geboten, weil die Direktwahlbefürworter aus der Staatsrechtslehre ziemlich verquer argumentieren. Damit leisten sie der Gegenseite ungewollt Schützenhilfe und machen es ihr leichter als nötig, den Reformvorschlag zurückzuweisen. Die Gründe, die für den Wechsel zum Präsidentialismus hauptsächlich ins Feld geführt werden, könnten normativ nicht zwingender sein. Das präsidentielle System, so heißt es, sei demokratischer, weil erstens durch die Direktwahl die Legitimationskette bei der Bestellung der Regierung entscheidend verkürzt werde („Input-Legitimation“). Zweitens sei es auch unter Regierungsgesichtspunkten überlegen, indem es dazu beitrage, parteiliche oder Partikularinteressen zugunsten des „Gemeinwohls“ zurückzudrängen („Output-Legitimation“). Und drittens realisiere es die Idee der Gewaltenteilung besser, die im parlamentarischen System durch die politische Fusion von Regierung und Parlamentsmehrheit nur unvollständig bestehe.12 Aus politikwissenschaftlicher Sicht stehen alle drei Begründungen auf schwachen Füßen. Sie sind nicht nur empirisch unhaltbar, wie die umfangreiche Forschung zum Vergleich parlamentarischer und präsidentieller Regierungssysteme zeigt, sondern auch normativ. Was die Regierungseffizienz angeht, sieht die Mehrzahl der Autoren die Vorteile eher auf der Seite des parlamentarischen Systems, das durch die Verschränkung von Regierung und Parlamentsmehrheit einerseits eine größere Konsistenz des Regierens ermögliche und andererseits über die Kombination von Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung Vorkehrungen treffe, dass jederzeit eine regierungsfähige Mehrheit vorhanden sei bzw. neu zustande komme. Das präsidentielle System, wo Exekutive und Legislative sich in ihrem wechselseitigen Bestand nichts anhaben könnten, tendiere demgegenüber zu Blockaden.13 Auch in bezug auf die Input-Legitimation ist der Präsidentialismus nicht zwangsläufig überlegen. Dem Pluspunkt der Direktwahl steht hier erstens das Problem gegenüber, dass der Präsident seine Regierungsmacht mit dem Kongress teilen muss. Der Wähler kann im präsidentiellen System von daher ebenso wenig eine klare Richtungsentscheidung treffen wie in jenen parlamentarischen Systemen, in denen die Regierung von mehreren Parteien gemeinsam gebildet wird. Zweitens unterliegt die demokratische Verantwortlichkeit des chief executive Zweifeln, wenn dieser während seiner Amtszeit sankrosankt ist, also weder vom Kongress noch vom Volk (das ihn bestellt hat), aus politischen Gründen abberufen werden kann. Auch die Amtszeitbegrenzung ist in dieser Hinsicht prekär.14 Und drittens muss hinter 12

Für eine umfassende Entfaltung der drei Argumente vgl. Backmann (Fn. 10), S. 123 ff. Vgl. Juan J. Linz, The Perils of Presidentialism, in: Journal of Democracy 1 (1990) H. 1, S. 51 – 69. 14 „[T]here is no way to hold accountable a president who cannot be presented for reelection. Such a president can neither be punished by the voters by defeat nor rewarded for success by reelection with the same or larger vote than in the previous election.“ Juan J. Linz, Presi13

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der Nachfolgeregelung ein Fragezeichen gesetzt werden. Wenn der Präsident in den USAwährend der Amtszeit stirbt, zurücktritt oder durch ein Impeachment-Verfahren abgesetzt wird, rückt der auf seinem „Ticket“ lediglich mitgewählte Vizepräsident automatisch nach. Der Unterschied zu den parlamentarischen Systemen, wo die Wechsel an der Regierungsspitze meistens ebenfalls ohne vorherige Neuwahlen stattfinden, ist hier nicht besonders groß. Das Gewaltenteilungsargument hat auf den ersten Blick mehr für sich. Dass die präsidentielle Regierungsform dem klassischen Gewaltenteilungskonzept von Montesquieu näher kommt als die parlamentarische, wird kaum jemand bestreiten. Eine normative Höherwertigkeit ableiten lässt sich daraus aber nicht. Man mag es als Vorteil betrachten, dass die Parlamente, weil sie die Regierung nicht bestellen und im Amt halten, ihre Macht im präsidentiellen System primär über die Gesetzgebung ausspielen. Die Abgeordneten regieren also tatsächlich mit, was sie in den parlamentarischen Systemen nicht tun dürfen oder können. Diese haben die klassische Gewaltenteilung durch das Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition ersetzt. Die Vertreter der Mehrheit überlassen der von ihnen getragenen Regierung dabei weitgehend die Initiative, während die Minderheit ganz auf ihre Kritik- und Alternativfunktion zurückgeworfen bleibt, die sie mit dem Ziel wahrnimmt, die Regierung nach der kommenden Wahl abzulösen. Ein solches System der Gewaltenteilung, das historisch auf eine ähnlich stolze Tradition zurückblicken kann, ist nicht besser oder schlechter als das gewaltentrennende Modell des Präsidentialismus, auch wenn es für die Parlamentarier vielleicht größere Frustrationen birgt. Dies gilt zumal, als es innerhalb der parlamentarischen Systeme, was die institutionelle Ausgestaltung und Praxis des „neuen Dualismus“ betrifft, ein denkbar weites Spektrum gibt. In annähernder Reinform existiert das Alternierungsmodell heute ohnehin nur noch in Großbritannien (auch hier mit abnehmender Tendenz), während der Gegensatz zwischen Regierung und Opposition in den übrigen Ländern durch konsensdemokratische Elemente in mannigfacher Weise durchbrochen wird. Dies kann soweit gehen, dass die parlamentarischen Systeme in ihrer Funktionsweise starke Übereinstimmungen mit dem Präsidentialismus aufweisen (wie etwa beim skandinavischen Minderheitenparlamentarismus).15 Die Diskussion kann an dieser Stelle abgebrochen werden. Denn wie immer man es dreht und wendet: Die Behauptung einer Überlegenheit des präsidentiellen Systems unter Demokratie- und Gewaltenteilungsgesichtspunkten lässt sich nicht aufrechterhalten! Mit ihr begeben sich die Reformbefürworter zudem auf argumentatives Glatteis. Würde ihre These stimmen, müsste die Einführung des präsidentiellen Systems konsequenterweise ja auch (und gerade) auf nationaler Ebene gefordert werdential or Parliamentary Democracy: Does It Make a Difference?, in: ders. / Arturo Valenzuela (Hg.), The Failure of Presidential Democracy, Baltimore / London 1994, S. 12. 15 Vgl. Nicole Bolleyer, Minderheitsparlamentarismus – eine akteurszentrierte Erweiterung der Parlamentarismus-Präsidentialismustypologie, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 11 (2001) H. 4, S. 1519 – 1546.

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den und nicht nur für die Länder. Die Gegner hätten insofern Recht, wenn sie vor einem „Kamineffekt“ warnen.16 Sei die Direktwahl in den Ländern erst einmal eingeführt, so die Befürchtung, würden gleichlautende Bestrebungen früher oder später auch im Bund laut. Dass die Sorge nicht ganz unbegründet ist, belegt die Verfassungsentwicklung im Bereich der direkten Demokratie, deren Ausbau in den Ländern aus Sicht der Befürworter zugleich als „Blaupause“ für die Bundesebene dienen soll. Auch hier führen Vorstellungen einer vermeintlichen normativen Höherwertigkeit der Plebiszite zu falschen systemischen Schlussfolgerungen.17 III. Die „richtigen“ Argumente: Bessere Passform des Regierungssystems, mehr Eigenständigkeit der Länder und Aufwertung des Föderalismus Die „richtige“ Begründung für die Einführung der Direktwahl muss bei der Eigenart der Länderpolitik ansetzen. Sie lässt sich in drei Argumente unterteilen: Erstens passt das präsidentielle System besser zu den Aufgaben, die die Länder zu erfüllen haben; diese sind überwiegend verwaltungsbezogen und legen daher einen konsensorientierten Politikstil nahe. Zweitens trägt es der Einführung und dem Ausbau der direktdemokratischen Verfahren Rechnung, durch die sich die Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems in den Ländern verändert hat. Und drittens führt es zu einer stärkeren Betonung der Eigenständigkeit der Länder gegenüber dem Bund, die den Föderalismus insgesamt aufwertet. (1) Das erste Argument knüpft nahtlos an die älteren Arbeiten von Hennis und Eschenburg zum Länderparlamentarismus an. Hennis hatte die Eigenart der Länderpolitik seinerzeit mit der Feststellung auf den Punkt gebracht, dass es „keinen christlich-demokratischen Straßenbau und keine sozialdemokratische Wasserwirtschaft“ gebe.18 In dieser Zuspitzung war das zwar verfehlt, da auch verwaltungsbezogene Aufgaben nicht generell unpolitisch sind und sich dem Parteienwettbewerb entziehen. Dennoch bleibt es richtig, dass zwischen Landes- und Bundespolitik im deutschen Föderalismus ein markanter Unterschied besteht. Während das Gros der Gesetzgebungsbefugnisse beim Gesamtstaat liegt, sind die Länder vor allem mit der Durchführung der Gesetze betraut. Allein im Bildungsbereich verfügen sie noch über substanzielle eigene Gestaltungsmöglichkeiten, die sie durch die 2006 beschlossene Föderalismusreform sogar weiter ausbauen konnten. Allerdings empfiehlt sich aus Gründen der Planungssicherheit auch hier ein Zusammenwirken der Parteien, da Entscheidungen über die Struktur des Schul- und Hochschulwesens

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So Holtmann (Fn. 8), S. 201. Vgl. Frank Decker, Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Warum die direkte Demokratie in den Ländern kein Vorbild für die Bundesebene sein kann, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 9 (2011) H. 4, S. 473 – 500. 18 Hennis (Fn. 3), S. 16. 17

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weit in die Zukunft hineinwirken. Die starke ideologische Aufladung der Bildungspolitik stand einem solchen Konsens lange Zeit im Wege. In allen anderen Bereichen weisen die Länder gemessen an ihrem Aufgabenzuschnitt eine größere Nähe zur kommunalen als zur Bundespolitik auf.19 Von daher liegt natürlich die Frage nahe, warum sie sich nicht auch bei der Gestaltung ihrer Regierungssysteme an der „unteren Ebene“ orientieren. Für das Festhalten am parlamentarischen Regierungssystem wird häufig angeführt, dass sich die Länder an einer Stelle von den Kommunen tatsächlich abheben: durch ihre Mitwirkungsrechte an der Bundesgesetzgebung, die die Landesregierungen über den Bundesrat ausüben. Daran würde sich freilich bei einer Direktwahl gar nichts ändern. Im Gegenteil: Die Abkehr von der parlamentarischen Regierungsform könnte auch in dieser Hinsicht von Vorteil sein, indem sie die Inflationierung der Enthaltungen zurückdrängt, die im heutigen System durch die „gemischten“ Koalitionen verursacht werden. Statt sich in den Automatismus der Nicht-Entscheidung zu flüchten, wären die Landesregierungen gezwungen, sich auf ihr Abstimmungsverhalten politisch zu verständigen.20 (2) Vergleicht man die institutionellen Strukturen der Länder- und Bundespolitik miteinander, ergibt sich ein mehrdeutiger Befund. Auf der einen Seite bleiben hergebrachte Unterschiede, die auf die Statusdifferenz zwischen Glied- und Gesamtstaat zurückgehen. So kennen die Länder weder eine zweite Gesetzgebungskammer noch ein vom Regierungschef abgetrenntes Staatsoberhaupt. Letzteres hat wiederum die Einführung eines Selbstauflösungsrechts der Parlamente in allen und das Fehlen einer Vertrauensfrage in den meisten Landesverfassungen zur Folge. Die parlamentarischen Systeme der Gliedstaaten sind damit von ihrer Grundstruktur her monokratischer bzw. mehrheitsdemokratischer als dasjenige des Bundes. Auf der anderen Seite haben die Länder diese Mehrheitslogik noch verstärkt, indem sie sich im Kernbereich des parlamentarischen Systems – bei der Organisation des Verhältnisses von Parlament und Regierung – dem Modell des Grundgesetzes anpassten. Konstitutionelle Eigenheiten wie z. B. das Kollegialprinzip der Regierungen in den Hansestädten wurden dabei im Zuge von Verfassungsreformen aufgegeben. Ein ähnlicher Angleichungsprozess erfolgte beim Wahlrecht, wo 12 von 16 Ländern das Zweistimmensystem mit Fünf-Prozent-Sperrklausel übernahmen, das auf nationaler Ebene 1953 eingeführt worden war. Eine gegenläufige Entwicklung setzte ab Mitte der achtziger Jahre mit dem Ausbau der direktdemokratischen Verfahren ein. Diese waren schon in der Weimarer Zeit 19 Dies lässt sich zum einen am geringen Umfang ihrer legislativen Tätigkeit ablesen: Der Bund verabschiedet in einer Wahlperiode im Schnitt etwa viermal soviel Gesetze wie die einzelnen Landtage. Gleichzeitig machen die Länder den Kommunen auch unmittelbar Konkurrenz. Weil die großen Komplexe der Landesgesetzgebung seit langem abgearbeitet sind, stoßen sie immer mehr in solche (Rand)gebiete der Gesetzgebung vor, deren Regelung man genauso gut der lokalen Ebene überlassen könnte. Vgl. Roland Sturm, Föderalismus in Deutschland, Opladen 2001, S. 73. 20 Vgl. Holtmann (Fn. 8), S. 202.

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als Gegengewicht zum Mehrheitsabsolutismus konzipiert worden, den die Verfassungsgeber als Folge des parlamentarischen Systems befürchteten. Die Volksrechte sollten damit auch in die Rolle des auf der gliedstaatlichen Ebene nicht vorhandenen separaten Staatsoberhauptes hineinschlüpfen.21 Die vorgrundgesetzlichen Länderverfassungen nahmen dieses Modell wieder auf. In der Praxis spielten die direktdemokratischen Verfahren aber keine Rolle, nachdem sich auf der Bundesebene die betont anti-plebiszitäre Konzeption des Grundgesetzes durchgesetzt hatte. In den nach Gründung der Bundesrepublik verabschiedeten Länderverfassungen wurden sie erst gar nicht eingeführt. Die Regierungssysteme der beiden staatlichen Ebenen wiesen deshalb auch in der Funktionsweise bis zum Beginn des plebiszitären Reformprozesses in den Ländern wenig Unterschiede auf. Die Durchsetzung des parlamentarischen Systems in der Bundesrepublik führte dazu, dass das konstitutionelle Gleichgewichtsdenken auch innerhalb der Staatsrechtslehre zurückgedrängt wurde.22 Symptomatisch für die normative Anerkennung des „neuen Dualismus“ steht z. B. die nachträgliche Einführung der „Oppositionsklauseln“ in die meisten Landesverfassungen. Vor diesem Hintergrund hätte man die Brisanz der seit den achtziger Jahren eingeschlagenen Verfassungsentwicklung eigentlich sehen müssen. Die Bundesländer kennen zwar im Unterschied zur Schweiz kein plebiszitäres Veto (dort fakultatives Referendum genannt), sondern nur die „positive“ Volksgesetzgebung. Auch diese gibt den Bürgern aber die Möglichkeit, ein von der regierenden Mehrheit geplantes oder beschlossenes Gesetz zu Fall zu bringen.23 Damit wird die Funktionslogik des parlamentarischen Systems untergraben. Die parlamentarische Opposition ist dann nicht mehr auf ihre Alternativfunktion beschränkt, sondern kann das Gestaltungsmonopol der Regierung auf plebiszitärem Wege durchkreuzen. Diese wiederum wird darauf reagieren, indem sie etwaige Widerstände gegen ihre Vorhaben schon vorab berücksichtigt. Die direktdemokratischen Verfahren wirken also in Richtung Konsens. In der Schweiz hat das zur Herausbildung eines Konkordanzsystems geführt, in dem der Gegensatz von Regierung und Opposition auch förmlich aufgehoben ist. Dass den Verfassungsgebern das Problem durchaus bewusst ist, zeigt sich an der restriktiven Ausgestaltung der plebiszitären Verfahren, deren Anwendungsbedingungen durch Themenausschlüsse, Quoren und sonstige Regelungen starken Einschränkungen unterliegen. Die Direktdemokratie wird dadurch zu einem permanenten verfassungsrechtlichen und -politischen Konfliktherd. Man streitet sich nicht im Rahmen der direkten Demokratie über inhaltliche Politik, sondern über die direkte 21 Auf der Reichsebene wurden die Volksrechte zusätzlich zum Präsidentenamt eingeführt. Dies stellte das Ergebnis eines Verfassungskompromisses dar, um die linken Parteien für das Modell eines mit starken Rechten ausgestatteten Staatsoberhauptes zu gewinnen. 22 Vgl. Frank Decker, Konstitutionelles versus parteiendemokratisches Parlamentarismusverständnis? Bemerkungen zu einer überholten Dichotomie, in: Stefan Brink / Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Gemeinwohl und Verantwortung, Berlin 2004, S. 533 – 554. 23 Nach Auswertungen des Verfassers trifft dies auf rund 60 Prozent der in den Ländern bisher eingeleiteten Volksbegehren zu.

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Demokratie selbst. An dieser Stelle kommt die präsidentielle Reformoption ins Spiel. Mit ihr könnte das Pferd gewissermaßen von hinten aufgezäumt werden. Statt die Volksgesetzgebung dem bestehenden parlamentarischen System anzupassen, was auf einen Dauerstreit um die richtige Ausgestaltung hinausläuft, würde die Regierungsform auf das bestehende System der Direktdemokratie zugeschnitten. Die Volksrechte bekämen auf diese Weise einen breiteren Spielraum und könnten sich innerhalb des repräsentativen Systems als alternativer Pfad der Gesetzgebung leichter zur Geltung bringen. Direktdemokratische Verfahren „von unten“ sind im präsidentiellen System besser aufgehoben als im parlamentarischen24, weil die Regierungsmacht hier ohnehin zwischen Exekutive und Legislative geteilt ist. Opposition wird fallweise ausgeübt; es gibt keine dauerhaft festgefügten Koalitionen. Tritt das Volk als weiterer Vetospieler hinzu, wird die Funktionslogik dieses Systems nicht prinzipiell gestört, auch wenn die Komplexität des Verhandlungsprozesses nochmals zunimmt. Die plebiszitären Verfahren können sogar eine ausgesprochen nützliche Rolle spielen, wenn sie dazu beitragen, Blockaden zwischen Präsident und Parlament aufzulösen – diese gehören wie gesehen zu den Hauptschwächen des Präsidentialismus. Der Wechsel der Regierungsform drängt sich als Reformoption auch deshalb auf, weil es den Ländern kaum möglich sein wird, die plebiszitären Elemente zurückzudrängen oder gar abzuschaffen. Die Entwicklung dürfte eher in Richtung einer weiteren Erleichterung der Verfahren gehen, die den potenziellen Konflikt zwischen parlamentarischer und Volksgesetzgebung verschärft. Mit Blick auf die Bundesebene könnte sich ein Systemwechsel ebenfalls als segensreich erweisen, weil er den Druck vermindern würde, die Verfahren der Direktdemokratie in das Grundgesetz zu übernehmen. Denn so wie das Vorhandensein der Volksgesetzgebung in den Ländern Zweifel an der Sinnhaftigkeit der dortigen parlamentarischen Regierungsform weckt, so weckt das vorhandene parlamentarische Regierungssystem im Bund Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer dort einzuführenden Volksgesetzgebung.25 (3) Ein konsequente Abschichtung der Regierungssysteme der beiden staatlichen Ebenen würde den unitarischen Tendenzen im deutschen Föderalismus entgegenwirken. Die starke bundespolitische Überlagerung der Landespolitik erweist sich vor allem bei den Landtagswahlen als Problem, wo die Regierungen häufig für Leistungen und Versäumnisse belohnt oder bestraft werden, an deren Zustandekommen sie 24 Die These wird durch die tatsächliche empirische Verbreitung gestützt. Auf der nationalen Ebene kennt man die Initiative zwar nicht in den USA, dafür aber in vielen lateinamerikanischen Staaten. Auch die Schweiz, das Land mit der am stärksten ausgebauten Direktdemokratie überhaupt, stellt von der Grundstruktur her ein präsidentielles System dar. In den parlamentarischen Demokratien spielen die von unten eingeleiteten Verfahren dagegen keine große Rolle. Sieht man von einigen mittelosteuropäischen Staaten ab, die die Volksrechte nach 1989 eher im Übereifer denn aus einer wirklichen Kenntnis ihrer systemischen Wirkungen heraus eingeführt haben, sind sie – in der abgeschwächten Form der Vetoinitiative – nur in Italien vorgesehen. 25 Decker (Fn. 11), S. 186 ff.

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unmittelbar gar keinen Anteil haben.26 Die Ursachen dafür liegen nicht nur in der föderalen Aufgabenverteilung, die bei den Bürgern zu Recht den Eindruck entstehen lässt, dass über ihre materielle Lebenswirklichkeit primär auf der Bundesebene entschieden wird. Sie gehen auch auf die institutionelle Gleichförmigkeit der Landesund Bundespolitik zurück. Weil die Länder das parlamentarische System des Grundgesetzes bis ins Detail nachahmen, brechen sich die Strukturen des bundespolitischen Parteienwettbewerbs auf die gliedstaatliche Ebene herunter. Damit unterliegen auch die Koalitions- und Regierungsbildung denselben Gesetzmäßigkeiten. Welche absurden Konsequenzen das haben kann, zeigte sich z. B. nach der Landtagswahl in Hessen 2008, als die Republik über mehrere Monate von der Debatte in Atem gehalten wurde, ob die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti sich mithilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen dürfe. Die Schockwellen, die davon ausgingen, sollten am Ende sogar den SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck das Amt kosten. Dass eine Mehrheitsbildung unter präsidentiellen Vorzeichen ähnliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte, erscheint kaum vorstellbar. Eine Abkehr vom parlamentarischen System würde die Eigenständigkeit der Länderpolitik also – unabhängig von der Kompetenzverteilung – automatisch stärker hervorheben. IV. Probleme der institutionellen Ausführung Die Einführung des präsidentiellen Systems ist keine leichte Prozedur, da sie umfängliche Verfassungsänderungen erforderlich macht. Die Herausforderung besteht darin, die neu einzubringenden präsidentiellen Elemente mit den übernommenen und / oder zu modifizierenden parlamentarischen Elementen in eine angemessene Balance zu bringen. Dabei müssen die Gesetze der Pfadabhängigkeit beachtet werden. Weil es sich um keine konstitutionelle Neugründung handelt, sondern um eine Reorganisation im Rahmen bestehender Verfassungen, kann das System nicht auf der „grünen Wiese“ völlig neu errichtet werden. Auch die Einführung eines präsidentiellen Systems in Reinform kommt deshalb wohl kaum in Frage. Regelungsbedürftig sind vor allem folgende Punkte: – die Modalitäten der Wahl des Ministerpräsidenten im Zusammenhang mit der Wahl des Landtags – die Amtsdauer des Ministerpräsidenten und die Möglichkeiten seiner Abwahl im Zusammenhang mit der Abwahl bzw. Auflösung des Landtags – die Bestellung des Stellvertreters des Ministerpräsidenten und der Minister bzw. des Kabinetts – die legislativen Kompetenzen in Verbindung mit der Ressourcenausstattung

26 Vgl. Frank Decker, Höhere Volatiliät bei Landtagswahlen? Die Bedeutung bundespolitischer „Zwischenwahlen“, in: Eckhard Jesse / Roland Sturm (Hg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005, München 2006, S. 273 ff.

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– die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit von Regierungsamt und Parlamentsmandat. Im Kontext der anzustrebenden Reform nicht unmittelbar relevant sind folgende Punkte, die deshalb – auch aus praktischen Gründen der bei einer Überfrachtung erschwerten Durchsetzbarkeit – ausgeklammert werden bzw. späteren Reformvorhaben vorbehalten bleiben sollten: – die Modalitäten der Landtagswahl (Sperrklausel und Personalisierung des Verhältniswahlsystems) – der Status des Landtags bzw. der Abgeordneten (Vollzeit- oder Teilzeitparlament). Eine möglichst schlanke Lösung empfiehlt sich auch, damit die Bürger, die die Reform begehren und ihr am Ende mehrheitlich zustimmen müssen, von der ohnehin schon komplexen Materie nicht überfordert werden. 1. Wahl des Ministerpräsidenten Herzstück der Reform ist die Abschaffung des heutigen parlamentarischen Misstrauensvotums, an dessen Stelle die Direktwahl treten würde. Dabei müssten einerseits das Wahlverfahren (ein- oder zweistufig) sowie der Wahlzeitpunkt (zusammen mit der Wahl des Landtags oder von ihr getrennt) und andererseits die Nachfolgeregelung (Neuwahl oder Stellvertreterlösung) sowie eine mögliche Amtszeitbegrenzung in der Verfassung festgelegt werden. Die Wahl eines Kandidaten mit lediglich relativer Mehrheit wäre unter demokratischen Gesichtspunkten fragwürdig. Der Ministerpräsident muss also, um ins Amt zu gelangen, mehr als die Hälfte der abgegebenen und gültigen Stimmen auf sich vereinigen. Steht dem Wähler nur eine Stimme zu, ist unter den Bedingungen eines sich weiter ausdifferenzierenden Vielparteiensystems kaum zu erwarten, dass diese Mehrheit von einem Kandidaten erreicht wird. Um zu einer Entscheidung zu kommen, ist deshalb entweder ein Präferenzstimmensystem erforderlich, bei dem der Wähler eine Reihung der Kandidaten vornehmen kann: Die Präferenzstimmen würden dann nach Ausscheiden der jeweils schlecht platziertesten Kandidaten auf die anderen Bewerber umverteilt. Dieses – unter anderem in Australien praktizierte System – hat den Vorteil, dass es nur einen Wahlgang erfordert, der zeitgleich mit der Parlamentswahl stattfinden würde. Es ist der deutschen Tradition aber fremd, sodass sich hierzulande eher das Verfahren der Stichwahl anbietet, das auf kommunaler Ebene bereits bei den Bürgermeisterwahlen praktiziert wird: Bei diesem Verfahren treffen die beiden Bewerber mit den höchsten Stimmenzahlen in einem zweiten Wahlgang erneut aufeinander. Die Wahlen zum Landtag sollten zeitgleich mit dem ersten Wahlgang stattfinden, die gegebenenfalls notwendige Stichwahl 14 Tage später. Durch die Synchronisierung von Landtags- und Ministerpräsidentenwahl wird die Wahrscheinlichkeit parteipolitisch gleichgerichteter Mehrheiten erhöht. Eine Zusammenlegung der Land-

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tagswahl mit der ersten Runde der Wahl des Ministerpräsidenten statt mit der Stichwahl erscheint zweckmäßiger, weil man dadurch möglicherweise einen Wahlgang einspart (wenn es bereits bei der ersten Runde zu einer ausreichenden Mehrheit kommt). Dies dürfte sich auf die Wahlbeteiligung positiv auswirken. Darüber hinaus – und noch wichtiger – erleichtert sie das Zustandekommen einer regierungsfähigen Mehrheit insofern, als die aus der Landtagswahl siegreich hervorgegangenen (und untereinander koalitionsbereiten) Parteien Absprachen treffen können, welchen Kandidaten sie ihren Anhängern zur Wahl in der zweiten Runde empfehlen. 2. Amtsdauer, Abwahl und Landtagsauflösung Das Nichtvorhandensein eines parlamentarischen Abberufungsrechts umschreibt den eigentlichen Kern des präsidentiellen Systems. Im Wegfall des Misstrauensvotums und dessen Ersetzung durch die Direktwahl liegt freilich zugleich ein demokratiepolitisches und verfassungsstaatliches Problem, da es die Entfernung eines unverantwortlich handelnden Amtsinhabers erschwert bzw. nur über den Umweg eines Impeachment- oder Amtsanklageverfahrens möglich macht. Diese Asymmetrie von direktdemokratischer Bestellung und nicht-vorhandener Abberufbarkeit ist verfassungssystematisch nur schwer zu rechtfertigen. Deshalb sollte der Landtag die Möglichkeit bekommen, eine Abberufung des Ministerpräsidenten auch aus politischen Gründen zu beantragen, allerdings unter höheren Hürden als beim normalen parlamentarischen Misstrauensvotum. Erstens bedarf es für den Antrag einer Zweidrittelmehrheit und zweitens liegt die Entscheidung über den Antrag beim Volk.27 Letzteres stellt nicht nur die Symmetrie von Wahl und Abwahl wieder her, sondern passt auch zu den in den Länderverfassungen enthaltenen sonstigen plebiszitären Elementen. In der Bundesrepublik sehen eine Reihe von Kommunalverfassungen ein solchermaßen „kombiniertes“ Abwahlverfahren vor, während der in etwa der Hälfte der US-amerikanischen Bundesstaaten verbreitete recall nicht nur die Letztentscheidung, sondern auch die Antragsbefugnis dem Volk überantwortet. Mit Blick auf den intendierten Gleichklang zwischen Ministerpräsident und Landtagsmehrheit scheint das kombinierte Verfahren im deutschen Kontext zweckmäßiger. Lehnt das Volk die vom Landtag beantragte Abwahl ab, gilt dies einerseits als Neuwahl des Ministerpräsidenten. Andererseits zieht es eine Auflösung und Neuwahl des Landtags nach sich28, was zugleich die Abschaffung des bisherigen Selbst27

Der Verzicht auf ein erhöhtes Quorum war einer der Kardinalfehler der Verfassungsreform in Israel, das 1992 die Direktwahl des Premierministers als erstes Land auf der nationalen Ebene im Rahmen seines parlamentarisch verfassten Regierungssystems eingeführt hatte. Vgl. Frank Decker, Direktwahl des Premierministers. Das Scheitern des präsidentiellparlamentarischen Systems in Israel, in: Zeitschrift für Politik 53 (2006) H. 3, S. 256 – 283. 28 Eine identische Regelung für die Abwahl des Reichspräsidenten war in Art. 43 der Weimarer Reichsverfassung vorgesehen. Sie wurde von Theodor Eschenburg im nicht ausgeführten Entwurf für die Verfassung des 1952 neu geschaffenen Bundeslandes BadenWürttemberg übernommen. Vgl. Eschenburg (Fn. 6), S. 66.

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auflösungsrechts bedingt. Auch ein zusätzliches plebiszitäres Parlamentsauflösungsrecht, das heute in sieben der 16 Bundesländer besteht, wäre unter diesen Umständen entbehrlich. Die Amtszeiten von Regierung und Parlament blieben damit weiter synchron. Durch das Risiko der Auflösung soll gewährleistet werden, dass der Landtag einen Abberufungsantrag nur aus triftigem Grund stellt. Darunter können freilich nicht nur Gesetzesverstöße oder schwere moralische Vergehen fallen wie beim Impeachment, sondern auch politische Fehlleistungen des Ministerpräsidenten. Der Ministerpräsident wird auf fünf Jahre gewählt; seine Amtsperiode ist also genauso lang wie die des Landtags. Endet sie vor Ablauf der Amtsperiode durch Rücktritt, Abwahl oder Tod, muss die Nachfolge geregelt sein. Dafür gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder findet für den Rest der Legislaturperiode eine Neuwahl des Ministerpräsidenten statt (als special election). Oder der Stellvertreter des Ministerpräsidenten rückt automatisch in das höchste Amt auf. Die letztgenannte Lösung würde dem Vorbild der USA folgen. Unter Demokratiegesichtspunkten ist sie vertretbar, weil der Vizepräsident dort in der Präsidentschaftswahl auf dem „ticket“ des Präsidenten mitgewählt wird. Eine solche Konstruktion dürfte auf die Bundesrepublik schwerlich übertragbar sein. Hier wäre es besser, die vorhandene Regelung beizubehalten, wonach der Ministerpräsident selbst nach der Wahl aus dem Kreise seiner Minister einen Stellvertreter bestimmt (s.u.). Dies würde ihm auch die Freiheit geben, einen Kandidaten einer anderen Partei zu nominieren, der zur Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit im Landtag beitragen könnte. Ein lediglich ernannter Ministerpräsident wäre aber zweifellos mit einem demokratischen Makel behaftet, der auch mit Verweis auf den Ausnahmecharakter des vorzeitigen Ausscheidens nicht geheilt werden könnte. Deshalb erscheint es zweckmäßig, die Ernennung des Stellvertreters an ein zustimmendes Votum des Landtags zu binden.29 Die demokratisch sauberere Neuwahllösung hätte auf der anderen Seite den Nachteil, dass ein direkt gewählter Ministerpräsident unter Umständen nur für eine sehr kurze Restzeit der Wahlperiode amtiert, es sei denn, man wollte die Gleichzeitigkeit der Amtszeiten von Regierung und Parlament aufheben. Letzteres würde den Sachzusammenhang zwischen Regierungs- und Parlamentswahl aufheben, der Bildung gegenläufiger Mehrheiten Vorschub leisten und auf die Wahlbeteiligung drücken, wäre also gleich in mehrfacher Hinsicht verfassungspolitisch schädlich. Als Ausweg böte sich eine differenzierte Lösung an. Scheidet der Ministerpräsident vor Ablauf der Hälfte der Wahlperiode aus, findet eine Neuwahl für die restliche Amtszeit statt. Endet die Amtszeit nach der Hälfte der Wahlperiode, übernimmt sein bisheriger Stellvertreter das Amt bis zur nächsten Wahl. Mit dieser Regelung würde einerseits erreicht, dass ein gewählter Ministerpräsident, ohne dass er sich einer weiteren Wahl stellen muss, für eine Mindestzeit von zweieinhalb Jahren am29

Analog sieht der 1967 in Kraft getretene XXV. Zusatz der US-Verfassung in seinem zweiten Abschnitt vor, dass ein während der Wahlperiode vom Präsidenten neu ernannter Vizepräsident der Bestätigung durch beide Häuser des Kongresses bedarf. Aktuell wurde diese Regelung zuletzt 1974, als mit Gerald Ford ein auf dem Ticket nicht (mit)gewählter Stellvertreter die Nachfolge des zurückgetretenen Präsidenten Richard Nixon antrat.

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tieren kann. Andererseits trägt sie dem Umstand Rechnung, dass ein als Stellvertreter nachgerückter Ministerpräsident nicht über dieselbe Legitimation verfügt wie ein direkt gewählter Amtsinhaber. Ein Problem der Nachrückerlösung könnte in dem Fall bestehen, dass ein Amtsinhaber in der zweiten Hälfte der Amtsperiode zurücktritt, nur um dem nachgerückten Stellvertreter, der ja vermutlich aus demselben parteipolitischen Lager stammt, bei der späteren Neuwahl eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Im parlamentarischen System ist diese Form der Ämterübergabe durchaus üblich; unter den Bedingungen der Direktwahl wäre sie kaum zu legitimieren. Nicht definitiv bannen, aber doch vermindern ließe sich die Gefahr eines solchen Missbrauchs durch eine Amtszeitbegrenzung, wie sie in den präsidentiellen Regierungssystemen der USA und Lateinamerikas ausnahmslos vorgesehen ist, bezeichnenderweise aber nicht in den quasi-präsidentiell verfassten deutschen Kommunen. Die Wiederwahl des Ministerpräsidenten wäre danach nur einmal zulässig. In Verbindung mit der fünfjährigen Amtsperiode und der oben dargestellten Nachfolgeregelung würde das bedeuten, dass eine Person immerhin bis zu zwölfeinhalb Jahren im Amt bleiben kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein populärer Ministerpräsident nur aufgrund der Amtszeitbegrenzung weichen müsste, erscheint insofern gering. 3. Bestellung des Kabinetts Auf der Bundesebene werden die Bundesminister laut Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Dieser Regel entsprechen acht der 16 Länderverfassungen; hier liegt das Ernennungs- und Entlassungsrecht sogar förmlich beim Ministerpräsidenten, der als Regierungschef die Funktion des Staatsoberhauptes mitübernimmt. Die anderen Bundesländer sehen eine Beteiligung des Landtags an der Regierungsbestellung vor. Damit knüpfen sie an eine Reihe europäischer Länder an, deren parlamentarisch verfasste Regierungssysteme auf der nationalen Ebene vergleichbare Investiturabstimmungen vorsehen. Das Parlament muss danach dem Gesamtkabinett vor dessen Amtsantritt und in den meisten Fällen auch der Entlassung und Neu-Ernennung einzelner Minister zustimmen. Die Stadtstaaten Berlin und Bremen schreiben in ihren Verfassungen sogar die Einzelwahl der Senatoren vor, die nach demselben Verfahren auch abgewählt werden können.30 Weil die Personalentscheidungen bei der Regierungsbildung im parlamentarischen System ohnehin innerhalb und zwischen den Regierungsparteien ausgehandelt werden müssen, dürfte die förmliche Mitwirkung des Parlaments an der Regierungs-

30 Bis zur 1996 in Kraft getretenen Verfassungsreform galt das auch für Hamburg. Seither muss die Bürgerschaft nur noch den Gesamtsenat und – auf Antrag des Ersten Bürgermeisters – die spätere Berufung einzelner Senatoren bestätigen (Art. 34 Abs. 2 Satz 2 HmbVerf).

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bestellung in der Praxis keinen großen Unterschied ausmachen.31 Anders verhält es sich im präsidentiellen System, wo solche Bestätigungsrechte zu den checks and balances gehören, die das System der strikten Gewaltentrennung bewusst durchbrechen.32 In den USA geht dies soweit, dass der Kongress sogar über die Organisationsgewalt im Bereich der Exekutive verfügt, der Präsident also ohne dessen Zustimmung keine Behörde einrichten kann.33 In den lateinamerikanischen Staaten bleiben den Parlamenten vergleichbare Mitwirkungsrechte versagt. Dafür (und im Unterschied zu den USA) verfügen eine Reihe von ihnen im Gegenzug über die Befugnis, einem Minister das Misstrauen auszusprechen und ihn – nötigenfalls auch gegen den Willen des Präsidenten – zu entlassen. Was die Bestätigung, Interpellation und mögliche Entlassung der Kabinettsmitglieder angeht, unterscheidet sich die präsidentielle Regierungsform somit nicht grundsätzlich von der parlamentarischen. Auch hier ist das Prinzip der individuellen Ministerverantwortlichkeit in vielen Verfassungen erhalten geblieben, wo es in der Praxis freilich nur noch eine geringe Rolle spielt. Die kollektive Verantwortung der Regierung, die mit der Durchsetzung des Abberufungsrechts einherging, hat dazu geführt, dass die Minister im parlamentarischen System heute nicht mehr mit rechtlichen, sondern mit politischen Mitteln zur Demission gezwungen werden. Mangelnder Rückhalt beim Regierungschef und in der eigenen Partei ist dabei zumeist ein wichtigerer Rücktrittsgrund als der Druck der Opposition.34 Sollten die Bestätigungsrechte im US-System lediglich eine Vorkehrung gegen die Errichtung einer Günstlingswirtschaft durch den Präsidenten treffen, so hätten sie im Rahmen einer Verfassungsreform der Bundesländer auch die Funktion sicherzustellen, dass der direkt gewählte Ministerpräsident in den politischen Willen der jeweiligen Landtagsmehrheit eingebunden ist. Um dieses Ziel zu erreichen, genügt eine Bestätigung des Gesamtkabinetts durch den Landtag (Investitur).35 Eine Bestätigung oder gar förmliche Wahl der einzelnen Minister – wie seinerzeit von Eschen-

31 Das zeigt z. B. ein Vergleich der Praxis in Hamburg vor und nach der Reform. Vgl. Julia von Blumenthal, Freie und Hansestadt Hamburg: Das letzte Feierabendparlament, in: Mielke / Reutter (Fn. 2), S. 216. 32 Laut Art. 2 Sec. 2 der US-Verfassung muss der Senat der Ernennung von Regierungsmitgliedern, Beamten, obersten Bundesrichtern und Botschaftern zustimmen. Zur Bedeutung dieser Bestimmung vgl. Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. Eine politologische Analyse, Köln / Opladen 1960, S. 292 ff. 33 Vgl. Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979, S. 66. 34 Vgl. Klaus von Beyme, Die parlamentarische Demokratie. Entstehung und Funktionsweise 1789 – 1999, 3., Aufl., Opladen 1999, S. 277 ff. 35 Die Investiturabstimmung müsste, anders als die heutige Wahl der Ministerpräsidenten in den Landtagen, als offene Abstimmung stattfinden. Dies kann in der Geschäftsordnung geregelt werden. Zur Fragwürdigkeit der geheimen Abstimmung unter Demokratiegesichtspunkten vgl. Frank Decker, Wenn die Populisten kommen. Beiträge zum Zustand der Demokratie und des Parteiensystems, Wiesbaden 2013, S. 163 ff.

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burg für Baden-Württemberg vorgeschlagen36 – würde das Vorschlags- bzw. Bestellungsrecht des Ministerpräsidenten zu stark beschneiden. Der Ministerpräsident sollte die Minister (und Staatssekretäre) auch jederzeit entlassen dürfen, ohne dass das Parlament zustimmen muss. Eine schwierige Frage ist, ob das genauso für die Ernennung der neuen Minister gelten müsste. Bedürfen diese nicht der gesonderten Bestätigung durch den Landtag, könnte der Ministerpräsident den Zustimmungsvorbehalt zum Gesamtkabinett theoretisch unterlaufen, indem er dessen Zusammensetzung in seinem Sinne und gegen den Willen des Parlaments verändert. Des weiteren stellt sich die Frage, was passiert, wenn das Parlament dem Ministerpräsidenten die Bestätigung des Kabinetts versagt. Eine Möglichkeit bestünde darin, die Nicht-Bestätigung an die Folge einer Parlamentsauflösung zu koppeln. Dies läge in der Logik des parlamentarischen Systems, wo das Scheitern einer Investiturabstimmung einem Misstrauensvotum gleichkommt. Die Auflösung müsste dabei nicht sofort erfolgen, sondern gegebenenfalls erst nach Scheitern der Bestätigung in einem zweiten oder dritten Anlauf. Im Kontext des präsidentiellen Systems erscheint eine solche Lösung jedoch nicht zwingend. Um den Einigungsdruck zwischen Ministerpräsident und Landtag zu erhöhen, dürften zwei Vorkehrungen ausreichen: Zum einen führt die Verweigerung der Bestätigung dazu, dass die vorhandenen Minister und Staatssekretäre in ihren Ämtern verbleiben. Zum anderen muss der Ministerpräsident diese ohne Zustimmung des Landtags jederzeit austauschen können. Dem Landtag würde es unter diesen Bedingungen nichts nutzen, wenn er durch Verweigern der Bestätigung ein aus seiner Sicht günstiger zusammengesetztes Kabinett im Amt halten würde (was in einer Konstellation des divided government theoretisch vorstellbar wäre). Umgekehrt müsste aber auch der Ministerpräsident Vorsicht walten lassen. Würde er die Minister reihum ersetzen, wäre der Landtag sicherlich nicht geneigt, ihn bei seinen Gesetzesvorschlägen anschließend zu unterstützen. Es gibt also genug Anreize, die den Einigungszwang herbeiführen, sodass eine Nicht-Bestätigung des Kabinetts äußerst unwahrscheinlich sein dürfte. Eine abweichende Regelung gilt für den vom Ministerpräsidenten bestimmten Stellvertreter. Da dieser dem Ministerpräsidenten gegebenenfalls nachfolgt, bedarf die Bestellung eines neuen Stellvertreters der gesonderten Bestätigung durch den Landtag (s. o.). In der Bestellung der Regierung liegt der Schlüssel für eine gedeihliche Zusammenarbeit des Ministerpräsidenten mit dem Landtag, auf dessen Wohlwollen er ja angewiesen bleibt, wenn er seine Gesetzesvorhaben verwirklichen will. Nur wenn seine eigene Partei zugleich über die absolute Mehrheit im Landtag verfügte (was unter den deutschen Bundesländern zur Zeit nur in Bayern und Hamburg der Fall ist), könnte es sich ein Regierungschef leisten, die anderen Fraktionen bei der Zusammenstellung des Kabinetts zu übergehen. So aber zwingt ihn das Bestätigungsrecht, seine Regierungsmannschaft auf eine parteipolitisch breite Basis zu stellen, die dau36

Vgl. Eschenburg (Fn. 6), S. 66 f.

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erhaft tragfähige legislative Mehrheiten hervorbringt. Ohne eine solche Koalitionsbildung ließe sich ein konsistentes, auf innovative Problemlösungen abzielendes Regieren nicht gewährleisten. 4. Legislative Kompetenzen und Ressourcenausstattung Um die Einbindung des Ministerpräsidenten und seiner Regierung in den Willen der Parlamentsmehrheit sicherzustellen, gäbe es institutionell noch einen anderen Hebel, der der Logik des reinen Präsidentialismus im Grunde viel eher entspricht. Statt bei der Regierungsbildung und Zusammensetzung des Kabinetts anzusetzen, könnte man dem Ministerpräsidenten ein Vetorecht in der Gesetzgebung einräumen, das vom Landtag nur mit qualifizierter Mehrheit überstimmbar wäre. Dass diese Möglichkeit im Kontext der deutschen Verfassungsdiskussion völlig ausgeblendet wird37, ist einerseits merkwürdig, andererseits aber auch bezeichnend für die fortwirkende Prägung durch das parlamentarische System. Offenbar geht man hierzulande davon aus, dass die Regierung in Gestalt der Ministerialbürokratie eine so starke Position im Gesetzgebungsprozess behält, dass es einer zusätzlichen Waffe im Verhältnis zum Landtag nicht bedarf. Ablesbar ist dies zum Beispiel am Gesetzesinitiativrecht der Regierung, das natürlich auch nach Einführung der Direktwahl erhalten bliebe. Unter dem Strich sprechen insofern mehr Gründe dafür, von einem Vetorecht abzusehen. Damit ist die Frage noch nicht beantwortet, ob die Aufwertung des Landtags, die man sich vom Übergang zum gewaltentrennenden Präsidentialismus erwartet, ohne Korrektur der bestehenden Ressourcenausstattung überhaupt vorstellbar wäre. Im gewaltenfusionierenden parlamentarischen System ist die Dominanz der Ministerialbürokratie bei der Gesetzesformulierung programmiert, weil die Mehrheit „ihrer“ Regierung dieses Feld freiwillig überlässt. Auch wo die Vorlagen formal von den Fraktionen eingebracht werden, führen Regierungsbeamte in der Regel die Feder. Bei gleichgerichteten Mehrheitsverhältnissen wäre das wahrscheinlich auch in einem präsidentiellen System nicht viel anders. Entstammt der Ministerpräsident jedoch einem anderen politischen Lager als die Landtagsmehrheit, wäre deren legislativer Handlungsspielraum empfindlich beschnitten, wenn sie sich bei der Ausarbeitung der Gesetzesvorschläge ausschließlich auf die Regierungsbeamten stützen müsste. Eine zumindest partielle Umverteilung der Ressourcen zum Aufbau einer parlamentsseitigen „Gegenbürokratie“ erscheint von daher nach Einführung der Direktwahl unabweisbar.38 Um sie herbeizuführen, bedarf es keiner verfassungsrechtlichen Normierung. Bleiben die legislativen Strukturen unverändert, stellt sich aber auch nach einer solchen Ressourcenverschiebung die Frage, ob ein präsidentielles System unter 37 Auch in der ansonsten erschöpfenden Arbeit von Backmann (Fn. 10) findet das Vetorecht an keiner Stelle Erwähnung. 38 Holtmann (Fn. 8), S. 203 f.

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den Bedingungen gegenläufiger Mehrheitsverhältnisse (divided government) tatsächlich so problemlos funktionieren könnte, wie die Befürworter glauben machen wollen. Die Rivalität der Parteien, die in der Bundesrepublik über Jahrzehnte entstanden ist, würde ja nach einer Reform ebenso wenig über Nacht verschwinden wie die starke Ausstrahlung der Bundespolitik auf die Länder. Das Blockadeargument lässt sich insofern nicht einfach von der Hand weisen. Um zu verhindern, dass der Landtag der Regierung seinen Willen einseitig aufzwingt, scheint es deshalb sinnvoll, die letztere zumindest im Bereich der Budgethoheit mit einem Einspruchsrecht auszustatten.39 Dabei könnte man an die Bestimmung des Art. 113 des Grundgesetzes anknüpfen, wonach Gesetze, die zu Ausgabeerhöhungen oder Einnahmeminderungen führen, der Zustimmung der Bundesregierung bedürfen.40 Diese Bestimmung, die in vergleichbarer Form in Großbritannien besteht, zeigt, dass Elemente der organschaftlichen Gewaltenteilung auch im parlamentarischen System präsent sind. Ähnliches gilt für die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, die im parlamentarischen System des Grundgesetzes allein dem Bundeskanzler zugewiesen ist. Auch daran sollte man nach Einführung der Direktwahl festhalten, allerdings ergänzt um einen Zustimmungsvorbehalt des Landtags (analog zur Bestellung des Kabinetts), wie ihn z. B. Art. 49 der Bayerischen Verfassung vorsieht. 5. Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit von Regierungsamt und Parlamentsmandat Die Vereinbarkeit von Regierungsamt und Parlamentsmandat ist ein Erkennungsmerkmal des parlamentarischen Systems. In Großbritannien ist die Ämterverbindung sogar gewohnheitsrechtlich vorgeschrieben, also nicht nur erlaubt. Sie geht auf den historischen Entstehungshintergrund des Parlamentarismus zurück: Das sich vom Monarchen allmählich emanzipierende Parlament wollte von diesem die Regierungsmitglieder nicht mehr vorgesetzt bekommen, sondern sie aus den eigenen Reihen rekrutiert wissen. Mit dem vollständigen Übergang der politischen Macht auf die Regierung hat sich diese ursprüngliche Zweckbestimmung erübrigt. Die in präsidentiellen Regierungssystemen übliche Unvereinbarkeit lässt sich insofern auch im Rahmen der parlamentarischen Regierungsform verwirklichen, wie die Verfassungen Hamburgs und Bremens oder – im nationalen Rahmen – Frankreichs und der Niederlande beweisen. Im präsidentiellen System ist das Verbot der Ämterverbindung durch die gewaltentrennende Grundstruktur funktionslogisch vorgegeben. Das Parlament versteht sich hier im ganzen als Kontrollorgan gegenüber der Regierung, mit der es sich auch die legislative Macht teilt. Die Kontrollfunktion würde zu einer Farce, wenn 39

Im präsidentiellen System der USA ist es genau umgekehrt: Hier erstreckt sich das Vetorecht des Präsidenten gegenüber dem Kongress nicht auf die Haushaltsgesetze. Vgl. Fraenkel (Fn. 32), S. 322. 40 Eschenburg (Fn. 6), S. 72.

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sich die Kontrolleure selbst kontrollieren müssten. In parlamentarischen Systemen, in denen Minister zugleich Abgeordnete sind, ist in Bezug auf die Regierungstätigkeit genau das der Fall. Hinzu kommt, dass die Minister ihr Mandat schon aus Zeitgründen gar nicht ausüben können und – von der Teilnahme an Abstimmungen abgesehen – auch nicht müssen, weil sie in ihrem Regierungsamt voll ausgelastet sind. Unter den Bedingungen des hiesigen Verhältniswahlsystems mit Listenwahl wäre es technisch problemlos möglich, die bestehende Praxis der Ämterverbindung abzuschaffen. Gewählte Abgeordnete, die ihr Mandat nicht antreten, würden dann genauso wie vorzeitig ausgeschiedene Abgeordnete durch Nachrücker auf der Liste ersetzt. Dies gilt auch für die direkt gewählten Abgeordneten, die nicht über die Listen in das Parlament eingezogen sind. Ein wichtiger Funktionsgesichtspunkt, der für die Beibehaltung der Vereinbarkeit von Regierungsamt und Mandat spricht, bleibt allerdings. Wird die Ämterverbindung verboten, dann würde die personelle Rekrutierungsbasis sowohl für die Regierungen als auch für die Parlamente schmaler. Weil die Inkompatibilität nicht im Vorfeld wirkt, könnten Politiker mit Ambitionen auf ein Ministeramt als Abgeordnete zwar immer noch kandidieren, sie hätten aber keine Möglichkeit, auf einen Abgeordnetensitz zurückzukehren, wenn sie als Minister vorzeitig aus dem Amt scheiden. Dieses Problem stellt sich auch unter präsidentiellen Vorzeichen, zumal wenn die anzustrebende Regierungsform – wie hier vorgeschlagen – in Richtung einer präsidentiell-parlamentarischen Mischform tendiert. Die Übernahme der in Hamburg und Bremen bestehenden Regelung, das Mandat für die Dauer der Ministertätigkeit ruhen zu lassen, wäre ein möglicher Kompromiss.41 Dies wird auch in einer Reihe von präsidentiellen Systemen in Lateinamerika so praktiziert.42 Gegen das ruhende Mandat spricht, dass es die nachrückenden Abgeordneten zu Parlamentariern zweiter Klasse machen würde, indem diese ihren Sitz auch gegen den eigenen Willen wieder verlieren könnten. Dies erscheint auch mit 41 Zur Weimarer Zeit in sechs der 18 Länderverfassungen verankert, wurde das „ruhende Mandat“ nach der Neugründung der Länder auch in Rheinland-Pfalz und – später – in Hessen übernommen. Gegen die Verfassungsgemäßheit der Regelung regten sich jedoch bald Bedenken, die in der Nichtigerklärung des „ruhenden Mandats“ durch den Hessischen Staatsgerichtshof im Jahre 1977 kulminierten. Rheinland-Pfalz und Hessen nahmen dies zum Anlass, die Rückkehrmöglichkeit von Regierungsmitgliedern in das Parlament abzuschaffen. In den beiden Stadtstaaten hat das „ruhende Mandat“ dagegen bis heute Bestand. Vgl. Kersten Rosenau, Das „Ruhende Mandat“ – die Hansestädte und das Grundgesetz, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 19 (1988) H.1, S. 35 – 43. 42 Selbst in den USA kann von einer strikten Durchhaltung der Gewaltenteilung keine Rede sein. Art. 1 Abschnitt 6 der Verfassung bestimmt, dass Senatoren und Abgeordnete für die Zeit ihrer Tätigkeit nicht in Diensten des Bundes stehen dürfen. Da die USA kein Kabinett im verfassungsrechtlichen Sinne kennen, die „Minister“ als Berater des Präsidenten mithin keine öffentlichen Ämter bekleiden, sondern den Status von Privatpersonen haben, wäre die Kabinettsmitgliedschaft eines Abgeordneten damit theoretisch durchaus zulässig. In der Verfassungspraxis hat sich die Inkompatibilität dennoch vollständig durchgesetzt. Von dieser Regel ausgenommen werden muss allerdings der Vizepräsident, der als Vorsitzender des Senats zugleich förmlich in das Parlament eingebunden ist.

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Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot der gleichen Wahl problematisch. In der Abwägung sprechen daher mehr Argumente für eine strikte Inkompatibilitätsregel.43 V. Schlussbemerkung: Welche Chancen hat die Reform? Wer den Direktwahlvorschlag als unrealistisch abtut, übersieht, dass die Reichweite der Verfassungsreformen in den Ländern durch die neu eingerichteten Verfahren der direkten Demokratie deutlich zugenommen hat. Damit ist zugleich die Chance gewachsen, institutionelle Veränderungen jenseits der eingefahrenen Interessen und Pfade anzustoßen. Allerdings haben die hauptsächlich im Umkreis des Vereins „Mehr Demokratie“ anzusiedelnden potenziellen Initiatoren dem Thema bislang kaum Interesse entgegengebracht und ihr Augenmerk stattdessen auf das Wahlrecht und die Direktdemokratie gerichtet. Lediglich in Rheinland-Pfalz kam es auf Betreiben Hans Herbert von Arnims im Jahre 2000 zu einer Initiative, die aber von ihrem Träger – den Freien Wählern – nach einer verpatzten Wahlteilnahme wieder zurückgezogen wurde. Der bayerische Landesverband der Ökologisch-Demokratische Partei hat jetzt einen neuen Anlauf gestartet. Die Volksinitiative für die Einführung der Direktwahl wurde Ende 2012 lanciert44 ; ihr soll, wenn genügend Unterschriften zusammenkommen, irgendwann ein Volksbegehren folgen. Die Verfassungsreform wurde auf Bitte der Initianten von Hans Herbert von Arnim zusammen mit dem Verfasser erarbeitet. In einigen Punkten weicht sie von dem hier skizzierten „Idealmodell“ ab. Dies hängt zum einen mit bayerischen Besonderheiten zusammen, denen Rechnung zu tragen war, um die Verfassungsänderungen auf das Nötige zu beschränken („minimalinvasiver“ Entwurf). Zum anderen mussten die nicht immer deckungsgleichen Vorschläge der Experten und Initianten ausbalanciert werden. Unterschiedlich geregelt ist z. B. die Nachfolge, wo – anknüpfend an vergleichbare Bestimmungen im bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz – eine komplette Neuwahl auch für die Dauer der neuen Legislaturperiode vorgesehen ist, wenn der Ministerpräsident im letzten Jahr seiner Amtszeit ausscheidet. (Scheidet er vorher aus, wird für den Rest der Amtsperiode neu gewählt.) Eine Amtszeitbegrenzung ist nicht vorgesehen. Zudem soll die Abwahl des Regierungschefs nur auf Antrag des Volkes möglich sein und die Selbstauflösung des Landtags ebenso wie die plebiszitäre Auflösung erhalten bleiben. Die vom Verfasser vorgeschlagenen checks and balances – Zustimmungsrecht des Landtags zum Gesamtkabinett und zur Abgrenzung der Geschäftsbereiche, Vetorecht der Regierung gegenüber finanzwirksamen Gesetzesbeschlüssen – wurden nicht aufgegriffen, um die „Reinheit“ der Gewaltenteilung sicherzustellen.

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Backmann (Fn. 10), S. 352 ff. Der Entwurf ist einsehbar unter www.direktwahl-ministerpräsident.de

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Dass der Vorstoß für die Einführung der Direktwahl ausgerechnet im Freistaat45 erfolgt, hat mehrere Gründe. Erstens ist man dort mit den plebiszitären Verfahren auf kommunaler und Landesebene gut vertraut. Zweitens gibt es mit der ÖDP und den – im Landtag vertretenen – Freien Wählern zwei relevante Parteien, die sich für die Idee einsetzen. Und drittens haben die Bayern mit einer unangenehmen Begleiterscheinung des parlamentarischen Systems in der jüngeren Vergangenheit gleich zweimal Bekanntschaft gemacht: 2007 wurde CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber während der laufenden Legislaturperiode von seiner Partei gestürzt, für die er bei der Landtagswahl 2003 noch ein Rekordwahlergebnis erzielt hatte. Und 2008 erhielt das Land einen Regierungschef, der bei der Wahl als Spitzenkandidat gar nicht angetreten war, als Seehofer den wegen der hohen CSU-Verluste zurückgetretenen Stoiber-Nachfolger Günther Beckstein kurzerhand ersetzte. Statt den Vorschlag reflexhaft zurückzuweisen oder ihn mit polemischen Bemerkungen zu diskreditieren, wie es in den ersten Stellungnahmen von CSU- und SPDSeite durchklang46, sollten die sich die anderen Parteien auf eine faire Debatte um das Für und Wider der Direktwahl einlassen. Gerade die CSU wäre gut beraten, dem Vorhaben nicht mit derselben Arroganz zu begegnen wie weiland der – ebenfalls von der ÖDP initiierten – Abschaffung des bayerischen Senats. Damals hatte die kleine Partei bekanntlich das bessere Ende für sich. Da die Volksbegehrenshürde in Bayern relativ hoch liegt47, werden es die Initiatoren schwer haben, den angestrebten Volksentscheid zu erreichen. Dies gilt zumal, als es die ÖDP nicht darauf anlegt, in dieser Frage den Schulterschluss mit den Freien Wählern zu suchen. Der eigentlichen Sache erweist sie damit einen Bärendienst. Denn dass die Bürger in einem Volksentscheid, wenn sie die Wahl hätten, mehrheitlich für die Einführung der Direktwahl stimmen würden, erscheint schon jetzt relativ gewiss.

45 Am ehesten prädestiniert für eine Reform erscheinen weiterhin die Stadtstaaten, deren Affinität zur kommunalen Politik am stärksten ausgeprägt ist. So wäre z. B. die Dreieinhalbmillionen-Stadt Berlin automatisch in den Geltungsbereich der „präsidentiellen“ Kommunalverfassung eines gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg gelangt, wenn die Fusion mit dem Nachbar 1996 geklappt hätte. 46 Während CSU-Fraktionschef Schmid davor warnte, den Landtag durch den Entzug der Wahlfunktion seiner „entscheidenden Kraftquelle“ zu berauben, verstieg sich der SPD-Abgeordnete und Verfassungsexperte Franz Schindler sogar zu der Behauptung, bei dem Vorschlag handele es sich um eine „Schnapsidee von Parlamentsverächtern“. Beides zeugt von einer bemerkenswerten Unkenntnis der Zusammenhänge. 47 Innerhalb einer Frist von zwei Wochen müssen sich 10 Prozent der Wahlberechtigten, das sind in Bayern rund 950.000 Bürgerinnen und Bürger, auf ein Amt begeben und in die dort ausliegenden Listen für das Volksbegehren eintragen.

Fraktionszwang und Ochsentour Anke Domscheit-Berg Vor dem Dinner über unangenehme Dinge reden zu müssen, ist ja für die Rednerin selbst auch eine eher weniger angenehme Sache. Aber wir sind ja hier anlässlich einer Demokratietagung und Demokratie ist eben manchmal auch etwas anstrengend, selbst am Nikolaustag. Und damit ich Ihnen nicht allzu lang im Weg stehe vor den leichteren Abschnitten dieses Abends, möchte ich gleich in Medias Res gehen und uns ein längeres Vorgeplänkel ersparen. Fraktionszwang und Ochsentour – das sind beides Begriffe, die schon negativ klingen. Nomen est Omen stimmt jedoch auch hier, denn für mich stehen diese beiden Wörter im Widerspruch zu einer Demokratie, die den hohen Ansprüchen an sie gerecht wird. Bevor nun jemand gleich einwenden möchte, dass es zumindest den Fraktionszwang ja gar nicht gibt und er überdies gesetzlich verboten sei, erlauben Sie mir die vorbeugende Replik, dass ein Fraktionszwang auch dann ein Zwang ist, wenn man ihn etwas vornehmer bezeichnet, etwa als Fraktionsdisziplin. Und da ich von verschleiernden Euphemismen nicht viel halte, bleibe ich beim ehrlicheren Begriff – dem Fraktionszwang. Das Grundgesetz ist in der Sache eindeutig, Fraktionszwang ist verboten: Art 38 Absatz 1 des GG besagt: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Aber wer mal ein paar Stunden Parlamentsfernsehen angeschaut hat oder anderweitig Einblick in den Parlamentsbetrieb erhielt, der stellt schnell fest, dass Ergebnisse bei Abstimmungen fast ausschließlich nach folgendem Schema F verkündet werden: „die Fraktionen mit den Farben X und Y stimmen dafür, die Fraktionen mit den Farben A und B dagegen“. In der Bundestagsgeschäftsordnung gibt es eine solche Vorgabe zum Abstimmverhalten nach Fraktionszugehörigkeit ebenfalls nicht, aber auch ungeschriebene Regeln können stark sein. Spätestens im Koalitionsvertrag findet sich dann meist doch ein Hinweis darauf, dass „wechselnde Mehrheiten“ nicht vorgesehen seien. Auch die Arbeitsordnung der CDU/CSU Fraktion sieht etwa vor, dass eine „abweichende Abstimmungsabsicht vorher mitgeteilt werden muss“ – vermutlich nicht, weil die Anmelderin einer solchen Absicht dazu ermutigt wird, bei ihrer abweichenden Meinung zu stehen. Aber die Schriftform ist nicht einmal nötig, das zeigt das gleichartige Stimmverhalten auch oppositioneller Fraktionen.

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Bei aller Freiheit, die das Grundgesetz Abgeordneten einräumt, bleibt also die normative Kraft des Faktischen bestehen – und Fakt ist ein Alltag, in dem das Abstimmverhalten der Volksvertreterinnen schon vorab fest steht. Abweichlern droht sozialer Druck, offene Kritik, der Entzug von Redegelegenheiten und handfeste Sanktionen spätestens dann, wenn es um die nächste Vergabe von Listenplätzen oder anderweitig interessanten Parteiposten geht. Auch wenn abweichendes Stimmverhalten vielleicht nicht direkt als Grund für Missliebigkeit benannt wird, karriereorientierte Politikerinnen verstehen das System auch so und verhalten sich entsprechend. Abweichende Meinungen zu sanktionieren, ist jedoch etwas, das ich in der DDR zur Genüge kennengelernt habe und auch wenn man die Systeme nicht vergleichen kann, so war doch meine Erwartung an eine echte Demokratie von höheren Ansprüchen an die Zulassung abweichender Meinungen gerade im Politikbetrieb geknüpft. Ich meine damit nicht das Grundrecht auf Meinungsfreiheit Einzelner und auch nicht die Zulassung von Parteien unterschiedlicher Richtungen sondern eben auch die echte Freiheit von Abgeordneten, sich ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet zu fühlen bei ihrer Stimmabgabe in einem Parlament. Schon bei der klassischen Meinungsfreiheit haben deutsche Gerichte geurteilt, dass sie selbst dann nicht mehr gegeben ist, wenn jemand eine Meinung nicht mehr äußert, weil er oder sie Sanktionen für diese Meinungsäußerungen befürchtet. Sanktionen beginnen nicht bei einem Rausschmiss aus der Fraktion, der bekanntlich nicht so einfach zu erreichen ist, sondern funktionieren auch subtiler – durch den Einsatz multipler Filter, die die politische Zukunft einer Politikerin wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich sein lassen. Und hier verbinden sich die Verhaltensmuster des Fraktionszwangs mit der Funktionsweise der Ochsentour. Nur wer sich unterordnet hat in der Ochsentour Erfolg. Dass das nicht leicht ist, sagt ja schon der Begriff. Es geht um schwere Arbeit, das Unterdrücken der eigenen Willensbildung. Besonders bei einem starken Willen ist das sogar Schwerstarbeit. Manche scheitern daran. Nur die echten Ochsen kommen durch. Trotzdem wird die Existenz des Fraktionszwangs regelmäßig geleugnet und der Realität damit gespottet. Das merkt man spätestens dann, wenn u. a. die ZEIT unwidersprochen titelt „Unionsfrauen lehnen Fraktionszwang bei Votum zu Frauenquote ab“. Der Hintergrund: In der CDU wollten die BefürworterInnen der Frauenquote durchsetzen, dass sie im Bundestag gegen die Parteilinie stimmen können. Die FDP dagegen verlangte laut ZEIT ein „Machtwort der Kanzlerin“. Der Spiegel schreibt „Unionsfrauen meutern gegen Fraktionszwang“ und auch bei der Tagesschau gibt’s dazu einen Bericht. In jüngster Zeit häufen sich die emotional aufgeladenen Debatten zum Fraktionszwang, v. a. dann, wenn es um stark polarisierende Themen geht, häufig um Themen aus dem Feld der Geschlechter- und Familienpolitik. Dazu zählt aktuell neben der Frauenquote auch das Betreuungsgeld. Es bestehen keine Zweifel daran, dass es bei einer reinen Gewissensentscheidung zu anderen Ergebnissen als den erlebten ge-

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kommen wäre – die Quote hätte vermutlich eine Mehrheit, das Betreuungsgeld jedoch eine Ablehnung erhalten. Nur selten wird ganz offiziell der Fraktionszwang, genannt Fraktionsdisziplin, aufgehoben und den Parlamentariern mitgeteilt, dass sie in diesem ganz speziellen Ausnahmefall allein nach ihrem Wissen und Gewissen abstimmen dürfen. Man erlaubt also explizit, was nach dem Grundgesetz die einzige Art sein sollte, Politik im Bundestag zu machen. Im übrigen geht es auch bei diesen Ausnahmen häufiger um Fragen, die das Selbstbestimmungsrecht der Frau betreffen, etwa bei der Präimplantationsdiagnostik oder der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Warum das Gewissen einer MdB nicht auch bei Eurokrisen, Afghanistaneinsätzen, bei der Energiewende, Hartz 4 Gesetzen, der Gleichstellung von Partnerschaften Homosexueller oder dem Asylrecht keine relevante Rolle spielen soll, erschließt sich mir nicht. Die Verteidiger des Fraktionszwangs führen logisch klingende Gründe für ein Abstimmen im Herdentrieb an: die Regierung soll schlagkräftig und arbeitsfähig bleiben, Politik muss verlässlich und vorhersagbar sein. Dennoch haben sich vermutlich die Mütter und Väter des Grundgesetzes irgendetwas dabei gedacht, als sie Vorgaben zum Abstimmungsverhalten für Bundestagsabgeordnete unterbanden. Vielleicht haben sie sich das gleiche gedacht, wie ich und der Rest der Piratenpartei, die ja bekanntlich den Fraktionszwang als Stil einer verknöcherten und eingeschränkten Demokratie ablehnt. Falls Ihnen die Vorstellung eines parlamentarischen Alltages ohne Fraktionszwang schwerfällt: in einer Berliner Bezirksverordnetenversammlung läuft es zum Beispiel so: Die Piratenfraktion stimmt intern über einen Antrag ab, findet er eine Mehrheit, wird er eingebracht. Stimmt dann das Parlament über diesen Antrag ab, dann kommt es vor, dass zwar die Mehrheit der Piraten dafür stimmt, aber ein Teil stimmt dagegen und/oder enthält sich. Niemand empfindet das als Verrat an der Partei und ihren Zielen oder Werten, zumindest solange nicht Grundsatzfragen der Piraten wie Transparenz oder der Datenschutz für Bürgerinnen und Bürger betroffen sind. Immerhin spiegelt die Meinungsvielfalt der Volksvertreterinnen auch die der Mitglieder und Wählerinnen der Piratenpartei wider. Die negativen Effekte des Fraktionszwangs gleichen denen der Ochsentour sehr stark. Beide betreffen direkt Prozesse der politischen Willensbildung, also die Festlegung, WAS entschieden wird, WIE entschieden wird und WER entscheidet. Über die Ochsentour macht man in den sogenannten Altparteien noch am ehesten Karriere, wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Vielleicht liegt es daran oder am hohen Durchschnittsalter der Mitglieder, dass man in den meisten Altparteien wenig junge Menschen in verantwortlichen Positionen antrifft. SPD, CDU und CSU lagen 2010 bei 58 Jahren, die Linken kommen sogar auf 60 Jahre. Da wirkt das Durchschnittsalter der Piratenparteimitglieder von 31 – 37 Jahren (je nach Quelle) wie das einer Jugendorganisation, dabei gibt es die Jungen Piraten noch mal extra.

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Seltsamerweise wirken selbst viele Jüngere, die es in Altparteien in die erste Reihe schaffen, als wären sie aus der Zeit gefallen. Sie scheinen älter als sie eigentlich sind. Ihr Habitus, die Gestik, die Sprache – sie könnten mit ein wenig Schminke glaubwürdige Schauspieler für ihre eigenen Eltern sein. Der Grund dafür ist gleichzeitig ein Grund für die nach wie vor mangelhafte Vielfalt in deutschen Parlamenten. So beträgt zum Beispiel der Frauenanteil im Bundestag nicht einmal ein Drittel, die CDU/CSU Fraktion kommt gerade einmal auf ein Fünftel, da wundert man sich dann auch nicht mehr über innerparteilichen Widerstand gegen Frauenquoten und das Votum für die Herdprämie. Nur die Parteien, die sich sehr stark für Geschlechtergerechtigkeit auch politisch einsetzen, die LINKE und die GRÜNEN kommen auf einen etwa hälftigen Frauenanteil im Parlament. Die Selektion des politischen Nachwuchses erfolgt in den meisten Parteien nach dem Prinzip der homosozialen Reproduktion, also nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Und deshalb sehen auch Jüngere oft aus wie die Politsenioren ihrer Parteien – die Ähnlicheren kommen eher durch. Diese Art der Auswahl begünstigt Elitenbildung und Old Boys Networks. Sie belohnt eine bestimmte soziale Herkunft und ein überdurchschnittliches Investment von Zeit und Energie in die Bildung eines guten Netzwerkes. Je nach Partei können noch andere Kriterien dazu kommen, so haben zum Beispiel mehr als 20 % der FDP Abgeordneten im Bundestag einen Doktortitel, der dort ganz offensichtlich ein karriereförderndes Merkmal ist. So macht auch mancher einen Doktor, der dazu offensichtlich aus eigener Kraft nicht in der Lage ist und riskiert durch unglückliche Kombinationen von Copy und Paste die eigene Zukunft. Man kann die Darwinschen Selektionsprozesse auch auf politischen Karrieren anwenden – Es gilt schließlich auch hier: survival of the best fitted – der am besten angepasste überlebt. angepasst im Sinne der politischen Nachwuchsauswahl heißt also einmal den bereits in der Hierarchie Erfolgreichen möglichst ähnlich zu sein aber es heißt auch eben jenen gegenüber maximal loyal zu sein. Loyalität als innerparteilicher Abklatsch des Fraktionszwangs. Am Ende zählen Ähnlichkeit, massive Zeitinvestitionen in das richtige innerparteiliche Netzwerk und uneingeschränkte Loyalität mehr als andere Kompetenzen. Es stellt sich berechtigt die Frage, ob es genau diese Eigenschaften sind, die man vorwiegend in Spitzenpositionen von Parteien sehen möchte. Eine Auswahl, die sich jedenfalls vor allem danach richtet, begünstigt gleichzeitig das Peterprinzip, also die Beförderung bis (leider einschließlich) zum ersten Level der professionellen Unfähigkeit. Die Negativauswahl von Zivilcourage, von Menschen, die sich für ihre Überzeugung auch mal gegen den Strom stellen, zugunsten von Ja-sagern, die das tun, was andere ihnen vorgeben, hat auch noch andere negative Effekte. Ich bin überzeugt davon, dass die Anfälligkeit eines politischen Apparates für alle Schattierungen von Korruption in dem Grad steigt, in dem die unglückliche Verbindung von Ochsentourkarrieren und Fraktionszwängen eigene Meinungen eliminiert und diejenigen erfolgreich werden lässt, die im Interesse ihrer politischen Karriere sogar die eigenen

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Überzeugungen verraten. Von dort ist es kein besonders großer Schritt mehr, auch andere Werte zu verraten, wenn es dem Eigennutz dient. Offenere Karrierewege, die mehr Varianz und mehr Widerspruch zulassen, können also auch gleichzeitig ein Korrektiv schaffen für die gelebte politische Kultur in den Parteien und zu ihrer Integrität beitragen. Durch die klassische Ochsentour schleift man jedoch Talente ab, man siebt sie aus nach einem Schema F, allzu Aufmüpfige fallen dabei heraus. Abweichler werden ebenso herausgefiltert wie allzu Junge, Frauen oder Menschen mit dem falschen Hintergrund – Migrantinnen etwa oder Menschen mit einer Arbeiterbiographie. Es ist auffallend, wie viel wahrscheinlicher es heute ist, dass ein MdB Beamte oder öffentliche Angestellte ist, als das noch vor wenigen Jahrzehnten war. Die Vielfalt der Lebenswege Abgeordneter hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen, es ist kein Zufall, dass man über den Bundestag als Hort von Juristen (23 %), Lehrern (10 %) und studierten Politologen spottet. Fast ein Viertel der MdBs des letzten Bundestages waren Juristen, zusammen mit Lehrern und Politologen kommen sie auf fast 40 % aller Abgeordneten (38 %). (Unter den Top25 Berufen, die immerhin 442 der 613 Abgeordneten abbilden, findet sich kein einziger Arbeiterberuf.) Für die 16. Wahlperiode habe ich eine detaillierte Statistik gefunden, nach der über die Hälfte der MdBs gelernte Politiker, öffentliche Angestellte oder Beamte waren. Eine typische Abgeordnete ist erst bei der Jugendorganisation und arbeitet sich dann von den Kreis- und Landesverbänden seiner oder ihrer Partei hoch. Die aktuelle Abiturientenquote bei SPD, Union und FDP liegt bei über 80 % – das ist dreimal mehr als der deutsche Durchschnitt. Einen Universitätsabschluss haben ca. 70 % der MdBs (2003). Keine Spur von Arbeitern, nicht mal bei der SPD, der Arbeiterpartei. Keine auch nur annähernde Repräsentanz der Bevölkerung. Genaugenommen, wird unser Parlament mit der Zeit immer einseitiger. Mit dem heute so charakteristischen Karriereweg finden sich dann am Ende Volksvertreter, die vom normalen Volk wenig Ahnung haben, weil sie nie einen eher durchschnittlichen Beruf ausübten, nicht Metallfacharbeiterin oder Kindergärtner waren, nicht Altenpfleger und nicht Landwirtin. Fast alle kommen aus dem Bildungsbürgertum und sind mit dem Bildungsbürgertum verheiratet, verschwägert und vernetzt. Sie verstehen nicht besonders viel von dem Alltag und den Nöten einfacher Arbeiterinnen und Angestellter, geschweige denn von prekär Beschäftigten im Dienstleistungssektor oder vom Alltag eines Hartz 4 Empfängers. Vor 30 Jahren waren die Grünen angetreten, schon durch eine andere Abgeordnetenstruktur Veränderung in die Bundespolitik zu tragen. Immerhin waren 7 % der ersten grünen Abgeordneten Arbeiter, mehr als 7 mal so viel wie bei der SPD. Aber schon in ihrer 2. Wahlperiode waren es auch bei den Grünen nur noch 2 % und bei ihrer 3. Präsenz im Bundestag fand sich schon kein einziger Arbeiter mehr in der Grünen Fraktion. Dafür fanden sich bei den Grünen dann auch 47 % Beamte (35 %) und Angestellte des öffentlichen Dienstes (12 %).

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Ochsentour und Fraktionszwang in Kombination mit einer sehr homogenen Gruppe, die die Bevölkerung nicht einmal ansatzweise widerspiegelt, führen zur Abwesenheit neuer und mutiger Ideen. Sie reduzieren Reibung und Widerspruch in der eigenen Fraktion, sie führen zum ständigen Unterwerfen der eigenen Meinung unter das Diktat einer Gruppe. Öffentlich demonstriertes Rückgrat wird zum Karrierenachteil. Menschen mit Visionen werden zum Arzt geschickt. Bedingungslose Loyalität – man könnte es auch Hörigkeit gegenüber der Politelite nennen – sticht Kompetenz, Courage und Diversity. Kluge Köpfe haben herausgefunden, dass der Wert von Diversity – also die Vielfalt einer Gruppe – umso wichtiger ist, je komplexer eine Aufgabenstellung ist. Mit anderen Worten, am Fließband Teile zusammenschrauben geht auch gut mit einer homogenen Gruppe. Aber Eurokrise, Bildungsungerechtigkeit, demographischer Wandel, die Veränderungen die eine digitale Gesellschaft mit sich bringt, die Globalisierung und der Klimawandel und viele andere Probleme auch, mit denen sich heute Politik herumschlagen muss, sind alles andere als einfach gestrickt. Das sind Herausforderungen, die an Komplexitätsgrad kaum zu steigern sind. Genau deshalb braucht es dafür Vielfalt, neue Ideen, und viel mehr Mut für neue Wege. Diesen Mut vermisse ich. Und ich vermisse ein Gespür für die Zukunft, das vielleicht am ehesten durch Impulse junger Abgeordneter eingebracht werden könnte. Immer öfter, wenn ich im Bundestag Debatten verfolge, die irgendwie mit Internet und digitaler Gesellschaft zu tun haben, frage ich mich, ob MdBs in einer anderen Zeit leben als ich. Ob sie einfach nicht merken, dass sie mit Ansätzen von vorvorgestern nicht heute und schon gar nicht morgen irgendein Problem lösen können. Die jüngste Debatte um das Leistungsschutzrecht zeigte diese Unfähigkeit zu einer modernen Sicht mindestens auf Seiten der Regierungskoalition eklatant. Bemerkenswert war dabei vor allem, dass sämtliche Jugendorganisationen aller Parteien – von der Jungen Union über Junge Liberale bis hin zu Jusos, JuPis und der grünen Jugendorganisation sich verbündeten und gemeinsam eine Erklärung gegen das Leistungsschutzrecht veröffentlichten. Wie müssen Parlamentarier gestrickt sein, wenn ihnen nicht einmal der Gedanke kommt, dass es eventuell auch schlicht mit ihrem Alter und einer durch zu viel Vergangenheitserfahrung eingeschränkten Sicht auf die Zukunft zu tun haben könnte, dass die komplette Jugend, die eben diese Zukunft noch am längsten erleben wird, sich von ihnen distanziert. Ihr eigener Nachwuchs! Was heißt das für Parteien mit einem Durchschnittsalter zwischen 58 und 60, wenn ihre Jugendorganisationen sich offen gegen ihre Politik stellen? Was heißt das für die jüngeren Wählergenerationen, die sich zunehmend an den Kopf fassen und nicht mehr verstehen, was im Parlament für eine vergangenheitsbezogene Gesetzgebung passiert? Die Parteienverdrossenheit wird wohl weiter zu nehmen. Aber auch der Druck von unten, nach mehr Möglichkeiten der politischen Einflussnahme, wird ebenfalls zu nehmen. Die Jugend mag benachteiligt sein beim Zugang zu politischen Machthebeln, aber sie hat Zugang zum Internet und kann Transparenz herstellen – auch

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gegen den Willen derer, die auf Verträgen oder Protokollen sitzen. Sie kann Doktorarbeiten auseinander nehmen und damit Bundesminister stürzen, sie kann auf YouTube, Facebook und Twitter zu Massenprotesten aufrufen und Gesetze wie ACTA verhindern. Sie kann aber auch ein öffentliches Wiki anlegen, um mit anderen interessierten Bürgerinnen und Bürgern sich damit ein Gesetz selbst zu schreiben, auf das sie von der Politik zu lange und umsonst gewartet haben und dann so lange Druck ausüben, bis dieses Gesetz tatsächlich von der gesetzgebenden Versammlung angenommen wird. Wer das utopisch findet, der kann mal nach Transparenzgesetz und Hamburg googlen oder einfach unter www.transparenzgesetz.de nachschauen oder die hier anwesenden Vertreterinnen des Mehr Demokratie e.V. fragen, der einer der Treiber dieser Bewegung von unten war. Aber natürlich wird auch die Piratenpartei weiter eine sogar wählbare Perspektive sein, auch wenn der Spiegel wie 1985 für die Grünen schon seine Abgesänge schreibt. Für junge und politisch Interessierte Menschen, die viel vernetzter, flexibler und internationaler denken als ältere Generationen, die ohne das Internet aufgewachsen sind, findet sich dort eine innerparteiliche Basisdemokratie, die weder Fraktionszwänge noch Ochsentouren kennt. Auf unserem letzten Bundesparteitag im November trafen 2000 Basispiraten zusammen, bei der CDU waren es gestern 1000 Delegierte. Die Piratenpartei ist eine Mitmachpartei ohne Geld, mit anderen Worten, Piratin sein, heißt auch mitarbeiten. Unser Parteitag hatte als Sponsoren nicht 100 Firmen wie die CDU. Unvermeidliche Kosten wurden bezahlt von Mitgliedsbeiträgen, der Rest wurde durch unzählige ehrenamtliche Arbeitsstunden von Piraten ermöglicht, die Netzwerke aufbauen, Garderoben besetzen oder den Saal gestalten. Beim CDU Parteitag gab es stundenlang Reden von den immer gleichen Spitzenpolitikern. Beim Piratenparteitag gab es kaum Reden, von den wenigen war keine länger als 10 Minuten, ca. 90 % aller Wortbeiträge kamen von Basispiraten, die an das Saalmikrofon traten – ohne vorherige Anmeldung. So können die Argumente für sich wirken, kann jede talentierte Piratin dafür sorgen, dass sie auf dem Radarschirm der anderen als kompetent erscheint und so ihre Chancen für ein Amt oder ein Mandat verbessern. Hierarchische Selbstbeweihräucherung oder durchgewunkene Anträge nach Abstimmempfehlungen der Antragskommission – Fehlanzeige bei den Piraten aber so läuft es beim CDU Parteitag. Eine junge Partei kann es sich vielleicht nicht leisten, nur „Altgediente“ auf Spitzenpositionen zu setzen, aber ich glaube, dass es nicht nur am rasanten Wachstum der Piraten liegt, dass man dort als Neueinsteigerin so viel bewegen kann. Ich war noch Mitglied bei Bündnis90/Grüne, als mich vor über einem Jahr Berliner Piraten fragten, ob ich nicht für die Piraten Stadträtin in Friedrichshain-Kreuzberg werden möchte und mich um meine Bewerbung dafür baten. Ich dachte, vielleicht war meine andere Parteimitgliedschaft diesen Piraten nicht bekannt, aber auf Nachfrage bekam ich die für mich damals noch überraschende Antwort: „Das ist uns egal. Wir wollen eine Stadträtin mit einem ganz bestimmten Kompetenzprofil und das hast Du am ehesten.

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Deine Ansichten sind mit unseren vergleichbar, der Rest spielt keine Rolle.“ Mich hat das sehr beeindruckt, denn ich kannte bis dahin keine einzige Partei, die einen Posten, der mit Macht und attraktiver Bezahlung verbunden war, einer Kandidatin mit anderem Parteibuch gegeben hätte. Inzwischen wundere ich mich darüber weniger. Auch wenn nicht alle Piraten frei sind von diversen Vorurteilen, so lässt sich doch immer wieder erleben, dass Neueinsteiger in der Partei auch wichtige Rollen bekleiden. Julia Probst, erst seit Juli Mitglied der Piraten, wurde vor wenigen Wochen auf Platz 3 der Baden-württembergischen Landesliste für die Bundestagswahl 2013 gewählt und ist damit auf einem sicheren Listenplatz, wenn die Piraten die 5 % Hürde schaffen. Ich selbst wurde Anfang Mai diesen Jahres Mitglied und trotzdem auf Platz 2 der Landesliste und als Direktkandidatin eines Wahlkreises gewählt, ebenfalls für die kommende Bundestagswahl. Es spornt an, sich aktiv einzubringen, wenn man damit etwas bewegen kann. Ich möchte aber nicht kritikfrei sein gegenüber meiner Partei, die durchaus noch besser werden kann, was die innerparteiliche Vielfalt – z. B. ihren Frauenanteil in Vorständen und auf guten Listenplätzen betrifft. Auch unsere Debattenkultur kann noch etwas Feinschliff vertragen, gerade bei Diskursen im Internet wird noch viel zu häufig zum Shitstorm als Ausdrucksform gegriffen. Aber auch ein Shitstorm ist eine soziale Sanktion, erzeugt Gruppendruck und kann damit zur Einschränkung freier Meinungsäußerungen und zur Überanpassung führen. Er bringt auch selten eine sachliche Debatte voran. Die Piraten sind sich dieses Problems jedoch bewusst und thematisieren es immer wieder proaktiv. Das ist natürlich kein individuelles Problem von Piraten, sondern eher eines Mediums, das die Schranke für heftige und negative Emotionsäußerungen drastisch absenkt aber innerhalb der Piratenpartei sehr viel intensiver genutzt wird als in anderen Parteien und deshalb dort auch wahrnehmbarer ist. Bei all unseren intensiven und kontroversen Debatten würde es unseren Mitgliedern und Wählerinnen auch wohl seltsam unpassend scheinen, wenn eine Piratenfraktion grundsätzlich en bloc für oder gegen etwas stimmt. Aber zurück zum Fraktionszwang in unseren Parlamenten, von dem man in der Politik glaubt, dass das Volk das so besser findet. In meinen Augen ist es blanker Unsinn zu glauben, Bürgerinnen und Bürger bevorzugten den Fraktionszwang, weil sie damit einen Garant für eine verlässlichere Politik hätten. Wer in Deutschland will denn einen Kuhhandel, wie den um das Betreuungsgeld? Davon mal ganz abgesehen, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ohnehin kein Betreuungsgeld will. Der Zwang zum Fraktionszwang aber führt notwendigerweise zu einer Politik wie auf einem orientalischen Markt. Es zählen nicht die guten Argumente für eine politische Idee sondern das Feilschen um Interessen. Das merkt auch die letzte Wählerin und ich kenne keine, die das gut heißt. Wie vermutlich die meisten Wählerinnen und Wähler wähle ich eine Partei für ihr Wahlprogramm und eine Direktkandidatin für ihr persönliches Profil und weil ich ihr und ihrem Wertesystem mehr vertraue als ihren Konkurrentinnen.

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Wenn dann sowohl diese Kandidatin als auch die z. B. von mir gewählte Partei die von mir als sicher vertretenen Werte zugunsten eines solchen politischen Geschachers verrät, dann frustriert mich das nicht nur, es macht mich wütend. Weil es die Demokratie aushebelt und meinen Akt des Wählens entwertet. Was nützt meine Willensäußerung, wenn sie im Parlament keine echte Vertretung mehr hat? Was nützt einem Pazifisten die Wahl einer pazifistischen Partei, wenn diese einem Einsatz in Afghanistan zustimmt? Was nützt es einer Feministin, wenn sie extra die Direktkandidatin wählt, die sich immer und überall für die Frauenquote und gegen das Betreuungsgeld ausspricht, wenn die gleiche Person im Parlament doch anders herum abstimmt? Wie glaubwürdig ist eine solche Politik für Bürgerinnen und Bürger? Mir ist völlig rätselhaft, wie jemand argumentieren kann, dass Lisa Normalbürgerin so eine Art Politik bevorzugt. Verlässlich finde ich das nicht. Da keine Partei allein regieren kann, weiß man ja so nie, welche wesentlichen Bestandteile ihres Wahlprogramms sie auf dem Altar des Politikgeschachers opfern wird, aber gut – Politik verlangt auch nach Kompromissen. Aber da auch meine gewählte Direktkandidatin nicht allein in ihrer Fraktion sitzt, kann ich heute nicht wissen, welche der Überzeugungen, für die ich ihr einst meine Stimme gab, sie im Parlament dann noch vertreten darf. Ein Wahlergebnis wird so zum unvorhersehbaren Pokerspiel, selbst wenn Wunschpartei und Wunschkandidatin den Einzug schaffen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die meisten Abgeordneten es gut finden, immer wieder gegen ihre Überzeugungen stimmen zu müssen. Am eingangs genannten Beispiel zur Frauenquote wurde der Aufruhr gegen den Fraktionszwang aus den Reihen der Abgeordneten heraus ja sehr öffentlich. Es sind schließlich die Abgeordneten, die sich in ihren Wahlkreisen und gegenüber Journalistinnen und interessierten Bürgerinnen rechtfertigen müssen, warum sie entgegen ihrer vorab geäußerten Überzeugung im Bundestag dann doch anders gestimmt haben. Das kratzt am Ego und an der Integrität einzelner. Es bröckelt damit schließlich auch das Vertrauen in die gewählten Volksvertreterinnen und Vertrauen ist nun mal die Währung der Politikerinnen auf dem Markt der Wählerstimmen. Was ich mir daher wünsche, ist eine politische Kultur, in der mehr Vielfalt eine Chance hat. Eine Kultur, die Parlamente hervorbringt, in denen viel mehr junge Menschen und Menschen mit den unterschiedlichsten Biographien, sowie PolitikerInnen mit Charakter und starken eigenen Überzeugungen und Ideen sitzen, darunter jede Menge Quereinsteiger und Politikneulinge, die mit frischem Mut kommen und mit Erfahrungen aus der Welt da draußen, an die sich noch sehr lebendig erinnern, weil sie noch nicht 100 Jahre zurückliegen. Diese Kultur sollte die Basis sein für eine wirklich freie Demokratie, in der alle Abgeordneten tatsächlich nur ihrem Gewissen verpflichtet sind und Mehrheiten sich an der Sache entlang bilden, mal mit diesen Sachkoalitionen mal mit anderen – je nachdem, wie die Wertesysteme der Abgeordneten so sind.

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Ich hätte kein Problem damit, wenn im Bundestag künftig Mehrheiten einmal anders verlesen werden, etwa so: „Der Antrag XYZ wurde angenommen mit einer Mehrheit von 385 Stimmen von Abgeordneten der Fraktionen A, B und C. Dagegen stimmten 122 Abgeordnete aus der Fraktionen A, C und D.“ Jede Abstimmung könnte gern namentlich erfolgen und damit auch sehr viel mehr Transparenz über das politische Handeln meiner gewählten Abgeordneten ermöglichen. Schöne Visualisierungen wie das Parlameter vom ZDF ermöglichen schon jetzt eine Darstellung des Abstimmverhaltens von MdBs und ihre Sortierung nach Höhe der Nebeneinkünfte, Anzahl der Kinder oder Familienstand und anderen Kriterien. Das ist sehr hilfreich, aber ein sehr großer Teil der Abstimmungen ist hier gar nicht enthalten, weil sie nicht namentlich erfolgten. Webangebote wie opencongress.org in den USA bieten schon seit Jahren sehr viel mehr Informationen. Ich kann mir dort im Vorfeld von Wahlen ein weit präziseres Bild über einzelne Abgeordnete machen und genau nachvollziehen, wie sie zu Themen, die mir besonders am Herzen liegen, jeweils abgestimmt haben. Ich glaube, diese Art von Demokratie wäre ein wirkliches Upgrade und viel dichter dran an dem, was den Autoren unseres Grundgesetzes einmal vorschwebte. Sie würde ehrlicher sein und offener und hätte vermutlich ein deutlich höheres Problemlösungspotenzial als unser starres System, das mir so vorkommt, als diene es vor allem dem Selbsterhalt. Wenn Abstimmungen damit etwas weniger vorhersagbarer würden, hätte ich damit auch kein Problem, denn Prognosefähigkeit ist kein Wert an sich und in der Natur kann gerade das Chaos zu einem stabilen Gesamtsystem beitragen. Als Piratin möchte ich an diesem Upgrade unserer Demokratie mitwirken. Für eine Politik, in der Fraktionszwang und Ochsentour Begriffe einer vergangenen Zeit sind. Für eine Politik, in der man wieder frei entscheiden kann und in der die besten Argumente die größten Mehrheiten gewinnen.

Politische Partizipation auf Landesebene Christian Baldauf Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich habe mich gerade gefragt, als wir als waschechte Pfälzer vorgestellt wurden, ob das ein Manko wäre oder ein Nachteil. Ich kann es nicht sagen. Ich hoffe es natürlich nicht, denn schließlich ist eine berühmte Einrichtung, nämlich diese Hochschule, in der Pfalz. Und von daher meine ich, haben wir durchaus auch etwas zu bieten. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen heute einen kurzen Abriss dazu zu geben, was im Moment bei uns auf Landesebene besprochen wird. Wir haben eine EnqueteKommission zu dem Thema Bürgerbeteiligung eingerichtet, vor allem zur Frage: „Wie gehen wir in Zukunft mit unterschiedlichen Beteiligungsformen vor?“ Bevor ich aber anfange, möchte ich darauf hinweisen, dass ich selbst hier Student war. Wir hatten damals ein Thema „Schlussbericht der projektbezogenen Arbeitsgemeinschaft“ unter dem Geschäftsführenden Direktor des Landkreistages, Heinz Dreibus, 1993 – das ist eine lange Zeit her. Es ging damals nicht um die Frage der Reform der Landesverfassung, sondern um die der Kommunalverfassung. Und das war damals deshalb ein aktuelles Thema, weil nur Bayern und Schleswig-Holstein überhaupt Bürgerbeteiligungen in größerem Umfang zuließen. Ich würde ganz gerne, auch wenn das die kommunale Ebene betrifft, wenigstens einen Punkt aus diesem Abschlussbericht erwähnen: Wir hatten damals einen Besuch beim Landrat Weber, der inzwischen verstorben ist, hier in der Südpfalz. Es ging um die Schaffung eines Bürgerbeauftragten. Aus heutiger Sicht kein Thema mehr, denn er ist in Rheinland-Pfalz schon lange eingeführt worden. Damals meinte der Landrat, dass der Bürgerbeauftragte prinzipiell ein gutes Konstrukt sei. Solche Stellen würden zwar Geld kosten, aber Demokratie dürfe das. Allerdings sei er der Meinung, der Bürgerbeauftragte werde relativ wenig zu tun haben: Denn alle Bürgeranliegen, Bürgerbegehren und sonstigen Bürgerwünsche würden natürlich von den gewählten Landräten und Oberbürgermeistern bearbeitet werden. Soviel zum damaligen Ansatz und zur damaligen Einschätzung des Landrates eines Flächenlandkreises. Heute, meine Damen und Herren, bekommen wir jedes Jahr von unserem Bürgerbeauftragten einen Bericht, und dieser Bericht umfasst über 150 Seiten – eng beschrieben. Er ist viel unterwegs und nimmt viele Dinge auf. Die Einführung dieses Mandates hat sich also durchaus bewährt. Wenn ich jetzt auf die Landesebene komme, gestatten Sie mir den Hinweis: In Rheinland-Pfalz diskutieren wir über die Frage, wie wir uns in Zukunft Beteiligungen vorstellen, in einer eigenen Enquete-Kommission. Sie nennt sich „Enquete-

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Kommission Bürgerbeteiligung“ und wurde im Sommer 2011 eingerichtet. Grundlage dafür war die Einsicht der drei im Landtag vertretenen Fraktionen (SPD, CDU und Grüne), dass wir uns darüber unterhalten müssen, inwiefern das jetzige Verfahren, die jetzige Konstruktion veränderungsbedürftig ist. Dies betrifft zunächst die Frage, wie wir einzelne Personen beteiligen, einzelne Gruppen stärker am politischen Entscheidungsprozess teilnehmen lassen können. Der zweite Punkt, der im Moment besprochen wird, befasst sich mit der Frage, welche Instrumente wir dafür verwenden, um näher an die Menschen zu kommen – Stichwort open government, web 2.0 oder sonstige Beteiligungsformen. Und nächstes Jahr wird ein dritter Punkt zur Debatte stehen: Wie gehen wir zukünftig mit Quoren und Verfahrensvereinfachungen, Beteiligungen, früheren Beteiligungen um Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden um, die es ja schon gibt. Zur Enquetekommission: Wir wollen damit die verschiedenen Möglichkeiten der aktiven Bürgerbeteiligung in Rheinland-Pfalz überprüfen. Sie besteht aus 11 Mitgliedern und sechs ständigen Ersatzmitgliedern die alle dem Landtag angehören und zusätzlich sechs weiteren Mitgliedern. Wir haben in Rheinland-Pfalz in den vergangenen Jahren schon Schritte eingeleitet hin zu stärkerer und einfacherer Bürgerbeteiligung. Die Bürgerinnen und Bürger bringen sich in vielfältiger Hinsicht in das gesellschaftliche Leben ein – auch zwischenzeitlich durch die damalige Änderung der Gemeindeordnung. Die bundesweit geführte Debatte über eine Entkopplung von Planungsvorhaben vom Willen der Bürgerinnen und Bürger und die fehlende Nutzung von existierenden Mitwirkungsinstrumenten muss jedoch auch in Rheinland-Pfalz eingehend untersucht und diskutiert werden. Man weiß: Wir haben große Diskussionen wie um Stuttgart 21 gerade bei Großprojekten. Rheinland-Pfalz betrifft etwa sehr stark die Frage, wie es mit der Landebahn am Flughafen Frankfurt weitergeht. Aber, meine Damen und Herren, nicht nur das Planungsrecht, sondern auch bestehende demokratische Rechte und weitere Instrumente der Bürgerbeteiligung, insbesondere direkt-demokratische Elemente müssen auf ihre Implementierungsmöglichkeiten überprüft werden. Denn der Wunsch nach mehr Mitbestimmung wird auch aus der rheinland-pfälzischen Bevölkerung heraus artikuliert. Dazu eine aktuelle Umfrage: Zwei Drittel der rheinland-pfälzischen Bevölkerung fühlen sich nicht ausreichend eingebunden. Dafür werden vielfältige Ursachen genannt. Wir wollen deshalb mit der Enquete-Kommission die Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger erweitern, sich an Entscheidungsprozessen intensiver zu beteiligen. Ziel ist, bereits frühzeitig eine hohe Identifikation mit konkreten Projekten und politischen Prozessen zu schaffen sowie Hürden und Schranken für eine Beteiligung abzubauen. Aufgabe der Kommission ist es, eine umfassende Bestandsaufnahme der bestehenden Möglichkeiten zur Beteiligung auf den unterschiedlichen staatlichen Ebenen vorzunehmen und konkrete Vorschläge zu erarbeiten. Sie soll dabei insbesondere folgende Punkte untersuchen: Zunächst die Rahmenbedingungen, die Möglichkeit der weiteren Öffnung von Beteiligungsangeboten für alle Bürgerinnen und Bürger sowie die Stärkung dieser

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Beteiligungsverfahren. Dann ist als nächstes die Frage zu stellen, wie die Beteiligungschancen und die Beteiligungsgerechtigkeit aussehen. Die Meinung der Bevölkerung muss sich bei den verschiedenen Beteiligungsmodellen repräsentativ widerspiegeln. Ganz wichtig: repräsentativ widerspiegeln – und ich meine, dass das eine der wichtigsten Aufgaben ist, die wir auch in der Politik zu beachten haben, dass wir nicht dem Mainstream an einem Tag und am nächsten Tag dem anderen folgen und nur in einzelnen Bereichen Gruppierungen zulassen, sondern es muss repräsentativ sein. Deshalb ist zu untersuchen, wie auch bildungsferne Bevölkerungsgruppen besser erreicht werden können. Menschen, die also nicht jeden Tag die Tageszeitung lesen und sich – anders als wir alle hier – natürlich nicht umfassend über jedes Thema informieren. Die Frage der Repräsentativität von direkter Demokratie muss dabei auch im Vergleich zur repräsentativen Demokratie beleuchtet werden. Zudem ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Grad der Beteiligung zu untersuchen. Mögliche Erweiterungen der Beteiligungsmöglichkeiten von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft – darauf komme ich nachher noch einmal zurück – wie beispielsweise bei Wahlen müssen überprüft werden. Die Frage nach mehr Akzeptanz von politischen Prozessen und natürlich auch die Frage des Wahlalters sind zu diskutieren. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit eine allgemeinverständliche Sprache zur besseren Vermittlung von Politik dienen kann und somit mehr Menschen erreicht werden können. Demokratische Teilhabe muss sich dabei Fragen der Barrierefreiheit genauso wie des demographischen Wandels stellen – sowohl im Alter als auch bei den Jungen. Insgesamt muss der Abbau von Beteiligungshemmnissen ein wesentliches Ziel bei der Erweiterung demokratischer Mitbestimmung sein; die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Partizipationsprozessen ist darüber hinaus zu berücksichtigen. Dabei gilt es im Hinblick auf die Repräsentativität unseres Wahlsystems – und darauf legen wir immer wieder Wert: auf die Repräsentativität unseres Wahlsystems – die Frage nach einer Stärkung vor allem der Frauen im Wahlverfahren – Stichwort Paritégesetz – zu prüfen. Wir werden des Weiteren die rechtlichen Rahmenbedingungen zu überprüfen haben. Wir wollen die Informationsmöglichkeiten nicht noch erweitern, sondern kanalisieren, um Menschen die Möglichkeit zu geben, das zu erfahren, was sie wollen, ohne sich in einem Wust von Vorschriften, Homepages und anderen Informationsquellen zu verheddern. Wir wollen auch darüber nachdenken, wie wir Online-Beteiligungen, etwa Online-Wahlen, einführen können, oder über Bürgerhaushalte auf kommunaler Ebene einzelne Aspekte beleuchten können – getreu dem Motto „Wir müssen 1 Million einsparen“, auf Landesebene sind es dann eher 100 Millionen: Was stellt Ihr euch als Bürger vor, wo man das am besten machen könnte? Wir wollen dieses Instrument vor allem deshalb so genau untersuchen, weil wir zumindest bisher die Erfahrung gemacht haben, dass man mit Online-Umfragen nicht sehr weit kommt. Zum einen deshalb, weil nicht jeder sich an Online-Umfragen beteiligt, zum anderen weil,

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wenn er sich beteiligt, er dies in der Regel nur tut, wenn es seinen eigenen Bereich betrifft. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen aus meinem eigenen Heimatort Frankenthal. Wir haben einen Bürgerhaushalt ins Internet gestellt und diese Frage gestellt: „Wie würdet Ihr denn im nächsten Haushalt Einsparungen vornehmen?“. Dann haben wir Antworten bekommen. Insgesamt sage und schreibe 25 bei 45.000 Einwohnern. Davon waren 12 Feuerwehrleute die uns geschrieben haben: Ihr könnt überall einsparen, nur nicht bei der Feuerwehr. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das kann vielleicht eine Ausnahme sein in Frankenthal. Ich habe aber die Befürchtung, dass die über das Internet durchgeführten Abfragen oder Vorschläge durchaus noch in den Kinderschuhen stecken und man sehr genau überlegen muss, ob das in Zukunft die sog. Eier legende Wollmilchsau sein kann. Es wird auch in dieser Enquete-Kommission nicht nur über die Frage der direkten Abstimmungsmöglichkeit und Einflussnahme gesprochen, sondern auch, ob über ein sog. Open government nach außen hin alles transparent gemacht werden soll. Ich frage mich natürlich manchmal auch als Abgeordneter, ob wir nicht schon transparent genug sind, wo die Transparenz noch erweitert werden müsste. Aber natürlich wird darüber diskutiert, gerade mit diesen Bürgerhaushalten, aber auch die Frage, inwiefern wir über web 2.0 beispielsweise wesentlich mehr Anklang finden können. Facebook, Twitter, was wir alles heute haben. Dazu auch noch eine Zahl: Wir haben in Rheinland-Pfalz eine Erhebung gemacht, wie viele Menschen sich an Facebook und Twitter beteiligen und ob damit eine repräsentative Mehrheit angesprochen werden kann. Es sind gerade mal 2 Prozent der Bevölkerung. Also auch da muss man sehr kritisch hinterfragen, ob dieses Instrument tauglich ist. Lassen Sie mich, nachdem ich die Grobvorstellungen der Enquete-Kommission genannt habe, nunmehr in einzelne Punkte einsteigen, und gestatten Sie mir auch, dass ich als Vertreter einer Oppositions-Partei in Rheinland-Pfalz auch unsere Meinung dazu kund tue, um sie nachher mit Ihnen besprechen zu können. Wir haben, ich hatte es vorher angesprochen, in der ersten Stufe überprüft, wie können wir Gruppen und Einzelpersonen mehr oder gezielter einbinden. Alte, Behinderte, junge Menschen. Lassen Sie mich anfangen mit den jungen Menschen. Ein großes Thema in Rheinland-Pfalz. Wie gehen wir mit den Plänen um, das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre zu senken? Wir reden dabei von 2 Prozent der Bevölkerung in Rheinland-Pfalz, die das betreffen würde. Wohlgemerkt, auch nur alle fünf Jahre, so ist es vorgesehen bei den entsprechenden Landtagswahlen. Mit der Konsequenz, dass wir zunächst einmal in der Enquete-Kommission eine Erhebung unter denjenigen, die jetzt 16 Jahre alt sind, gemacht haben, um festzustellen, ob sie sich überhaupt mit diesem Thema befassen. Und wir haben festgestellt, dass zwei Drittel der jungen Menschen, die das betrifft, der Meinung sind, mit 16 Jahren noch zu unreif zu sein, um wählen zu können. Ich habe das selbst erlebt. Wir hatten am 9.11. 2012 Schulbesuchstage. Ich habe dort selbst Probeabstimmungen durchgeführt in einer Realschule, 9., 10. Klasse, also genau dieses Alter, und genau dieses Argument kam immer wieder: „Wir sind doch eigentlich noch zu unreif“. Worauf ich mir gestattet habe,

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den jungen Menschen zu sagen, ich würde auch Menschen kennen mit 25 Jahren, 40 Jahren, 60 Jahren, die durchaus auch noch als unreif bezeichnet werden könnten und habe versucht, den jungen Menschen mehr Mut zu machen, an sich selbst zu glauben, davon auszugehen, dass sie eben nicht unreif seien, wenn sie sich an der einen oder anderen Stelle besser informieren. Die Frage des Wahlalters mit 16 ist inzwischen in Rheinland-Pfalz, nachdem diese Erhebung gemacht wurde, die Argumente auf beiden Seiten ausgetauscht wurden, entschieden worden. Deshalb entschieden worden, weil wir eine Zwei-Drittel-Mehrheit brauchen, um eine Änderung des Wahlalters umzusetzen. Die CDU sieht keinen Bedarf, das im Moment zu ändern mit folgenden Argumenten: Nummer 1: Zwei Drittel der Betroffenen selbst möchte es nicht. Nummer 2: Wir sind der Meinung, dass man über solche Themen selbstverständlich reden können muss (auch wenn es nur 2 Prozent der Bevölkerung betrifft), aber dann bitte ganzheitlich, nämlich zu der Frage, was passiert denn dann mit der Geschäftsfähigkeit, was passiert mit der Strafmündigkeit, der Strafbarkeit? Muss es denn nicht so sein, dass man nur ein Recht übertragen bekommt, sondern muss diesem Recht nicht auch die Pflicht folgen? Mit der Konsequenz, dass wir uns nicht absolut gegen das Wahlalter mit 16 stellen, denn die heutigen 16 Jährigen sind schon viel weiter als wir damals. Ich merke das an den eigenen Kindern. Mein Sohn ist jetzt 13 Jahren alt. Der ist aber anders 13 als ich es war. Das merkt man schon in einer Generation. Also nicht per se dagegen. Aber wenn, dann bitte ganzheitlich diskutieren. Und dann können wir uns sogar auf einen großen SPD-Politiker berufen, der das auch so gemacht hat. Das war nämlich Willi Brandt. Der hat 1969 das Wahlalter von 21 auf 18 abgesenkt, allerdings 1972 darauf hin auch alle anderen Pflichten, die es noch gab ebenfalls mit übertragen (bis auf die Strafmündigkeit, Jugendstrafrecht gilt heute immer noch bis zum 21. Lebensjahr). Weiter stellt sich die Frage, welche Chancen Behinderte und Alte haben, enger an einen Mitentscheidungsprozess gebunden zu werden? Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es oft an ganz einfachen Dingen scheitert. Beispielsweise bei Wahlen an der Frage, wie bekomme ich denn meinen Wahlzettel, wie komme ich in die Wahlkabine, wie kann ich wählen? Und es gibt an der einen oder anderen Stelle, in anderen Bundesländern ist das im Übrigen schon umgesetzt, die Situation, dass komplett über das Land, auch bei Kommunalwahlen in den jeweiligen kommunalen Gebietskörperschaften, die Wahlzettel versandt werden, so dass jeder die Chance hat, sie zu Hause anzuschauen, zwar dort nicht wählen muss, aber wählen kann und die Zettel auch wieder zurückgeben kann. Einfache Dinge, aber Dinge, die im Moment noch gar nicht umgesetzt sind. Wir hatten bei der Anhörung auch einen Behinderten, der uns erzählte, es sei ihm gar nicht möglich, einfach ins Wahllokal zu gehen. Sie werden sich jetzt wundern, werden sagen, das kann doch eigentlich nicht sein. Aber sind wir heute wirklich komplett barrierefrei bei den Wahlkabinen, Wahlurnen oder bei der Frage, ob die Wahlzettel nach Hause geschickt werden?

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Bei den Instrumenten, die wir jetzt derzeit beleuchten, sind wir bei open government, wie gesagt, sehr interessiert zu durchleuchten, was sich da noch ändert. Homepages des Landes, homepages aller kommunalen Gebietskörperschaften weisen fast schon zu viel Stoff auf, der fast nicht mehr wahrgenommen werden kann. Gehen Sie heute einmal auf irgendeine Homepage einer kommunalen Gebietskörperschaft und suchen Sie thematisch einen Punkt heraus, von dem Sie sagen könnten, dass er Sie interessiere. Sie werden schnell feststellen, dass Sie da sehr lange suchen. Daran müssen wir arbeiten, das zu vereinfachen und hier barrierefrei zu erreichen, dass diejenigen, die sich dafür interessieren die Chance haben, die Dinge zu finden, die für sie von Belang sind. Wir werden dann, im nächsten Schritt auch klären müssen, wie gestalten wir die Beteiligung im Planungsverfahren? Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, die Diskussion, die wir im Moment führen zu der Frage der sinnvollen Veränderungen, fokussiert sich sehr stark auf die Frage: fühlen sich die Menschen bei Großprojekten noch ausreichend mitgenommen. Es gibt für uns zwei Paradebeispiele. Wir haben zunächst einmal die Landebahn Frankfurt Flughafen. Da hat damals die hessische Landesregierung relativ frühzeitig versucht, viele Bürgerinnen und Bürger – auch viele Interessengruppen im Planungsverfahren mit einzubinden. Das ist an verschiedenen Stellen von Anfang an passiert. Man hat alles offen gelegt und die Pläne gezeigt. Soweit so gut. Als es dann soweit war, hatte sich die Stimmung verändert. Ich sage auch ganz selbstkritisch: dann sind vielleicht auch von der Regierung an der einen oder anderen Stelle nicht ganz glückliche Entscheidungen getroffen worden, indem man Gerichtsverfahren dann nochmals durch eine Instanz weitergeführt hat, obwohl man sie hätte auch stoppen können. Es ist dann eine Divergenz entstanden in der Ansicht derer, die bisher mitgenommen wurden zu denen, die es zu entscheiden hatten. Das ist die eine Seite. Man hat also versucht, frühzeitig zu beteiligen, hat aber gemerkt, und das haben Sie bis heute sowohl auf unserer Rheinseite als auch auf der anderen Rheinseite, dass die Menschen das, was dort entstanden ist, nicht akzeptieren, obwohl man versucht hatte, die Bürger und Initiativen zu beteiligen. Das gegenteilige Beispiel ist Stuttgart 21. Da hat man es eben nicht so getan. Und die Konsequenz haben wir gesehen. Wir haben in Rheinland-Pfalz – ein Beispiel möchte ich nennen – eine Situation, dass es um den Ausbau einer Bundesstraße geht, der B 10, die im Planverfahren soweit durchgeführt wurde, dass sie umgesetzt werden könnte. Aber inzwischen gibt es Bürgerinnen und Bürger, die in der Vorderpfalz wohnen, denen es zu laut wäre, wenn es einen vierspurigen Ausbau der B 10 gäbe, und es gibt diejenigen, die in der Westpfalz wohnen, also im Pfälzerwald, die sagen, wir brauchen dringend diesen vierspurigen Ausbau, sonst verliert unsere Region. Also entlang der Straße selbst gibt es unterschiedliche divergierende Meinungen in der Westpfalz zu dem, was in der Vorderpfalz gesehen wird. Im Moment wird dazu ein Mediationsverfahren durchgeführt. Das ist natürlich jetzt relativ spät aus dem einfachen Grunde, weil diese Planungen

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für diese Straße schon über Jahrzehnte hinweg vorgesehen waren und vorliegen. Es gibt an der einen oder anderen Stelle noch Probleme auch in der Planung, weil dazwischen sich noch Tunnel befinden, die man nicht so einfach aufbohren kann, um die Vierspurigkeit zu erreichen. Aber insgesamt ist bei denen, die sich mit der Materie befassen, bekannt, dass es zum Ausbau jetzt schon kommen können hätte. Nur wegen der Bürgerbewegungen, die jetzt entstanden sind, ist ein Mediationsverfahren eingeführt worden. Wir selbst haben in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit gerade in Bezug auf Planungs- und Verwaltungsverfahren sowie Vereinfachungsverfahren folgende Vorschläge unterbreitet, die dann auch in der Enquete-Kommission in der nächsten Stufe zu diskutieren sein werden: Wir sind der Meinung, zu Beginn des Verwaltungs- und Planungsverfahrens sollte eine obligatorische Bürgerbeteiligung eingeführt werden. Wir fragen die Menschen am Anfang. Diese Beteiligung findet Einlass in das dann anschließende Verwaltungsverfahren und auch ins Abwägungsverfahren. Während des anschließenden Planfeststellungsverfahrens sollte eine konsultative parallele Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit fortgeführt werden, entsprechend dem damals in Frankfurt am Flughafen erfolgten. Wir müssen es aber anders als bisher machen. Wir müssen jedem Menschen, den es betreffen kann, die Informationen direkt vor Ort an die Hand geben. Heute ist es, man kann es bedauern, man kann es auch gut heißen, so auch im politischen Alltag: Sie füllen keine Hallen mehr, sondern sie müssen zu den Menschen gehen. Das hat durchaus seinen Vorteil für die Menschen, seinen Nachteil für die Politiker, weil sie viel mehr unterwegs sein müssen. Aber wir sagen, wenn wir diese Beteiligung wollen, diese parallele Beteiligung, so muss das in einer Form entweder elektronisch oder auch per Flugblätter, per Zeitung usw. an die Menschen herangetragen werden, so dass hinterher auch niemand sagen kann, er sei nicht auf den aktuellen Stand gebracht und beteiligt worden. Dabei wird natürlich das Planfeststellungsverfahren zunächst nicht tangiert. Allerdings sollten die Ergebnisse, also die Rückläufe derer, die sich daran beteiligen, dann in den Abwägungsprozess mit aufgenommen werden. Dann können wir uns vorstellen, dass wir gewisse Geltungsfristen von Planfeststellungsbeschlüssen auf die Verlängerungsmöglichkeiten und die Genehmigungen beschränken. Das heißt, wir haben einen Planfeststellungsbeschluss, der ein gewisses Großvorhaben vorsieht. Dann sollte, wenn vier Jahre vorbei sind und nichts passiert ist, dieses Verfahren nochmals neu geprüft werden. Wenn es jetzt durch diese Bürgerbeteiligungen und vorgezogenen Beteiligungsverfahren zu erheblichen Bedenken gegen das Projekt kommt, müsste es ein Referendum auf der kommunalen oder Landesebene geben, je nachdem, welches Projekt es betrifft, so dass dann die Bürgerinnen und Bürger selbst über dieses Referendum nochmals zum Ausdruck bringen, ob sie diesem Vorhaben folgen wollen oder nicht. Dies alles geht natürlich nur, wenn wir in den Planverfahren etwas verändern, die Kommunikation verbessern und sämtliche Medien nutzen, die es gibt. Allerdings

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dürfen wir nicht davon ausgehen, dass die Menschen dieselben Medien nutzen wie wir. Deshalb sage ich und das wird sich in der nächsten Zeit auch nicht ändern, wir können nicht alleine aufs Internet bauen, wir können umgekehrt nicht alleine auf die Zeitungen bauen, die nur noch Abdeckungen von um die 30 Prozent in der Fläche haben, wir müssen alle diese Medien nutzen, um in einer Breite dieses Thema auch durchzuziehen. Bürgerbeteiligungen auch auf Landesebene müssen auch dadurch mehr in den Fokus gerichtet werden, dass wir uns als Abgeordnete selbst verpflichten, mehr mit den Menschen zu reden, mehr solche Themen anzugehen, mehr Informationsveranstaltungen zu machen, mehr zu kommunizieren. Man sagt ja immer, man könne alles gesetzlich regeln, man könne alles mit irgendwelchen Planverfahren auch in Form gießen. Ich meine aber, dass wir uns in der heutigen Zeit völlig umstellen müssen. Deshalb müssen wir auch als Politiker, als Repräsentanten dieses Staates, mehr zu den Menschen gehen, mehr mit ihnen reden, sie mehr mitnehmen. Das ist eine Selbstverpflichtung, die man nicht gesetzlich regeln kann, die kann man nur dadurch regeln, dass sich Bürgerinnen und Bürger ihre Abgeordneten anschauen und sie wieder wählen oder eben auch nicht. Damit aber, und das ist ein Vorschlag, den wir auch in dieser Enquete-Kommission mit einspeisen werden, in Zukunft die Möglichkeit besteht, auch längerfristig im politischen Prozess Entscheidungen voran bringen zu können, sind wir der Überzeugung, dass wir uns auch davon verabschieden müssen, die Legislaturperioden auf der jetzigen Länge zu lassen; wir müssen die Legislaturperioden vielmehr verlängern. Aus folgendem Grund: Wir haben auf Bundesebene vier Jahre; das läuft dann wie folgt: Nach der Wahl dauert es ein halbes Jahr bis der Koalitionsvertrag geschlossen ist, wenn es glücklich läuft, dann werden einige Dinge durchgesetzt, und nach eineinhalb Jahren beendet man es schon wieder, weil es ja kurz vor der Wahl ist und man die Befürchtung hat, wenn man jetzt noch irgendwelche Entscheidungen trifft, die nicht mehrheitsfähig sind, man vielleicht nicht mehr gewählt wird. Ich merke das auch im Landtag. Wir haben fünf Jahre in einer Periode. Auch da gilt das Gleiche. Wir sind jetzt eineinhalb Jahre nach der Wahl. Im Moment werden noch Vorschläge unterbreitet, aber ab nächstem Jahr im Herbst, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen, beendet man das und sorgt dafür, dass man eher die weichen Themen fährt, als dass man die Entscheidungen trifft, die in der Breite noch zu treffen wären. Wir stehen alle auf der Grundlage der repräsentativen Demokratie. Es gibt niemanden bei uns im Landtag, der sagt, er müsste das verändern. Es gibt aber Modelle, die ja beispielsweise auch in der Schweiz praktiziert werden, die mehr die Bevölkerung beteiligen. Darüber werden wir in der letzten Stufe nachdenken müssen. Da geht es dann um die Frage, wie ist das bei Volksbegehren, Volksentscheiden. Sind die Hürden, die wir jetzt eingezogen haben nicht zu hoch? Da meinen wir, dass diese in Rheinland-Pfalz zu hoch sind. Man müsste auf jeden Fall die Quoren senken. Allerdings nicht so wie in der Schweiz. Dort reicht es ja aus, wenn 50.000 Menschen unterschreiben. Nur am Rande bemerkt: Wenn man die Schweiz immer wieder

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zitiert und sagt, die seien doch viel basisdemokratischer und viel näher an den Menschen dran: Ich habe gerade dieses fakultative Referendum genannt mit 50.000 Beteiligten, das ist ja nun nicht gerade viel. Von 1874 bis 2000, das sind ja nun ein paar Jahre, gab es in der Schweiz ganz genau 139 solcher Referenden, das ist ja jetzt nicht gerade eine hohe Zahl. Und bei diesen 139 fakultativen Referenden wurden 69 Parlamentsvorlagen, die im Parlament zunächst abgestimmt worden waren, zu Fall gebracht, aber 70 wurden auch für gut geheißen. Das heißt, unterm Strich hat dieses fakultative Referendum, wenn man alle Entscheidungen einbezieht, die zwischen 1874 und 2000 gefallen sind, zu 96 % der Bestätigung der Parlamentsbeschlüsse geführt. Wir reden also bei der Aufhebung über vier Prozent, insgesamt über einen Zeitraum von 125 Jahren. Man muss sich natürlich dann die Frage stellen, ob für uns solch ein fakultatives Referendum überhaupt interessant und umsetzbar wäre. In der Schweiz sind im Übrigen aus allen Parteien in der Regel diejenigen, die an der Regierung zu beteiligen sind, auch beteiligt. Das macht man gerade deshalb, um zu vermeiden, dass jemand auf die Straße geht und sagt, ich kippe jetzt alles das, was im Parlament passiert ist. Das wird er nämlich dann nicht tun, wenn er selbst an der Regierung beteiligt ist. Was wir uns vorstellen können ist, dass wir bei Bürgerentscheiden und Bürgerbegehren die Schwelle senken, die wir jetzt in Rheinland-Pfalz haben. Daher geht es immer auch um die Frage, was wir denn mit den Verfassungsgrundlagen machen? Inwieweit können die über Bürgerinnen und Bürger verändert werden? Wir haben bisher über Planverfahren geredet. Wer soll in Zukunft mit abstimmen dürfen bei welchen Bereichen? Die Frage ist aber natürlich dann auch zu stellen und zu beantworten. Wir haben schließlich eine Verfassung und in dieser Verfassung sind gewisse Regeln vorgesehen, die ja nur mit ganz hohen Hürden und an manchen Stellen gar nicht geändert werden können. Kann man dort nicht mehr Bürgerbeteiligung zulassen, kann man Menschen nicht beispielsweise bei der Frage, wenn das Grundgesetz geändert wird, daran beteiligen und sagen, dass das für uns jetzt ein so wichtiges Thema ist, dass wir schon wissen möchten, was alle dazu sagen? Das kann aus unserer Sicht durchaus auch ein Mittel sein, um die Menschen für diese Themen der Grundgesetzänderung zu begeistern, ihnen klar zu machen, um was es geht. Es muss wiederum eine flächendeckende kommunikative Wirkung entfalten, sonst macht es keinen Sinn und es hat auch zur Voraussetzung, dass dann auch über entsprechende Veranstaltungen Informationen an die Menschen gebracht werden; Abgeordnete sind in der Regel daran interessiert nicht gegen den Willen des Mainstreams der Menschen zu entscheiden. Das ist manchmal nicht nachvollziehbar, gebe ich zu, aber in der Regel gibt es ganz wenige Menschen, die bereit sind, mit ihrem Rückgrat, mit ihrer Meinung gegen den Mainstream zu agieren. Als Repräsentanten des Volkes schauen sich Abgeordnete schon genau an, wie das Volk reagiert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich Ihnen noch kurz etwas zu dem Thema sagen, das ich am Anfang angesprochen habe, das durchaus auch mit Beteiligungsfragen zu tun hat, nämlich das Frauenquorum. Ich finde im Übrigen, da herrscht eine verkürzte Diskussion. Es ist selbstverständlich wichtig,

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deshalb hatten wir jetzt selbst auf unserem Parteitag die sog. Flexiquote ins Leben gerufen. Aber das ist nicht nur die einzige Frage zwischen Frauen und Männern, die gestellt werden muss, sondern es gibt viele Gruppierungen, die auch ansonsten nicht so beteiligt sind, wie es sein sollte. Ich hatte vorher Behinderte angesprochen, die alternde Gesellschaft, Migranten, viele andere Betroffene, die beteiligt werden müssten. Bei der Frauenquote, bei dem Frauenanteil, meine ich, muss man zwei grundsätzliche Unterschiede machen. Wir haben in unserer Partei, das ist ein Verein, die Selbstverpflichtung auf einem Drittel bei Listenaufstellungen. Wir werden uns vorstellen können, den Frauenanteil in der Partei auf 50 Prozent zu erhöhen. Allerdings darf es nicht so laufen, und das ist wichtig für uns innerhalb der Partei, dass es heißt, wir finden niemanden, deshalb muss man das nicht einhalten, sondern der umgekehrte Weg ist der entscheidende. 50 Prozent sind die erste Bedingung. Und dann muss im Umkehrschluss bewiesen werden, warum es nicht geklappt hat. Bedenken haben wir bei einer festen Quote für Wahlen. Ist denn so etwas verfassungsrechtlich zulässig, dass man so eine feste Quote einfügt? Und dazu kann ich vielleicht noch eines sagen. Es gibt ein Gutachten aus Baden-Württemberg, die schlagen vor, dass man eine Soll-Regelung ins Gesetz aufnehmen sollte. Damit könnten wir uns auch anfreunden, nämlich zu sagen, es sollten Frauen in dieser Größenordnung mit beteiligt werden. Ich halte es, offen gestanden, für eine Selbstverständlichkeit in einer modernen Gesellschaft, dass man nicht mehr darüber nachdenkt, ob es eine Frau oder ein Mann ist, sondern es soll ja nach den Qualifikationen gehen. Und nachdem wir also tatsächlich eine Ungleichgewichtung zwischen Männern und Frauen haben, müssen wir wohl gesetzlich etwas tun. Da könnte ich mir die Sollvorschrift durchaus vorstellen.

Postdemokratie im Parlament Marco Bülow Skandale, Bastapolitik und Intransparenz haben der Glaubwürdigkeit der Politik massiv geschadet. Übersteigerter Lobbyismus, die Ökonomisierung der Politik und die Entfremdung der Bürger von den Parteien gefährden die Demokratie, wie wir sie kennen. Einige wenige Abgeordnete profitieren von diesem veränderten System, die meisten anderen schauen zu, obwohl ihr Ansehen und ihr Einfluss sich im Sinkflug befinden. I. Was heißt Postdemokratie? In der Postdemokratie ist die parlamentarische Demokratie mit freien, periodisch stattfindenden Wahlen, Wahlkämpfen und Parteienkonkurrenz formal völlig intakt. Regierungen können abgewählt werden, es gibt keine Pressezensur und es herrscht Gewaltenteilung. Doch hinter dieser funktionierenden Fassade besteht eine Machtstruktur, die sich vom eigentlichen demokratischen System entfernt hat. Eine Elite beherrscht und kontrolliert die politischen Entscheidungen, Wahlkämpfe sind ein von Medien- und Imageberatern kontrolliertes, meist personalisiertes Spektakel. Die Regierungen handeln Gesetze eher mit finanzkräftigen Lobbyisten, als mit den Mitgliedern der Parlamente aus. Politische Entscheidungen werden hinter geschlossenen Türen und immer häufiger von nicht legitimierten Expertenrunden getroffen, deren Zusammensetzung allein von Ministern oder dem Kanzler / der Kanzlerin bestimmt werden. Noch haben wir diesen Zustand nicht völlig erreicht, bewegen uns aber deutlich dort hin. II. Bedeutung und eigentliche Aufgabe des Parlaments Das Parlament ist die „Entscheidungsmitte“ unserer Demokratie. Die durch Wahlen legitimierten Abgeordneten sollen durch die Gesetzgebung politische Entscheidungen treffen und die Regierung kontrollieren. Faktisch verliert das Parlament jedoch permanent an Einfluss. Wir Abgeordnete werden unserer eigentlichen Verantwortung, das Volk zu vertreten und Entscheidungen zu treffen immer weniger gerecht. Der zunehmend spürbare Machtverlust der gewählten Mandatsträger ist größtenteils selbstverschuldet und wird von der Mehrheit der Abgeordneten so hingenommen. Wir müssen wieder mutiger werden und Maßnahmen entwickeln, diese Fehlentwicklung umzukehren. Hauptthesen zum Einflussverlust der Parlamente:

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- Die massive, unkontrollierte Einflusszunahme des Lobbyismus untergräbt die Macht des Parlaments. Auch wenn der überwiegende Teil der Abgeordneten nicht käuflich ist, lassen sie sich durch Druck aber auch von „Schmeicheleien“ der Lobbyisten beeinflussen. - Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche führt zu einer permanenten Entwertung vieler Politikfelder, insbesondere der Bereiche, die den mächtigen Konzernen und ihren Verbänden hinderlich erscheinen. Die Allmacht von finanzstarken Großkonzernen, der Zwang zum Wachstum, die Angst vor Arbeitsplatzabbau haben der Politik unsichtbare Fesseln angelegt. Der Souverän ist erpressbar geworden. Gesetzesvorschriften werden verwässert, mächtige Klientelgruppen erhalten einseitige Steuererleichterungen oder Förderungen, ordnungspolitische Maßnahmen werden meist zu wertlosen „freiwilligen Vereinbarungen“ umgemünzt. - Die Entscheidungsmacht verlagert sich zunehmend vom Parlament hin zur Regierung. Die Vorlagen der Regierung werden von den Fraktionen überwiegend so übernommen und durchgesetzt. Fundamentale Veränderungen oder eigene Gesetzesinitiativen werden immer mehr zur Ausnahme. Dies wird massiv beschleunigt durch immer mehr Gesetze, die von der Regierung durch das Parlament gepeitscht werden, ohne dass es dazu ausreichende Zeit zur Debatte gibt. - Die Autorität und Gutsherrenmentalität von Fraktions- und Parteispitzen geben kritischen, inhaltlichen, parteiinternen Debatten immer weniger Raum. Gepaart mit dem medialen und öffentlichen Druck einer zur Show gestellten, meist erzwungenen Geschlossenheit der Regierungsfraktion werden Einwände der parlamentarischen Fachexperten und der Parteienbasis häufig ignoriert. - Durch übersteigerte Fraktionsdisziplin und den Wunsch von Abgeordneten, ihre Karrieren nicht zu gefährden oder in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen, lassen sich Abgeordnete ihre Gewissensfreiheit immer weiter einschränken und beugen sich meist mehrheitlich den Vorgaben der Regierung und/oder der Fraktionsspitze. - Die Auslagerung von politischen Entscheidungen auf so genannten Expertengremien und Berateragenturen schwächt die Position der gewählten Volksvertreter. - Globalisierung, Europäisierung, Föderalisierung und weitere schwer steuerbare Entwicklungen und Regeln beschränken zusätzlich die politische Einflussnahme des Bundestages. Die genannten Thesen hängen oft zusammen und ergänzen sich wechselseitig. Zusammengenommen zeigen sie die reale Bedrohung des gesamten parlamentarischen Systems. Im Folgenden möchte ich zwei Hauptaussagen vertiefen:

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III. Das gehetzte Parlament Immer häufiger werden wir Abgeordnete mit weitreichenden Entscheidungen der Regierung konfrontiert, die innerhalb weniger Tage auch im Parlament beschlossen werden sollen, die wir jedoch selbst mit bestem Willen in so kurzen Zeiträumen nicht durchblicken können. Beispiele dafür sind diverse Rettungsschirme, bei denen es um Geldsummen ging, die keiner von uns erfassen kann. Erst kürzlich wurde wieder ein Rettungspaket für Griechenland binnen einer Woche durch das Parlament gepeitscht. Auch die Fachexperten der eigenen Fraktion, auf die man sich häufig verlässt, sind ab einem bestimmten Punkt überfordert. Denn schon der Alltag führt viele Abgeordnete und ihre Büros an ihre Grenzen. Im Zeitalter von E-Mail und sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter nehmen Kontaktaufnahmen und Anfragen stetig zu. Das ist begrüßenswert, führt aber zusammen mit der sonstigen Post zu bis zu 200 Anfragen wöchentlich. Dazu kommen dann die wachsenden Papierstapel, die zwangsläufig immer häufiger auch von den Fachpolitikern ungelesen oder überflogen im Altpapier landen. Wann gestehen wir uns endlich ein, dass wir an Einfluss verlieren und dass wir zunehmend überfordert sind? Erst nach dieser Einsicht wird es eine Offenheit zum konkreten Handeln geben. Wenn wir Abgeordnete es weiterhin akzeptieren, dass die Regierung bei der Gesetzgebung immer mehr den Takt angibt und wir oft nicht einmal mehr ausreichend Zeit bekommen, dann dürfen wir nicht mehr erwarten, ernst genommen zu werden. Das Parlament wird so zu einer reinen Hilfstruppe der Regierung und verliert den Anspruch, Entscheidungsträger und Zentrum unserer parlamentarischen Demokratie zu sein. Aber genau dies gibt das Grundgesetz uns vor. IV. Die Lobby-Republik Die Macht des Profitlobbyismus ist in den letzten Jahren deutlich angewachsen. Viele der für die Wirtschaft wichtigen Gesetze werden mittlerweile von ihr mitbestimmt. Die Politik wird immer mehr zu einem Spielball der großen Konzerne, welche die Macht und das Geld besitzen, das politische Geschehen zu beeinflussen. Es ist nicht verwerflich, wenn Unternehmen, Verbände und Initiativen ihre Vorstellungen der Politik vermitteln. Aber die Art und Weise, wie sie es teilweise tun, wie intransparent es abläuft und der Umfang, den Lobbyismus mittlerweile angenommen hat, ist bedrohlich. Wohl mehr als zwei Drittel der umtriebigen Politikbeeinflusser sind gut geschulte und von Großkonzernen bezahlte Profitlobbyisten. Von einer Waffengleichheit zwischen den verschiedenen Lobby-Gruppen sind wir weit entfernt. Verbände ohne große Geldgeber und ohne wirtschaftliche Interessen haben weniger und deutlich schlechtere Möglichkeiten, den Abgeordneten ihre Auffassungen nahezubringen, als große Wirtschaftsverbände oder Unternehmen mit eigenen Büros und geschulten Mitarbeitern in Berlin. Zudem kommen sie selten an die wirklich wichtigen Politiker heran. Die Interessen einzelner Bürger drohen vollständig unterzugehen, wenn sie nicht gerade im Wahlkreis auf einen gesprächsbereiten Abgeordneten treffen.

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Hinzu kommt, dass in Berlin immer mehr Unternehmen entstehen, deren Hauptarbeit darin besteht, für Auftraggeber Lobbyarbeit zu verrichten. Etliche Anwaltskanzleien oder „Public Affairs Agenturen“ bieten der Wirtschaft ihre Dienste zur Beeinflussung der Politik an. Dazu kommen Denkfabriken oder Initiativen, die teilweise unter dem Deckmantel scheinbarer Neutralität versuchen, eine bestimmte politische Stimmungslage zu erzeugen. Ihre Geldgeber sind nicht selten finanzstarke Unternehmen. Politiker wissen oft gar nicht mehr, welche Interessen die freundlichen Damen und Herren vertreten, mit denen sie ein so nettes Gespräch geführt haben. Das hilft den Lobbyisten, denn viele Großkonzerne sind in der Bevölkerung nicht mehr gut angesehen. Eine geringe Akzeptanz erschwert aber die Lobbyarbeit, denn noch lassen sich Politiker – vor allem vor Wahlen – von den Stimmungen der Bevölkerung leiten. Schon deshalb tritt der Profitlobbyismus gerne als Sponsor auf. Davon profitieren aber nicht nur der Sport, die Kultur oder Wohltätigkeitsorganisationen. Es gibt mittlerweile fast kein parteipolitisches Fest mehr, das ohne das Sponsoring spendabler Unternehmen ausgetragen wird. Der Lobbyismus hat sich in den letzten Jahren nicht nur stark professionalisiert, er hat sich auch neue Adressaten gesucht. Nicht mehr nur die Parlamentarier, vor allem die Regierung ist zunehmend in den Fokus von Lobbyisten geraten. Nicht genug, dass Lobbyisten versuchen vor allem Minister, Staatssekretäre und Beamte zu beeinflussen – sie stellen den Ministerien sogar eigene Mitarbeiter zur Verfügung. Es war ein Skandal als 2006 bekannt wurde, dass mehr als 100 so genannte externe Mitarbeiter in deutschen Ministerien arbeiteten, die von der Profitlobby bezahlt wurden. Besonders pikant ist es, dass einige von ihnen an Gesetzentwürfen mitschrieben. Zumindest diese Praxis wurde mit einer Richtlinie im Juli 2008 unterbunden. Seitdem sinkt die Zahl dieser eingeschleusten Lobbyisten, aber ganz haben sich die Ministerien von diesen günstigen Arbeitskräften nach wie vor nicht trennen wollen. Ministerien engagieren auch gerne Wirtschaftskanzleien, die ihnen zuarbeiten und Gesetzestexte vorbereiten. Die Kanzleien kosten nicht nur viel Geld, sie können vor allem nicht unabhängig sein, weil sie natürlich noch andere meist finanzstarke Unternehmen als Auftraggeber haben. Immer mehr Veröffentlichungen belegen, wie weit die Politik vom Lobbyismus durchdrungen ist. Doch nicht die Einzelfälle, die gerne als Ausnahmen hingestellt werden, sondern der Lobbyismus in seiner Gänze belastet unsere parlamentarische Demokratie. V. Das Bewusstsein wächst Als ich vor zweieinhalb Jahren mein Buch „Wir Abnicker“ (Econ 2010) herausbrachte, gab es nur wenige öffentliche Debatten zu den Themen Lobbyismus, Transparenz und Einflussverlust des Parlaments. Vor allem die Abgeordneten selbst konnten das Thema lange erfolgreich ignorieren. Mittlerweile steigt nicht nur die Empörung der Bevölkerung, immer häufiger berichten die Medien über einzelne der aufgeführten Thesen und immer häufiger decken Initiativen wie Lobbycontrol, Abgeordnetenwatch und Transparency International Missstände auf. Langsam wachen

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auch die Parlamentarier auf. Noch immer ist die Debatte über den Zustand unseres parlamentarischen Systems allerdings zu unstet und oberflächlich. Meistens lodern nur Teilaspekte der Problematik auf, wenn an einer Stelle politisches Fehlverhalten besonders offensichtlich wird. Es darf nicht passieren, dass die Empörung mit der Häufung solcher Beispiele abflacht. Stattdessen sollten wir dafür sorgen, dass eine differenzierte Gesamtbetrachtung stattfindet. VI. Was muss geschehen? Die Tatsachen anerkennen ist eine Voraussetzung dafür, dass sich etwas ändert. Aber mittlerweile gibt es auch eine ganze Reihe von Vorschlägen, die ich schon seit vielen Jahren von meinen Kollegen einfordere. Hier nur ein Ausschnitt dessen was eigentlich passieren muss: - Zunächst einmal müssen wir die öffentliche Debatte weiter intensivieren. Denkbar wäre es z. B. eine Art Kommission beim Bundestag zu bilden, die das Thema aufgreift und Lösungsvorschläge erarbeitet. - Die Abgeordneten müssen mutiger werden und die Missstände offen ansprechen. Nur wenn im Parlament ein Bewusstsein dafür entsteht, was falsch läuft, haben wir die Möglichkeit etwas zu ändern. - Wir brauchen mehr Transparenz in der Politik. Abgeordnete sollten alle ihre Einkünfte und Vergünstigungen offenlegen. Außerdem benötigen wir ein Lobbyregister, das verpflichtende Angaben über Auftraggeber, betroffene Gesetzesvorhaben und Regierungsressorts sowie über Honorare beinhaltet. - Der Profitlobbyismus muss begrenzt werden. Dazu müssen wir u. a. den Korruptionstatbestand bei Abgeordneten deutlich verschärfen und den so genannten Drehtüreffekt zwischen Politik und Wirtschaft eindämmen, etwa durch eine vierjährige Phase, in der ausscheidende Volksvertreter zumindest keine Lobbyarbeit betreiben dürften. Zudem müssen wir nach Lösungen suchen, wie nicht nur die finanzstarken Profitlobbyisten, sondern auch kleine Verbände und einzelne Bürgerinnen und Bürger ihre Interessen in einem vernünftigen Maße an die Politik herantragen können. - Denkbar ist ein bindender Verhaltenskodex für Abgeordnete, der Regeln im Umgang mit Nebentätigkeiten und Lobbyisten festlegt.

Probleme der Richterwahl Hans-Josef Graefen Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, „Die Richterwahl ist viel zu sehr dem Spiel der politischen Kräfte ausgeliefert. … Es drängt sich die Frage auf, ob dieses Wahlverfahren noch länger vertretbar ist und ob nicht die Wahl der Richter mehr in die Hände von richterlichen als von politischen Instanzen gelegt werden sollte. Die Mitglieder des höchsten deutschen Gerichts sollten parteipolitisch unabhängig, und der ausschlaggebende Maßstab für ihre Berufung sollte ihre richterliche Qualifikation sein.“

Damit dürfte alles gesagt sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Keine Sorge, Herr Professor von Armin, sehr geehrte Damen und Herren, jetzt würde ich nicht nur die zeitliche Vorgabe eines halbstündigen Referats deutlich unterschreiten. Ich hätte Sie doch etwas enttäuscht, so hoffe ich. Und natürlich: Es gibt viel mehr und viel Detaillierteres zu sagen zu meinem heutigen Thema „Probleme der Richterwahl“. Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Professor von Armin, danken für die freundliche Einladung zur 14. Demokratietagung. Das Thema Richterwahl gerade an mich heranzutragen, könnte mancher als gewagt ansehen. Und natürlich: Ich habe eine persönliche Geschichte, wurde selbst in meinem Richterberuf bereits gewählt und auch schon einmal nicht gewählt. Aber ich will gleich zu Beginn um Ihr Verständnis bitten, dass ich meine eigenen Erfahrungen heute nicht thematisieren werde; obwohl dies schon reizvoll wäre. Als „Anwalt in eigener Sache“ könnte mir die erforderliche Distanz fehlen und – trotz richterlicher Vorprägung – eine neutral-sachliche Aufbereitung vielleicht schwer fallen. Das wäre nicht gut und würde auch der Bedeutung des Themas nicht gerecht. Ich hoffe, Sie sind nicht allzu sehr enttäuscht. Ich komme zurück auf meine Eingangsbemerkung: Sie werden überrascht sein: Meine doch etwas harschen und apodiktischen Worte, die eine zwingende Wende bei der Auswahl der Richter postulierten, waren ein Zitat aus der Wochenzeitung „Die ZEIT“1 – nicht etwa aus dem Jahre 2012, sondern aus dem Jahre 1954, als beim Bundesverfassungsgericht bereits fast zwei Jahre ein Nachfolger für den ausgeschiedenen Verfassungsrichter Kurt Zweigert gesucht wurde. Und dabei ist es nicht geblieben. So könnte ich Ihnen noch eine ganze Zitatensammlung liefern aus den letzten 60 Jahren. Etwa aus dem SPIEGEL Ende Mai 19762: 1 2

Die ZEIT, 9/54 vom 4. März 1954. Spiegel 22/76 vom 24.05. 1976.

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„Mit einer gegenseitigen Blockade endete letzten Donnerstag in Berlin eine Sitzung des Richterwahlausschusses, in dem seit dem Regierungswechsel von Hannover SPD/FDP und CDU/CSU je elf Stimmen haben. Zur Wahl als Bundesrichter stand der Präsident des Oberverwaltungsgerichts (OVG) von NRW, Diether Bischoff, 54, den die Koalition zum Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin ernennen möchte. Die Opposition will offensichtlich der Wahl nur zustimmen, wenn sie wiederum Einfluss auf die Bischoff-Nachfolge beim OVG nehmen kann.“

Oder, diesmal aus dem Jahre 2006 und aus der Süddeutschen Zeitung von – raten Sie mal – Heribert Prantl natürlich3: „Die deutsche Justiz ist ein einziges Wunder. Sie funktioniert, obwohl sie eigentlich nicht mehr funktionieren dürfte. Sie funktioniert, obwohl die Auswahl ihrer Richter einer Lotterie ähnelt. … Es ist fürwahr ein Wunder, dass bei der Art und Weise, wie die deutsche Justiz ihr Personal rekrutiert, etwas halbwegs Gescheites herauskommt.“

Was können uns diese Zitate sagen? Dass zu allen Zeiten, ob im Jahre 1954, 1976 oder 2006 in diesem Land viel kritisiert, oftmals gar Schwarzmalerei betrieben wird – auch in und gegenüber der Justiz? Dass die ständige Wiederholung bei gleichzeitig ausgebliebenem Zusammenbruch der Rechtspflege belegt, dass unsere Richterinnen und Richter doch zumeist sehr gut ausgewählt sind, eine fachlich hervorragende Arbeit machen und dabei auch Ihre Unabhängigkeit wahren? Dass wir uns also über die Abläufe der Richterwahl und ihre möglichen Beeinflussungen keine Sorgen machen müssen? Oder sollten sie uns Mahnung sein, bestehende Defizite in den Blick zu nehmen, verkrustete Strukturen aufzubrechen und die Auswahl der Richterinnen und Richter grundlegend zu verändern? I. Die Lage in Bund und Ländern Um diese Fragen richtig einordnen oder gar beantworten zu können, möchte Ihnen zunächst einen Überblick über den aktuellen „Stand der Dinge“ geben und im Anschluss auf den Ebenen des Bundesverfassungsgerichts, der Bundesgerichte und der Regelungen in den Ländern, insbesondere in Rheinland-Pfalz, Probleme aufzeigen und Ausblicke wagen. Zunächst die (etwas trockenen) Fakten: Wie und nach welchen Kriterien bestellen wir unsere Richterinnen und Richter in Deutschland? Auf Bundesebene ist zu unterscheiden zwischen den Bundesverfassungsrichtern und den Bundesrichtern der obersten Gerichtshöfe. Die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht werden je zur Hälfte vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat unmittelbar gewählt. Dies folgt aus Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG – der zentralen Verfassungsnorm für die Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht. Im 3 Heribert Prantl, Die Entfesselung der dritten Gewalt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 81 vom 6. April 2006, S. 28.

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Bundestag erfolgt die Wahl durch 2/3-Mehrheit in einem selbständigen, unabhängigen Wahlausschuss aus 12 Bundestagsmitgliedern, die wiederum nach den Regelungen der Verhältniswahl vom Bundestag gewählt werden. Im Bundesrat erfolgt eine direkte Wahl, ebenfalls mit 2/3 der Stimmen, nach einem Beschlussvorschlag einer Findungskommission unter Anwendung der allgemeinen Beschlussregeln des Bundesrates. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz bestimmt neben den formellen Abläufen aber auch konkrete inhaltliche Vorgaben. § 3 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG normieren als subjektive Eignungsvoraussetzungen das Mindestalter von 40 Jahren, die Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag sowie die Befähigung zum Richteramt. Außerdem müssen drei Richter je Senat aus dem Kreise der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gewählt werden, wo sie zuvor mindestens drei Jahre tätig gewesen sein sollen. Das Bundesministerium der Justiz führt gemäß § 8 BVerfGG eine ständig zu aktualisierende Liste mit den für das Verfassungsgericht geeigneten Bundesrichtern sowie eine weitere Liste mit den Vorschlägen der Fraktionen, der Bundesregierung oder einer Landesregierung. Diese Listen sind zwar nicht bindend, werden den Wahlorganen jedoch vor einer Wahl zugeleitet. Bundesrichter (also die Richterinnen und Richter der obersten Gerichtshöfe – wie etwa dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesverwaltungsgericht) werden ebenfalls gewählt. Das ergibt sich aus Art. 95 Abs. 2 und Abs. 3 des Grundgesetzes, die Einzelheiten sind im Richterwahlgesetz vom 25. August 1950 geregelt. Danach entscheidet ein Richterwahlausschuss, der sich aus 16 Länderministern und 16 weiteren Mitgliedern zusammensetzt, die vom Deutschen Bundestag nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Vom Bundespräsident wird ernannt, wer die Mehrheit im Richterwahlausschuss und die Zustimmung des zuständigen Bundesministers erlangt hat. Das Verfahren des Richterwahlausschusses ist nichtöffentlich. Die Beschreibung eines konkreten Anforderungsprofils ist im Richterwahlgesetz nicht enthalten. Art. 33 Abs. 2 GG bestimmt das Prinzip der Bestenauslese – Eignung, Befähigung und fachliche Leistung. Der Präsidialrat des jeweiligen Bundesgerichts – quasi die Personalvertretung der Richterschaft – hat vor der Wahl der Kandidaten eine Stellungnahme abzugeben. Diese Stellungnahme des Präsidialrats hat – wie man vernehmen kann – in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung und Substanz gewonnen. Eine Wahl ist nur für die (erstmalige) Berufung der Richter an die obersten Gerichtshöfe des Bundes vorgesehen, nicht für deren Berufung in Beförderungsämter, also zum Vorsitzenden Richter. Die Wahl dieser Richter, so beschreibt es der Kommentar des Bundesrichters Prof. Dr. Schmidt-Räntsch zum Richterwahlgesetz4, soll einen doppelten Zweck haben: Zum einen sollen diese Richter wegen des großen Einflusses ihrer Entscheidungen besonders demokratisch legitimiert sein. Zum anderen soll das Wahlverfahren sicherstellen, dass an den obersten Gerichtshöfen des Bundes Richterinnen und Richter aus allen Bundesländern in angemessenem Verhältnis tätig werden, wie es Art. 36 auch für die obersten Behörden des Bundes vorschreibt. 4 Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 6. Auflage, Vorbemerkung zum Richterwahlgesetz, Rdnr. 2.

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Auf Länderebene letztlich besteht der übliche föderalistische Flickenteppich – die einen begrüßen die sich gegenseitig befruchtenden Rechtsordnungen, die anderen verzweifeln ob der Zersplitterung des Rechts. Das Grundgesetz trifft keine Regelung zu der Frage, wie Richter der Gerichte der Länder in ihr Amt zu berufen sind. Art. 98 Abs. 4 GG lässt aber zu, dass auch dort die Richterinnen und Richter nicht nur durch die obersten Dienstbehörden, also die Justizverwaltung, sondern unter Beteiligung eines Richterwahlausschusses in ihr Amt berufen werden können. Die grundgesetzliche Regelung ist somit eine Ermächtigung, keinesfalls aber eine Verpflichtung für die Länder. Dabei können die Ausschüsse – entgegen der gesetzlich beschränkten Möglichkeit im Bund – auch über die Berufung der Richter in alle oder in bestimmte Beförderungsämter entscheiden. Insgesamt neun Bundesländer haben mit teils sehr unterschiedlicher Besetzung einen Richterwahlausschuss eingerichtet. Weitere vier Bundesländer sehen in ihren Verfassungen fakultativ Richterwahlausschüsse vor, haben aber bislang keinen Ausschuss eingerichtet. Für alle Richterwahlausschüsse gibt Art. 98 Abs. 4 GG für die Richterauslese eine gemeinsame und gleichberechtigte Entscheidung von Richterwahlausschuss und Ressortminister vor. In Rheinland-Pfalz entscheidet über die Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber für die Anstellung und die Beförderung eines Richters auf Lebenszeit der für die Angelegenheiten der Rechtspflege zuständige Minister, seit 2004 gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss. Zuvor aber legt der Chefpräsident der betroffenen Gerichtsbarkeit dem Ministerium einen Besetzungsbericht mit einem begründeten Auswahlvorschlag vor. Es folgt der – hieran nicht gebundene – Besetzungsvorschlag des Ministers, der zunächst dem von den Richtern gewählten Präsidialrat zur Beratung vorgelegt wird; dieser gibt hierzu eine Stellungnahme ab, die zwar nicht bindend ist, die allerdings im „Konfliktfall“ ein „Einigungsgespräch“ des Ministers mit dem Präsidialrat zur Folge hat. Letztlich aber legt der Minister seinen Vorschlag dem Richterwahlausschuss vor. Der Ausschuss entscheidet auch nur über diesen Vorschlag des Ministers (mit ja oder nein) – und nicht etwa über etwaige „Alternativen“. Die insgesamt elf stimmberechtigten Mitglieder des Richterwahlausschusses sind nach § 15 LRiG: - acht Abgeordnete des Landtags, - eine Richterin oder ein Richter aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit als ständiges Mitglied, - eine Richterin oder ein Richter des Gerichtszweigs, für den die Wahl stattfindet sowie - eine Rechtsanwältin oder ein Rechtsanwalt. Die stimmberechtigten Mitglieder des Richterwahlausschusses werden durch den Landtag gewählt (§ 17 LRiG). Die zuständige Ministerin oder der zuständige Minister sitzt dem Richterwahlausschuss als nicht stimmberechtigtes Mitglied vor. Der Ausschuss entscheidet mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen in offener Abstimmung.

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II. Die Probleme So regeln unsere Gesetze die Richterwahl in Bund und Land – dies ist also der Ausgangspunkt. Und wo liegen nun die Probleme der Richterwahl? In folgenden Bereichen und Aspekten werden in der politischen Diskussion Kritikpunkte gesehen und Verbesserungsvorschläge unterbreitet: 1. Fehlende Transparenz des Verfahrens 2. Politische Kontrolle der Justiz – sollten wir uns besser selbst verwalten? 3. Vorgaben für die Besetzung – Quoten? 4. Richterwahlausschuss der Länder – der richtige Weg?

1. Fehlende Transparenz des Verfahrens Insbesondere auf Bundesebene wird immer wieder die fehlende Transparenz des Verfahrens gerügt. So wird in der Fachliteratur und auch in den Medien kritisiert, dass im Vorfeld der Bundesrichterwahlen quasi im Hinterzimmer „politische Pakete geschnürt“ würden5 Auch die Wahlen zu Richtern am Bundesverfassungsgericht sind vorher zwischen den Parteien abgestimmt. Das grundsätzliche Arrangement zwischen den Parteien bzw. den Bundestagsfraktionen, sich – so wird es formuliert – „gegenseitig Besetzungspräferenzen für bestimmte Richterstellen zuzusichern“6 mit der Folge, dass der letztlich allseits akzeptierte Kandidat in der Regel einstimmig zum Verfassungsrichter gewählt wird, erhält das abwertende Prädikat eines „intransparenten Verfahrens“7. Ein Verfahren, dass zur Folge habe, dass die Parteien überwiegend eigene Parteigänger ins Rennen schickten und eine hinreichende „offene“ Auswahl damit nicht erreicht werden könnte8. Das Schnüren dieser politischen Pakete erhält dabei schon alleine deshalb, gleichsam automatisch den Makel des „Gemauschels“, das mit dem verfassungsrechtlichen Postulat einer Bestenauslese für Richterämter nichts mehr gemein habe9.Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass – so auch Prof. Schmidt-Räntsch in seinem Kommentar zum Richterrecht10 – Personalwahlen fast nie in dem dafür vorgesehenen Wahl- oder Abstimmungsgang entschieden werden. Mehrheiten müssen im Vorfeld vorbereitet werden, um eine möglichst ausgewogene Besetzung zu erreichen. Aus meiner Sicht – Sie werden vielleicht überrascht sein – gibt es wohl auch keine andere praktikable Lösung als eine verantwortungsvolle und vertrauliche Abstim5

Schmidt-Räntsch, a.a.O., Rdnr. 7; Landfried, ZRP 2012, 191. Pagenkopf, ZRP 2011, 229, 231 m.w.N. 7 Geck in: Isensee/Kirchhof, Hdb. d. StaatsR, Band II, § 55, S. 705; Wolf, JA 3/2012, Editorial; Pagenkopf, a.a.O.; Landfried, a.a.O. 8 Geck, a.a.O.; Pagenkopf, a.a.O. 9 Pagenkopf, a.a.O. 10 Schmidt-Räntsch, a.a.O., Rdnr. 7. 6

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mung im Vorfeld. Nicht das Primat, aber die Macht liegt nun einmal bei der Politik, bei Regierung und Parlament. Sie bestimmen nach verfassungsrechtlichen Vorgaben die Personen, die Verfassungsrichter und Bundesrichter werden. Dafür sind bestimmte Mehrheiten erforderlich. Es ist daher nahezu alternativlos, dass die politischen Parteien sich im Vorfeld auf bestimmte Kandidaten verständigen und dabei auch im Blick haben – ich formuliere es bewusst angreifbar –, dass möglichst alle „bedient werden“. Dies ist auch deshalb alternativlos, weil es darüber kein effektives Korrektiv, keine höhere Instanz mehr gibt. Soll – erneut – das Bundesverfassungsgericht im Wege der faktischen Kooptation entscheiden, ob die Wahl rechtmäßig und gültig, ja ob sie richtig war? Soll der Bundestag darüber debattieren? Und die Erfahrung zeigt: Es funktioniert auch, wenn die Handelnden verantwortungsvoll mit ihrer Macht umgehen. Regelmäßig werden hochqualifizierte Personen ins Rennen geschickt, dies im Bewusstsein, dass der jeweilige Kandidat in den anderen Parteien auch reüssieren muss, um die gebotene Mehrheit erreichen zu können; reüssieren in fachlicher und persönlicher Hinsicht. Professor Rupert Scholz formuliert es so11: „Die große Erfolgsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts insgesamt belegt die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens.“ Ein durchaus hinterfragenswerter Automatismus – hier teile ich ihn allerdings. Dies darf sicherlich nicht den Blick auf erforderliche Verbesserungen im Wahlverfahren verstellen. So hat ein Fall aus dem Jahre 2001 schon zu einer Verbesserung der Transparenz geführt. Er ist auch ein Beleg dafür, dass meine soeben dargelegte Position immer wieder überprüft werden muss und man nie nachlassen darf, über Optimierungen nachzudenken und zu debattieren. Was war das für ein Fall? Ein Kandidat war von der Justizverwaltung seines Landes zur Wahl zum Bundesrichter vorgeschlagen worden, der entsprechende Vorschlag war aber zurückgezogen worden, als das politische Paket geschnürt und der Kandidat nicht berücksichtigt worden war. Das OVG Schleswig12 entschied daraufhin, dass diese Vorgehensweise, also die Rücknahme eines Vorschlags ohne Rücknahme der Bewerbung, unzulässig ist. Seitdem stimmt der Richterwahlausschuss über alle zur Verhandlung anstehenden Vorschläge einzeln ab. Eine größere Transparenz erwarten manche auch von einer bundesweiten Ausschreibung der Bundesrichterstellen. Dies hatte beispielsweise der damalige Justizminister von Baden-Württemberg, Prof. Dr. Ulrich Goll, im Lichte der Erfahrungen mit der bereits erwähnten Bundesrichterwahl des Jahres 2001 eingefordert und seinen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit „Die Besten sollen Recht sprechen“ überschrieben.13 Eine solche Ausschreibung aufgrund gesetzlicher Vorgabe erfolgt bis heute nicht, was aber geändert werden könnte. Auf den ersten Blick erscheint dies als ein verlockend einfacher Schritt, um alle Interessenten zu erreichen 11

Scholz, ZRP 2012, 191. OVG Schleswig, NJW 2001, 3495 ff. 13 FAZ, 5. Oktober 2001. 12

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und die Besten zu finden. Eine Ausschreibung, so auch Schmidt-Räntsch in seinem Richterrecht-Kommentar,14 kann aber zwei Aspekten nicht gerecht werden: - Der Vorgabe des Art. 36 GG, die eine Berücksichtigung aller Länder im angemessenen Verhältnis vorsieht, und - dem Ziel, an die obersten Gerichtshöfe auch andere als die typischen „Karriererichter“ oder – etwas weniger abwertend formuliert – Laufbahnrichter zu berufen, insbesondere auch andere Berufsbilder in den Blick zu nehmen. Gerade diese Aspekte werden durch das Vorschlagsrecht der gewählten Mitglieder des Ausschusses sichergestellt. Es erscheint mir daher zweifelhaft, ob eine Ausschreibung automatisch das Verfahren objektivieren und die Qualität des Ergebnisses erhöhen würde. Aktuell fokussiert sich die Forderung nach einer größeren Transparenz bei der Wahl unserer Bundesverfassungsrichter auf die Frage der Richterwahl durch das Plenum des Bundestages. Bundestagspräsident Norbert Lammert forderte kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, die Wahl der Verfassungsrichter dem Plenum der Abgeordneten in öffentlicher Sitzung vorzubehalten.15 Hintergrund ist der zwölfköpfige Wahlausschuss, der vertraulich tagt und im Grundgesetz nicht erwähnt ist. Derzeit, seit 2010, stellen sich die Kandidaten in diesem Ausschuss einer nicht öffentlichen Anhörung und Befragung. Eine Befassung des Plenums erfolgt nicht. In Anlehnung an das Urteil des Verfassungsgerichts vom Februar 2012 zur Eurorettung waren die Kompetenzen des sogenannten Neunergremiums bekanntlich überwiegend für verfassungswidrig erklärt worden, weil der Bundestag Entscheidungen von derartiger Tragweite grundsätzlich im Plenum zu treffen habe. Diesen Ball nahm Lammert dankend auf und begründete die Erforderlichkeit einer öffentlichen Wahl der Verfassungsrichter im Plenum mit der erheblichen Bedeutung des Verfassungsgerichts „über das eigene Land hinaus zunehmend auch im europäischen Integrationsprozess“. Der Vorsitzende des Wahlausschusses Wolfgang Neskovic (Linke)16 und andere Stimmen in der Literatur17 fordern gar eine öffentliche Anhörung, an der sich auch die Bürgerinnen und Bürger beteiligen könnten. Kurz vor der Veröffentlichung von Lammerts Vorstoß hatte das Bundesverfassungsgericht die derzeitige indirekte Wahl seiner Richter noch für verfassungsgemäß befunden. Die Übertragung der Wahl auf den Ausschuss sei durch das gesetzgeberische Ziel gerechtfertigt, das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit zu festigen und damit seine Funktionsfähigkeit zu sichern.18 Mehr Ansehen und mehr Unabhängigkeit durch weniger Transparenz also? 14

Schmidt-Räntsch, a.a.O. (Fn. 4), Rdnr. 11. „Lammert will Wahl der Verfassungsrichter ändern“, in: Süddeutsche Zeitung, 14. Juli 2012. 16 A.a.O. 17 vgl. nur Landfried a.a.O. 18 BVerfG, Beschluss vom 19. Juni 2012, Az.: 2 BvC 2/10. 15

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Eine Wahl der Verfassungsrichter im Plenum würde ich persönlich sehr begrüßen. Dadurch würden die Bürgerinnen und Bürger „ihre“ Verfassungsrichter kennenlernen können. Und eine gewisse Würde, den zu vergebenden Ämtern angemessen, könnte dieser wichtigen Wahl gut tun. Vor allem aber: Die Delegation der Wahl an einen „im Hinterzimmer“ tagenden Ausschuss ist undemokratisch. Die Wahl sollte in die Mitte des Plenums gerückt werden, genau dort gehört sie hin. Die demokratische Legitimation der beträchtlichen Macht und Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts für die Bürgerinnen und Bürger würde in erheblichem Maße – und ohne großen Aufwand – gestärkt. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in seiner Entscheidung vom Juni dieses Jahres angedeutet, dass dies ein gangbarer Weg sein könnte, um mehr Transparenz zu erreichen. Allerdings teile ich den Vorschlag aus dem politischen Raum nicht, vor der Wahl der Bundesverfassungsrichter eine öffentliche Anhörung der Kandidaten durchzuführen. Während eine Wahl im Plenum allein noch nicht zu einer Politisierung der Wahl führte, würde eine öffentliche Anhörung aus meiner Sicht gerade die Grenze überschreiten, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom Juni selbst skizziert: Das Ansehen des Gerichts, das Vertrauen in seine Unabhängigkeit und die hierzu gebotene Vertraulichkeit der Bestenauslese. Mit dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Papier, der dies 2009 in der Deutschen Richterzeitung zusammenfasste19, bin ich der Auffassung, dass öffentliche Anhörungen die abstrakte Gefahr einer Vorwegbindung der Kandidatinnen und Kandidaten bewirken können, die dann später im Rahmen der konkret anstehenden Entscheidungen zu Zweifeln an deren Unvoreingenommenheit führen kann. Zudem sollten die Kandidatinnen und Kandidaten nicht quasi „auf dem Markt gehandelt werden“. Die beste Eignung, die beste Befähigung und die beste fachliche Leistung kann eben nicht allein durch die Wirkung einer öffentlichen Anhörung beurteilt und gewährleistet werden. Es bestünde vielmehr die Gefahr, dass sich der Inhalt dieser Anhörung zu einem neuen, eigenständigen und allein maßgeblichen Bewertungsmaßstab entwickeln würde; der zu einer Auswahlentscheidung quasi „aus dem Bauch“ heraus führte. Das aber entspräche gewiss nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Sollte eine Kandidatin oder ein Kandidat dann etwa auch Wahlkampf machen? Dies möge uns erspart bleiben, es gibt genügend Wahlkämpfe … Nur ein kurzes Beispiel hierzu: Obschon die Bundesrichterwahlen ja keinesfalls öffentlich stattfinden und auch keine öffentliche Anhörung erfolgt, weiß man mittlerweile über Thomas Fischer, bekanntlich Kläger im Konkurrentenstreit um die Vorsitzendenstelle des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof, – ich zitiere – „Auf dem Gymnasium war er aufsässig, blieb zweimal sitzen, verließ die Schule, wollte Musiker werden und arbeitete als Kraftfahrer.“20 Was meinen Sie, wohin würde das bei einer öffentlichen Anhörung 19

Papier in: DRiZ 2009, 130, 132. Feest: „Vorsitz am 2. BGH-Strafsenat: Showdown in Karlsruhe“ in: Legal Tribune ONLINE, 18. Oktober 2011. 20

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von angehenden Bundesverfassungsrichtern erst führen? Denken Sie nur an den Fall des „Kandidaten“ für das Bundesverfassungsgericht, Prof. Dr. Dreier, aus dem Jahre 2008. Dessen fachliche Reputation und persönliche Integrität standen außer jedem Zweifel. Da er jedoch im Zusammenhang mit der Folterproblematik (Fall Jakob von Metzler/Gäfgen/Daschner) in seiner Grundgesetzkommentierung zum Artikel 1 den „Würde/Würde-Konflikt“ von Täter und Opfer thematisiert hatte, galt er schnell als „unwählbar“ – und dies ohne öffentliche Anhörung, aber nach öffentlicher Diskussion. Die ZEIT fragte damals: „Verbrannt – Dreier ein Advokat der Folter?“21. Wollen wir wirklich solche Diskussionen – oder wollen wir sie doch besser nicht? 2. Politische Kontrolle der Justiz – sollten wir uns besser selbst verwalten? Der Vorwurf einer gezielten Steuerung von Richterauswahlentscheidungen trifft die Politik auf Bundes- und Länderebene. Es gibt zweifelsohne Fälle, in denen er berechtigt scheint und folgenschwer für die Kandidaten ist. Es hat diese Einflussnahme wohl sicher in den letzten 60 Jahren immer wieder, früher möglicherweise sogar noch öfter gegeben. Glücklicherweise hat mit den „erbarmungslos“ recherchierenden Medien aber ein wesentliches zusätzliches Kontrollorgan an Bedeutung derart gewonnen, dass der Versuch verfassungswidriger Beeinflussung der Richterauswahl medial und in der Folge auch politisch geahndet würde und wird. Und schließlich hat auch die obergerichtliche Rechtsprechung zum Konkurrentenstreit an Konturen gewonnen, manchen unterlegenen Bewerber ermuntert und gestärkt und eine allzu (partei-) politisch denkende und handelnde Exekutive gewarnt und in die Schranken gewiesen. Um aber all den dennoch fortbestehenden Gefahren zu entkommen, könnte es ja eine ganz einfache Argumentation und Lösung geben: Wer kann besser beurteilen, welche Richterinnen und Richter die besten sind, als ihre Kolleginnen und Kollegen? Befreit von allen exekutiven und legislativen Ketten – abgesehen vielleicht von der einen oder anderen unschönen Verhandlung mit dem Haushaltsgesetzgeber – muss doch dann alles ausschließlich nach Recht und Gesetz laufen und damit der Gerechtigkeit dienen. Ich weiß und will dies auch gleich betonen, dass diese Überspitzung der rhetorischen Fragestellung dem Ernst der Thematik nicht gerecht wird. Nun heißt der Titel meines Vortrags aber nicht „Die Selbstverwaltung der Justiz“ und das ist auch gut so, weil dazu wirklich die Zeit nicht reichen würde. Die bekannte Empfehlung des Europarates vom 13. Oktober 1994 „Die für die Auswahl und Laufbahn der Richter zuständige Behörde sollte von der Exekutive unabhängig sein.“22 wurde von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates

21

Die ZEIT vom 9. Februar 2008. Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Unabhängigkeit, Effizienz und Rolle der Richter. 22

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im September 2009 nochmals bekräftigt.23 Deutschland wäre, so formulierte es Heribert Prantl am 6. April 2006 in der Süddeutschen Zeitung24, ein problematischer EU-Beitrittskandidat. Prantl nahm im Juni 2011 die OLG-Fusionsdebatte in Rheinland-Pfalz zum Anlass, gerade aus dieser Erfahrung erneut die richterliche Selbstverwaltung zu fordern.25 Er sieht sich im Einklang mit anderen Journalisten – genannt sei nur Christian Bommarius.26 Und er sieht sich selbstverständlich auch im Einklang mit dem Deutschen Richterbund27 und der Neuen Richtervereinigung.28 Alle bringen gewichtige und stichhaltige Argumente für eine „Selbstverwaltung“ vor. Aber die Frage heute soll dazu nur sein: Verlangt die in Art. 97 GG garantierte Unabhängigkeit tatsächlich eine weitergehende Abnabelung von den anderen Gewalten? Ich habe selbst beide „Seiten“ gesehen, als Personalreferent des Landgerichts, als Personalreferent und Zentralabteilungsleiter in zwei Justizministerien, als Landgerichts- und Oberlandesgerichtspräsident und als „einfacher“ Richter. Und: Ich bezweifele dies. Wenn es die Zeit zu lässt, kann ich Ihnen in der anschließenden Diskussion hierzu auch von den Erfahrungen berichten, die ich nach der Wiedervereinigung in den Jahren 1990 und 1991 mit der Überprüfung der früheren Richter und Staatsanwälte und der Tätigkeit der dortigen Richterwahlausschüsse gemacht habe. Zurück ins Hier und Heute: Können wir wirklich annehmen, dass sich in einer selbstverwalteten Justiz keine Abhängigkeiten bilden? Dass Richterwahlen in einer selbstverwalteten Justiz frei von persönlichen, von parteipolitischen oder sonst sachfremden Interessen wären? Ich habe hierzu meine ganz eigenen persönlichen Erfahrungen gemacht. Waren es doch ausgerechnet die beiden Richter, die sich im Wahlausschuss nach einer hoch kontroversen Entscheidungsfindung letztlich der Stimme enthalten haben. Auf die damaligen Begleitumstände möchte ich nicht eingehen; aber mit der präsumtiv größeren Unabhängigkeit der richterlichen Ausschussmitglieder und einer allein daraus abgeleiteten höheren Richtigkeitsgewähr ist das so eine Sache. Mir erscheint daher ein anderer Weg der richtigere, weil erfolgversprechendere, zu sein, nämlich die Beteiligung der Richterinnen und Richter in den maßgeblichen Gremien inhaltlich zu stärken und zahlenmäßig zu verstärken – zum einen über die vorgeschalteten Präsidialräte, zum anderen in den Richterwahlausschüssen selbst. So könnte beispielsweise in den Ländern bei der Erstellung der Vorschlagslisten für die Bundesrichterwahlen eine Beteiligung der Mitbestimmungsgremien vorgesehen werden. Die Präsidien der Bundesgerichte sowie die Präsidialräte der Richter sollten intensiver in den Prozess eingebunden werden. Dies könnte beispielsweise dadurch 23

Dok. 11993 vom 7. August 2009. Siehe Fn. 3. 25 „Wo der Bartl den Most holt“, Süddeutsche Zeitung vom 29. Juni 2011. 26 „Missbrauch der Justiz“, Leitartikel in der Frankfurter Rundschau vom 1. August 2011. 27 http://www.drb.de/cms/index.php?id=552&L=0 %2520. 28 http://www.neuerichter.de/inhalte/autonomie-der-judikative.html

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geschehen, dass deren Beurteilungs- und Entscheidungskompetenz sich nicht allein auf die Frage der „Eignung“ des vorgeschlagenen Bewerbers beschränkt; sie vielmehr auch zur eventuell besseren Eignung eines oder mehrerer Mitbewerber Stellung nehmen und „auswählen“, also wirklich wählen dürfen. Und – wenn schon ein Gremium/Wahlausschuss entscheidet, dann sollten hierin auch die Richterinnen und Richter zahlenmäßig stärker vertreten sein. Hierzu werde ich später noch näher ausführen. Denn mehr Beteiligung schafft Kontrolle, sie schafft vor allem auch Transparenz und – was genau so wichtig ist – sie schafft auch Akzeptanz. Und all dies trägt dazu bei, dass die mit der Auswahl verbundene Verantwortung gewissenhaft, sachgerecht, unabhängig und frei von politischen Einflussnahmen ausgeübt wird. Dazu gehört übrigens auch, dieser kurze Exkurs sei erlaubt, dass die Justiz des 21. Jahrhunderts sich – gerade auch im Zeitalter der Schuldenbremse – bewusst macht, dass sie ihre Bedeutung im Staatsgefüge, ihren Wert für die Bürgerinnen und Bürger diesen auch vermittelt. Justiz muss sich positionieren, sich gemeinsam für alle Gerichte und Behörden einsetzen, sich der Öffentlichkeit stellen, die letzten Elfenbeintürme verlassen und als gemeinsame dritte Gewalt klare Positionen beziehen und gegenüber den anderen Gewalten vertreten. Eine Justiz „Im Namen des Volkes“ als starker Anker und Garant des Rechtsstaats. Dafür braucht sie vor allem Selbstbewusstsein und gelegentlich auch Selbstbehauptungswillen. 3. Vorgaben für die Besetzung – Quoten? Ganz konkrete Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung bestimmter Personengruppen machen ebenfalls einen wesentlichen Teil der Kritik der letzten Jahre aus. So will die Sprecherin des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung Christine Nordmann einem angemessenen Frauenanteil in den Bundesgerichten gegenüber dem Länderproporz den Vorrang einräumen. Dies mit dem Ziel, eine die gesellschaftliche Realität widerspiegelnde Besetzung zu erreichen.29 Sie verweist auf den geringen Frauenanteil an den Bundesgerichten (z. B. BGH ca. 21 %) und fordert daher dort eine Frauenquote. Das hat der Bundesgerichtshof auch schon selbst erkannt, wird doch seit einigen Jahren verstärkt um Vorschläge von Frauen geworben, so auch für die nächste Bundesrichterwahl im Frühjahr 2013. Weitere Vorschläge sind hier die „Mäßigung des professoralen Einflusses“,30 für beamtete Hochschullehrer wird gar eine konsequente Regelung der Inkompatibilität verlangt.31 Verstärkt wird zudem die Besetzung der Richterbank auch mit Rechtsanwälten gefordert. Es wird argumentiert, die forensisch-justizielle, praktische Seite werde vermisst, aus dem Kreis der nahezu 160.000 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte – der größten

29

Grundmann, ZRP 2012, 139, 141. Pagenkopf a.a.O. 31 Pagenkopf a.a.O. 30

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Gruppe unter den Rechtsberufen – sollte in jedem der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts zumindest eine Anwältin oder ein Anwalt mitwirken.32 Ich räume ein, dass ich für die Forderung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte eine gewisse Sympathie verspüre, entlarve mich damit aber selbst. Denn belegt diese Forderung nicht, dass allenthalben und immer wieder versucht wird, Einfluss auf die Zusammensetzung der wichtigsten Richterposten zu nehmen, sei es berechtigt oder unberechtigt. Und dies im Zweifel von denen, die im selben Artikel die Unabhängigkeit von allem und jedem fordern… Vereinzelt werden letztlich auch Stimmen laut, die eine Heraufsetzung der derzeitigen Lebensaltersgrenze für Bundesverfassungsrichter von 40 Jahren fordern. Auch die Besetzung des Vizepräsidenten wird in den Blick genommen und mit dem Erfordernis besonderer Qualifikationsmerkmale versehen.33 Über diese Punkte ließe sich sicherlich ebenfalls diskutieren. Sie zeigen jedenfalls – und das ist gut –, dass in der Literatur immer wieder Gedanken über eine weitere Optimierung der Richterwahl aufkommen. Nur was uns wichtig ist, wollen wir auch verbessern. Sie erkennen bei dieser Einschätzung, man kann alle Aktivitäten hierzu von verschiedenen Seiten betrachten. Und wie bei anderen komplexen Fragestellungen unserer Zeit gilt auch hier: Es gibt keine einfachen Lösungen und erst recht nicht die eine einfache und allein richtige. 4. Richterwahlausschüsse der Länder – der richtige Weg? Die Einführung des Richterwahlausschusses in Rheinland-Pfalz war schon bei seiner Einführung umstritten – politisch, auch in der Justiz. In der Legislaturperiode 1991/1994 konnte sie durch den damaligen Justizminister Caesar noch verhindert werden. Viele sehen auch weiterhin die behauptete Notwendigkeit nicht. Besetzungsentscheidungen verzögern sich und die Entscheidungen werden von manchen als demokratische Placebo-Legitimation erachtet. Denn klar ist: Der Justizminister bringt einen Vorschlag mit, den er begründet und für richtig hält. Diesem wird zugestimmt oder er wird abgelehnt; es besteht kaum ein wirklich eigener Entscheidungsspielraum. Das kann dann dazu führen, wie vernommen wurde, dass in 55 Minuten auch schon mal 17 Richterinnen und Richter gewählt oder – besser gesagt – durchgeschleust – werden. Kann das noch eine selbstbestimmte Wahl sein? Oder ist es nicht vielmehr eine reine Plausibilitätsprüfung des vom Minister begründeten Vorschlags. Bezeichnenderweise hat der Richterwahlausschuss in Rheinland-Pfalz in den acht Jahren seines Bestehens auch noch nie von der ihm gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, den/die Bewerber mündlich anzuhören; und dies nicht einmal in den wenigen „streitigen“ Besetzungsverfahren.

32 33

Wolf, a.a.O. Pagenkopf a.a.O.

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Demokratisierung ist zwar, wie Wilhelm Hennis schon vor mehr als 40 Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Juli 1969 ausführt und wie sie auch in der Gesamtthematik dieser Tagung anklingt, „die (in einem Wort zusammengefasste) universalste gesellschaftspolitische Forderung unserer Zeit“, um hieran die Frage anzuknüpfen: „Ist denn die Demokratie identisch mit dem menschlich Guten?“34 Die Frage stellen, heißt sie zu verneinen. Auch vor Einrichtung des Richterwahlausschusses wurden die Beförderungsentscheidungen in Rheinland-Pfalz von dem jeweils zuständigen Justizminister in einem abgestuften, differenzierten und transparenten Entscheidungsverfahren getroffen, beginnend mit der Beurteilung durch die unmittelbar Dienstvorgesetzten, der möglichen „Überbeurteilung“ durch die nächst höheren Dienstvorgesetzten, durch die Auswahlentscheidung und den Besetzungsbericht des jeweiligen Chefpräsidenten, durch Prüfung und Besetzungsvorschlag durch den Minister der Justiz und durch die sich hieran anschließende Mitwirkung des von den Richtern gewählten Präsidialrats. Dieses Auswahlverfahren bietet und bot bereits ein hohes Maß an Richtigkeitsgewähr und hätte durch eine Stärkung der Kompetenzen des Präsidialrates weiter optimiert werden können. Ich halte zudem – offen gesagt – die Stärkung der demokratischen Legitimation der von Richterwahlausschüssen gewählten Richterinnen und Richter für geringer als der Begriff zu versprechen scheint.35 Auf den ersten Blick scheint die Stärkung auf der Hand zu liegen: Abgeordnete des Landtags stimmen (mit) ab. Aber auf den zweiten? Trotz der Wahl verbleibt sowohl der gesamte Prozess der Auswahlfindung bis zum Vorschlag an den Ausschuss als auch die Letztverantwortung für die Ernennung und Beförderung in der Hand der Landesregierung als Ausfluss ihrer Ressortverantwortung. Der demokratische Mehrwert besteht letztlich ausschließlich und lediglich in einer Sicherung der Neutralität des Auswahlverfahrens und der begleitenden parlamentarischen Kontrolle der Justizverwaltung. Letztlich war es mit Blick auf die geringe Erwartung an diesen Mehrwert eine den verschiedenen Interessen geschuldete politische Entscheidung, einen Richterwahlausschuss im Lande einzurichten. Damals gegen den artikulierten Willen des ganz überwiegenden Teils der Richterschaft und der jeweiligen Gerichtspräsidenten. Die in Rheinland-Pfalz bestehenden Regelungen zu Besetzung und Verfahren des Richterwahlausschusses könnten zudem noch an einigen wesentlichen Stellen deutlich verbessert werden. Sie werden deshalb auch zur Zeit evaluiert. Ich möchte insoweit einen mir wesentlichen Aspekt in den Blick nehmen: Derzeit setzt sich der Ausschuss in Rheinland-Pfalz aus acht Abgeordneten des Landtags, zwei Richtern und einem Rechtsanwalt zusammen. Die Richterschaft ist bei dieser Zusammensetzung signifikant unterrepräsentiert. Darunter leidet die Akzeptanz des 34

„Demokratisierung – Zu einem häufig gebrauchten und vieldiskutiertem Begriff“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. November 2012 (Abdruck der gekürzten Fassung des Beitrags von Hennis). 35 Vgl. hierzu Gärditz, ZBR 2011, 109, 111.

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Ausschusses in der Praxis erheblich. Das hat man damals sehenden Auges in Kauf genommen. Als Begründung für das starke Übergewicht der Parlamentarier wurde seinerzeit das „Verbot der Kooptation“ ins Feld geführt. Dies war – vorsichtig ausgedrückt – unredlich. Da nach der rheinland-pfälzischen Regelung nämlich alle Mitglieder des Richterwahlausschusses, also auch die Richter, vom Landtag gewählt werden, diese folglich ebenfalls demokratisch legitimiert sind, stellte sich diese Frage überhaupt nicht. Unabhängig von dieser „Rechtsfrage“ ist festzuhalten, dass in allen anderen Bundesländern, in denen ein Richterwahlausschuss eingeführt ist, sowohl die absolute Zahl der richterlichen Mitglieder als auch der Anteil der Mitglieder aus Justizkreisen (Richterschaft, Staatsanwaltschaft, Rechtsanwaltschaft) höher liegt als in RheinlandPfalz. In Baden-Württemberg zählt der Ausschuss sechs Abgeordnete, acht Richterinnen und Richter (sechs ständige und zwei nichtständige, nach betroffener Gerichtsbarkeit wechselnd) sowie einen Rechtsanwalt. Die Stärkung der richterlichen Beteiligung ist ein Kernanliegen der Praxis im Rahmen der derzeit stattfindenden Evaluation des rheinland-pfälzischen Richterwahlausschusses. Ich bin guter Dinge, dass zumindest dieses Defizit in näherer Zukunft behoben werden könnte. Ist doch die paritätische Besetzung eine langjährige Forderung von Bündnis 90/ Die Grünen Rheinland-Pfalz, die auch in der Formulierung im Koalitionsvertrag, es werde ein „offener Dialog über die Stärkung einer parlamentarisch kontrollierten Selbstverwaltung der Dritten Gewalt geführt“, einen gewissen Anklang gefunden hat.36 III. Schluss Schließen möchte ich meine Ausführungen mit einer zunächst sicher überraschenden, aber in ihrer Begründung ganz substantiellen Antwort auf die Frage, welches Verfahren der Personalauswahl das richtige, das beste für unser Land wäre. Vielleicht zieht oder sieht der eine oder andere von Ihnen in dieser Fragestellung Parallelen oder Anklänge zu meiner Geschichte der letzten Jahre. Diese sind aber nicht beabsichtigt, meine Überzeugungen galten zuvor und gelten weiter. Die Antwort auf die Frage ist – selbstverständlich in den Grenzen, die uns das Grundgesetz vorgibt – einfach und ernüchternd zugleich: Eigentlich ist es egal, wofür man sich entscheidet. Denn maßgeblich ist letztlich nicht, ob es die Entscheidung des Ministers oder die Entscheidung des Richterwahlausschusses ist, ob 2, 4 oder 6 Richterinnen und Richter im Ausschuss sitzen. Ob dazu kein oder ein Rechtsanwalt gehören sollte, ob Professoren oder nicht, ob es Abgeordnete der X- oder der Y-Fraktion sind. Denn entscheidend ist und wird immer bleiben, mit welchem Verantwortungsbewusstsein und mit welchem Respekt die letztlich Entscheidenden mit ihrer gesetzlichen Aufgabe, mit den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG und wie sie mit ihrer Macht umgehen. Und Verantwortung und Respekt kann man mit keiner gesetzlichen 36 Koalitionsvertrag 2011 – 2016 zwischen SPD und Bündnis90/Die Grünen in RheinlandPfalz, S. 83.

Probleme der Richterwahl

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Bestimmung garantieren; man kann allenfalls den Missbrauch begrenzen. Die Politik, die Richtervertretungen und die Lehre, sie alle können noch so geeignete Modelle erfinden oder befürworten, maßgeblich wird immer die Integrität der Verantwortlichen sein, die Bestenauslese als allein maßgebliches, selbstverständliches und unangetastetes Kriterium anzusehen und danach zu handeln. Das ist der wesentliche und entscheidende Kerngedanke. Bei allen Verbesserungen, die in konkreten Abläufen und Besetzungen erforderlich sind, bleibt dies entscheidend: Wenn alle Verantwortlichen die maßgeblichen Begriffe Eignung, Befähigung und fachliche Leistung im Blick haben, wird durch das beschriebene gestufte Vorschlags- und Auswahlverfahren eine hohe Richtigkeitsgewähr erreicht. Dies scheint ganz einfach und ist an sich auch ganz einfach – und dennoch erweist es sich in seiner Alltagsbewährung gelegentlich als durchaus schwierig. Dies liegt indes nicht an dem System oder den maßgeblichen Regelungen, sondern – wie auch sonst im Leben – an den handelnden Personen.

Verzeichnis der Autoren* Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Christian Baldauf, Stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag RheinlandPfalz Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident a.D., Mitglied des Bayerischen Landtags Marco Bülow, Mitglied des Deutschen Bundestags Prof. Dr. Frank Decker, Universität Bonn Anke Domscheit-Berg, Geschäftsführende Beraterin opengov.me Hans Josef Graefen, Präsident des Oberlandesgerichts Koblenz Prof. Dr. Florian Grotz, Universität Lüneburg Dr. Gregor Gysi, MdB, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag Prof. Dr. Eckhard Jesse, Technische Universität Chemnitz Dirk Schümer, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,Venedig Prof. Dr. Joachim Wieland, Rektor, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

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Stand Dezember 2012.