Kulturerbe Tango: Tanz, Politik und Kulturindustrie 9783839443200

Tango as an immaterial cultural heritage - cultural practices in the field of tension between visions of preservation, p

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Kulturerbe Tango: Tanz, Politik und Kulturindustrie
 9783839443200

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Die UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes und die Antragstellung für den Tango
Ansatzpunkte in den theoretischen Begriffen und Analysekategorien Pierre Bourdieus
Methoden der Praxistheorien
Rekonstruktion der Veränderungen des Tango als immaterielles Kulturerbe
Interpretation der Veränderungen des Tango
Argumente und Konsequenzen
Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis
Anhang
Literaturverzeichnis

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Vicky Kämpfe Kulturerbe Tango

TanzScripte  | Band 50

Editorial Tanzwissenschaft ist ein junges akademisches Fach, das sich interdisziplinär im Feld von Sozial- und Kulturwissenschaft, Medien- und Kunstwissenschaften positioniert. Die Reihe TanzScripte verfolgt das Ziel, die Entfaltung dieser neuen Disziplin zu begleiten und zu dokumentieren: Sie will ein Forum bereitstellen für Schriften zum Tanz – ob Bühnentanz, klassisches Ballett, populäre oder ethnische Tänze –, und damit einen Diskussionsraum öffnen für Beiträge zur theoretischen und methodischen Fundierung der Tanz- und Bewegungsforschung. Mit der Reihe TanzScripte wird der gesellschaftlichen Bedeutung des Tanzes als einer performativen Kunst und Kulturpraxis Rechnung getragen. Sie will Tanz ins Verhältnis zu Medien wie Film und elektronische Medien und zu Körperpraktiken wie dem Sport stellen, die im 20. Jahrhundert in starkem Maße die Wahrnehmung von Bewegung und Dynamik geprägt haben. Tanz wird als eine Bewegungskultur vorgestellt, in der sich Praktiken der Formung des Körpers, seiner Inszenierung und seiner Repräsentation in besonderer Weise zeigen. Die Reihe TanzScripte will diese Besonderheit des Tanzes dokumentieren: mit Beiträgen zur historischen Erforschung und zur theoretischen Reflexion der sozialen, der ästhetischen und der medialen Dimension des Tanzes. Zugleich wird der Horizont für Publikationen geöffnet, die sich mit dem Tanz als einem Feld gesellschaftlicher und künstlerischer Transformationen befassen. Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein.

Vicky Kämpfe (Dr. phil.) ist Kulturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt auf praxisorientierten Herangehensweisen an kulturelle Praktiken. Neben eigener tänzerischer Tätigkeit realisiert sie Tanztheaterprojekte und Seminare an verschiedenen Institutionen und lehrt u.a. an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihr Forschungsinteresse richtet sich insbesondere auf die Bedeutung und auf Indikationen der Bewahrung inkorporierter Wissensbestände und immaterieller Werte für die gesellschaftliche Entwicklung.

Vicky Kämpfe

Kulturerbe Tango Tanz, Politik und Kulturindustrie

Zgl.: Lüneburg, Universität, Dissertation, 2017 Ich danke Ulf Wuggenig und Volker Kirchberg für ihre vorbehaltlose Unterstützung meines Forschungsanliegens, ich danke Marie-Theres Albert und Steffi Hobuß für ihre Gedanken und Besprechungen zu meinen Forschungsfragen, ich danke allen, die mich auf ihre Art und Weise einen Teil des Weges begleitet haben und ich danke Roberto Barcena dafür, die Welt des Tango leben zu können.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bildarchiv der Autorin Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4320-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4320-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Die UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes und die Antragstellung für den Tango | 9

Praxis der Macht und kulturelle Praktiken | 12 Prozesse des Wandels: Macht der Praxis | 15 Wert des Immateriellen als Perspektive | 32 Ansatzpunkte in den theoretischen Begriffen und Analysekategorien Pierre Bourdieus | 37

Habitus und Praxis, Prozesse und Funktionsmechanismen | 38 Themenbezogene Konzepte aufbauend auf den theoretischen Begriffen Bourdieus | 53 Instrumente der Analyse aufbauend auf den methodischen Werkzeugen Bourdieus | 77 Methoden der Praxistheorien | 93

Diskursanalyse nach Diaz-Bone | 94 Zur Unvereinbarkeit von Strukturanalyse und distinktiver Diskursanalyse | 101 Rekonstruktion der Veränderungen des Tango als immaterielles Kulturerbe | 117

Einführung in die interpretative Analytik | 117 Spezifische Elemente, Mechanismen und Wissensbestände des Tango | 123 Bourdieusche Spezialfälle im Tango | 193 Diskurse aus Politik, Wirtschaft und das Kulturwissen Tango | 203 Interpretation der Veränderungen des Tango | 211

Tango als immaterielles Kulturerbe | 211 Hinführung zu den Schlussfolgerungen | 234 Argumente und Konsequenzen | 243

Antworten für den Tango | 244 Argumente für das immaterielle Kulturerbe | 255 Kulturerbe, der Wert Bewegung und Verantwortung in der Praxis | 271

Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis | 305

Das Immaterielle als Wert und Wissensordnung | 306 Ansätze für die Praxis | 318 Anhang | 321

Konsistente Beschreibung der Ergebnisse aus der Datenerhebung | 321 Textkorpora der Analysesituationen | 384 Literaturverzeichnis | 387

erblicke das leben so anders als es sich zeigt. lebe den tag als wäre er nacht. beim anflug der sterne blendet das grelle leuchten jener momente, die im stillstand vorbeigehen, die für das leben existieren und doch viel zu selten ergriffen werden, um bei morgendämmerung bereut zu sein. im sternenlicht verlöschen aller städte glänze und es verschwinden die mauern der stadt zu einem einzigen meer aus tränen. fühle das leben ohne es zu sehen bis der morgen kommt.1

1

Aus Kämpfe: Tango als Ausdruck der Melancholie in der modernen Gesellschaft, S.3.

Die UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes und die Antragstellung für den Tango

Die UNESCO-Generalkonferenz verabschiedete am 17. Oktober 2003 das ‚Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes‘. Das Anliegen dieses UNESCO-Übereinkommens besteht darin, die Vielfalt der lebendigen kulturellen Ausdrucksformen als Teil des Kulturerbes der Menschheit zu erhalten.1 Mit der Ratifizierung und der anschließenden Umsetzung dieser Konvention werden kulturelle Praktiken zum immateriellen Kulturerbe ernannt. Der Ernennungsprozess beruht auf institutionellen Mechanismen und auf der Erfüllung der auf institutioneller Ebene definierten Kriterien. Mit der Umsetzung der Konvention wurde das Konzept des Immateriellen in der Form kultureller Praktiken in institutionelle und öffentliche Diskurse eingeführt.2 Vorliegender Studie geht die Annahme voraus, dass mit dem Umsetzungsprozess eine veränderte Bewertung so benannter immaterieller Elemente und eine Veränderung der kulturellen Praktiken selbst zu konstatieren sein wird.3

1

Vgl. im Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Artikel 2 Begriffsbestimmungen unter http://www.unesco.de/ike-konvention.html, sowie bei http://www.unesco.de/immaterielles-kulturerbe.html

2

Im Sinne dieser Studie zugrundeliegenden Konzepte Bourdieus bestimmt Hahn die Begriffe öffentliche Meinung bzw. institutionalisierte Öffentlichkeit: „Sie ist der Generator für gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit. Was sich in ihr nicht abspielt, findet gesellschaftlich nicht statt. Öffentlichkeit präjudiziert als solche weder Konsens noch Dissens […]. Sie ist lediglich die Institutionalisierung allgemeiner Aufmerksamkeit.“ Hahn: Körper und Gedächtnis, S.91.

3

Die Annahme, dass sich kulturelle Praktiken in Bezug auf ihr symbolisches Kapital und auf die Art und Weise ihres Ausagierens verändern, wenn sie seitens institutionel-

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Im September 2009 wurde der argentinische und uruguayische Tango in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Der Tango wurde damit als eine kulturelle Praktik bestimmt, die in den Städten Buenos Aires und Montevideo beheimatet ist. In ihm verbinden sich in besonderer Weise die als immateriell definierten Elemente Tanz, Musik und Poetik, getragen von einer spezifischen emotionalen Empfindungsweise und einem spezifischen Selbstverständnis. Die Konfrontation der institutionellen Anerkennungspraxis durch die UNESCO mit den in diesem Selbstverständnis formulierten und gelebten informellen Elementen – beispielsweise das ‚Klandestine‘, das ‚Emotionale‘ und die ‚Metafísica del Tango‘ – verweist auf den Tango als ein relevantes Fallbeispiel für die Untersuchung solcher Anerkennungsprozesse. Die Institution UNESCO ist eine der UN-Sonderorganisationen. Sie ist in den Programmbereichen Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation tätig. Mit dem Programmbereich Kultur steht sie für den Schutz des kulturellen Erbes, die Bewahrung der kulturellen Vielfalt und die Förderung des Dialogs zwischen den Kulturen ein.4 Organe der UNESCO sind auf internationaler Ebene die Generalkonferenz, der Exekutivrat und das Sekretariat.5 Die UNESCO arbeitet darüber hinaus mit zahlreichen Partnern zusammen. 6 Die Nationalkommissionen in den Mitgliedstaaten beraten die eigene Regierung in allen UNESCOFragen und wirken als nationale Verbindungsstellen. Die Mitgliedstaaten arbeiten in zwischenstaatlichen Komitees und Programmen regelmäßig zusammen. Die UNESCO ist auf zwischenstaatlicher Ebene darüber hinaus normativ tätig. Die Generalkonferenz unterscheidet bei normativen Texten zwischen Konven-

ler Akteure legitimiert werden, wird im lateinamerikanischen Kontext ebenso erörtert. Martin untersucht beispielsweise innerhalb dieses theoretisch-methodischen Rahmens den Fall des Karnevals in Buenos Aires. Vgl. bei Martin: Política cultural y patrimonio inmaterial en el carnaval de Buenos Aires. 4

Den völkerrechtlichen Rahmen bilden die Übereinkommen zum Schutz der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2005), Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (2003) und das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes (1972).

5

Die Generalkonferenz ist das Hauptentscheidungsgremium der UNESCO. Der Exekutivrat ist das Bindeglied zwischen Generalkonferenz und Sekretariat. Als Aufsichtsorgan bereitet er die Generalkonferenz vor, prüft die Arbeitsprogramme und den Haushaltsplan. Das Sekretariat in Paris, an dessen Spitze der Generaldirektor steht, setzt das UNESCO-Programm operativ um.

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Die UNESCO kooperiert außerdem mit Einrichtungen der Vereinten Nationen, Regierungen der Mitgliedstaaten, beruflichen und wissenschaftlichen Fachverbänden, NGOs, Stiftungen, UNESCO-Projektschulen und UNESCO-Clubs.

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tionen, Empfehlungen und Erklärungen. Die UNESCO hat über 20 internationale Konventionen verabschiedet. Sie finanziert sich hauptsächlich aus den Pflichtbeiträgen ihrer Mitgliedstaaten.7 Argentinien verfügt bereits über Einträge in den Listen des UNESCOKulturerbes und UNESCO-Naturerbes. 8 Darüber hinaus sei darauf verwiesen, dass dem erfolgreichen Anerkennungsverfahren für den Tango im Jahre 2008/ 2009 als immaterielles Kulturerbe eine Zurückweisung des Tangos als ‚Meisterwerk der mündlichen und schriftlichen Kultur‘ im Jahre 2000/2001 vorausging. Der erste Eintrag wurde durch den Präsidenten der ‚Academia Nacional de Tango‘ Horacio Ferrer initiiert und durch die staatlicherseits benannte ‚Direktorin des Kulturerbes‘ Liliana Barela beantragt. Bemerkenswert dabei ist, dass die zweite Antragstellung hingegen vom damaligen Minister für Kultur und Tourismus Hernán Lombardi ausging. Im Vergleich beider Anerkennungsverfahren und auf Basis der Befragung von Involvierten der Antragstellung kommen Gómez/Almirón/González zu dem Schluss, dass im Fall der erfolgreichen Ernennung zum einen die Entscheidungskriterien für die Antragstellung konkreter und eindeutiger definiert wurden (formale Ebene), zum anderen die Zusammensetzung der Entscheidungskommission mit ihrem Wissens- und Interessenshintergrund (personale Ebene) entscheidend war.9 Für die deutsche Forschungspraxis sollte das Thema verstärkt von Interesse sein, um die Argumentationsbasis für die Umsetzung der Konventionsinhalte bereit zu stellen. Trotz der Ratifizierung der Konvention seitens der deutschen Regierung am 12. Dezember 2012, die am 9. Juli 2013 rechtskräftig wurde, befinden sich die politischen Verantwortlichen (Bund, Länder, verantwortliche Minis-

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Der reguläre Zweijahreshaushalt entspricht ungefähr dem Haushalt einer mittelgroßen Universität in einem Industriestaat. Deutschland ist nach den USA und Japan drittgrößter Beitragszahler der UNESCO.

8

Dazu gehören für das Naturerbe: el Parque Nacional Los Glaciares (1981), el Parque Nacional Iguazú (1984), la Península Valdés (1999), los Parques Ischigualasto y Talampaya (2000) und für das Kulturerbe: las Reducciones Jesuíticas de San Ignacio Miní, Santa Ana, Nuestra Señora de Loreto y Santa María la Mayor (1983), la Cueva de las Manos (1999), la Manzana y Estancias Jesuíticas de la ciudad y provincia de Córdoba (2000), la Quebrada de Humahuaca (2003). Vgl. Gómez/Almirón/González: La cultura como recurso turístico de las ciudades, S.1036.

9

Gómez/Almirón/González: La cultura como recurso turístico de las ciudades, S.1036– 1041. Entsprechende Belege finden sich dort im Text.

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terien, DUK) und Experten noch immer in der Meinungsbildung über die Bedeutung und Umsetzbarkeit der Konvention.10 (Stand 2015)

PRAXIS DER MACHT UND KULTURELLE PRAKTIKEN In vorliegender Forschungsarbeit wird die Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe durch die Institution UNESCO an die kulturelle Praktik Tango zum Anlass genommen, um die Funktionsmechanismen und korrespondierenden Interessen, ebenso wie die Konsequenzen eines solchen Legitimierungsaktes zu erfassen. In der Studie wird entsprechend danach gefragt, inwiefern die institutionelle Anerkennung kultureller Praktiken als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO Veränderungen der Bedeutung dieser Praktiken bzw. Veränderungen der Praktiken selbst impliziert und mit welchen Strategien diese Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse verankert sind. Daran anschließend wird das Konzept des immateriellen Kulturerbes mit den beiden Aspekten seiner grundlegenden Bestimmungen und der Umsetzungsmöglichkeiten der Konventionsinhalte hinterfragt werden können. Zu den grundlegenden Bestimmungen gehören das Begriffsverständnis von kulturellen Praktiken und von Kulturerbe sowie die korrespondierenden Machtstrategien und Interessen. Das Ziel der Konvention ist im Konventionstext mit der Bewahrung und Vermittlung von kulturellen Praktiken bestimmt. Das fordert eine institutionelle Legitimierung und Umsetzung der Konventionsinhalte in der Praxis ein. Das Erkennen der mit dem Umsetzungsprozess verbundenen potentiellen Veränderungen der kulturellen Praktiken sowie der Funktionsmechanismen institutioneller Praktiken ist grundlegend, um für diesen Prozess notwendige normative Begriffe neu zu definieren und zu bewerten.

10 Vgl. dazu unter anderem Deutscher Bundestag: Drucksache 17/6314, Antrag: Ratifizierung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe vorantreiben; sowie Drucksache 17/8121, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien. Desweiteren Albert: Machbarkeitsstudie – Umsetzung der UNESCOKonvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland. Erste Diskussionsgrundlagen finden sich in DUK (2007a) Memorandum: Immaterielles Kulturerbe in der Arbeit der UNESCO. Der Ratifizierung der Konvention 2013 folgte die Erstellung des bundesweiten Verzeichnisses (darunter die deutsche Brotkultur, der Orgelbau und die Orgelmusik, die sächsischen Knabenchöre, die Handwerksgesellenwanderschaft Walz, die Genossenschaftsidee, der Rheinische Karneval, das Reetdachdeckerhandwerk, der moderne Tanz bzw. Ausdruckstanz).

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Das formulierte Erkenntnisinteresse wird mit den Ergebnissen einer Strukturanalyse und in Rückführung auf eine theoretische Diskussion erarbeitet. Der praxeologische Ansatz nach Pierre Bourdieu bietet einen theoretischen Rahmen, um die Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango und die mit der Anerkennung des Status Kulturerbe verbundenen Veränderungen zu erfassen. Zugleich ermöglicht der praxeologische Zugang eine komplexe Struktur-PraxisAnalyse, mit der nicht-institutionelle und institutionelle Positionen (private, öffentliche und institutionelle Akteure) und deren Strategien (kulturelle bzw. populäre und institutionelle Praktiken) in ihren Verbindungen berücksichtigt werden können. Das bindet Fragestellungen hinsichtlich der Funktionszusammenhänge in der Praxis ein. Dazu gehören die Aspekte Machtmechanismen (insbesondere Macht- und Legitimierungsstrategien), Diskursverhältnisse, inkorporierte Wissensbestände (Körpergebundenheit von Praktiken) und Gedächtniskulturen. Für die Datenerhebung und Auswertung wird auf den methodischen Zugang der distinktiven Diskursanalyse nach Diaz-Bone zurückgegriffen. Ausgehend vom praxeologischen Zugang Bourdieus lässt diese eine ausschließlich auf diskursiven Elementen basierende Empirie zu. Der Tango als eine kultur- bzw. ortspezifische kulturelle Praktik der Region am Rio de la Plata (Argentinien und Uruguay) bietet die Möglichkeit, am Beispiel einer spezifischen kulturellen Praktik die Indikationen einer solchen institutionellen Anerkennungspraktik aufzuzeigen. Die Konsequenzen dieser Ernennung werden analysiert und interpretiert. Hierfür wird der Tango zunächst als kulturelle Praktik erfasst und die Veränderungen dann nachvollzogen. Ein Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die Verwendung des Begriffs ‚immaterielles Kapital‘ und auf die Funktion der institutionellen Ernennung innerhalb dieser Anerkennungsmechanismen. Die Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe an den Tango lässt im ersten Moment eine Vermutung über die Motivation für die Entscheidung zur Antragstellung zu: der Titel Kulturerbe wird seitens der den Antrag Stellenden und Unterstützenden als strategisches Instrument der Tourismus- bzw. Kulturindustrie sowie für die Umsetzung politischer Interessen genutzt. Die eigentliche ideelle Intention der UNESCO-Konvention der Bewahrung und Vermittlung kultureller Praktiken und deren spezifischer Wissensbestände dient lediglich als Rechtfertigungsdiskurs.11 Diese erste wertende Vermutung führt auf einer theo-

11 An diese Vermutungen anschließend wirft die Verleihung des Kulturerbestatus durch die durch Staaten getragene Institution UNESCO an den populären Tango – zunächst assoziative – Fragen auf: Geht die Ernennung konform mit dem Selbstverständnis der Akteure des Tango? Welche Definition von Tango liegt dem Kulturerbestatus zugrun-

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retischen Ebene zu Fragestellungen: Welche sind die ideellen, die politischen oder anderweitigen Interessen, die hinter den Zielformulierungen der UNESCOKonvention (Nachhaltigkeit und kulturelle Vielfalt) und hinter der Antragstellung seitens staatlicher Akteure stehen? In Bezug auf kulturelle Praktiken lässt sich in diesem Zusammenhang fragen, welcher Stellenwert ihnen in gesellschaftlichen Verhältnissen zukommt: inwiefern sind sie durch gesellschaftliche Strukturen bestimmt und in welcher Weise bestimmen kulturelle Praktiken diese Strukturen, indem sie sie reproduzieren, sie dabei verändern oder bewahren?12 Worin bestehen die spezifischen Wissensbestände der kulturellen Praktiken bzw. der konkreten tänzerischen Bewegungsformen?13 Der Fokus der Untersuchung liegt auf der Rekonstruktion des Funktionsmechanismus, mit dem sich die Idee des immateriellen Kulturerbes in der Praxis realisiert. Von Interesse sind dabei insbesondere seine fundamentierenden Definitionen, die korrespondierenden Machtstrategien und Intentionen, seine Umsetzung sowie daraus schlussfolgernd das Begriffsverständnis der kulturellen Praktiken, des Kulturerbes im Allgemeinen, der Materialität bzw. Immaterialität und der inkorporierten Wissensbestände. Dieser Themenfokus schließt eine ausführliche Beschäftigung mit der Genese des Tangos und die differenzierte Diskussion des Konzepts Kulturerbe aus. Die durchaus relevanten Aspekte aus den Bereichen Völkerrecht, Ethik und Menschenrechte sowie Fragestellungen, die sich an Genderaspekten und an den Differenzierungen von Populärkultur oder Hochkultur orientieren, werden aufgrund der notwendigen Beschränkung des Untersuchungsbereichs ausgeblendet. Mit derselben Begründung wird auf die Einbettung in den Nachhaltigkeitsdiskurs und die damit mögliche Stärkung des kulturellen Aspekts innerhalb der Nachhaltigkeitsdiskussion verzichtet. Ausgehend von den Fragestellungen und dem Erkenntnisinteresse werden drei die Untersuchung leitende Thesen formuliert:

de? Wird der Tango als eine kulturelle Ausdrucksform der Region Rio de la Plata bestimmt, finden dann auch künstlerische Formen Berücksichtigung oder handelt es sich ausschließlich um seine populären Ausdrucksformen? Inwiefern werden die Aspekte der individuellen bzw. lokalen Identifizierung mit dem Tango, seine ‚metaphysischen‘ Aussagen und Inhalte, und nicht zu vergessen, seine touristisch attraktiven Aspekte berücksichtigt? Vgl. diese Art von assoziativen Fragen mit Tauscheks Reflexionen in Tauschek: von der lokalen Kultur zum globalen Erbe. 12 Vgl. u.a. Reckwitz in Klein: Bewegung; Fiske: Reading the Popular. 13 Dazu u.a.: Leigh Foster: Corporealities. Dancing Knowledge, Culture and Power; Thomas: The Body, Dance and Cultural Theory; Huschka: Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen.

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Anschließend an die Feldtheorie nach Bourdieu entspricht die Ernennung des Tangos zum immateriellen Kulturerbe einer Veränderung der spezifischen Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik. Damit korrespondiert die Einführung des spezifischen Kapitals des Immateriellen (mit den Aspekten des Institutionellen und des inkorporierten Wissens). An dieser neuen Kapitalform richten sich die veränderten Strukturverhältnisse (Macht/Kapitalstrukturen) und Funktionsmechanismen (Strategien und Interessen) aus. Der symbolische (Kapital)Wert der kulturellen Praktiken wird verändert. Infolgedessen werden die Habitusformen der Akteure einem Wandel unterworfen. Eine zweite These besagt, dass der Tango als eine durch den Körper ausagierte kulturelle Praktik, mit den als immateriell deklarierten Praktikenformen Musik, Poetik und Tanz, mit einer spezifischen emotionalen Befindlichkeit und einem spezifischen Selbstverständnis bestimmt ist. Tango impliziert somit gesellschaftlich konstitutive und inkorporierte Wissensbestände. Kulturelle Praktiken werden in der Schlussfolgerung aus den beiden vorhergehenden Thesen als eine spezifische Wissensform und die ausagierten kulturellen Praktiken als gelebtes kulturelles Wissen definiert. Beide sind Elemente der Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturverhältnissen. In der Konsequenz kann die Idee des immateriellen Kulturerbes als Konzept eines lebendigen kulturellen Archivs bestimmt werden. Eine erste Hypothese wird dahingehend formuliert, dass der Anerkennungsmechanismus zum immateriellen Kulturerbe mit den korrespondierenden Interessen und Strategien für eine Veränderung der kulturellen Praktiken und damit entgegen der eigentlichen Intention des Kulturerbekonzepts ihrer Bewahrung und Vermittlung steht. Eine zweite Hypothese geht dem gegenüber davon aus, dass die Diskussion und die Umsetzung des Konzepts immaterielles Kulturerbe eine veränderte Bewertung kultureller Praktiken, im Sinne eines höheren Grads ihrer Legitimierung, innerhalb eines sozialen Raums anzeigen.

PROZESSE DES WANDELS: MACHT DER PRAXIS Zentrale Begriffe im Wandel Der Analyse des Funktionsmechanismus immaterielles Kulturerbe und der anschließenden Diskussion des Begriffs Bewegungswissen als ein inkorporierter Wissensbestand geht eine Zuordnung in den wissenschaftstheoretischen Diskurs um den Kulturbegriff und den Wissensbegriff voraus. Damit wird verdeutlicht,

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in welchem Maße das Konzept Kulturerbe in tradierte Begriffe von Kultur und Wissen als seine fundamentierenden Bestimmungen eingebettet ist und diese, ebenso wie das Konzept Kulturerbe selbst, Wandlungsprozessen unterliegen. Der Kulturbegriff ist ein viel und zumeist leichthin oder überdefiniert gebrauchter Begriff. Er hatte seinen Ursprung als eigenständiges Konzept erst mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Im kritischen Diskurs zum Kulturbegriff findet sich dementsprechend die Referenz: „Kultur ist einer jener Begriffe des historisch-sozialen Denkens, die sich die Moderne offenbar zum Zwecke ihrer Selbstthematisierung geschaffen hat.“14 Damit ist bereits der vielfältige, relative und intentionale Charakter des Kulturbegriffs umrissen. Der Kulturbegriff, wie er gegenwärtig diskutiert wird, ist der deutschen Aufklärung zuzuordnen, findet seine Wurzeln aber bereits im antiken Verständnis von Kultur, das von der Renaissance aufgenommen wurde und sich schließlich bis ins beginnende 20. Jahrhundert bewähren kann, um dann einer umfassenden kritischen und relativierenden Revision unterzogen zu werden.15 Das gegenwärtig in den Kulturwissenschaften vorherrschende Paradigma von Kultur korrespondiert Reckwitz zufolge dem bedeutungs-, symbol- und wissensorientierten Kulturbegriff. Es fundamentiert einen Kulturbegriff, mit dem das menschliche Agieren an eine Vorstellung von Sinn sowie an die Inkorporierung von Bedeutungsstrukturen und Wissensordnungen gebunden ist.16 Innerhalb

14 Reckwitz: Transformation der Kulturtheorien, S.65. Reckwitz formuliert: „Ähnlich den modernen Schlüsselbegriffen ‚Gesellschaft‘ oder ‚Geschichte‘ demonstriert ‚Kultur‘, dass etwas bisher als selbstverständlich stillschweigend Vorausgesetztes sichtbar und damit problematisch geworden ist: die menschliche Lebensweise.“ Ebd. 15 Reckwitz folgend, lassen sich mit dem Verlauf der ‚Epochengeschichte‘ seit dem 19. Jahrhundert vier sozialtheoretische Konzepte dessen, was Kultur bedeuten kann, unterscheiden: das normative als eine Bezeichnung menschlicher Lebensweise und als sein moralisch-ethischer Aspekt, das totalitätsorientierte im Sinne einer Lebensform eines Kollektivs in einer historischen Epoche, das differenzierungstheoretische auf so genannte intellektuelle und künstlerische Aktivitäten bezogene sowie der bedeutungsund wissensorientierte Kulturbegriff für einen ‚Komplex von Sinnsystemen‘ oder von ‚symbolischen Ordnungen‘ und für ‚geteilte Wissensordnungen‘ stehend. Vgl. bei Reckwitz: Transformation der Kulturtheorien, S.64–89. Da sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit nicht auf eine Diskussion des Kulturbegriffs richtet, sei auf eine ausführlichere Erörterung verzichtet und auf Reckwitz und seine umfassende Diskussion desselben verwiesen. 16 Vgl. u.a. Reckwitz: Transformation der Kulturtheorien, insbesondere S.84–89.

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des gewählten praxistheoretischen Bezugsrahmens vorliegender Studie wird entsprechend die Formulierung eines Kulturbegriffs möglich sein, der in der Ergebnisdiskussion Referenz sowohl für die Bewertung der Analyseergebnisse als auch des Konzepts Kulturerbe sein kann.17 Eine solche Formulierung fundamentiert sich in der Zusammenführung der bourdieuschen Konzepte: die Strukturverhältnisse und der die Geschichte inkorporierende Habitus (Habitustheorie) sowie die erfassten objektivierten Feldstrukturen und Feldmechanismen (Feldtheorie).18 Damit wird ein umfassender relationaler Kulturbegriff zu bestimmen sein, der einer Grundkonstellation bzw. einer durch die spezifischen Strukturverhältnisse gegebenen Disposition entspricht. Er ermöglicht aber ebenso einen engen distinktionsorientierten Kulturbegriff innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse und eines spezifischen Bedeutungskanons. Der Kulturbegriff ist innerhalb der bourdieuschen Argumentation in Bezug auf einen engen Kulturbegriff der Hoch- und Populärkultur strukturspezifisch und

17 Verwiesen sei auf die Ausführungen zu einem solchen Kulturbegriff nach Bourdieu im folgenden Kapitel, Abschnitt themenbezogene Konzepte sowie in der Interpetation der Veränderungen des Tango, Abschnitt Kultur als Prozess und Option. 18 Wenngleich der vermeintlich fehlende systematische Kulturbegriff Bourdieus kritisiert wird; vgl. u.a. Wagner zu den konstitutionstheoretischen Defiziten im Werk Bourdieus in Rehbein/Saalmann/Schwengel: Pierre Bourdieu. Theorie des Sozialen. Mit Bourdieu können solche Positionen mit seiner Vielzahl an differenzierenden Begriffsbestimmungen von Kultur konfrontiert werden. So finden sich ein weiter anthropologischer und ein enger normativer Begriff von Kultur unterschieden, letzterer differenziert legitime, mittlere und populäre Kultur bzw. legitime, illegitime und auf dem Weg zur Legitimität befindliche Kultur. Basierend auf einem anthropologischen Kulturbegriff wird legitime Kultur gegen Natur abgegrenzt. Vgl. u.a. die Bestimmungen zum engen Kulturbegriff, insofern „die allgemeine Bezeichnung Kulturproduzent“ durch „das Wort Schriftsteller, […] Maler, Philosoph, Wissenschaftler, usw.“ und kulturell durch „literarisch, […] künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich“ ersetzt werden kann. (Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S.341); zum Begriff der legitimierten Kultur: „die Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur in herkömmlicher Bedeutung, also einer Gesamtheit von legitimen Kenntnissen und praktischem Wissen […].“ (Bourdieu: Der Staatsadel, S.101); zum distinktiven Begriff der Hochkultur: „Die Negation des niederen, groben, vulgären, wohlfeilen, sklavischen, mit einem Wort: natürlichen Genusses, diese Negation, in der sich das Heilige der Kultur verdichtet, beinhaltet zugleich die Affirmation der Überlegenheit derjenigen, die sich sublimierte, raffinierte, interesselose, zweckfreie, distinguierte, dem Profanen auf ewig untersagte Vergnügen zu verschaffen wissen.“ (Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S.27).

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als eine Konsequenz der Legitimierung bzw. des Aushandelns innerhalb der Strukturverhältnisse bestimmt. In Bezug auf einen weiten Kulturbegriff umfasst er schlichtweg die gesamte soziale Wirklichkeit bzw. den spezifischen Habitus. Besondere Berücksichtigung finden der Aspekt des Prozesshaften und der Aspekt der Inkorporierung als Akteur bezogene und konkret das Körperliche einbeziehende Bestimmungen.19 Diesem Verständnis eines praxeologischen Kulturbegriffs folgen auch Stimmen aus dem lateinamerikanischen Wissenschaftsdiskurs. Kultur entsteht nicht als Konsequenz gesellschaftlicher Strukturverhältnisse, sondern entspricht ihnen: „la cultura se debe entender como una estructura social, y no como una consecuencia de una estructura social. Es un patrón formado por capas durables y sociales de sistemas cognitivos y normativos, que son a la vez ideal o material, objetivo o subjetivo, encarnados en artefactos e incrustado en el comportamiento. La cultura es un pattern trasmitido por interacción, internalizado en las personalidades y externalizado en las instituciones.“20 Die inkorporierten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata konditionieren gesellschaftliche Prozesse und individuelles Agieren. Sie finden sich in den Praktiken und institutionellen Strukturen wieder. Diese Bestimmungen entsprechen dem relationalen und dispositionellen Begriff von Kultur. Der von der UNESCO vertretene Kulturbegriff ordnet sich in den nachvollzogenen wissenschaftstheoretischen Diskurs ein. Er ist im steten Wandel begriffen. Das ist zum einen mit der Unterschiedlichkeit der Kulturverständnisse in den einzelnen Mitgliedsländern zu begründen. Sie stellen den Kulturbegriff immer wieder zur Diskussion. Zum anderen finden neue Themenbereiche und Ergebnisse der theoretischen Diskussion Berücksichtigung.

19 Kastner stützt diese mögliche Formulierung eines Kulturbegriffs auf Bourdieu. Ihm folgend bestimmt sich der bourdieusche Kulturbegriff „nicht statisch als gesammeltes Wissen, sondern als kontextabhängig gelebte gesellschaftliche Praxis: dynamisch – relational – prozessual – historisch. […] Desweiteren ist der Kulturbegriff in der Konzeption Bourdieus nicht nur ein kognitives, sondern auch ein körperliches Phänomen. Kultur spielt sich nicht nur im Bewusstsein, sondern auch in den Wahrnehmungen und Gefühlen ab und drückt sich nicht nur in geistigen, sondern auch in gestischen und den Geschmack betreffenden Praktiken aus.“ Kastner in Bismarck/Kaufmann/ Wuggenig (Hg): Nach Bourdieu, S.251/252. 20 Rodríguez Corral: cultura, estructura y acción, S.248. So folgt Rodríguez Corral als Vertreter der symbolischen Anthropologie (la Antropología Simbólica Americana) Bourdieu darin, dass der theoretische Begriff der Strukturverhältnisse in der Praxis als inkorporierte und materialisierte Dispositionen existiert. Ebd., S.246ff.

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Der Kulturbegriff, der mit der Gründung der UNESCO formuliert wurde, orientierte sich noch stark am distinktiven Verständnis von Kunst und Hochkultur: „At this early stage, culture itself seems to have been thought of more in terms of artistic production and external practices than as deeply internalized and identity-creating ways of thinking, feeling, perceiving, and being in the world.“21 Der gegenwärtig gültige Kulturbegriff der UNESCO wurde erstmals auf der UNESCO-Weltkonferenz in Mexiko City im Jahr 1982 zwischenstaatlich vereinbart. Seit dieser Deklaration wird im Rahmen der UNESCO mit folgender Definition von Kultur gearbeitet: „Kultur [sollte] in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen, geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden […], die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“ 22 Dieser erweiterte Kulturbegriff 23 schließt jegliche Form kultureller Ausdrucksformen einer Gemeinschaft sowie deren Werte und Normen ein. Jede Form kultureller Praktiken ist hierin inbegriffen, sowohl von Individuen als auch von kulturellen Unternehmen. Kultur ist der Inbegriff all dessen, was der Mensch geschaffen hat. Dazu zählen unter anderen Lebensstile, Menschenrechte, Werteorientierungen, Traditionen und Glaube.24 Der von der UNESCO vertretene Kulturbegriff weist eine zweite grundsätzliche Neuorientierung im Hinblick auf den sich vollziehenden Paradigmenwechsel in der internationalen Kulturpolitik auf. Mit der Ablösung des hochkulturellen Kulturbegriffs wird anerkannt, dass Kultur, bzw. kulturelle Artefakte und Praktiken an politische Entscheidungen (Kulturpolitik) und zugleich an Infrastrukturen der Produktion, Distribution und des Konsums (Kulturindustrie) gebunden sind.25/26 Die UNESCO proklamiert diese enge Verknüpfung von politi-

21 Stenou: UNESCO and the issue of cultural diversity, S.3. 22 Deutsche Übersetzung der Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik (1982). Die Textfassungen sind unter www.unesco.org zu finden. 23 Seit den 80er Jahren wird auch auf nationaler Ebene (Deutschland) von einem erweiterten Kulturbegriff ausgegangen. Forderungen nach einer neuen Kulturpolitik waren Folge eines neuen Bewusstseins, dass Kultur neben Hochkultur auch Lebensform ist. Vgl. bei Schöfthaler: Internationale Akteure, S.317. 24 Vgl. Bernier: UNESCO International Convention on Cultural Diversity, S.67. 25 Dieser paradigmatische Wandel nahm seinen Ausgangspunkt in der Formulierung des Begriffs Kulturindustrie durch Adorno/Horckheimer als ein Grundkonzept ihrer Kulturkritik. Seit Anfang der 1970er Jahre finden sich zunehmend Verweise auf ‚industries culturelles‘, bzw. ‚cultural industries‘ in kulturpolitischen Papieren und wissen-

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schen und ökonomischen Funktionsmechanismen insbesondere mit der ‚Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt‘ im Jahre 2001 und mit der Verabschiedung des ‚Übereinkommens über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen‘ im Jahre 2005 als kulturpolitisch relevant. Beide sind Grundlage für die nationale Umsetzung kulturpolitischer Entscheidungen für die Kultur- und Kreativindustrien.27 In den Fachpapieren und Übereinkommen findet sich die Notwendigkeit eines demokratischen Zugangs zu Kultur, das meint zu Produktion, Distribution und Konsum formuliert. Dem korrespondiert im Umkehrschluss die kulturpolitische Position, dass die Umsetzung der ‚cultural diversity‘ als Garantie der als demokratisch bestimmten Mechanismen proklamiert wird. Diese Bezugnahme auf das Konzept ‚creative industries‘ berücksichtigt die infrastrukturellen, ökonomischen und rechtlichen Aspekte entsprechender kulturpolitischer Entscheidungen im Rahmen der UNESCO-Übereinkommen.28 Dieses Begriffsverständnis

schaftlichen Diskursen, verbreitet durch die UNESCO sowie durch Sozialwissenschaftler des englischsprachigen Raums in den 1980er Jahren. Auf das Konzept der ‚creative industries‘ wird verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre in Fachstudien und offiziellen Papieren der UN/UNESCO zurückgegriffen. Siehe ausführlich bei O’Connor: The cultural and creative industries; sowie Garnham: From cultural to creative industries, S.15–29. Vgl. u.a. zu den Interessen der Produktionsseite, zur Vermittlungstätigkeit durch UN/UNESCO, und dem spezifischen Aspekt des copyright kulturellkünstlerischer Artefakte bei Segers/Huijgh: Clarifying the complexity and ambivalence of the cultural industries. 26 Darüber hinaus sei verwiesen auf das Papier Ahearnes zu kulturpolitischen Bezügen in bourdieuschen Positionen im Rahmen seiner Studie zu intellektuellen Positionen und politischen Stellungnahmen; in Ahearne: Intellectuals and cultural policy in France, S.1–15; bzw. ausführlicher in Ahearne: Between Cultural Theory and Policy. 27 Eine daran anschließende Kritik des Paradigmenwechsels in der deutschen Kulturpolitik findet sich mit den Reaktionen auf das EU‐Förderprogramm ‚Creative Europe‘: „Der Deutsche Bundesrat konstatierte kritisch zum Programmvorschlag, dass es sich hier um einen Paradigmenwechsel weg von der Kulturförderung hin zu privatwirtschaftlichen Finanzierungen handele.“ Bruell: Kreatives Europa, S.28. Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung mit dem Terminus Kreativindustrien für den deutschsprachigen Raum in Zimmermann/Schulz (Hg): Zukunft Kulturwirtschaft; sowie Raunig/Wuggenig (Hg): Kritik der Kreativität. 28 Das Konzept ‚cultural diversity‘ wird als Effekt der Produktion der ‚cultural industries‘ gesehen, denn: „An important aspect of the cultural industries, according to UNESCO, is that they are ‚central in promoting and maintaining cultural diversity and

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ermöglicht einerseits eine Ausrichtung kulturpolitischer Entscheidungen auf nationaler Ebene; sie wird in Bezug auf die inhaltlichen Aspekte für ein Kulturverständnis jedoch stark diskutiert.29 Bereits der UNESCO ‚World Culture Report 2000‘ geht von diesem erweiterten Kulturbegriff einer umfassenden Lebensweise und der Verortung innerhalb des Konzepts ‚cultural diversity‘ aus. Der Report verweist entsprechend auf die gegenwärtige Kultur als einen ständigen und komplexen Prozess, den es zu berücksichtigen gilt. Dieses Kulturverständnis, das nicht vorwiegend von einem Erhalt der bestehenden Kultur, sondern von einem permanenten Wandel der Kultur und seiner Bindung an kulturpolitische Mechanismen ausgeht, drückt sich in den jüngsten Übereinkommen der UNESCO aus. Es ist nicht mehr Hauptziel, Kultur zu schützen und Kulturschätze zu bewahren. Es werden vielmehr die Förderung und die Pflege eines lebendigen Kulturerbes darin verankert. Für das vorliegende Forschungsvorhaben wird der Begriff des inkorporierten Wissens eine zentrale Bedeutung für das Erfassen der Funktion kultureller Praktiken innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse haben. Um diesen Wissensbegriff zu formulieren und im wissenschaftstheoretischen Diskurs zu verorten, bietet der Begriff der Wissenskultur einen möglichen Rahmen. Der Begriff der Wissenskultur fand seine Begründung im deutschen Forschungsdiskurs mit einer Definition durch das Frankfurter Forschungskolleg. Die Basis für die Begriffsdefinition ist ein Verständnis von Kultur als Praktiken in einem sozialen Raum. Die Praktiken sind gleichermaßen an Hintergrundüberzeugungen, an Strategien und Ziele gebunden. Kulturen sind ferner innerhalb von Machtverhältnissen zu verorten. Wissen tritt diesem Konzept zufolge stets in historisierter Form auf. In der Geschichte menschlicher Kulturen lässt sich eine

in ensuring democratic access to culture‘.“ UN Creative Economy Report, S.5. Der Terminus ‚cultural industries‘ findet sich in den Dokumenten der UNESCO definiert als jene „industries, that combine the creation, production and commercialization of contents which are intangible and cultural in nature. These contents are typicaly protected by copyright and they can take the form of goods or services.“ Ebd. 29 Im kritischen Diskurs werden zunächst die grundsätzlichen Differenzierungen der inhaltlichen Indikationen von ‚cultural‘ and ‚creative‘ vorgenommen, um dann ebenso auf die pragmatischen Indikationen, begrifflichen Konnotationen und Verwendungen für die Konzepte von ‚cultural industries‘ und ‚creative industries‘ zu verweisen. Siehe insbesondere bei Throsby: From Cultural to Creative Industries; sowie Segers/Huijgh: Clarifying the complexity and ambivalence of the cultural industries.

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Pluralität solcher Wissenskulturen nachweisen.30 Desweiteren wird Wissenskultur als ein Prozess begriffen: Wissenschaftsgeschichte bzw. Prozesse der Wissensproduktion, -distribution und -konsumtion verstehen sich als ein komplexes, sich historisch veränderndes und in je verschiedene historische Konfigurationen eingelassenes Gewebe von intellektuellen wie materiellen Handlungen und Austauschbeziehungen im Sinne sozialer Phänomene.31 Das Verständnis von Wissen ist demzufolge einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterworfen, ebenso wie die legitimierten und ausagierten Wissensbestände innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht knüpft Knorr-Cetina in ihren Ausführungen zum Begriff der Wissenskulturen im Wesentlichen an den Begriff der Wissenskultur an. Sie formuliert ein mögliches Fundament für ein Konzept des inkorporierten Wissens. Sie bezieht sich auf die Wissensformen und Wissensbestände, welche einem spezifischen Wissensgebiet zuzuordnen sind. Dieses Wissen meint „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die, gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen.“32 Der Prozess der Wissenserzeugung ist an soziale Praktiken und Institutionen, an Mechanismen und Prinzipien, an wissenschaftliche Paradigmen, an empirische Ansätze und technische Instrumente gebunden. In den Praxistheorien entspricht das den Wissensordnungen und dem Praxiswissen; im praxeologischen Ansatz dem Habitusbegriff und den inkorporierten Wissensbeständen. Knorr-Cetina bezieht sich auf ein solches praxeologisches Verständnis von inkorporierten Wissensbeständen, wenn sie auf Strukturverhältnisse aus Interessen, Hierarchien und Herrschaftsstrukturen verweist. Indem sie den Begriff der ‚historischen Koinzidenz‘ formuliert, referiert sie auf historisch generierte Habitusformen, ein generiertes kultu-

30 Detel in Fried/Stolleis: Wissenskulturen, S.181–183. 31 In dieser weiten Definition „wird der Begriff der Wissenskultur nahezu tautologisch. Ebenso wie Wissen in komplexen sozialen Prozessen entsteht und zirkuliert und damit Bestandteil jenes Bedeutungsgewebes wird, das Geertz Kultur nannte, ist mit nahezu jeder Form eines mit sozialem Handeln verbundenen Sinns auch Wissen verbunden. Die Wissenskultur einer bestimmten gesellschaftlichen Konfiguration zu untersuchen heißt dann nicht mehr und nicht weniger als das kulturelle Gewebe jener Konfiguration unter dem Gesichtspunkt des in ihm sich bewegenden Wissens zu untersuchen.“ Epple in Fried/Stolleis: Wissenskulturen., S.127. 32 Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S.11.

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relles Erbe sowie einen durch Strukturverhältnisse gekennzeichneten sozialen Raum oder spezifisches soziales Feld.33 In der Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff teilt Knorr-Cetina die Einschätzungen, dass westliche Gesellschaften zunehmend als Wissensgesellschaften zu kennzeichnen sind. Das meint, dass Wissensbestände und Wissensordnungen in den unterschiedlichen Wissensformen als grundlegendes Element aller Bereiche des sozialen Lebens verstanden werden. Allerdings liegt der Fokus bei ihr noch auf den epistemischen Wissenssystemen.34 Vorausgesetzt, dass Wissen bereits als grundlegendes Paradigma konstatiert wird, so werden den gegenwärtigen Forschungen folgend weitere nicht-epistemische Wissensformen dieses Paradigma erweitern.35 Knorr-Cetina vertritt mit ihrem Begriff der Wissenskulturen einen Begriff von praktischem Wissen „wie es ausgeübt wird – im Rahmen von Strukturen, Prozessen und Umwelten, die spezifische epistemische Kulturen ausmachen.“36 Mit ihrer Konzeption stellt sie für die Forschung die Notwendigkeit auf, die Komplexität und Diversität zeitgenössischer Wissensmaschinerien zu ergründen und schließt den Kreis zum Wissensbegriff der Praxistheorien.37 Somit wird der in vorliegender Studie zu formulierende Wissensbegriff inkorporierter Wissens-

33 Ebd., S.13/14. Sie knüpft an die Begriffe des praxeologischen Ansatzes an. 34 Ebd., S.11/12. Wenngleich Knorr-Cetina bereits den von ihr definierten Wissensbegriff der Wissenskulturen vom epistemischen Wissensbegriff abhebt, da er über das Erkenntnisinteresse der epistemischen Forschung, „diejenigen Strategien und Prinzipien, die auf die Erzeugung von Wahrheit oder äquivalente Erkenntnisziele gerichtet sind“ fokussiert. Dahingegen sollen die Begriffe der Wissenskultur „Wissensstrategien und Prozesse auch in anderen Expertenbereichen erfassen, ebenso wie wissensbezogene Orientierungen und Praktiken im Kontext dieser Bereiche.“ Ebd. Sie formuliert den Wissensbegriff damit im Sinne des praxeologischen Ansatzes. 35 Exklusive Wissenssysteme wie sie von Expertengruppen und ‚Wissensinstitutionen‘ vertreten werden, sind dann nicht mehr ausreichend, um das Spektrum sozialen Lebens in erkenntnisorientierter Hinsicht abzudecken. Zur ‚These der Einheit der Wissenschaft‘ als ein epistemisches Paradigma führt Knorr-Cetina aus: „Es widerspricht der […] Annahme, dass es nur eine wissenschaftliche Methode, eine Art des Wissens und nur eine Wissenschaft gibt. Derartige Annahmen wurden in der Vergangenheit vor allem im Hinblick auf die Geistes- und Sozialwissenschaften und deren spezifische Verstehensproblematik sowie deren Interesse an der Herausarbeitung historischer Partikularitäten infrage gestellt.“ Ebd., S.13/14. 36 Ebd., S.18/19. 37 Ebd., S.11/12.

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bestände als ein immaterielles Kapital durch die Wissenschaftstheorie abgestützt. Desweiteren wird ihm die Befähigung zugesprochen, Erkenntnis- und Wissensformen zu erfassen, die den epistemischen Wissensbegriff transzendieren und aufgrund ihrer Generierung innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse den Dispositionen sozialer Räume entsprechen. Theorie der Praxis Für die Bearbeitung des vorliegenden Forschungsvorhabens wurde die praxeologische Perspektive gewählt. Sie dient als theoretisches Begriffsfundament und als methodische Ausgangsbasis. Entscheidend hierfür ist der permanente Rückbezug auf die Praxis. Berücksichtigt werden dabei zum einen das konkrete Agieren innerhalb bestimmter Struktur- und Machtverhältnisse (soziale Praktiken); zum anderen das Verstehen der Prinzipien der Generierung und des Wandels von Strukturverhältnissen. Zugleich werden auch die Bedingungen des Verstehens selbst reflektiert. Im praxeologischen Ansatz sind soziale Praktiken damit bestimmt, dass die Agierenden strukturspezifische Wissensbestände ausagieren und gleichermaßen durch sie konstituiert werden. Sie korrespondieren einem praktischen Wissen inkorporierter Wissens- und Handlungsstrukturen (Dispositionen).38 Für das Erkenntnisinteresse vorliegender Studie kommt innerhalb des praxeologischen Ansatzes dem holistisch-strukturalistischen Verständnis von Praktiken der Alltagswelt, den potentiellen Verschiebungen von Wissensbeständen und der Öffnung hin zu Sachverhalten des körperbezogenen immateriellen Erfahrungsbereichs eine besondere Bedeutung zu. Der praxeologische Ansatz ordnet sich in den allgemeinen Kontext der Praxistheorien ein. Bei Praxistheorien handelt es sich um wissenschaftliche Analyseansätze, deren Erkenntnisinteresse sich auf das Erfassen sozialer Praktiken inner-

38 Vgl. bei Reckwitz: Reproduktion als Subversion Sozialer Praktiken, in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.44/45. Innerhalb der Praxistheorien differenziert Reckwitz zwei entgegengesetzte Prinzipien der Reproduktion dieser Strukturverhältnisse: setzt Bourdieu die ‚Routinisiertheit und Reproduktivität als Normalfall‘ voraus, betont Butler die ‚Normalität der Subversion‘, d.h. des ‚Potenzials der ständigen Durchbrechung eingespielter Routinen‘. Ebd., S.46. verwiesen sei ferner auf ders.: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S.282–301; ders.: Toward a Theory of Social Practices, S.243–263.

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halb spezifischer Strukturverhältnisse richtet. Sie fundamentieren sich auf der so genannten Praxiswende.39/40 Der cultural turn und die weiterführende Praxiswende (practical turn) stehen für einen Paradigmenwechsel innerhalb der Praxistheorien. Es geht nicht mehr darum, für den Forschungsgegenstand in erklärender Weise eine regelhafte kausale Kette festzulegen oder innerhalb der semiotischen Perspektive aufeinander bezogene Zeichen und Bedeutungen vermittels ihrer Interpretation zu entschlüsseln. Mit dem cultural turn und dem practical turn werden die sozialen bzw. kulturellen Praktiken innerhalb einer Gesellschaft fokussiert und versucht, sie in ihren ‚Funktionsmechanismen‘ und ihrer ‚Sinnhaftigkeit‘ zu erfassen. Kann der cultural turn einer Auseinandersetzung mit neuen Themen innerhalb gesellschaftlicher Funktionsmechanismen zugeordnet werden, so geht aus der Diskussion theoretischer und methodischer Ansätze zum Erfassen kultureller Praktiken die so genannte Praxiswende hervor.41 Die konsequente Verortung von Praktiken auf der Ebene der Praxis ist kennzeichnend für den practical turn. Die Kategorien Raum, Zeit und Prozesshaftigkeit gesellschaftlicher Situationen erhalten eine grundlegende Bedeutung. In

39 In der durch Reckwitz vorgenommenen Systematisierung der Kulturtheorien konstatiert er die Synthese der beiden unterschiedlichen Ansätze des Strukturalismus und der Tradition der interpretativen Sozialtheorie. Als grundlegend für deren Entwicklung benennt er die Überwindung des Subjektivismus-Objektivismus-Dualismus, die Dezentrierung des Subjekts, der Analysegegenstand des ‚Mentalen‘ wird eingetauscht durch den Aspekt der Körperlichkeit und den Aspekt kollektiver Wissensordnungen. Vgl. bei Reckwitz: Transformation der Kulturtheorien, S.356–361. 40 Prinz/Wuggenig differenzieren die Heterogenität des Felds der Praxistheorien: „Allerdings ist es nicht ganz zutreffend von ‚den‘ Praxistheorien zu sprechen, da sich hinter diesem Oberbegriff ein äußerst heterogenes Feld von Zugängen verbirgt. Neben Bourdieu, eine der Leitfiguren des ‚practice turn‘, werden noch eine Reihe weiterer Ansätze – wie etwa Bruno Latours Aktor-Netzwerk Theorie (ANT), Judith Butlers Theorie der Performativität oder Michel Foucaults Analyse der Selbsttechnologien – zur Praxis-Wende gezählt.“ Prinz/Wuggenig: Kunst und Praxistheorie, S.5. 41 Begründet sind der cultural turn und die Praxiswende in den gesellschaftlichen Veränderungen und damit ebenso im wissenschaftlichen Interesse: die klassische Sozialstrukturanalyse kann die sich verändernde Gesellschaft nur unzureichend erfassen, so dass die Frage nach der kulturellen Konstitution interessant wird. Die Sinnhaftigkeit der alltäglichen Praktiken und die differenzierten Lebensstile werden relevante Aspekte für die Erfassung gesellschaftlicher Funktionsweisen. Vgl. bei Reckwitz/Sievert: Interpretation, Konstruktion, Kultur, S.21.

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Abgrenzung zum vorangegangenen cultural turn, dem es vor allem um das Erfassen kultureller Praktiken geht, liegt der Fokus auf dem Funktionszusammenhang zwischen einzelnen situationsspezifischen Elementen.42 Den Funktionsmechanismen und ‚Sinnhaftigkeiten‘ der Praxis werden praxisgebundene Wissensbestände zugeordnet. Sie bestehen aus nicht-rationalen und nicht-faktischen Wissensformen: sie umfassen intuitives und emotionales Wissen, Lernprozesse (learning by doing), inkorporierte Wissensformen (embodied knowledge), aber auch in Praktiken ausagiertes Wissen (performed knowledge).43 Mit dem practical turn wird das Konzept der Praxis als theoretischmethodisches Fundament etabliert und nimmt im wissenschaftlichen Paradigma eine hervorragende Stellung ein.44 Der Begriff der Praxis wurde bereits seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend aufgegriffen. Er findet sich nunmehr in einer vielfältigen Gebrauchs- und Definitionsweise in unterschiedlichen Forschungsbereichen und Disziplinen wieder. 45 Der Praxisbegriff fokussiert die Indikationen des Ausagierens sozialer Praktiken, deren Genese und Funktionsmechanismen sowie die sozialen Strukturen, die sie

42 Reuter: Postkoloniales Doing Culture, in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.239/240. 43 Vgl. Alkemeyer, u.a.: Ordnung in Bewegung, S.10–12. 44 In der Wissenschaftslandschaft ist der Praxisbegriff, Prinz/Wuggenig folgend, in mindestens drei unterschiedlichen theoretischen Kontexten auszumachen: Zunächst gehört der Praxisbegriff seit jeher zum Kern der Tradition des Pragmatismus. Dann steht das Konzept in einem engen Zusammenhang mit dem Aufschwung des Kulturbegriffs, der Kulturtheorie und der verschiedenen Spielarten von Kulturwissenschaften sowie der Cultural Studies. Darin steht er in erster Linie für die Prozesshaftigkeit und Handlungsbasiertheit von kulturellen Bedeutungssystemen. Schließlich verzeichnet die neuere (Kultur-)Soziologie in den 1990er Jahren den so genannten practice turn (Schatzki u.a.), dessen Fokus weniger auf der Durchsetzung des Kulturbegriffs in einer bestimmten Spielart, als auf der Abgrenzung von bestimmten soziologischen und ökonomischen Paradigmen, wie der Distanzierung von handlungstheoretischen Ansätzen, liegt sowie auf der Opposition zu systemtheoretischen und strukturalistische Zugängen. Der Gebrauch des Ausdrucks Praxis ist inhomogen und variiere, so Prinz/ Wuggenig, „nach politischem und analytischem Interesse, sozialen Kontexten und theoretischen Gegenspielern“. Prinz/Wuggenig: Kunst und Praxistheorie, S.4. 45 Prinz/Wuggenig differenzieren die signifikanten Praktiken der Praxis in den verschiedenen Disziplinen in diskursive, signifizierende, mediale und repräsentationale, genderspezifische und soziale oder auch widerspenstige, kritische und subversive Praktiken; sowie im kunstkritischen und kuratorischen Jargon seit den frühen 1990er Jahren den Ausdruck der Kunstpraktiken. Ebd., S.4.

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konditionieren oder durch die sie konditioniert werden.46 Der Begriff der Praxis findet sich insbesondere in der praxeologischen Perspektive als eine konkrete soziale Situation des Agierens (Situationsgebundenheit) bestimmt, das notwendig körper-, bzw. objektgebunden ist (Körperlichkeit und Materialität) sowie einer räumlichen und zeitlichen Strukturierung (Strukturiertheit) unterliegt. Diese Bestimmungen korrespondieren relationalen Verhältnissen und impliziten Prinzipen des Funktionierens. Die gilt es letztendlich zu erfassen.47 Im Zusammenhang mit dem Ausagieren kultureller Praktiken als situationsspezifische (u.a. Bourdieu) oder translokale (u.a. Reuter, Bhabha48) Praxisformen wurde das Konzept der kulturellen Wissensproduktion innerhalb des Praxisparadigmas zunehmend von Bedeutung und eine fundamentierende Kategorie in der Diskussion um das Erfassen kultureller Praktiken.49 Es kann darüber hinaus eine stringente Entwicklung nachvollzogen werden, dass ausgehend vom cultural turn die Praxiswende in den Kulturtheorien Einzug hielt. Es ist eine Weiterentwicklung ausgehend von den kulturellen Praktiken (cultural doing), über den Körperbegriff (body turn), hin zum Aspekt des Performativen (performativ turn) als grundlegendes Paradigma zu beobachten. Reckwitz zeichnet eine weitere Tendenz in den Praxistheorien nach und konstatiert eine Verlagerung von Wissensordnungen als Sammelbegriff für ‚kulturelle Schemata‘, ‚Deutungsmuster‘, ‚symbolische Codes‘ hin zu einer an eine Materialität des Sozialen bzw. des Kulturellen gebundenen Form von Wissen.50

46 Hörning: Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung, in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.29/30. 47 Vgl. u.a. zu Situationsgebundenheit bei Bourdieu: Sozialer Sinn, S.114ff; zu Körperlichkeit bei Bourdieu: Meditationen, u.a. S.201ff; Bourdieu: Sozialer Sinn, S.145; zu Strukturiertheit bei Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S.318; S.164–199; Bourdieu: Sozialer Sinn, S.140; 105; 122; Bourdieu: Meditationen, S.172/173, S.223/224; Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S.277ff. 48 Verweis u.a. auf Bhabha: The Location of Culture, Routledge. 49 Vgl. hierzu vor allem Ansätze aus den Bewegungswissenschaften und Tanzwissenschaften mit deren Versuchen, Begriffe spezifischer Wissensformen wie Bewegungswissen und Tanzwissen zu formulieren; siehe dazu die Ausführungen und bibliographische Verweise im Kapitel Argumente und Konsequenzen, insbesondere darin den Abschnitt Argumente für das immaterielle Kulturerbe. 50 Vgl. dazu Reckwitz: Transformation der Kulturtheorien, S.708–713. Innerhalb der Praxistheorie haben sich unterschiedliche Herangehensweisen an das Erfassen der Praxis, der Kennzeichnung der Praktiken und der Wissensgenerierung entwickelt. Reckwitz verdeutlicht das mit zwei konträren Ansätzen: er konfrontiert Bourdieus

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Bourdieus praxeologischer Ansatz stellt konkrete Kategorien zur Erfassung des zu bearbeitenden Themenbereichs zur Verfügung. Dazu gehören der Aspekt der Inkorporierung als grundlegende Kategorie der Reproduktion sozialer Strukturund Machtverhältnisse, der Funktionsmechanismus aus institutionellen und habituellen Praktiken sowie die Einbindung körpergebundener Praktiken in soziologische Analysen.51/52 Den Agierenden wird darüber hinaus eine Schlüsselfunktion für das Funktionieren der Alltagswelt zuerkannt.53 Die Intention des praxeologischen Ansatzes besteht darin, die zugrundeliegenden Relationen im sozialen Raum, die Dispositionen der Positionen darin, bzw. die diese besetzenden Agierenden, die daraus resultierenden Praktiken, Wissensbestände und symbolischen Güter der Praxis sowie die generierenden Prinzipien dieser spezifischen Strukturverhältnisse zu erfassen. Es geht darum, den Forschungsgegenstand nicht nur zu beschreiben, sondern die Beziehungen, Abhängigkeiten und daraus entstehende Bedeutungsvarianten als auch die den Praktiken innewohnenden Dispositionen offen zu legen. Ziel ist es, ihn umfassend und annähernd frei von vorkonstruierten Konzepten zu erfassen. Um diese Theorie der Praxis als theoretischen Zugang und als Analysemethode für neuartige Forschungsgegenstände anzuwenden, ist es notwendig, spezifische Begriffe für die konkrete Untersuchungssituation zu entwickeln. Die Instrumente des pra-

Axiom der Normalität als Routiniertheit und Reproduktivität mit Butlers Annahme der Unberechenbarkeit der Praxis; sie „betont die Normalität der Subversion, d.h. des Potenzials der ständigen Durchbrechung eingespielter Routinen von Performances.“ Reckwitz: Reproduktion als Subversion Sozialer Praktiken, S.46. 51 Bourdieu führt den leiblichen Charakter von Erkennen, Wissen und Handeln ein. Das in einem Feld Beobachtbare ist an das körperliche Agieren durch die Akteure mittels deren motorischen, mentalen, emotionalen oder sensitiven Schemata gebunden. Vgl. bei Bourdieu: Meditationen, S.175ff. 52 In der Diskussion um Subjektivität, Objektivität und inkorporierte Struktur, bzw. der resultierenden Frage nach deren Verstehen, formuliert Kusch aus dem lateinamerikanischen Diskurs heraus eine weitere, die eurozentrische Diskussion erweiternde, aber an Bourdieus Verständnisbegriff erinnernde Position, indem er das Verständnis der gegenwärtigen Praxis als eine ‚konstruktive Materialisierung einer pre-objektiven Subjektivität‘ versteht. Vgl. bei Kusch: America Profunda, S.158/159. 53 Schwingel führt aus: „Bourdieus Auffassung zufolge sind nun die vom Objektivismus tendenziell ignorierten sozialen Akteure mit ihren praktischen Erfahrungen und Alltagserkenntnissen konstitutiver Bestandteil der sozialen Welt und müssen in dieser Eigenschaft von der soziologischen Analyse, neben den objektiven Strukturfaktoren, berücksichtigt werden.“ Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung, S.49.

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xeologischen Zugangs sind offene Begriffe. Sie stehen für Forschungs- und Analysewerkzeuge, die auf einen bestimmten Forschungsgegenstand oder ein beabsichtigtes Vorgehen hin definiert werden können.54 Ausgangsbasis für die Analyse kultureller Praktiken werden in dieser Arbeit die Theorie des Felds und des feldspezifischen Habitus als die Grundpfeiler des praxeologischen Ansatzes sein. Als adäquater theoretischer Rahmen für vorliegendes Forschungsvorhaben erweist sich insbesondere das der Habitustheorie zugehörige Wissenskonzept der Inkorporierung sozialer Strukturverhältnisse in Form korrespondierender Praktiken.55 Die relevanten Ansatzpunkte in den von Bourdieu erarbeiteten Konzepten sind die Inkorporierung der Strukturen (Habitus und Körperhexis), das kulturelle Erbe, die Sprache als eine Habitusform, feldspezifische Kapitalformen und Interessen, die sozialen bzw. kulturellen Praktiken, der Raum des Möglichen und das kulturell Unbewußte. In Bezug auf die gegebenen Machtverhältnisse sind weitere relevante Aspekte die Legitimationsstrukturen und Anerkennungsmechanismen mit den korrespondierenden Werten, die Reproduktionsmechanismen sowie die darin gegebenen potentiellen Möglichkeiten für einen Wandel der Strukturverhältnisse. Die Anwendung dieser theoretischen Konzepte auf den spezifischen Analysemoment des Tangos erlaubt eine Vernachlässigung der in Bourdieus Arbeiten Priorität besitzenden Aspekte der Positionskämpfe und der Distinktionsanalyse zugunsten der Herausarbeitung der Kategorien Inkorporierung von Wissensbeständen und Habitusformen.56 Die kulturelle Praktik Tango weist aufgrund der

54 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder, S.125; sowie ebd., Vorwort, S.14/15. Im Rahmen einer praxeologischen Analyse müsste darüber hinaus berücksichtigt werden, dass ohne Rückbindung an den Forschungsprozess diese Begriffe nicht die soziale Welt beschreiben können und das Verstehen der sozialen Welt der Reflexion des Forschungsprozesses selbst, insbesondere der Wirkung des Theorieeffekts bedarf. In diesem Sinne gibt Gebauer zu bedenken, dass in der Diskussion um die Analyseinstrumente Bourdieus ein zu hoher Anspruch an ein umfassendes Konzept und geschlossene Definitionen gestellt wird. Vgl. Gebauer in Alkemeyer, u.a.: Aufs Spiel gesetzte Körper, S.88. 55 Eine kompakte zusammenfassende Darstellung des Feldkonzepts bietet Bourdieu: Soziologische Fragen. Über die Eigenschaften von Feldern; sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder. Außerdem sei verwiesen auf die Ausführungen im folgenden Kapitel, Abschnitt zur Feldtheorie. 56 Diese Konsequenz stützt die kritische Lektüre Bourdieus. Fünf grundlegende Kritikpunkte in Bezug auf die Konzepte der praxeologischen Perspektive sind seitens der Bourdieu-Forschung eingeführt worden: die Unterdefinition des Konzepts von Kör-

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Besonderheit ihrer Ausdrucksformen Indikationen auf, die über die bei Bourdieu ausgearbeiteten Kategorien hinausreichen. Das gilt ebenso für das relativ neue institutionelle Element immaterielles Kulturerbe und für die institutionellen Praktiken der staatenübergreifenden Organisation UNESCO. Aufgrund dieser Besonderheiten werden die bourdieuschen Konzepte erweitert und spezifiziert.57 Hierfür erfolgt eine Anbindung der theoretischen Konzepte und Analysekategorien Bourdieus an Begriffe der Kultur- bzw. Körpersoziologie, der Bewegungssoziologie und der Dance Studies. Ziel dieser Auseinandersetzung mit den Begriffen Bourdieus ist es, seinen theoretischen Ansatz und seine methodischen Werkzeuge auf kulturelle Praktiken anwenden zu können. Empirie der Praxis Die für die Erarbeitung des Forschungsanliegens notwendigen empirischen Daten werden mit einer distinktiven Diskursanalyse von Diaz-Bone erhoben und analysiert. Sie basiert auf Bourdieus Arbeiten zum sprachlichen Habitus und den

perlichkeit, das zu unkonkrete Habituskonzept im Hinblick auf den Erwerb bzw. die Transformation des Habitus, die Unterdefinition des mit dem Habitus korrelierenden inkorporierten Wissens sowie des an solche Wissensformen gebundene Handelns, der unterdefinierte Begriff der Entwicklung im Feld, das meint die gesellschaftliche Entwicklung, die Begriffsdefinitionen von Subjekt und Kultur. 57 Bourdieu spricht selbst von der Notwendigkeit solcher Erweiterungen; siehe die Vorträge zum sozialen Raum Japan und zu den Kapitalformen in der DDR in Bourdieu: Praktische Vernunft, S.13–32. An anderer Stelle formuliert Bourdieu: „Mit meiner Analyse eines historischen Falls liefere ich ein Programm für andere empirische Analysen unter anderen Verhältnissen als den von mit untersuchten. Sie ist eine Aufforderung zur schöpferischen Lektüre und zur theoretischen Induktion, die von einem gut konstruierten besonderen Fall ausgehend verallgemeinert.“ Bourdieu: Soziologie als Beruf, S.278. Anlehnend an bourdieusche Konzepte formulieren überzeugende Ansätze für das Erfassen kultureller Praktiken Grossberg mit seinen Arbeiten zum Rock (Grossberg: Dancing in Spite of Myself) sowie Williams mit seinen Arbeiten zum Zugang zu kulturellen und tänzerischen Praktiken (Williams: Culture). Darüber hinaus finden sich Analysen spezifischer Praktiken aus Feldern kultureller Produktion, u.a. Savage: The Musical Field, Prior: Putting a Glitch in the Field: Bourdieu, Actor Network Theory and Contemporary Music, Heise/Tudor: Constructing (Film) Art, Entwistle/Rocamora: The Field of Fashion Materialized: A Study of London Fashion Week, Emirbayer/Johnson: Bourdieu and organizational analysis.

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Distinktionsmechanismen sowie auf Foucaults Diskursordnungen.58 Die distinktive Diskursanalyse als Methode der Diskursformationsanalyse hat das Ziel, die vorgefundenen Diskursverhältnisse und deren Relation zu den Strukturverhältnissen zu rekonstruieren. Sie stellt für die Analyse der Bedeutung kultureller Praktiken, der Funktionsmechanismen institutioneller Praktiken sowie des Ausagierens so genannter immaterieller Werte und diskursiver Strategien sinnvolle Werkzeuge zur Verfügung.59 Bei dem zugrundeliegenden empirischen Datenmaterial handelt es sich um einen Textkorpus. Es umfasst die UNESCO-Dokumente zur Kulturerbekonvention sowie Dokumente, Narrationen und Beschreibungen der kulturellen Praktik Tango. Diese Datensamples entstammen signifikanten zeitlichen Analysemomenten. Sie werden zunächst mit einer distinktiven Diskursanalyse erhoben. Die erarbeiteten Analysekategorien des praxeologischen Zugangs werden dann für die Interpretation der Analyseergebnisse herangezogen. Damit erfolgt zugleich eine Rückführung auf den theoretischen Rahmen. Die Zusammenführung des erhobenen Datenmaterials aus der Diskursanalyse mit den bourdieuschen Kategorien erfolgt vermittels der Typenformierung nach Kelle/Kluge.60 Ziel dieser Analyse ist es, den Funktionsmechanismus innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse aus institutionellen und nicht institutionalisierten Akteuren und Praktiken zu erfassen. Es wird keine klassische Diskursanalyse61 durchgeführt, da diese die Untersuchung auf die reine Textebene reduziert und die Ergebnisse nicht unmittelbar auf die praxistheoretischen Grundlagen zurückgeführt werden können; das gilt ebenso für Ansätze der Semiotik, die mit einem textuellen Bezug auf die erfassten Elemente der Praxis vorgehen, um Bedeutung und Bedeutungsstrukturen heraus zu arbeiten. Diese Ebene ist nicht ausreichend, um die komplexen Funktionsmechanismen in der Praxis und in der Überschneidung von institutionellen und populären Praktiken zu erfassen.

58 Vgl. Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. 59 Kritische Stimmen bestärken das Vorgehen, diese weiter zu entwickeln oder zu erweitern. Dirksmeier argumentiert beispielsweise zu den methodischen Werkzeugen Bourdieus: „Der französische Soziologe verfolgt selbst kein kohärentes und methodisch stabiles Verfahren der Habitusanalyse, sondern vollzieht vielmehr im Laufe seiner empirischen Arbeiten eine methodische Wende von einer quantitativpositivistischen Methodik (Bourdieu, 1987b) hin zu einem radikal qualitativhermeneutischen Verfahren, das er mit dem plakativen Titel ‚Verstehen‘ überschrieben hat (Bourdieu, 1997a).“ Dirksmeier: Mit Bourdieu gegen Bourdieu empirisch denken, S.75/76. 60 Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. 61 Wie sie beispielsweise von Keller: Diskursforschung bereitgestellt wird.

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WERT DES IMMATERIELLEN ALS PERSPEKTIVE Die Fragestellungen vorliegender Forschungsarbeit wurden wissenschaftlich bisher nicht bearbeitet. Das ist in erster Linie dem geschuldet, dass das ‚Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes‘ erst im Jahr 2003 verabschiedet und der Tango im Jahr 2009 zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurde. Deshalb konnte eine umfassende Diskussion zum Thema Tango als immaterielles Kulturerbe bislang nicht erfolgen und sich noch kein wissenschaftlicher Diskurs zum Konzept des immateriellen Kulturerbes etablieren. (Stand 2015) Die Tanzwissenschaft könnte Argumente für das Verständnis von Tanz und von anderen an Körperlichkeit gebundenen kulturellen Ausdrucksformen als Praktiken des so benannten ‚Immateriellen‘ (i.S. des ‚Flüchtigen‘ der Körperbewegungen) entwickeln. Doch hat sie sich erst in den letzten 20 Jahren aufbauend auf den Fundamenten der Cultural Studies sowie der Kultur-, Bewegungs- und Körpersoziologie etabliert. Im deutschsprachigen Raum gab es in den letzten Jahren die staatliche Förderung tanzplan, in deren Rahmen erstmalig eine umfangreiche Publikationsreihe zum Forschungsstand Tanz in Deutschland und mit Blick auf die Forschungen in der Schweiz, Frankreich und USA realisiert wurde. Im englischsprachigen Raum (hier vor allem zu nennen Thomas, McFee, Desmond, Leigh Foster, Reed, Sheets-Johnstone) orientiert sich die Forschungsarbeit zum Tanz aufgrund der ausgeprägten Entwicklung des Modern Dance und Contemporary Dance im Rahmen der Dance Studies an Körperkonzepten62 und performativen Akten63, an Genderfragen und am Tanz als künstlerisches Phäno-

62 In den Tanzwissenschaften ist das Konzept von ‚Körperwissen‘ als epistemologischer Ansatz seit Beginn der 2000er Jahre fest verankert. So formuliert beispielsweise Parviainen in Anlehnung an die Konzepte von Polanyi und Sheets-Johnstone das Fazit in Bezug auf die epistemologische Relevanz des Konzepts Körperwissen. Obwohl sie nicht direkt auf Bourdieus Konzepte referiert, basieren die Schlussfolgerungen für die epistemologischen Grundsätze der Tanzwissenschaften auf (den bourdieuschen Vorläufern) Polanyi und Merleau-Ponty, welche explizit das Körperwissen als ein nichtrationales und inkorporiertes, aber unbedingt Subjekt und Gesellschaft konstituierendes Wissen definiert haben. Vgl. Parviainen: Bodily Knowledge, S.22/23. 63 Desmond formuliert eine Positionierung hinsichtlich der Stärkung der Bewegung als Kategorie der sozialen Funktionsmechanismen und Ausdrucks-, bzw. Identitätsformen. Sie verortet die kinesthetischen Ansätze in Verbindung mit dem semiotischen Verständnis zur Erfassung von Tanz als kulturelle Praktik in all seinen Ausformungen innerhalb der Cultural Studies. Vgl. Desmond: Embodying Difference, S.34/35.

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men64 sowie im Rahmen der Cultural Studies mit dem Schwerpunkt der populären Tanzformen an seinem kritischen Potential65 und am Thema der Identitäten. Bereits aus der umfangreichen kritischen Literatur zu Bourdieu wird deutlich, dass das formulierte Erkenntnisinteresse dieser Arbeit mit dem praxeologischen Ansatz adäquat bearbeitet werden kann. In Bezug auf das Verstehen von kulturellen Praktiken wird vor allem auf die beiden Aspekte der Strukturverhältnisse als Machtrelationen innerhalb der Feldtheorie sowie der Inkorporierung von Strukturverhältnissen innerhalb der Habitustheorie verwiesen. In der Diskussion seiner theoretischen Konzepte und methodischen Instrumente werden verschiedene thematische Ansatzpunkte und Perspektiven der Kritik formuliert, die zum Teil in dieser Arbeit aufgegriffen werden.66

64 Wenn sich auch zunehmend die Forschungsarbeit zum Tanz auf den Konzepten Bourdieus fundamentiert. Desmond stellt einen Bezug zum Anliegen der Forschungen in den Dance Studies her: „Like Bourdieu‘s concept of ‚taste‘ (Distinction), movement style is an important mode of distinction between social groups and is usually actively learned or passively absorbed in the home and community. […] Its articulation signals group affiliation and group differences, whether consciously performed or not.“ Desmond: Embodying Difference, S.36. 65 Mit Reed findet sich begründet, dass Tanz als körperbasierte Praktiken zugleich politische Indikationen implizieren, die die Dance Studies in Anlehnung an anthropologische Forschungen und postkoloniale Ansätze zu erfassen suchen. Hierbei werden – auch für vorliegende Studie relevante – Begriffe wie Macht, Nationen, Identität und Globalisierung formuliert. Wichtiger Ansatzpunkt dieser Position ist das Paradigma des Körpers bzw. der Körperlichkeit als bedeutungstragender und wirkender Aspekt innerhalb sozialer Zusammenhänge – der so genannte body turn. Liegt Reeds Fokus für die Bedeutungsanalyse von Tanz innerhalb sozialer Strukturen auf der ethnischen Identität, auf postkolonialen Aspekten und auf der Genderfrage, so wird doch deutlich, welche konstituierende Funktion dem Tanz für die Entwicklung einer sozialen Struktur (Gruppe, Staat) oder Akteure hat und dass institutionelle Macht auf Tanzpraktiken Einfluss übt. Reed betont die Bedeutung des Tanzes vor allem im Hinblick auf politische Ideologien und deren Strategien zur Durchsetzung ihrer Interessen. Vgl. Reed: The Politics and Poetics of Dance, S.503–532. 66 Seit den 1990er Jahren ist eine verstärkte Bourdieu-Rezeption zu verzeichnen, die mit seinem Tod im Jahr 2002 noch zugenommen hat. Vgl. Rehbein/Saalmann/Schwengel: Theorie des Sozialen, Alkemeyer/Boschert/Schmidt/Gebauer: Aufs Spiel gesetzte Körper, Grossberg: What’s going on?, Leigh Foster: Corporealities. Dancing Knowledge, Culture and Power, Shusterman: Bourdieu. A critical Reader, Desmond: Em-

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Die Kritik bezieht sich vor allem auf die spezifischen Charakteristika kultureller Praktiken: ihre Körpergebundenheit, das so genannte ‚Flüchtige‘ und die inkorporierten Wissensbestände bzw. das praktische Wissen. Sinnvolle Erweiterungen und Spezifizierungen der bourdieuschen Konzepte finden sich in der Kultur- bzw. Körpersoziologie67. Ebenso werden die Begriffe ‚tacit knowledge‘ (Polanyi 1966), ‚embodiment‘ (Csordas 1990/1994) und ‚Körperwissen‘ u.a. bei Alkemeyer (2003) und Keller/Meuser (2011) auf ihre Relevanz für die Analysearbeit geprüft. Gleiches gilt für Begriffe aus den Bewegungs- bzw. Tanzwissenschaften, insbesondere der Bewegungssoziologie und der Dance Studies.68 Im lateinamerikanischen Forschungsraum finden sich zunehmend Kongresspapiere, wissenschaftliche Arbeiten und Aufsätze zu den Körperkonzepten Bourdieus und zur sozialen Bedeutung kultureller Praktiken.69/70

bodying Difference: Issues in Dance and Cultural Studies, Garcia Canclini: prólogo en Bourdieu: Sociología y cultura. 67 Vgl. Featherstone/Hepworth/Turner: The Body. Social Process and Cultural Theory; Turner: The Body and Society, Shusterman: Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil; Gugutzer: Soziologie des Körpers. 68 Vor allem Brandstetter/Wulf: Tanz als Anthropologie; Alkemeyer: Ordnung in Bewegung; Carter: The Routledge Dance Studies Reader; Thomas: The Body, Dance and Cultural Theory, Klein: Bewegung, Gehm/Husemann/Wilcke (Hg): Wissen in Bewegung, Huschka (Hg): Wissenskultur Tanz. 69 Im Hinblick auf eine Diskussion der tradierten Forschungsparadigmen stützen Intellektuelle des lateinamerikanischen Kontinents jene europäischen Stimmen, welche die Paradigmenwende hin zum Immateriellen verlangen. Kusch verdeutlicht die Perspektivunterschiede innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses: das Paradigma der Auffassung der Praxis als ein Mechanismus oder als ein Organismus und das Verständnis von Praktiken im Gegensatz zum Objekt. Vgl. Kusch: America Profunda. Die den wissenschaftlichen Diskurs in Lateinamerika, konkret Argentinien, zuzuordnenden Autoren stützen die Veränderung hin zu einer praxeologisch ausgelegten Forschung dahingehend, dass sie auf die Theorieansätze der Praxistheorien referieren, um den Fokus auf die kulturellen Praktiken, auf die Wirkmechanismen der Praxis und auf Aspekte des Subjektiven zu legen. Vor allem zu nennen sind Galak: El concepto cuerpo en Pierre Bourdieu; Gutiérrez: Poder, hábitus y representaciones; García Canclini: prólogo a Bourdieu, P., in Sociología y cultura; Polti: Las formas contemporáneas del tango; zu den gegenwärtigen Veränderungen des Tango vor allem bei Liska: El tango como disciplinador de cuerpos ilegítimos-legitimados und Pelinski: Tango nómade. 70 Insbesondere sei verwiesen auf Polti. Sie argumentiert in Bezug auf den Tango aus einer Position innerhalb des argentinischen akademischen Diskurses mit den theoreti-

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Der erste Ansatzpunkt der Studie sind die Antragstellung und die Ernennung des Tangos zum immateriellen Kulturerbe. Daraus ergibt sich ein erster Themenkomplex, der den Welterbestatus als Konzept umfasst. Der Fokus der Studie liegt darauf, vermittels der Analyseergebnisse die Funktionsmechanismen, die ideellen Intentionen, die hinter den Zielformulierungen der UNESCOKonvention (Nachhaltigkeit und kulturelle Vielfalt) und die Interessen, die hinter der Antragstellung seitens staatlicher Akteure stehen, zu rekonstruieren. Dabei wird anknüpfend an die Analyse der Interessen und Strategien nach der Normativität der Kriterien gefragt. Desweiteren ist von Interesse, inwiefern die Ernennung mit den Kriterien der UNESCO-Konvention und mit dem Selbstverständnis der Akteure des Tangos konformgeht. Mit dieser Fokussierung wird das Nachvollziehen der Genese bis zur Ratifizierung und die anschließende Umsetzung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe vernachlässigt. Ein zweiter Themenkomplex referiert auf den Begriff der kulturellen Praktiken. Dieser wird zunächst als theoretischer Begriff als auch in Bezug auf seine Funktion in der Praxis eingeführt. Ausgehend von den Konzepten des praxeologischen Zugangs, erweitert durch Ansätze der Kultursoziologie und der Bewegungswissenschaften wird ein Verständnis der kulturellen Praktiken formuliert, das insbesondere auch die Veränderungen dieses Begriffs im Forschungsdiskurs und im Prozess der Konventionsumsetzung berücksichtigt. Einen dritten Themenkomplex bilden die Funktionsmechanismen der UNESCO-Konvention und der kulturellen Praktiken, zum einen verortet in den institutionellen Strukturen, zum anderen in der alltäglichen Praxis der Akteure. Es wird angenommen, dass eine Veränderung beider Mechanismen im Moment ihres Ineinandergreifens nachzuweisen ist. Ein besonderer Fokus liegt darauf, wie die Ernennung kultureller Praktiken zum immateriellen Kulturerbe durch die Erfüllung definierter Kriterien realisiert wird. Relevant für das Erfassen der Funktionsmechanismen sind neben den Interessen, Strategien und normativen Bestimmungen, Begriffe der Wissenskulturen und Gedächtniskulturen. Zentrale Ansatzpunkte bilden die Begriffe und Konzeptionen aus Bourdieus Praxistheorie. Es geht grundlegend um drei Aspekte. Erstens um den Zusammenhang der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe und die damit verbundene veränderte Bewertung kultureller Praktiken, vor allem in Bezug auf

schen Konzepten Bourdieus. Die im Tanz nicht zu leugnende Körperlichkeit und damit verbundenen, tänzerischen, körperbasierten Praktiken findet ihre theoretische Erfassbarkeit der Wahrnehmung, Differenzierung und Kategorisierung sowie in der Kontextuierung innerhalb sozialer Strukturen mit Hilfe der Habitustheorie Bourdieus. Polti: Las formas contemporáneas del tango, S.4.

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veränderte Funktionsmechanismen und auf den Begriff inkorporierter Wissensbestände. Der zweite Aspekt referiert auf den Kapitalbegriff: so können die inkorporierten Wissensbestände einer kulturellen Praktik sowie der korrespondierende immaterielle Wert als ein Kapital und deren Legitimierung vermittels der Anerkennung des Kulturerbestatus als eine Kapitalerhöhung aufgefasst werden. Schließlich geht es in einem dritten Aspekt um die Veränderungen innerhalb der Strukturverhältnisse: inwiefern werden Positionen, Relationen sowie korrespondierende Kapitalwerte, Strategien und Interessen verändert, bzw. inwiefern werden Veränderungen (vermittels von Inkorporierungsprozessen) in den Habitusformen und somit in den sozialen Praktiken erkennbar? Die zugrundeliegende Motivation für das vorliegende Forschungsanliegen besteht zum einen im Erfassen der Veränderungen der kulturellen Praktiken und institutionellen Mechanismen, und zum anderen in der Formulierung der Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen. Es wird angenommen, dass in einer ersten Konsequenz das Konzept Kulturerbe zu hinterfragen ist. Berücksichtigt werden dabei die Einbeziehung immaterieller Werte in den Kulturerbe-Diskurs sowie die Einführung der Begriffe des Körperlichen und der inkorporierten Wissensbestände in den Diskurs um soziale Funktionsmechanismen. Es wird desweiteren angenommen, dass in einer zweiten Konsequenz eine veränderte Bewertung der kulturellen Praktiken, konkreter der Bewegungspraktiken (Tanz), zu konstatieren ist. Darauf basierend kann ein Konzept von Bewegungswissen formuliert werden, das die Aspekte des immateriellen (legitimierten) Kapitals der Bewegung, den Körper als (inkorporiertes) kulturelles Archiv und die spezifische Dynamik kultureller Produktion umfasst. Ziel der Forschungsarbeit ist es, auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse einen Begriff von Bewegungswissen zu formulieren, der für die Ausarbeitung von Bewegungsprojekten fruchtbar gemacht werden kann. Leitgedanke hierfür ist, dass Bewegung und im konkreten Fall der Tanz spezifische Wissensbestände impliziert und vermittelt. Bewegung funktioniert in diesem Verständnis sowohl als ein Wissensspeicher als auch als ein – im bourdieuschen Sinne – Raum des Möglichen. Diese Wissensbestände wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten in westlichen Diskursen stark vernachlässigt. Die Einbindung dieses spezifischen Bewegungswissens in den Sozialisationsprozess ermöglicht einerseits erst den Zugang dazu und kann andererseits neue Perspektiven der individuellen und, in dessen Konsequenz, gesellschaftlichen Entwicklung öffnen.

Ansatzpunkte in den theoretischen Begriffen und Analysekategorien Pierre Bourdieus Man könnte in Abwandlung eines Wortes Prousts sagen, Arme und Beine seien voller verborgener Imperative. Und ebenso sind sie voller Geschichten, Erfahrung, Wissen, Formalisierungen und Konditionierungen sowie Optionen für ihr Agieren in Form von Praktiken.1

Bourdieu stellt mit seinem praxeologischen Zugang theoretische Begriffe für das Erfassen und methodische Werkzeuge für die Analyse sozialer Praxis zur Verfügung. Die beiden grundlegenden Konzepte seines Ansatzes sind die Feldtheorie mit den Begriffen Strukturverhältnisse und spezifische Kapitalformen sowie die Habitustheorie mit den Begriffen soziale Praktiken und Praxis. Dieser theoretische Rahmen wird unter der Perspektive des formulierten Erkenntnisinteresses dargestellt. Der Fokus liegt dabei auf den relevanten Aspekten für die Analyse der Funktion und der Veränderung kultureller Praktiken innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse, als auch für den weiter gefassten Bereich der immateriellen Güter und des kulturellen Erbes. Daran schließt die verdichtende Formulierung themenspezifischer Konzepte an. Die Konzepte bauen sowohl auf theoretischen Begriffen des praxeologischen Ansatzes als auch auf den methodischen Analysekategorien für kulturelle Praktiken auf. Dieser Zugang ermöglicht das Erfassen alltäglicher Praktiken, das Differenzieren und Erweitern der Formen von Wissensbeständen sowie die Öffnung hin zu Sachverhalten des körperbezogenen, immateriellen Erfahrungsbereichs. Diesen Aspekten kommt zugleich eine besondere Bedeutung zu. Die themenspezifischen Konzepte sind die Grundlage für die abschließende Ergebnisdiskussion im Anschluss an die konkreten Analysen. Die methodischen Ansatzpunkte und 1

Bourdieu: Sozialer Sinn, S.128.

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Analysekategorien dienen darüber hinaus als Zwischenschritt der Interpretation für die konsistente rekonstruierende Beschreibung im Anschluss an die Auswertung der Analyseergebnisse.

HABITUS UND PRAXIS, PROZESSE UND FUNKTIONSMECHANISMEN Die Feldtheorie und die Habitustheorie bilden den Rahmen des praxeologischen Zugangs. Er umfasst die Begriffe inkorporierte bzw. materialisierte Strukturverhältnisse und Praxis, gleichermaßen gehören konstituierende Prozesse und Funktionsmechanismen dazu. Feldtheorie2 Den theoretischen Grundbegriff seiner Feldtheorie definiert Bourdieu mit dem Feld als ein Netz von Positionen, die miteinander in Beziehung stehen. Jede Position [situs] ist durch ihre potentiellen Eigenschaften bestimmt. Diese entstehen aus der Entwicklung des Felds heraus. Sie legen die Position im Beziehungsnetz fest und deren Relation zu allen anderen Positionen darin. Die Relationen wiederum entstehen in Abhängigkeit von der Verteilung von Kapitalformen, die den Positionen zugehörig sind. Sie definieren sich schließlich als Machtbeziehungen und daraus resultierenden Hierarchien zwischen den Positionen. Das Agieren [Praktiken] der Inhaber der einzelnen Positionen [Akteure] entspricht deren potentiellen Eigenschaften [Dispositionen] und deren Positionierung [situs] innerhalb des Beziehungsnetzes. Relationen, Positionen und Praktiken stehen in einer permanenten Wechselbeziehung.3

2

Eine komprimierte zusammenfassende Darstellung des Feldkonzepts bietet: Bourdieu: Soziologische Fragen. Über die Eigenschaften von Feldern, S.107–114; sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder, S.124–147.

3

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.127 sowie Bourdieu: Regeln der Kunst, S.365/366. Das Konzept des Felds erlaubt eine Analyse einer gesellschaftlichen Struktur, die zeit- und ortgebunden einem spezifischen Interesse unterliegt. Liegt das Analyseinteresse in der Darstellung einer definierten Gesellschaft – das können Nation, Kulturgemeinschaft oder geographisch begrenzte Gruppe sein –, dann spricht Bourdieu von einem sozialen Raum. Die Akteure nehmen Positionen in der Raumstruktur ein. Die ‚analysis situs‘ dieser Raumpunkte erschließt die Dispositionen der Akteure, indem sie die Eigenschaften der Positionen berücksichtigt, die Relationen zu

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Alle Akteure innerhalb einer Feldstruktur haben spezifische Interessen und Interessensobjekte gemeinsam. Jede Position weist diese Feldinteressen auf. Darüber hinaus sind jeder Position weitere Interessen zugeordnet, die den jeweiligen Dispositionen der Position korrespondierenden4. Mit dem Ausagieren dieser feldeigenen Interessen in der Praxis sind die Praktiken in ihrer Art und Weise bestimmt. Sie bilden die Reproduktionsmechanismen und realisieren damit den spezifischen Interessen entsprechend die Feldentwicklung.5 Bourdieu bestimmt Interesse als den Gegensatz zu Willkür und Indifferenz. Das bindet den Begriff an einen emotionalen und affektiven Aspekt seitens der Akteure. Damit verweist das Interesse auf das Agieren der einzelnen Akteure von Wählen, Werten und Empfinden. Steht in den Texten Bourdieus dieser Aspekt im Vordergrund, dann verwendet er den Begriff illusio. Dieser ist vor allem

anderen Raumpunkten (und damit die Machtverhältnisse) sowie die trajectoire (Reihe der Positionen, die der Akteur durchlaufen hat). Auf Basis empirischer Studien werden diese Kennzeichnungen der Positionen in den Arbeiten Bourdieus benannt und in einem Diagramm der Kapitalstruktur als Lebensstile eingetragen. Gemeinsame Lebensstile und Interessen in Abhängigkeit zu den Positionen werden in der Kapitalverteilungsstruktur sichtbar. Vorliegende Arbeit beschäftigt sich nicht mit einer solchen Distinktionsanalyse eines sozialen Raums. Ausführlicher dazu sei verwiesen auf Bourdieu: Rede und Antwort. Sozialer Raum und Symbolische Macht, ders: Meditationen. Körperliche Erkenntnis; ebd.: Symbolische Gewalt und Politische Kämpfe. 4

Im laufenden Text wird der Terminus korrespondieren verwendet, um innerhalb des praxistheoretischen Rahmens die relationale Verbindung der Elemente zu berücksichtigen und somit semiotische oder determinierend-strukturalistische Indikationen durch eine dem besseren Ausdruck und Lesbarkeit geschuldete Synonymsuche zu vermeiden. Gleiches gilt für den Terminus (Aus)Agieren der praxeologischen Perspektive, der die dispositionellen und relationalen Indikationen impliziert, ohne auf den Handlungsbegriff zu referieren.

5

Bourdieu: Soziologische Fragen, S.109 und 107. Jeder Akteur in einem Feld, der eine Position innehat bzw. eine solche Position einnimmt, wenn er neu ins Feld eintritt, steht in einem bestimmten Anerkennungsverhältnis zu diesen Interessen. Er muss ihnen den feldspezifischen Wert zumessen können. Nur so sichert er sich die (positiv oder negativ urteilende) Anerkennung der weiteren Akteure, und damit die Zugehörigkeit zum Feld. Und nur so ist abgesichert, dass das Feld weiterbesteht, indem die Akteure die Interessen und Interessenobjekte als eine Grundaxiomatik ihres Agierens innerhalb der Feldstrukturen und auf Basis ihrer Dispositionen nicht in Frage stellen. Vgl. bei Bourdieu: Soziologische Fragen. Über die Eigenschaften von Feldern, sowie Bourdieu: Rede und Antwort. Interesse der Soziologen.

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mit dem Glauben an die Interessensobjekte verbunden. Die illusio sichert den Akteuren ihre für das Bestehen des Felds unabdingbare Befangenheit in der Gesamtheit der feldspezifischen Interessen und Interessensobjekte. Die Akteure empfinden einen Sinn in dem, was im Feld von Interesse ist.6 Diese Grundaxiomatik unhinterfragter und zumeist unbewusster – Bourdieu nennt sie auch stillschweigender – Anerkennung der feldspezifischen Interessen seitens der Akteure definiert Bourdieu als doxa. Dazu gehören ebenso die korrespondierenden Prinzipien des Agierens. Doxa verwendet Bourdieu im Sinne eines naturalisierten Glaubens an die Wahrheit. Auf Basis der doxa konstituieren sich die Strukturverhältnisse, die Wertekategorien und der Kanon an legitimierten Praktiken und Definitionen.7 Der Begriff der Feldstruktur steht in engem wechselseitigen Verhältnis zum Begriff Kapital. Kapital definiert Bourdieu als „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form“.8 Kapital tritt in verschieden Kapitalformen auf. Diese sind den Positionen als korrespondierende Dispositionen und Eigenschaften, die innerhalb der Feldstruktur von Interesse sind, zugeordnet. Die Verteilungsstruktur der Kapitalformen ist Teil der Beziehungen zwischen den Positionen im Feld.9 Die Wertigkeit des Kapitals, das einer Position bzw. dem Akteur oder dem Objekt als Inhaber einer Position eigen ist, entspricht seiner Legitimierung innerhalb der Feldstrukturen. Die Wertigkeit entscheidet darüber, welche Funktion diese Position bzw. deren Inhaber im Beziehungsgefüge des Felds hat. Die Beziehungen zwischen den Positionen entsprechen den hierarchisierten Strukturen; die Feldstruktur entspricht einer Struktur der Kapital(formen)verteilung und deren Legitimierung innerhalb der Machtverhältnisse. Die in einem Feld relevanten Kapitalformen entstehen in der in Abhängigkeit von den feldspezifischen Interessen und Interessensobjekten.10 Bourdieu teilt grundsätzlich in die drei Kapitalarten ökonomisches Kapital, soziales Kapital und kulturelles Kapital ein.11 Das kulturelle Kapital ist die für

6

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Habitus, Illusio, Rationalität, S.149; sowie Bourdieu: Praktische Vernunft. Ist interessenfreies Handeln möglich? S.142.

7

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder, S.127–129.

8

Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.49.

9

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder, S.128/129.

10 Bourdieu: Soziologische Fragen. Über Eigenschaften von Feldern, S.108. 11 Ausführliche Ausführungen der Kapitalarten vgl. u.a. Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.53–70. Für eine bessere Nachvollziehbarkeit der Argumentationen in aller Kürze die Bestimmungen für das ökonomische und soziale Kapital: Das ökonomische Kapital ist ein tatsächlicher Geldwert. Es wird konvertiert aus Wertpapieren, Wert-

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den Themenbereich der körpergebundenen, kulturellen Praktiken und deren Wertschätzung wichtigste Kapitalart. Es differenziert sich in drei Formen: „(1) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form dauerhafter Dispositionen des Organismus, (2) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken [und Techniken, d.A.] usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivationen […]“.12 Die inkorporierte Kapitalform ist körpergebunden und setzt einen Verinnerlichungsprozess voraus. Dieser Prozess fordert wiederum ein bestimmtes Maß an Zeitinvestition ein. Aufgrund dieser Bestimmungen ist diese Kapitalform an den Akteur gebunden. Die objektivierte Kapitalform meint materielle Kapitalträger. Deren Aneignung oder Nutzung setzt ein inkorporiertes Kapital wie spezifisches Wissen, Techniken und Wahrnehmungsdispositionen seitens der Akteure voraus. Die institutionalisierte Kapitalform besteht hauptsächlich in Titeln als offizielle Anerkennung und Legitimierung eines inkorporierten Kapitals seitens derer, die die Definitionsmacht innehaben. Auf Basis dieser Kapitalform festigen und rechtfertigen sich Machtverhältnisse, indem den Positionen ihre Dispositionen zugeordnet werden.13

schöpfungen, Wertanlagen sowie Objekten und materiellen Investitionen. Das soziale Kapital bezeichnet alle aktuellen und potentiellen Optionen, die aus dem Beziehungsnetz resultieren. Diese Beziehungen beruhen auf einem gegenseitigen Kennen und Anerkennen in persönlichen Beziehungen, in institutionalisierten Beziehungen und innerhalb von Gruppenzugehörigkeiten. Kapitalformen werden mittels der feldspezifischen Praktiken ineinander konvertiert. Konvertierungsmittel können investierte Zeit, investierte Arbeit, Produkte anderer Kapitalformen und das Ausüben symbolischer Macht sein. Der Konvertierungswert ergibt sich aus der legitimen Definition des Werts der einzelnen Kapitalformen innerhalb des spezifischen Felds in Abstimmung mit der konkreten Situation des Tauschs, die sich aus den beteiligten Akteuren, dem Ort, dem Zeitpunkt, der Zeitdauer, den ausagierten Handlungsprinzipien und impliziten Interessen der Akteure definiert. Ebd., S.70–74. 12 Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.53. Bourdieu baut auf einem weiten Kulturbegriff auf (vgl. auch im einleitenden Kapitel die Ausführungen zum Kulturbegriff), der über das Verständnis von Kultur im normativen Sinn von Bildung hinausgeht und auf einen umfassenden ethnologischen Kulturbegriff verweist. Vgl. bei Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.17. 13 Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.55–63.

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Bourdieu erweitert diese drei grundlegenden Kapitalarten um den Begriff des symbolischen Kapitals. Die verschiedenen Kapitalarten nehmen diese Form von Kapital dann an, wenn sie seitens des herrschenden Machtpols, der die Definitionsmacht innehat, als legitime definiert werden.14 In diesem Sinne ist es keine weitere Kapitalart, sondern versteht sich vielmehr als ein abstrahierter Wert, der innerhalb des Felds sinnstiftend und konstitutiv für das Agieren ist. Bourdieu bezeichnet das symbolische Kapital als eine „(aktuelle oder potentielle) Kraft, Macht oder Fähigkeit, [als die] das Kapital [erst] existiert und agiert“.15 Somit funktioniert das symbolische Kapital als der eigentliche, wenn auch unbewusste Impuls für die Akteure, mit und durch Praktiken zu agieren. Wird das symbolische Kapital seitens derer, die die Machtpositionen zur Legitimierung von Kapital innehaben, als ein solches definiert, so kann es nur dann praktisch wirksam sein, wenn es seitens der Akteure ebenso anerkannt wird.16 In spezifischen Feldern finden sich entsprechend Kapitalformen, die nur in diesen Strukturverhältnissen den symbolischen Kapitalwert haben können.17 Habitustheorie Mit der Habitustheorie entwickelt Bourdieu einen komplexen Ansatz, um die konkreten Praktiken der Akteure zu erfassen. Dieses Erfassen meint das Verstehen der Praktiken als ein Agieren der Akteure als auch ihre Funktion innerhalb der Strukturverhältnisse.18 In diesem Sinne versteht sich die Habitustheorie als

14 Bourdieu: Rede und Antwort. Sozialer Raum und Symbolische Macht, S.140; sowie Bourdieu: Praktische Vernunft. Staatsgeist, S.108/109. 15 Bourdieu: Meditationen. Soziales Sein, Zeit, Sinn und Dasein, S.311. 16 Das symbolische Kapital ist ein Element der Machtverhältnisse, durch das jene beherrscht werden, die an dieses glauben. Ausgenommen ist die Gewaltherrschaft. Vgl. u.a. Bourdieu: Meditationen. Symbolische Gewalt und Politische Kämpfe, S.213. 17 Bourdieu: Soziologische Fragen, S.108. Für Bourdieu bedeutet das spezifische Kapital, dass es „in Verbindung mit einem bestimmten Feld, also in den Grenzen dieses Felds, einen Wert hat und nur unter bestimmten Bedingungen in eine andere Art Kapital konvertierbar ist.“ Ebd. In seinen Feldanalysen konstatierte Bourdieu beispielsweise für die Sowjetunion ein spezifisches politisches Kapital, dass vergleichbare Funktionen (Profite, Privilegien und Macht) wie das ökonomische Kapital in westlichen Demokratien implizierte, wenn auch mit anderen Funktionsmechanismen. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.152. 18 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.154. Das bedingt vor allem eine Reflexion über die praktischen und symbolischen Abläufe sowie über die verinnerlichten

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eine „Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen“ und als „Theorie der praktischen Erkenntnis der sozialen Welt“.19 Sie zielt darauf ab, zu erfassen, wie die soziale Praxis entsteht und wie die agierenden Akteure diese wahrnehmen, erfahren, erkennen und sie, im Umkehrschluss, generieren.20 Den Begriff Habitus bestimmt Bourdieu mit den verinnerlichten Wahrnehmungs- und Handlungskategorien. Dem Habitus sind die vermittelten Wahrnehmungskategorien, mit denen der Akteur die soziale Welt erfährt, die Erkenntniskategorien, mit denen der Akteur diese interpretiert und die Handlungskategorien, mit denen er agiert, zugeordnet. Im Zusammenspiel mit den Dispositionen der Akteure in Form eines bestimmten Körperschemas (hexis) und im Glauben an die strukturimmanenten Werte der doxa ermöglicht der Habitus den Akteuren, im sozialen Raum sinnvoll und angemessen zu agieren. Dieser bestimmten Konditionierung wegen konstatiert Bourdieu eine stilistische Einheitlichkeit (Lebensstil) zwischen Akteuren, die ähnliche Positionen besetzen oder ähnliche generative Habitusschemata verinnerlicht haben.21 Das Agieren der Akteure wird von Bourdieu als homolog zu den entsprechenden Strukturverhältnissen und als interessengeleitet definiert. Beide Aspekte

Dispositionen der Akteure. Bourdieu geht davon aus, dass diese komplexen Zusammenhänge mit „üblichen Begriffen von Denken, Bewusstsein und Erkenntnis nicht adäquat gedanklich“ zu erfassen sind. Sein Habituskonzept ist ein methodisches Werkzeug, um ‚unüblichere Wege des Erkennens‘ zu gehen. Ebd. 19 Vgl. bei Bourdieu: Theorie der Praktik, S.164 und S.148. 20 Die Strukturen sind dem Körper der Akteure als Dispositionen verinnerlicht, im Sinne eines lex insita: das Handeln ist auf die Raum- oder Feldstrukturen abgestimmt und generiert zugleich im praktischen Ausagieren diese neu. Vgl. u.a. Bourdieu: Soziologische Fragen, S.111 und ders.: Sozialer Sinn. Glaube und Leib, S.122–126. 21 Bourdieu umgeht in seinen Arbeiten den Begriff des Handelns. Handeln steht im wissenschaftlichen Diskurs für ein intentionales Agieren seitens bewusster Subjekte im Sinne einer finalistischen oder mechanistischen Erklärungsweise. Handeln bestimmt Bourdieu hingegen als ein Ausagieren der Strukturverhältnisse. Ausagierte Praktiken, Standpunkte, Werteschemata, individuelle Standpunkte und Entscheidungen für Güter ähneln einander, ohne dass die Akteure eine bewusste Abstimmung miteinander vornehmen müssen. Vgl. dazu Bourdieu: Soziologische Fragen. Über Eigenschaften von Feldern. Bourdieu führt an anderer Stelle aus: „Der Habitus ist das generative und vereinheitlichende Prinzip, das die intrinsischen und relationalen Merkmale einer Position in einen einheitlichen Lebensstil rückübersetzt, das heißt in das einheitliche Ensemble der von einem Akteur für sich ausgewählten Personen, Güter und Praktiken.“ Bourdieu: Praktische Vernunft, S.21/22.

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sind im Sinne der Habitustheorie dem Akteur in Form der Wahrnehmungs- und Handlungskategorien sowie der Körperschemata verinnerlicht. Sie können dem reflektierten Akteur bewusst sein, wirken aber zumeist als verschleierter Handlungsimpuls hinter den vom Akteur formulierten Handlungsabsichten.22 Der Habitus erzeugt die Praktiken, indem individuelle, durch die sozialen Strukturen bedingte Dispositionen in der Praxis in einer konditionierten Weise umgesetzt werden. Die im Feld generierten Dispositionen bedingen, dass der Akteur im Sinne der feldspezifischen Interessen agiert. Eine weitere Indikation liegt darin, welchen strukturellen Voraussetzungen der Akteur im Moment des Agierens gegenübergestellt ist, das meint, welche Dispositionen in dem Moment wirksam und sinnvoll umgesetzt werden können.23 Bourdieu weist den Handlungsbegriff dahingehend zurück, dass der Akteur weder eine von der sozialen Struktur unabhängige Handlungsintention entwickeln oder realisieren kann, noch ist er einem mechanischen Determinismus unterworfen.24 Er spricht dem Akteur einen individuellen Spielraum in der Umsetzung seiner Dispositionen zu. Der Habitus stellt mögliche Handlungsoptionen zur Verfügung, mit denen der Akteur in einer Vielzahl an Variationen und Modifikationen in einem bestimmten Moment an einem bestimmten physischen Raumpunkt agieren kann.25

22 Bourdieu beschreibt das Agieren ausgehend von den Konditionierungen der vorzufindenden Strukturen des sozialen Raums, die mit den Existenzbedingungen der Akteure verknüpft sind: sie „erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierende Strukturen, die wie geschaffen sind, als solche zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen.“ Bourdieu: Sozialer Sinn, S.98/99. 23 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.154, Bourdieu: Rede und Antwort, S.115, sowie ders.: Meditationen, S.195–197. 24 Für Bourdieu erweist sich der Habitus in einer idealen Konzeption als „ein offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird. Er ist dauerhaft, aber nicht unveränderlich.“ Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.167/168. 25 Bourdieu: Soziologische Fragen. Sprachlicher Markt, S.128 sowie Bourdieu: Sozialer Sinn, S.167FN. Die Praktiken selbst unterliegen einer konditionierten und bedingten Freiheit. Sie sind weder freie Akte eines unabhängigen Akteurs noch entsprechen sie einem reinen mechanistischen Reproduktionsmodus. Sie sind durch die mit dem Habitus vermittelten Prinzipien und Schemata des Wahrnehmens, Wertens und Agierens

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Das Besondere des theoretischen Ansatzes Bourdieus liegt in der Annahme, dass das Agieren der Akteure durch die Strukturverhältnisse konditioniert und limitiert ist; die Reproduktion der Strukturverhältnisse zugleich vom Ausagieren der konditionierenden und limitierenden Dispositionen durch die Akteure abhängig ist. Der Akteur ist konstitutiver Bestandteil der Strukturen, indem er diese verinnerlicht hat (Habitusformen und hexis) und sie reproduziert (Agieren durch Praktiken). 26 Die vom Akteur scheinbar individuell ausgebildeten Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungsschemata entsprechen seinem individuellen Habitus. Er agiert durch die der Position eigenen Dispositionen und Interessen. Sie konditionieren seine Handlungsoptionen. Der Schein der Individualität eines Akteurs ergibt sich aus der seiner Position eigenen Interpretation des gegenwärtigen Moments und einer dem Akteur eigenen Geschichte [trajectoire] darin.27 Das Verständnis der sozialen Praktiken besteht darin, dass sie dem Ausagieren der Strukturverhältnisse entsprechen. Die Praktiken werden vermittels des Habitus durch die gegebenen Positionen und korrelierenden Dispositionen, Interessen und Kapitalstrukturen konditioniert. Die ausagierten Praktiken korrespondieren der herrschenden doxa und der illusio. Zugleich realisieren sie den Re-

als auch durch die ihrer Körperhexis und der im Feld herrschenden doxa zugehörigen Dispositionen konditioniert. Sie sind an ein individuelles Interpretieren dieser Konditionierungen und den im Raum des Möglichen bewahrten Optionen seitens des Akteurs gebunden. Mit den Praktiken realisiert sich die Reproduktion der Strukturverhältnisse aber auch die immer wieder individuelle und modifizierende Interpretation des gegenwärtigen Moments. Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.103–105. 26 Bourdieu findet in dieser dialektischen Beziehung zwischen dem Agieren der Akteure und den Strukturverhältnissen eine Verbindung von determinierenden Strukturalismus und konstruierenden Subjektivismus. Er ersetzt den Begriff des Subjekts mit dem des Akteurs [agent], um sich vom Konzept des unabhängigen, die Welt konstruierenden Ansatzes des Subjektivismus zu distanzieren. Bourdieu bezieht sich in seiner Kritik mit Vorliebe auf Sartres Konzept des freien und bewussten Subjekts als selbstbestimmter Schöpfer seiner Welt. Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S.300–302. 27 Bourdieu: Rede und Antwort. Das Interesse des Soziologen, S.116. Diesem Moment der Interpretation der gegenwärtigen Strukturverhältnisse erwächst die Individualität des Akteurs. Im zeitlichen Verlauf seines Lebens nimmt der Akteur immer wieder neue Interpretationen vor, kann aber auch durch sich verändernde Strukturverhältnisse oder durch ungenutzte Handlungsoptionen aus dem Raum des Möglichen seine Position im Feld wechseln. Aus dieser Abfolge nacheinander eingenommener Positionen entsteht der dem Akteur eigene und scheinbar individuelle Lebensweg [trajectoire]. Ders.: Praktische Vernunft, S.72/73.

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produktionsmechanismus auf Ebene der Praxis. Zu den sozialen Praktiken zählen die kulturellen und weiteren spezifischen Praktiken, wie es beispielsweise die tänzerischen und diskursiven Praktiken sind. Prozesse und Funktionsmechanismen Innerhalb der Strukturverhältnisse differenziert Bourdieu verschiedene Prozesse und Mechanismen nach ihren Funktions- und Reproduktionsweisen. Die Machtverhältnisse basieren auf einem Funktionsmechanismus, der sowohl den feldtheoretischen Begriffen als auch dem Habitusbegriff eigen ist. Sie beschreiben zum einen die Relationen der Positionen, die symbolische Macht innehaben und zum anderen deren in der Praxis ausagierte Strategien. Zu den Strategien zählen Definition, Legitimation und Reproduktion der Strukturelemente. Die Wirksamkeit des symbolischen Kapitals zeigt sich als Formalisierung und Homologisierung des mit ihm verbundenen Interesses. Es resultiert in der der Anerkennung der herrschenden Strukturverhältnisse durch alle Akteure und der Reproduktion der herrschenden doxa. Als grundlegende Bedingung für diese Wirksamkeit konstatiert Bourdieu die Einverleibung der entsprechenden Dispositionen für das Wahrnehmen, Erkennen und Anerkennen bei den Akteuren. Damit sind den Akteuren vereinheitlichte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprinzipien gemeinsam.28 Die Verinnerlichung der herrschenden Strukturverhältnisse als Dispositionen setzt bei den Akteuren eine vorangegangene (verschleierte) Aneignung und Inkorporierung voraus.29

28 Die Einverleibung realisiert sich nicht nur in den vereinheitlichten Praktiken, sondern äußert sich auch in körperlichen Empfindungen der Akteure. Unbewusst verinnerlichte Strukturverhältnisse, die dem vermeintlich bewussten Interesse des Akteurs entgegenstehen, verursachen beispielsweise Scham, Schüchternheit, Ängstlichkeit und Schuldgefühl. Vgl. Bourdieu: Meditationen, S.216/217. In einer auf das Politische hin ausgerichteten Interpretation konstatiert Bourdieu: „Die politische Unterwerfung ist in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben. Das Vokabular der Herrschaft ist voll von Körpermetaphern: einen Bückling machen, zu Kreuze kriechen, sich aalglatt zeigen, sich beugen, etc.“ Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.82. 29 Dafür muss kein gesonderter physischer oder verbaler Zwang ausgeübt werden. Die erste Form der Aneignung geschieht durch das Hineinwachsen in die Strukturverhältnisse. Es scheint daher, dass die unhinterfragte Akzeptanz der herrschenden doxa natürlich gegeben sei. Dieses doxische Akzeptieren der Welt resultiert für Bourdieu aus der Übereinstimmung der objektiven und kognitiven Strukturen der Akteure. Vgl.

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Die symbolische Macht basiert auf einer willkürlich gesetzten doxa, da nach Bourdieu kein natürlicher prä-definitorischer bzw. prä-struktureller Zustand existiert. Auf der Ebene der Praxis entspricht die willkürliche Setzung von Standpunkten, Wahrheiten, Werten, Recht und Sinn sowie die Legitimierungen und Formalisierungen seitens der herrschenden Positionen dem strukturinhärenten Interesse. Die illusio aller Akteure beruht auf der Anerkennung der symbolischen Macht und verschleiert sowohl den naturalisierten, willkürlichen Status des zugehörigen Sinnsystems als auch die zugrundeliegende doxa.30 Die Verteilungsstruktur der Kapitalarten, die verschiedenen spezifischen Kapitalformen sowie das wirkende symbolische Kapital sind konstitutiv für die Strukturverhältnisse. Die Verteilungsstruktur bestimmt über die existierenden Positionen, über die Akteure und Institutionen sowie über deren Dispositionen und Praktiken. Da die Inhaber der Positionen bestrebt sind, eine für sie günstigste Kapitalverteilung zu erreichen, wird um die Verteilung und den Zugang zu den spezifischen Kapitalformen gekämpft. Das Interesse der Akteure liegt im Erhalt (Orthodoxie) oder in der Umwälzung (Häresie) der Verteilungsstruktur des spezifischen Kapitals, je nachdem, welche Positionen innerhalb der Machtverhältnisse die Akteure innehaben. Die Verteilungsstruktur eines bestimmten Zeitmoments gibt somit einen bestimmten Stand der Machtverhältnisse wieder:

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Symbolische Gewalt, S.205, sowie Bourdieu: Meditationen. Symbolische Gewalt und Politische Kämpfe, S.221. Die zweite Form der Aneignung ist als eine weitaus deutlich forcierte zu kennzeichnen. Bourdieu bezeichnet den Prozess der Inkorporierung als Transformation des Körperlichen. Dann ist von der Einverleibung der Herrschaftsbeziehungen als ein innerer Zwang zu sprechen. Vgl. Bourdieu: Meditationen, S.216 sowie ders.: Praktische Vernunft, S.173/174. Bourdieu formuliert schlussfolgernd: „Die symbolische Gewalt ist […] jene Form der Gewalt, die über einen sozialen Akteur unter Mittäterschaft dieses Akteurs ausgeübt wird.“ Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.204. 30 Bourdieu: Symbolische Gewalt, S.12–43. Bourdieu kennzeichnet die legitime Kultur als eine willkürliche: „In einer bestimmten sozialen Formation ist die legitime Kultur, d.h. die mit der herrschenden Legitimität ausgestattete Kultur nichts anderes als die herrschende kulturelle Willkür, insofern diese in ihrer objektiven Wahrheit als kulturelle Willkür und herrschende kulturelle Willkür verkannt wird.“ Ebd., S.35. Bourdieu führt zur Willkürlichkeit der symbolischen Macht aus: „Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen.“ Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.82.

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sie ist sowohl das Ergebnis der bis dahin ausgetragenen Kämpfe um die Kapitaldistributionsstruktur als auch Ausgangspunkt der Entwicklungen im Feld.31 Die herrschende doxa und entsprechenden Interessen bzw. Interessensobjekte werden vermittels der illusio von den Akteuren als wert- und sinnhaft anerkannt. Sie aktivieren die Akteure zum Agieren innerhalb der gegebenen Strukturverhältnisse und ihrer individuellen Dispositionen. Dieses Agieren bedeutet zugleich eine Auseinandersetzung um die Definitionen von und die Anerkennung als Interessensobjekte sowie um die richtigen Handlungsprinzipien und Wahrheiten. 32 Bourdieu konstatiert in den von ihm untersuchten spezifischen Feldern Machtpole von Herrschenden und Beherrschten. Den Herrschenden korrespondiert die Definitions- und Anerkennungsmacht. Die Beherrschten sind daran interessiert, die Definitionen bzw. die Definitionsmacht in ihrem Interesse zu verändern.33 Die Relationen zwischen beiden Machtpolen werden entsprechend diesen Definitionskämpfen aufrechterhalten oder verändert. Das bedeutet, dass die Machtbeziehungen und resultierenden Definitionskämpfe die Bedingungen der Existenz und Reproduktion eines Felds darstellen. Zugleich sind sie die Grundlage für die aktuellen und potentiellen Kräfte und Entwicklungen, die im Feld existieren.34 Die Akteure interagieren innerhalb der Strukturverhältnisse ausgehend von ihrer individuellen Position mit anderen Akteuren. Sie tun dies sowohl als Teil einer oder mit Gruppen von Akteuren. Für diesen Mechanismus formuliert Bourdieu den Begriff der Gruppenbildung, der die Aspekte Formalisierung, Einsetzung und Repräsentanz umfasst. Eine Gruppe versteht Bourdieu zunächst als eine Analysekategorie. Sie erfasst spezifische Zuschreibungen von Kapitalformen und Eigenschaften, Auseinandersetzungen wegen spezifischer Interessenlagen, Verhältnisse von Machtstrukturen und Autoritäten. Die Akteure einer Gruppe agieren Kraft des Interesses und des Glaubens an ihr distinktives und

31 Bourdieu: Soziologische Fragen. Über Eigenschaften von Feldern, S.108/109. 32 Der Begriff der Wahrheit ist als ein relativer und konditionierter zu verstehen. Eine Wahrheit entspricht einem offiziellen Standpunkt im sozialen Raum bzw. im spezifischen Feld. Der offizielle Standpunkt definiert, legitimiert und vermittelt dabei die wahren Wahrnehmungs- und Klassifikationsprinzipien. Vgl. u.a. Bourdieu: Regeln der Kunst, S.466; Bourdieu: Praktische Vernunft. Wissenschaft von den Kulturellen Werken, S.84; Bourdieu: Rede und Antwort. Fieldwork in Philosophy, S.44/45 sowie ebd.: Sozialer Raum und Symbolische Macht, S.150. 33 Vgl. u.a. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder, S.132; sowie Bourdieu: Regeln der Kunst, S.353 und 357. 34 Bourdieu: Praktische Vernunft. Wissenschaft von den Kulturellen Werken, S.64.

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konstitutives Kapital in Abstimmung mit den anderen Akteuren der Gruppe. Das Interesse des gruppenspezifischen Agierens besteht in der Erhaltung, Etablierung und möglicherweise Vermehrung des symbolischen Kapitals.35 Die Legitimierung der Gruppe als distinktiv und wertvoll kann sie in einen Prozess der Konstituierung und Formalisierung führen: zunächst formiert sie sich zu einer benannten Gruppe, um dann den Status einer legitimierten Institution zu erreichen. Je höher der Grad der Anerkennung der Gruppe innerhalb der Strukturverhältnisse, desto höher auch die Tendenz zur Formalisierung der Gruppenstrukturen.36 Um sich als Gruppe im Rahmen der gegebenen Kapitalstruktur zu positionieren, braucht die Gruppe Vertreter. Diese müssen seitens der Gruppenakteure und seitens der Nicht-Gruppen-Zugehörigen anerkannt sein. Die Anerkennung autorisiert sie zum Sprechen und Agieren im Interesse der Gruppe gegenüber anderen Akteuren (Einzelnen, Gruppen und Institutionen). Dem Vertreter der Gruppe wird die gesamte symbolische Macht, die die Positionen der Gruppe innehaben, übertragen.37 Die Wirksamkeit der symbolischen Macht ist von kohärenten Strukturverhältnissen abhängig; bzw. im Umkehrschluss, nur solche garantieren die Wirksamkeit der symbolischen Macht. Diesen Zustand der günstigsten Indikationen gilt es für die mächtigen Positionen aufrechtzuerhalten. Dafür braucht es eine zeitlich ausgedehnte Arbeit einer homologen Reproduktion der Strukturverhält-

35 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.175. Zu solchen Gruppen bzw. Identitätszuschreibungen zählt Bourdieu unter anderen Ethnie, Geschlecht und politische Gruppierungen. Vgl. dazu Bourdieu: Rede und Antwort, S.152. 36 Bourdieu: Rede und Antwort. Delegation und Fetischismus, S.176 und 179/180. 37 Vgl. Bourdieu: Rede und Antwort, S.174 sowie Bourdieu: Mechanismen der Macht, S.85. Für Bourdieu impliziert die Vertretersituation einen magischen Moment. Dieser liegt darin, dass eine Gruppe gegenüber dem offiziellen Standpunkt als legitimiert nur über den Vertreter, die Position des Vertreters allerdings nur durch die Gruppe existiert: „Der Wortführer ist das Substitut der Gruppe, die nur vermittels dieser Delegation existiert und über und durch ihn agiert und spricht. Und zwar deshalb, weil sie öffentlich, offiziell sprechen, […] und weil ihnen die Berechtigung dazu von Menschen zuerkannt wird, die sich dadurch als Angehörige dieser Klasse, dieser Nation, dieses Volkes oder irgendeiner anderen von einer Konstruktion der realistischen Welt erfindbaren und durchsetzbaren sozialen Realität wieder erkennen.“ Bourdieu: Rede und Antwort, S.153/154. Diese Übertragung geschieht über Einsetzungsriten, in denen dem Vertreter die Autorität zugesprochen, er in seine Position mit den dazugehörigen Dispositionen eingewiesen und damit in seinem Agieren konditioniert wird. Vgl. Bourdieu: Was heißt sprechen, S.84–88.

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nisse. Ein solcher Reproduktionsmechanismus umfasst die Vermittlung und Inkorporierung der doxa, der den Positionen zugeschriebenen Dispositionen und der Indikationen für den Habitus.38 Bourdieu betont, dass nur eine diese Elemente umfassende Veränderung der Reproduktionsmechanismen eine tatsächliche Veränderung der Strukturverhältnisse bewirken kann. Das ist dem geschuldet, dass die dialektische Beziehung von Generierung und Reproduktion der Strukturverhältnisse umso stabiler wird, desto autonomer ein sozialer Raum oder ein spezifisches Feld sich entwickeln konnte.39 Der Begriff der Praxis und kulturelle Praktiken Um den mit Bourdieu formulierten theoretischen Rahmen zu schließen, werden die grundlegenden epistemologischen Begriffe der Praxis und der Logik der Praxis referiert. Berücksichtigt wird dabei insbesondere deren Referenz auf Tanz und Bewegung als konkrete kulturelle Praktiken. Der Begriff der Praxis bezieht sich auf die reale und alltägliche Welt der Akteure und sie ist letztendlich diejenige, die erfasst und verstanden werden soll. Im Gegensatz zur rekonstruierten relationalen Struktur der Positionen-, Macht-, und Kapitalverteilungsverhältnisse steht die Praxis für die bereits ausagierten und materialisierten Objekte, Kapitalformen, Gruppen von Akteuren, Institutionen, (sozialen) Praktiken, Vorstellungen und Bedeutungen. In dieser Differenzierung zeigt sich eine charakteristische Ambivalenz der Begriffe: zum einen als

38 Bourdieu: Symbolische Gewalt, S.21–63. Es wird die Willkürlichkeit der gesetzten und zu vermittelnden doxa im Reproduktionsprozess betont; vgl. dazu die Ausführungen zu den Vermittlungsinstanzen PA [Pädagogische Aktion] und PAu [Pädagogische Autorität], ebd., S.34. Dem Bildungssystem kommt eine fundamentale Funktion innerhalb des Reproduktionsmechanismus für das Vermitteln definierter Wahrheiten und inkorporierter bzw. zu inkorporierender Wissensbestände zu. Die Institution Staat kann über die Festschreibung und Definition der Bildungsinhalte mit seinen Klassifizierungen, Hierarchisierungen und Zertifizierungen, die den staatlichen Strukturen zugehörigen Machtverhältnisse und legitimierten Definitionen an die Akteure weitervermitteln. Vgl. weiterführend bei Bourdieu: Symbolische Formen, S.110/111, S.185/ 186; sowie ders.: Die Feinen Unterschiede, S.20. 39 Bourdieu/Passeron: Theorie der Symbolischen Gewalt, S.134–136. Bourdieu führt an anderer Stelle aus: „Will man die Welt ändern, muß man die Art und Weise, wie Welt ‚gemacht‘ wird, verändern. Das heißt, man muß die Weltsicht und die praktischen Operationen verändern, mit denen die Gruppen produziert und reproduziert werden.“ Bourdieu: Rede und Antwort, S.152.

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Analysewerkzeuge und theoretische Kategorien des Erfassens und Rekonstruierens, zum anderen als Elemente des ausagierten und materialisierten Erfahrungsbereichs der Akteure. Den Begriffen der theoretischen Perspektive wohnt eine rationale bzw. kausale Logik inne. In den Beobachtungen der Praxis und in den Praktiken, bricht sich zumeist diese theoretische Logik und es setzt eine handlungsleitende Logik (praktischer Sinn) in der Praxis ein.40 Die Logik der Praxis garantiert letztendlich das Funktionieren in der Praxis. Die herrschenden Prinzipien und Möglichkeiten werden über ein Ausagieren im Raum, im zeitlichen Verlauf und körper- bzw. akteurgebunden realisiert. Die Logik der Praxis setzt voraus, dass die Akteure in der Gegenwart im Sinne der illusio gefangen sind. Nur so funktionieren die mittels des Habitus vermittelten Positionen-, Macht-, und Kapitalverteilungsverhältnisse als handlungsleitend. Sie konditionieren und ermöglichen zugleich den Akteuren, innerhalb der gegebenen Strukturverhältnisse adäquat zu agieren. Darüber hinaus steht die Logik der Praxis für die Fähigkeit, mögliche Situationen zu antizipieren und verwehrt sich einem rein logisch kausalen Kalkül möglicher Resultate.41 Praktiken realisieren die durch den Habitus vermittelten und den praktischen Sinn antizipierten Prinzipien. Zugleich konstituieren sie Praxis. Sowohl in seinen theoretischen Arbeiten als auch in eigenen Feldanalysen finden sich bei Bourdieu Verweise auf den Tanz als eine solche konstituierende Praktik. Er bezieht sich insbesondere auf die Inkorporierung von Strukturverhältnissen in Form von Habitusformen bzw. hexis und auf das Ausagieren von Wissensbeständen.42 Bourdieu formuliert im Rahmen der Arbeiten zu künstlerischen Hervorbringungen, dass diese Produkte einer reinen Praxis ohne Theorie sind. Er bestimmt in gleicher Weise Rituale und Tanz. Sie basieren auf sinnhaften Praktiken, die keiner rational logisch nachvollziehbaren Intention entspringen und sich den sprachlich formulierbaren Begründungen entziehen. Er sieht das darin begründet, dass sich Tanz in mimetischer Weise des Aneignens über das Körperliche ver-

40 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.100. In Anerkennung dieser praktischen Logik zieht Bourdieu für den Erkenntnisprozess die Konsequenz, dass erst, wenn die theoretischen und die praktischen Kategorien in ihrer Beschreibung übereinstimmen, davon ausgegangen werden kann, dass die Praxis verstanden wurde. Vgl. bei Hörning: Soziale Praxis, in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.19–39. 41 Bereits in seinen ethnologischen Studien in Algerien wurde Bourdieu darauf aufmerksam und nahm dies zum Anlass, seine methodischen Werkzeuge zu entwickeln. Vgl. Bourdieu: Rede und Antwort, S.103 sowie ders.: Sozialer Sinn, S.167. Siehe auch den folgenden Abschnitt zu den themenspezifischen Konzepten. 42 Bourdieu: Rede und Antwort, S.104.

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mittelt.43 Damit bedarf er keiner rationalen bzw. sprachlichen Objektivierung. Er verweist auf die enge Bindung der tänzerischen Praktiken sowohl an die praktische körperliche Erkenntnis in ihrer Aneignung als auch an die körperliche Intelligenz hinsichtlich ihrer Ausübung.44 Bourdieu hat selbst Analysen zu tänzerischen Praktiken und Sportpraktiken vorgenommen. Es handelt sich zum einen um die Dorftänze seines Heimatdorfes im Kontext des Heiratsverhaltens der Dorfbevölkerung, zum anderen um eine Feldanalyse des Sports und schließlich um die Genese tänzerischer Praktiken im Rahmen einer Sportsoziologie. Geht es bei den Dorftänzen um das Erfassen der Habitusformen und Funktionsmechanismen, so erarbeitet er für das spezifische Feld des Sports und für die Genese der tänzerischen Praktiken darin die Aspekte Generierung der Feldstrukturen, Autonomisierung des Felds und die damit verbundenen Differenzierungen sowie spezifische Habitusformen.45

43 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.64. Bourdieu referiert in diesem Zusammenhang auf die Auseinandersetzung bei Platon mit der Bedeutung und Funktion des Tanzes. In der Definition des tanzenden Poeten im Gegensatz zum reflektierten Philosophen begründet sich für Bourdieu bereits die Differenzierung eines reflektierten, objektivierenden Wissens und eines unreflektierten, körpereigenen praktischen Wissens. Wobei Platon das dem Körper immanente Wissen des Mimen und mit der Sprache direkt verwobene Wissen des unreflektierten Poeten abqualifiziert und dem reflektierten objektivierten Wissen des Philosophen als das der körperlichen Existenz entzogene Wissen den Vorzug gibt. Bourdieu: Rede und Antwort, S.123/124. 44 Bourdieu/Wacquant: Meditationen. Körperliche Erkenntnis, S.185 sowie Bourdieu: Rede und Antwort. Sportsoziologie, S.205/206. Bourdieu verdeutlicht das die inkorporierten und praktischen Wissensbestände negierende Paradigma am Beispiel der ethnologischen Forschung. Er konstatiert, dass die Bedeutung und die Funktionsweise der Mythen und Riten, deren konstitutiver Teil Tänze waren, seitens der ethnologischen Forschung als mittels eines logischen Ablaufs zu erfassende Diskurse und Handlungsabläufe beschrieben wurden. Die Verbindung aus Bewegungen und Narrationen als diskursive und tänzerische Praktiken mit spezifischen generativen Schemata und inkorporierten Wissensbeständen wurde verkannt. Siehe auch Bourdieu: Rede und Antwort. Lektüre, S.123/124. 45 Vgl. dazu u.a. Bourdieu: Rede und Antwort. Programm für eine Soziologie des Sports; ders.: Soziologische Fragen. Historische und Soziale Voraussetzungen modernen Sports; sowie ders.: Sozialer Sinn, S.35 und FN1 mit dem Verweis auf die Untersuchung in seinem Heimatdorf Béarn. Bourdieu zeigt an anderer Stelle zur Veranschaulichung der Verhältnisse in Mitteleuropa die Entwicklung auf, die zur Entstehung eines Felds des Tanzes geführt hat. Die Bedeutung des Tanzes wandelt sich vom

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Bourdieu argumentiert in seinen Arbeiten sowohl durch die Verweise auf theoretischer Ebene als auch mit diesen Feldanalysen dafür, dass Bewegungspraktiken als körpergebundene kulturelle Praktiken mit seinen Begriffen und Werkzeugen analysierbar und erfassbar sind. Im Besonderen zählt dazu der Tanz als eine solche spezifische Bewegungspraktik, sowohl als populäre, als künstlerische oder als rituelle. Als spezifische Kategorien solcher Analysen sind entsprechend Akteure und Positionen, Machtbeziehungen, korrespondierende Interessen und Kapitalformen, inkorporierte Wissensbestände sowie diskursive und körpergebundene Praktiken zu berücksichtigen.46 Dieser Rahmensetzung folgen zwei Ausarbeitungen zu den theoretischen Begriffen und analytischen Ansätzen hinsichtlich ihrer Relevanz für die an die Datenerhebung anschließende Interpretation.

THEMENBEZOGENE KONZEPTE AUFBAUEND AUF DEN THEORETISCHEN BEGRIFFEN BOURDIEUS In den Arbeiten Bourdieus finden sich konzeptionelle Ansatzpunkte und Begriffe, die einen geeigneten Zugang für den Bereich der kulturellen Praktiken, insbesondere für die Diskussion der so genannten immateriellen Werte erlauben. Darunter sind Bestimmungen des Felds zu benennen, die in seinen Arbeiten explizit

rituellen dörflichen gemeinsamen Tanz, über die technische Perfektionierung und den Aufführungscharakter am Hof, zum professionellen Tänzer mit einem spezifischen Habitus und Interesse in einem sich zunehmend autonomisierenden Feld des Tanzes. Daraus resultierend stehen sich Akteure gegenüber, die unterschiedliches Kapital tänzerischen Wissens verkörpern: Tänzer, die die tänzerischen Praktiken beherrschen und tänzerisches Wissen Teil ihres Habitus und ihrer hexis ist sowie zuschauende Akteure, die tänzerisches Wissen lediglich wahrnehmen können. Diese korrespondierenden unterschiedlich ausgerichteten Interessen der Akteure können in den Interaktionen zwischen den Akteuren zu Veränderungen des Sinns und der Funktionsweisen im Feld führen. Bourdieu benennt hier vor allem an den Drang des Präsentierens, des Ruhmes, der Siege, des finanziellen Erfolgs anstelle der technischen und inhaltlichen Aspekte der tänzerischen Praktiken. Vgl. dazu Bourdieu: Rede und Antwort, S.204. 46 Vermutlich hätte Bourdieu in einer Weiterführung seiner Forschungen das Thema der kulturellen Praktiken explizit einbezogen. In diesem Sinne formuliert er beispielsweise: „Ich glaube, dass neben dem Tanz der Sport einer der Bereiche ist, in dem sich das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praktik wie auch das von Sprache und Körper am schärfsten stellt.“ Bourdieu: Rede und Antwort, S.205.

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formuliert werden, jedoch nicht zu den Schwerpunkten seines analytischen Interesses zählen. Diese Ansatzpunkte ermöglichen es, kulturelle Praktiken sowie den Bereich der so genannten flüchtigen, bzw. der dem nicht-faktischen Bereich zugehörenden Themen zu erfassen.47 Sie gruppieren sich um die theoretischen Begriffe der Praktiken und deren Körpergebundenheit, die Konzepte Habitus und hexis, das kulturell Unbewußte und den Raum des Möglichen sowie die symbolische Macht als Definitionsmacht. Ausgehend von diesen Ansatzpunkten werden in Abstimmung mit den Forschungsfragen dieser Studie spezifische Konzepte formuliert. Diese sind das spezifische Kapital des Körperlichen, das spezifische Kapital des Immateriellen, die Wissenskonzepte des Körperwissens als ein inkorporiertes und körperbasiertes Wissen sowie die Wissensbestände des Immateriellen, der Begriff kulturelles Erbe und die Definitionsmacht. Diese Konzepte werden die Grundlage sein, um die Ergebnisse aus der Datenerhebung zu interpretieren und daran anschließend Schlussfolgerungen zu ziehen. Die benannten Ansatzpunkte und themenspezifischen Konzepte werden im Folgenden aufgenommen und erörtert. Damit wird zugleich eine theoretische Begriffsgrundlage für den Interpretationsteil formuliert. Praktiken und deren Körpergebundenheit Die konkreten Praktiken, die mit dem Rekonstruktionsprozess erfasst werden können, benennen die in der Praxis bereits realisierten Handlungs- und Verhaltensoptionen. Sie sind durch die Positionen-, Macht-, und Kapitalverteilungsver-

47 Dazu zählen Bewegungspraktiken, insbesondere der Tanz, aber auch ästhetische Momente, visuelle Produkte sowie Rituale, Mythen und Träume. Ein im Zentrum der Diskussion um Definition, Erfassen und Bedeutung von Tanz stehender Begriff ist der des Flüchtigen: „Es wäre aber verkürzt anzunehmen, dass ‚das Flüchtige‘ eine spezifische Grundproblematik der Tanzforschung sei. Diese Annahme trägt eher zu einer Mythisierung des Tanzes bei. Denn das Flüchtige ist ein Phänomen, das nicht nur die Sport- oder Bewegungswissenschaften vor erkenntnistheoretische und methodische Probleme stellt. Es ist letztendlich auch für alle empirischen Sozialwissenschaften […] relevant, insofern sie sich mit menschlichen Figurationen, also mit dynamischen Ordnungen beschäftigen und betrifft auch die Kunst- und Kulturwissenschaften, sofern sie sich […] mit raum-zeitlichen Prozessen befassen.“ Klein in Brandstetter/ Klein: Bewegung in Übertragung, S.12.

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hältnisse sowie die entsprechenden Habitusformen gegeben.48 Bourdieus Theoremen zufolge können Akteure nur dann bestimmte Praktiken aus ihrer individuellen Position heraus ausagieren, wenn sie über ihre Dispositionen dazu befähigt werden. Somit impliziert der Reproduktionsmechanismus, dass die Akteure über die vermittelten Dispositionen in ihrem Habitus die entsprechenden Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucksschemata inkorporiert haben. Eine zweite Kategorie der Praktiken sind die gegebenen potentiellen Handlungs- und Verhaltensoptionen, welche in der Praxis nicht ausagiert sind. Diese erfasst Bourdieu in der Analyse als materielle und strukturelle Konditionen und Wissensbestände, die als (noch) nicht ausagierte Optionen implizit sind. Bourdieu charakterisiert Strukturverhältnisse mit den drei grundlegenden Eigenschaften Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit. Sowohl die ausagierten als auch die potentiellen Praktiken sind über die geltenden Zeit- und Raumkategorien, über ein definiertes Verständnis von Körperlichkeit und über den Umgang mit dem kulturellen Unbewußten bestimmt. Als äquivalenten Begriff hierfür setzt er den Habitus. Der Habitus erzeugt die Praktiken, indem individuell dem Akteur zugehörige, aber durch die Strukturen bedingte räumliche, zeitliche und konditionelle Dispositionen durch körpergebundenes Agieren oder Reagieren in Handlungen der Praxis umgesetzt werden. Bourdieu verwendet den Begriff Raum in mehreren Bedeutungen: als eine Metapher für sein theoretisches Konzept, als ein Raumbild einer rekonstruierten abstrahierenden Struktur und als der physische Raum der praktischen Handlungen. Der soziale Raum, ebenso wie der Feldbegriff, umfasst die beiden ersten Bedeutungen. Er versteht sich als ein theoretisches Konstrukt und als ein analytisches Werkzeug, um Praxis erfassen und darstellen zu können. Der physische Raum der Praxis steht für das Agieren an einem konkreten Ort zu einem bestimmten Moment im physischen Raum.49 Bourdieu kann anhand seiner Analy-

48 In diesem Verständnis liegt den Praktiken nicht die Intention oder eine bewusste Zweckgerichtetheit seitens des Akteurs zugrunde, noch sind sie akteurunabhängig nur den determinierenden Strukturverhältnissen zuzuschreiben. Konstitutiv für Praktiken sind die erworbenen Dispositionen der Akteure, die in der Feldgenese durch die Strukturverhältnisse definiert und vermittelt sowie dem Akteur in seinem Habitus inkorporiert sind. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.167/168. 49 Bourdieu: Meditationen, S.167/168. Bourdieu situiert innerhalb der Strukturverhältnisse die Dinge und ihre materiellen und symbolischen Eigenschaften ebenso wie den Akteur mit seinen Dispositionen im Hinblick auf ihm eigene Verkörperungen und als biologisches Individuum. Ebd.

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sen belegen, dass die Struktur der Verortung der Akteure im physischen Raum homolog der Struktur ihrer sozialen Positionen entspricht.50 Bourdieu teilt in zwei Zeitlichkeiten – im Sinne zweier Zeitbegriffe – ein. Eine Perspektive der Zeitlichkeit erfasst den gegenwärtigen Moment. Er resultiert aus seiner Genese im zeitlichen Lauf: jeder Moment der Vergangenheit ist determinierend für den gegenwärtigen Zustand der Raumstruktur. Insofern ist im gegenwärtigen Zeitpunkt die Vergangenheit mit ihren Indikationen und ausagierten sowie nicht ausagierten Möglichkeiten präsent. Ebenso enthält er bereits die Indikationen und Möglichkeiten der zukünftigen Momente. 51 Relevant für den Begriff der Praktiken ist die akteurbezogene Zeitlichkeit, die Bourdieu innerhalb dieser Perspektive rekonstruiert. Die Zeitlichkeit des Akteurs ist auf den Blickwinkel bzw. das Zeitempfinden des Akteurs limitiert. Er agiert in einem Moment ohne einen umfassenden Überblick über vergangene und parallel situierte Momente; für kommende Momente kann er lediglich bewusst oder unbewusst mögliche Effekte antizipieren.52 So entsteht im Agieren der Akteure eine Zeitlichkeit, die sich aus zeitlichen Bestimmungen der Strukturverhältnisse, der gegebenen akteurgebundenen Dispositionen (darunter ebenso biologische Gegebenheiten) und individuellen Empfindungen des Akteurs zusammensetzt.53 Dem gegenüber steht die Zeitlichkeit des wissenschaftlichen Arbeitens bzw. des historisierenden Schreibens. Sie entspricht der Perspektive des posteriori. Die Analysen setzen an einem vergangenen Geschehen bzw. an einem vergangenen Moment an. Das erlaubt dem Analysierenden eine Perspektive des übergreifenden Erfassens der Situation, die die konstituierenden sowie die weiterführenden Indikationen eines Moments bereits beinhalten. Die reale Zeit in der Praxis wird aufgehoben und in ein Analyseschema einer zeitlichen Abfolge einge-

50 Bourdieu: Meditationen, S.173. Mit der Strukturhomologie begründet sich das spezifische symbolische Kapital als eine Funktion der Bedeutungs- und Sinnstiftung. Demzufolge impliziert jeder Raumpunkt im physischen Raum neben seinen Dispositionen als soziale Position ebenso einen symbolischen Wert. Ebd., S.189. 51 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.172/173. 52 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.149. 53 Bourdieu: Meditationen, S.265. Bourdieu verdeutlicht, dass die Raumstrukturen das Zeitempfinden der Akteure und deren Agieren determinieren. Dazu zählen beispielsweise Zeitraumplanungen wie Kalender, Urlaubsperioden, Feiertage, Öffnungs- und Ruhezeitenregelungen, aber auch Körperrhythmen und Bewegungsdynamiken. Vgl. u.a. Bourdieu: Praktische Vernunft, S.117.

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fügt.54 Bourdieu bestimmt das akteurgebundene Wahrnehmen und Agieren in der Praxis sowohl als eine Verzeitlichung seitens der Akteure als auch eine verzeitlichende Prägung durch die Strukturverhältnisse. Die ausagierten Praktiken realisieren zugleich eine Verzeitlichung der gegebenen Strukturen und sind damit ein Aspekt des Begriffs Geschichte.55 Als eine weitere Bestimmung der Praktiken benennt Bourdieu deren Körpergebundenheit. Bourdieu bezieht das Körperliche als ein Konstitutives der Praxis in seinen späteren Arbeiten, insbesondere in den Meditationen, als theoretischen Begriff ein. Er argumentiert für die grundlegende Anwesenheit des Körperlichen im gesellschaftlichen Ganzen: der Akteur ist durch den Habitus als die inkorporierten Strukturverhältnisse konditioniert. Akteur und Praxis sind für Bourdieu dabei keine Oppositionen, die sich gegenseitig beeinflussen, sondern er konstatiert eine dialektische Verwobenheit zwischen Akteuren, Strukturen und körpervermittelten Dispositionen. Die Strukturen werden zugleich über das körpergebundene Agieren der Akteure generiert und reproduziert.56

54 Bourdieu: Meditationen, S.265. Der Zeitbegriff des im akademischen Feld legitimierten wissenschaftlichen Arbeitens ist der des scholastischen Standpunkts. Kennzeichnend ist, dass Zeit als „eine vorgegebene, an sich seiende Realität betrachtet wird, die der Praxis vorgängig oder äußerlich ist“. Ebd. Aus dieser Einsicht heraus ist die erkenntnistheoretische Frage danach zu stellen, in welchem Verhältnis wissenschaftliche Erkenntnis der Praxis gegenübersteht und welches Wissen es über die Praxis geben kann. Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.149. 55 Vgl. Bourdieu: Soziologische Fragen, S.73 sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Habitus. Illusio. Rationalität. Aufgrund der Annahme, dass die Genese spezifischer Strukturverhältnisse mit spezifischen Interessen, Habitusformen und Formalisierungen einen Prozess im Verlauf einer Zeit und innerhalb eines physischen und sozialen Raums beschreibt, ist diese gleichzusetzen mit Geschichte. Vgl. zum Begriff Geschichte den Abschnitt ‚Inkorporierung der Geschichte‘ in diesem Kapitel. 56 Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.171/172. Bourdieu geht in seinen Überlegungen zur Funktion des Körperlichen von der pascalschen Reflexion über das ‚Ding Leib‘ als reiner biologischer Mechanismus aus. Er weist das Paradigma der Körper-GeistTrennung im Hinblick auf den Erkenntnisbegriff zurück. Er konstatiert die Notwendigkeit, das Körperliche in den Erkenntnisprozess einzubeziehen. Die dialektische Verwobenheit kann nicht in rein materiellen und räumlichen Kategorien der rationalen Logik, sondern muss unter Berücksichtigung der Verkörperlichung und Körperlichkeit mit anderen Kategorien erfasst werden. Bourdieu stellt hierfür die Konzepte Habitus, hexis, praktischer Sinn, illusio und Raum des Möglichen zur Verfügung. Vgl. bei Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.173/174 und S.180.

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Bourdieu macht in Bezug auf die Praktiken auf die grundlegende Anwesenheit des Körperlichen aufmerksam. Der Akteur agiert durch den individuellen Habitus und die individuelle hexis. Das Ausagieren der Praktiken versteht Bourdieu als einen Prozess, der zum einen durch Inkorporierung der geltenden Bestimmungen des Räumlichen, des Zeitlichen und der konditionierenden strukturellen Dispositionen, zum anderen notwendig durch die Körperlichkeit des Akteurs möglich ist.57 Die Körper werden in ihrer Art sich zu bewegen, in ihrer Haltung und Statur sowie in den potentiellen Möglichkeiten ihrer Bewegungsoptionen konditioniert. Diese Körperschemata umfassen Körperhaltungen und Körperbewegungen (hexis), aber auch Artikulationen wie Sprache, Gesten und Reaktionen des Affektiven (spezifische Habitusformen) sowie mentale und kognitive Dispositionen (Habitus).58 Ein erstes Verständnis einer Materialität formuliert Bourdieu mit der Inkorporierung der Strukturverhältnisse: sie finden sich in den Habitusformen (und damit in den Praktiken) und der hexis (an Körperlichkeit gebundene Dispositionen) der Akteure wieder. Eine zweite Form der Materialisierung konstatiert Bourdieu in den Dingen, die in der Praxis bzw. in der Relation von Dingen, Wissen und Praktiken vorzufinden sind. Dinge wie Gegenstände und Güter existieren als Objekte innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse und implizieren eine in ihnen archivierte Geschichte des Felds.59 Spezifisches Kapital des Körperlichen Das Körperliche stellt dahingehend eine Besonderheit dar, dass es direkt an die materielle Komponente des biologischen Körpers des Akteurs gebunden ist. Die durch den Akteur ausagierten Praktiken realisieren sich erst vermittels des Körperlichen. Das Körperliche hat dabei eine Doppelfunktion inne: es konditioniert die Praktiken durch körperliche Dispositionen und es realisiert die Praktiken durch körpergebundenes Agieren. Aus dieser Perspektive heraus bilden Räumlichkeit und Zeitlichkeit Attribute des Körperlichen. Desweiteren ist, dem Kapitalbegriff bei Bourdieu folgend, die inkorporierte Kapitalform eine körpergebundene. Somit kann das Körperliche als ein akteurgebundenes Kapital verstanden werden. Es setzt einen Verinnerlichungsprozess (Körperlichkeit) voraus, der eine Zeitinvestition (Zeitlichkeit) bedeutet und sich im Ausagieren im Raum (Räum-

57 Bourdieu: Meditationen, S.234/235 sowie ders.: Sozialer Sinn, S.126–131. 58 Bourdieu: Meditationen. Habitus und Einverleibung; sowie ders.: Sozialer Sinn. Glaube und Leib, S.122–126. 59 Bourdieu: Meditationen. Soziales Sein. Zeit. Sinn. Dasein, S.272.

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lichkeit) realisiert. Das Körperliche ist für kulturelle Praktiken dahingehend als ein spezifisches Kapital bestimmt, dass es den kulturellen Praktiken eigene Dispositionen impliziert. Das spezifische Kapital des Körperlichen kann durch drei Modalitäten gekennzeichnet werden.60 Als eine Kapitalform lässt es sich über die Investition an Arbeit und Zeit generieren und modifizieren. Seine Konvertierung in andere Kapitalformen ist möglich, allerdings werden der Wert des spezifischen Kapitals und das Konvertierungsverhältnis durch die Strukturverhältnisse definiert und können im starken Missverhältnis zu den Investitionen stehen. Desweiteren ist das spezifische Kapital des Körperlichen direkt an die Machtbeziehungen gebunden, da diese über das Körperliche vermittelt werden: das Körperliche konstituiert sie und wird durch sie ebenso konditioniert. Schließlich ist das spezifische Kapital des Körperlichen ein verkörpertes kulturelles Kapital, das an den jeweiligen Akteur mit seinen individuellen Dispositionen sowie an das durch Investitionen an Zeit und Arbeit generierte Wissen gebunden ist. Inkorporierung der Geschichte Die Entwicklung spezifischer Strukturverhältnisse realisiert sich schlussfolgernd aus der gegebenen Räumlichkeit und Zeitlichkeit heraus sowie durch die Körperlichkeit der Akteure beziehungsweise durch die Materialität der Gegenstände. Der Begriff Geschichte bezeichnet die Entwicklung dieser Strukturverhältnisse. Sie ist im gegenwärtigen Moment als die inkorporierten Dispositionen, als die realisierten und nicht realisierten Möglichkeiten sowie als die Handlungsoptionen der zukünftigen Entwicklung präsent. Ebenso ist die Geschichte jedem Element der Strukturverhältnisse, den Lebensläufen und Habitusformen der Akteure sowie den Mechanismen der Institutionen eingeschrieben. Die Einschreibung meint die Vermittlung, Inkorporierung und die Reproduktion bestehender Verhältnisse. Sie ist mit der Verkennung dieses Prozesses seitens der Akteure verbunden.61 Die scheinbare Selbstverständlichkeit entspricht einem Vergessen der Geschichte. Sie wird durch das Ausagieren der Praktiken ohne eine bewusste Erinnerungsarbeit erinnert. Durch das Erfassen der Entwicklung von Strukturver-

60 In Anlehnung an Gugutzer: Soziologie des Körpers, S.68–70. 61 Bourdieu: Soziologische Fragen, S.110. Für die Art und Weise der Einschreibung setzt Bourdieu den Begriff einer Spur: der gegenwärtige Moment eines Objekts oder Akteurs ist in seiner Genese zurückzuverfolgen, aber es ist nicht mehr nachzuvollziehen, wer oder was diese Spuren verursacht hat. Den Begriff der Spur nutzt Bourdieu an wenigen Stellen; er scheint metaphorischer Art. Ebd.

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hältnissen kann diese im Begriff der Geschichte als empirisches Wissen festgeschrieben werden.62 Bourdieu versteht die Situation des Vergessens der Geschichte als ein fehlendes Bewusstsein um die Prozesse der Reproduktion und Inkorporierung. Er nennt es das kulturell Unbewußte. Es umfasst die zuvor benannten unbewussten Prozesse der Inkorporierung und die über die Körperlichkeit konditionierte räumliche und zeitliche Organisation in der Praxis. Damit verbunden sind die feldspezifischen Dispositionen und Formalisierungen. Ebenso sind ihm die spezifischen Wissensbestände zugeordnet.63 Sie werden durch die ausagierten Praktiken sichtbar und erfassbar. An diesem Punkt schließt sich der Kreis der strukturellen Bedingtheit der kulturellen Praktiken und ihrer Kennzeichnung als das Ausagieren der ihnen inkorporierten Geschichte. Darüber hinaus artikuliert sich das kulturell Unbewußte in der Materialität der Dinge und ihren Eigenschaften. Die impliziten Wissensbestände, das Wahrnehmen, das Ausagieren und die materiale Komponente dieses kulturell Unbewußten in der Praxis entsprechen dem Begriff des kulturellen Erbes.64 Den fortlaufenden Prozess der Inkorporierung als die Vermittlung des kulturell Unbewußten findet sich in Bezug auf die kulturellen Praktiken in drei Modalitäten wieder: der Habitus als Erzeugungsprinzip von Praktiken, die hexis als dauerhaft einverleibte Körperhaltungen und Körperschemata sowie das kulturelle Kapital als ein spezifischer Wert. Diese Modalitäten können symbolischen Wert erhalten, sofern sie seitens der Definitionsmacht in bestimmter Weise legi-

62 Bourdieu: Soziologische Fragen, S.111; ders.: Sozialer Sinn, S.105. Mit der Einschreibung der Geschichte ist verbunden, dass ein Element, ein Objekt oder ein Lebensweg (trajectoire) nicht mehr ohne die Kenntnis der Geschichte des Felds bzw. der Genese seiner Strukturen zu verstehen sind. Somit entsprechen das durch die Strukturverhältnisse Vermittelte und den Akteuren, Dingen und Institutionen Inkorporierte einem in Zeit und Raum generierten praktischen Bewusst-Sein in Form eines nicht notwendigerweise bewussten Wissens über Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungsprinzipien. Auf diese Weise entstehen für die Akteure praktische Schemata, die es ihnen erlauben, entsprechend dem Interesse und den Dispositionen ihrer Positionen zu agieren. Bourdieu benennt diese Wissensform das kulturell Unbewußte. Vgl. Bourdieu: Rede und Antwort, S.102. 63 Bourdieu: Meditationen, S.223/224. 64 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.117.

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timiert sind. 65 Diese Aspekte des kulturell Unbewußten werden im Folgenden weiter ausgeführt. Der Mechanismus für die Konstitution der Praxis und für die Reproduktion der Strukturverhältnisse vollzieht sich durch den Habitus. Er hat die vermittelnde Funktion zwischen den inkorporierten Strukturverhältnissen, den Positionen und ihren Dispositionen, den Akteuren mit ihren individuellen Lebensläufen, den körperbasierten Erfahrungen und Praktiken sowie den Denk-, Empfindungs- und Ausdrucksweisen als die ausagierten konstitutiven Schemata inne. In einem Prozess der kontinuierlichen Konditionierung werden über das Körperliche die Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungsschemata vermittelt. Sie bilden die spezifische (strukturbezogene) bzw. individuelle (akteurbezogene) Art und Weise der Körperhaltung (hexis), des Redens (sprachlicher Habitus), des Gehens und Bewegens (Bewegungshabitus) sowie die Kategorien des Fühlens und Denkens (emotionaler und mentaler Habitus).66/67 Das Konditionieren des Habitus der Akteure bildet einen Teil eines Funktionsmechanismus, den herrschende Positionen zur Durchsetzung ihrer Interes-

65 Die Dreiteilung bestätigt sich in der Sekundärliteratur; u.a. bei Fröhlich/Rehbein: Bourdieu Handbuch, S.81. 66 Der Habitus weist zwei Funktionsweisen auf: er stellt Wahrnehmungs-, Bewertungsund Handlungsschemata zur Verfügung, die dem Akteur ermöglichen, in der Praxis zu agieren; desweiteren steht der individuelle Habitus eines Akteurs als eine mögliche strukturadäquate Habitusform für dessen individuelle Geschichte (trajectoire). Vgl. u.a. Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.175–177; Bourdieu: Sozialer Sinn, S.129. Bourdieu formuliert die Verbindung zwischen Habitus, erlebter Individualität des Akteurs und Körperlichkeit, indem er den Habitus als das definiert, „was man erworben hat, was aber in Form bleibender Dispositionen dauerhaft körperliche Gestalt angenommen hat.“ Ders.: Soziologische Fragen, S.127. Bourdieu verweist auf Körperhaltungen und Bewegungen in der westlichen Welt, gleichermaßen für Frauen und für Männer, in der über vergleichbare Prozesse Körperhaltungen der Hand, des Kopfs, der Blicke, der körperlichen Distanz, der Beinhaltung, der Rückenhaltung, etc. eingeprägt werden. Vgl. Ders.: Männliche Herrschaft, S.52/53. 67 Bourdieu konstatiert die Empfindung als eine Art und Weise des Erfahrens, ebenso wie das Gefühl als eine Art und Weise des Reagierens als ebenbürtig der rationalen Erkenntnis und des reflektierten Agierens. Er betrachtet sie gleichermaßen als konstitutiv für die Praxis, indem sie die Wahrnehmung, das Urteilen, das Reagieren und die Praktiken des Akteurs über seine Körperlichkeit beeinflussen, als auch Erkenntnis und Wissen generierend, indem sie die körperlichen Dispositionen formen. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.182.

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sen nutzen. Der Habitus erhält die Funktion eines Operators: interessenspezifische Dispositionen, Indikationen der illusio, der Definitionen und Kategorisierungen werden in der Praxis vermittelt und reproduziert.68/69 Spezifisches Kapital des Immateriellen Bourdieu konstatiert für die Dinge und Akteure innerhalb eines Beziehungsnetzes einen doppelten Wert. Sie implizieren zugleich eine materielle und eine immaterielle Komponente: die Dinge und die Akteure existieren als Elemente innerhalb spezifischer, sie konditionierender Strukturverhältnisse. Sie sind durch Eigenschaften ihrer Materialität bzw. Körperlichkeit gekennzeichnet. In der Praxis erfordern die Dinge jedoch ein Wissen darum, wie mit ihnen sinnvoll bzw. adäquat umgegangen werden muss. Gleichermaßen realisieren sich die durch Akteure ausagierten Praktiken nur über deren Körperlichkeit, sofern sie über die situationsgerechte Art und Weise des Agierens (adäquate Habitusformen) sowie die grundlegenden Fähigkeiten (Dispositionen) dazu verfügen. Diese notwendigen inkorporierten Wissensbestände formieren ein praktisches gelebtes Wissen. Dieses spezifische Wissen wird wiederum vermittels diskursiver, mentaler oder physischer Praktiken, insbesondere in Form kultureller Praktiken ausagiert.70 Kulturelle Praktiken sind dem kulturellen Kapital zugeordnet. Sie kennzeichnen sich bezugnehmend auf voran gegangene theoretische Herleitung durch ihre Eigenschaft der Inkorporierung, des Ausagierens und Vermittelns von Wis-

68 Die den Habitusformen und der hexis des Akteurs inkorporierten Dispositionen ermöglichen es, dass Akteure in Situationen ähnlicher Verhältnisse in derselben gewünschten Weise erfassen und reagieren. Bourdieu spricht von Indikatorzuständen des Körpers, denen Gemütszustände und Denkweisen korrespondieren. Im Falle von totalitären Institutionen nennt Bourdieu diese Wirkungsweise eine mittels kollektiver körperlicher Mimesis realisierte soziale Orchestration. Bourdieu denkt hier vor allem an die Inszenierung großer Massenfeierlichkeiten, in denen zum einen die Legitimität der Gruppe demonstriert wird, zum anderen aber auch durch die strikte Regelung der Prozedur, der Körperbewegungen und Ausdruckformen ein momentaner, der Gruppe zugehöriger Habitus etabliert wird. Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.127–132. 69 In den Meditationen führt Bourdieu diese in früheren Arbeiten entwickelten Gedanken zusammen, wobei seine Formulierungen in der genannten späteren Arbeit radikaler und kritischer sind. Es geht nicht nur um Konditionierung und Gedächtnisstützen im Körperlichen, sondern er formuliert dies nun als Manipulationsstrategien und somatische Hörigkeit. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.285/286. 70 Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.178; Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.730.

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sensbeständen und notwendigen Dispositionen. Ihnen kommt aufgrund dieses realisierten Reproduktionsprozesses eine konstituierende Funktion für die Strukturverhältnisse zu. Die den kulturellen Praktiken inkorporierten Wissensbestände formieren einen besonderen immateriellen Wert, der über ihre Funktionalität innerhalb der Strukturverhältnisse hinausgeht. Dieser Wert des Immateriellen fundamentiert die Definition des spezifischen Kapitals des Immateriellen. Die Bestimmung des Immateriellen als ein Wert und ein spezifisches Kapital für die kulturelle Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe wird in der konkreten Analyse nachzuprüfen sein.71 Wissenskonzepte nach Bourdieu Sofern das spezifische Kapital des Immateriellen für die kulturelle Praktik Tango als ein legitimierter Wert nachgewiesen werden kann, wird es als ein symbolisches Kapital zu bestimmen sein. Da es eng an Wissensbestände gebunden ist, wird dafür die Differenzierung der legitimierten und (noch) nicht-legitimierten Wissensbestände notwendig. Sie basiert auf dem grundsätzlichen Verständnis von Wissen bei Bourdieu: er verortet Wissen und dessen konstituierenden Elemente in der Praxis. Es impliziert ausagierte und (noch) nicht-ausagierte sowie bewusste und unbewusste Wissensbestände. Der Status ihrer Legitimierung bildet eine weitere Ebene der Differenzierung. Die legitimierten Wissensbestände entsprechen den Grundaxiomen, der doxa und illusio innerhalb der Strukturverhältnisse: auf den legitimierten Wissensbeständen fundamentieren die Definitionen und Kapitalformen, die aufgrund ihrer unhinterfragten Anerkennung die Grundaxiome der Strukturverhältnisse bilden. Die dazugehörigen Annahmen, Wertungen und Eigenschaftszuschreibungen korrespondieren der impliziten doxa. Grundlegend für die Weitergabe dieser Wissensbestände ist der den Akteuren unbewusste und immanente Glauben an die den Strukturverhältnissen eigenen, grundlegenden Interessen (illusio).72 Die (noch) nicht-legitimierten Wissensbestände implizieren Entwicklungsoptionen innerhalb der Strukturverhältnisse, denen aufgrund ihrer fehlenden Legitimierung durch die herrschenden Positionen (noch) kein symbolischer Wert zuerkannt wurde. Sie umfassen die Handlungsoptionen der Akteure sowie die dem

71 Von Interesse werden für die Analyse der Aspekt der Vermittlungs- und Reproduktionsprozesse und der Aspekt des vermittels institutioneller Praktiken zuerkannten legitimierten Wertes als immaterielles Kulturerbe sein. 72 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.124/125.

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kulturell Unbewußten zugehörigen Wissensbestände. Sie entsprechen einem hypothetischen Raum der Möglichkeiten.73 Wissensformen Konstituierend für das spezifische Kapital des Immateriellen sind die archivierten (inkorporierten und die nicht-ausagierten) sowie die ausagierten (reflektierten und die unbewussten) Wissensbestände. Konkrete Wissensformen zu deren Bestimmung lassen sich aus den Arbeiten Bourdieus ableiten. Zum einen entwickelt er aus der Kritik am scholastischen Wissenskonzept heraus den Begriff des Körperwissens. Zum anderen finden sich in Bezug auf die Begriffe der kulturellen Praktiken, auf das spezifische Kapital des Körperlichen und des Immateriellen Ansätze für die Definition einer weiteren Wissensform, die als Wissensbestände des Immateriellen benannt werden können. Körperwissen meint die an Körperlichkeit gebundenen Wissensbestände. Sie generieren sich aus dem für die Praxis konstitutiven Funktionsmechanismus zwischen dem Vermitteln, dem Erfassen und dem Agieren innerhalb der Strukturverhältnisse (Reproduktionsprozess). Die dem Körper in der Funktion von Handlungsschemata und der je spezifischen Körperhexis eingeschriebenen Strukturverhältnisse stehen als die körpergebundenen Dispositionen für ein situationsadäquates Agieren zur Verfügung. Aus diesem (Erkenntnis)Moment heraus definiert sich der antizipierende praktische Sinn. Er funktioniert als Entscheidungsinstanz für die möglichen Handlungsoptionen.74 Der praktische Sinn meint ein implizites Wissen und Bewusstsein des Akteurs im Moment seines Agierens. Durch die impliziten Prinzipien und Kategorien bestimmen sich letztendlich die Funktionen und der Wert der Dinge, der Positionen und der Gegebenheiten in der Praxis, aber auch die gesetzten Grenzen des Denkens und Handelns (im Sinne der nicht-legitimierten Optionen). Durch

73 Weitere Bestimmungen in den folgenden Abschnitten zum Raum des Möglichen. 74 Das situationsadäquate und zugleich die Praxis konstituierende Agieren verweist über die inkorporierten Dispositionen hinaus auf die verinnerlichten Prinzipien des Wahrnehmens, Wertens und Handelns. Sie bilden eine Art zugrundeliegende Wissensstruktur des Agierens. In diesem Sinne definiert Bourdieu den praktischen Sinn als ein praktisches Wissen neben dem bewussten, reflektierten und rationalen Wissen. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.178 sowie Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.730. Eine komplexe Beschreibung des Zusammenhangs der Konditionierungsprozesse vermittels des Habitus als Körperhexis und des sense of one’s place mit den Kategorien Leiblichkeit, Raum und Zeit in ebd., S.739/740.

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den Inkorporierungsprozess sind sie dem Akteur in Form des individuellen Habitus verinnerlicht.75 Der Sinn seines Agierens sowie seine stillschweigende Anerkennung des herrschenden Interesses bleiben ihm unbewusst und entsprechen einer naturalisierten doxa.76 Das Körperwissen referiert auf ein verinnerlichtes praktisches Wissen. Es verweist auf gegenwärtige Dispositionen als auch auf mögliche Handlungsoptionen. Es fundamentiert sich auf einer körpervermittelten Erkenntnis der Sinne und des Affektiven. Es lassen sich zwei Implikationen des Körperwissens definieren: das Körperwissen als ein körpergebundenes Erfahren und Erkennen sowie das Körperwissen als ein inkorporiertes Wissen. Beide Formen sind an den biologischen Körper des Akteurs gebunden.77 Das körpergebundene Wahrnehmen erfolgt über ein sinnliches und affektives Erfahren und Erkennen. Bourdieu nennt diese Weise der Wahrnehmung zunächst Eindrücke erhalten. Es vermittelt dem Akteur eine körperliche Erkenntnis

75 Eine Beschreibung der dialektischen Beziehung zwischen dem Habitus als Verkörperungsform sowie als modus operandi und dem daraus resultierenden sense of one’s place in Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.727–729. Bourdieu beschreibt als ein Beispiel eines solchen praktischen Wissens die Sprachpraktiken. Vgl. ders.: Was heißt sprechen, S.62/63, S.66/67 und S.69/70 sowie ders.: Rede und Antwort, S.141. An anderer Stelle veranschaulicht Bourdieu das Antizipieren des praktischen Sinns am Beispiel des Sports, wo er „eine recht genaue Vorstellung von dem fast wundersamen Zusammentreffen von Habitus und Feld, […] das die fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen ermöglicht. Als Ergebnis der Spielerfahrung, also der objektiven Strukturen des Spielraums, sorgt der Sinn für das Spiel dafür, dass dieses für die Spieler subjektiven Sinn, d.h. Bedeutung und Daseinsgrund, aber auch Richtung, Orientierung, Zukunft bekommt. Mit ihrer Teilnahme lassen sie sich auf das ein, um was es bei dem Spiel geht (illusio und Anerkennung der Spielvoraussetzungen – doxa).“ Bourdieu: Sozialer Sinn, S.122. 76 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.123 und 126/127 sowie ders.: Die Feinen Unterschiede, S.734/735. Wenn dieser Zustand der illusio gebrochen wird, kann ein von Bourdieu als absurd bezeichnetes Erfassen der Welt seitens des Akteurs empfunden werden, mit dem Sinn und Bedeutung hinterfragt und verkannt werden. Ebd. 77 Dieses Verständnis von Wissen geht auf die von Bourdieu verfasste phänomenologische Beschreibung des Verstehens als ein Erfassen in Rückführung auf die körperliche Präsenz zurück. Er beschreibt die praktische Erkenntnis des Akteurs als Resultat des körperlichen Erfahrens, die ihm erlaubt, ohne Rückgriff auf rationale Erkenntnis oder der Bedingung ihrer Bewusstwerdung, das Situationsadäquate zu antizipieren. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.167.

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über den gegenwärtigen Moment. Bourdieu erachtet Empfindungen und Gefühle als konstitutiv für die Praxis, indem sie die sinnliche Wahrnehmung, das Werten, das Reagieren und in der Konsequenz die Praktiken des Akteurs beeinflussen.78 Dieser Prozess des Erfahrens, Erkennens und Ausagierens generiert den verinnerlichten Wissensbestand körpergebundener Praktiken. 79 Zugleich ermöglicht das körpergebundene Erfahren und Erkennen ein situationsadäquates Agieren.80 Das inkorporierte Wissen ist ein körpergebundenes Wissen, das sich in den Habitusformen als Erzeugungsprinzip von Praktiken sowie in der hexis als dauerhaft einverleibte Körperhaltungen und Körperschemata verorten lässt. Beide bestimmen die Art und Weise des Agierens in Abstimmung der eigenen Disposition mit den strukturellen, räumlichen und zeitlichen Verhältnissen. Bourdieu definiert es als ein Wissen, das aus körperlicher Erfahrung generiert ist und einem sinnvollen Agieren des Akteurs vorausgeht. Das Besondere des körperlichen Wissens konstatiert Bourdieu in seiner unmittelbaren Gebundenheit an das Körperliche. Das meint, dass der Akteur einem solchen Wissen nicht reflektierendobjektivierend gegenübersteht, sondern dass dieses Wissen nur als dem Körper verinnerlicht existiert. Es wird durch körpergebundene Praktiken erfahrbar. Die-

78 Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.173/174. An dieser Stelle sei auf die BourdieuKritik verwiesen, welche den Aspekt des Affektiven, der Emotionalität und des Sinnlichen im Wahrnehmen, Erfassen und Agieren des Einzelnen in Bourdieus Arbeiten als fehlende Kategorie benennt. Vgl. Jäger: Körper, Leib und Soziologie, S.171/177. In der Literatur finden sich erste Arbeiten, die an diesen kritischen Punkten ansetzen. Grossberg erweitert mit dem Begriff der Empfindungsweise die von Bourdieu gestellten Kategorien der Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungskategorien um die Kategorie des Emotionalen und Empfindens. Vgl. ausführlich bei Grossberg: Verortung der Populärkultur; in Bromley/Göttlich/Winter (Hg): Cultural Studies, S.216–221. Für Bourdieu ist das Affektive und das Emotionale eine Disposition innerhalb des Funktionsmechanismus des Habitus. 79 Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.180/181. Dieser praktischen, vermittels des Körperlichen erfahrenen Erkenntnis ordnet Bourdieu den Begriff der körperlichen Intelligenz zu. Diese umfasst die Fähigkeit ohne Rückgriff auf rationale Erkenntnisweisen wahrzunehmen, zuzuordnen und situationsadäquat zu reagieren. Bourdieu verweist auf die Praktiken des Sports, der Musik und des Tanzes. Ebd. 80 Bourdieu/Wacquant: Meditationen, S.237/238. Letztendlich ist der praktische Sinn gemeint. Er ist in den drei Aspekten der Sinne, der Praktiken und des Affektiven an das Körperliche gebunden. Affektiv umfasst demzufolge die Befindlichkeit des Akteurs: seine Stimmungen, Eindrücke, Gefühle, emotionalen Reaktionen (Scham, Angst, Wut, Schüchternheit, Aggression, etc.). Ebd.

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se Prozesse der Wissensbildung vollziehen sich ohne Rückgriff auf reflektierte, rationale und diskursive Erkenntnisweisen.81 In den beschriebenen Prozessen wurde die Vermittlung und Inkorporierung der den Strukturen korrespondierenden doxa, illusio und Handlungsoptionen als eine Wissensgenerierung verstanden. Zuvor konnte bereits das spezifische Kapital des Immateriellen definiert werden. Auf diesen beiden Elementen basieren die Wissensbestände des Immateriellen. Das erste Element bezieht sich auf das Körperwissen. Es umfasst die Habitusformen als Erzeugungsprinzip von Praktiken im Sinne eines modus operandi und die hexis als dauerhaft einverleibte Körperhaltungen und Körperschemata im Sinne einer Disposition. Das zweite Element entspricht dem kulturell Unbewußten. Es impliziert die zugrundeliegenden Denkweisen und Axiome (doxa) sowie die definierten und legitimierten Formalisierungen und Kodifizierungen. Das kulturell Unbewußte steht für die Handlungsoptionen und realisiert sich letztendlich in den ausagierten Praktiken. Die beiden Aspekte der Wissensbestände des Immateriellen – das inkorporierte Wissen und das kulturell Unbewußte – vereint Bourdieu im Begriff Raum des Möglichen. Er nimmt zwei Kategorisierungen vor. Im Raum des Möglichen finden sich zum einen die bereits ausagierten, und entsprechend zuvor definierten, formalisierten und legitimierten Praktiken. Zum anderen sind es die in den Habitusformen inkorporierten Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen, die von Seiten der Akteure auf neue Entwicklungsmöglichkeiten hin wahrgenommen und ausagiert werden können. Der Raum des Möglichen stellt somit die generierten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucksschemata als Wissensbestände des Immateriellen zur Verfügung. Sie sind in ihrer Realisierung durch die feldspezifischen Dispositionen, Codes und Formalisierungen konditioniert und reglementiert.82

81 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.135/136 und S.142/143. Auf analytischer Ebene entspricht das Körperliche mit seinen inkorporierten Wissensbeständen einem modus operandi, der eine Disposition des Akteurs beschreibt und den praktischen Sinn konstituiert. Auf praktischer Ebene der Handlungsanalyse konstatiert Bourdieu die direkte Wirkung der körperlichen hexis auf die körperliche Motorik, indem sie die Art und Weise der Ausführung der Praktiken bestimmt. Ebd. 82 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.372/373. Bourdieu ordnet die Zulassungsvoraussetzungen zum Feld, die juridischen und kommunikativen Codes diesem Aspekt zu als: „Schemata, die in Gestalt der konstitutiven Strukturen des Feldes objektiv existieren und zugleich in den mentalen Strukturen und konstitutiven Dispositionen des Habitus

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Bourdieu differenziert unwesentlich zwischen dem Begriff Raum des Möglichen und dem Begriff kulturelles Erbe. Wobei erster tendenziell als die theoretisch-analytische Kategorie, und zweiter in Bezug auf das praktische Ausagieren der Wissensbestände, Handlungsoptionen, Wahrnehmungs- und Denkkategorien verwendet wird. Dementsprechend kann die Zuordnung der legitimierten Elemente zum Begriff kulturelles Erbe und die Gesamtheit der legitimierten und der (noch) nicht-legitimierten Elemente zum Begriff Raum des Möglichen vorgenommen werden. Für die Vision eines reichen kulturellen Erbes kann aus diesem Argumentationszusammenhang die Notwendigkeit geschlussfolgert werden, die Reglementierungen der Wissensbestände aus dem Raum des Möglichen so niedrig als möglich zu halten: je geringer der Grad der Formalisierung und Limitierung vermittelter Definitionen, desto vielfältiger das kulturelle Erbe, das gewahrt werden kann; desto größer die Bandbreite der möglichen Optionen, die das kulturelle Erbe weitergibt, desto vielfältiger und innovativer das Ausagieren konkreter Praktiken seitens der Akteure. Die Entwicklung sozialer Räume oder Felder basiert auf ihrer fortlaufenden Reproduktion. Dafür lassen sich verschiedene Reproduktionsmechanismen konstatieren. Aus dem Raum des Möglichen heraus können zunächst scheinbar neue Entwicklungen im Sinne solcher Reproduktionsoptionen entstehen. Scheinbar, da sie als Denkbares innerhalb der strukturellen Konstellationen aus Positionen, Dispositionen, Interessen, Wahrnehmungen und Handlungsoptionen bereits angelegt sind; zum anderen jedoch erst durch das individuelle Ausagieren seitens der Akteure bzw. Institutionen aus deren spezifischer Konstellation ihrer Positionen heraus in Erscheinung treten. Diese neuen Entwicklungen verbleiben in dem Moment als ausagierte bestehen, wenn sie auf Akteure treffen, die sie aus ihren Positionen heraus als sinnvoll erkennen und damit legitimieren.83

körperlich verankert sind […]. [Sie bilden das] Universum dessen, was zu tun und zu sagen ist.“ Ebd., S.427. 83 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.371/372. Bourdieu nennt als Beispiele neue künstlerische Bewegungen, neue politische Gedanken, neue Frontenbildungen. Bourdieu kennzeichnet die scheinbar neuen Entwicklungen in seinen auf das Feld der Kunst bezogenen Arbeiten als eine Form struktureller Lücken, die bereits virtuell im Raum des Möglichen gegeben sind und seitens der Akteure in der Praxis ausagiert werden können. Voraussetzung dafür ist, dass die Akteure diese Virtualität wahrnehmen und als ein ihnen Korrespondierendes erkennen. Vgl. bei Bourdieu: Regeln der Kunst, S.372 und S.378. Bourdieu nutzt mit dem virtuell Möglichen einen metaphorisch anmutenden Begriff innerhalb seines strukturell angelegten Vokabulars.

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Damit ist ein Mechanismus der vermittelnden Strukturverhältnisse zwischen dem Raum des Möglichen, dem ausagierten kulturellen Erbe und den konkreten Praktiken der einzelnen Akteure formuliert. Bourdieu verweist weiterführend darauf, dass der Rückgriff auf den Raum des Möglichen bzw. die Verfügbarkeit des kulturellen Erbes nicht für alle Akteure gleich ist. Das generierte Erbe an Wissensbeständen, Dingen und Gütern sowie Praktiken ist an die Positionen gebunden, die über dieses aufgrund ihrer Dispositionen verfügen können. Diese Verfügbarkeit entspricht auf struktureller Ebene der Kapitalverteilung und den Dispositionszuschreibungen im Raum bzw. Feld. In diesem Zusammenhang ist es für Bourdieu entscheidend, dass der Zugang zu kulturellem Kapital und zu den mit hohem symbolischen Kapital definierten kulturellen Bereichen keinesfalls nur im Sinne der Gleichheit an das Interesse oder die Intelligenz oder das Talent, sondern immer auch an die grundlegende Disposition der Kapitalstruktur eines Akteurs gebunden ist.84 Die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten und die Handlungsoptionen der Akteure basieren auf den Wissensbeständen des Immateriellen und entsprechen einem hypothetischen Raum der Möglichkeiten. Mit dem kulturell Unbewußten vermitteln sich von Generation zu Generation den kognitiven und mentalen Strukturen der Akteure implizite Wissensbestände und mögliche Optionen. Sie bilden den Bestand an Entwicklungsmöglichkeiten in der Praxis. Indem diese Wissensbestände durch ein Ausagieren als ein kulturelles Erbe realisiert werden, bleiben sie im Raum des Möglichen erhalten. Werden sie aufgrund von feldspezifischen Mechanismen und Interessen nicht in die Praxis vermittelt, korrespondiert ihrem Vergessen ein Verschwinden aus dem Raum des Möglichen im Laufe der zeitlichen und räumlichen Reproduktion.

84 Bourdieu negiert, dass „das kulturelle Erbe eine unteilbare Eigenschaft der Gesamtheit der Gesellschaft ist.“ Bourdieu: Meditationen, S.193. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.117 sowie Bourdieu/Passeron: Theorie der Symbolischen Gewalt, S.96. Er konkretisiert: „Da die kulturellen Güter als symbolische Güter nur von denen als solche erfasst und besessen werden können […], die den Code besitzen, der es ermöglicht, sie zu entziffern, oder anders gesagt: da die Aneignung dieser Güter den vorherigen Besitz der Instrumente der Aneignung voraussetzt, braucht man nur die Gesetze der kulturellen Übermittlung spielen lassen, damit das kulturelle Kapital zum kulturellen Kapital wandert und somit die Struktur der Verteilung des kulturellen Kapitals unter den sozialen Klassen reproduziert wird [...].“ Ebd.

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Begriff kulturelles Erbe Der Begriff kulturelles Erbe wird aus der Zusammenführung der Relation der inkorporierten und ausagierten Elemente spezifischer Strukturverhältnisse formuliert. Der nachvollzogene Prozess der Inkorporierung machte deutlich, dass das Ausagieren der vermittelten Konditionierungen (Dispositionen und Habitusformen) in der Praxis eng an die Konstituierung der spezifischen Kapitalformen des Körperlichen und des Immateriellen gebunden ist. Er verweist gleichermaßen auf die Wissensformen des Körperwissens und der Wissensbestände des Immateriellen. Diese Wissensbestände sowie die realisierten und (noch) nichtrealisierten Möglichkeiten bilden zusammen den Raum des Möglichen; die ausagierten Wissensbestände als Praktiken und in Form materiell existierender Elemente bilden das kulturelle Erbe.85 Aus diesen komplexen Konstituierungs- und Vermittlungsmechanismen heraus generiert sich das spezifische kulturell Unbewußte. Es funktioniert als ein allen strukturzugehörigen Elementen eigenes kulturelles Gedächtnis. 86 / 87 Es be-

85 Ausgehend von dieser Referenzkette kann das zugrunde liegende dialektische Beziehungsverhältnis nachvollzogen werden: „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.“ Bourdieu: Sozialer Sinn, S.101. 86 Die praxistheoretische Sicht auf Gedächtnis und Erinnern formuliert einen Zusammenhang aus dem kulturanthropologischen Gedächtniskonzept und der bourdieuschen Inkorporierungsthese. Sie umfasst zum einen die Überlieferung von Sinn als das kulturelle Gedächtnis. Die Gedächtnisformen korrespondieren als Praxisformen einem gesellschaftlichen Sinn. Das kulturelle Gedächtnis steht damit für ein abstraktes, allgemeines Prinzip von Erinnerung: ein spezifischer Wissensbestand, der sich auf Basis kulturspezifischer Inhalte, Organisationsformen und dazugehöriger Medien und Institutionen formiert sowie den zugehörigen Akteuren vermittels des Erinnerns inkorporiert ist. Vgl. bei Assmann: Das Kulturelle Gedächtnis, S.19–24; sowie Assmann/Hölscher: Kultur und Gedächtnis, S.15/16; sie umfasst zum anderen das habituelle Gedächtnis. Es versteht sich als ein inkorporiertes, in der Alltagspraxis wirkendes Gedächtnis, das sowohl ein für das Individuum situationsadäquates als auch ein für die gesellschaftliche Struktur fortwirkendes Handeln ermöglicht. Es ist dem Begriff

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wahrt Wissensbestände in der Funktionsweise eines Archivs auf. Es wird durch das praktische Agieren erinnert und von Generation zu Generation als ein kollektives kulturelles Erbe in Form ausagierter inkorporierter Wissensbestände weitergegeben. Das in dieser Weise über das kulturelle Erbe bewahrte Wissen entspricht dem Bestand an Entwicklungsmöglichkeiten in der Praxis. Das benannte Beziehungsverhältnis zwischen dem Raum des Möglichen, der inkorporierten Entwicklung der Strukturverhältnisse, dem ausagierten kulturellen Erbe, den konkreten kulturellen Praktiken und den generierten Wissensbeständen ist an Positionen gebunden, deren Akteure über die entsprechenden Elemente verfügen können. Der Zugang ist konditioniert durch die korrespondierenden Dispositionen und spezifischen Habitusformen. Schlussfolgernd ist zu konstatieren, dass nur dann bestimmte Praktiken durch die Akteure ausagiert werden können, wenn sie über ihre Dispositionen dazu befähigt sind. Die Reproduktionsprozesse innerhalb der Strukturverhältnisse müssen demzufolge ermöglichen, dass die Akteure eine größtmögliche Varianz an Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucksschemata des kulturellen Erbes inkorporieren und aus ihrer Position heraus als kulturelle Praktiken ausagieren können.88 In den ‚Regeln der Kunst‘ definiert Bourdieu in einer normativen Stellungnahme sein Verständnis des Reproduktionsprozesses mit Referenz auf seinen Kulturbegriff und stellt die Forderung auf: „die Kultur nicht als totes Erbe be-

des inkorporierten Wissens zugeordnet. Vgl. Frank/Rippl: Arbeit am Gedächtnis, S.36–39; sowie Hahn: Körper und Gedächtnis, S.102–106. 87 Ebenso wie ein cultural turn und ein body turn in der wissenschaftlichen Diskussion zu verzeichnen waren, ist eine verstärkte Ausrichtung auf den Aspekt von Erinnerung und Gedächtnis zu konstatieren. Eine fundierte Grundlage für die Diskussion des Gedächtnisthemas bildet die kulturanthropologische Forschung unter Federführung Assmanns/Assmanns. In ihren Arbeiten differenzieren sie die Genese und Ausformungen der Gedächtnisformen und Erinnerungsweisen. Vgl. Assmann: Das Kulturelle Gedächtnis, S.19–21 und S.35–47. Für die einzelnen Aspekte des Gedächtnisthemas siehe Assmann: Zeit und Tradition; Assmann: Erinnerungsräume; Assmann/Assmann: Kanon und Zensur; Assmann/Harth: Kultur als Lebenswelt und Monument und Assmann/Harth: Mnemosyne. 88 Bourdieu: Meditationen, S.193/195. Er verdeutlich: „In dem geschichtlich erworbenen Habitus liegt die Möglichkeit zur Aneignung des geschichtlich Erworbenen. Wie der Brief nur durch die Lektüre, die eine erworbene Fähigkeit zum Lesen und Entziffern voraussetzt, dem Schicksal entrinnt, toter Buchstabe zu bleiben, so kann die (in Instrumenten, Monumenten, Werken, Techniken, usw.) objektivierte Geschichte nur agierte und agierende Geschichte werden, wenn sich Akteure ihrer annehmen.“ Ebd.

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greifen, dem man den obligaten Kult ritueller Verehrung entrichtet, und auch nicht als Herrschafts- und Distinktionsinstrument“, und fährt fort: „sondern als Instrument der Freiheit, die Freiheit voraussetzt, als modus operandi, der erlaubt, das opus operatum der geschlossenen, verdinglichten Kultur ständig zu überschreiten.“89 Anstelle dessen, dass die legitimierten Praktiken auf ein starres Reproduktionsschema hin ausgerichtet im Interesse der Machtstrukturen definiert werden, sieht Bourdieu in der weitgehend unreglementierten Handhabe des kulturellen Erbes die Möglichkeit des Wandels (modus operandi). Diese Handhabe setzt ein Bewusstsein um das kulturelle Erbe voraus. Es korrespondiert mit dem Wissen, dem Wahrnehmen und der Möglichkeit des Ausagierens der Wissensbestände des Immateriellen in der Praxis. Bourdieu konstatiert einen weiteren Aspekt des kulturellen Erbes, indem er sich auf die Grundaxiome spezifischer Strukturverhältnisse bezieht: darin kennzeichnet er es als das Produkt der Auseinandersetzungen, in denen es um die Anerkennung bestimmter Standpunkte, Eigenschaften, Definitionen und Praktiken geht. Damit steht das kulturelle Erbe für den legitimierten Standpunkt, der die Definitionsmacht über die geltenden Grundaxiome innehat, und agiert als ein Modus kultureller Produktion (opus operatum), bzw. als die gültige Norm.90 Zusammenfassend wird konstatiert, dass die den Strukturverhältnissen implizite Geschichte einem Raum des Möglichen korrespondiert, aus dem heraus das soziale oder konkret kulturelle Erbe ausagiert wird. In diesem Sinne kann das zirkulierende Erbe als eine Gesamtheit des spezifischen materiellen, sozialen und kulturellen Kapitals verstanden werden. Es definiert in dem Moment, da es innerhalb der Strukturverhältnisse erkannt und anerkannt ist, das symbolische Kapital. Die kulturellen Praktiken korrespondieren dem aus dem Raum des Möglichen heraus ausagierten kulturellen Erbe und realisieren die in den Dingen und Strukturen objektivierte Geschichte in der gelebten Praxis.91 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass in spezifischen Strukturverhältnissen generierte Positionen nur

89 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.524. 90 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.407/408; S.428/429 und S.385. 91 Assmann führt hierfür den Begriff der lebendigen Kultur ein. Dieser referiert auf die Konzepte Tradition und Bildung als „Fundus gemeinsamen Wissens, der eine kulturelle Identität stützt, indem er bestimmte Formen der Wiedererkennung und gleichartige Erfahrungen ermöglicht.“ Assmann: Zeit und Tradition als Kulturelle Strategien der Dauer, S.133; sowie ausführlich S.88–159. Assmann definiert den Zusammenhang aus lebendiger Kultur und Gedächtnis: „Was wir unter Kultur verstehen, ist mit einem generationenübergreifenden Gedächtnis gleichzusetzen, in dem über(lebens)zeitlich gehandelt und kommuniziert werden kann.“ Ebd., S.159.

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dann besetzt bzw. korrespondierende Wissensbestände als Praktiken ausagiert werden können, sofern die Akteure entsprechende Dispositionen und Habitusformen vermittelt bekommen. Andernfalls geht das mit den Praktiken verbundene kulturelle Erbe verloren. Beziehung zur Definitionsmacht In den Arbeiten Bourdieus kommt den Machtverhältnissen eine Schlüsselstellung zu. Machtverhältnisse versteht Bourdieu als die bestehenden relationalen Strukturen in enger Bindung an die jeweils akkumulierten Kapitalarten. Sie sind zugleich symbolische Verhältnisse, da sie prinzipiell nicht auf direkten physischen oder materiellen Zwängen beruhen, sondern auf kognitiven Akten des Erkennens und Anerkennens sowie auf Inkorporierungs- und Reproduktionsprozessen. Diese symbolische Macht gründet auf dem staatlichen Kapital und korrespondiert dem institutionellen Akteur Staat. Sie ist durch eine hohe und spezifische Kapitalkonzentration gekennzeichnet und schließt die Anerkennungs-, Legitimierungs- und Definitionsmacht ein.92 Dem staatlichen Akteur korrespondiert eine hohe Autorität für die Praktiken des Formalisierens, Kodifizierens und Bürokratisierens sowie in Bezug auf die geltende doxa.93 Innerhalb der Machtverhältnisse sind verschiedene Mechanismen für das Konditionieren der Strukturverhältnisse zu benennen. Ziel der herrschenden Positionen ist es, ihre Interessen durchzusetzenden. Dafür müssen diese in die Praxis vermittelt, um durch Praktiken ausagiert zu werden. Dieser Mechanismus setzt voraus, dass ihm eine Formalisierung von Prinzipien und Kategorien vorausgegangen ist. Die Formalisierung meint die Definition, Kodifizierung und Objektivierung (Verschleierung der Genese) legitimierter Positionen, Kapitalformen und Interessen. Zur Formalisierung gehört

92 Bourdieu ordnet folgende Kapitalsorten den staatlichen Strukturen zu: „Kapital der physischen Gewalt bzw. der Mittel zur Ausübung dieser Gewalt, ökonomisches Kapital, kulturelles oder, besser, informationelles Kapital, symbolisches Kapital, eine Konzentration, die an sich schon den Staat zum Besitzer einer Art Metakapital macht.“ Bourdieu: Praktische Vernunft, S.100/101. 93 Das symbolische Kapital wird vermittels der Reproduktionsmechanismen von allen Akteuren legitimiert. Als ein solches objektiviertes symbolisches Kapital wird es seitens der staatlichen Strukturen kodifiziert und bürokratisiert (beispielsweise die rechtsstaatliche Demokratie). Der Staat als kodifizierte und bürokratisierte Institution der staatlichen Strukturen besitzt die höchste Autorität über dieses Kapital. Vgl. Bourdieu: Praktische Vernunft, S.113/114.

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ebenso die Festschreibung der legitimen Ausdrucksformen (die Art und Weise der Artikulation von legitimierten Praktiken und Diskursen). Derjenige Akteur, der mit seinen Interessen und Strategien seitens der herrschenden Positionen anerkannt und legitimiert sein möchte, muss sanktionierte Artikulationsformen und Inhalte im Sinne der herrschenden Definitionen produzieren. Der institutionelle Akteur legitimiert und vermittelt diese dann.94 Dieser Mechanismus der Formalisierung entspricht einer Konditionierung und Limitierung der Habitusformen. Realisierte und durch das kulturell Unbewußte mögliche kulturelle Praktiken erfahren so eine Kategorisierung in legitimierte und illegitime Artikulationsformen. Der Mechanismus der Formalisierung kann in der Konsequenz einerseits kulturelle Praktiken forcieren, indem sie als legitimierte Artikulationsformen in der Praxis bewahrt werden; andererseits kann er für eine vorgetäuschte Anerkennung kultureller Praktiken stehen, die die eigentlichen Interessen des institutionellen Akteurs verschleiernd neue Entwicklungen verhindert, indem Praktiken nicht legitimiert werden. Für Bourdieu ist die Ausübung der symbolischen Macht als Definitionsmacht seitens institutioneller Akteure darüber hinaus eng mit der Praktik der Offizialisierung verbunden. Das meint die Manifestation und Durchsetzung eines spezifischen Standpunkts als ein legitimierter.95 Dieser offizielle Standpunkt realisiert sich auf diskursiver Ebene in einem offiziellen Diskurs. Dieser beinhaltet drei Momente: erstens die Zuschreibung und ihre rückwirkende Anerkennung durch die Institutionen und Akteure, zweitens die administrativen Direktiven und die Protokollierung der Existenz der Akteure sowie drittens die Konstituierung der spezifischen Wahrheit. Die zugehörigen offiziellen Manifestationen entsprechen der Artikulation des offiziellen Standpunkts auf der Ebene der Praktiken (dazu zählen beispielsweise Rituale, Prozessionen, aber auch Großveranstaltungen und Demonstrationen).96 Die symbolische Macht befähigt die herrschenden Positionen darin, Wahrheiten zu definieren und Praktiken zu legitimieren. Das wird umgesetzt, indem durch die Reproduktionsmechanismen entsprechende Interessen als Diskurse und Habitusformen in der Praxis realisiert werden. Im Umkehrschluss ist es somit möglich, anhand der Rekonstruktion der Positionierung der kulturellen Praktiken und Diskurse innerhalb der Machtverhältnisse, den offiziellen, zumindest teilweise verschleierten Standpunkt und entsprechenden Interessen zu erfassen.

94 Bourdieu: Rede und Antwort. Kodifizierung; ders.: Praktische Vernunft, S.108–115. 95 Bourdieu: Praktische Vernunft. Staatsgeist, S.115–122; sowie ders.: Soziologische Fragen. Sprachlicher Markt. 96 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.123–125; sowie ders.: Sozialer Sinn, S.222–245.

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Die bestehenden Funktionsmechanismen generieren sich entsprechend den – legitimierten und (noch) nicht-legitimierten – Interessen der Akteure. Das Interesse eines einzelnen Akteurs entsteht aus dem singulären Moment seiner Position und seiner durchlaufenden trajectoire. Indem der Akteur das Durchsetzen seines Interesses an eine Gruppe bzw. an die Vertreter der Gruppe delegiert, sichert er sich einen höheren Legitimierungsgrad für sein Interesse. Zugleich ordnet sich der Akteur dem formalisierten Interesse der Gruppe unter.97 Bourdieu konstatiert die Legitimierung von Gruppen und die Zuerkennung des Status eines allgemeinen Interesses für ein verallgemeinertes Gruppeninteresse als eine konkrete Strategie der Offizialisierung.98 Das Gruppeninteresse wird Teil des offiziellen Standpunkts, sofern deren Akteure durch die herrschenden Positionen als – in ihrem (latenten) Interesse – Agierende anerkannt sind. In dem Fall unterliegt dieses definierte allgemeine Interesse den staatlichen Regularien der Formalisierung und Kodifizierung. Die Institutionen der Verwaltung und des Rechts sind damit autorisiert, sich das Interesse anzunehmen. Es wird in die offiziellen Kodifizierungen eingeschrieben. Der einzelne Akteur hat im Resultat aus diesem Prozess nur noch einen limitierten und kodifizierten Zugang zu seinem individuellen Interesse. Im Gegenzug besitzt sein individuelles Interesse in dieser legitimierten Form nun hohen symbolischen Wert.99

97 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.155/156; vgl. zur Gruppenbildung bei den themenbezogenen Ansatzpunkten in diesem Kapitel den Abschnitt zu Formalisierung, Einsetzung und Repräsentanz. 98 Für das Feld des Politischen konstatiert Bourdieu konkrete Strategien der Offizialisierung. Auf diese Weise kann das individuelle Interesse des Akteurs an die vom Feld des Politischen aus beherrschten Strukturen gebunden werden: im Feld des Politischen werden die individuellen Interessen vereinnahmt, indem die politischen Akteure sich durch ihre symbolische Macht der Legitimierung und Zuschreibung zu Vertretern der individuellen Interessen erklären. Aufgrund der Gruppeneffekte (illusio, symbolische Macht und Verschleierung) erfährt die Zuschreibung Anerkennung und Legitimierung. Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.202. 99 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.155/156 sowie ebd., S.96/97. Die Problematik besteht darin, dass das verallgemeinerte Gruppeninteresse sich mit zunehmenden Grad der Formalisierung von den partikulären Interessen der Akteure differenziert. Je hierarchisierter die Strukturen, desto stärker wird das verallgemeinerte Interesse seitens der Vertreter der Gruppe als ein allgemein deklariertes Interesse definiert.

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Legitimierungsmacht Der benannte Mechanismus der Formalisierung durch Legitimierung, Definition, Kodifizierung und Objektivierung führt zu einer Kategorisierung von Praktiken. Die realisierten und durch das kulturell Unbewußte möglich zu realisierenden Praktiken werden in legitimierte und illegitime Artikulationsformen differenziert. Im Falle starker institutionalisierter Strukturverhältnisse wirkt dieser Mechanismus nicht nur auf der Ebene der Praktiken, sondern ist in die Machtstrukturen eingebunden. Anstelle von wirksamen Feldeffekten, handelt es sich dann um formalisierte Festschreibungen: Definitionen und Kodifizierungen, die in der Gesetzgebung festgeschrieben sind. Dementsprechend sind der Gesetzgebung und Rechtsprechung die doxa und spezifischen (latenten) Interessen seitens der Gesetzesmacht inhärent. Diese sind durch die Prozesse der Inkorporierung und der Genese der Strukturverhältnisse nicht mehr offensichtlich (Naturalisierung), noch sollen sie, um deren Wirksamkeit nicht zu gefährden, offensichtlich sein. Den offiziellen, für die Generierung von Gesetz und Recht autorisierten Standpunkt bestimmt Bourdieu als zu einer ideologischen Ordnung zugehörig.100 Im Hinblick auf die Formalisierung konkreter kultureller Praktiken stellt sich konsequenterweise die Aufgabe, zu analysieren, inwiefern ihre Definition als Kulturerbe seitens staatlicher und institutioneller Akteure im Sinne der Akteure dieser Praktiken (so genannte Volkskultur, populäre Mythen und Narrationen, Traditionen und Bräuche) oder im Sinne der seitens der herrschenden Positionen forcierten Strategie der ‚Kultur fürs Volk‘ zu interpretieren ist.101

100 Bourdieu formuliert: „Die Kritik des Ideologieverdachts erinnert daran, dass alle allgemeinen Werte in Wirklichkeit verallgemeinerte partikulare und damit dem Verdacht unterliegende Werte sind (die allgemeine Kultur ist die Kultur der Herrschenden usw.).“ Bourdieu: Praktische Vernunft, S.155/156. Daher ist es berechtigt, diese ideologische Ordnung, die den geltenden gesetzlichen Regelungen und offiziellen Rechten innewohnt, für die Analyse zu berücksichtigen. 101 Bourdieu konstatiert zwei Strategien, die durch herrschende Positionen gegenüber einem definierten Volk angewandt werden. Eine Strategie meint die geringe Wertung der Praktiken des Volkes, indem eine auf dem Kapitalbesitz basierende Distinktion artikuliert und mit symbolischem Kapital besetzt wird. Die zweite der Strategien definiert das positive Populäre, indem die spezifischen populären Praktiken eine besondere Bedeutung anerkannt bekommen. Beide Strategien untermauern die hierarchische Strukturierung gleichermaßen. Erstere Strategie zielt darauf, besondere für das Volk geeignete bildungspolitische Maßnahmen durchzusetzen (Kultur fürs Volk), die letztendlich beabsichtigen, die Trennlinie und die Zugangsbarrieren zwi-

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INSTRUMENTE DER ANALYSE AUFBAUEND AUF DEN METHODISCHEN WERKZEUGEN BOURDIEUS Neben den theoretischen Begriffen finden sich in den Arbeiten Bourdieus methodische Instrumente, die für die Analyse kultureller Praktiken und deren Veränderungen relevant sind. Um eine spezifische Praxis zu erfassen, wird eine Analyse im Sinne eines bourdieuschen Verstehens durchgeführt. Hierfür erlauben die von Bourdieu erarbeiteten Analysewerkzeuge als offene Begriffe, die methodischen Instrumente zu modifizieren, um mit ihnen einen neuen und andersartigen Gegenstandsbereich zu erforschen.102 Die von Bourdieu zur Verfügung gestellten Instrumente der Analyse ermöglichen es, eine konkrete Situation in ihren relationalen Verbindungen zu erfassen. Zunächst kann ein Strukturmodell der Positionen und deren Dispositionen, der Akteure und ihren unterschiedlichen Gruppen, der Habitusformen sowie der Kapitalformen rekonstruiert werden. Dieses Strukturmodell wird in den übergeordneten Machtverhältnissen verortet. Um die bestehenden Funktionsmechanismen, die korrespondierenden Praktiken und Strategien erfassen zu können, müssen strukturspezifische Indikationen erkannt werden. Neben den genannten Habitusformen und Kapitalformen gehören zu diesen Bestimmungen die illusio und das spezifische Kapital. Sie bestimmen sich über die Funktionen, Werte und Interessen, ebenso wie über die Grenzen, Definitionen und Formalisierungen innerhalb der Strukturverhältnisse.103 Im Folgenden werden Begriffe und Analysewerkzeuge herausgearbeitet und als themenspezifische Analysekategorien formuliert. Sie stehen als methodische Grundlage für die Analyse zur Verfügung.

schen Volkskultur und Hochkultur aufrecht zu erhalten. Die zweite Strategie führt zur Verherrlichung oder Kanonisierung einer Volkskultur, die in diesem Sinne ein definiertes Konstrukt sein wird. In der symbolischen Aufwertung der populären Praktiken signalisieren die herrschenden Positionen auf diskursiver und affektiver Ebene, man realisiere die Interessen des Volkes. Diese Strategie führt zu einem politischen Populismus, der versucht, Herrschaftseffekte zu verschleiern. Vgl. bei Bourdieu: Rede und Antwort. „Volk“ und sein Gebrauch, sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Soziologie der Sozioanalyse. 102 Wacquant in Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.14/15; vgl. zur Methodik im einführenden Kapitel dieser Arbeit Abschnitt ‚Empirie der Praxis‘. 103 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.62; sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.139.

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Das sind zunächst die Relationen, Feldgrenzen und die Feldgenese. Die zu erfassenden Strukturen und Verhältnisse definiert Bourdieu mit dem Begriff des Felds. Als Modell der Struktur erfasst es, in welchem Verhältnis die Positionen, Elemente und Praktiken stehen. Es macht die Genese der Struktur nachvollziehbar und beschreibt, inwiefern sie sich begrenzt bzw. abgrenzt. Die Identität des Felds, das meint seine Spezifizität, insbesondere seine spezifischen Bedeutungen und Werte (Kapitalformen), generieren sich durch vier Aspekte: Konstituierung als autonomes Feld der Praxis, Ordnung als hierarchische Struktur des Felds, Kampf im Feld als dessen Eigendynamik, Reproduktion als Bedingung seiner sozialen Dauer in der Praxis.104 Die Verhältnisse zwischen den Elementen der Struktur werden über mehrere Analysekategorien erfasst: die Positionen mit den zugehörigen Dispositionen, die Beziehungen zwischen den Positionen, die Kapitalformen mit den verschiedenen und den spezifischen Kapitalarten sowie das spezifische symbolische Kapital. Diese Kategorien ermöglichen die Rekonstruktion eines Strukturmodells zur Darstellung der Struktur- und Diskursverhältnisse.105 Sobald eine feldspezifische Genese erkennbar wird, kann ein Feld als ein solches definiert werden. Die Feldgrenzen bestimmen sich nicht theoretisch über die Relationen der Struktur, sondern über die praktischen Effekte. Sie zeigen an, ob die ausagierte Logik des praktischen Sinns und die Handlungspotentiale, die der Habitus zur Verfügung stellt, für betreffendes Element (noch) wirksam sind. Nur mittels empirischer Analysen kann erfasst werden, welche Akteure, Objekte, Diskurse und Praktiken durch die Machtverhältnisse eines Felds (noch) beeinflusst werden und somit Teil der Feldstruktur sind.106 Deren Entwicklung ist durch eine zunehmende Ausdifferenzierung der Strukturverhältnisse, durch die zunehmende Wirksamkeit der spezifischen Interessen, Kapitalformen und Formalisierungen sowie durch die zunehmende strukturelle Unabhängigkeit zum umgebenden sozialen Raum gekennzeichnet. Bourdieu nennt diese Entwicklung Autonomisierung. Die mit diesem Prozess einhergehenden Ausdifferenzierungen meint die differenzierten Arten und Weisen des Erkennens sowie der Ausdrucksweisen der in der sozialen Welt impliziten Mög-

104 Nach Papilloud: Bourdieu lesen, S.73. 105 Siehe ausführlicher im folgenden Kapitel den Abschnitt Methodendiskussion. 106 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.97–121; sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder. Bourdieu konkretisiert in einer einfachen, der Praxis folgenden Definition: „Die Grenzen des Feldes liegen dort, wo die Feldeffekte aufhören.“ Ebd., S.131.

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lichkeiten: spezifische Denk-, Handlungs-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksmodi (Habitusformen) sowie der unreflektierte Glauben (illusio).107 Der erreichte Grad der Autonomie eines Felds wird daran erkennbar, dass mit zunehmendem Grad der Autonomisierung die feldinternen Machtstrukturen (die herrschenden Machtprinzipien und legitimierenden Definitionen) stärker über diejenigen dem Feld externen bzw. im sozialen Raum übergeordneten Strukturen bestimmen. Die Feldstrukturen bilden eine eigenständige Hierarchie aus. Dadurch setzt ein Übersetzungs- und Brechungseffekt ein, indem externe Einflüsse keine direkte Wirkung innerhalb der Feldstruktur entfalten können, sondern zunächst in die Kategorien der Feldstruktur eingepasst werden. Das kann eine Umformung, Neubeschreibung oder gar Verklärung im Sinne des politischen, des religiösen Interesses oder generell im Sinne der feldspezifischen illusio sein. Diese Verklärung verweist auf die diskursiven Praktiken seitens derer, die die Machtpositionen und somit die Definitionsmacht innehaben.108 Mit zunehmender Autonomisierung eines Felds ist eine steigende Reflexionstätigkeit und Selbstreferenz zu beobachten. Die Feldentwicklung wird von feldinternen Akteuren reflektiert und niedergeschrieben. 109 Im Umkehrschluss schreibt sich die Geschichte des Felds fest, indem innerhalb der legitimierten Wahrnehmungskategorien rückblickend die Feldentwicklung definiert wird. Diese Festschreibung umfasst das Kodifizieren und Kanonisieren der feldspezifischen Definitionen. Ebenso definieren sie die Zulassungsvoraussetzungen zum Feld. Diese bestehen in der praktischen Beherrschung der generierten spezifischen Errungenschaften.110 Neben der Entwicklung zur Autonomie eines Felds, beschreibt Bourdieu Entwicklungsmomente, die einer Ent-Autonomisierung 111 entsprechen. Zwei Aspekte kennzeichnen den möglichen Prozess der Ent-Autonomisierung. Aus feldinterner Perspektive heraus steht der Prozess der Ent-Autonomisierung für das Infragestellen der Definitionsmacht bzw. für veränderte Strukturverhältnisse. Das kann dazu führen, dass die Inhaber des Machtmonopols die illusio seitens der Akteure nicht mehr reproduzieren können und die Akteure nicht mehr im

107 Bourdieu: Meditationen, S.125/126. 108 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.344/345 und S.349/350. 109 Bourdieu: Soziologische Fragen, S.110. 110 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.384. 111 Bourdieu verwendet diesen Begriff nicht, sondern spricht von einem abnehmenden Maß an Autonomie eines Felds.

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Sinne der illusio handeln. Die feldspezifischen Interessen und die feldspezifische doxa unterliegen einer Entwertung.112 Bourdieu verweist als eine zweite Bestimmung für den Grad der Autonomie auf einen externen Einfluss. Er benennt beispielsweise ein externes Machtfeld, das innerhalb der Strukturverhältnisse wirksam werden kann. Dieser Prozess basiert darauf, dass die Strukturen der Definitionsmacht eines Felds in einem geringeren oder höheren Maße mit zunächst feldexternen Interessen verbunden sind. Das kann ökonomische, kulturpolitische und allgemein wirtschaftspolitische Interessen betreffen (beispielsweise aus den Bereichen Marketing und Kulturindustrie, die zunehmend als externe Einflüsse für relativ autonome spezifische Felder wirksam werden). Mit der Akzeptanz der feldexternen Interessen ist das Interesse eines Kapitalgewinns auf der eigenen Position feldintern verbunden.113 Dieser Prozess schließt die verbundenen Wahrnehmungs- und Wertungskategorien ein. Der Habitus im Feld erfährt einen Wandel, indem er eine Art Zensur durch feldexterne Kategorien durchläuft. Akteure verinnerlichen diese, um in den veränderten Feldstrukturen weiterhin sinnvoll agieren zu können. Die beiden Aspekte der einfließenden feldexternen Interessen und der sich anschließenden Zensur sind potentiell negative Bestimmungen für die (relative) Autonomie einer Feldstruktur.114 Die Analysekategorie der Strukturentwicklung und die korrespondierenden Prozesse der Autonomisierung bzw. Ent-Autonomisierung wurde damit als eine erste Schlüsselkategorie für die Interpretation benannt. Eine zweite Analysekate-

112 Bourdieu verdeutlicht diese Option am Beispiel der Haute Couture. Vgl. dazu Bourdieu: Soziologische Fragen. Haute Couture, S.187–196. 113 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.350. Das Verhältnis des Felds zu den Strukturen des ihm übergeordneten sozialen Raums in zeitlicher und politischer Hinsicht (Epoche und Nation) kann nicht unerheblich auf die Machtverhältnisse im Feld zurückwirken. Bestimmend ist hierbei das symbolische Kapital, das von den Akteuren im Feld akkumuliert wurde und sie dazu veranlasst, die feldspezifischen Interessen in den übergeordneten Strukturen des sozialen Raums zu behaupten. Ebd. 114 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.530/531. In Bezug auf die externen Einflüsse beschreibt Bourdieu am Beispiel des Kunstfelds die Gefahr der zunehmenden EntAutonomisierung: das Feld der Kunst verliert seine Position im Machtfeld des sozialen Raums dahingehend, dass die Aussage oder das Produkt des autonomen Künstlers an symbolischem Kapital verliert, da die Definitionsmacht im sozialen Raum dieses dem Künstler und seinen Stellungnahmen abspricht. Das Feld selbst kann nur weiter bestehen, indem mit diesen veränderten Legitimierungen Strukturveränderungen vorgenommen werden. Ebd.

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gorie bezieht sich auf die Begriffe Identität, Gruppen und Institutionen: die Strukturverhältnisse sind durch Akteure gekennzeichnet, die vorbestimmte Positionen einnehmen und in Gruppen eingebunden sind. Jeder Position sind Dispositionen und Zuschreibungen zugehörig. Sie kennzeichnen die soziale Identität des Akteurs. Diese meint die seitens des offiziellen Standpunkts formalisierten und kodifizierten Zuschreibungen. Durch sie wird der Akteur einer Position zugeordnet, mit Dispositionen ausgestattet und legitimiert.115 Darüber hinaus zählt Bourdieu die Zuschreibungen der Eigenschaften eines Akteurs zu den offiziellen Bestimmungen: Hierzu gehören die Werturteile und die Charakterzüge, die in der sozialen Benennungs- und Einprägungsarbeit vermittelt werden. Sie werden Teil seiner sozialen Identität. Die soziale Identität steht zugleich dafür, in welcher Weise der Zugriff des Akteurs auf die im Raum des Möglichen gegebenen Wissensbestände und Handlungsoptionen konditioniert und limitiert ist.116 Der Begriff des Volkes ebenso wie der des Populären bestimmt Bourdieu als Zuschreibungen von Eigenschaften und Dispositionen an bestimmte Positionen innerhalb der Feldstruktur seitens der herrschenden Positionen. Die Definition des Volkes umfasst die Legitimierungen der Positionen, Beschreibungen des Habitus und der Praktiken der Akteure, die dem Volk zugeordnet werden. Mit der Definition des Volkes wird eine Gruppe etabliert. Ihr ist ein gemeinsamer Habitus, mindestens aber eine in der Hierarchie der Strukturverhältnisse niedrigere Position zugeschrieben. Es werden auf dieser Basis Abgrenzungen zwischen herrschenden und beherrschten, zwischen legitimierenden und legitimierten Positionen gezogen. Die Definition Volk artikuliert letztendlich das Verhältnis der herrschenden Positionen zu den beherrschten Positionen und den ihnen innewohnenden Interessen.117 Bourdieu versteht den Staat nicht als eine konkrete definierbare Größe im sozialen Raum, sondern als einen der zu differenzierenden Akteure. Er kennzeichnet ihn durch seine eingenommenen Positionen, seine dadurch entstehenden relationalen Verhältnisse, seinen Kapitalbesitz und seine Interaktionsformen (spezifische Praktiken und Diskurse). Bourdieu ordnet den staatlichen Strukturen nicht nur Positionen, sondern ganze Felder (bürokratische und administrative)

115 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.80. 116 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.412; sowie ders.: Männliche Herrschaft, S.91/92. Bourdieu nennt im Zusammenhang der Werturteile und Charakterzüge: körperlicher und geistiger Mut, Großzügigkeit, Weitherzigkeit. Ebd. Es können ebenso dazu gezählt werden: Eleganz, Sinnlichkeit, Glaubwürdigkeit, Kultiviertheit, etc. 117 Bourdieu: Rede und Antwort. Der Begriff „Volk“ und sein Gebrauch.

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zu. Die relationalen Verhältnisse können als offene Auseinandersetzungen, als Netzwerke, bis hin zu Interessenallianzen gekennzeichnet sein. Innerhalb dieser staatlichen Strukturen finden die Kämpfe um das Monopol der symbolischen Macht seitens der Inhaber der Positionen (kleinere Institutionen und Akteure, bzw. Subuniversen) statt. Es geht dabei um die Definitionsmacht der Ordnungsprinzipien und Wahrnehmungskategorien, um die Autorität innerhalb der staatlichen Strukturen, als auch um die Macht zur Durchsetzung der legitimen Stellungnahmen.118 Der Staat trägt sich für die Vereinheitlichung des von ihm beherrschten sozialen Raums verantwortlich und nur er hat, aufgrund seiner Konzentration an Kapitalsorten, die symbolische Macht dazu. Die Vereinheitlichung umfasst die Formalisierung durch Regelwerke sowie die Homogenisierung der Kommunikations- und Interaktionsformen. Sie basiert auf der staatlichen Struktur bzw. dem Feld der Politik grundlegenden doxa und Interessen. Sie entsprechen den vereinheitlichten Kategorien des Denkens, Wahrnehmens, Verständigens und Erinnerns. Die Institution Staat agiert als organisatorische Struktur sowie als konstituierende und reglementierende Instanz. Damit schafft sie jene dauerhaften Dispositionen im Habitus der Akteure, die zugleich die staatlichen Strukturen legitimieren und existieren lassen.119 Eine Gruppe versteht Bourdieu zunächst als eine Analysekategorie. Mit ihr werden bestimmte Zuschreibungen von Kapitalformen und Eigenschaften, Auseinandersetzungen wegen bestimmter Interessenlagen, Verhältnisse von Machtstrukturen und Autoritäten erfasst. Eine Gruppe an Akteuren formiert sich dann, wenn soziale oder biologische Dispositionen, Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungskategorien oder Personenstandsindikationen ein symbolisches Kapital erlangen. Dieses grenzt die Gruppe zu anderen signifikant ab und wird von den

118 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.143/144; sowie Bourdieu: Meditationen. Symbolische Gewalt und Politische Kämpfe, S.238/239. 119 Bourdieu: Meditationen, S.223/224. Im Rahmen der staatlichen Grenzen wird dieser Rahmen herkömmlicherweise als nationale Identität oder Nationalcharakter bezeichnet. Mittels des durch den Staat legitimierten und beherrschten Bildungssystems können die herrschenden Definitionen allgemein auf praktischer Ebene durchgesetzt und verinnerlicht sowie zur nationalen Kultur bzw. legitimen Nationalkultur erhoben werden. Ebd., S.225. Zu den Regelwerken zählen u.a. Recht, Sprache, Maße, Gewichte, Zeiteinteilungen, Klassifizierungen. Mit Hilfe der legitimierten Definitionen, „formt der Staat die mentalen Strukturen, setzt gemeinsame Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien durch, Formen des Denkens.“ Bourdieu: Praktische Vernunft, S.106/107.

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Akteuren der Gruppe als auch von Nicht-Gruppen-Zugehörigen erkannt und anerkannt. Je höher das distinktive Kapital der Gruppe, desto höher sind die Effekte ihrer performativen Macht und desto höher auch der Autoritätsgrad der Gruppe in den Funktionen des Legitimierens und Zuschreibens.120 Je höher der Grad der Anerkennung der Gruppe innerhalb der Strukturverhältnisse, das meint ihre Legitimierung als distinktiv und wertvoll, desto höher die Tendenz zur Formalisierung der Gruppenstrukturen. Die Konstituierung der Gruppe erfolgt, indem die Akteure sich zu einer benannten, im Bewusstsein der Akteure existierenden Gruppe formieren, um dann den Status einer legitimierten, möglicherweise sogar einer Institution zu erreichen. Im Prozess dieser Formalisierung generieren sich zunächst innerhalb der Gruppe im Aushandeln zwischen den zugehörigen Akteuren gruppenspezifische Positionen und Zuschreibungen. Um sich innerhalb der Strukturverhältnisse als Gruppe zu positionieren, braucht die Gruppe Vertreter, die seitens der Gruppenakteure und der Nicht-GruppenZugehörigen anerkannt sind. Dem Vertreter wird hinsichtlich der formalisierten und kodifizierten Interaktionen (handeln, sprechen, unterzeichnen, repräsentieren) die symbolische Macht, die die Positionen der Gruppe innehaben, übertragen, um ihre spezifischen Interessen durchsetzen zu können.121 Eine dritte Analysekategorie bezieht sich auf die Machtverhältnisse: den Strukturverhältnissen sind Funktionsmechanismen der Legitimierung und der Reproduktion implizit. Ausgehend von den damit rekonstruierbaren machtstrukturellen Indikationen kann erfasst werden, in welcher Weise (Strategien) sie interessenspezifisch definieren und legitimieren. Ebenso wie das symbolische Kapital, das einer abstrahierten Größe der Relationen und Wertigkeiten der erfassten Kapitalformen entspricht, versteht sich das Feld der Macht als eine abstrahierte Struktur des symbolischen Kapitals. Es zeigt auf einer analytischen Ebene an, welche Positionen und Relationen welchen Grad an Wertigkeit und Autorität besitzen. Grundlage für diese Zuordnung ist der Besitz des spezifischen, definierten symbolischen Kapitals. Aus diesen Machtverhältnissen heraus generieren sich die Kämpfe um die legitimierende Definitionsmacht und um die Kapitalverteilung.122

120 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.175, ders.: Rede und Antwort, S.141/142 und ebd. Delegation und Fetischismus, S.179/180. 121 Bourdieu: Rede und Antwort, S.176 und 179/180; vgl. zur Differenzierung von individuellen und allgemeinen Interessen innerhalb der Gruppenstrukturen im Abschnitt zu den theoretischen Konzepten Bourdieus in diesem Kapitel. 122 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.342; ders.: Praktische Vernunft, S.51.

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Machtverhältnisse versteht Bourdieu als die bestehenden relationalen Strukturen in Verbindung mit dem jeweils akkumulierten Kapitalarten. Es besteht unter den Akteuren ein stillschweigendes Übereinkommen darüber, welche Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, welche Differenzierungs- und Handlungsprinzipien gelten. In diesem Sinne besteht Herrschaft aus einem Funktionsmechanismus des Legitimierens, Erkennens, Anerkennens und Inkorporierens sowohl seitens der die Definitionsmacht innehabenden Positionen als auch seitens der ausagierenden Akteure.123 Der Staat als ein institutioneller Akteur ist einer Position mit einer besonderen Kapitalkonzentration und einem hohen Grad an Legitimierungs- und Definitionsmacht zugeordnet. Damit verbunden ist ein hoher Wert an symbolischem Kapital und symbolischer Macht. Er vertritt und setzt einen spezifischen Standpunkt in der Praxis als einen legitimierten Standpunkt durch. Dieser beinhaltet sein legitimiertes Interesse, die entsprechenden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien sowie die der doxa entsprechenden legitimierten Definitionen, Praktiken und Diskurse. Für Bourdieu ist die Ausübung dieser symbolischen Macht seitens des Staates eng mit den Praktiken der Offizialisierung und der Formalisierung verbunden.124 Den herrschenden Positionen korrespondiert, einen offiziellen Standpunkt zu definieren und einen offiziellen Diskurs zu generieren, der diesen Standpunkt vermittelt und reproduziert. Der Offizialisierungsprozess umfasst mehrere Praktiken: die Zuschreibung entsprechender Definitionen und ihre Anerkennung durch die Institutionen und Akteure; das Erlassen und Ausagieren administrativer Direktiven; die Protokollierung der Existenz der Akteure und die Schaffung der offiziellen sozialen Wahrheit. Der reproduzierende Effekt dieser Strategie besteht darin, dass der offizielle Standpunkt Anerkennung vermittels Zustimmung oder stillschweigender Akzeptanz erfährt. Die Artikulation des offiziellen Standpunkts wird über den offiziellen Diskurs hinaus in offiziellen Praktiken, den so genannten offiziellen Manifestationen realisiert. Die involvierten ebenso wie die stillschweigenden Akteure anerkennen und legitimieren darin den offiziellen Standpunkt. Zugleich stärken sie ihr eigenes symbolisches Kapital durch eine reale oder angestrebte Teilhabe.125 Das Durchsetzen der symbolischen Macht und deren Praktiken sind dann in der Praxis realisierbar, wenn ihnen die Formalisierung der definierten Prinzipien

123 Bourdieu: Praktische Vernunft. Staatsgeist, S.116 und ebd.: Das Neue Kapital, S.52. 124 Bourdieu: Rede und Antwort, S.149/150. 125 Bourdieu: Rede und Antwort. Sozialer Raum und Symbolische Macht, S.150; sowie ebd. Kodifizierung, S.106 und Bourdieu: Symbolische Formen, S.189/190.

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und Kategorien vorausgegangen ist. Die Formalisierung meint die Kodifizierung und Objektivierung legitimierter Positionen, Kapitalformen und Interessen ebenso wie die Festschreibung der legitimen Ausdrucksformen und Definitionen. Desto höher der Grad der Formalisierung, desto starrer das Konstrukt an Eigenschaften und desto niedriger der Spielraum des Habitus der Akteure. Die Formalisierung bedeutet zum einen die Festschreibung der Definitionen und der legitimen Weise der Artikulation innerhalb des offiziellen Diskurses. Damit wird eine Institutionalisierung der Strukturverhältnisse erreicht. Zum anderen meint Formalisierung die Funktion der Verschleierung des (latenten) Interesses, damit dessen Wirksamkeit gesichert bleibt.126 Im Rahmen der Analyse wird zu erfassen sein, ob und in welcher Weise kulturelle Praktiken formalisiert und kodifiziert werden sowie diese sich durch den Formalisierungsprozess welchem Interesse entsprechend verändern. Starken institutionellen oder andersartig hierarchisch gekennzeichneten Strukturverhältnissen korrespondiert ein hoher Grad der Formalisierung der spezifischen Indikationen. Die Strukturverhältnisse bleiben nicht in den wirkenden Effekten begrenzt (Grenzen des Felds), sondern werden in zunehmendem Maße durch die Gesetzgebung festgeschrieben. Diese juristische Grenze umfasst definierte und legitimierte Kodifizierungen und Formalisierungen. Ein hoher Grad an Formalisierung und Kodifizierung steht für eine stark definierende und limitierende Gesetzgebung als auch für stark differenzierte Rechte. Die Gestaltung der Gesetzgebung ist ein Gradmaß für die symbolische Macht der Institution Staat.127 Die geltende Gesetzgebung und die offiziellen Rechte entsprechen einer Kodifizierung und Verallgemeinerung von herrschenden Kräfteverhältnissen. Der

126 Vgl. Bourdieu: Rede und Antwort, S.104–108. Der Verschleierungsprozess kann im Extremfall ein Aufzwingen von Werten und Definition seitens der stärkeren Position gegenüber den schwächeren entgegen dem Interesse deren Akteure bedeuten. Dieses Aufzwingen bliebe aufgrund der formalisierten Artikulation innerhalb der offiziellen Wahrheit unerkannt. Vgl. Bourdieu: Symbolische Formen, S.103. 127 Bourdieu: Rede und Antwort, S.151 sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.358. Der symbolischen Macht obliegt es, diese Formalisierungen zu vermitteln und durchzusetzen. In einem starken Staat nimmt die Institution Staat das Monopol der symbolischen Gewalt ein. Bourdieu nennt als Instrumente der Vermittlung und Durchsetzung Ausbildungsabschlüsse, Ausschließungsmechanismen wie numerus clausus, die Legitimierung von Titeln und allen Formen von Dokumenten (credentials) im Sinne „schriftlicher Befähigungsnachweise, die Glaubwürdigkeit oder Autorität verleihen“. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.242; Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.358.

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Gesetzgebung und Rechtsprechung sind die grundlegende doxa und spezifischen Interessen der Gesetzesmacht inhärent. Der offizielle Standpunkt generiert Gesetz und Recht; er wird durch diese wiederum legitimiert. Bourdieu ordnet ihn als zu einer ideologischen Ordnung zugehörig ein. Die innerhalb der Gesetzgebung festgeschriebenen, legitimierten und verfügbaren Definitionen, Eigenschaften von Positionen, gegebenen Dispositionen sowie die offiziellen Interaktionen sind die für die Akteure geltenden Rechte. Sofern sie der herrschenden doxa entsprechen, erscheinen sie als natürliche Anrechte. Dieser Gedanke wird in der Diskussion um die Grundlagen der Menschenrechte sowie korrespondierender Konzepte wie das Kulturerbe interessant.128 Eine weitere Analysekategorie bezieht sich auf die Diskursverhältnisse und die diskursiven Praktiken. Um diskursive Praktiken und die ihnen zuzuordnenden Elemente zu verstehen, fragt Bourdieu danach, welche die strukturellen Bedingungen der Genese und der Realisierung der Praktiken und Elemente, aber auch welche die Dispositionen der Akteure sind.129 Diskursive Praktiken sind Praktiken, vermittels derer die Strukturverhältnisse in spezifischer Weise ausagiert werden. Diskurse formieren sich aus den durch diese Praktiken generierten Elementen. Sie umfassen verbal artikulierte, verfasste oder anderweitig formalisierte Elemente (dazu zählen beispielsweise Gespräche, Texte jeglicher Art, Ansprachen und performative Akte). Das Sprechen in einer Situation korrespondiert der Position des Akteurs und basiert auf seinem entsprechenden inkorporierten sprachlichen Kapital im Sinne einer dispositionellen sprachlichen Kompetenz. Das meint ein Sprechen in der adäquaten Weise (der Sprachstil als ein Aspekt des sprachlichen Habitus) und mit den adäquaten

128 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.242/243. Bourdieu betont, dass die verliehenen Rechte willkürlich sind, da sie in keiner Weise ohne Rückbezug auf eine soziale Struktur dem Menschen von Natur aus zugehören. Erst innerhalb sozialer Strukturen werden Definitionen über Eigenschaften und Dispositionen als Rechte formalisiert und den Positionen zugeordnet. Vgl. u.a. Bourdieu: Praktische Vernunft, S.96. 129 Bourdieu: Rede und Antwort, S.119/120. Bourdieu formuliert als Ziel einer solchen Analyse: „Ihre Aufgabe ist es nämlich, in den besonders charakteristischen Merkmalen der Diskurse die Wirkung der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion und Zirkulation dingfest zu machen. Aus einer bestimmten Rhetorik spricht nun einmal die Institution, und die formalen Merkmale verraten die Intentionen, die mit den Zwängen und Anforderungen der sozialen Position objektiv einhergehen.“ Bourdieu: Was heißt Sprechen, S.115.

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Inhalten (eine Strategie von Zensur als ein Funktionsmechanismus innerhalb der Machtrelationen).130/131 Die Deklaration von allgemeinen Interessen, von definierten Wahrheiten, legitimierten Erkenntnissen und öffentlichen Meinungen sowie Weisen des Sprechens seitens des offiziellen Standpunkts und seitens autorisierter Akteure beruht letztendlich auf diskursiven Praktiken. Für diesen Zusammenhang führt Bourdieu den Begriff sprachlicher Markt ein. Analog zu den zuvor beschriebenen Funktionsmechanismen der Praktiken, konditioniert und limitiert der sprachliche Markt die diskursiven Praktiken. Desto näher der sprachliche Markt dem offiziellen Standpunkt, desto höher der Grad der Kontrolle der legitimierten Diskurse und sprachlichen Formen.132 Im Rahmen der gewählten distinktiven Diskursanalyse als methodischer Zugang wird die beschriebene Indikation einer sprachlichen Situation zu berück-

130 Bourdieu führt eine weitere Kategorie für das Erfassen der Sprache ein. Er bindet die Sprache an den Körper des Akteurs. Er definiert die Sprache als eine Technik des Körpers, die die phonologische Kompetenz, die kognitive und mentale Disposition einschließt. Hinzu kommen im Ausagieren des sprachlichen Habitus die dem Sprechen umständegerechte Körperhaltung und der entsprechende Artikulationsstil bzw. die individuelle oder kollektive der Situation kohärente Sprechweise (Ideolekt). In diesem Sinne definiert Bourdieu eine sprachliche Kompetenz als „eine Dimension der hexis des Körpers, in der die ganze Beziehung zur sozialen Welt zum Ausdruck kommt.“ Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.184; sowie Bourdieu: Was heißt sprechen, S.11–13 und S.31/32. 131 In Bezug auf eine Diskursanalyse ist demzufolge die beschriebene Indikation einer konkreten sprachlichen Situation aus diskursiven Interaktionen und Erzeugnissen zu berücksichtigen. Sie ist nicht unabhängig vom zuzuordnenden gegenwärtigen Moment innerhalb der Strukturverhältnisse bzw. in der Praxis weder entstanden noch zu erfassen. Vgl. bei Bourdieu: Was heißt sprechen, S.40. Verwiesen sei auf die Methodenkritik durch Diaz-Bone zur Selbständigkeit der Diskursverhältnisse. Siehe dazu im folgenden Kapitel zum methodischer Zugang. 132 Bourdieu: Soziologische Fragen, S.117/118 und S.124, sowie ders.: Was heißt sprechen, S.38/39. Bourdieu konstatiert als einen weiteren Aspekt für das Erfassen der Diskursverhältnisse in Relation zu den symbolischen Machtverhältnissen – analog zum Bereich der Bildung und des kulturellen Erbes – eine ungleiche Verteilung der sprachlichen Kompetenzen und einen limitierten Zugang zu diskursiven Praktiken. Vgl. bei Bourdieu: Rede und Antwort, S.181; sowie zum Mechanismus des legitimierten Zugangs als Teil der Reproduktion sozialer Strukturen, S.74ff., Abschnitt Kulturelles Erbe in diesem Kapitel.

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sichtigen sein. Diese umfasst die diskursiven Interaktionen und generierten diskursiven Elemente, wie beispielsweise Gespräche, Deklarationen, Reden und Ansprachen, Interview, Presseerzeugnisse, offizielle Schriftstücke, etc. Das ermöglicht zu erfassen, welche Akteure in welcher Weise, mit welchen Dispositionen und Interessen sprechend agieren. Das Funktionieren der diskursiven Praktiken setzt voraus, dass alle Akteure die Formalisierungen und Kodifizierungen der Sprache und des Sprechens inkorporiert haben. Bourdieu konstatiert die Konditionierung der diskursiven Praktiken als so stark, dass er die sprachliche Kompetenz als ein sprachliches Kapital bestimmt. Dieser Begriff verweist auf die analytische Ebene zur Bestimmung einer sprachlichen Situation. Sie umfasst die Dispositionen des Akteurs, die definierten und limitierten Zugänge zum sprachlichen Markt, die herrschenden Strategien um das Definieren und Limitieren der diskursiven Praktiken im Interesse des offiziellen Standpunkts.133 Bourdieu bestimmt den Begriff sprachlicher Markt als die auf diskursive Praktiken referierenden, konditionierenden Kapitalverteilungsverhältnisse bzw. Machtrelationen. Seitens der autorisierten Akteure werden die auf dem Markt legitimierten diskursiven Praktiken definiert und vermittelt. Dadurch entstehen Zensureffekte: sie wirken auf das situationsgerechte Sprechen und sprechende Handeln (performative Akte) sowie die situationsgerechte Generierung der diskursiven Elemente, sofern sie als legitimiert anerkannt sein sollen. Diese Definitionen beziehen sich auf das Verständnis von Sprache allgemein und ihrer Formen (Umgangssprache, Hochsprache, akademische Sprache, bürokratische Sprache) sowie auf gesetzte und als naturalisiert zu begreifende Kategorisierungen (gebildet, vulgär, diplomatisch).134 Der Zensurmechanismus versteht sich als Limitierung und Konditionierung dessen, wer mit welchem Interesse agieren darf (Autorisierung) sowie wann und wo er in welcher Weise (Kodifizierung und Formalisierung) zu agieren hat. Da-

133 Bourdieu: Soziologische Fragen, S.117/118 und S.124. In Bezug auf die Strategien der herrschenden Strukturen verdeutlicht Bourdieu die Konditionierung des sprachlichen Markts am Beispiel der sprachlichen Situation innerhalb der politischen Abhängigkeitsverhältnisse in Quebec und in arabischen Kolonien. Ebd., S.118. Zum Wert des Gesagten vgl. auch Bourdieu: Soziologische Fragen. Was sprechen heißt, S.94; sowie ders.: Was heißt sprechen, S.46–49. 134 Bourdieu: Rede und Antwort. Delegation und politischer Fetischismus sowie ders.: Soziologische Fragen. Was sprechen heißt. Für Bourdieu gibt es keine neutralen Wörter, sondern sie unterliegen in jeder sprachlichen Situation einem Klassifikationssystem. Ders.: Was heißt sprechen, S.14/15.

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mit werden Form und Inhalt der diskursiven Praktiken (sprachlicher Habitus) bestimmt. Dieser Funktionsmechanismus der Zensur wird im Interesse der Positionen der herrschenden sprachlichen Macht und vermittels der Sprachkompetenzen der Akteure realisiert. Im Verhältnis des sprachlichen Markts zu den herrschenden Positionen begründen sich die zur Zensur autorisierten Akteure als auch die Praktiken der Zensur. Der den Akteuren vermittels der Zensurmechanismen inkorporierte offizielle Standpunkt entspricht einer naturalisiert scheinenden Selbstzensur. Kennzeichnend ist, dass die Zensurmechanismen bei diesem Prozess verschleiert werden. Letztendlich findet sich in jedem Ausagieren sowie in jedem generierten Element innerhalb einer sprachlichen Situation der Zensurmechanismus wieder.135 Bourdieu unterscheidet in zwei Kategorien des Zensierten: es gibt diskursive Praktiken, die außerhalb des Raums des Möglichen liegen, und es gibt diskursive Inhalte und Ausdrucksformen, die (noch) nicht reglementiert bzw. legitimiert sind.136 Bourdieu verweist ebenso auf die sprachlichen Märkte, die relativ entfernt vom offiziellen Standpunkt positioniert sind. Die dort ausagierten illegitimen Sprachprodukte unterliegen in einem geringeren Grad den Zensurmechanismen des offiziellen Standpunkts, desto stärker wirken die Zensurmechanismen durch die auf diesem Markt geltende inoffizielle Sprache.137

135 Bourdieu: Was heißt sprechen, S.51–75; ders.: Soziologische Fragen, S.125–131. Bourdieu führt dazu konkret aus: „Die allerspezifischsten Merkmale des Diskurses, seine Merkmale als Form, und nicht nur sein Inhalt, sind auf die sozialen Bedingungen seiner Produktion zurückzuführen, das heißt auf die Bedingungen, die für das gelten, was zu sagen ist, und auf die Bedingungen, die für das Rezeptionsfeld gelten, in dem dieses Zu-Sagende gehört werden wird.“ Ebd. Bourdieu formuliert an anderer Stelle zur Verbindung von Sprache und Zensur: „Jedes Sprachsystem ist immer ein Mittel des Ausdrucks, aber zugleich auch ein Mittel der Zensur. Paradoxerweise besteht eine Sprache immer aus jenen Dingen, die sie auszusprechen erlaubt, aber auch aus jenen, die sie auszusprechen und zu denken verbietet […].“ Bourdieu: Mechanismen der Macht 1992, S.19. 136 Bourdieu: Rede und Antwort, S.180; ders.: Was heißt sprechen, S.14/15; sowie ders.: Soziologische Fragen, S.97/98. Bourdieu beschreibt die Charakteristik der Zensur: „Das Feld schließt zwei Dinge aus: das, was bei gegebener Distributionsstruktur der Ausdrucksmittel nicht gesagt werden kann, also das Unsagbare, und das, was sehr wohl und fast allzu leicht gesagt werden könnte, aber zensiert ist, also das Unnennbare.“ Ders.: Soziologische Fragen, S.133. 137 Bourdieu: Was heißt sprechen, S.50 und S.65. Dazu zählen Subkulturen und spezifische soziale Milieus, aber auch Regionalsprachen und Brauchtümer.

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Die zu konstatierende strukturelle Homologie zwischen den Praktiken (soziale, kulturelle, strategische, diskursive, etc.), den Elementen (sowohl materiell gebundene als auch immaterielle), den Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien begründet die methodische Entscheidung einer auf den praxeologischen Theoremen basierenden Diskursanalyse. Es werden spezifische sprachliche Habitusformen zu erfassen sein. Sie generieren zum einen die Diskursverhältnisse und damit die entsprechenden sprachlichen Märkte, zum anderen erlauben sie Rückschlüsse auf die spezifischen Strukturverhältnisse. Die Feldtheorie ermöglicht, eine Vielzahl an sprachlichen Märkten zu definieren, die jeweils in einer konkreten Situation generiert sind. Es kann eine Situation zwischen zwei Akteuren sein oder eine ganze Staatengemeinschaft betreffende Situation. Das ermöglicht eine Anwendung der Analyseschritte sowohl auf der Ebene diskursiver Praktiken als auch auf unterschiedlichen Ebenen des Institutionalisierungsgrads der Akteure. Die zu rekonstruierenden Strukturverhältnisse finden sich in der Praxis innerhalb der Reproduktions- und Funktionsmechanismen als (kulturelle) Praktiken ausagiert. Darüber hinaus sind sie im Verständnis eines kulturellen Erbes in Form inkorporierter Wissensbestände gespeichert. Die einzelnen Aspekte dieser Wissensbestände wurden bereits als themenspezifische Konzepte erarbeitet. Im Folgenden werden sie als Wissensbestände des Immateriellen in Funktion einer analytischen Kategorie formuliert.138 Bourdieu bestimmt die Situation des Vergessens der Genese eines Felds bzw. das fehlende Bewusstsein um diese Genese als das kulturell Unbewußte. Durch den fortlaufenden Prozess der Inkorporierung und Realisierung der feldspezifischen Dispositionen, Codes und Formalisierungen formiert es sich als ein nichtbewusster Wissensbestand. Das kulturell Unbewußte findet sich in Bezug auf die kulturellen Praktiken in drei Modalitäten wieder: der Habitus als das Erzeugungsprinzip von Praktiken; hexis als die dauerhaft einverleibten Körperhaltungen und Körperschemata; die Materialität der Dinge mit deren Eigenschaften; das kulturelle Kapital als ein spezifischer und symbolischer Wert in Abhängigkeit seiner Legitimierung seitens der Definitionsmacht. Der Feldtheorie und Habitustheorie entsprechend ist den Dingen (materielle Eigenschaften) wie den Körpern (Habitusformen und hexis) die generierte Ordnung eines Felds eingeschrieben. Das kulturell Unbewußte bewahrt und gibt diese Ordnung von Generation zu Generation weiter. Die Bedeutungen und Werte entwickeln sich feldspezifisch, gebunden an die feldeigenen Strukturverhältnisse, Dispositionen und legitimen Definitionen. Die

138 Im vorangegangenen Abschnitt finden sich entsprechende Ausführungen.

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feldspezifische Genese ist dem kulturellen Unbewußten implizit, indem sie den Akteuren inkorporiert bzw. in den Objekten materialisiert ist. Dieses Unbewußte funktioniert letztendlich als ein kulturelles Gedächtnis. Den Akteuren ist ein Glauben an die strukturspezifischen Interessen immanent. Aufgrund dieser unhinterfragten Anerkennung können sich die Grundaxiome des Felds generieren. Die dazugehörigen Eigenschaftszuschreibungen, Wertungen und Apriori bilden die doxa des Felds. Die doxa steht für den legitimierten Standpunkt im Feld, dem die Definitionsmacht über die geltenden Grundaxiome zusteht. Aus dieser Setzung heraus funktioniert sie als ein Modus kultureller Produktion (modus operandi) bzw. als die gültige Norm. Sie fundamentiert die Auseinandersetzungen im Feld, in denen es um die Anerkennung bestimmter Standpunkte, Eigenschaften, Definitionen und Praktiken geht. Im Begriff Raum des Möglichen vereint Bourdieu zwei Aspekte: zum einen sind das die den Akteuren inkorporierten und in den Dingen materialisierten Wissensbestände; zum anderen die Limitierungen und Konditionierungen in Form von feldspezifischen Dispositionen, Codes und Formalisierungen, die aus den Machtverhältnissen heraus resultieren. Damit sind Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen generiert, die von Seiten der Akteure auf neue Entwicklungsmöglichkeiten hin wahrgenommen und ausagiert werden können. Der Raum des Möglichen stellt die spezifischen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucksschemata der Praxis zur Verfügung. Die realisierten Optionen aus dem Raum des Möglichen entsprechen dem Begriff des kulturellen Erbes. Es korrespondiert schlussfolgernd den impliziten Wissensbeständen und Habitusformen der ausagierten Praktiken. Ein Beispiel für Wissensbestände, die sich in Form diskursiver Praktiken realisiert finden, sind die Erzählungen und Mythen. Bourdieu ordnet den Mythos ebenso wie die Narrationen der Realität der Praxis zu. Er kennzeichnet sie als unabhängig von einer rational nachvollziehbaren, realen Begründung oder einer Logik. Sie beruhen zugleich auf diskursiven, kognitiven und physischen Praktiken sowie auf einer illusio, die sich von der feldspezifischen, legitimierten bzw. offiziellen illusio unterscheiden kann. Damit ermöglichen Mythos und Narrationen weitere bzw. andersartige, im Raum des Möglichen enthaltene kognitive und mentale Kategorien. Mythos und Narrationen sind demzufolge ein konstitutiver Teil der Wissensbestände. Sie sollten deshalb sowohl in der Bestimmung des kulturellen Erbes als auch der mentalen und kognitiven Dispositionen der Akteure berücksichtigt werden.139

139 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.172.

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Ein Verkennen von Mythos und Narrationen bedeutet, sie aus einer rationalen Wahrnehmungsperspektive heraus als unrelevant für die soziale Realität zu bewerten. Ein Idealisieren meint hingegen, dass Mythos und Narrationen Bedeutungen und Eigenschaften zugeschrieben werden. Diesen liegt im Rahmen der Strategien der Reproduktionsmechanismen ein Interesse seitens der zuschreibenden Positionen zugrunde. Bourdieu konstatiert für die Praxis offizielle Strategien des Verkennens und Idealisierens. Diese werden für den Anerkennungsmechanismus zum immateriellen Kulturerbe erarbeitet werden.140

140 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.176–178.

Methoden der Praxistheorien The best way to appraise Bourdieu’s work is also the most straightforward: use it.1

Im vorangehenden Kapitel konnten die bourdieuschen Grundbegriffe und Kategorien auf ihre Relevanz hin als theoretische und analytische Ansatzpunkte für den vorliegenden Themenbereich erarbeitet werden. Auf diesem Fundament basiert die analytische – rekonstruierende und interpretierende – Arbeit am Forschungsgegenstand. Im Folgenden werden die methodischen Grundlagen der distinktiven Diskursanalyse nach Diaz-Bone als eine der kulturwissenschaftlichqualitativen Methoden der Praxistheorien dargestellt. In diesem Rahmen ist eine Methodendiskussion über die Kompatibilität der praxeologischen und diskursanalytischen Zugänge notwendig. Abschließend wird der Lösungsansatz für den vorliegenden Forschungsgegenstand nachvollzogen. Reckwitz/Sievert beschreiben qualitative Methoden der Sozialwissenschaft als kennzeichnend für den cultural turn. Mit ihrer Anwendung werden die Strukturierung der Sozialwelt und ein Erfassen des Sinnhaften möglich. Hierzu zählen Textanalyse und ethnografische Beobachtungen, sowohl im fremdkulturellen als auch im eigenen kulturellen Kontext. Die Diskursanalyse ist somit ein methodisches Werkzeug der Praxistheorien. Als Teilgebiet der Praxistheorie ist der Diskurs, der als eine diskursive soziale Praktik verstanden wird, ohnehin Bestandteil dieser realitätskonstituierenden Elemente der Praxis.2

1

Dyke, in Shusterman: Bourdieu. A critical Reader, S.192.

2

Reckwitz/Sievert: Interpretation, Konstruktion, Kultur, S.22/23; siehe auch im vorangegangenen Kapitel in den Analysekategorien, Abschnitt Sprache. Die Feldforschung ist eine gängige Methode der Datensammlung zu einer spezifischen Praxis. Vor allem mit dem Wirken der Cultural Studies wurde die Feldforschung interessant, um sich so genannte Subkulturen oder Teilkulturen erschließen zu können. Vgl. dazu u.a. Winter: Perspektiven der Cultural Studies, S.135ff.

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Desweiteren können mit einer Analyse der Diskurse und Diskursstrukturen die relevanten Elemente eines Funktionsmechanismus benannt und deren Bedeutungen innerhalb der Strukturverhältnisse erfasst werden. Dafür werden die durch die Praxistheorien gestellten Kategorien der Praktiken und spezifischen Wissensbestände genutzt. Die Praxistheorien richten den Fokus darauf, welche strukturbezogenen Funktionsweisen innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs wirken und in welcher Weise gesellschaftliche Realität durch die Akteure gestaltet sein kann. Vorausgesetzt ist der Analyse diskursiver Praktiken, dass diese Bedeutungen und Wissensbestände den Diskursen und Handlungsweisen (Praktiken und habits) implizit sind.3

DISKURSANALYSE NACH DIAZ-BONE 4 Die Datenerhebung für die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango erfolgt mit der distinktiven Diskursanalyse nach Diaz-Bone. Sie ermöglicht, die einzelnen Positionen und Relationen darzustellen sowie Veränderungen nachzuvollziehen. In einer anschließenden Interpretation der Analysedaten wird anhand der bourdieuschen analytischen Kategorien ein spezifisches Strukturverhältnis ‚immaterielles Kulturerbe Tango‘ beschrieben und es werden in Rückführung auf die erarbeiteten theoretischen Konzepte Konsequenzen der Veränderungen erfasst. Theoretisches Fundament Die Diskursanalyse nach Diaz-Bone basiert auf Bourdieus Arbeiten zum sprachlichen Habitus sowie auf Foucaults Diskursordnungen und Faircloughs Begriff der Diskurspraxis. Diaz-Bone erweitert das Erkenntnisinteresse anschließend an

3

In Abgrenzung zur kulturhistorischen Diskursanalyse des Lesens und Decodierens betont Reichardt, dass „erst der Gebrauch diskursiver Aussagesysteme klären kann, welche Bedeutung dem Diskurs im Wissen der Teilnehmer zukommt. Anders als die textualistischen Ansätze der Kulturtheorie geht das Soziale nicht in Zeichensystemen und Repräsentationen auf. Vielmehr gründet sich das Soziale auf dem Zusammenspiel von körperlichen Verhaltensroutinen und praktischem Können auf der einen Seite und dem individuellen Aneignen dieser Praktiken auf der anderen Seite.“ Ders.: Praxeologie und Faschismus, in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.132.

4

Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Wird im Folgenden aufgrund der Häufigkeit ohne Nennung des Titels zitiert.

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die bourdieuschen theoretischen Grundlagen und Werkzeuge für eine Distinktionsanalyse. Sein Ziel ist, zu „untersuchen, wie das Verhältnis zwischen den materiellen Lebensbedingungen (Ressourcenverteilung), den Lebensstilen und dem kulturellen Wissen erklärt wird – in Bourdieuschen Worten: wie verhalten sich sozialer Raum, Lebensstile und Diskurse zueinander.“5 Anliegen der Distinktionsanalyse als eine Diskursanalyse ist entsprechend, aufzuzeigen, wie Distinktion im sozialen Raum vermittelt wird. Damit gelingt es, die Wertigkeit kultureller Objekte nicht nur in Rückführung auf Distinktionsprozesse zu erfassen, sondern den Prozess der Vermittlung symbolischen Kapitals durch diskursive Praktiken zu erklären.6 Ausgangspunkt seines diskurstheoretischen Ansatzes ist ein starker Diskursbegriff. Der Diskurs weist eine eigenständige Wirkmächtigkeit auf, indem sich durch ihn symbolische Werte vermitteln, soziale Praxis strukturiert und soziale Ordnung konstituiert. Diaz-Bone stützt sich vor allem auf die Neudefinition der Begriffe ‚Diskurspraxis‘ und ‚diskursives Ereignis‘ sowie dessen Differenzierung bei Fairclough. Das diskursive Ereignis wird in dem von ihm entwickelten Analysemodell auf der Ebene des Textes, der Ebene der diskursiven Praxis und der Ebene der sozialen Praxis untersucht.7 Diaz-Bone konstatiert in diesem Zusammenhang ein schwaches Diskurskonzept bei Bourdieu: „Diskurse sind in Bourdieus Analysen Positionen im sozialen Raum und in einzelnen Feldern zugeordnet. Das eng gefasste Analyseinteresse der Bourdieuschen Theorie des Sprechens besteht einmal in der Untersuchung der (Herstellung der) Adäquatheit der Sprechhandlung in einem vorstrukturierten Setting, zum anderen in der Untersuchung der Korrespondenz von Diskursposi-

5

Diaz-Bone, S.21. Grundsätzlich formuliert Diaz-Bone eine Differenzierung in Hinsicht auf den Erkenntnisgewinn seiner Distinktionsanalyse: definiert Bourdieu in seiner Feldanalyse das Werk als Produkt des Felds, so definiert sich das Werk in der Diskursanalyse als Produkt distinktiver Praktiken. Ebd., S.191.

6

Diaz-Bone, S.62/63. Der Kritik Diaz-Bones nach, ist die Wertigkeit kultureller Objekte im Rahmen der Kulturproduktion als Resultat der kollektiven Schaffung einer Selbsttäuschung (illusio) gedeutet worden, die auf einem symbolischen Tauschsystem in Feldern (croyance) erwächst. Ebd., S.51.

7

Vgl. dazu insbesondere Diaz-Bone, S.111. Er führt aus: „Fairclough ‚entkernt‘ bzw. ‚entstrukturalisiert‘ das poststrukturalistische Modell des foucaultschen Diskursbegriffs, indem er […] diskursive Ereignisse in interdiskursiven Ordnungen betrachtet.“ Ebd., S.112. Mit Fairclough formuliert sich letztendlich ein Verständnis von diskursiver Praxis, das diese als „Praxis der Textproduktion und Textrezeption versteht und diese Praxis in einen soziologischen Analyserahmen stellt.“ Ebd. S.108ff.

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tionen und Feldpositionen. Der Diskurs erscheint als eine Repräsentation der Feld- und Habitusstruktur.“8 Für Diaz-Bone bleibt hierin unklar, wie diese Symbolsphäre innerhalb der Strukturverhältnisse impliziert ist. Dafür stellt Bourdieu lediglich das Konzept der habituellen Praxis – im Verständnis eines inkorporierten Wissens mit der Funktion von handlungsgenerierenden Schemata – mit den Begriffen Habitus und hexis zur Verfügung. Diaz-Bone argumentiert für eine zweite Generierungs- und Vermittlungsweise der diskursiven Praxis – im Verständnis eines Wissenskonzepts mit der Funktion ästhetischer Werte – durch diskursive Praktiken. Die Diskursformation steht in einer homologen Beziehung zur Struktur der Elemente, denn die relationalen Beziehungen in sozialen Feldern finden sich ebenso in der diskursiven Praxis wieder und werden anhand der Diskurselemente erkennbar.9 Die mediale Besetzung und das diskursive Ausagieren der Positionen korrespondieren entsprechend den Strukturverhältnissen. Die Positionen umfassen publizistische Organe, Journalisten, Experten, Zeitschriften, Verlage, Vermittler, Agenturen, die Leserschaft.10 Die spezifischen Medien der sozialen (Teil-)Felder der Kulturproduktion, die Diaz-Bone als Kulturwelten definiert, bestimmt er als die institutionellen Foren für die diskursive Praxis.11 Entsprechende Diskurselemente können Textmaterial, Sprechende und Diskursmedien sein. Sie entsprechen einer Materialisierung der diskursiven Praxis und ermöglichen deren Re-

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Diaz-Bone, S.69/70. Diaz-Bone zufolge bleibt die Zuordnung zu stark der semantischen Homologie der Strukturen verhaftet, anstatt die Analyse der diskursiven Konstruktion von Wissensordnungen zu ermöglichen: „Denn erst der distinktive Wert und eine darauf bezogene Lebensführung ist der lebensstilbezogene Gehalt, der in der Kunst- und Kulturproduktion zustande kommen muss, so dass kulturelle Praktiken und kulturelle Objekte in Homologie zu dem System der Lebensstile stehen können. […] Das bourdieusche Diskursmodell bleibt an einem Sprecher-Feld-Modell orientiert, das die akteursbezogenen Sprechhandlungen in Akteurskonstellationen untersucht.“ Ebd., S.64.

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Diaz-Bone, S.63/64.

10 Diaz-Bone, S.62. Diaz-Bone formuliert zu den medialen Diskurspositionen im spezifischen Feld der kulturellen Produktion: „Der Ausdifferenzierung eines Feldes folgt die Entstehung publizistischer Organe, in denen Journalisten, Kritiker, Kunstexperten die Werke kommentieren und beurteilen. Zeitschriften und Zeitungen nehmen die Funktion wahr, den Rede- und Denkweisen im Feld, die durch jeweils eine Fraktion im sozialen Raum vertreten werden, ein Forum zu geben.“ Ebd., S.57. 11 Diaz-Bone, S.173/174. Diaz-Bone setzt mit seinem Begriff der Kulturwelten an Bourdieus Feldkonzept an. Vgl. dazu ebd., S.49–53.

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konstruktion. Diese diskursive Praxis formiert letztendlich die Diskursformation, die zur habituellen Praxis different sein kann und eine eigenständige Wirkmächtigkeit begründet.12 Den besonderen Stellenwert räumt ihr Diaz-Bone ein, da sich die auf Distinktion beruhenden Felder kultureller Produktion vermittels dieser konstituieren: das eigentliche symbolische, ökonomische, kulturelle oder soziale Kapital wird verneint und in Form des symbolischen Kapitals als Prestige, Reputation und Autorität legitim.13 Die von Diaz-Bone in der Entwicklung seiner Distinktionsanalyse zu Grunde gelegte Frage zielt darauf ab, die Kategorien des Ein- und Zuordnens von Elementen und deren Qualitäten zu erklären. 14 Die methodologische Vermittlung der Ebenen Sozialstruktur und Lebensstilraum mit der von ihm stark gemachten relativ autonomen Ebene der diskursiven Praxis erfolgt über einen Interdiskursraum. Hierfür verweist Diaz-Bone auf die Strukturhomologie von Diskursen und Beziehungen zwischen den Akteuren.15 Ausgehend von dieser Annahme können in Rückgriff auf erhobene Analysedaten Rückschlüsse auf die Strukturverhältnisse gezogen werden. Dafür werden die Elemente Akteure, Objekte, Praktiken und kulturelle Wissenskonzepte einbezogen und Differenzen zwischen den Ebenen der habituellen und der diskursiven Praxis berücksichtigt. Vorgehen der Analyse Diaz-Bone stellt eine klare Vorgehensweise für die Analyse und Interpretation diskursiver Elemente innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse zur Verfügung. Im Vorfeld des Bearbeitens der methodischen Schritte der Diskursanalyse steht eine Reflexion der sprechenden und analysierenden Positionen. Dafür konstatiert Diaz-Bone drei Ebenen konditionierender Einflüsse: Die erste Ebene reflektiert den Standort der Untersuchung: von welcher Position aus wird die Wissensordnung untersucht. Es sind Innenansichten (Selbstthematisierungen) und Außenansichten (Thematisierungen) möglich. Auf einer zweiten Ebene geht es um die Logik der Praxis. Sie steht für Unschärfen und Streuungen: soziale Sachverhalte und Wissenskonzepte gehen aus Mechanismen – u.a. der diskursiven Praxis –

12 Diaz-Bone, S.119/120. 13 Diaz-Bone, S.47. 14 Diaz-Bone, S.114 und S.118. 15 Diaz-Bone, S.61. Er formuliert: „[der] Diskursraum entspricht den allgemeinen Feldstrukturen aus Positionen, Legitimität des Sprechakts, Autorität der Sprecherposition, Einsetzungsmechanismen, Wertigkeiten.“ Ebd.

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hervor, sind aber praktische Konzepte, die Performanzspielräume und Widersprüchlichkeiten enthalten. Eine dritte Ebene bezieht sich auf die Selbstreflexion innerhalb der Kulturwelt: Theorieeffekt und Medialisierung, d.h. die Inkorporierung von medial oder wissenschaftlich eingebrachtem genrefremden Wissens als Teil der internen Diskurse.16 Die Diskursanalyse wird in drei Schritten realisiert: Zuerst wird der Textkorpus ausgewählt und bestimmt. Dazu gehört unbedingt eine begründete Annahme über die Distinktivität (Positionierung) und die Einordnung in den übergeordneten sozialen Raum. In einem zweiten Schritt erfolgt die Kodierung des Textkorpus. Die Kodierungen sollen eine spätere Identifizierung von zentralen Dimensionen, Oppositionen und Klassifikationsprinzipien vorbereiten. In der zunächst offenen Kodierung wird nach auftretenden Begriffen und Elementen gesucht. Die Eingrenzung des Aufmerksamkeitsbereichs hängt vom Untersuchungsziel ab. Leitende Fragen sind hierfür: Welche zentralen (kulturellen) Objekte und (kulturellen) Praktiken, welche Akteure treten auf? Welche Eigenschaften werden den Objekten, den Rezipienten und den Produzenten zugeschrieben? Welche Erwartungen werden auf sie bezogen? Welche Qualitäten und Konzepte werden auf die Objekte bezogen? Welche die Lebensführung, den Stil und kulturellen Objekte betreffenden Themen werden eingeführt? Das von Diaz-Bone entwickelte Kodiermodell ersetzt das Kodiermodell der Grounded Theorie. Es handelt sich dabei um ein Set vorgegebener Grundkategorien, das nach Maßgabe Diaz-Bones mit diskursanalytischen Kategorien ersetzt wird. Diese entwickelt er in der Diskussion der bourdieuschen, foucaultschen und faircloughschen Begriffe und Instrumente. Das Kodiermodell ermöglicht, die Bestandteile der diskursiven Formation, deren impliziten Relationen und Werte, die Oppositionen und die thematischen Komplexe im Verständnis kultureller Wissensbestände zu erfassen.17 Der Vorgang der Kodierung ist mit einer zunehmenden Systematisierung der Ergebnisse verbunden, bleibt aber während des gesamten Analyseprozesses eine offene Kodierung. Damit lässt sie eine flexible Kennzeichnung und einen schnellen Zugriff auf relevante Aussagen zu. Flexibel bedeutet die mögliche Umbenennung, Integration von Kodes und Rekodierung von Aussagen, wenn sich der Anfangsverdacht verändert. Das Kode-System wird schrittweise umfangreicher, wenn nach und nach organisierte Bereiche herausgearbeitet werden. Wird ein neuer Kode eingeführt, müssen bisherige Textelemente diesbezüglich neu

16 Ausführlich bei Diaz-Bone, S.221. 17 Ausführlich Diaz-Bone, S.199/200 und S.201–205 (schematische Darstellung).

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durchgesehen werden. Sobald ein weiterer interpretativer Schritt gemacht wurde oder sich eine Systematik abzuzeichnen beginnt, wird der Textkorpus erneut einbezogen. Mit dem Rekonstruktionsvorgang läuft gleichzeitig der Interpretationsprozess. Die Interpretation der Relationen und der Wertigkeiten erfolgt über das Herausarbeiten von diskursiven Regelmäßigkeiten, von diskursiven Beziehungen und der Prinzipien der Klassifikation und Streuung. Die Kodierstrategie hat das Ziel, das System der im Textkorpus enthaltenen relevanten Aussagen zu identifizieren, so dass der in ihnen enthaltene Zusammenhang der Diskurselemente herausgearbeitet werden kann. Es gelingt damit das Erfassen eines Gesamtrahmens auf Basis der analysierten Elemente und Kategorien (TheorieMethoden-Themen-Korrespondenz).18 Die Analyse wird von einer interpretativen Analytik abgeschlossen. Darin geht es um die Rekonstruktion der diskursiven Beziehungen. Die kodierten Textstellen stehen für eine Materialisierung der diskursiven Praxis. Diaz-Bone formuliert grundlegende Schritte für die Interpretationsarbeit: Suche nach Regelmäßigkeiten; Rekonstruktion der Relationen zwischen den Objekten, Konzepten und Problematisierungen (sowie Akteuren); Fertigstellung der Rekonstruktion (vermittels der Zusammenführung der diskurstragenden Kategorien, der Problematisierungen vermittelnden Objekte und Konzepte, der diskursiven Strategien, der manifesten und latenten Oppositionen) und der Verdichtung der thematischen Komplexe; Beschreibung eines komplexen Ganzen der Positionen, der Gefühlsstruktur, der Struktur der fundamentalen Semantiken, die auch die Darstellung der herausgearbeiteten kulturellen Wissenskonzepte umfasst; Beschreibender Vergleich differenter Kulturwelten.19 Diaz-Bone formuliert den kritischen Punkt in Bezug auf die Darstellung der Analyseergebnisse als Text. Diese kann nur unvollständig sein, indem sie auf signifikante Punkte reduziert und bewusst Lücken in der Darstellung, wenn auch in Abstimmung mit dem Erkenntnisinteresse, erlaubt.20 Kategorien und Begriffe der Analyse Für die Diskursanalyse, bzw. für den Prozess der Kodierung und abschließenden interpretativen Analytik benennt Diaz-Bone Kategorien, die eine sinnvolle Kodierung und Interpretation unterstützen.

18 Diaz-Bone, S.198–203. 19 Diaz-Bone, S.203–205. 20 Diaz-Bone, S.239.

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Die im sprachlichen Habitus enthaltene sprachliche Kompetenz wird als ein sprachliches Kapital bestimmt. Die sprachliche Kompetenz umfasst die Position des Sprechens, die dazugehörigen Wissensbestände und Autorisierungen zum Sprechen sowie den Sprachstil. Die Analyse des sprachlichen Kapitals bezieht auch seine Einordnung in die Strukturverhältnisse ein.21 Bourdieu führt den Wert als eine illusio innerhalb der Feldstruktur ein. Dieser erklärt sich durch die relationalen Beziehungen der Akteure und Objekte im Feld. Der Wert formiert sich entsprechend den Strukturverhältnissen und wird über den Funktionsmechanismen des Habitus vermittelt und ausagiert.22 Werte stehen somit für spezifische Strukturverhältnisse und für distinktive Wissensbestände. Aber erst in der diskursiven Praxis werden solche Wissensbestände als kulturelle Wissenskonzepte wie Reinheit, Authentizität, Kunst, Natürlichkeit, Genie, Unterhaltung, Spontaneität, Perfektion, Kreativität als Konzepte mit normativen Gehalt gefüllt, an denen sich das distinktive Wissen ausrichten kann.23 Die distinktive Diskursivierung steht für die Verleihung eines symbolischen Kapitalwerts an legitimierte und distinktive Strukturelemente innerhalb spezifischer Diskursräume. Sie ermöglicht die Verkopplung von Objekten, performativen Praktiken und Lebensstilen.24 Dieser Zusammenhang öffnet die methodische Möglichkeit der Analyse spezifischer Strukturverhältnisse anhand diskursiver Elemente. Diaz-Bone differenziert hierfür unterschiedliche Ebenen der diskursiven Praktiken: sozialer Raum (welcher den Raum des Sprechens und den Raum des Möglichen formiert), Raum der Lebensstile und Interdiskursraum. Eine Analyse des Strukturnetzes erfasst das Verhältnis dieser Ebenen.25 Diaz-Bone führt das von Raymond Williams erarbeitete Konzept der Gefühlsstruktur ein. Die Gefühlsstruktur ist ein komplexes Ganzes, das die Übereinstimmung der verschiedenen Handlungspraxen betrifft und sich in der Kultur eines Kollektivs als Lebenssinn oder Lebensgefühl Ausdruck verschafft.26 Das

21 Diaz-Bone, S.58/59. Verwiesen sei auf die sprachorientierten Feldanalysen bei Bourdieu: Analyse von dominanten und dominierten Ansichten, bzw. Meinungen in sozialen Feldern (1976), Analyse von in Äußerungen enthaltenen ästhetischen Kategorien (1982) und Analyse von einzelnen Sprechakten (1988; 1990). 22 Diaz-Bone, S.68. 23 Diaz-Bone, S.129. 24 Diaz-Bone, S.139. 25 Diaz-Bone, S.117. 26 Diaz-Bone, S.149. Dort Verweis auf Williams (1977) aus der Tradition der Chicago School – amerikanischer Pragmatismus nach Anselm Strauss und Barney Glaser.

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Konzept der Gefühlsstruktur ermöglicht die Einbeziehung der stark emotionalen und affektiven Prägung der Elemente und Funktionsmechanismen.

ZUR UNVEREINBARKEIT VON STRUKTURANALYSE UND DISTINKTIVER DISKURSANALYSE Im Vorfeld der Datenerhebung steht eine Diskussion um die methodologische Unvereinbarkeit des praxeologischen und diskursanalytischen Zugangs. Problemlage: Inkompatibilität der Strukturebenen Bourdieu hat einen praxeologischen Ansatz erarbeitet, der sowohl den theoretischen als auch den methodischen Zugang zur Analysesituation ermöglicht. Sein Ansatz basiert auf einer quantitativen empirischen Analyse. Er weist einen starken und relativ autonomen Diskursbegriff ab: der Diskurs wird dem Bereich der diskursiven Praktiken zugeordnet. Sie sind den anderweitigen Praktiken gleichwertig und korrespondieren wie diese den Habitusformen. Die distinktive Diskursanalyse nach Diaz-Bone geht darüber hinaus und fragt danach, inwiefern und welcher Art sozialer Raum, Lebensstile und Diskurse in einem wechselseitigen Reproduktionsverhältnis stehen und Diskurse als durch den sozialen Raum determiniert bzw. den sozialen Raum determinierend sind. Die in vorliegender Arbeit durchgeführte Datenerhebung erfolgt innerhalb des theoretischen Rahmens des praxeologischen Zugangs mit einer Diskursanalyse. Diese basiert auf den theoretischen und methodischen Konzepten Bourdieus, ist aber auf die Untersuchung von diskursiven Elementen begrenzt. Sie rekonstruiert keine Sozialraumstruktur, sondern zunächst eine distinktive Diskursformation. Das führt zum methodologischen Problem, wie ein bourdieusches Strukturmodell und eine distinktive Diskursformation zueinanderstehen, bzw. inwiefern diese verbunden werden können. Es wird im Folgenden begründet, warum eine Datenerhebung mit nur diskursiven Elementen vorgenommen wird. Es wird argumentiert, in welcher Weise eine solche Methodenkombination möglich ist und welche Indikationen sie für die Datenerhebung als auch Ergebnisinterpretation mit sich bringt. Es wird reflektiert, inwiefern eine Feldstruktur ausgehend von einer Datenerhebung aus einer Diskursformation rekonstruiert werden kann und warum eine Diskursformationsanalyse in Bezug auf das Erkenntnisinteresse nicht ausreicht.

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Argumente der Methodenkritik Zunächst werden Argumente aus den methodisch-theoretischen Ausführungen sowie Reflexionen zur Analyseperspektive zusammengeführt. Abschließend kann dann eine Lösung für das methodologische Problem formuliert werden. Die Argumente in Bezug auf einen quantitativen oder qualitativen Zugang begründen, warum in vorliegender Arbeit eine Datenerhebung mit nur diskursiven Elementen vorgenommen wird. Bourdieus Methode arbeitet auf Basis quantitativer, zu großen Teilen statistischer Erhebungen. Wobei er in den letzten Jahren seines wissenschaftlichen Arbeitens diese stringente quantitative Arbeitsweise aufgibt und in zunehmendem Maße qualitative methodische Vorgehensweisen im Sinne einer qualitativen Hermeneutik einbezieht.27/28 Vorliegende Analyse stützt sich auf ein empirisches Datenmaterial, das einen Textkorpus aus Diskurselementen bildet. Es werden weder qualitative Interviews noch statistische Daten als empirisches Material einbezogen. Im Hinblick auf statistisches Datenmaterial musste im Verlauf der Recherche konstatiert werden, dass umfassende und verwertbare soziodemographische Daten zur Verbreitung und zur Personenstruktur der kulturellen Praktik Tango im Lokalbereich Buenos

27 Diaz-Bone, S.190/191. Das Erfassen sozialer Struktur- bzw. Bedeutungsrelationen bedingt der Argumentation der Praxistheorien folgend eine qualitative Zugangsweise. Diaz-Bone benennt diese Vorgehensweise eine qualitative Hermeneutik und begründet diese mit Bourdieu. Vgl. dazu bei Diaz-Bone, S.197. Vgl. auch Bourdieus Kommentar zu den Fragebogenerhebungen in Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.752/753 und S.794. Die qualitativen Zugänge finden sich in Bourdieus Arbeiten unter Einbindung qualitativer Interviews in ‚Elend der Welt‘ und unter Einbindung von Textanalysen als ein theoretisches Vorwissen für das Kunstfeld in ‚The Field of Cultural Production‘ und für das Feld der Literatur in ‚Die Regeln der Kunst‘. 28 Kritische Stimmen in der Bourdieu-Literatur zu seinen methodischen Werkzeugen und theoretischen Fundamenten bestärken das Vorgehen, eben diese zu entwickeln oder zu erweitern. Dirksmeier kommentiert beispielsweise eine grundlegende Kritik an den methodischen Werkzeugen Bourdieus: „Der französische Soziologe verfolgt selbst kein kohärentes und methodisch stabiles Verfahren der Habitusanalyse, sondern vollzieht vielmehr im Laufe seiner empirischen Arbeiten eine methodische Wende von einer quantitativpositivistischen Methodik (Bourdieu, 1987b) hin zu einem radikal qualitativhermeneutischen Verfahren, das er mit dem plakativen Titel ‚Verstehen‘ überschrieben hat (Bourdieu, 1997a).“ Vgl. bei Dirksmeier: Mit Bourdieu gegen Bourdieu empirisch denken, S.75/76.

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Aires/Rio de la Plata nicht zur Verfügung stehen.29 Der Verzicht auf qualitative Interviews liegt darin begründet, dass das Problem der Oral History zum Tragen kommt: die kulturelle Praktik Tango in ihrer nicht als Kulturerbe anerkannten Form ist nicht mehr existent. Der Zugriff über das Verbale verstärkt den Effekt der subjektiven Aussagen, indem diese auf Erinnerung, auf – so sei anzunehmen – Euphemismen und Narrationen beruhen. Schriftliche Diskurselemente hingegen entstammen einem gegenwärtigen Moment der Analysesituation.30 Bourdieu und die ihm zuzuordnenden Forschungsgruppen greifen bei der Umsetzung der theoretischen Modelle und vorzunehmenden Analysen auf dem praxeologischen Zugang eigene Werkzeuge zurück. Sie arbeiten innerhalb eines geschlossenen theoretisch-methodischen Systems. In vorliegender Arbeit wird eine spezifische Analysesituation aufgegriffen, die eine neuartige Struktur und Charakteristik darstellt mit neuen Kapitalformen, neuartigen Weisen der Relationen, der Mechanismen der Interaktionen und der Machtkonstellationen. Eine der Analysesituation korrespondierende Zugangsweise wird mit der distinktiven Diskursanalyse nach Diaz-Bone gefunden. Das methodologische Grundproblem liegt in der anzunehmenden Inkompatibilität der Analyseebenen von Strukturanalyse und Diskursanalyse. Dementsprechend sollte reflektiert werden, inwiefern beide methodischen Zugänge kombinierbar sind und das bourdieusche Strukturmodell anhand einer Diskursformation rekonstruiert werden kann. Grundsätzlich kann konstatiert werden, dass mit den Ergebnissen einer, wenn auch distinktiven Diskursanalyse eine Rekonstruktion einer Sozialraumstruktur nach den theoretisch-methodischen Kategorien des bourdieuschen praxeologischen Ansatzes nicht möglich ist. Es kann sich in Bezug auf eine Methodenkombination lediglich um eine differenzierende Interpretation von Analyseergebnissen und die Rekonstruktion von Strukturverhältnissen handeln. Ausgangspunkt

29 Bestätigung findet dieser Verweis auf fehlende empirische Daten zu Tangotanzenden in Buenos Aires in Viladrichs Arbeit zur Tango-Immigration in New York. Vgl. Viladrich: More than two to tango, S.57. Für die deutsche Tangoszene liegen solche Daten in einem beschränkten Analyseumfang vor. Allerdings ist dieser Lokalbereich für vorliegende Untersuchung nicht von Relevanz. Vgl. Diaz-Bone: „Tangowelt Berlin“, in Willems: Theatralisierung der Gesellschaft, S.355–376. 30 Darüber hinaus soll angemerkt sein, dass Interview-Aufzeichnungen der Analyse ebenso als ein Textdokument vorliegen würden und dieselben zu kritisierenden Aspekte der Oral History zum Tragen kommen: inwiefern werden alle relevanten Elemente benannt und in welcher Weise. Diese Indikationen führen die Auswertung qualitativer Interviews wieder zu einer notwendigen Diskursanalyse zurück.

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dafür sei die Annahme, dass ein sozialer Raum, der sich aus der Verbindung der erfassten Relationen der Elemente und der symbolischen Ebene generiert, die Ausgangs- und Entstehungsbedingung aller Analyseräume sei. Das meint, dass sowohl einer rekonstruierbaren Sozialraumstruktur des Tangos wie auch der zu rekonstruierenden Diskursformation Tango dieselbe Struktur an Elementen zugrunde liegt. Damit erfolgt die Interpretation der Diskurselemente in Bezug auf diese zugrundeliegende Struktur der Elemente.31 Abbildung 1: Der Analyseraum nach Bourdieu

STRUKTUR der ELEMENTE (Sozialstruktur)

(Diskursformation)

HABITUSFORMEN

habituelle PRAKTIKEN

DISKURSPRAKTIKEN

SYMBOLISCHER RAUM (Sozialraumstruktur)

(Kulturwelt)

Quelle: eigene Darstellung

Ein erstes Argument basiert auf dem theoretisch-methodischen Zugang nach Bourdieu. Die Analyse von diskursiven Elementen fügt sich in das Gesamtkonzept von Feld- und Habitustheorie ein: das Ausagieren eines spezifischen oder individuellen Interesses seitens eines Akteurs entspricht seinem Habitus aufgrund seiner gegebenen Position mit ihren Dispositionen. Das Ausagieren kann

31 Zur Annahme des sozialen Raums als die Ausgangs- und Entstehungsbedingung der ausagierten Praktiken formuliert Diaz-Bone: „Bourdieus theoretische Überlegungen zum Sprechen stellen sich als Versuch dar, eine ‚soziologische Pragmatik‘ wieder aufzunehmen, die das Sprechen nicht als isoliertes Untersuchungsobjekt betrachtet (wie dies die Linguistik tut), sondern es hinsichtlich der sozialen Bedingungen seiner Herstellung und den sozialen Bedingungen seiner Rezeption und Wirkung (Akzeptabilität) untersucht. Formale wie inhaltliche Eigenschaften des Sprechens werden auf die rhetorische Funktion im sozialen Kontext zurückgeführt, die darin besteht, symbolische Auseinandersetzungen um die Legitimität von Lebensstilen, d.h. um die Zugehörigkeit zu einer anerkannten sozialen Gruppe auszutragen.“ Diaz-Bone, S.52/53.

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vermittels diskursiver Praktiken geschehen. Sie unterliegen – ebenso wie die Praktiken im Allgemeinen – einem dialektischen Prozess: aus sprachlichen Verhältnissen und Diskursen heraus werden sie konditioniert; im Ausagieren der Praktiken werden die Strukturverhältnisse zugleich reproduziert. So wie die von den Akteuren ausagierten Praktiken einem spezifischen Habitus korrespondieren, korrelieren die diskursiven Praktiken, die ein Akteur oder eine Gruppe von Akteuren realisieren, mit einem sprachlichen Habitus und spezifischen Diskursstrategien. Diskurse und sprachliche Erzeugnisse werden somit als diskursive Elemente verstanden, die durch eine diskursive Praktik und einen korrespondierenden Habitus in der Praxis generiert sind. Sie sind Teil der habituellen Praxis und stehen für einen spezifischen sprachlichen Habitus.32 Diskurse sind generierte Elemente des sprachlichen Habitus und umfassen das Gesprochene, die Rede, aber auch den Sprachstil. Das Sprechen versteht sich als Teil der Praxis. Es korrespondiert den Strukturverhältnissen durch die Bedingungen seiner Generierung und Rezeption sowie als Funktionsmechanismen (beispielsweise symbolische Praktiken der Legitimierung und Identifikation). Der symbolischen Macht korrespondiert ein performativer Diskurs, der auf dem Besitz von symbolischem Kapital gründet.33 Bourdieu definiert die Wirksamkeit des Diskurses in Relation zur sprachlichen Kompetenz des Akteurs und seiner Position innerhalb der sprachlichen Situation. Entscheidend ist dabei das Zusammenspiel aus der Sprachkompetenz (Beherrschung des in der konkreten Sprachsituation legitimen Sprachhabitus)

32 Bourdieu: Rede und Antwort, S.176/177. Der Habitus als die kognitiven, mentalen und handlungsleitenden Dispositionen des Akteurs kann als ein übergeordneter Begriff der Analyse verstanden werden, der in der Praxis eine Vielzahl an konkreten Habitusformen aufweist. Eine dieser Habitusformen ist der sprachliche Habitus. Somit existieren für Bourdieu keine von Akteuren bewusst und unabhängig produzierten Diskurse, sondern deren sprachliche Ereignisse oder Erzeugnisse sind immer ein Produkt der gesamten Strukturverhältnisse. Gewöhnlicherweise ist der Fall, dass alle Habitusformen (Sprache, Bewegung, Geschmack, Verhalten, Gefühlwelt, usw.) eines Akteurs einheitlich wirken. Sie stehen in ihrer einzelnen Betrachtung als auch in ihrer Gesamtheit für die Position des Akteurs innerhalb der Strukturverhältnisse und konditionieren dessen Wirkungs- und Ausdrucksformen. Vgl. Bourdieu: Soziologische Fragen, S.115 und Bourdieu: Soziologische Fragen, S.131 sowie Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.184. 33 Vgl. u.a. Bourdieu: Rede und Antwort. Sozialer Raum und Symbolische Macht.

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und der sozialen Kompetenz (Autorisierung zum Sprechen, die von den der Position zugehörigen Dispositionen abhängt) der Akteure.34 Desweiteren unterscheidet Bourdieu die Strukturverhältnisse eines spezifischen Felds in die Strukturen der Positionen, die die Akteure besetzen (Stellungen) und der Positionen, die die Akteure beziehen (Stellungnahmen). Beide Strukturräume können übereinstimmen oder auch Differenzen aufweisen. Vor allem die Verschiebungen von Position und Stellungnahmen sind für das Erfassen der Mechanismen wichtig. Sind diskursive Praktiken und diskursive Erzeugnisse ebenso und gleichwertige ausagierte Dispositionen, so verweist diese Argumentation bereits auf das daran anknüpfende Argument Diaz-Bones, dass Stellungnahmen auf diskursiver Ebene und auf habitueller Ebene differieren können und trotzdem einer objektiven Struktur zugehörig sind.35 Das zweite Argument basiert auf dem methodischen Zugang nach Diaz-Bone. Er entwickelt seine Distinktionsanalyse als eine Weiterführung der bourdieuschen Sozialraumstruktur. Er argumentiert, dass diese die Prozesse der Werte- und Bedeutungsvermittlung als fundamentierende Praktiken der Distinktion nicht einbindet. Der erweiterten Distinktionstheorie nach Diaz-Bone entsprechend kann der Vermittlungsprozess zwischen materieller Grundstruktur (Struktur der Elemente), ausagierenden Praxisformen und vermittelnden inkorporierten Habitusformen innerhalb der Sozialraumstruktur ebenso über Diskurse sowie den kor-

34 Bourdieu: Soziologische Fragen. Was sprechen heißt, S.102 und ebd.: Sprachlicher Markt, S.117. Grundlegend ist das Wissen um das in der Praxis sinnvolle und damit umständegerechte (oder auch als situationsadäquat bei Bourdieu zu finden) Agieren vermittels Sprache. Zur Wirksamkeit des Diskurses führt Bourdieu aus: „Jeglicher Diskurs ist das Produkt des Zusammentreffens eines sprachlichen Habitus, d.h. einer untrennbar technischen und sozialen Kompetenz (ineins die Fähigkeit zu sprechen und die Fähigkeit, auf eine bestimmte, soziale charakteristische Art zu sprechen) und eines Marktes, d.h. des Systems der ‚Regeln‘ zur Bildung der Preise, die dazu beitragen, die sprachliche Produktion zu steuern.“ Ders.: Mechanismen der Macht, S.81. Bourdieu führt an anderer Stelle aus: „Infolgedessen ist es gar nicht möglich, einen Kommunikationsakt in den Grenzen einer rein sprachlichen Analyse zu interpretieren. Noch in den simpelsten sprachlichen Austausch geht ein komplexes und verzweigtes Netz von historischen Machtverhältnissen ein.“ Ders.: Rede und Antwort, S.176/177. 35 Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie. Logik der Felder. Beide Räume, der Raum der objektiven Positionen und der Raum der Stellungnahmen, müssen den Ausführungen zufolge zusammen analysiert und wie zwei Übersetzungen desselben Satzes behandelt werden. Ebd., S.136.

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respondierenden Praktiken und Mechanismen erfolgen. 36 Diaz-Bone formuliert den Begriff Interdiskursraum. Er stellt diesen als einen relational funktionierenden und an die Strukturverhältnisse gebundenen, aber nicht notwendig den gegebenen Machtrelationen kongruenten, interdiskursiven Raum auf die Funktionsebene des sozialen Raums. Darüber hinaus vermittelt er zwischen Sozialstruktur, habitueller Praxis und diskursiver Praxis. Damit ist er konstituierend für den Raum der Lebensstile definiert. Sowohl sozialer Raum als auch Interdiskursraum stehen funktional für die Bestimmung und Vermittlung von Werten, Bedeutungen und Handlungsoptionen sowie für die Generierung symbolischer Werte.37/38 Diaz-Bone konstruiert sein Strukturmodell anstatt einer Feldstruktur als einen Diskursraum. Darin stehen Sprecherpositionen bereit, die wiederum in ihrer Besetzung im Sinne der konditionierten und dispositionellen Funktionsmechanismen kontrolliert sind. Diese legitimierten Sprecher agieren in einer legitimierten Sprechersituation und generieren innerhalb dieses diskursiven Raums ein spezifisches symbolisches Kapital. Grundsätzlich kann der Interdiskursraum als eine Aufschlüsselung des bourdieuschen Konzepts sozialer Raum, Habitus und Lebensstilraum verstanden werden. Es wird eine diskursive Ebene parallel zu diesem Funktionsmechanismus der Kapitalverhältnisse, deren Inkorporierung und deren Ausagierens eingeschoben.39

36 Diaz-Bone, S.31/32. Weiterführende Argumentationskette dazu ebd., S.23/24ff. 37 Diaz-Bone, S.115. Diaz-Bone formuliert das methodologische Grundproblem der Relation Feld und Diskurs bzw. sozialer Raum und Interdiskursraum: „Die Grundmuster, die den ethisch-ästhetischen Gehalt, die diskursive Gefühlsstruktur einer Kulturwelt zum Ausdruck bringen, sind wesentliche Elemente der diskursiven Regeln, sie sind ihre organisierenden Grundstrukturen, die in Form von Semantiken und Oppositionen der Kulturwelt ihren distinktiven Gehalt wie ein Wasserzeichen aufprägen. Die diskursive Praxis strukturiert die ‚objektiv‘ gegebene diskursive Formation und ist dennoch eine von ihr zu unterscheidende Praxis.“ Ebd., S.190. 38 Diaz-Bone, S.121–127. Er argumentiert das Erfassens dieser Strukturen: „Anders als die bourdieusche Vorgehensweise, wird in der diskurstheoretischen Vorgehensweise nicht die Struktur des sozialen Raums als Analyserahmen eingesetzt, um dann auf die Dispositionen von Akteuren und die Erklärung der Werkformen zu schließen. […] Die diskurstheoretische Perspektive sucht dagegen in einem abgegrenzten Aussagefeld nach den enthaltenden diskursiven Hervorbringungspraktiken (wie dem thematisieren, problematisieren, klassifizieren, nebeneinanderstellen, ausschließen), in denen die diskursive Praxis am Werk ist.“ Ebd., S.191. 39 Diaz-Bone, S.55.

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Abbildung 2: Der Analyseraum nach Diaz-Bone STRUKTUR der ELEMENTE (Sozialstruktur)

(Diskursformation)

Machtrelationen

Diskursraum

Kapital

Werte / Sinn HABITUSFORMEN

sozialer Raum

Interdiskursraum

SYMBOLISCHER RAUM (Lebensstilraum)

(Kulturwelt)

Quelle: eigene Darstellung

Dieser Interpretation der bourdieuschen Kategorien folgend ist der soziale Raum an eine materielle Realität und an die existentiellen Lebensbedingungen, d.h. an die Verteilung der Kapitalien gebunden. Diese sind eine Bedingung für die Ausbildung von Habitusformen als die inkorporierte Sozialraumstruktur. Der Raum der Lebensstile ist an die symbolische Verdopplung der Kapitalformen, das meint an eine symbolische Repräsentation der materiellen Realität gebunden. Die symbolische Repräsentation ist nach Diaz-Bone hierbei nicht sinnvoll über eine Darstellung in Volumen und Kapitalstruktur zu beurteilen.40 Der Interdiskursraum formiert in Abgrenzung zum sozialen Raum eine eigene Realität und Prozesshaftigkeit von Diskursen. Diskursive Praxis lässt Objekte, Begriffe, Sprecher und Strategien erst als ein Ausagieren von Wissensbeständen erfassbar werden. Sie generiert einen Beziehungskomplex, der im kollektiven Wissen verfügbar ist und durch den die Distinktivität diskursiv generiert wird. Diskurse sind dementsprechend Wissensbereiche, in denen Begriffe, Sachverhalte und Strategien denkmöglich werden, die nicht habituell vorformuliert sein müssen. Der Interdiskursraum stellt dem Habitus, ebenso wie der soziale Raum,

40 Diaz-Bone, S.113–117. Diaz-Bone konstatiert, dass Bourdieu diese eigenständige symbolische Realität zunächst nicht berücksichtigt und sie im Laufe der Forschungen als symbolisches Kapital zunehmend und stärker anklingt. Deshalb bleiben die inhaltlichen, bedeutungstragenden und ästhetischen Zusammenhänge der Kulturproduktion Diaz-Bone zufolge bei Bourdieu ungeklärt, wohingegen er die Mechanismen der Entstehung erklärt. Ebd., S.117/118.

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unterschiedliche Optionen zur Disposition, die der praktischen Logik folgend aufgegriffen oder abgelehnt werden können.41 Diaz-Bone entwirft mit dem Begriff des Interdiskursraums einen gesamten Funktionsmechanismus für die Vermittlung von diskursiver Praxis, Sozialraum und Lebensstilen. Ihr Zusammenwirken basiert auf dem Konzept der Homologie und Korrespondenz der Bereiche der habituellen und diskursiven Praxis. Innerhalb dieses Mechanismus sind in der Praxis Inkohärenzen möglich. Diese werden durch die Agierenden versucht, zu integrieren, wobei es zu Brüchen und Verwerfungen zwischen den diskursiven und habituellen Praktiken sowie Diskursen und inkorporierten Habitusformen kommen kann. Der methodische Schritt der interpretativen Analytik der distinktiven Diskursanalyse basiert auf diesen Brüchen und Verwerfungen als strukturrelevante Kategorien.42 Die in vorliegender Arbeit gewählte Vorgehensweise der Methodenkombination rechtfertigt sich mit diesem erklärten starken Diskursbegriff. Allerdings bestätigt die Rückführung solcher Analyseergebnisse innerhalb eines Diskursraums auf die theoretischen Begriffe Bourdieus, dass der diskursive Raum letztendlich ebenso einer Relation spezifischer diskursiver und verbundener habitusgebundener Praktiken entspricht. Damit ist er Teil der Sozialraumstruktur, der sich bei Bourdieu selbst nicht in diesem Verständnis formuliert findet, jedoch ausgehend von seinen Begriffen ableitbar ist. Das dritte Argument bestimmt die Distinktionsanalyse als eine relevante Erweiterung des praxeologischen Zugangs. Es bleibt zu begründen, inwiefern im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse eine bourdieusche Feldstruktur rekonstruiert werden sollte bzw. eine Diskursformationsanalyse nicht ausreicht. Es handelt sich um zwei grundlegend verschiedene Strukturen: zum einen die ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ als eine hierarchische und formalisierte Struktur, deren Akteure Institutionen sind; zum anderen die ‚kulturelle Praktik Tango‘, deren Struktur sich über symbolische Werte, Diskurse und körpergebundene Praktiken ausagiert findet und in der die Kategorien Macht bzw. Hierarchie und

41 Diaz-Bone, S.119. 42 Diaz-Bone, S.131/132. Diaz-Bone argumentiert weiterführend: „vom Standpunkt der Bruchstellen aus erkennt man die Grenze, an der zwei diskursive Formationen in einem Feld sich ablösen, an denen die verschiedenen Diskursformationen sich hier differentiell gegenüberstehen, es eröffnet sich von der Bruchstelle aus eine Sicht auf die Existenz zweier Systematiken diskursiver Praxis.“ Ebd., S.193/194.

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ökonomisches Kapital innerhalb der Diskurse negiert sind.43 Die Interpretation des Moments der Anerkennung einer kulturellen Praktik als immaterielles Kulturerbe erfordert die Integration einer institutionalisierten Hierarchie und eines diskursiven Bedeutungssystems in ein Strukturmodell. Problemlösung Das Erkenntnisinteresse vorliegender Studie liegt in der Rekonstruktion und Interpretation einer umfassenden Struktur der Elemente und Relationen eines Untersuchungsmoments. Dementsprechend sind für den theoretischen Zugang und für die abschließende Interpretation die praxeologischen Begriffe sinnvoll anzuwenden, auf methodischer Ebene wird eine von praxeologischen Prämissen ausgehende Diskursanalyse genutzt. Einer solchen Rekonstruktionsarbeit geht die Annahme voraus, dass vermittels der Kategorien eines Sozialraums bzw. einer Feldstruktur Relationen und latente Strukturen rekonstruiert werden können, die ebenso den Diskursformationen implizit sind. Sie erlauben somit eine Interpretation diskursiver Elemente als Elemente einer umfassenden Sozialraum- bzw. Feldstruktur. Die vermittelnden Kategorien basieren auf dem Prinzip der Homologie. Diese resultiert aus Strukturund Funktionsähnlichkeiten korrespondierender Positionen und Stellungnahmen aus zwei Strukturebenen, die miteinander in den umfassenden Strukturverhältnissen verwoben sind.44 Es sind in beiden Konzepten, sowohl des praxeologischen Zugangs als auch in der Distinktionsanalyse Kategorien zu finden, welche die Verknüpfungsstellen der beiden Strukturebenen der Relationen der Positionen und der Diskursformation begründen. Das ist zum einen der Moment der Distinktion. Dieser korrespondiert ebenso dem Agierenden wie auch dem Sprechenden. Er verweist auf deren Position in

43 Die kulturelle Praktik Tango entspricht in dieser Charakteristik dem bourdieuschen Begriff Feld kultureller Produktion. Dazu ausführlicher im folgenden Kapitel, Abschnitt Vorannahmen und signifikante Interpretationsmomente. 44 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.64; Bourdieu: Regeln der Kunst, S.291; sowie DiazBone, S.120/121. Bourdieu nutzt dieses Prinzip, um anhand allgemeiner Kategorien grundlegende Indikationen spezifischer Strukturverhältnisse zu erfassen, um dann die Invarianten bzw. die Sonderfälle zu erarbeiten. Diaz-Bone argumentiert, dass der Prozess des Findens spezifischer Indikationen zum großen Teil auf der Annahme von Brüchen und Verwerfungen innerhalb der homologen Strukturen basiert. Ebd., S.126.

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der Sozialraumstruktur bzw. im Interdiskursraum. Er umfasst ebenso die korrespondierende Zuordnung der Elemente innerhalb der Sozialstruktur bzw. der Diskursformation. Es ist zum zweiten der Moment des Ausagierens, sowohl der habituellen wie der diskursiven Praxis. Die Rechtfertigung dafür, inwiefern diskursive Elemente für die gesamten Strukturverhältnisse stehen können, greift darauf zurück, dass die diskursive Praxis als ein spezifischer Aspekt des Ausagierens Teil der habituellen Praxis ist. Beide unterliegen gleichermaßen dem Prinzip der Strukturhomologie.45 Ein weiterer der Vermittlung dienender Begriff ist die kulturelle Kompetenz. Sie entspricht einem inkorporierten Wissen der Agierenden und wird im Moment des Ausagierens wirksam. Mit dem Begriff der kulturellen Kompetenz versteht sich implizites Wissen als die inkorporierten und materialisierten Wissensbestände. Der Mechanismus der Distinktion bezieht sich dann auf das Verhältnis und die Stellungnahmen der Agierenden zu den Dingen: Bedeutungen und symbolische Werte werden definiert, vermittelt und ausagiert.46 Um die Rückführung der Analysedaten eines Diskursraums in die Interpretation mit Kategorien einer Sozial(-raum-)strukturrekonstruktion nachvollziehbar zu halten, erfordert das eine Differenzierung der beiden Analyseebenen Diskursformation und Sozialstruktur. Das betrifft sowohl den Schritt der Auswertung der Analysedaten als auch die Interpretation. Damit differenzieren sich drei Ebenen: die diskursive Praxisebene, die habituelle Praxisebene und die analytische Ebene. Die Analyseergebnisse sind entsprechend in diskursive Elemente, benannte Elemente und faktische Strukturelemente zu unterscheiden. Die Rekonstruktion der ‚kulturelle Praktik Tango als ein immaterielles Kulturerbe‘ basiert schließlich auf der Zusammenführung dieser Ebenen des Analyseprozesses. Es ist anzunehmen, dass mögliche Differenzen im Sinne von In-

45 Diaz-Bone, S.32/33. 46 Diaz-Bone definiert den Distinktionsakt als eine vermittelnde Praktik und einen Moment der Aneignung und Abgrenzung. Damit steht der Begriff für das Konzept der kulturellen Kompetenz und fundamentiert die Generierung einer kollektiven Identität. Kulturelle Kompetenz impliziert den Begriff Wissen in Bezug auf kulturelle Elemente: „die Beurteilung von gesellschaftlich anerkannten, in bourdieuschen Terminologien ‚legitimen‘ Kunstwerken ist nur dem möglich, der über die kulturelle Kompetenz verfügt, das Kunstwerk ‚zu lesen‘, es zu dekodieren. Wem dieser Code fehlt, der hält sich an die ‚sichtbaren Formen‘ und bleibt an der Oberfläche der möglichen Deutung durch den Kenner. […] Dieses setzt einen vertrauten Umgang voraus, der auf einem impliziten Lernen basiert.“ Diaz-Bone, S.20.

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kongruenzen zwischen dem analysierten Diskursraum und der Sozialstruktur auftreten. Diese müssen in der Interpretation berücksichtigt werden. Das betrifft beispielsweise die differenzierende Zuordnung der Elemente: sind diskursive Strukturelemente dem Diskursraum zuzuordnen, so korrespondieren mit den diskursiven Praktiken benannte Elemente der Sozialstruktur. In dieser Zusammenführung der Grundkategorien von Sozialstruktur und Diskursformation können auf Basis der argumentierten Strukturhomologie folgende Parallelsetzungen vorgenommen werden.47

Kategorien

Praktiken (körpergebunden)

Diskurse

Praktischer Sinn

limitierte Bewegungsarten Körperschemata

Sprachsinn Ideologie/Zensur

Lebensstil/ Distinktion

Bewegungsform konkrete kulturelle Praktik

Diskursform/ Stil

Praktiken

Bewegungen

Sprechen

Akteur

körpergebunden

textgebunden

Dispositionen

Bewegungsmöglichkeiten des Körpers

Grammatik/ Vokabeln

Ausgehend vom Begriff kulturelle Kompetenz und vom korrespondierenden Konzept der inkorporierten Wissensbestände kann die Differenzierung der Struktur auf methodologischer Ebene weiter aufgeschlüsselt werden. Neben der habituellen und diskursiven Praxis, die Praktiken und diskursive Elemente generieren, können die Ebene der mentalen Praxis und die inkorporierten Wissensbestände einbezogen werden. Die Zusammenführung der benannten Ebenen der Strukturverhältnisse wird nachvollziehbar.

47 In Erweiterung von Bourdieu: Soziologie der Symbolischen Formen, S.125.

Methoden der Praxistheorien | 113

Abbildung 3: Der Analyseraum für vorliegende Untersuchung

STRUKTUR der ELEMENTE (Sozialstruktur)

(Diskursformation)

HABITUSFORMEN

habituelle Praxis

mentale Praxis

diskursive Praxis

Agierende

Agierende

PRAKTIKEN

WISSENSBESTÄNDE

DISKURSPRAKTIKEN

SYMBOLISCHER RAUM (Sozialraumstruktur)

(Kulturwelt)

Quelle: eigene Darstellung

Schlussfolgernd aus der vorangegangenen Methodendiskussion kann die distinktive Diskursanalyse auf einen Textkorpus angewendet werden, um spezifische Kategorien, Elemente, deren Relationen, Bedeutungsstrukturen und Funktionsmechanismen zu erfassen. Diese Empirie steht dann für eine Rekonstruktion und Interpretation der Strukturverhältnisse zur Verfügung. Diese Handhabung beruht auf der angenommenen Strukturhomologie zwischen Sozialstruktur und Diskursformation bzw. den Habitusformen als habituelle Praktiken und Diskurspraktiken. Um die Ergebnisse aus der Diskursanalyse in das Theoriekonzept Bourdieus zurückzuführen und sie für das definierte Forschungsanliegen im Hinblick auf die Beantwortung der Fragestellung und Konfrontation mit den Hypothesen nutzbar zu machen, werden anstatt einer Feldstruktur die Strukturverhältnisse Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe ‚Tango IKE‘ rekonstruiert.48 Eine Zusammenführung der benannten Analyseebenen erfolgt vermittels der Typenformierung nach Kelle/Kluge.

48 Eine weitere Option ist die Rekonstruktion zweier Strukturen, indem sie jeweils mit einem chronologischen Vektor erfasst und verglichen werden. Die Option einer Struktur erscheint für das Erfassen eines im Moment gegebenen Zustands sinnvoller.

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Typenformierung nach Kelle/Kluge Mit der Typenformierung nach Kelle/Kluge wird ein Werkzeug genutzt, um die Analyseergebnisse diskursiver Elemente auszuwerten und sie als Datenmaterial für die Interpretation und Diskussion mit Rückgriff auf praxistheoretische Kategorien zur Verfügung zu stellen. Dieser methodische Zwischenschritt wird notwendig, um die von Bourdieu entworfene Komplexität der Feldstruktur zu reduzieren. Zum einen entfallen, wie in der theoretischen Rahmensetzung nachvollzogen wurde, in Bezug auf die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse bestimmte Kategorien des praxeologischen Analyseansatzes. Zum anderen macht die fehlende empirische Basis (Datenerhebung im Feld oder bereits vorhandene Datensätze), wie mit der Methodendiskussion deutlich wurde, eine Feldrekonstruktion im strengen Sinne unmöglich. Um den Lösungsansatz umzusetzen, bietet die Typenformierung nach Kelle/Kluge ein sinnvolles Werkzeug und ermöglicht die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango. Mit dem Verfahren der Typenformierung wird ein abduktives Verfahren vorgeschlagen. Es umfasst die entsprechende Vektorenfindung und Typenbildung für die mit der Diskursanalyse erfassten Elemente. Deren Einordnung erfolgt mit den Kategorien und Begriffen des praxeologischen Zugangs.49 Mit den durch die Kodierung benannten Kategorien werden verschiedene Schlüsselvektoren und zeitliche sowie strukturelle Ebenen als Grundstruktur der zu benennenden Typen an Elementen differenziert. Die Elemente der Rekonstruktion sind durch das mit der distinktiven Diskursanalyse erstellte Datensample limitiert. Die Strukturierung und Zuordnung der Elemente des Datensamples ist hingegen an die Analysekategorien und theoretischen Konzepte Bourdieus angelehnt. Kelle/Kluge schaffen mit ihrem Verfahren ein methodologisches Gerüst, das Verfahrensaspekte und methodische Vorgehensweisen verbindet sowie optional für eine Datenauswertung zur Verfügung stellt.50 Grundsätzlich konstatieren sie, dass eine Auswertung nicht streng deduktiv erfolgen kann. Darüber hinaus sollte

49 Gerechtfertigt sei ein solcher methodischer Zwischenschritt auch damit, dass bereits vergleichbare Analysen von Feldern kultureller Produktion nach diesem Verfahren vorliegen. Ein Beispiel eines solches Vorgehens findet sich bei Heise/Tudor in ihrer Analyse und dem Vergleich der Felder der Filmproduktion in Großbritannien und Brasilien. Siehe bei Heise/Tudor: Constructing (Film) Art, S.165–187. 50 Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus.

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das in verschiedenem Grad vorhandene theoretische Vorwissen als eine mögliche induktive Komponente nicht unberücksichtigt gelassen werden.51 Das in dieser Weise angeleitete Verfahren beginnt mit einem qualitativen Sampling [Fallauswahl], gefolgt von einer Strukturierung und Kategorisierung der Daten [qualitativen Kodierung] und der Konstruktion von Subkategorien und Dimensionen [Codes], woran sich die Typologisierung und Typenformierung [Sinnzusammenhänge einer Diskursformation als Kulturwelt] anschließt. Das Verfahren sollte einen kumulativen Charakter der Reflexion und Neuformierung [offene Kodierung] aufweisen.52 Grundsätzlich kann jeder mit der Kodierung erfasste Begriff zur Klassifizierung dienen und eine Kategorie der sich generierenden Typologisierung werden. Dazu zählen Kelle/Kluge ebenso gebildete Kodewörter wie auch theoretische Begriffe. Erfasste Begriffe können vermittels einer qualitativen Induktion (Subsumption) einer bereits benannten Klasse zugeordnet oder vermittels Abduktion als eine neue Klasse bzw. Kategorie konstruiert werden.53 Die von Kelle/Kluge vorgeschlagene axiale Kodierung als eine Option der theoretischen Anordnung der Kategorien wird bezugnehmend auf den theoretisch-methodischen Zugang nach Bourdieu und Diaz-Bone durch ein angepasstes Strukturmodell der Vektoren und Bereiche ersetzt werden.54 Kelle/Kluge folgend handelt es sich bei jeder Typologie um eine Systematisierung von Elementen eines Analysebereichs anhand von relevanten Merkmalen. In diesem Prozess bilden sich Gruppen oder Typen von möglichst ähnlichen Elementen (interne Homogenität auf der Ebene des Typus) oder in möglichst starker Unterscheidung zu anderen Elementen (externe Homogenität auf der Ebene der Typologie) heraus. Mit dem Begriff Typus werden die gebildeten Teil- oder Untergruppen bezeichnet. Sie weisen gemeinsame Eigenschaften auf

51 Vgl. bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.20–25. Das vorgeschlagene Verfahren des abduktiven Vorgehens für qualitative Studien basiert auf den sensilizing concepts im Verständnis eines sensibilisierenden Vorwissens als methodischer Rahmen für Datenerhebung, Ordnung und Auswertung. Vgl. bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.29/30 und S.31ff. 52 Dazu bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, Kapitel 3 bis 6. Die von DiazBone erarbeiteten methodischen Schritte seiner distinktiven Diskursanalyse sind dem Verfahren als das ihm übergeordnete methodologische Gerüst einzuordnen. Seine Benennungen der einzelnen Verfahrensschritte sind in Klammern gesetzt. 53 Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.60/61. Die offene Kodierung kann beiden Optionen angehören, je nach dem theoretischen Vorwissen, das zum Tragen kommt. 54 Bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.64–68.

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und können anhand der spezifischen Konstellation dieser Eigenschaften beschrieben und charakterisiert werden. Jeder Typologie liegt entsprechend ein Merkmalsraum zugrunde, der sich durch die Kombination der ausgewählten Merkmale und ihrer Ausprägungen ergibt.55 Ausgehend von diesen allgemeinen Überlegungen zum Typusbegriff unterscheiden Kelle/Kluge vier Auswertungsstufen für den Prozess der Typenbildung: Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, im Sinne von Merkmalen, die der Typologie zugrunde gelegt werden56; Erstellung eines Merkmalraums, das meint die Gruppierung der Vergleichsdimensionen und den Überblick sowohl über alle potentiellen Kombinationsmöglichkeiten als auch über die konkrete empirische Verteilung der Elemente auf die Merkmalskombinationen.57; Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge und Typenbildung; Charakterisierung der konstruierten Typen anhand ihrer Merkmalskombinationen sowie der inhaltlichen Sinnzusammenhänge.58 Die Kombination der methodischen Schritte der distinktiven Diskursanalyse mit der Typenformierung ist konfliktfrei und ermöglicht die Überführung der analysierten Typologien in ein Strukturmodell nach bourdieuschen Kategorien.

55 Als reduzierte, komplexe und systematische Ausführung zu diesem Vorgehen bei Kluge: Empirisch begründete Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung, Art.14; ausführlicher bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.26ff. 56 Mit Hilfe dieser Merkmale müssen die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Untersuchungselementen angemessen erfasst und die ermittelten Gruppen und Typen schließlich charakterisiert werden können. Während diese Merkmale und ihre Ausprägungen bei standardisierten Befragungen bereits vor der Datenerhebung festgelegt sind, werden sie bei qualitativen Studien erst im Laufe des Auswertungsprozesses anhand des Datenmaterials – sowie des theoretischen (Vor-)Wissens – erarbeitet. Vgl. bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.67ff. 57 Die einer Merkmalskombination zuzuordnenden Elemente sind miteinander zu vergleichen, um die interne Homogenität der gebildeten Gruppen (die die Grundlage für die Typen bilden) zu überprüfen. Desweiteren müssen die Gruppen untereinander verglichen werden, um zu überprüfen, ob auf der Ebene der Typologie eine genügend hohe externe Heterogenität herrscht. Vgl. ausführlicher bei Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.67ff. 58 Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S.83–88.

Rekonstruktion der Veränderungen des Tango als immaterielles Kulturerbe Der Tango ist ein Gegenstand der Diskussion und wir diskutieren ihn, aber er birgt wie alles Wahre ein Geheimnis.1

EINFÜHRUNG IN DIE INTERPRETATIVE ANALYTIK Mit der Auswertung der Datenerhebung werden die strukturellen Verhältnisse der erfassten Elemente rekonstruiert. Dieser beschreibenden Darstellung sind Anmerkungen zur Datenerhebung, zum interpretativen Vorgehen und zu signifikanten Interpretationsmomenten vorangestellt. Datenerhebung Für die Datenerhebung wurden drei Analysemomente ausgewählt. Die erste Analysesituation bezieht sich auf die UNESCO-Konvention immaterielles Kulturerbe, der neben dem Konventionstext korrespondierende Praktiken und Diskurse zugeordnet sind. Die Ergebnisse der zweiten Analyse referieren auf den Moment der kulturellen Praktik Tango im Vorfeld ihrer Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe. Der dritte Analysemoment entspricht der kulturellen Praktik Tango direkt nach der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe. Die Ergebnisse der Datenerhebung sind umfassend und detailliert. Sie bilden ein starkes empirisches Fundament, um die Relationen zwischen den erfassten Elementen zu rekonstruieren. Die Diskursstruktur weist Positionen unterschiedlicher Institutionalisierungsgrade im Zusammenspiel von materiellen und immateriellen Elementen auf. Das legt nahe, dass mehrere Erkenntnisperspektiven und vielschichtige Interpretationsebenen möglich sind. So ist beispielsweise ein Fo1

Borges: Kabbala und Tango. Essays 1930–1932, S.112.

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kus auf die Kapitalstrukturen, Machtkämpfe, Produktions- und Rezeptionsprozesse, etc. denkbar. Unter Berücksichtigung des formulierten Erkenntnisinteresses basiert die interpretative Analytik auf einer Ergebnisauswahl. Sie orientiert sich an einem ergebnisorientierten Vergleich der erhobenen Analysedaten.2 Interpretatives Vorgehen Um die Ergebnisse der Datenerhebung in den theoretischen Rahmen zurückführen und sie entsprechend dem Erkenntnisinteresse interpretieren zu können, wurde aus der Methodendiskussion die Konsequenz gezogen, eine Struktur der kulturellen Praktik Tango als immaterielles Kulturerbe ‚Tango IKE‘ zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion erfolgt vermittels der Zusammenführung und des Vergleichs der analysierten Textkorpora mit den erarbeiteten bourdieuschen Kategorien der Analyse. Das Vorgehen für eine Analyse der Strukturverhältnisse, sofern sie als (relativ) autonome bestimmt werden konnten, impliziert drei miteinander zusammenhängende, notwendige Schritte. Mit den Worten Bourdieus lauten diese (referierend auf den Terminus Feld als das spezifische bourdieusche Strukturmodell)3: Analyse der Position des Felds im Verhältnis zum Feld der Macht sowie deren sukzessive Entwicklung; Ermitteln der objektiven Struktur der Relationen zwischen den Positionen der in diesem Feld miteinander um Legitimität konkurrierenden Akteure oder Institutionen; Analyse des Habitus der Akteure als die Dispositionssysteme, die sie jeweils durch Verinnerlichung von sozialen und ökonomischen Verhältnissen bzw. im Ergebnis eines gesellschaftlichen Werdegangs erworben haben.4

2

Aufgrund der Priorität der Ergebnisdiskussion für das Erkenntnisinteresse finden sich die detaillierten Ergebnisse der Datenerhebung als konsistente Beschreibungen der Strukturverhältnisse für die einzelnen Analysemomente im Anhang.

3

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.136; sowie Bourdieu: Regeln der

4

Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses und der formulierten Fragestellungen ist eine

Kunst, S.340. Rekonstruktion der Generierung des Habitus nicht notwendig, hingegen die Rekonstruktion von Dispositionsstrukturen als Kapitalverteilung und Kapitaldifferenzierung unabdinglich für die Interpretation der spezifischen Kapitalformen und Veränderungen von Strukturverhältnissen als auch der Formen des Interagierens. Spezifische Habitusformen, die der Rekonstruktion und Interpretation der Strukturen dienen, werden in der beschreibenden Darstellung berücksichtigt.

Rekonstruktion der Veränderungen des Tango | 119

Dieses Verfahren ermöglicht es, Strukturverhältnisse als ein Dispositionssystem zu erfassen und ein Strukturmodell aus Positionen und deren Dispositionen, aus den Akteuren und ihren unterschiedlichen Gruppierungen, aus den Habitusformen sowie die Verhältnisse zueinander zu rekonstruieren, das ebenso die determinierenden, konstituierenden, vermittelnden und schließlich ausagierenden Praktiken in der Praxis umfasst. Um die spezifischen Strukturverhältnisse erfassen zu können, müssen spezifische Indikationen erkannt werden. Neben den mit dem Analysevorgehen benannten impliziten Machtrelationen, Kapitalformen, Habitusformen und Funktionsmechanismen, gehören zu diesen Indikationen unbedingt auch die existierenden Wissenskonzepte und Mechanismen der Diskursverhältnisse sowie das spezifische Kapital. Das spezifische Kapital bestimmt über die Bedeutungen, Werte, Interessen, Strategien innerhalb der Strukturverhältnisse sowie über deren Grenzen und Zugangsvoraussetzungen.5 Es war der Methodendiskussion folgend anzunehmen, dass eine Inkongruenz zwischen den erfassten Diskursverhältnissen und der zu rekonstruierenden Struktur der Elemente der Fall ist. Die Auflösung dessen erfolgte, indem ein Interdiskursraum eingefügt und damit eine Doppelung der Elemente auf den strukturellen Ebenen erkennbar gemacht wurde. Die Ebenen wurden differenziert, indem mit einer reflektierten Deduktion die innerhalb des Interdiskursraums benannten Elemente als Strukturelemente definiert wurden. In der Auswertung der Analysedaten konnten diese in diskursive Elemente, in benannte Elemente und in faktische Strukturelemente unterschieden werden. Ausgehend von der notwendigen Differenzierung der Elemente waren zwei weitere Aspekte zu berücksichtigen. Die zu rekonstruierenden Strukturverhältnisse waren zunächst in Institutionen bzw. Repräsentanten und in Diskurse um Institutionen bzw. Repräsentanten, in kulturelle Praktiken und in Diskurse über und als kulturelle Praktiken sowie in den Inkorporierungsmechanismus und in Diskurse um kulturelle Praktiken aufzuschlüsseln. Der zweite Aspekt betrifft die Dynamik im Prozess des Legitimierens neuer Elemente. Das können Orte, Akteure, Themen, Artefakte, etc. sein. Sofern eine Integration nach einer Konfrontation mit den bisherigen Elementen erfolgt, entspricht das deren Naturalisierung. Diese Art der Veränderungen umfasst entsprechend zwei Ebenen: eine interne (im Sinne einer Genese bzw. trajectoire), verbunden mit einem Wandel der

5

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.139. In seinen Feldanalysen konstatierte Bourdieu für die Sowjetunion ein spezifisches politisches Kapital, das vergleichbare Funktionen (Profite, Privilegien und Macht) wie das ökonomische Kapital in westlichen Demokratien innehatte, wenn es auch mit anderen Mechanismen funktionierte. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.152.

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Struktur; und eine externe, gebunden an eine Veränderung der externen und internen Stellungnahmen sowie resultierend der internen Diskursverhältnisse. Die in dieser Weise zu differenzierenden Analyseergebnisse bilden innerhalb des praxeologischen Zugriffs drei Interpretationsebenen. Die erste Ebene ‚Praktik‘ umfasst die kulturelle Praktik und das implizite kulturelle Wissen. Die zweite Ebene ‚Wertzuschreibungen‘ korrespondiert der Formierung der höher oder geringer institutionalisierten Gruppen sowie der Generierung von Bedeutung in der sozialen Struktur. Die dritte Ebene ‚Strukturnetz‘ steht für die sozialen Hierarchien, Herrschaftsstrukturen und politischen Implikationen. Innerhalb dieser Ebenen findet sich das Prinzip ‚Objektivierung‘. Es meint Bourdieu folgend die Materialisierung und Inkorporierung der Geschichte in Institutionen und in Habitusformen. Im Rahmen der Diskursanalyse zählen dazu ebenso die Schriften und Diskurse. Die Diskurse und diskursiven Elemente sind konstituierend für diese kulturelle Praktik, da sie die Narrationen und die spezifischen Elemente beinhalten. Die Dispositionen sowie Materialisierungen in der Praxis sind in einem ethnographischen Verständnis beschreibbar. Vorannahmen und signifikante Interpretationsmomente Mit der interpretierenden Analyse wird die Überprüfung der Annahme fokussiert, dass die Anerkennung des Kulturerbestatus eine kulturelle Praktik in ihren Funktionsmechanismen und Strukturverhältnissen, ebenso aber das Konzept immaterielles Kulturerbe verändert. Dafür wurden zwei Momente der kulturellen Praktik Tango im Vorfeld und im Moment deren Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe analysiert. Unter Hinzunahme des dritten Analysemoments der Konvention immaterielles Kulturerbe wurden diese Analyseergebnisse verglichen. Darauf aufbauend erfolgt die Interpretation der neuen Strukturverhältnisse. In Bezug auf die spezifischen Kategorien der kulturellen Praktik Tango kann im Vorfeld der Interpretationsarbeit zunächst hinterfragt werden, welche signifikanten, so genannten immateriellen Aspekte den Tango eigentlich kennzeichnen. Dazu zählen – ausgehend von den Ergebnissen des Kodierungsprozesses – die Identität und Originalität generierenden, im Textkorpus benannten Elemente [Melancholie], [Dialog], [urbanes Lebensgefühl] und der [hybride Ursprung]. Die Melancholie als das signifikanteste dieser Elemente steht für ein Wissenskonzept, im Sinne eines Wissensbestands bzw. einer Wissensform. Es ist im gesamten Verlauf der Entwicklung des Tangos nachweisbar. Die Melancholie entspricht einer Disposition im Sinne einer Befindlichkeit des Akteurs [Tanguero]; es findet sich in den Tanz- und Musikpraktiken sowie in der Poetik des Tangos ausagiert. In diesen Ausdrucksformen ist der spezifische Lebensstil aus Werten,

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Normen, Charakteren, Emotionen, Narrationen bewahrt und vermittelt. Mit diesem spezifischen Wissenskonzept benennt sich anstelle einer Definition von Kriterien und Zuordnungen für den Tango ein signifikantes Kriterium, das das Lebensgefühl inmitten urbaner Migrationsräume beschreibt. Für die Interpretation der Analyseergebnisse innerhalb der bourdieuschen Theoreme werden relevante Grundaxiome eines Felds der kulturellen Produktion genutzt. Für den Tango, unabhängig von seinem Status als immaterielles Kulturerbe, finden sich entsprechende Kennzeichnungen, so dass die Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ in einer Definition als ein solches Feld der kulturellen Produktion interpretiert werden können. Ein Feld der kulturellen Produktion besitzt einen relativ hohen Grad an Autonomie. Die Strukturverhältnisse unterliegen einer Entwicklung, die feldintern generiert wird. Spielen externe Faktoren in die Genese des Felds hinein, so ist anzunehmen, damit den Grad der Autonomie zu verringern bzw. die Feldstruktur in nicht feldspezifischer Weise zu verändern. Die Genese des Felds im Sinne einer Feldgeschichte basiert auf dem Kampf innerhalb der Strukturverhältnisse zwischen den Positionen und Kapitalwerten, das meint zwischen den Machtpolen Orthodoxie und Heteronomie. Diese Auseinandersetzung im Feld stehen für einen feldinternen und kontinuierlichen Wandel. Mit Bourdieu charakterisiert er sich als das Prinzip der permanenten Revolution.6 Dem Begriff eines kontinuierlichen Wandels korrespondieren die erfassten Beschreibungen der Entwicklung des Tangos [Genese des Tango] sowie die daran gebundene Diskussion um das ‚Was ist Tango‘. Der Wandel der Strukturverhältnisse aufgrund externer Faktoren zeigt sich unter anderem darin, dass mit der Integration externer Positionen und in Hinführung auf die Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe Themenbereiche und Kategorien wie soziale Hierarchien und Ökonomisches naturalisiert werden. Die Entwicklung von Strukturverhältnissen bedeutet zugleich das Vergessen der konstitutiven Bedingungen derselben. Dem gegenüber steht ein – konstruier-

6

Vgl. neben den Ausführungen bei Bourdieu; u.a. Bourdieu: Regeln der Kunst, S.428/429; die Ausführungen zum Kunstfeld bei Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.47ff. Diaz-Bone zitiert Bourdieu: „die Feldgeschichte kann in der Betrachtung der Abfolge dominierender Schulen und Kunstbewegungen als ein Bereich permanenter kultureller Revolution aufgefasst werden. Die neuen Avantgarden sind bestrebt, die alten Avantgarden und die von ihnen entwickelten Formen als passé zu erklären und – sind sie einmal der felddominierenden Position angelangt – ihre Kunstprogramme zu verewigen, um sich selbst gegen die sich nach ihnen neu formierenden Avantgarden zur Wehr zu setzen.“ Ebd., S.48.

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tes – Bewusstsein über die Strukturverhältnisse, das in spezifischen Narrationen vermittelt wird. Mit fortgesetzter Autonomie entwickelt sich daraus eine eigene Reflexivität.7 Darüber hinaus differenzieren sich Positionen aus; eigene Medien der Produktion, Vermittlung und Archivierung entwickeln sich. Ein weiteres Kennzeichen eines Felds kultureller Produktion und zugleich signifikante Differenzierung zu anderen Feldformen ist das symbolische Kapital. Der sich in den Strukturverhältnissen generierende Funktionsmechanismus ist an das symbolische Kapital gebunden, das ökonomische Kapital hingegen wird verneint. Die Machtverhältnisse des umfassenden sozialen Raums werden ebenso negiert. Das symbolische Kapital kann Qualitäten wie Prestige, Reputation und Autorität umfassen.8 Im Kodierungsprozess finden sich für die Benennung eines solchen spezifischen symbolischen Kapitals für den Tango die Elemente [Tangowissen] und [Originalität], für die kulturelle Praktik Tango als immaterielles Kulturerbe hingegen der [immaterielle Wert]. Die Rekonstruktion eines Felds kultureller Produktion ist an ein Verstehen kultureller Praktiken gebunden. Es umfasst die Kategorien Spezifizität und Wertungen, die kulturelle Kompetenz sowie das Gebundensein an eine Körperlichkeit des Erlebens und Ausagierens der Praktik. In Bezug auf Spezifizität und Wertungen generiert sich ein Code, durch den Dingen und Praktiken ein symbolischer Wert zugehörig ist. Dessen Erfassen ermöglicht, den spezifischen Funktionsmechanismus zu verstehen. Dementsprechend kann ein Nicht-Erfassen eines solchen Codes ein Missverstehen der Wertigkeiten bedeuten.9 (Im Falle des Tangos geschieht das bei der Formulierung eines [Klischees], beispielsweise in der Charakterisierung als Sensualität.) Die kulturelle Kompetenz definiert Bourdieu als das – inkorporierte und zumeist unbewusste – Wissen um diesen spezifischen Code und stellt damit einen theoretischen Begriff für den spezifischen Wissensbestand zur Verfügung. 10 Einen für vorliegendes Erkenntnisinteresse

7

Diaz-Bone, S.48/49.

8

Diaz-Bone, S.47.

9

Bourdieu formuliert: „Wem der entsprechende Code fehlt, der fühlt sich angesichts dieses scheinbaren Chaos […] nur mehr überwältigt und ‚verschlungen‘. […] Von der ersten Schicht, der ‚primären oder natürlichen Bedeutungen‘, zu deren Verständnis wohl eine bestimmte Sensibilität gehört, die jedoch ‚immer noch ein Bestandteil meiner praktischen Erfahrung‘ ist, zur zweiten, jener der ‚sekundär(en) oder konventional(en) Bedeutung‘, fortzuschreiten vermag nur, wer über Begriffe verfügt, die über die sinnlichen Formen hinaus die eigentlichen stilistischen Merkmale des Werkes erfassen.“ Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.19/20.

10 Zum Begriff ‚kulturelle Kompetenz‘ u.a. Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.22.

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wichtigen Fokus setzt die bourdieusche Argumentation mit der Kategorie Körperlichkeit von Erfahrung und Ausagieren in der konkreten Praxis. Er betont die Bedingtheit der Praxis durch die notwendige Bindung an das Körperliche.11 Die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse kulturelle Praktik Tango als eine als immaterielles Kulturerbe anerkannte kulturelle Praktik mit den Kategorien eines Felds der kulturellen Produktion ist mit den benannten Aspekten Autonomie, Genese und Wandel, Feldgeschichte und Reflexivität, spezifisches Bewusstsein, spezifisches geltendes symbolisches Kapital, Spezifizität und Wertungen, kulturelle Kompetenz sowie Körpergebundenheit gerechtfertigt.

SPEZIFISCHE ELEMENTE, MECHANISMEN UND WISSENSBESTÄNDE DES TANGO Verortung des Tango im sozialen Raum Die Einordnung der erfassten Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango in den übergeordneten sozialen Raum weist Differenzierungen auf. Der korrespondierende Sozialraum entspricht im ersten Analysemoment der argentinischen, genauer der bonairensischen Gesellschaft, im zweiten Analysemoment vergrößert sich dieser Raum um die UNESCO-Staaten als Sozialraum der UNESCO-Konvention. Der Sozialraum der Praktik Tango als immaterielles Kulturerbe differenziert sich in die Ebenen der institutionalisierten Hierarchien und der ausagierten Praxis. Die Positionen der rekonstruierten Relationen innerhalb der Machtverhältnisse des sozialen Raums variieren in entsprechender Weise: Die ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ positioniert sich am Pol der Macht. Sie verfügt über die Legitimierung durch die einzelnen Mitgliedsstaaten und ist autorisiert, deren Interessen zu repräsentieren und einzufordern. Sie ist eine Teilorganisation der UN und widmet sich kulturellen Belangen. Sie besitzt keine juristischen Instrumente, sondern ist in der Umsetzung ihres Anliegens von der Freiwilligkeit der Vertragsstaaten der jeweiligen Konventionen und Überein-

11 Zur Körperlichkeit der Erfahrung bei Bourdieu: Soziologische Fragen. Über Ursprung und Entwicklung der Arten der Musikliebhaber: „Musik ist körperlich. Sie entzückt, reißt hin, bewegt, stachelt auf: sie ist weniger jenseits als diesseits der Worte, in den Gesten und Bewegungen, den Rhythmen, den Beschleunigungen und Verlangsamungen, Spannungen und Entspannungen des Körpers. Die mystischste, geistigste der Künste ist vielleicht bloß die körperlichste.“ Ebd., S.127.

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kommen abhängig. Aufgrund dieser Kennzeichnungen steht sie in der Hierarchie staatlicher Institutionen an einer Position geringeren Kapitalwerts. Ihre Funktionsmechanismen basieren auf normativen Werten, auf administrativen Praktiken und institutionellen Strategien. Die ‚kulturelle Praktik Tango‘ positioniert sich am Gegenpol. Sie weist stark informelle Strukturverhältnisse auf, deren Funktionsmechanismen vor allem auf so genannten immateriellen Werten (Narrationen, Ursprungsmythos, Typologien, spezifische Wissensformen) basieren. Eine Institutionalisierung ist kaum erkennbar. Institutionalisierte Machtstrukturen finden sich in der Funktion als externe Faktoren; innerhalb der Strukturverhältnisse kann keine unmittelbare Verbindung zu Machtstrategien im politischen Bereich nachgewiesen werden. Der ‚Tango IKE‘ nimmt dem gegenüber eine Position ein, die diese beiden Pole gleichermaßen berührt. Es sind ebenso die administrativ-institutionellen Bereiche der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘, wie auch die informellen Bereiche – wenn auch nur als diskursive Referenzpunkte – der ‚kulturellen Praktik Tango‘ nachzuweisen. Der öffentliche Bereich ordnet sich weniger dem politischen Bereich, als dem diskursiven Bereich der öffentlichen Meinung, des Diskurses und des Bewusstseins zu. Seine Funktionsmechanismen basieren auf diskursiven Strategien der Kommunikation, das meint der Vermittlung von Inhalten und der Generierung von Themenbereichen und entsprechenden Diskursen. Abbildung 4: Die Analysemomente innerhalb der Machtstrukturen GRAD der SYMBOLISCHEN MACHT

UNESCOKonvention-IKE

GRAD der

INSTITUTIO-

Tango IKE

NALISIERUNG

Praktik Tango

Quelle: eigene Darstellung

Die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ folgt den im Vorfeld der Analyse erarbeiteten Analysekategorien Bourdieus. Daran schließt sich eine Formulierung spezifischer Aspekte (bourdieusche Spezialfälle) sowie externer erweiternder Kategorien und signifikanter Diskursbereiche an. Die Kategorien

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für die Rekonstruktion sind objektive Struktur, Akteure und Orte, diskursive Verhältnisse, Machtverhältnisse, Wissensbestände.12 Die objektive Struktur Mit der Rekonstruktion der objektiven Struktur zwischen den Elementen wird nachvollzogen, in welchem Verhältnis die erfassten Positionen, Kapitalformen und Praktiken stehen und welche korrelierenden Dispositionen diesen zugeordnet sind. Desweiteren macht sie die Genese der Strukturverhältnisse erkennbar und beschreibt, inwiefern sich diese Struktur begrenzt bzw. abgrenzt. Die objektive Struktur zwischen den Elementen ist anhand zweier Vektoren zu erfassen, die aus dem Kodierungs- und Strukturierungsprozess abgeleitet wurden. Sie stellen Skalen für das Zuordnen der vermittels der Analyse benannten Elemente bereit: der Vektor Institutionalisierungsgrad und der Vektor Materialität der Elemente. Der Begriff der Institutionalisierung kennzeichnet den Grad der Gebundenheit an formelle und administrative Generierungs- und Kontrollmechanismen. Der Begriff der Materialität unterscheidet die benannten Elemente in ihrer Objekt- bzw. Personengebundenheit. Mit den beiden Vektoren ergibt sich eine Differenzierung in einen institutionalisierten und einen nichtinstitutionalisierten Bereich sowie in einen materiellen und nicht-materiellen Bereich. Es werden Abstufungen in der Kombination der Vektoren von Materialität und Institutionalisierung deutlich: ideell (dem Wert [Menschenrechte]; dem [Mythos Tango] bzw. einer spezifischen Symbolik korrespondierend) – administrativ/formell/institutionalisiert – umsetzend/formell/institutionalisiert – praktizierend/materiell bzw. personell gebunden – verbal/materiell bzw. personell nicht gebunden. Das Zuordnen der korrespondierenden Praktiken in diese Struktur ermöglicht eine Differenzierung in drei unterscheidbare Bereiche der Art der Praktiken. In einem ersten Bereich agieren mittels administrativer und diskursiver Praktiken institutionalisierte Akteure. Ein zweiter Bereich umfasst umsetzende und vermittelnde Praktiken. Sie korrespondieren sowohl relativ hoch als auch niedrig insti-

12 Begriffe in [Klammern] entsprechen erfassten Elementen aus dem Kodierungsprozess und sind in den Ergebnissen der Datenerhebung (Dokument im Anhang) detaillierter einzusehen; Begriffe in ‚Zeichen‘ indizieren als für das Verständnis wichtig anzuzeigende zugeordnete formale Kategorien, originalsprachliche Zitierungen aus der Literatur oder signifikante Eigennamen; Formulierungen in (Klammern) geben Erläuterungen zu Begriffen und benannten Sachverhalten.

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tutionalisierten Akteuren und Elementen. Einen dritten Bereich bilden in der Praxis zu verortende kulturelle Praktiken und Kulturgüter. Die objektive Struktur steht für das Verhältnis der Positionen einer hierarchischen Ordnung. Die erfassten Analysemomente weisen differente Strukturen auf. Es findet sich der vergleichbare Vektor der Institutionalisierung bzw. Strukturierung, doch ist der zweite Vektor differenziert in Grad der Materialität für ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ und für ‚Tango IKE‘ bzw. in Grad der Gebundenheit an die kulturelle Praktik Tango für ‚kulturelle Praktik Tango‘. Die Bereiche der kontrollierten und unkontrollierten Praktiken, die Bereiche des Institutionalisierten und des Individuellen, die Bereiche der materiellen und personellen Gebundenheit sind deutlich unterschiedlich. Der Analysemoment ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ bildet eine stark strukturierte, hierarchische Relation. Sie funktioniert über definierte Positionen und deren Praktiken. Das meint insbesondere die entsprechenden formalen und inhaltlichen Reglements der ideellen, normativen und administrativen Diskurse sowie der administrativen bzw. institutionellen Praktiken. Die Wissenskonzepte sind stark normativ und referentiell. Sie realisieren sich vermittels diskursiver Strategien, ebenso wie über umsetzende und vermittelnde Praktiken. Der Bereich der institutionellen Positionen und Praktiken ist umfassend und definiert die legitimierten Elemente. Eine Teilung in einen institutionellen, formalisierten und einen institutionellen, öffentlichen, umsetzenden/vermittelnden Bereich in etwa gleichem Umfang ist erkennbar. Der Bereich der privaten Positionen und Praktiken besteht nur als ein diskursiver bzw. referentieller.13/14

13 Zu berücksichtigen ist, dass der analysierte Textkorpus für diesen Analysemoment ausschließlich Diskurse aus dem öffentlichen bzw. institutionalisierten Bereich erfassen kann. Parallele Diskurse der die Positionen besetzenden Akteure, die den offizialisierten Funktionsmechanismen nicht korrespondieren und vor allem auf individueller, nicht-öffentlicher Ebene realisiert werden, könnten lediglich über erfasste Brüche innerhalb der Strukturverhältnisse interpretiert werden. 14 Der Begriff ‚privat‘ wird entgegengesetzt zum ‚Öffentlichen‘ in der Bedeutung einer Sphäre, „frei von Einmischung und Beobachtung von anderen“ sowie einer Sphäre moralischer Fragen „als Sache des Glaubens, des Gewissens oder der Weltanschauung“ verwendet. Vgl. dazu die Differenzierung von privat und öffentlich in Raunig/Wuggenig: publicum, insbesondere S.7–12.

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Abbildung 5: UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe

Institutionalisierungsgrad der Elemente

BEREICH I administrative & institutionelle Praktiken

BEREICH II umsetzende & vermittelnde Praktiken NUC/DUK

UNESCO Organe der Konvention normiert

Staaten / nominating states

Menschenrechte Kulturelle Vielfalt Nachhaltigkeit

REFERENZEN

ausagierend

Academia de Tango / Division Patrimonio

Kulturelle Praktiken (Tango)

ANTRAGSTELLUNG administrativ

Konventionen Übereinkommen

IKE LISTEN

KONVENTIONS DOKUMENT institutionalisierter Bereich

nicht materiell/ personell gebunden

vermittelnd/umsetzend

ANERKENNUNG

REFERENZEN

BEREICH III kulturelle Praktik

MASSNAHMEN

tango community

INVENTARLISTEN

ANTRAGS DOKUMENT

unkontrolliert

Grad der Materialität der Elemente

personell (Akteure)/ materiell gebunden (Praktiken)

materiell (Dokumente)

nicht institutionalisierter Bereich

Quelle: eigene Darstellung

Der Analysemoment ‚kulturelle Praktik Tango‘ bildet eine gering strukturierte und wenig hierarchische Relation. Es ist ebenso eine Teilung der erfassten Bereiche erkennbar, allerdings in einen privaten Bereich und einen öffentlichen Bereich des Agierens. Institutionelle Positionen und Diskurse liegen in der Peripherie der Struktur und sind (zumeist) als diskursiv referentiell bzw. in der Funktion von oppositionell innerhalb der herrschenden doxa gekennzeichnet. Es sind klar definierte Positionen und Praktiken als die signifikanten Elemente aus Akteuren, Objekten, Lokalitäten und Praktiken benannt. Diese sind in ihrer Ausdifferenzierung gering und weisen starke und klar nachzuzeichnende Stereotype auf. Die Positionen und Elemente sind nicht normativ besetzt, sondern funktionieren über diskursive Praktiken der Zuschreibung symbolischer Werte (Narrationen und Kanonisierung). Es gibt klare Konzepte in Form von Diskursen zu den signifikanten Funktionen und Wertzuschreibungen. Es ist darüber hinaus eine Übereinstimmung der Struktur aus Positionen und Elementen mit der Diskursstruktur auszumachen. Bemerkenswert ist eine Doppelung der erfassten Elemente: der erste Bereich der strukturell-faktischen Elemente weist deren sozial-geographische Benennung auf. Er schlüsselt sich in den Pol des öffentlichen Bereichs als der institutionell-gesellschaftliche Kontext und in den Pol der existentiellen Bedingungen und Gegebenheiten der einzelnen Akteure auf. Der zweite Bereich der faktischen Elemente, die in ihrer Nennung konkret an die kulturelle Praktik Tango gebunden sind, nimmt Elemente des ers-

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ten Bereichs auf. Er konkretisiert diese in ihrer Bindung an ausagierte Formen der kulturellen Praktik Tango. Im dritten Bereich der symbolisch/mythischen Elemente sind sowohl Elemente des ersten als auch des zweiten Bereichs wieder zu finden. Diese sind vermittels der Zuschreibung eines symbolischen Werts an die kulturelle Praktik Tango gebunden. Abbildung 6: Die kulturelle Praktik Tango vor ihrer Anerkennung zum IKE Institutionalisierungsgrad der Elemente

PRIVATER BEREICH der Tangopraktiken

ÖFFENTLICHER BEREICH der Tangopraktiken

INSTITUTIONELLER BEREICH

MUNDO COMPADRITO

REPRÄSENTANTEN

ACADEMIA de TANGO HISTORIOGRAPHEN dt/europ. Szene

MEDIEN

schriftl. REFERENZQUELLEN

extern

CLASE DIRIGENTE/ OLIGARQUIA

POLITIKER la INSTITUCION ÖFFENTLICHER BEREICH gesellschaftlicher Kontext

PERSONAJES TIPICOS

El TANGO como TEMA del TANGO

intern

TANGOSHOW

LUNFARDO

BANDONEON MUSIKER SÄNGER

DICHTER

TANGOMUSIK TANGOPRAKTIKEN

TANZENDE

Grad der Bindung der Elemente an spezifisches Wissen

TANGOTANZ

INSTRUMENTE

ESCENARIO de Buenos Aires

LETRAS deTANGO

PISTA de BAILE

LENGUAJE VIDA.SOCIAL la realidad

BEVÖLKERUNG / VOLK PRIVATER BEREICH sozio-geographisch / emotional

Quelle: eigene Darstellung

Der Analysemoment ‚Tango IKE‘ konstituiert sich mit dem Moment der Anerkennung der kulturellen Praktik Tango zum immateriellen Kulturerbe. Er steht auf struktureller Ebene zugleich für das Zusammenführen beider autonomer Strukturen ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ und ‚kulturelle Praktik Tango‘. Innerhalb der Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ wird im Gegensatz zu den beiden anderen Strukturen eine klare Abgrenzung dreier Bereiche etwa gleichen Umfangs erkennbar. Das sind: der private Bereich des Ausagierens der kulturellen Praktik, der öffentliche Bereich der Elemente (Dokumente, Objekte, etc.) und des Ausagierens der kulturellen als auch der umsetzenden/vermittelnden Praktiken, und als dritter der institutionelle/administrative Bereich. In der Zuordnung der Akteure, Praktiken und Objekte sind diese klar getrennt. Der Moment der Antragstellung und der Anerkennung (‚Anerkennungsmechanismus‘) entspricht der Nahtstelle des Zusammengehens beider Strukturen.

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Abbildung 7: Kulturelle Praktik Tango im Moment der Anerkennung als IKE Institutionalisierungsgrad der Elemente

IMMATERIELLER BEREICH Mythen nicht Objekt bzw. Lunfardo Körper gebunden Stereotypen A Tangotexte N Narrationen E Immaterielles Kulturgut Tangomusik R ACADEMIA de TANGO Tangotanz K UNESCO-Schutz E U STAATLICHE N T DICHTER Maßnahmen: N AKTEURE N MUSIKER Weiterverbreitung A U E SÄNGER des Tangos POLITIKER N N S G MATERIELLER BEREICH TANZENDE G S C Körper/Personen JOURNALISTEN M O gebundene Elemente O O MEDIEN BEVÖLKERUNG Repräsentative Liste des IKE M E PRESSETEXT Vororte von MATERIELLER BEREICH N Buenos Aires/ objektgebundene T Montevideo BEGRÜNDUNGSTEXT Konventionstext Elemente WELTKULTUR ERBETITEL

INSTITUTIONEN

ÖFFENTLICHKEIT

Grad der Materialität der Elemente

PRIVATER BEREICH

Quelle: eigene Darstellung

Für die Struktur der kulturellen Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe werden spezifische Indikationen deutlich. Das sind der Bereich der Öffentlichkeit als eine nunmehr konstituierende Kategorie im Funktionsmechanismus des immateriellen Kulturerbes; der Vektor des Materialitätsgrads als ein neues Element im Bereich der kulturellen Praktik Tango, bzw. die zunehmende Irrelevanz des Vektors der Bindung von Elementen an die kulturelle Praktik Tango; und schließlich die Ausdifferenzierung des institutionellen Bereichs, verbunden mit dem Fehlen der Differenzierungen und symbolischen Indikationen aus der Struktur ‚kulturelle Praktik Tango‘ innerhalb des ‚Tango IKE‘. Im Bereich des mittleren bis geringen Institutionalisierungsgrads bildet eine neue Ebene einen Bereich der Öffentlichkeit. Dieser umfasst vermittelnde Praktiken und Instanzen sowie die Produktion diskursiver mediengetragener Elemente. Es ist anzunehmen, dass dieser Bereich der Öffentlichkeit im besonderen Maße konstituierend für die Strukturverhältnisse ist. Ihm sind Akteure, Elemente und Praktiken zuzuordnen, die Diskurse generieren und vermitteln, indem sie diskursive Elemente innerhalb des Bereichs der Öffentlichkeit kommunizieren. Der Vektor Materialitätsgrad war hingegen nicht konstituierend als eine spezifische Kategorie zu erfassen gewesen. Dafür strukturiert der Vektor der Gebundenheit an das Wissenskonzept der kulturellen Praktik Tango die Strukturverhältnisse in signifikanter Weise. Wobei erkennbar wird, dass dem unteren Vektorbereich ausschließlich Objekte, Orte und Akteure zuzuordnen sind, mit

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aufsteigendem Grad der Gebundenheit jedoch zunehmend so genannte immaterielle Elemente. Diese Vektorvarianz steht nicht grundsätzlich für eine Inkompatibilität der Strukturen. Sie ist allerdings signifikant, da sie anzeigt, dass dem Analysemoment ‚kulturelle Praktik Tango‘ das Konzept des Materiellen/Immateriellen nicht zugehörig ist, sondern die Korrespondenz der materiellen Elemente zum ‚Wissenskonzept Tango‘ für den spezifischen Funktionsmechanismus konstitutiv ist. Beide Vektoren – Grad der Materialität bzw. Grad der Gebundenheit an das ‚Wissenskonzept Tango‘ – stehen jeweils für einen spezifischen symbolischen Wert, an welchem sich die strukturregenerierenden Praktiken und Strategien von Autorisierung, Legitimierung, Vermittlung und Ein-/ Ausschluss ausrichten. In Bezug auf die Übergänge entlang des Vektors der – materiellen, personellen oder ideellen – Bindung an das ‚Wissenskonzept Tango‘ wird eine Doppelung der Elemente erkennbar: die im strukturell-faktischen Bereich benannten Elemente sind als sozial-geographischer Kontext bezeichnet. Die Doppelung findet sich entweder auf der Ebene des Ausagierens der kulturellen Praktik Tango bzw. als an die kulturelle Praktik Tango gebundene faktische Elemente oder in den Bereichen der als symbolisch gekennzeichnete Elemente wieder: den Elementen und Praktiken ist über ihre alltägliche Funktion hinaus ein spezifizierender, dem Wissenskonzept der kulturellen Praktik Tango korrespondierender Wert zugeschrieben. Dem entgegen finden sich diese Differenzierungen für den Analysemoment ‚Tango IKE‘ nicht, sondern treten dort lediglich als benannte referentielle Elemente auf. Diese Differenzierungen bzw. die Benennung der Elemente der symbolisch Ebene kann als die Tiefendimension der kulturellen Praktik Tango verstanden werden. Sie umfasst die Wissenskonzepte und Schlüsselkategorien, das meint das spezifische Tangowissen. Für die sich neu formierenden Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ ist zu konstatieren, dass im entsprechenden symbolischen Bereich diese Elemente nicht zu verzeichnen sind, obwohl sie definitiv laut den erfassten Daten für die ‚kulturelle Praktik Tango‘ vorhanden sind.15 Es wird daraus geschlussfolgert, dass die ausagierte kulturelle Praktik Tango im Moment der Anerkennung (und ihres zukünftigen Status als anerkanntes immaterielles Kulturerbe) mit ihrer spezifischen Tiefendimension aus Funktionsmechanismen, Formen des Ausagierens und Bedeutungen bzw. der Gesamtheit

15 Solche definitiv vorhandenen Elemente der ‚kulturellen Praktik Tango‘ sind [metafísica del tango], [Ursprungsmythos], [escenario de Buenos Aires] sowie [personajes típicos]; vgl. dazu ausführlich in der konsistenten Beschreibung der Ergebnisse aus der Datenerhebung im Anhang.

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an Wissenskonzepten im Analysemoment ‚Tango IKE‘ nicht enthalten ist bzw. keinen entsprechenden benannten Kapitalwert besitzt. Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass trotz der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe ein unkontrollierter Bereich des Ausagierens der kulturellen Praktik in der Praxis auf peripheren Positionen für den Analysemoment ‚Tango IKE‘ zu benennen ist. Für das Erfassen der objektiven Struktur wird desweiteren eine Differenzierung in Diskursebene und Strukturebene vorgenommen. Damit werden strukturelle Brüche verdeutlicht sowie das Verhältnis beider Ebenen zueinander geklärt. Für ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ und ‚Tango IKE‘ ist der institutionelle Bereich als diskursgenerierend gekennzeichnet. Aus ihm gehen sowohl rechtsrelevante Schriftstücke und Dokumente auf der Ebene eines hohen, da medien- und personengebundenen Materialitätsgrads als auch (im symbolischen Wert hoch besetzte) Konzepte auf der ideellen Ebene eines geringen, da nicht medien- und personengebundenen Materialitätsgrads hervor.16 Der institutionelle Bereich ist zugleich diskursvermittelnd. Innerhalb des hohen bis mittleren Institutionalisierungsgrads finden sich offizielle und entsprechend legitimierte Stellungnahmen als diskursive Elemente (Pressetexte, etc.) generiert.17 Neben diesen diskursgenerierenden und diskursvermittelnden Positionen sowie den korrespondierenden Elementen und Akteuren sind weitere Kategorien an Akteuren zu kennzeichnen. Die zweite Form von Akteuren sind in diesen generierten und vermittelten Diskursen Agierende. Das sind in erster Linie institutionelle Akteure. Ihnen korrespondieren die administrativen Praktiken als auch symbolische Akte.18 Die dritte

16 Zu den konzeptuellen Dokumenten und Praktiken zählen: [immaterielles Kulturgut]; [Natur- und Kulturerbe]; [Weltkulturerbetitel]; [Meisterwerke der Menschheit]; zu den rechtsgültigen Dokumenten die [Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes (IKE)], das [Übereinkommen zur Bewahrung des IKE] und die [Rote Liste] im Bereich des administrativen/institutionellen mit einem höheren Materialitätsgrad, da dokumentengebunden. 17 Solche Positionen offizieller Stellungnahmen sind [UNESCO-Diplomaten]; [fuentes diplomaticas] in der Funktion von Presse-Informationen. 18 Institutionelle Akteure sind [die UNESCO bzw. UN-Kulturorganisation], das [Zwischenstaatliche Komitee] und [Delegierte der Konferenz], die [Vertragsstaaten], [Argentinien und Uruguay] bzw. [Buenos Aires und Montevideo] als [staatliche Akteure]. Desweiteren zählen zu diesem Kreis der Akteure die [Kulturpolitiker], [Kulturbeauftragten], [Vereinspräsidenten] und weiteren [Repräsentanten] sowie die politischen Instanzen [la embajada] (die Botschaft). Zu den korrespondierenden Praktiken gehören die [Anerkennung des Kulturerbetitels], der [UNESCO-Schutz] und die [gemeinsame

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Form der Akteure sind im institutionellen Bereich jene, auf welche in den diskursiven Elementen Bezug genommen wird.19 Auf Basis der benannten diskursgenerierenden und diskursvermittelnden Positionen und Praktiken generiert sich innerhalb dieses institutionellen Bereichs der ‚Funktionsmechanismus IKE‘. Im öffentlichen, für den ‚Tango IKE‘ signifikanten neuen Bereich generieren die Akteure die Elemente [Presse/Medien]. Sie erweisen sich als neue Elemente und zugleich als konstituierend innerhalb des ‚Funktionsmechanismus IKE‘. Parallel dazu sind sie grundsätzlich an der Generierung der Diskursverhältnisse beteiligt. Sie stehen in ihrer Funktion als Publikations- und Vermittlungsakteure in engem Zusammenhang mit den neuen Themenbereichen (vgl. dazu im folgenden Abschnitt). Darüber hinaus ermöglicht erst diese Vermittlungsarbeit den gesamten ‚Anerkennungsmechanismus‘: die institutionelle normative Arbeit und die Interessen der Antragstellung werden in der Praxis benannt, damit legitimiert, umgesetzt und ausagiert. Ein weiteres Analyseergebnis verdeutlicht, dass sich im privaten Bereich der ‚kulturellen Praktik Tango‘ die alltäglichen Objekte, Akteure und Orte der konkreten Tangopraktiken als Formen des Ausagierens in der Praxis verorten: einzelne (Privat-)Personen, die verschiedenen Praktikenformen des Tangos und korrespondierende Objekte. 20 Solche den Diskurs generierende und vermittelnde Akteure bzw. korrespondierende Elemente können dem privaten Bereich für die beiden anderen Analysemomente ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ sowie ‚Tango IKE‘ nicht zugeordnet werden. Sie generieren keine eigenen diskursiven Elemente bzw. sind kein konstituierender Teil der Diskursrelation. Das lässt auf ei-

Antragstellung] durch die Staaten Argentinien und Uruguay. Detailliert werden diese Politiker und Repräsentanten benannt: Lombardi, Duter, Saleh, Khaznadar, Riviere, Veiga; und schließlich Papst Pius X als Repräsentant für die Katholische Kirche. 19 Das sind wiederum die Institutionen, die bereits als diskursgenerierend und diskursvermittelnd zu kennzeichnen waren: die [UNESCO], die [UNESCO-Diplomaten] sowie [fuentes diplomaticas (diplomatische Quellen)]. 20 Akteure, die zugleich auf Ebene der Struktur der Elemente in der Funktion als (Privat-)Personen und auf der Ebene der Diskursverhältnisse als Referenzen agieren sind: die [Tanzenden], das [Publikum], [Anhänger allgemein], d.h. die gegenwärtig Wirkenden sowie die [einfache Bevölkerung] und [Immigranten], die dem ‚Ursprung‘, der Entstehungszeit des Tango zugeordnet sind, wie [Dichter], [Komponisten], [Sänger], [Tänzer] und [Musiker]. Die Kategorie der korrespondierenden kulturellen Objekte entspricht den bedeutungstragenden Elementen und Orten im privaten/individuellen Bereich. Dazu zählen das [Bandoneon], die [Figur des Carlos Gardel], die [Vororte] der beiden Städte Buenos Aires und Montevideo.

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ne rein referentielle Funktion des privaten Bereichs anstelle einer strukturgenerierenden Funktion für den ‚Tango IKE‘ schließen. Umfasst der Bereich der dem ‚Wissenskonzept kulturelle Praktik Tango‘ korrespondierenden Elemente für die ‚kulturelle Praktik Tango‘ fast den gesamten Analysebereich (ausgenommen die materiell-faktischen Elemente), so reduziert er sich in der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ auf eine referentielle Position. Für den ‚Tango IKE‘ ist eine Ausdehnung des Bereichs entlang des gesamten Vektors Materialität zu konstatieren. Allerdings verfügt dieser Bereich lediglich über eine referentielle Funktion auf diskursiver Ebene. Damit wird diese Ausdehnung durch die vermittelnden Elemente [Medien/Presse] des öffentlichen Bereichs sowie durch darin zu verortende einzelne Elemente in ihrer Zuordnung zum ‚Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe‘ realisiert. Diese Elemente haben strukturkonstituierende Funktionen inne, nicht jedoch die Akteure und spezifischen Elemente der kulturellen Praktik Tango selbst. Aus den erfassten Analysemomenten ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ und ‚Tango IKE‘ heraus können verschiedene Bereiche spezifischer Strategien und Interessen rekonstruiert werden, die durch die Begriffe der Materialität und der Institutionalisierung gekennzeichnet sind. Dem administrativen Bereich mit einem hohen Institutionalisierungsgrad sowie die materiellen und nicht-materiellen Elemente umfassend, sind die normsetzenden und sanktionierenden Strategien zugeordnet. Ein signifikanter Wert in diesem Bereich sind in erster kodierender Lesart die benannten Ideale und Ziele. In einer zweiten interpretierenden Lesart sind es die Interessen, welche die Referenz für die Normsetzung bilden. Ein zweiter Bereich mit einem mittleren bis geringen Institutionalisierungsgrad, ebenfalls entlang des gesamten Materialitätsvektors, umfasst die vermittelnden/kommunikativen und umsetzenden Praktiken.21 Neben den impliziten Interessen, war eine interpretierende Strategie für

21 Ausagierende Akteure dieses Bereichs sind nicht nur die eingesetzten Institutionen [ZK] und [Academia de Tango], sondern ebenso die neuen Positionen der [Medien] und Akteure im öffentlichen Bereich. Es finden sich in diesem Bereich die einzuleitenden [Maßnahmen] nach Konventionsvorgaben, das meint im konkreten die zukünftigen Dokumentationsbereiche der ‚Academia de Tango‘ [areas documentales de la Academia] und Kommunikationsräume [espacio de comunicacion]. Es werden die Programme umgesetzt, welche die staatlichen Inventarlisten, das Dokumentationszentrum und die weiteren Maßnahmen beinhalten. Als verpflichtende und umzusetzende Maßnahmen werden angeführt: die Weiterverbreitung des Tangos (in die Welt und in den Generationen), das Dokumentationszentrum für Tanz und Musik, ein Tan-

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diesen Bereich nachzuweisen. Diese ist insofern strukturkonstitutiv und dispositionierend, dass sie die Vermittlung zwischen institutionellem Bereich und dem Bereich des Ausagierens realisiert und entscheidend formuliert. Damit generiert sich vermittels dieser Funktion grundlegend der ‚Funktionsmechanismus IKE‘ sowie die korrespondierenden legitimierten und legitimierenden Diskursverhältnisse. Im Hinblick auf die Schlussfolgerungen für das Konzept immaterielles Kulturerbe wird diese interpretierende Funktion ein entscheidender Aspekt sein. Beide benannten Bereiche des administrativen und des vermittelnd/ umsetzenden sind innerhalb der Kategorie der Institutionalisierung zu verorten und stehen für die kontrollierten Praktiken im ‚Tango IKE‘. Am entgegen gesetzten Pol, am unteren Bereich des Institutionalisierungsvektors finden sich die praktizierten konkreten Praktikenformen. Sie bilden einen unkontrollierten Bereich und verorten sich an der Grenze der Strukturverhältnisse: der Einflussbereich der den ‚Funktionsmechanismus IKE‘ generierenden Strategien endet hier. Der Bereich innerhalb der Kategorie der Institutionalisierung steht für [Entwicklung, Schutz und Bewahrung]. Der Bereich im Grenzbereich bzw. außerhalb dieser Kategorie steht für [Bedrohung, Ausnutzung und Verschwinden]. Signifikante Themenbereiche in der Funktion spezifischer Interessen für die Antragstellung bzw. für die Verleihung des Status immaterielles Kulturerbe waren in beiden einzelnen Analysemomenten ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ sowie ‚kulturelle Praktik Tango‘ nur referentiell und opponent bzw. latent aus den Diskursverhältnissen heraus zu lesen. Sie waren als externe Themenbereiche zu kennzeichnen.22 Mit dem Moment der Anerkennung finden sie sich schließlich als signifikante Themenbereiche im öffentlichen Bereich des ‚Tango IKE‘ wieder. Elemente der diskursiven Ebene sind nunmehr als Teil der Struktur ebenso Teil ihrer Konstituierungsmechanismen. Die externen Themen weisen somit einen signifikanten Moment der Verschiebung innerhalb der Strukturverhältnisse auf. Desweiteren wird geschlussfolgert, dass diese Elemente für die mit der Initiierung des ‚Anerkennungsmechanismus‘ verbundenen Interessen stehen. Jene Themenbereiche und die Tiefendimension der kulturellen Praktik Tango, welche

go-Orchester, ein Tango-Ballett, ein Verlagshaus für Partituren und Tangomusik, eine Instrumentenbauerausbildung und Akademien. Dieser Bereich obliegt den vermittelnden umsetzenden Akteuren [Academia de Tango]. 22 Signifikante Themenbereiche sind: [Vermarktung], [Tourismus], politische Interessen/ [Nationalisierung], [Exotismus]/[Klischee], [Tanzkörper]/[Sensualität/Körperlichkeit].

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für die ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ lediglich referentiell sind, erhalten dem entgegen keine neuen strukturkonstituierenden Positionen.23 Auf Basis der benannten diskursrelevanten und strukturkonstituierenden Positionen und Praktiken generiert sich innerhalb des institutionellen Bereichs des ‚Tango IKE‘ der ‚Funktionsmechanismus IKE‘. Dieser entspricht einem über die diskursiven Strukturen hinaus funktionierenden Mechanismus. Das Interesse aller legitimierten Positionen besteht darin, die dem offiziellen Standpunkt korrespondierenden Werte vermittels des Funktionsmechanismus auf weitere, bisher außerhalb des Institutionellen stehende Bereiche, im Idealfall über die Grenzen der Strukturverhältnisse hinweg, zu vermitteln. Mit dem Rekonstruktionsprozess wurden die drei Zeitebenen der Vergangenheit, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen erkennbar. Ihnen können die erfassten Elemente zugeordnet werden. So gehören der gegenwärtigen Zeitebene im Bereich der kulturellen Praktiken die betreffenden Gruppen an. Das sind die [community]24 und die junge Generation [jóvenes]. Im Gegenwärtigen findet sich im institutionalisierten Bereich ebenso die Konventionssetzung. Daneben formt sich eine Zeitebene heraus, die historische bzw. im Gegenwärtigen nicht mehr agierende Akteure und präsente Objekte enthält. Auf diese wird sich in Dokumenten in Funktion von Referenzpunkten bezogen. Diese Zeitebene weist den Charakter des Originären des Tangos auf.25 Im institutionellen Bereich sind dieser Zeitebene die Referenzen, sowohl auf ideeller Ebene (Menschenrechte, kulturelle Vielfalt, Kultur- und Naturerbe, etc.), als auch auf Dokumentenebene (vorläufige Konventionstexte und Diskussionspapiere bzw. Memoranden) zugeordnet. Auf der Zeitebene des Zukünftigen sind die zum immateriellen Kulturerbe noch zu ernennenden kulturellen Praktiken zu verorten. Damit korrelieren die im Bereich des hohen Institutionalisierungsgrads benannten [Ziele, Visionen und Ideale]. Die der Konvention zugehörigen [verpflichtenden Maßnahmen] und diese [umsetzenden Programme] sind ebenso Teil des zukünftigen Geschehens. Die

23 Dazu zählen die Elemente [Protagonisten des Tango], [Mythos] und [Narrationen], [escenario de Buenos Aires], etc. 24 Die [community] besteht aus Musikern, Tänzern, Komponisten, Lehrenden und Einwohnern. 25 Zu ihr gehören die wahrhaftigen Protagonisten und Schöpfer [verdaderos actores y creadores], die Arbeiterklasse [the urban class] und die Mischung aus europäischen Immigranten, Sklaven und Kreolen [the mix of european imigrants, slaves and criollos], denen die Praktiken [dance, music, poetry, singing] zugeordnet werden.

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Zeitebene des Zukünftigen weist aufgrund der anvisierten Einbindung der noch unkontrollierten bzw. nicht-institutionalisierten Praktiken in institutionalisierte Verhältnisse keinen nicht-institutionellen bzw. unkontrollierten Bereich mehr auf. Lediglich die Elemente des Oppositionspols bilden die Ausnahme.26 Mit der Kategorie der Zeitlichkeit konnte eine weitere Verschiebung innerhalb der Strukturverhältnisse erfasst werden. Elemente des ideellen und administrativen institutionalisierten Bereichs sowie Themen des institutionellen öffentlichen Bereichs korrespondieren neuartigen externen Zeitstrukturen und werden mit dem Moment der Anerkennung naturalisiert. Es ist für den ‚Tango IKE‘ ein neuartiges diskursives Element der Narrationen auf das Zukünftige und zu Erwartende zu benennen. Diese sind auf der zeitlichen Ebene des Zukünftigen im Bereich der [Ideale/Visionen] bzw. [Erwartungen] zu verorten. Die für die ‚kulturelle Praktik Tango‘ signifikante Kategorie des Originären und des Ursprungs weist dem gegenüber eine referentielle Funktion auf. Die formalstrukturelle Kategorie der Zeitlichkeit tritt hinter das ebenfalls neuartige und externe diskursive Element des Universellen zurück. Der Tango wird als ein universelles Element der Menschheit benannt und eine Narration aus den diskursiven Elementen [Kulturperlen der Menschheit], [Hüter des Kulturerbes], [Schmelztiegel der Kulturen] generiert. Die Grenzen einer erfassbaren Struktur sind mit der Reichweite ihrer Praktiken, auf das Bestehen und Entfallen spezifischer bzw. symbolischer Werte (doxa, illusio, Interessen) und Themenbereiche definiert. Der interpretative Fokus für den ‚Tango IKE‘ sind die veränderten Funktionsmechanismen im Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe.27 Aus dem Rekonstruktionsprozess heraus wurde ersichtlich, dass beide Analysemomente ‚kulturelle Praktik Tango‘ und ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ zwei relativ stabile Strukturen bilden. Der Moment der Anerkennung korrespondiert der Konstituierung der neuen Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘. Dabei werden die erfassbaren Bereiche und die

26 Der Oppositionspol umfasst die Elemente [Illegitimität], [fehlendes Rechtsmittel], [individuelles Interesse] sowie [Verlust, Verschwinden, Bedrohung]. 27 Ein weiterer Aspekt für die Definition von Grenzen ist die Verbreitung kultureller Praktiken über nationale oder enge geographische Grenzen hinaus. Im Falle des Tango wäre entsprechend zu berücksichtigen, ob das Ausagieren dieser Praktiken im europäischen Kontext den Feldeffekten des ‚Tango IKE‘ unterliegt oder eine weitere bzw. erweiterte Struktur generiert. Da sich die vorliegende Untersuchung auf den als sozial-geographischen Ursprung benannten Bereich Rio de la Plata und auf die dortigen Formen des Tango bezieht, wird dieser Aspekt nicht berücksichtigt.

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Funktionsmechanismen beider konstituierender Strukturen verändert. Der signifikante Bruch liegt in den Differenzen des Grads der Institutionalisierung, der Struktur der Praktiken (das meint die Normsetzung und Diskursgenerierung, die Kommunikations- und Vermittlungsakte sowie die Habitusformen) und der spezifischen bzw. symbolischen Werte. Es wird nachvollzogen werden, inwiefern diese Veränderungen in dem neuartigen Strukturverhältnis ‚Tango IKE‘ erkennbar sind und die Stabilität im Sinne einer Autonomie dieser Struktur gegeben ist. Die strukturinterne Eigendynamik misst sich am strukturinternen Wandel. Er steht für die Weise der Reproduktion der Strukturverhältnisse und ist Bedingung deren sozialer Dauer. Das meint mit bourdieuschen Worten den immerwährenden Feldkampf um die legitimierenden und legitimierten Positionen. Anhand von Beispielen wird diese Eigendynamik für die ‚kulturelle Praktik Tango‘ und die ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ nachvollzogen. Ein dem Feldkampf entsprechendes Element ist der so genannte [Kulturkampf] um die Legitimität des Tangos als Teil der offiziellen argentinischen Kultur. Er findet sich bereits in den 1910er Jahren benannt. Hintergrund war die erfolgreiche Aufnahme des Tangos in der Oberschicht in Europa, insbesondere weil die EuropäerInnen seiner Musik und Choreographie eine kulturelle ‚Argentinidad‘ zuschrieben. Ein Sachverhalt, der im Ursprungsgebiet des Tangos keineswegs in allen sozialen Schichten akzeptiert wurde.28 Im Rahmen dieser Auseinandersetzung um den ‚wahren Tango‘ wurde und wird bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt um die Konzepte der musikalischen und tänzerischen Umsetzung, um den originären Ursprung und die soziale Zugehörigkeit sowie nicht zuletzt über die Mentalität des Tangueros diskutiert. Ebenso strittig ist seine Zuordnung zum Populären oder zum Traditionellen.29 Die Diskussion um die UNESCO-Konventionen entspricht ebenso einem Element des Feldkampfs. Die Diskussion bezieht sich auf inhaltliche Kritiken und formell-administrative Fragen, aber auch auf das Konzept des Kulturerbes im Konkreten. Diesen Auseinandersetzungen sind ebenso die Positionen und Elemente der [Referenzen], die [beratenden Institutionen und Sachverständigen]

28 Elsner: Das vier-beinige Tier, S.180. 29 Beispielsweise reklamiert Borges dem Sänger und zugleich zum Mythos erkorenen Gardel, mit seinem ‚Tango Canción‘ den Tango zum Untergang geführt zu haben: „Gardel fue acaso el primero que acometió con toda deliberación lo patético.“ Fumagalli: Jorge Luis Borges y el Tango, S.33/34. Conde argumentiert in Bezug auf die zunehmend fehlende Verortung des Tangos im Populären und seiner Formierung als ein traditionelles Genre. Vgl. bei Conde: La Poesía del Tango.

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sowie die seitens der Vertragsstaaten und Mitgliedsstaaten eingereichten [Vorschläge] und [Revisionen] zugeordnet. Der Feldkampf führt als konstitutives Element im Reproduktionsprozess zu einem strukturinternen, stetigen Wandel. Ein solcher Wandel lässt sich für die Genese des ‚Tango IKE‘ nachzeichnen. Seitens der strukturinternen historisierenden, schreibenden Positionen finden sich Stellungnahmen mit dem Thema der [Genese des Tango]. Kennzeichnend ist die Veränderung der signifikanten Elemente aus sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Perspektive seit dem Ursprung des Tangos bis zum gegenwärtigen Moment. Dabei ist die kontinuierliche Veränderung der kulturellen Praktik mit den veränderten Bedingungen der sozialen Realität kennzeichnend, ohne dass das Authentische abgesprochen bzw. gerade dadurch das Merkmal des Authentischen zugeordnet wird.30 Der Wandel der kulturellen Praktik zeigt sich in allen Praktikenformen [Tangotanz], [Tangomusik] und [letras de tango].31 Die Entwicklung der strukturellen Verhältnisse ist durch eine zunehmende Ausdifferenzierung einzelner Elemente, der zunehmenden Wirksamkeit der spezifischen Interessen, Kapitalformen und Formalisierungen sowie der zunehmenden strukturellen Unabhängigkeit zum übergeordneten sozialen Raum gekennzeichnet. Verschiedene Kategorien kennzeichnen den Prozess einer solchen Autonomisierung. Solche Ausdifferenzierungen der sozialen Welt sind die differenzierten Arten und Weisen des Erkennens der Welt sowie der Ausdrucksweisen der in der sozialen Welt impliziten Möglichkeiten: spezifische Denk-, Handlungs-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksmodi (Habitusformen) sowie der grundlegende unreflektierte Glauben (illusio). Ausgehend von der Textkorpusanalyse war es

30 Eine Stellungnahme zur Veränderung des Tango im Gleichklang mit dem Gang der sozio-kulturellen Entwicklung: „al cambiar de ambiente, el genero habia asimilado la nueva realidad [...] el tema de tango dejo la estrechez original dada por los personajes y los hechos del microcosmos nativo.“ Matamoro: La Ciudad del Tango, S.96ff. 31 Die Musik ist durch sich verändernde, durch Orchesterformationen oder einzelne Musiker getragene Stile gekennzeichnet, beginnend mit den originären Grundrhythmen und musikalischen Formen. Im Detail sind hierfür benannt: [origen/ritmos]; [Guardia Vieja]; [Orquestras Tipicas]; [Piazzolla]; [Avantgarde]. Bei den Dichtern bzw. Sängern finden sich ebensolche Stildifferenzierungen gebunden an und markiert durch bestimmte Personen. Im Konkreten sind für die Sänger benannt: [Gardel]; [Goyeneche], [Sosa], [Rovira] sowie die Sängerinnen. Im Konkreten sind für die Dichter die signifikanten Epochen benannt: 20er Jahre [llorón]; 30er Jahre [típico]; 40er Jahre [social]; Ferrer [lírico]; 70/90er Jahre [nuevo].

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möglich, differenzierte Habitusformen auf diskursiver Ebene zu beschreiben. Sie sind durch differenzierte Sprachstile und Diskursinhalte gekennzeichnet. Sie korrespondieren den Bereichen der administrativen, institutionalisierten und populären Praktiken. Es wurden zwei Sprachstile erkennbar. Auf der einen Seite ein mechanistischer Sprachstil 32 , gekennzeichnet durch technokratische und administrative Termini. Dem gegenüber findet sich ein Sprachstil der belebten Wörter33, der für Kreativität und Lebendigkeit der Zukunft steht. Desweiteren findet sich ein Bereich der abstrakten Begriffe, die die ideellen, visionären Konzepte sowie die referentiellen Grundwerte umfassen. In der Zuordnung der erfassten Termini zeichnet sich ab, dass die Dokumente des höchsten und hohen Institutionalisierungsbereichs einen hauptsächlich mechanistischen Sprachstil sowie einen sehr viel höheren Anteil an abstrakten Begriffen aufweisen. Die Dokumente aus dem geringen Institutionalisierungsbereich verzeichnen hingegen einen stärkeren Anteil an belebten Wörtern. Die Konfrontation der Sprachstile mit dem Element [Academia de Tango] als die Institution, welche die Antragstellung und Umsetzung der Konvention maßgeblich trägt, indiziert den Moment der Neustrukturierung. Ein Prozess, der bereits für die Strukturbereiche konstatiert wurde. Der den Konventionstext charakterisierende funktionelle Sprachstil findet sich im Diskurselement [Academia de Tango] wieder. Die Analyse des Textlauts erweist jedoch einen höheren Anteil der weichen Begriffe.34 Damit bildet sich ein Sprachstil heraus, welcher der neuen Struktur ‚Tango IKE‘ korrespondiert. Richtet sich der Fokus auf die inhaltlichen Termini, so zeigt sich eine starke Übereinstimmung der Qualitäten des Konventionstextes und des Antragstextes durch die [Academia de Tango].35

32 Entsprechende Termini sind: [mecanismus]; [estrategía]; [allgemeine Politik]; [programas]; [equipo técnico]; [registros]; [archivos]; [proyectos]; [financiamento]; [comunicacion]; [publicacion]; [difusion]; [la transmision intergeneracional]; [garantizar]; [asegurar]; [coordinar]; [elaborar]. 33 Entsprechende belebte Wörter sind: [crear]; [generar]; [revitalizar]; [promover]; [alentar]; sowie [Lebendigkeit] und [Neubelebung]. 34 Diese beziehen sich auf die angestrebte Kreativität und Lebendigkeit der zukünftigen Entwicklung. Hierzu vgl. detaillierter der Sprachstil am Beispiel der umzusetzenden Maßnahmen im Antragstext in den Ergebnissen der Datenerhebung im Anhang. 35 Vgl. dafür ausführlich in der Auflistung betreffender Kodierungen in den Ergebnissen der Datenerhebung im Anhang. Adaptierte Qualitäten sind [Originalität] und [Besonderheit], [Gemeinschaft], [Kooperation], [integrativ], [Offenheit] und [Austausch], [Transparenz], [Schutz und Bewahrung], [Dialog].

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Der Konventionstext ist dem Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads und der administrativen Praktiken zugeordnet, der Antragstext jedoch dem Bereich eines geringeren Institutionalisierungsgrads und der umsetzenden Praktiken. Darüber hinaus werden die Maßnahmen auf eine populäre kulturelle Praktik aus dem nicht-institutionalisierten Bereich angewendet. Daher wird interpretiert, dass eine Ausrichtung aller Diskurselemente innerhalb der Strukturverhältnisse an der Diskurspraktik der UNESCO-Konvention erfolgt. Eine weitere Kategorie im Prozess der Autonomisierung besteht darin, dass die internen Machtprinzipien und legitimierenden Definitionen (relativ) autonomer Strukturverhältnisse über diejenigen der Struktur externen oder im sozialen Raum übergeordneten Strukturen bestimmen. Sie implizieren eine eigenständige Hierarchie. Damit können externe Einflüsse keinen direkten Effekt entfalten, sondern werden im Sinne eines Übersetzungs- und Brechungseffektes in die bestehenden Kategorien eingepasst: externe Einflüsse unterliegen einer Umformung, Neubeschreibung oder gar Verklärung im Sinne des politischen oder des religiösen Interesses oder im Sinne der strukturspezifischen illusio. Eine erste erfasste narrative Strategie in diesem Zusammenhang ist die [Mythosbildung]. Diese alle zeitlichen Ebenen umfassende Charakterisierung ist einem sehr hohen Grad der Autonomie der Strukturverhältnisse zugeordnet. In der Struktur ‚kulturelle Praktik Tango‘ korrespondieren drei entsprechende Elemente dem Ursprungsmythos: Das [bandoneon] als das Instrument des Tangos steht mit seinem ihm eigenen Klang für den [sello definitivo] des Tangos (obwohl und möglicherweise gerade deshalb die [llegada del bandoneon] einem unerklärbaren Mythos entspricht). Ein weiteres originäres Element ist der [lunfardo], der als eigene Sprache des originären sozialen Kontexts des Tangos für [pueblo], [lo propio] und [el poseer del barrio] eingesetzt wird. Das gilt auch für das Element [tango en Paris]. Es entspricht einem wichtigen Moment in der [Genese des Tango] der Anfangsjahre. Es kann damit in gleicher Weise dem Ursprungsmythos zugeordnet werden; und steht darüber hinaus auf einer auf Zukünftiges gerichteten Ebene für den [Traum von Glück im fernen Europa] seitens der TangoBoheme und der Tango-Künstler. Zur Strategie der Mythenbildung gehören intendierte Narrationen als mythologisierende Diskursstrategie: historische Fakten der sozial-kulturellen oder der sozial-geographischen Dispositionen werden dem Tango essentiell oder originär umgedeutet. Dabei wird diese Mythologisierung von den erzählenden Akteuren wissend-ironisch und doch der illusio verbunden reflektiert. Ein Beispiel für die intendierte Narration findet sich bei Borges rezitiert mit dem Element [el duelo – el cuchillo] sowie des [barrio]: dem [Messerkampf] wird die Bedeutung [Mut

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und Ehre des Tangueros] zugeschrieben36, das [heimatliche Viertel] wird vom jeweiligen Erzählenden als das originäre Viertel des Tangos deklariert37. Die intendierten Narrationen sind den Strukturverhältnissen naturalisiert. Sie sind aufgrund ihrer Legitimierung bzw. durch das legitimierte Erzählen vermittels autorisierter Akteure (Repräsentanten) Teil der gesamten Narration der kulturellen Praktik Tango (Tango-Erzählung).38 Eine zweite erfasste Strategie der Neuschreibung bzw. Verklärung im Sinne der geltenden illusio ist im Bereich der institutionellen Praktiken zu konstatieren. Indem einer gering institutionalisierten und durch individuelle private Agierende ausagierten kulturellen Praktik ein institutioneller Status zuerkannt wird, wird zugleich ein strukturexternes Interesse impliziert. Das bedeutet für die kulturelle Praktik Tango, dass ihre Originalität und die Individualität der Agierenden dem Status eines allgemeinen Interesses der Menschheit untergeordnet werden. Damit werden sie in einen durch die UNESCO proklamierten universellen und durch die Vertragsstaaten legitimierten Wertekanon eingefügt. Mit zunehmender Autonomisierung von Strukturverhältnissen ist eine steigende Reflexionstätigkeit und Selbstreferenz zu beobachten. Diese Entwicklung wird von strukturinternen Akteuren – im Falle des Tangos durch eine [Zunft von Konservatoren (Historiker und Biographen)] – reflektiert und niedergeschrieben. Im Umkehrschluss schreibt sich auf diese Weise die Geschichte erst fest, indem sie rückblickend definiert wird. Diese Festschreibung umfasst das Kodifizieren und Kanonisieren der strukturspezifischen Definitionen innerhalb der legitimierten Prinzipien und Wahrnehmungskategorien. Sie definieren die spezifischen

36 Fumagalli: Jorge Luis Borges y el Tango, S.142/143 Sie führt zu Borges Narrationen aus: „En los textos de tango y milongas, sin embargo, el duelo no llega nunca ser uno de los temas principales. […] Borges, en cambio, transforma el duelo criollo en uno de los puntos claves de su mitologia. El duelo se convierte en simbolo del coraje del hombre frente a la muerte y la destreza en el uso del cuchillo se vuelve un requisito fundamental de los protagonistas borgianos. Asi el corte del cuchillo se convierte en una interrupcion imprevista del deslizamiento de la danza; la corrida empleada en el duelo para sustrerse al adversario se vuelve la aceleracion del paso en el tango.“ Ebd. 37 Borges referiert auf Befragungen ‚echter Tangueros‘, um Elemente des mythischen Arrabals zu benennen. Vgl. Fumagalli: Jorge Luis Borges y el Tango, S.137. 38 Borges führt als Beispiel die Genese des Tangos über das Generieren von intendierten Narrationen in Bindung an den Poeten [EvaristoCarriego] ein: „[...] Carriego representa el descubridor, es decir, el inventor del mundo cotidiano del arrabal, ya transformado en un universo ideal para la definicion de su mitologia.“ Ebd., S.136.

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Zulassungsvoraussetzungen, die in der praktischen Beherrschung der generierten und nunmehr formalisierten Qualitäten bestehen. Durch die Analyse erfasste Elemente der kategorisierenden formalen Zuordnungen entsprechen solchen reflektierenden, zugleich kodifizierenden und kanonisierenden Definitionen: die [Musikkategorien] 39 kennzeichnen die Eigenheit und Charakteristik der Musik des Tangos, die [Tanzkategorien]40 die Eigenheit und Charakteristik des Tangotanzes. Die Kategorien der reflektierenden Stellungnahmen [tango como tema del tango]41 benennen die gesamte Thematik und die originären Themen der Tangotexte [letras de tango]. Sie spiegeln den sozialen Kontext als auch die Befindlichkeiten der Akteure wider, enthalten Narrationen und Charakteristiken des Tangos. 42 In ihrer Funktion als Kanonisierungselemente und als Ausschlusselemente stehen sie für das inkorporierte Wissen der kulturellen Praktik. Zugleich legitimieren sie entsprechende Praktiken des Tangos als authentisch. Die konstatierte Reflexionstätigkeit und Selbstreferenz wird von strukturinternen Akteuren realisiert. Sie referieren auf bzw. generieren die signifikanten [schriftlichen Referenzquellen] und legitimieren [Repräsentanten] in ihrer Funktion von Diskursstrategien ausagierenden und in den Diskursen agierenden Akteuren. Innerhalb der [kulturellen Praktik Tango] differenzieren sich solche [schriftlichen Referenzquellen] in interne und externe Textelemente. Die internen Referenzquellen beziehen sich auf die Themenbereiche [Ursprung] und [Mythos]. Ein besonderer Fokus lässt sich für das Thema [Einflüsse] auf die Ge-

39 Als [Musikkategorien] sind benannt: Rhythmus, Duktus, Dichte, Dynamik, Klangfarbe, Struktur, Harmonik, Klangkörper. 40 Als [Tanzkategorien] sind benannt: die Grundkategorien wie Führung, Rollen, Gehen, Achse; und die Tanztechniken wie Corte, Haltung, Quebrada; sowie Grundaxiome wie Führen/Folgen und Paarkommunikation. 41 Für die gesamte Thematik und die originären Themen der Tangotexte sind benannt: Vorstadt-Welt; Sorgen und Not des ‚kleinen Mannes‘; Sinnsuche; Nostalgie, Melancholie und das Konzept des Llorón; Bandoneon; la Ciudad de Buenos Aires. 42 Die Thematik des Tangos ist ebenso in ihren Narrationen und Charakteristiken enthalten. Dafür findet sich die [mundo compadrito] benannt. Diese umfasst die signifikante Aufteilung der Akteure in [Frauenrollen] und [Männerrollen]. Diese Rollen stehen für signifikante Akteure innerhalb der kulturellen Praktik Tango bzw. wie sie innerhalb der Narrationen vermittelt sind. Als [Frauenrollen] sind unter anderen benannt: Tanzpartnerin; Textmuse; Animierdame; Mama; Prostituta. Als [Männerrollen] sind unter anderen benannt: Porteño/Argentino; Guapo/Taíta; Compadrón/Compadre; Cafisho/ Canflinflero; Malevo/Niño bien.

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nese des Tangos konstatieren.43 Die externen Referenzquellen weisen einen analytischen (soziokulturell und/oder politisch) bzw. kritischen Zugang der Reflexionstätigkeit auf. Der Fokus der Diskurse, die durch externe und aus der Ursprungsregion des Tangos stammende Reflektierende generiert sind, richtet sich vor allem auf politische und soziokulturelle Umstände. Die externen, zumeist durch mitteleuropäische Reflektierende generierten Diskurse richten sich auf die Charakteristik und die Einzelelemente der kulturellen Praktik.44 Die benannten [Repräsentanten] sind im öffentlichen Bereich zu verorten und stehen für die offiziellen Narrationen und Stellungnahmen. Sie müssen seitens der Akteure im individuellen Bereich als auch seitens der schriftlichen Referenzquellen legitimiert sein. So steht der Sänger [Gardel] für den [Tango Llorón] und zugleich für den [individuellen Traum eines jeden Porteño]; der Musiker [Piazzolla] steht für die [musikalische Revolution]; die repräsentative Institution im institutionellen Bereich [Academia de Tango] unter Leitung der Person [Ferrer] steht dagegen für die Einbindung in institutionelle Strukturen. Für den Prozess der Autonomisierung kann für die [kulturellen Praktik Tango] schlussfolgernd konstatiert werden, dass sie (relativ) autonome und statische Strukturverhältnisse formiert. Sie verändert sich lediglich innerhalb ihrer Grenzen durch interne Impulse und Konflikte, wie beispielsweise lokale soziopolitische Indikationen und den [Kulturkampf]. Externe Einflüsse kommen mit der Genese der kulturellen Praktik hinzu, werden jedoch der illusio entsprechend umgeschrieben und den Strukturverhältnissen inkorporiert. Neben dem Prozess der Autonomisierung beschreibt Bourdieu Entwicklungsmomente, die dem Begriff einer Ent-Autonomisierung entsprechen, wenngleich er von ihm so nicht benannt wurde. Im Rahmen der institutionellen Anerken-

43 Die drei Themenbereiche sind zugleich Teile der Tango-Erzählung. Die TangoErzählung umfasst die Immigration in die Entstehungsregion Rio de la Plata, die politischen Interessen in Bezug auf die Unterstützung oder das Zurückweisen der kulturellen Praktik Tango innerhalb der höheren Gesellschaft sowie die Einflussfaktoren Europa und USA als Import und Export des Tangos. 44 Politisch-analytische Themen referieren vor allem auf die Zeit der Diktatur (bei Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango) und auf soziokulturelle Indikationen (u.a. Reichhardt: Tango. Verweigerung und Trauer; Sabato: Tango. Discusion y clave; Matamoro: La Ciudad de Tango). Die spezifische Charakteristik interessiert sich für den [Tanzkörper], die [Emotivität] und die [Tanztechniken] (u.a. Elsner: Das vier-beinige Tier; Künstlerhaus Bethanien: Melancholie der Vorstadt); sind benannt: [leibliche Ergriffenheit]; [Emotionalität]; [Emotivität]; [Präsenz]; [Kommunikation].

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nung einer nicht-institutionalisierten kulturellen Praktik zum immateriellen Kulturerbe stellt sich die Frage danach, inwiefern der Kulturerbestatus in der Funktion eines strukturexternen Interesses den (relativ) autonomen Status verringern kann. Die zwei durch Bourdieu benannten, einem Prozess der Ent-Autonomisierung zuzuordnenden Indikationen werden hierfür nachvollzogen. Als Indikation aus feldinterner Perspektive steht der Ent-AutonomisierungsProzess für ein Infragestellen der Definitionsmacht bzw. für das Verändern bis hin zum Auflösen der Strukturverhältnisse. Das bedeutet, dass die Inhaber der Definitionsmacht die grundlegende illusio nicht mehr aufrechterhalten bzw. nicht den Akteuren durch naturalisierende Strategien vermitteln können. In der Folge unterliegen die Interessen und die doxa einer Entwertung, bzw. agieren die Akteure nicht mehr im Sinne der illusio. Das bedeutet in der Praxis, dass die Agierenden der kulturellen Praktik Tango den Kulturerbestatus in Frage stellen und den unter diesen Prämissen deklarierten Tango nicht als den originären Tango annehmen. Aus dem erhobenen Datenmaterial konnte eine solche Indikation bis zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht nachvollzogen werden. Sie kann aber als eine Hypothese für zukünftige Analysen der weiteren Entwicklung der kulturellen Praktik Tango dienen. Eine zweite Indikation für einen externen Einfluss stellt ein externes Machtfeld dar, das die internen Strukturverhältnisse verändern kann. Dieser Veränderungsprozess funktioniert, indem Strukturen der Machtverhältnisse und der Positionen der Definitionsmacht in einem geringeren oder höheren Maße mit strukturexternen Interessen verbunden sind. Das können ökonomische, kulturpolitische und allgemein wirtschaftspolitische Interessen sein. Das sind beispielsweise externe Einflüsse des Marketings und der Kulturindustrie, die zunehmend auf relativ autonome spezifische Strukturverhältnisse einwirken. Mit der Akzeptanz der feldexternen Interessen durch strukturinterne Positionen ist das Interesse eines Legitimationsgewinns auf der eigenen Position verbunden. Belege für einen solchen Einfluss werden im Abschnitt ‚Politik, Wirtschaft und Kulturwissen‘ weiter unten im Text angeführt. Aus dem Vergleich der erfassten Analysemomente wird deutlich, dass der (relativ) autonome Status der ‚kulturelle Praktik Tango‘ aufgehoben wird. Das bedeutet eine Veränderung der die Strukturverhältnisse tragenden illusio und hat die Konsequenz, neue Positionen mit entsprechenden Dispositionen, neuartige Strategien der Vermittlung und Habitusformen zu generieren. Dieser Autonomieverlust ist dahingehend nachzuvollziehen, dass die ‚kulturelle Praktik Tango‘ im Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe in den ‚Tango IKE‘ transformiert und sich der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ an einer vorgesehenen, bis dahin lediglich referentiellen Position einfügt.

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Die ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ weist dabei keine Veränderungen auf. Für die ‚kulturelle Praktik Tango‘ sind diese Veränderungen nachzuvollziehen, indem neue Akteure und institutionelle Positionen, externe Themenbereiche, der neuartige ‚Funktionsmechanismus IKE‘ und der ‚Anerkennungsmechanismus‘ sowie die damit korrelierenden Legitimierungen, hierarchischen Kategorien, neuartigen Praktiken und Strategien der Interaktion, externe Wissensbestände ‚Wissenskonzept IKE‘ und ‚Wissenskonzept des Immateriellen‘ sowie die Bereiche des Institutionalisierten und des Öffentlichen als ein Presse- und Medienbereich inkorporiert werden. Dem gegenüber verringern sich die Differenziertheit und die symbolische Ebene innerhalb des ‚Tango IKE‘. Die mit diesem Prozess der Inkorporierung verbundenen Erwartungen an einen Legitimationsgewinn stehen für die hinter der Akzeptanz und der daraus resultierenden Inkorporierung dieser Strukturveränderungen latenten Interessen. Der Veränderungsprozess schließt darüber hinaus die Wahrnehmungs- und Wertungskategorien ein. Somit erfährt der strukturspezifische Habitus einen Wandel, indem er eine Art Zensur seitens strukturexterner Habituskategorien durchläuft. Die Akteure verinnerlichen diese, damit sie in den veränderten Strukturverhältnissen sinnvoll agieren können.45 In der Konsequenz ist die Option gegeben, dass sich durch inkorporierte strukturexterne Interessen (relativ) autonome Strukturverhältnisse ent-autonomisieren oder sogar auflösen. Akteure und Orte Die erfassten Akteure und Orte generieren die formalen Strukturverhältnisse. Diese sind durch spezifische Indikationen in der Funktion von Qualitäten gekennzeichnet: die Differenzierung der Positionen sowie die differenzierten Praktiken und Strategien des Ausagierens der impliziten Dispositionen und Interessen. Somit ist das Erfassen der Positionen und Akteure, deren sozialer Identität und lokale Verortung sowie die korrespondierenden Strategien und Interessen für die Ausdifferenzierung der Strukturverhältnisse relevant. Diese werden im Folgenden detaillierter dargestellt.

45 Der Habituswandel kann in vorliegender Analyse nicht berücksichtigt werden. Das ist mit dem im Moment der Datenerhebung fehlenden zeitlichen Abstand zur Anerkennung des Tango zum immateriellen Kulturerbe begründet. Eine Strukturveränderung ist bereits durch die Rekonstruktion und den Vergleich der erfassten Strukturen zu den verschiedenen Analysemomenten nachzuweisen. Der korrespondierende Habituswandel erfordert eine gewisse Zeit der Inkorporierung.

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Die Dispositionen in Form legitimierender Zuschreibungen und Kapitalformen kennzeichnen die soziale Identität des Akteurs. 46 Für den Tango konstituieren sich in dieser Weise dessen signifikanten sozialen Identitäten. Die Tangopraktiken ausagierenden Akteure der ‚kulturelle Praktik Tango‘ sind im privaten Bereich zu verorten. Diese Akteure sind einzelne Personen und gekennzeichnet als [Tanzende], [Publikum], [Anhänger] des Tangos sowie die zum Teil ebenso im öffentlichen Bereich agierenden [Dichter], [Komponisten], [Sänger], [Tänzer] und [Musiker]. Die sowohl gegenwärtig wirkenden Akteure als auch auf der zeitlichen Ebene des Entstehungsmoments des Tangos dem Ursprung zugeordnete einfache Bevölkerung und Immigranten bilden die [Bevölkerung/Volk]. 47 Sie agieren im spezifischen und differenzierten Szenarium [escenario de Buenos Aires – la Ciudad].48 Dessen Charakteristika im Sinne existentieller Gegebenheiten entsprechen [la vida social – la realidad social].49 Innerhalb des ‚Tango IKE‘ sind dieselben die Tangopraktiken ausagierenden Akteure dem referentiellen Bereich der kulturellen Praktik zuzuordnen. Sie haben lediglich auf diskursiver Ebene eine referentielle legitimierte Funktion inne. Für die beiden weiteren Bereiche des ‚Tango IKE‘ – das sind der institutionelleadministrative Bereich, der ausgehend von der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ formiert wird und der neu konstituierte, vermittelnde öffentliche Bereich – können keine Indikationen einer sozialen Identität erfasst werden. Akteure agieren als Institutionen oder als institutionalisierte Medien; innerhalb der Funktionsmechanismen als legitimierte Repräsentanten; in diskursiven Konzepten und Narrationen als mythisierte Personen. Die beiden letzten Funktionen sind den Akteuren [Gardel], [Ferrer] und [Piazzolla] zugeordnet. Sie entsprechen zugleich intendierten Narrationen der kulturellen Praktik als auch Repräsentanten und mythisierten Personen.50

46 Vgl. u.a. Bourdieu: Praktische Vernunft, S.75–82. 47 Die ausagierenden Akteure differenzieren sich in: [Immigranten]; [Bewohner Stadtrand]; [Bewohner conventillo]; [trabajadores]; [delinquientes]; [Prostiuierte]; [Wäscherinnen] sowie die [junge Generation der 90er]. 48 Die lokalen Differenzierungen sind: [barrios]; [patios]; [calles]; [callejones]; [talleres]; [conventillos]; [confiterias]; [clubes]; [cafe de los barrios]; [bailetines en la calle]; [circo creollo]; [baile de carnaval]; [teatro]; [variete]. 49 Detailliert für [la vida social – la realidad social] sind benannt: [Dolch/Duell]; [Karren]; [Alkohol]; [Kartenspiel] (Tuf, Poker, Truco); [Glücksspiel]; [Rennbahn]; [la familia]; [el barrio]; [Mädchenhandel]. 50 Der [Mythos Gardel] wird von Garibaldi in Zusammenführung mit dem Konzept der intendierten Narration formuliert: „Gardel died tragically in his forties in 1935 in a

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Aus den ausdifferenzierten Positionen resultieren die erfassten korrespondierenden Praktiken. Diese sind in der ‚kulturellen Praktik Tango‘ entsprechend den ausagierenden Akteuren im Bereich des Privaten zu verorten. Sie sind in körperbezogene Praktiken und in symbolische Praktiken zu unterscheiden. Die körperbezogenen Praktiken einerseits umfassen die konkreten ausagierten Praktikenformen [Tangotanz], [Tangomusik], [Tangolieder], [Poesie] und schließlich den typischen Argot des Tangos [lunfardo]. Symbolischen Praktiken entsprechen die ausagierten Praktiken in dem Moment, wenn sie als dem Tango implizite Mythen und Klischees durch die ausagierenden Akteure anerkannt sind. Dieselben körperbezogenen und symbolischen Praktiken finden sich als lediglich referentielle Elemente innerhalb des ‚Tango IKE‘ auf im Konventionstext formulierte Benennungen reduziert. Damit sind sie auf der ideellen Ebene des geringen Materialitätsgrads (nicht objekt- oder körpergebunden) zugeordnet. Der Begriff des Volkes ist apriori nicht gegeben, sondern generiert sich innerhalb von Strukturverhältnissen vermittels definierender und legitimierender Zuschreibungen an bestimmte Positionen seitens der herrschenden Positionen. Mit der Definition des Volkes wird eine Gruppe etabliert, der ein gemeinsamer Habitus, mindestens aber eine in der Hierarchie der Strukturverhältnisse niedrigere Position, eigen ist. Es werden auf dieser Basis Abgrenzungen zwischen herrschenden und beherrschten, zwischen legitimierenden und legitimierten Positionen gezogen. Dieser spezifischen Gruppe gegenüber realisieren sich Strategien der Interessensdurchsetzung, Formalisierung und Wertzuschreibung vermittels der symbolischen Macht. In der relativ unkontrollierten und gering institutionalisierten ‚kulturellen Praktik Tango‘ sind nur das Element [Bevölkerung] als die ausagierenden Akteure des [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] und als die Ausagierenden der Tangopraktiken benannt. Weitere benannte Akteure bilden lediglich Gegenpole: [Politiker]51, auf institutioneller Ebene bzw. auf sozial-hierarchischer Ebene [la Institucion]52 und [clase dirigente/oligarquia] sowie [gaucho] als Opposition von

plane crash […]. His death in Colombia at the peak of his career was a shock to the entire nation of Argentina, and most of South America as well. But he continued to serve (and still does today) as an immortal symbol of the authentic tango of the Golden Age. He is now considered to be a martyr for tango. Tango, the emblem of national identity that he sought to spread, was enhanced and deepened through his death.“ Garibaldi: El Tango Extranjero, S.47. 51 Als [Politiker] sind benannt: [Irigoyen]; [Ibaguren]; [Peron]. 52 Als [la Institucion] sind benannt: [frontera política]; [justicia]; [policia]; [cárcel].

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Stadt und Land. Der Begriff [Volk] findet erst mit der umfangreicher werdenden Selbstreflexion und Festschreibung durch definierende und kanonisierende Praktiken legitimierter Autoren Verwendung. Er umfasst Akteure im nicht institutionalisierten Bereich und impliziert die [Bevölkerung] sowie den Gegenpol [gaucho]. In besonderer Benennung ist innerhalb dieser Definition [el lenguaje] zu finden, die für den signifikanten und symbolischen [lunfardo] konstitutiv ist.53 In den beiden Analysemomenten ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ und ‚Tango IKE‘ ist der Begriff des Volkes nicht benannt. Mit Referenz auf den rekonstruierten ‚Anerkennungsmechanismus‘ wird geschlussfolgert, dass innerhalb der ‚kulturellen Praktik Tango‘ mit den Reproduktionsmechanismen eine Strategie der intendierten Narration ‚Volk‘ realisiert wurde. Das Interesse lag in der Bindung des Ausagierens der Tangopraktiken an den politischen Begriff des Volkes (diskursiv generierte Popularisierung).54 Ab dem Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe wird diese Strategie zugunsten der Anpassung der insbesondere diskursiven Elemente an die ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ zurückgenommen.55 Der Aspekt der Popularisierung bleibt als latentes Interesse bestehen und wird vermittels legitimierter diskursiver und ausagierter Strategien realisiert. Einer solchen Strategie der adaptierten und verdeckenden intendierten Narration kann der [Aspekt des Nationalen] zugeordnet werden. Im Zuge des Prozesses der Selbstreflexion und Geschichtsschreibung realisiert sich eine Vereinheitlichung der diskursiven Elemente. Da dieser Prozess durch institutionelle Einrichtungen wie die [Academia de Tango] und durch staatliche Institutionen wie [Universitäten] und [Akademien] initiiert und durchgesetzt wird, sind latent Interessen der staatlichen Definitionsmacht zu konstatierten. In Folge des Vereinheitlichungsprozesses formiert sich ein einheitlicher Charakter in den Narrationen der kulturellen Praktik Tango heraus, der sich als [nationale Identität] oder [Nationalcharakter] bezeichnet findet. Mittels der durch den Staat legitimierten und beherrschten Vermittlungsmechanismen – insbesondere des Mediensystems und des Bildungssystems – werden diese Definitionen in der Praxis durchgesetzt

53 Vgl. hierzu vor allem Salas: Tango; sowie Borges: Kabbala und Tango. 54 Unterstützung findet diese Schlussfolgerung in den Ausführungen zur Verbindung ‚kulturelle Praktik Tango‘ und die politische Strategie des Populismus in der PeronÄra. Vgl. Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango. 55 Siehe ausführlicher zu den Strategien und Praktiken der Macht in der konsistenten Beschreibung der Ergebnisse aus der Datenerhebung im Anhang.

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und inkorporiert sowie auf symbolischer Ebene zur [nationalen Kultur] bzw. zum Teil der legitimierten [Nationalkultur] erhoben.56 Die Institution Staat wird innerhalb der neu formierten Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ neben den ausagierenden Akteuren der kulturellen Praktik als ein signifikanter Akteur erkennbar. Er ist aufgrund seiner eingenommenen Position und der korrespondierenden relationalen Verhältnisse durch eine außerordentliche symbolische Macht und durch spezifische Interaktionsformen (Praktiken und Diskurse) gekennzeichnet. Die staatlichen Strukturen zwischen den institutionellen Akteuren und den zugeordneten (bürokratischen und administrativen) Bereichen bilden relationale Verhältnisse. Diese sind über ihre Auseinandersetzungen, Netzwerke und Interessenallianzen zu erfassen. Der Akteur Staat, bzw. die staatlichen Institutionen sind in der ‚kulturellen Praktik Tango‘ nur als referentielle und oppositionelle Positionen gegeben.57 Die entsprechende Legitimierungs- und Definitionsmacht ist daher ungewöhnlich gering. Die staatlichen Institutionen agieren in der Praxis lediglich auf juristischer Ebene. Es besteht ein diskursiver Bezug innerhalb der narrativen Elemente der Strukturverhältnisse. In der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ und im ‚Tango IKE‘ ist der Staat in Funktion einer nationalen Institution politischer Macht benannt. Er agiert in Position der Antrag stellenden Akteure und in Position der die UNESCO-Konvention zuvor ratifizierten und damit legitimierten Akteure. Sie sind ein konstituierender Teil des ‚Funktionsmechanismus IKE‘. Ein zweiter staatlicher Akteur ist die Institution der [UNESCO] selbst. Sie agiert auf supranationaler Ebene und lediglich durch die Legitimierung seitens staatlicher Akteure auf nationaler Ebene konstituiert. Sie ist in ihren spezifischen Strukturverhältnissen nicht einer staatlichen Institution gleich zu setzen. Für die drei erfassten Analysemomente ist gleichermaßen zu schlussfolgern, dass der Staat als ein mit hoher Legitimierungsmacht konstituierender, definierender und signifikanter Akteur innerhalb der Funktionsmechanismen agiert, jedoch keine Funktion als umfassendes und alleiniges institutionalisiertes Machtmonopol wahrnimmt. Der staatliche organisierte Bereich verortet sich innerhalb des institutionellen Bereichs. Er umfasst die staatlichen und staatlich getragenen Organisationen und

56 Eine solche Definition von Tango ist als ein nationales Element Teil der Strategien und Praktiken der Macht. Siehe dazu ausführlicher in der konsistenten Beschreibung der Ergebnisse aus der Datenerhebung im Anhang. 57 Den referentiellen Gegenpol bilden die Elemente [Politiker] und [la Institucion]. Vgl. dazu ebenso den vorherigen Abschnitt zu den Begriffen Bevölkerung und das Volk.

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Akteure, deren formale Praktiken 58 und Dokumente 59 der Diskursgenerierung sowie die angeschlossenen diskursvermittelnden Instanzen [Konventionsorgane] und [Pressemedien] 60 . Diese Akteure und Elemente sind entlang des Vektors vom geringen bis höchsten Institutionalisierungsgrad einzuordnen. Die Position des höchsten Grads an Institutionalisierung in der ‚UNESCOKonvention-IKE‘ und im ‚Tango IKE‘ nimmt die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur [UNESCO] ein. Ihr korrespondieren normsetzende, legitimierende, diskursive und administrative Praktiken sowie das signifikante Element [Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes]. Die Konvention umfasst materielle Outputs wie den [Konventionstext] selbst, auf personeller Ebene die zugeordneten ausführenden [Organe] und auf Ebene eines hohen immateriellen Grads die [Werte, Normen und Visionen]. Der [UNESCO] sind verschiedene Organe ihrer Handlungsfähigkeit zugeordnet. Dazu zählen die [Generalversammlung] der Mitgliedsstaaten, die das beratende und beschließende Organ ist. Sie trägt damit die Verantwortung für die Verabschiedung des ‚Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes‘. Dem Übereinkommen sind laut seinem Konventionstext weitere exekutive und legislative Organe zugeordnet, die sich aus Vertretern der [Vertragsstaaten] der Konvention zusammensetzen. Diese sind die [Vollversammlung] als beratendes und prüfendes Organ und das [Zwischenstaatliche Komitee] sowie das [Sekretariat] als ausführende Organe. Die Position des [Zwischenstaatlichen Komitees] liegt außerhalb der reinen diskursiven und institutionellen Praktiken. Es übernimmt umsetzende und vermittelnde Praktiken in Bezug auf das Konventionsanliegen. Ihm obliegt es, mit weiteren Akteuren zu kommunizieren, Entscheidungen zu treffen und im Konventionstext festgeschriebene Aufgaben umzusetzen. Dazu zählen die Erstellung der UNESCO-Kulturerbelisten [IKE-Listen], Unterstützung und Kontrolle der Umsetzung der Konvention [Berichte] sowie Antragsentscheidungen. Das relevante zentrale Dokument des Komitees ist [the tango (description of the element

58 Die formalen Praktiken entsprechen symbolischen Akten: [Anerkennung des Kulturerbetitels]; [UNESCO-Schutz]; [gemeinsame Antragstellung]. 59 Schriftstücke und rechtsgültige Dokumente sind: [Repräsentative Liste des IKE]; [Übereinkommen zur Bewahrung des IKE]; [Rote Liste]. 60 Diskursgenerierende und diskursvermittelnde Akteure im institutionellen Bereich und deren Dokumente sind: [UNESCO, UN-Kulturorganisation (Konventionstext)]; [Zwischenstaatliches Komitee (Begründungstext)]; [UNESCO-Diplomaten, fuentes diplomaticas (PresseInfo)].

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of the ICH-list)]. Darin steht die Begründung für die Anerkennung des Tangos als immaterielles Kulturerbe festgeschrieben. Im Bereich des hohen bis mittleren Institutionalisierungsgrads finden sich weitere Akteure und vermittelnde Funktionen der Interessen des institutionellen Bereichs. Hierzu zählen zum einen die Generierenden der diskursiven Elemente [Pressemitteilungen], die als offizielle Stellungnahmen auf den UNESCOWebsites und als Pressetexte veröffentlicht sind, und zum anderen die Referenzpunkte der [UNESCO-Diplomaten] und [fuentes diplomaticas], welche als die Herausgebenden der Presseinformationen angegeben werden. Die [nationalen UNESCO-Kommissionen] als direkt durch die Nationen finanziertes [ORGAN] fungieren als Vermittler zwischen nationalen politischen Belangen und den Anliegen der [UNESCO]. Sie sprechen Empfehlungen aus, initiieren und setzen Maßnahmen um. Desweiteren sind sie in Kooperation mit den nationalen Regierungen in die Erstellung der [IKE-Inventarlisten] eingebunden. Parallel zum [Zwischenstaatlichen Komitee] steht im Bereich der betreffenden kulturellen Praktik die [Academia de Tango] in der Funktion als deren legitimierter Vertreter auf institutioneller Ebene. Sie unterhält eine Abteilung Welterbe [division patrimonio], welche konkret in die Antragstellung zum immateriellen Kulturerbe Tango eingebunden ist und ein solches [Antragsdokument] produziert hat. Das [Antragsdokument] auf materieller Ebene findet sich – parallel zum Konventionstext – auf der Ebene eines hohen immateriellen Grads mit den [Werten, Normen und Visionen] wieder und ist auf personeller Ebene an die Mitglieder und Kooperierenden der [Academia de Tango] sowie an die autorisierenden [Regierungen] gebunden. Weitere Akteure im Bereich der umsetzenden und vermittelnden Praktiken sind die vorschlagenden Staaten, the two [nominating states]: Argentine and Uruguay. Daneben stehen die beratenden und beobachtenden [Organisationen] und [NGOs], die [Spezialisten] und [Sachverständigen] in den das Kulturerbe betreffenden Bereichen (dazu zählen auch institutionalisierte Akteure wie [Universitäten] und [Akademien]) sowie die Vertreter der kulturellen Praktiken [Repräsentanten], die bei der Umsetzung grundsätzlich einbezogen werden. Offene Auseinandersetzungen innerhalb des institutionellen-administrativen Bereichs und institutionalisierten-öffentlichen Bereichs können im Verständnis eines konstitutiven Feldkampfs nicht benannt werden. Es waren Formen der Auseinandersetzungen um Legitimationen und um Strategien der Interessendurchsetzung als das Ausagieren von Legitimierungsmacht und der relationalen Machtverhältnisse (Weisungs-/Normierungsmacht) zu konstatieren. Zu diesen Auseinandersetzungen zählen die zu großen Teilen nicht öffentliche Diskussion um das Konzept immaterielles Kulturerbe, um Formulierungen der Konvention

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und Entscheidungen zu Anerkennungen im institutionellen-administrativen Bereich; desweiteren die Diskussionen um Funktion und Bedeutung des Konzepts im öffentlichen Bereich, die dort durch Akteure der [Medien], aber ebenso durch Agierende der Praktik Tango sowohl im öffentlichen-repräsentierenden Bereich als auch im privaten Bereich der kulturellen Praktik Tango generiert werden. Eine Gruppe versteht Bourdieu als eine Analysekategorie, um signifikante Zuschreibungen von Eigenschaften an mehrere Akteure sowie Auseinandersetzungen um Interessenlagen, Machtverhältnisse und legitimierte Autoritäten zu erfassen. Eine Gruppe entsteht, wenn bestimmte soziale oder biologische Dispositionen, Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungskategorien oder Personenstandsindikationen ein symbolisches Kapital erreichen, das die Gruppe zu anderen differenziert und von den Akteuren der Gruppe als auch von Nicht-GruppenZugehörigen erkannt und anerkannt wird. Der Prozess der Gruppenbildung bedeutet deren Lokalisierung und Formalisierung, impliziert zugleich eine repräsentative Funktion. Gruppen formieren sich im ‚Tango IKE‘ entsprechend den benannten Bereichen. Für den gering institutionalisierten Bereich umfasst die Gruppe aus [Volk/Bevölkerung] zugehörige Akteure. Als die [betreffenden Gruppen] der kulturellen Praktik bilden sie die [tango community]61. Darüber hinaus sind für diesen Bereich historische bzw. im Gegenwärtigen nicht mehr agierende Akteure und Elemente benannt, auf die sich in Dokumenten (historische Narrationen bzw. Ursprungserzählungen) in der Benennung der [verdaderos actores y creadores]62 bezogen wird. Diese Elemente stehen für den Charakter des Originären im nicht-institutionalisierten Bereich und differenzieren sich mit abnehmendem Grad der Materialität je nach Legitimierungsgrad in das [Populäre] und das [Authentische] bzw. das [Mythische]. Neben der personellen Bindung war auf materieller Ebene eine Zuordnung zu materiellen Elementen wie beispielsweise spezifische Räume, Texte, Instrumente und lokale Verortungen für diese Gruppe

61 Die [tango community] besteht aus [Musikern], [Tänzern], [Komponisten], [Lehrenden] und [Einwohnern] sowie die junge Generation [jovenes]. 62 Das sind auf personeller Ebene die Arbeiterklasse [the urban class] und die Mischung aus europäischen Immigranten, Sklaven und Kreolen [the mix of european imigrants, slaves and criollos], denen die kulturellen Praktiken [dance, music, poetry, singing] zugeordnet werden. Zu ihr gehören mit abnehmenden Grad personeller Bindung die ‚wahrhaftigen Protagonisten und Schöpfer‘ [verdaderos actores y creadores].

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nachzuweisen.63 Im öffentlichen Bereich bildet sich eine Gruppe aus Ausagierenden der vermittelnden Praktiken [Medien und Presse] sowie der umsetzenden Praktiken mit den korrespondierenden Organen. Im Bereich der hohen Institutionalisierung entsprechen die Gruppen institutionellen Akteuren bzw. Institutionen und sind lediglich gering oder nicht an personelle Akteure gebunden.64 Je höher die Anerkennung der Gruppe, desto höher die Tendenz zur Formalisierung der Gruppenstrukturen, verbunden mit einer Ausdifferenzierung und Festschreibung gruppenspezifischer Positionen und Zuschreibungen. Dieser Differenzierungsprozess konnte nachvollzogen werden.65 Der Legitimierungsprozess impliziert einen Prozess der Konstituierung und Formalisierung, indem sich zunächst eine im Bewusstsein der Akteure existierende Gruppe formiert, um dann den Status einer legitimierten Institution zu erreichen. Innerhalb des ‚Anerkennungsmechanismus‘ zum immateriellen Kulturerbe ist dieser Prozess der Konstituierung und Formalisierung in Form der historisierenden und institutionalisierenden Arbeit sowie dem Output an intendierten Narrationen seitens der [Academia de Tango] zu erkennen. An diesem Prozess sind die Akteure der Gruppe des öffentlichen Bereichs wie [Medien/Presse] sowie Akteure mit korrespondierendem Interesse beteiligt. Um sich im Rahmen der gegebenen Strukturverhältnisse zu positionieren, braucht die Gruppe Vertreter, die seitens der Akteure und seitens der NichtGruppen-Zugehörigen anerkannt sind. Die Anerkennung autorisiert sie zum Sprechen und Agieren im Interesse der Gruppe, sowohl im übergeordneten sozialen Raum als auch strukturintern. Dem Vertreter der Gruppe wird für die formalisierten und kodifizierten Interaktionen (handeln, sprechen, unterzeichnen

63 Zu diesen Elementen zählen beispielsweise Räume wie Tanzlokalitäten [milongas], [academias], [varietes], [Bordelle], [Cafes] und [patios] sowie lokale Verortungen wie spezifische [barrios], [calles], [esquinas]; Texte der [letras de tango] und in den [folletines de tango], Instrumente wie das [Bandoneon], [Violine], [Gitarre], [Piano]; lokale Verortungen wie die Städte [Buenos Aires] und [Montevideo] bzw. das Gebiet [Rio de la Plata], aber auch [Paris] als externe bzw. referentielle Verortung. 64 Einen Sonderfall statuiert die Diskussion um die Anerkennung des IKE-Status nach vorliegender Antragstellung, in der legitimierte personengebundene Diskurse und Argumentationslinien zu grundsätzlichen Entscheidungskriterien führen. Das verdeutlichen die Zitierungen im einleitenden Kapitel und im folgenden interpretierenden Kapitel, Abschnitt Veränderungen in gesellschaftlichen Strukturen und der kulturellen Praktiken zum Aushandlungscharakter der Antragssituation. 65 Vgl. den vorangegangenen Abschnitt zur objektiven Struktur, sowie umfassend in der konsistenten Beschreibung der Ergebnisse aus der Datenerhebung im Anhang.

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und repräsentieren) die gesamte symbolische Macht übertragen. Ein solcher autorisierter Akteur ist innerhalb des ‚Tango IKE‘ mit [Ferrer] bzw. seine Position als Vorsitzender der [Academia de Tango] und deren Funktion als vermittelnde und umsetzende Instanz. Eine Sonderfunktion der Vertreter nehmen die [Repräsentanten] ein. Sind individuelle Akteure als Repräsentanten signifikanter Elemente oder Typologisierungen benannt, so sind ihnen zugleich für sie stehende diskursive Konzepte zugeordnet. Solche Repräsentanten sind beispielsweise [Gardel] benannt als ein [nationaler Mythos] und [Piazzolla] gekennzeichnet als eine (musikalische) [Revolution im Tango]. Der autorisierte Akteur [Ferrer] steht für die Proklamation der [patria mítica]. Alle drei Repräsentanten sind als [Meilensteine] im Sinne von Wendepunkten in der Genese des Tangos benannt. Die Einsetzung als Repräsentant bzw. die Übertragung der symbolischen Macht geschieht über Einsetzungsriten: dem Vertreter wird vermittels diskursiver performativer Praktiken die Autorität zugesprochen und in seine Position mit den dazugehörigen Dispositionen eingewiesen. Ein solcher Einsetzungsritus ist der ‚Anerkennungsmechanismus‘, insbesondere der Moment der Anerkennung als immaterielles Kulturerbe. Die Initiierung umfasst sowohl die Legitimierung und Autorisierung der Proklamation, als auch die Einweisung und Verpflichtung in die legitimierten Stellungnahmen und Praktiken.66 Die erfassbaren Praktiken korrespondieren der gegebenen doxa und den strukturimpliziten Interessen. Die einzelnen Interessen sind zugleich an die jeweiligen Positionen gebunden und stehen in Abhängigkeit zum Grad der Formalisierung der Praktiken. Sie generieren sich in einem konditionierenden Prozess durch Strategien der Legitimierung, Autorisierung, Vermittlung und des Ausagierens. Für die einzelnen Akteure, für die institutionalisierten Akteure und für Gruppen als formalisierte Akteure sind entsprechend verschiedene – offensichtliche und latente – Interessenlagen zu konstatieren. Eine erste formale Interessenlage korrespondiert dem individuellen Interesse eines Akteurs. Als individuell agierende Akteure sind lediglich die der kulturellen Praktik im Bereich des nicht institutionalisierten und des gering institutionalisierten Bereichs erfasst. Ihr Interesse entspricht dem habituskonformen Ausagieren der kulturellen Praktiken. Eine zweite formale Interessenlage ergibt sich aus dem Delegieren des individuellen Interesses an die Gruppe. Damit ordnet

66 Im Anerkennungsmechanismus zum immateriellen Kulturerbe unterliegen die Stellungnahmen einem Prozess der Adaption der Diskurse, die legitimierten Praktiken bestehen in erster Linie in der Verpflichtung zu Maßnahmen, Auflagen und Berichten.

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sich der Agierende dem nun formalisierten Interesse einer, evtl. neu formierten Gruppe unter. Die Vertreter der Gruppe artikulieren die partikulären individuellen Interessen als ein verallgemeinertes gemeinsames und legitimiertes Interesse.67 Eine dritte Interessenlage ist kein Derivat eines delegierten individuellen Interesses, sondern generiert sich (relativ) autonom innerhalb der institutionellen Strukturen. Im ‚Tango IKE‘ entspricht ein solches institutionelles Interesse den legitimen [Grundsätzen], [Zielen] und [Auseinandersetzungen] der [UNESCOKonvention-IKE].68 Ein mit dem Moment der Antragstellung erst zu formulierendes diskursives Konzept sind die [Erwartungen]. Sie basieren auf spezifischen und legitimierten, wenn auch teilweise latenten Interessen sich formierender Gruppen. Die [Erwartungen] an die kulturelle Praktik Tango entsprechen (scheinbar) individuellen Interessen seitens der Gruppe der im Gegenwärtigen Tanzenden sowie (latenten) politisch-strategischen und sozio-ökonomischen Interessen seitens der Gruppe der institutionalisierten Akteure auf nationaler Ebene.69 Ein solches signifikantes

67 Für die kulturelle Praktik Tango muss die Frage danach, ob der individuelle Akteur sein Interesse aus einer eigenen Interessenlage heraus delegiert oder ob er deren Übernahme durch einen Vertreter im Nachhinein anerkennt und autorisiert, zurückgestellt werden. Ein solches Erkenntnisinteresse erfordert einen erweiterten Textkorpus bzw. eine Erweiterung durch qualitative Interviews vor Ort. 68 Das institutionelle Interesse differenziert sich in eine juristische/institutionelle Ebene mit der Vervollständigung und Entwicklung bisheriger Instrumente und dem Zusammenspiel von materiellem Erbe und Naturerbe als Interessen; in eine Ebene der internationalen Politik mit den Interessen der internationalen Zusammenarbeit, des interkulturellen Austauschs und des Dialogs sowie der Partizipation; in eine Ebene der Ideale/ideellen Konzepte mit den Interessen von Erhalt und Förderung von kultureller Vielfalt, von nachhaltiger Entwicklung und von Respekt und Austausch. 69 Die Erwartungen der Gruppe der im Gegenwärtigen Tanzenden beziehen sich vor allem auf die [Erfüllung sexueller Bedürfnisse], das [Versprechen von Leidenschaft, Sinnlichkeit und Intensität], aber auch auf soziale Aspekte der [Gesundheit], der [Kommunikation] und [Individualität]. Die Erwartungen der Gruppe der institutionalisierten Akteure – sie besteht in erster Linie aus [staatlichen Akteuren] wie beispielsweise die [antragstellenden Staaten], [Institutionen] und [Politiker] – beziehen sich auf die dem Konventionstext korrespondierenden Elemente [Bewusstsein] und [Aufmerksamkeit] sowie die verpflichtend und beabsichtigt zu realisierenden Maßnahmen und die sich daraus generierenden und erwarteten Entwicklungen. Sie entsprechen den latenten oder nur in analytischen und kritischen Stellungnahmen benannten Interessen. Sie fokussieren auf wirtschaftlicher Ebene die [Finanzierung der Umsetzung der Kon-

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Konzept [Erwartungen] ist in der ‚kulturellen Praktik Tango‘ im Vorfeld des ‚Anerkennungsmechanismus‘ nicht nachzuweisen. Kritische Indikationen in Bezug auf das an eine Gruppe übertragene individuelle Interesse sind vor allem mit den oppositionellen Positionen benannt. Sie besagen, dass das verallgemeinerte Gruppeninteresse sich mit zunehmendem Grad der Formalisierung und Kodifizierung von den partikulären Interessen der Akteure differenziert. Das entsprechende Interesse wird den institutionellen Strukturen bzw. den externen Themen des öffentlichen Bereichs untergeordnet und als ein allgemein deklariertes Interesse definiert.70 Sie sind in verschiedene thematische Bereiche der erfassten benannten und latenten Interessen unterschieden: Bereich der politisch-ideellen Ebene in Bezug auf den Konventionstext [Intention zur Schließung einer kulturpolitischen Lücke], im Bereich der politischen Ebene und verbundener Interessen das kritische Hinterfragen nach der [Repräsentativität für eine Nation, für einen Staat oder eine lokale Kultur] und nach der [Entscheidungsgewalt], desweiteren ein Bereich der externen Themen bzw. Interessen mit dem [Missbrauchsverdacht gegenüber dem Kulturerbestatus] in finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht.71 Aus den differenzierten Interessenlagen heraus lässt sich schlussfolgern, dass sich ausgehend vom ‚Anerkennungsmechanismus‘ ein neuartiger und den sich neu formierten Interessenlagen korrespondierender Mechanismus der Umsetzung der Konventionsinhalte bzw. der Realisierung des zugehörigen ‚Funktionsmechanismus‘ generiert. Dieser Mechanismus weist Differenzen zum Funktionsmechanismus der ‚kulturellen Praktik Tango‘ auf. Zum einen sind die legitimierten und vor allem legitimierenden institutionellen Strukturen im ‚Tango

ventionsinhalte], die Tourismusförderung und die Stärkung des Tangos als Wirtschaftsfaktor; damit verbunden [die verstärkte Präsenz in der Presse durch die internationale Anerkennung], auf politischer Ebene sein [Anteil am nationalen Kulturgut und an der nationalen Identität] sowie vorteilhafte Entwicklungen im Bereich [Außenpolitik/Internationale Zusammenarbeit]. 70 Für solche deklarierten verallgemeinerten Interessen sind die fünf Kriterien der Begründung der Anerkennung des IKE-Status zu benennen: [Universalität] im Sinne eines allgemeinen Interesses, [Originalität], [Identitätsstiftend/Distinktivität] als Teil der lokalen Kultur, [kultureller Dialog] und durchzuführende [Maßnahmen]. 71 Aus dem vorgeblichen allgemeinen Interesse sind mit dem Status IKE Funktionen abgeleitet: ihre [Funktion als Wirtschaftsfaktor] und ihre [Funktion in der Tourismusförderung], ebenso wie ihre Funktion als [Element der Kulturindustrie] und da vor allem das Generieren eines nutzbaren [Images] sowie der [Show-Charakter] und schließlich ihre Funktion innerhalb von [Therapieformen] und [Gesundheitsdiskursen] benannt.

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IKE‘ mit deren Interessenlagen, ideellen Werten, Zielen und Visionen sowie vermittelnden und umsetzenden Strategien nicht vorhanden. Zum anderen ist es vermittels der erfassten latenten Interessen offensichtlich, dass hoch bis gering institutionalisierte Instanzen auf internationaler, multilateraler und nationaler Ebene benannte Werte wie [Respekt], [Achtung], [Aufwertung], [Identität], [Gemeinsamkeiten], [Unterstützung] unter einem hohen Aufwand an Umsetzungsmaßnahmen und Investition von finanziellen Mitteln ein dem Konventionsanliegen externes strategisches Interesse realisieren. Diskursive Verhältnisse: sprachliche Habitusformen, sprachliche Macht und diskursive Strategien Das Deklarieren, das Vermitteln und das Durchsetzen von individuellen oder allgemeinen Interessen, von definierten Wahrheiten, Wissensbeständen und öffentlichen Meinungen seitens eines offiziellen Standpunkts oder autorisierter Akteure beruht auf diskursiven Praktiken und Strategien. Diese korrespondieren einem sprachlichen Habitus innerhalb der gegebenen Strukturverhältnisse. Die diskursiven Verhältnisse differenzieren sich in den signifikanten sprachlichen Habitus mit den Kennzeichnungen Sprachstil und Diskursinhalte, in die sprachliche Macht mit derem sprachlichen Kapital sowie in die diskursiven Strategien der Definierungs- und Limitierungsmechanismen. Das Generieren diskursiver Elemente (sprachliche Praktiken, verfasste Texte wie protokollierte Deklarationen, Reden und Interviews, ebenso wie Presseerzeugnisse und offizielle Schriftstücke sowie diskursive Strategien, etc.) in einer konkreten Situation korrespondiert der Position des Agierenden. Es basiert auf seiner dispositionellen sprachlichen Kompetenz. Diese umfasst den Sprachstil als die adäquate Art und Weise der Generierung diskursiver Elemente und die inkorporierten Zensurmechanismen als den Kontrollmechanismus für die adäquaten Inhalte der generierten diskursiven Elemente. Das Erfassen dieser diskursiven Verhältnisse lässt Rückschlüsse darauf zu, welche Akteure in welcher Art und Weise zu welchem Zeitpunkt mit welchem Interesse sprechen. Sie ermöglichen damit, spezifische sprachliche Habitusformen zu rekonstruieren. Für den ‚Tango IKE‘ war nachzuvollziehen, dass die spezifischen Habitusformen den Bereichen der administrativen, institutionalisierten und ausagierten kulturellen Praktiken entsprechen. Es waren zwei signifikante Sprachstile zu erkennen: zunächst ein mechanistischer Sprachstil, der sich durch technokratische

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und administrative Termini kennzeichnet 72 , dem gegenüber findet sich ein Sprachstil der belebten Wörter, welcher für [Kreativität] und [Lebendigkeit der Zukunft] steht. 73 Unabhängig von beiden Sprachstilen konnte ein Bereich der abstrakten Begriffe identifiziert werden, der die [ideellen und visionären Konzepte] sowie die [referentiellen Grundwerte] umfasst. In der Zuordnung der erfassten Termini wurde offensichtlich, dass die Dokumente des höchsten und hohen Institutionalisierungsbereichs einen hauptsächlich mechanistischen Sprachstil sowie einen sehr viel höheren Anteil an abstrakten Begriffen aufweisen, die Dokumente aus dem geringen Institutionalisierungsbereich hingegen einen stärkeren Anteil an belebten Wörtern verzeichnen. Einen Bruch in dieser Zweiteilung weist das [Antragsdokument] auf. Generiert ist es durch die [Academia de Tango] als die Institution, welche in der Funktion als legitimierter Vertreter der [tango community] agiert und welche zugleich die Antragstellung und Umsetzung der UNESCO-Konvention IKE maßgeblich trägt. Der funktionelle Sprachstil, der den [Konventionstext] charakterisiert, findet sich im [Antragsdokument] wieder. Die Analyse des Textlauts erweist jedoch einen höheren Anteil der weichen Begriffe. Diese beziehen sich auf die angestrebte [Kreativität] und [Lebendigkeit der zukünftigen Entwicklung].74 Richtet sich der Fokus auf die inhaltlichen Qualitäten der erfassten Termini, so zeigt sich eine starke Übereinstimmung zwischen [Konventionstext] und [Antragsdokument]. Die übereinstimmenden Qualitäten, die in beiden Textdokumenten erfasst werden konnten, entsprechen abstrakten Begriffen im Bereich der institutionalisierten Elemente. 75 Innerhalb der ‚kulturellen Praktik Tango‘ sind diese Qualitäten nicht zu finden, innerhalb der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ sind sie in Form des [Konventionstexts] benannt. Mit dem Vermittlungsprozess im öffentlichen Bereich des ‚Tango IKE‘ bilden sie eine neue inhaltliche Qualität.

72 Entsprechende Termini sind: [mecanismo]; [estrategia]; [allgemeine Politik]; [programas]; [equipo tecnico]; [registros]; [archivos]; [proyectos]; [financiamento]; [comunicacion]; [publicacion]; [difusion]; [la transmision intergeneracional]; [garantizar]; [asegurar]; [coordinar]; [elaborar]. 73 Entsprechende belebte Wörter sind: [crear]; [generar]; [revitalizar]; [promover]; [alentar] sowie [Lebendigkeit] und [Neubelebung]. 74 Vgl. detaillierter den erfassten Sprachstil am Beispiel der [umzusetzenden Maßnahmen] im Antragstext in den Ergebnissen der Datenerhebung im Anhang. 75 Erfasste Qualitäten sind [Originalität] und [Besonderheit], [Gemeinschaft], [Kooperation], [integrativ], [Offenheit und Austausch], [Transparenz], [Schutz und Bewahrung], [Dialog]. Betreffende Kodierungen sind in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang aufgelistet.

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Der Begriff sprachliche Macht bezeichnet eine symbolische Macht mit einem hohen Grad an Legitimierungsautorität. Sie realisiert vermittels diskursiver Praktiken spezifische Interessen. In dieser Funktion sind diskursive Praktiken ein konstitutiver Teil des Reproduktionsprozesses. Sie sind im ‚Tango IKE‘ in Form von intendierten Narrationen und Definitions- und Limitierungsstrategien zu finden. Diese diskursiven Praktiken und Strategien sind an ein legitimiertes sprachliches Kapital und eine sprachliche Kompetenz gebunden. Diese besteht darin, dass alle Akteure die impliziten Formalisierungen und Kodifizierungen der Sprache und des Sprechens inkorporiert haben. Der Begriff sprachliches Kapital verweist darüber hinaus auf die analytische Ebene zur Bestimmung einer diskursiven Situation. Diese umfasst die Dispositionen des Akteurs, die definierten und limitierten Zugänge zum offiziellen sprachlichen Markt, die herrschenden Strategien um das Definieren und Limitieren der diskursiven Praktiken, die Interessen der sprachlichen Macht. Ausgehend von den erfassbaren diskursiven Praktiken können die diskursiven Strategien benannt werden. Für sie sind in ihrer strukturkonstitutiven Funktion Kategorien der Generierung und Vermittlung von Diskursen zu unterscheiden. In besonderem Maße erweisen sich diskursive Konzepte, Formen der intendierten Narrationen und der Definitions- und Limitierungsstrategien von Relevanz. Eine erste Kategorie bilden die diskursiven Konzepte. Sie stehen für ordnende Differenzierungen der signifikanten Elemente. Auf funktioneller Ebene hierarchisieren sie die Elemente entsprechend ihrer Zuordnung zum symbolischen Kapital. In diesem Prozess benennen und kanonisieren sie die Elemente, um sie letztendlich als die legitimierten impliziten Wissensbestände zu vermitteln. In dieser Funktion sind sie konstitutiv für die Strukturverhältnisse, insbesondere für deren Reproduktion. Als diskursive Konzepte können für den Bereich der kulturellen Praktik Tango die signifikanten Elemente [Ursprung], [Mythen] und [Legenden] sowie weitere charakterisierende Elemente [lenguaje] bzw. [lunfardo], [el mundo compadrito], [bandoneon], [cabaret], [tango en Paris] bzw. [tango en el mundo], [escenario de Buenos Aires – la Ciudad], ebenso wie der [tango canción] als die [poética social] und die für die [poética metafísica] des Tangos stehenden [Tangotexte] benannt werden. Mit dem Anerkennungsprozess zum immateriellen Kulturerbe erweitern sich diese Konzepte um beispielsweise die durch Ferrer formulierte [Universalität] und [tangología], die durch Borges

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formulierte [Unendlichkeit] bzw. [Endlichkeit] sowie die dem IKE-Konzept korrespondierende [Authentizität] bzw. [lo auténtico].76/77 Eine daran anschließende Kategorie umfasst die Narrationen in Form von strukturinternen Erzählungen. Diese können dahingehend Erfindungen in der Funktion intendierter Narrationen sein, da sie auf tatsächliche Elemente in der Genese des Tangos bzw. auf tatsächliche Gegebenheiten oder Personen referieren, der reale Wahrheitsgehalt der Narrationen jedoch in keinem Moment hinterfragt wird. Sie sind Teil des Wissenskonzepts und deren anerkannter Wahrheitsgehalt ist der illusio implizit. Signifikante Narrationen sind die fundamentierenden Diskurskonzepte [Ursprungsmythos] und [Genese des Tango] sowie die charakterisierenden Diskurskonzepte [Männlichkeit] der Protagonisten des Tangos bzw. [papel de mujer] als das ambigue Frauenbild. Die Funktion einer solchen intendierten Narration hat beispielsweise der [lunfardo] als der originäre und spezifische sprachliche Habitus des Tangos inne. Eine Strategie besteht darin, einen sprachlichen Habitus aus dem unkontrollierten Bereich – im Sinne eines bourdieuschen illegitimen Sprachprodukts auf einem vom offiziellen herrschenden Standpunkt relativ entfernten sprachlichen Markt – in den formalisierten Bereich einzuführen und per Definition Zugriff im Sinne von Formalisierungs- und Legitimierungsrechten zu diesem zu sichern. Das geschieht durch die Praktiken Formalisierung und Kodifizierung, indem Formulierungen, Eigenheiten und spezifisches Vokabular des [lunfardo] gesammelt, erfasst und einem Wörterbuch gleich festgeschrieben werden. Darüber hinaus erfolgen die Erfassung und Festschreibung seiner Genese und soziokulturellen Indikationen als Teil der Offizialisierungsstrategie. Die diskursiven Konzepte des [Authentischen/lo auténtico] formieren signifikante Narrationen und funktionieren als Strategien der Definition. Durch sie wird das [Originäre] als Definitions- und Legitimierungskriterium eingesetzt. Das meint, dass über die einfachen Kennzeichnungen und Charakterisierungen hinaus den spezifischen Elementen das diskursive Konzept des [Originären] zugeordnet ist. So benennt das [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] als geogra-

76 In Bezug auf [Universalität] findet sich im Textkorpus die Reflexion darauf, warum der Tango so populär in der Welt ist, wenn er doch so singulär sei. Sie referiert auf die narrativen Elementen seiner [Essenz] aus [alegria y tristeza] sowie dem signifikanten [origen heterogenea y multitud humana]. Vgl. Matamoro: La Ciudad del Tango, S.96. 77 Die benannten Kategorien des als externes zu kennzeichnenden diskursiven Konzepts [lo auténtico/Authentizität] sind zum einen die Aspekte [Erfahrung], [Empathie] sowie [tänzerisches Wissen und Können]; zum anderen die ethnische Kategorie des [Ursprungsorts] der Herkunft der Tango-Akteure.

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phisch-soziale Kategorie signifikante Lokale, Orte und narrative Elemente und weist sich zugleich als ein authentischer Ort des Ausagierens der Tangopraktiken aus. Sie steht für die intendierte Narration der [patria mítica].78 Eng daran gebunden formuliert das diskursive Konzept [mundo compadrito] mit den zugehörigen [personajes típicos] ein narratives Konzept sozialer Hierarchien, von Identität und Geschlechterrollen. Zwei Differenzierungen werden signifikant: das ambigue [Frauenbild] und das [Männerbild] des [männlichen virilen Porteño].79 Ein diskursives Konzept, das einen Gegenpol zu den [personajes típicos], zum [escenario de Buenos Aires] und zur gesamten [mundo compadrito] bildet, ist der [gaucho]. Die Narration ist ebenso Teil der [Tangotexte] und damit der signifikanten [poética social] zugehörig. Ihre Funktion besteht darin, ein Außerhalb zu definieren. Der [gaucho] steht zwar für [patria mítica], befindet sich aber außerhalb der Zuordnung [lo originario] und des [urbano/porteño].80

78 Signifikant vor allem die Benennungen des [barrio] und des [arrabal] mit [calles], [patios], [cafe] und [esquina], in denen der [Karren] als narratives Konzept für den Arbeitsalltag, der [Dolch] als narratives Konzept für Kampf, Mut und Ehre sowie [naipes] als narratives Konzept für das Glücksspiel und Fortuna zu verorten sind. 79 Das ambigue Frauenbild benennt auf der einen Seite die Mutterrolle der sorgsamen, gefühlvollen Frau des heimischen Viertels mit dem narrativen Konzept [hogar], auf der anderen Seite die sinnliche Frau bzw. in deren Extrem die Prostituierte in ihren Eigenschaften der Verführung des Mannes mit dem narrativen Konzept [prostíbulo]. Steht das Mutterbild zugleich für die emotionale Seite des Mannes, seiner Herkunft, seiner Sehnsüchte, seiner Vergangenheit, so steht die sinnliche verführende Frau für das Prestige seiner Männlichkeit, die Prostituierte hingegen als Untermauerung seiner Sexualität. Das Männerbild zeichnet einen [männlichen virilen Porteño] als Bewohner der Stadt Buenos Aires, der sich entsprechend bewegt und verhält, in enger Bezogenheit auf sein heimisches Viertel. Das Männerbild [Männlichkeit/Virilität] benennt den porteño als [obligado ser macho]. Dies impliziert [männl. Bewegungsformen] sowie seine [Habitusform], denn [el tango es macho]. Die Typologie von [Virilität] benennt [Stärke], [Mut], [Furcht], [Respekt]. 80 Die Vermittlung latenter Interessen erfolgt zu großen Teilen mit intendierten Narrationen. Diese können beispielsweise an der Formierung des Konzepts [tanguero] in Abgrenzung zum Konzept [gaucho] nachvollzogen werden. Zur Veranschaulichung ein Zitat Garibaldis: „In 1923, the tango was danced in the presidential palace in Buenos Aires to honor the visiting Prince of Wales. Carlos Gardel, who performed at this event, wore gaucho garb, which reinforced the image of Argentina and the tango that the Europeans had shaped. This is important to note, as Gardel did not wear gaucho garb later in his career. As part of repatriation of the tango, Carlos Gardel and other

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Das diskursive Konzept [tango en el mundo] formuliert das Zusammenspiel der lokalen Extensionen der Tangopraktiken außerhalb des Ursprungsgebiets Rio de la Plata [dt./eur. Szene] und den durch die Welt tourenden [Tangoshows]. Die Kennzeichnungen des Tangos mit [Passion] als ein emotionales Kapital und dem [Exotismus/Autoexotisierung] als eine spezifische Funktion generieren diese Narration.81 Es gelingt in dieser Weise, die lokalen Extensionen an den ‚Tango IKE‘ anzubinden und entsprechende externe Interessen durchzusetzen. Durch diese Strategie findet die Genese des Tangos außerhalb des Ursprungsgebiets eine legitimierte Fortsetzung. Eine weitere Kategorie bilden die diskursiven Praktiken der Grenzziehung und der (Ent-)Autorisierung. Sie realisieren sich innerhalb des Formalisierungsprozesses durch definierende und kanonisierende Narrationen. Der Limitierungsmechanismus entspricht einer strukturinternen Zensur. Das meint die Konditionierung dessen, wer agiert (Autorisierung) sowie wann und wo der Autorisierte in welcher Art und Weise mit welcher Absicht (Kodifizierung und Formalisierung) agiert. Damit werden Form und Inhalt (Sprachstil und diskursive Inhalte) der diskursiven Praktiken (sprachlicher Habitus) bestimmt. Diese diskursive Strategie wird im ‚Tango IKE‘ mit der Legitimierungspraktik, bzw. mit der vorausgegangenen Definitionspraktik des Authentischen seitens der sprachlichen Macht sichtbar. Letztendlich pointiert sie sich in der Frage danach, ‚was ist Tango und wer darf Tango sein‘. Die Definition der Kategorie des Authentischen referiert auf ein originäres Konzept. Das [Originäre] formiert jedoch ein eigenständiges diskursives Konzept innerhalb der ‚kulturellen Praktik Tango‘. Damit erweist sich die Kategorie des Authentischen als ein externes, referentielles, diskursives Konzept im ‚Tango IKE‘ und steht für ein externes Interesse. In Bezug auf die inhaltlichen Qualitäten der Diskurselemente wird der Definitions- und Limitierungsmechanismus in der starken Übereinstimmung der diskursiven Konzepte des [Konventionstextes] und des [Antragsdokuments] und in den neu formierten Qualitäten [Kriterien der Anerkennung] ersichtlich. Die fünf Kriterien der Begründung der Statusverleihung sind Teil des ‚Anerkennungsmechanismus‘. Sie stehen im Moment der Anerkennung für das Aufeinandertreffen der zuvor (relativ) autonomen Strukturverhältnisse. Sie bilden die Verbindungs-

contemporary tangueros created a new, upper-class image for the tango, replacing the gaucho images.“ Garibaldi: El Tango Extranjero, S.45. 81 Die lokale Extension des Tangos in Europa weist mit dem [Tango en Paris] einen signifikanten Unterpunkt auf. Dieser steht sowohl für einen Meilenstein der Genese des Tango als Import/Export-Effekt, als auch für den Mythos Paris als Repräsentation des Traums eines Tangueros von Wohlstand, Klasse und Ferne.

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ebene, indem signifikante Positionen und Diskurse sowie Praktiken und Wissenskonzepte in Übereinstimmung gebracht werden.82 Aus dieser Konstellation der strukturkonstitutiven Elemente wird deutlich, dass die erfasste Ausrichtung der inhaltlichen und stilistischen Diskurselemente mit dem Moment der Formierung des ‚Tango IKE‘ an den diskursiven Verhältnisse der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ als eine diskursive Strategie der Adaptation erfolgt. Ihr kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie dem Grad und dem Ausagieren der sprachlichen Macht als ein ausagierender Moment der Machtpositionen innerhalb der neu formierten Strukturverhältnisse entspricht.83 Die diskursive Strategie der Kanonisierung als der umfassende Mechanismus benannter Strategien im Definitions- und Formalisierungsprozess für den Tango kristallisiert sich in besonderem Maße heraus. Durch die Systematisierung diskursiver Konzepte und vermittels intendierter Narrationen im Sinne einer Traditionsfestschreibung werden die benannten Limitierungs- und Autorisierungsmechanismen durch die sprachliche Macht realisiert. Die diskursiven Praktiken der Kanonisierung referieren auf das Diskurskonzept [lo originario], auf die intendierten Narrationen [lo auténtico], [lo propio del tango] und das Konzept der [Essenz]. Das umfassende diskursive Konzept [tangología] generiert sich im Laufe des Kanonisierungsprozesses. In Funktion einer intendierten Narration formuliert es reflektierte Stellungnahmen zur kulturellen Praktik Tango innerhalb der sich neu formierenden doxa und den impliziten Wissenskonzepten und Interessen. Mit den entsprechenden formalen Definitionen und Kanonisierungen

82 Zwei der Begründungskriterien entsprechen Kategorien der ‚kulturellen Praktik Tango‘ [Originalität/Identität] und drei der Kriterien referieren auf Elemente externer Diskurse [Universalität/Kultureller Dialog/Maßnahmen]. 83 Die Auswertung der Analysedaten hat folgende Grundkonstellation hinsichtlich dieser Strategie gezeigt: Der [Konventionstext] ist dem Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads und der administrativen Praktiken mit einer korrespondierenden hohen Legitimierungsmacht, das [Antragsdokument] dem Bereich eines geringeren Institutionalisierungsgrads und der umsetzenden/vermittelnden Praktiken zuzuordnen. Darüber hinaus richten sich die [Maßnahmen] auf eine kulturelle Praktik aus dem nichtinstitutionalisierten Bereich. Die Spezifizität der kulturellen Praktik ist in der [UNESCO-Konvention-IKE] nicht vorhanden. Ausgleichend werden durch den beschriebenen Formalisierungsprozess für den Tango Diskurse und Funktionsmechanismen an den Diskursformationen und Handlungsstrukturen der institutionalisierten Strukturverhältnisse ausgerichtet.

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wird sie als eine legitimierte Narration durch die entsprechenden Akteure vermittelt und durchgesetzt.84 Aufgrund der Zuordnungen der benannten diskursiven Konzepte als intendierte Narrationen wird geschlussfolgert, dass sie auf den [schriftlichen Referenzquellen] entstammenden, internen und externen Diskursen basieren. Das bedeutet, dass ihre formale Definition mit dem Anerkennungsprozess erst realisiert und der Indikation des Originären im privaten Bereich bzw. der Indikation des Authentischen im formalisierten öffentlichen Bereich der kulturellen Praktik Tango zugeordnet wurde. Die Strategie der Kanonisierung wird unterstützt durch die Strategie der Konstruktion von Gegenpositionen. In der Funktion definierender Praktiken und Limitierungsmechanismen werden den intendierten Narrationen diskursive Konzepte als (Gegen-)Pole gegenübergestellt. Dazu zählen die benannten Kennzeichnungen externer diskursiver Konzepte [Passion] und [Exotisierung] sowie benannte externe Interessen der [Vermarktung] und [Nationalisierung], ebenso wie benannte Elemente der strukturinternen Auseinandersetzungen, wie beispielsweise der [caso Piazzolla]. Als signifikanter Akteur dieser diskursiven Strategien wurde die [Academia de Tango] erfasst. Sie bildet das Bindeglied zwischen der kulturellen Praktik Tango, verortet im nicht-institutionalisierten Bereich, und dem institutionellen administrativen Funktionsmechanismus. Sie setzt den Definitions- und Limitierungsmechanismus um, indem sie die ‚kulturelle Praktik Tango‘ zunächst auf einer diskursiven Ebene mit den Diskursverhältnissen der ‚UNESCO-KonventionIKE‘ abgleicht und entsprechend der Strategie der Adaption transformiert. Sie führt zugleich die Prozesse der Reproduktion und Autorisierungen innerhalb sowie die Repräsentation und Vermittlung außerhalb des ‚Tango IKE‘ aus. Desweiteren realisiert sie die Definitions- und Limitierungsmechanismen durch die benannte Strategie der Kanonisierung: sie definiert den Tango als [tradicional y popular] und als [expresion mas profunda del lugar] entsprechend den impliziten Interessen. Mit der Etablierung der [Academia de Tango] konstituiert sich ein Akteur, der einerseits die Reproduktion des Homologen und die Abgrenzung zum Häretischen; andererseits die Vermittlung von Vertrautheit zu neuartigen Dispositionen, Wertungs- und Wahrnehmungskategorien sowie externen Themenbereichen aufgrund seiner legitimierten und autorisierten Position innerhalb der neu formierten Strukturverhältnisse ausagieren kann.

84 Vgl. zu den legitimierten Narrationen der Wissenskonzepte und impliziten Interessen in der konsistenten Beschreibung der Ergebnisse aus der Datenerhebung im Anhang.

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Spezifische Praktiken und das symbolische Kapital der Macht Die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse der Macht basiert auf dem Erfassen deren Positionen und Dispositionen, Interessen, spezifischen Praktiken und Funktionsmechanismen. Aus diesen Indikationen heraus definiert sich das korrespondierende symbolische Kapital. Ableitend von den Analysedaten wird davon ausgegangen, dass die erfassten distinktiven diskursiven Elemente einen neuen (Macht-)Pol für die Kämpfe um Anerkennung der Strukturelemente der ‚kulturellen Praktik Tango‘ bilden. Es wird weiterhin angenommen, dass diese distinktiven Elemente den ideologischen Kategorien der ‚UNESCO-KonventionIKE‘ entsprechen, die der kulturellen Praktik Tango gleichgesetzt bzw. anerkannt werden sollen. Sie formieren letztendlich das symbolische Kapital. Die Machtverhältnisse sind das Resultat der bestehenden Verhältnisse der Positionen zueinander in Verbindung mit den akkumulierten Kapitalarten. Einen ersten zentralen Bereich innerhalb der Machtverhältnisse bildet die [Institution UNESCO] mit den die Konvention betreffenden Organen und Dokumenten auf der institutionellen-administrativen Ebene. Insbesondere deren beschließendes Organ [Vollversammlung] und deren exekutives Organ [Zwischenstaatliches Komitee] als die Vermittlungsebene zu den umsetzenden Instanzen erweisen sich als signifikante Positionen. Es sind jene Positionen, die den höchsten Grad an Institutionalisierung innehaben. Sie agieren supranational, d.h. durch die Legitimierung ihrer Machtposition (diskursive Strategien) seitens einer Vielzahl an Staaten (Mitgliedschaft und Ratifizierungen). Für diese Machtposition ist der hohe Grad an Weisungsmacht (Erlassung internationaler Rechtsinstrumente), das jedoch geringe Kapital an Sanktionsmacht kennzeichnend. Auf struktureller Ebene einem symbolischen Bereich zugeordnet, ist sie in nur geringem Maße mit einer physischen Macht (beispielsweise die Instrumente Militär und Handel) verbunden. Entsprechend sind die Praktiken der Institution UNESCO bzw. der Konventionsorgane der administrativen, institutionell-formalisierten Ebene zugeordnet. Sie schließen diskursive Praktiken (Konventionen, Weisungen, Berichte) und symbolische Praktiken (Anerkennungsakte, Ratifizierungen, Listenerstellung) ein. Lediglich der Mitteltransfer des Fonds für die Umsetzung der Programme und Maßnahmen gehört der an materielle Elemente gebundenen Ebene zu. Die signifikanten Elemente dieser Machtposition sind die definierenden Begriffssetzungen und öffentlichen Manifestationen. Sie bilden ein konstitutives Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe. Dieses spezifische Konzept wird durch die Anerkennungsmechanismen seitens der Machtposition an die vermit-

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telnden und umsetzenden Positionen kommuniziert. Die Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ist innerhalb dieser Machtposition zu verorten und generiert das spezifische Wissenskonzept. Der Konventionstext besetzt sowohl in einem symbolischen Bereich, als auch als in der Praxis konstitutives Element eine signifikante Position. Sie weist eine hohe symbolische Macht dahingehend auf, dass sich an ihr Elemente anderer Bereiche in hohem und erfassbarem Maße ausrichten. Der Konventionstext ist zugleich legitimierte und vermittels Ratifikation anerkannte materiale Manifestation der Ideale, Visionen und Werte der Institution UNESCO durch die Vertragsstaaten. Zugleich ist er in die Interaktion zwischen Konventionsorganen und Agierenden der kulturellen Praktiken auf mittlerer institutioneller Ebene eingebunden. Er funktioniert als der zentrale Pol für das den ‚Funktionsmechanismus‘ generierende Agieren der Konventionsorgane. Einen zweiten zentralen Bereich innerhalb der Machtverhältnisse bilden die vermittelnden Positionen, verortet zwischen den institutionellen, administrativen Instanzen und den kulturellen Praktiken. Die zugehörigen Instanzen und Organe weisen einen mittleren Institutionalisierungsgrad auf. Sie agieren mit Praktiken der Vermittlung zwischen den Bereichen und sind für die Umsetzung von Konventionsinhalten verantwortlich. Zu ihnen zählen in der Funktion des Übergangs zum institutionellen-administrativen Bereich das [Zwischenstaatliche Komitee] bzw. die von ihm erklärten Anerkennungskriterien. Desweiteren sind die [vorschlagenden Staaten] bzw. die Verpflichtung tragenden Staaten und Instanzen [the communities and the authorities] auf administrativ-politischer Ebene Vermittelnde. Die [Academia de Tango] mit der Unterabteilung [división patrimonio] agiert als die vermittelnde Instanz zu den konkreten kulturellen Praktiken sowie die angeschlossenen [beratenden Instanzen], [Fachleute] und [Forschungsund Dokumentationsinstanzen]. Sie sind seitens der herrschenden Positionen dazu autorisiert, die Diskurspraktiken und administrativen Praktiken des institutionellen Bereichs in den Bereich der kulturellen Praktik zu vermitteln und in der Praxis zu etablieren. Die [Gruppe der Betreffenden] in der Praxis meint die Agierenden der kulturellen Praktiken. Sie bilden einen dritten zentralen Bereich innerhalb der Machtverhältnisse. Sie nehmen lediglich eine Referenzposition innerhalb der neu formierten Strukturverhältnisse ein: innerhalb der Diskursverhältnisse des Konzepts IKE handelt es sich bei diesen Agierenden um [the community or group con-

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cerned and community representatives].85 Darüber hinaus werden zu ihnen die zukünftigen Bewahrenden der kulturellen Praktiken [los jóvenes investigadores] gezählt. Sie bilden in Funktion autorisierter Referenzquellen den Übergang zum umsetzenden-vermittelnden Bereich. Der [Gruppe der Betreffenden] kommt im Rahmen der spezifischen diskursiven Konzepte der kulturellen Praktik Tango die Funktion als die [ursprünglichen und wahrhaftigen Agierenden] des Tangos [verdaderos creadores] zu. Die erfassten Machtverhältnisse weisen einen spezifischen ‚Funktionsmechanismus‘ auf, um in einer der symbolischen Macht korrespondierenden Art und Weise zu vermitteln und zu agieren: Diskurse werden interessenspezifisch definiert, Elemente legitimiert und Akteure autorisiert. 86 Der ‚Funktionsmechanismus‘ schließt die institutionellen Akteure wie die Ausagierenden der kulturellen Praktiken ein. Ihm sind Praktiken zugeordnet, um die interessengebundenen Strategien der einzelnen Positionen bzw. der verschiedenen Bereiche auszuagieren. Diese Praktiken differenzieren sich in die bereits mit der objektiven Struktur erfassten Bereiche des institutionalisierten-administrativen Vorgehens, der Umsetzung der Konventionsinhalte und des Ausagierens der kulturellen Praktik. Im institutionalisierten-administrativen Bereich realisiert sich der ‚Funktionsmechanismus‘ mit diskursiven administrativen Praktiken der Setzung, Legitimierung und Anerkennung, der Verpflichtungen und Rechenschaftspflicht bzw. dem Vorschlagswesen und der Zuarbeit. Zu den spezifischen Praktiken und Strategien im umsetzenden Bereich gehören die Praktiken der Offizialisierung und die offiziellen Manifestationen sowie das Formalisieren, Kodifizieren und Bürokratisieren von kulturellen Praktiken. Der Bereich des Ausagierens der kulturellen Praktik umfasst die Praktikenformen des Tangos (Tanz, Musik und Poetik); darüber hinaus die auf die neuen Themenbereiche und im Rahmen der Maßnahmen eingeforderten Aktivitäten bezogenen Praktiken des Dokumentierens, Archivierens, Beschreibens sowie Verbreitens.

85 Die [community] umfasst: [musicians], [professional and amateur dancers], [choreographers], [composers], [songwriters], [teachers of art and national living treasures], [the inhabitants of the Rio de la Plata region]. 86 Der symbolischen Macht korrespondierend meint das Vermitteln und Durchsetzen des spezifischen und offizialisierten Standpunkts der Machtpositionen in idealerweise allen erfassbaren Bereichen der Praxis. Dieser beinhaltet das spezifische Interesse und Habitus, die darin enthaltenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien, die doxa sowie die legitimierten Definitionen, Praktiken und Diskurse.

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Die herrschende Position (symbolische Macht) definiert und vermittelt sich als der offizielle Standpunkt in einem offiziellen Diskurs. Diese Praktiken weisen drei signifikante Momente auf. Das ist zunächst die Zuschreibung der Kategorien des offiziellen Standpunkts an die signifikanten Elemente sowie deren rückwirkende Anerkennung durch die institutionellen und individuellen Akteure. Das [Zwischenstaatliche Komitee] besetzt in Koordination mit weiteren Organen der Konvention IKE die zentrale Position für diese Definitions- und Legitimierungsakte. Die Praktiken des ‚Anerkennungsmechanismus‘ und des umfassenden ‚Funktionsmechanismus‘ zählen zu ihnen. Ersterer begrenzt sich auf die Interaktion zwischen den [vorschlagenden bzw. Antrag stellenden Staaten], dem bewilligenden [Zwischenstaatlichen Komitee] und den [beratenden Akteuren]. Zweiter Mechanismus basiert neben dem Anerkennungsprozess auf dem eingeforderten Programm der umzusetzenden Maßnahmen und Direktiven zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes.87 Die Vertragsstaaten stehen in der Verpflichtung, aktiv an der Konventionsumsetzung mitzuwirken, indem sie Vorschläge vermittels ihrer [Inventarlisten zum immateriellen Kulturerbe] einbringen und auf inhaltlicher Ebene durch [Spezialisten], [Sachverständige] und [Beratende] zuarbeiten. Auf internationaler Ebene obliegt der Institution UNESCO die Verpflichtung, die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes vermittels der Erstellung der [Repräsentativen Liste des IKE], [awareness and visibility] dessen zu gewährleisten, die [internationale Zusammenarbeit] und den [kulturellen Dialog] zu koordinieren.

87 Auf nationaler Ebene im hoch institutionalisierten Bereich schließt das die [Verpflichtung zur Umsetzung der Konventionsinhalte] durch die Mitgliedsstaaten der Konvention, das entsprechende [Berichtswesen] und Einzahlungen in den [Finanzierungsfonds] ein. Sowohl die [vorschlagenden Staaten] sind dem [Zwischenstaatlichen Komitee], als auch dieses selbst ist der [Vollversammlung] gegenüber rechenschaftspflichtig. Vorausgesetzt, dass die Staaten durch ihre Programme und Maßnahmen die kulturellen Praktiken in der Umsetzung derer lenken, mindestens aber beobachten können, entsteht so ein Berichtswesen ausgehend vom Bereich der kulturellen Praktik über eine Zwischenkontrolle des Zwischenstaatlichen Komitees hin zum institutionellen Bereich. In umgekehrter Richtung erfolgt die Auszahlung von Fondsgeldern zur Umsetzung der Programme und Maßnahmen. UNESCO und Vertragsstaaten kommen für die Fondsmittel auf, welche über die Bewilligung des Zwischenstaatlichen Komitees an die vorschlagenden Staaten ausgezahlt werden. Vgl. dazu die detaillierte Auflistung der Programminhalte und administrativen Handhabe in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang.

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Der zweite Moment umfasst die administrativen Direktiven. Die Institution [UNESCO] vereint in sich das höchste Maß an Autorität für die Definitions- und Legitimierungsakte. Sie entsprechen im Fall der Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes der Formulierung und Verabschiedung der entsprechenden Übereinkommen bzw. Konventionen [Konventionsetzen], denen die Mitgliedsstaaten beitreten [Ratifizierung] und der Entscheidung über gestellte Anträge [Anerkennungsakte]. Die Interaktion der ratifizierenden und der Antrag stellenden Staaten richtet sich an den durch die [UNESCO] definierten [operational directives of the convention] aus. Sie können als konstitutiv für den gesamten ‚Funktionsmechanismus‘ gekennzeichnet werden. Der dritte Moment bezieht sich auf die Vermittlung in den öffentlichen Bereich. Er überschneidet und vermittelt den Bereich des Institutionellen und den Bereich des Privaten. Als funktionelle Elemente diskursiver Praktiken stehen der mechanistische Sprachstil [technokratische und administrative Termini], der Sprachstil der belebten Wörter [Kreativität und Lebendigkeit der Zukunft], der Bereich der abstrakten Begriffe [ideelle visionäre Konzepte/referentielle Grundwerte] zur Verfügung. Dieser so genannte Bereich der Öffentlichkeit generiert durch offizialisierende Praktiken legitimierte Elemente und formuliert durch seine Diskurse eine soziale Wahrheit. Im konkreten Fall meint das die Legitimität der kulturellen Praktik Tango als ein immaterielles Kulturerbe der Menschheit, bzw. die Legitimität der Konventionsinhalte und der offiziellen oder latent implizit vermittelten Interessen. Die soziale Wahrheit als der vermittelte und ausagierte offizielle Standpunkt artikuliert sich durch offizielle Manifestationen.88/89

88 Diesem Bereich sind die institutionalisierten und privaten Medien, staatliche Akteure und Repräsentanten der verschiedenen Instanzen zuzuordnen. Die Öffentlichkeit umfasst diskursvermittelnde Akteure [Politiker, Repräsentanten, Journalisten] und Objekte [Pressetexte, Medien] sowie diskursgenerierende Akteure wie [Journalisten] und [Presseagenturen] in Nachrichtenmedien (Tageszeitungen online, News-Blogs), in Fachzeitschriften und in Online-Magazinen; [private Personen] kommen in privaten Medien (Themen-Blogs) und in Kommentaren zu Wort. 89 Als offizielle Manifestationen sind zu nennen: die [Konvention] in ihrer rezipierbaren Dokumentenform, die durch die Pressemedien erfahrbaren [Sitzungen der VV], der durch die UNESCO proklamierte [Tag des IKE] sowie [Veranstaltungen] und [Fachkonferenzen] zum IKE, desweiteren das im öffentlichen Bereich erfahrbare [Marketing] in Bezug auf anerkannte kulturelle Praktiken mit entsprechender [Presse] und dem [öffentlichen Charakter] der Maßnahmenumsetzungen, wozu ebenso [Einweihungen] und [Festlichkeiten] gehören.

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Dem Interesse des offiziellen Standpunkts entspricht, im Rahmen des ‚Funktionsmechanismus‘ die Konventionsinhalte umzusetzen. Hierfür werden durch das Umsetzen der Maßnahmen kulturelle Praktiken formalisiert, kodifiziert und bürokratisiert. Die [Academia de Tango] als durch den argentinischen [Staat] autorisiertes und durch die Institution [UNESCO] als ein solches anerkanntes Organ nimmt die Position des umsetzenden und zuarbeitenden Vermittlers auf nationaler Ebene ein.90 Sie funktioniert als das Bindeglied zwischen der kulturellen Praktik Tango im nicht-institutionalisierten Bereich und dem ‚Funktionsmechanismus‘ des institutionellen-administrativen Bereichs. Ihre Praktiken umfassen in Bezug auf die Strategie der Formalisierung, Kodifizierung und Bürokratisierung die [Forschung], die [Archivierung] und [Ausbildung] sowie [Verbreitung] der als immaterielles Kulturerbe anerkannten kulturellen Praktik. Darüber hinaus ist die [Academia de Tango] einerseits nationalen staatlichen Institutionen unterstellt, und hierin [rechenschaftspflichtig]; andererseits bindet sie [Vertreter] der kulturellen Praktik im Sinne einer spezialisierten [Zuarbeit] in ihre Arbeit ein.91 Mit der Reproduktion der Machtverhältnisse legitimiert und institutionalisiert sich der offizielle Standpunkt, indem er in Form von Gesetzen und Rechten festgeschrieben wird. Die Grenze zwischen innerhalb und außerhalb der Strukturverhältnisse wird nicht nur durch Effekte auf praktischer Ebene erfassbar, sondern durch juristische Festschreibungen definiert. Sie entsprechen einer Kodifizierung und Verallgemeinerung von herrschenden Kräfteverhältnissen. Dementsprechend inhärent sind der Gesetzgebung die herrschende doxa und die – deklarierten und latenten – Interessen seitens der Gesetzesmacht. Rechte sind als definierte Eigenschaften bestimmt, die den einzelnen Positionen zugeschrieben werden. Sie werden den Akteuren als Teil ihrer Dispositionen zu eigen, wenn sie die entsprechende Position innehaben. Der symbolischen Macht obliegt es, die Gesetzgebung und offiziellen Rechte durch die benannten Strategien durchzusetzen. Im ‚Tango IKE‘ wird eine Zweiteilung in Bezug auf die geltenden Rechte der einzelnen Positionen und die durch die Gesetzgebung autorisierten Praktiken erkennbar. Den Organen der Konvention, in erster Linie die [Vollversammlung]

90 Vgl. zu den Aufgaben, Strukturen und Aktivitäten http://www.anacdeltango.org.ar/ 91 Detaillierter wurden relevante Praktiken dieser Strategie im vorangehenden Abschnitt zu den diskursiven Verhältnissen ausgeführt. Die inhaltliche Zuarbeit realisiert sich durch kompetente Spezialisten und Vertreter: Sachverständige und beratende Organisationen arbeiten mit dem Zwischenstaatlichen Komitee zusammen, Vertreter der betreffenden Gruppen sowie der wissenschaftlichen Einrichtungen (Forschungsstellen und Akademien) beraten die vorschlagenden Staaten.

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und das [Zwischenstaatliche Komitee], korrespondieren die Gesetzgebung (Konventionssetzung), das Ausüben der symbolischen Macht durch Praktiken der (De-)Legitimierung und (Ent-)Autorisierung auf institutioneller Ebene sowie das Einfordern der Gesetzesinhalte (Umsetzung der Konventionsinhalte). Im Rahmen der Gesetzgebung wird die [Konvention] als Norm gesetzt und umfasst die [ideellen Fundamente und Visionen], die [Maßgabe an Zielen] sowie die [korrespondierenden Verpflichtungen] ihrer Realisierung. In den beiden durch den ‚Funktionsmechanismus‘ kontrollierten Bereichen der Öffentlichkeit und der kulturellen Praktik Tango finden sich Positionen, die zu differenzierten Rechten autorisiert sind: das Vorschlagsrecht, das den Umsetzungsprozess des Konventionsanliegens initiiert; das Recht auf kritische Stellungnahmen in Bezug auf den offiziellen Standpunkt (Konventionsinhalte), auf die Umsetzungsmaßgaben (implizite Interessen) und auf die Legitimierungsstrategien (Machtverhältnisse); sowie das Recht auf das Ausagieren der Konventionsmaßgaben (Autorisierung). Darüber hinaus ermöglicht diese Zuschreibung von Rechten die Option für das Delegitimieren des Konventionsanliegens als auch des gesamten Funktionsmechanismus.92 Aus diesem Zusammenhang heraus wird geschlussfolgert, dass sich die Machtverhältnisse des ‚Tango IKE‘ im ‚Funktionsmechanismus‘, bzw. im Ausagieren des offiziellen Standpunkts auf Basis der Gesetzgebung widerspiegeln. Der ‚Funktionsmechanismus‘ umfasst die durch die Gesetzgebung autorisierten Rechte der Setzung, Legitimierung, Anerkennung, Verpflichtungen und Rechenschaftspflicht bzw. Vorschlagswesen und Zuarbeit in Form institutionalisierter, administrativer und umsetzender Praktiken. Eine Legitimierung dieser Praktiken durch die Gesetzgebung (Konventionssetzung) und damit eine Einsetzung als ‚Funktionsmechanismus‘ erfolgt erst durch die Ratifizierung der Konvention, welche die entsprechende symbolische Macht verleiht. Damit bestehen zum einen für die Vertragsstaaten Verpflichtungen zu administrativen Maßnahmen der Umsetzung der Konventionsinhalte, zum anderen für die UNESCO-Organe Verpflichtungen zur Kontrolle und Koordination. Im Bereich der kulturellen Praktiken – dem bisher unkontrollierten Bereich – bedeutet dieser ‚Funktionsmecha-

92 In Bezug auf die benannten Rechte finden sich zunächst initiative Impulse zur Konventionssetzung, welche aus dem Bereich der kulturellen Praktiken kommen aufgrund deren tatsächlicher Bedrohung, bzw. aus dem Bereich der vermittelnden Praktiken, welche dies wahrnehmen und in den administrativen-institutionellen Bereich kommunizieren. Darüber hinaus kann aus diesen beiden Bereichen eine kritische Diskussion um bestehende Konventionen und Rechtsmittel der UNESCO im Hinblick auf das Konzept Kulturerbe initiiert werden.

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nismus‘ eine Einbindung in die administrativen Maßnahmen, da Dispositionen wie Räume, Orte, Zeiten und Akteure der Tangopraktiken in korrespondierender Weise beobachtet, bewertet und beeinflusst werden. Die Machtverhältnisse stellen eine abstrahierte Struktur des symbolischen Kapitals spezifischer Strukturverhältnisse dar. Das symbolische Kapital entspricht einer abstrahierten Größe der Relationen und Wertigkeiten der erfassten in der Praxis ausagierten Kapitalformen. Es repräsentiert auf einer abstrakten analytischen Ebene die Strukturverhältnisse und gibt an, welche Positionen und Relationen welches Maß an Autorität der Definitions- und Limitierungsmechanismen besitzen. Im Vergleich der Analysemomente ‚kulturelle Praktik Tango‘ und ‚Tango IKE‘ waren Differenzen zu konstatieren: auf Ebene der Praxis sind das die erfassten Funktionsmechanismen und Arten der Praktiken, auf struktureller Ebene die rekonstruierten Bereiche und Ordnungsvektoren. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich zwei unterschiedliche symbolische Kapitalformen generiert haben. Die Zuordnungen für das spezifische symbolische Kapital für die kulturelle Praktik Tango entsprechen dem Konzept der [Originarität] und differenzieren in die als spezifische Wissensbestände zu kennzeichnenden Konzepte [tangología], [escenario de Buenos Aires], [mundo compadrito]. Dem immateriellen Kulturerbe Tango korrespondieren als Zuordnung für das spezifische symbolische Kapital die [Kriterien der Anerkennung]. Diese umfassen die zwei der kulturellen Praktik entsprechenden Qualitäten [Originalität] und [Identität], sowie die drei auf Elemente externer Diskurse referierenden Qualitäten [Universalität], [kultureller Dialog] und [Maßnahmen]. Sie entsprechen den als spezifische Wissensbestände zu kennzeichnenden Konzepten [Immaterielles] und [Authentizität]. Mit dieser Differenzierung begründet sich die zu Beginn der interpretativen Analytik stehende Zuordnung des Bereichs der kulturellen Praktik Tango vor und nach seiner Anerkennung des IKE-Status innerhalb der Machtverhältnisse an zwei unterschiedlichen Positionen. Das bedeutet, dass die kulturelle Praktik Tango die benannten Qualitäten des legitimierten symbolischen Kapitals des ‚Tango IKE‘ strukturimmanent zunächst nicht aufweist. Sie korrespondiert diesen Kategorien erst, indem durch die oben benannten diskursiven Strategien der Zuschreibung und Vermittlung entsprechende Qualitäten zugeordnet werden können. Der ausschlaggebende Akteur für diesen Vermittlungsprozess zwischen beiden Strukturverhältnissen ist die [Academia de Tango].

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Wissensbestände des Tango als immaterielles Kulturerbe Wissen ist ausgehend von Bourdieus Theoremen in der Praxis verankert. Wissensbestände sind zugleich konstitutiv für den Funktionsmechanismus. Auf der Ebene der Praxis finden sich konstituierende Elemente für Wissensbestände als auch die durch die Wissensbestände konstituierten Elemente. Die signifikanten Kategorien sind ihre Gebundenheit an Körperlichkeit, deren Ausagieren durch Praktiken (insbesondere die Bewegungen und die Diskurse als je spezifische Praktiken), die Dispositionen der Zeitlichkeit und Räumlichkeit sowie ihre Position innerhalb der Machtverhältnisse. Wissensbestände können als ein faktisches Wissen benennbar und den Akteuren (relativ) bewusst sein. Zum überwiegenden Teil sind sie jedoch den Strukturverhältnissen in Funktion inkorporierter Dispositionen den Akteuren implizit und konstitutiv für die Genese und Reproduktion derselben. Mit dem fortlaufenden Prozess der Inkorporierung und Realisierung der strukturspezifischen Dispositionen, Codes und Formalisierungen in Form des Habitus generiert sich das kulturell Unbewußte als ein nicht-bewusster Wissensbestand. Das kulturell Unbewußte bewahrt und gibt diesen Wissensbestand von Generation zu Generation weiter. Aus ihm heraus können sich konkrete Praktiken und bewusste Wissensbestände realisieren. Das kulturell Unbewußte findet sich in drei Modalitäten wieder: der Habitus als das Erzeugungsprinzip von Praktiken sowie die hexis als dauerhaft einverleibte Körperhaltungen und Körperschemata; die Materialität der Dinge mit ihren Eigenschaften; das dispositionelle kulturelle Kapital. Durch diese Modalitäten des kulturell Unbewußten generieren sich spezifische Wissenskonzepte. Für die drei Analysemomente sind das die ‚Tangologie‘ der kulturellen Praktik Tango, das ‚immaterielle Kulturerbe‘ für die UNESCO-Konvention IKE und der ‚Tango IKE‘ für den Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe. Auf Basis der Analysedaten können diese Modalitäten für die kulturelle Praktik Tango beschrieben werden. Der spezifische Habitus im Bereich der existentiellen Bedingungen und des individuellen Erlebens [el modo del porteño] ist charakterisiert mit den lebensweltlichen Elementen [lenguaje] und [vida social – la realidad social]. Der spezifische Habitus für die Tangopraktiken [el modo del tanguero] ist charakterisiert mit den konstitutiven Elementen der [mundo compadrito], den narrativen Elementen des [tango como tema del tango]. Hinzu kommen die spezifischen Elemente [pista de baile], [letras de tango] und [lunfardo]. Sie haben ebenso Anteil an der signifikanten hexis der Agierenden der Tangopraktiken. Auffällig wurde das getrennte Erfassen der Elemente in zwei

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Bereichen: der Bereich des Privaten im Sinne eines ‚Außerhalb‘ der institutionalisierten Strukturen des kontrollierten Bereichs und der den Wissenskonzepten der kulturellen Praktik Tango zugeordnete Bereich. So verortet sich beispielsweise das Element [lenguaje] zunächst im Bereich des Privaten und spezifiziert sich als [lunfardo] im Bereich der Wissenskonzepte. Die Materialität der Dinge bezieht sich auf den Bereich der faktischen Elemente, die konkret an die kulturelle Praktik Tango gebunden sind. Diese umfassen Akteure, Praktiken, Objekte und weitere Szenarien. Die Akteure sind die Ausagierenden der kulturellen Praktik Tango und spezifizieren sich als [Tanzende]93, [Musiker]94, [Dichter]95, [Sänger]96 sowie ein hörendes Publikum [Hörende]. Sie realisieren durch ihren spezifischen Habitus und ihrer spezifischen hexis die Praktikenformen des Tangos97. Sie vermitteln zugleich die spezifischen Wissensbestände mit der Materialität der Elemente weiter. Den signifikanten Praktiken zuzuordnen waren die Lokalitäten [pista de baile]98 und die mit der Tangomusik verbundenen [Instrumente]99. Ein besonderer Fokus kristallisiert sich für das [Bandoneon] heraus. Das kulturelle Kapital steht für einen inkorporierten, potentiellen, spezifischen und symbolischen Wert. Es ist abhängig von seiner Legitimierung seitens der Definitionsmacht. Es formiert sich als Disposition inkorporierter Wissensbestände einer spezifischen Position. Zu diesen Elementen zählen das [escenario de Buenos Aires – la Ciudad], die [Bevölkerung/Volk], [pista de baile] sowie die

93 Im Detail sind benannt: Kleinbürgertum; bessere Gesellschaft (feine Damen/niño bien); Mittelschicht (Werktätige und Studenten); compadritos mit Mädchen; Miettänzerinnen, Tanzdamen; Anwälte, Richter, Künstler; Autoren, Musiker, Komponisten; conflinfleros, Prostituierte. 94 Im Detail sind [Musiker] und [Orquester] der verschiedenen Genres und signifikanten Kategorien benannt: instrumentistas; compositores; MusikerInnen; Guardia Vieja; Orquestras Típica; Piazzolla; Avantgarde. 95 Es sind [Dichter] verschiedener Epochen benannt: 20er (llorón); 30er (típico); 40er (social); Ferrer (lírico); 70/90er (nuevo) sowie eine Vielzahl an weiteren Autoren. 96 Im Detail sind benannt: Gardel, Goyeneche, Sosa, Rovira, sowie eine Vielzahl an weiteren Sänger- und Sängerinnennamen. 97 Diese umfassen [Tangotanz], [Tangomusik] und [letras de tango] als die Poesie und Lyrik des Tango sowie als gesungener Tango Canción. 98 Für [pista de baile] sind benannt: Tanz-Salon; Tanz-Cafe am Wochenende; TanzLokale wie ‚lo de Hansen‘ und ‚Maria laVasca‘; Cabaret; Academías und Burdeles. 99 Im Detail sind für [Instrumente] benannt: Violine, Guitarre, Flöte; Oganito; Piano, Kontrabass, (Harfe); Besetzung Orquestra Típica, Bandoneon.

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Ausagierenden der kulturellen Praktik in ihrer Spezifizierung als [Tanzende], [Musiker], [Dichter], [Sänger] und die [personajes típicos]. Sie bilden die [mundo compadrito].100 Die [schriftlichen Referenzquellen] sind generiert durch und generieren zugleich in der Funktion der Definitionsmacht. Sie benennen und legitimieren die internen Diskurselemente aus der Entwicklung des Tangos und die externen Diskurselemente in einem Schreiben über Tango. Es generiert sich daraus das ‚Wissenskonzept Tangologie‘ für ein benennbares inkorporiertes kulturelles Kapital für die kulturelle Praktik Tango. Die ‚Tangologie‘, verstanden als das Umfassende der Grundaxiome der kulturellen Praktik Tango, entspricht in der Konsequenz einem durch diskursive Praktiken (intendierte Narrationen) und durch ausagierte Tangopraktiken (Tanz, Poetik und Musik) generierten Tangowissen als ein praktisches Wissen. Die einzelnen Aspekte in Funktion konstituierender Elemente generieren sich aus den erfassten Bereichen. Sie sind in Hinsicht auf ihre Referenzquellen und auf ihre Verweildauer als Teil der Strukturverhältnisse zu differenzieren. Es sind im großen Umfang die den ausagierten Praktiken impliziten und den Akteuren inkorporierten Wissensbestände. Hinzu kommen die von internen Akteuren, aus einer reflektierenden Position heraus generierten diskursiven Konzepte. Mit der fortschreitenden Genese der kulturellen Praktik, insbesondere ab dem Beginn des Anerkennungsprozesses sind zunehmend Themenbereiche und diskursive Konzepte externer Akteure zu konstatieren.101/102

100 Entsprechende [Orte] sind: arrabal; esquinas; orillas; corales; lupinares/quilombo; entsprechende [personajes típicos] sind: compadre/malevo; pupta/pupila; milenita/ madame; gíl/compadre; conflinflero/cafisho; Tanzdame; niño bien. 101 Dieses Tangowissen umfasst die Einzelaspekte: mit einem hohen Grad an symbolischem Wert das rekonstruierte Diskurskonzept [metafísica tanguera]; die thematischen Bereiche und diskursiven Konzepte [Ursprungsmythos], [Genese des Tango]; [lo originario], [alma porteña], [lo propio del tango], [Essenz], [Befindlichkeit] bzw. [modo de ser porteño]; die oppositionellen Diskurskonzepte [no es], [lo auténtico] bzw. [argentinidad des Tango], die [Erwartungen]; die im hohen Grad reflektierenden Konzepte der [Tanztechniken] und [Tanzkategorien]. Vgl. dazu ausführlich in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang. 102 Die den Tangopraktiken impliziten Wissensbestände sind den ausagierenden Akteuren auf Ebene der Praxis zuzuordnen. Die internen durch reflektierende Akteure generierten diskursiven Konzepte entstammen dem öffentlichen Bereich dahingehend, dass sie für eine öffentliche und legitimierende Rezeption generiert sind. Sie sind als Teil der kulturellen Praktik Tango anzuerkennen, entsprechen nicht dem Ausagieren der Praktik selbst, sondern einer distanzierenden oder aber identifizierenden Refle-

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Interessant in Bezug auf dieses Konzept des inkorporierten kulturellen Kapitals ‚Tangologie‘ und den entsprechenden naturalisierten Werten und Wissensbeständen ist deren Nichtbenennung – gekennzeichnet als [fehlende Charakterisierung des Tango] – in Form einer formalen Beschreibung oder der Skizzierung der Entstehung und der Verbreitung der kulturellen Praktik im argentinischen Textmaterial. Eine mögliche Interpretation geht dahin, dass diese Themenbereiche bereits als Teil des Wissens naturalisiert sind und deshalb keine spezifische Nennung erfolgt. Diese Argumentation stützt die Begründung des Tangowissens als ein praktisches Wissen. Für den ‚Funktionsmechanismus‘ der UNESCO-Konvention-IKE können ausgehend von den Analysedaten benannte Modalitäten gleichermaßen zugeordnet werden. Sie bilden ein Wissenskonzept des inkorporierten kulturellen Kapitals als immaterielles Kulturerbe. Die fehlende Personen- bzw. Körpergebundenheit ist signifikant. Das Wissenskonzept generiert sich aus fünf Themenkomplexen. Der Modalität der Materialisierung korrespondieren die Themenkomplexe ‚Konventionstext zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes‘ und ‚den strukturellen Mechanismen zugehörige Instanzen und Administrationen‘. Der Modalität habituskonstituierend korrespondieren die durch den Konventionstext vermittelten Themenkomplexe ‚Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe an kulturelle Praktiken‘ und ‚die verpflichtenden Maßnahmen und umzusetzenden Programme und Projekte‘. Sie stehen für entsprechende Wertekategorien des Wahrnehmens, Agierens und Urteilens sowie für die illusio durch die ‚mit der Konvention und der Antragstellung verbundenen Ziele/Ideale/Visionen‘. Der Konventionstext korrespondiert der diachronen Entwicklung des Konzepts Kulturerbe und dessen Materialisierung. Er impliziert die grundlegenden und signifikanten Referenzen, Kategorien und Indikationen dessen Genese. Diese werden mit dem Ausformulieren der Konvention aufgenommen, erweitert und spezifiziert. Basis ist die kontinuierliche Diskussion und Kritik der bestehenden Instrumente des Funktionsmechanismus der Institution UNESCO durch die

xion – unterstellt mit einem künstlerischen, literarischen, historischen oder politischökonomischen Interesse. Die durch externe Positionen generierten Themenbereiche und diskursiven Konzepte sind nicht konstitutiv der kulturellen Praktik und formieren die Randbereiche der Strukturverhältnisse. Ein konstitutives Einbinden in das Ausagieren der kulturellen Praktik könnte mit einer zeitlich späteren Analyse nachgewiesen werden. Die detaillierte Aufschlüsselung der Wissensbestände, Themenbereiche und diskursiven Konzepte finden sich im Abschnitt zu den spezifischen diskursiven Verhältnissen in diesem Kapitel.

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Agierenden.103 Die folgenden Indikationen kennzeichnen die Art und Inhalte korrespondierender Wissensbestände. Der Konventionstext weist Indikationen inkorporierter Wissensbestände in Form spezifischer Qualitäten auf. Sie korrespondieren den zu kommunizierenden Interessen und Werten, die im Interesse der Konventionsorgane stehen, vermittels ihrer Strategien kommuniziert zu werden. Diese erfassten Interessen und Werte bilden Sinngruppen: Kontinuität und Transparenz, Ausgewogenheit, frei und unabhängig; Kompetenz, weitreichend und Offenheit; Kooperation und Gemeinschaft, integrativ, Partizipation; Allgemeininteresse, Legitimität und Rechtsstaatlichkeit; Schutz und Bewahrung, Respekt und Dialog; Originalität und Besonderheit, Identität bzw. Authentisches. In der Einordnung der Qualitäten in die objektive Struktur werden Oppositionen erkennbar. Sie stehen für signifikante Argumentationsstränge und bilden Pole innerhalb der kontrollierten und unkontrollierten Bereiche. Der Pol des kontrollierten Bereichs umfasst die Qualitäten für die Anwendung eines internationalen Rechtsmittels: Rechtsstaatlichkeit und Legitimität (entsprechend die Kriterienkongruenz); Schutz, Bewahrung und Identität/Diversität; das allgemeine Interesse und Partizipation; Respekt. Demgegenüber stehen die Qualitäten eines unkontrollierten bzw. nicht institutionalisierten oder nicht-legitimierten Bereichs: fehlendes wirksames und ausreichendes Rechtsmittel; gesellschaftlicher Wandel und Globalisierungseffekte; Verlust und Zerstörung; Individualität und Besonderheit; Intoleranz. Die Institution der UNESCO mit den die Konvention betreffenden Organen, Dokumenten und strukturellen Mechanismen steht für eine weitere Materialisierung inkorporierter Wissensbestände auf administrativ-institutioneller Ebene. Durch diskursive Praktiken werden materielle Elemente wie der Konventionstext, Weisungen, Berichte und Forschungsergebnisse produziert. Die vermittelnden Instanzen bilden eine weitere solche Materialisierung. Sie decken die Praktiken der insbesondere medialen Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Bereichen ab, und sehen sich für die Umsetzung von Konventionsinhalten, vor al-

103 Die Analysedaten weisen eine Referenzlinie auf, in der jedes Diskurselement auf das vorhergehende bezogen wird und die ihren Ausgangspunkt in der Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat. Letztgenannte stellt die Wertegrundlage dar, die mit jedem weiteren Diskurselement spezifiziert und neu interpretiert wird. Drei Begründungen sind im Textkorpus für eine kritische Diskussion zu finden: die Notwendigkeit für ein multilaterales Instrument, neue Definitionen und Bestimmungen sowie die besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer. Vgl. dazu ausführlicher in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang.

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lem in Form der konkreten Realisierungen in der Praxis verantwortlich. Die Gruppe der Betreffenden als die Agierenden der kulturellen Praktiken in der Praxis, sind ebenso als eine Materialisierung bzw. Personalisierung zu benennen, wenngleich sie auf der erfassten strukturellen Ebene lediglich eine Referenzposition einnehmen.104 Der Moment der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe an kulturelle Praktiken und die korrespondierende Strategie in der Funktion der Umsetzung der Konventionssetzung sind ein habituskonstituierendes Element. Es impliziert Indikation für das Agieren im Sinne des ‚Funktionsmechanismus‘ bzw. die korrespondierenden administrativen Praktiken. Eine solche Indikation sind die mit dem Konventionstext vermittelten allgemeinen Anerkennungskriterien und die eingeforderte Kriterienkongruenz. Diese entsprechen den Begriffsbestimmungen in Form des deklarierten offiziellen Standpunkts und der legitimierten Manifestationen des immateriellen Kulturerbes. Die durch das Zwischenstaatliche Komitee als erfüllt anerkannten Kriterien bilden den Schnittpunkt zwischen den diskursiven Strategien des institutionellen Bereichs, den vorschlagenden Staaten und den beratenden Akteuren in Bezug auf die Darstellung der kulturellen Praktik Tango bzw. deren Interpretation als immaterielles Kulturerbe. Die in die Zukunft gerichteten Ziele und Erwartungen, die mit der Umsetzung des Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes als legitimierte Interessen benannt sind, bilden eine weitere habituskonstituierende Kategorie. Sie leiten sich aus den Grundwerten, Referenzen und kritischen Stellungnahmen zum Konzept [immaterielles Kulturerbe] ab. Die Zielformulierung umschreibt [Bewahrung] mit den Themen Identifizierung, Sichtbarmachung, Bewusstwerdung und Respekt.105 Die Erwartungen beziehen sich auf inkorpo-

104 Die betreffenden Gruppen sind die Agierenden als [the community or group concerned and community representatives] mit [musicians, professional and amateur dancers, choreographers, composers, songwriters, teachers of the art and the national living treasures, the inhabitants of the Rio de la Plata region] sowie die ursprünglichen und wahrhaftigen Agierenden der kulturellen Praktiken [verdaderos creadores]. Sie agieren in den authentischen Lokalitäten [dance halls], sie sind die zukünftigen Bewahrenden der kulturellen Praktiken [los jovenes investigadores]. 105 Die Ziele korrespondieren dem Konzept der Bewahrung und umfassen laut Konventionstext die Bewahrung des Kulturerbes im Sinne einer Sicherung seiner Lebensfähigkeit [safeguarding] unter Berücksichtigung der Aspekte des Bewusstseins, der Sichtbarkeit und des Respekts [awareness and visibility]. Das Konzept der Bewahrung spezifiziert sich als die Identifizierung, Erforschung und Dokumentation des immateriellen Kulturerbes, die Ausrichtung von besonderen Maßnahmen zu seinem

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rierte Werte für das Agieren auf institutioneller bzw. politischer Ebene und umfassen die [Internationale Zusammenarbeit] in den Bereichen Annäherung, Austausch, gegenseitiges Verständnis und Partizipation. Ein signifikanter Aspekt ist die Ausrichtung der politischen Entscheidungsträger an den formulierten Zielen der Konvention. Auf Ebene der kulturellen Praktiken als auch auf Ebene der umsetzenden und vermittelnden Praktiken wird das Konzept der [Partizipation] benannt, welches die ideelle abstrakte Ebene der Ziele der Konvention an die Ebene der politischen Direktiven und umsetzenden Institutionen sowie an die Ebene der kulturellen Praktiken vermittelt. Eine letzte signifikante habituskonstituierende Kategorie als eine Form der ausagierten Wissensbestände bezieht sich auf die verpflichtenden Maßnahmen und umzusetzenden Programme. Sie umfassen einerseits die durch die Konventionsinhalte verpflichtend benannten [Aufgaben und Maßnahmen der Bewahrung] im Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads und andererseits die konkreten Aufgaben und Maßnahmen zur Bewahrung der kulturellen Praktik Tango durch die ‚Academia de Tango‘ in ihren Programmen im Bereich der umsetzenden Instanzen. Die benannten Aufgaben und Maßnahmen garantieren die Durchsetzung der symbolischen Macht der Institution UNESCO im Sinne eines spezifischen Wissenskonzepts: gesteuert durch die Anerkennungs- und Kontrollmechanismen der Reproduktionsprozesse werden Formen des Ausagierens definiert und seitens der vermittelnden und umsetzenden Akteure realisiert. Die Vertragsstaaten und benannten Vertreter realisieren diese Mechanismen, indem sie die aufzustellenden Programme an der vorgegebenen Diskurspraktik ausrichten und das bisher nur diskursiv vermittelte spezifische Wissenskonzept in körper- bzw. objektgebundene Praktiken umsetzen.106

Schutz und zu seiner Erhaltung, wozu seine Förderung, Aufwertung und Weitergabe (Bildung) gehören. Aber ebenso wird die Option zur Neubelebung kultureller Praktiken eingeräumt, welche grundsätzlich nicht mehr dem Erhalt und Schutz, sondern der Rettung entsprechen würden und somit dem gesonderten Bereich der bedrohten kulturellen Praktiken zuzuordnen sind. 106 Die im Konventionstext [verpflichtenden Aufgaben und Maßnahmen] sind von der ‚Academia de Tango‘ im Programm mit konkreten Maßnahmen formuliert. Die Referenzen auf das Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe sind die [Bewahrung, die Entwicklung, die Forschung, die Koordination und die Weitergabe der kulturellen Praktik]. Umgesetzt werden sollen diese Ziele durch das Einrichten eines Dokumentationszentrums mit den Bereichen Archiv und Forschung, eines Orchesters und eines Balletts, von Ausbildungsstätten (Tanz, Gesang, Komposition, Instrumentenspiel) und von Verlagen und Editionen für Partituren und Texte.

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Aus den benannten Qualitäten, Konvergenzkriterien, Zielen und Erwartungen, Maßnahmen und Programmen heraus entwickelt sich im Sinne des oben benannten kulturellen Kapitals ein ‚Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe‘. Es hat mit seiner Vision und seinen Wertegrundsätzen handlungsleitende Funktion inne. Die Definitionen und erklärten Manifestationen des immateriellen Kulturerbes sind kategorisierende und fundamentale Aspekte für die impliziten habitusgenerierenden Kategorien des Konventionstextes. Es werden Praktiken (Agieren) benannt, damit verbundene Artefakte und Kulturräume (Raum), Gemeinschaften und Gruppen (Identität), Generationen (Zeit), Entwicklung/Genese in der Auseinandersetzung mit Umwelt/Menschen (Kontinuität) ausagiert werden können. Darüber hinaus wird auf Nachhaltigkeit und auf Menschenrechte referiert (Wertegrundlage). Mit dem Moment der Zusammenführung beider Strukturverhältnisse ‚kulturelle Praktik Tango‘ und ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ realisiert sich ein Prozess der Vermittlungsarbeit zwischen deren Grundaxiomen bzw. legitimierten Wissensbeständen. Aus diesem Prozess heraus kann das neu formierte ‚Wissenskonzept Tango IKE‘ benannt werden. Es entspricht dem signifikanten und konstitutiven kulturellen Kapital für den ‚Tango IKE‘. Es erweist sich nicht als Zusammenführung der beiden Wissenskonzepte Tangologie und immaterielles Kulturerbe, sondern die diskursiven Konzepte, Themenbereiche und Praktiken bzw. Strategien korrespondieren den benannten Schlüsselkategorien des IKE, darüber hinaus differenzieren, verschieben und erweitern sie sich in signifikanter Weise. Die diskursiven Konzepte weisen einen eindeutigen Bezug zu den durch die symbolische Macht autorisierten Akteuren auf. Die beiden Wissenskonzepte Tangologie und immaterielles Kulturerbe bilden Pole und zentrieren den Bereich des Privaten und den Bereich des Institutionellen in der neu formierten objektiven Struktur ‚Tango IKE‘. Im Bereich des Institutionellen finden sich die benannten und signifikanten administrativen und normativen Konzepte des ‚Funktionsmechanismus IKE‘ wieder: die Erklärung des Kulturerbe-Konzepts und dessen Genese (Konzept immaterielles Kulturerbe); der Themenbereich um die Antragstellung und die Anerkennung des IKE-Status (Konzept Anerkennungsmechanismus); der Themenbereich um die mit dem Kulturerbestatus verbundenen Aufgaben sowie Verpflichtungen und die Erwartungen (Konzept Funktionsmechanismus). Im Bereich des Privaten ist das Tangowissen als ein reflektiertes und vor allem als ein praktisches Wissen verortet. Es verliert jedoch seine Funktion als ein konstitutives Element und verschiebt sich auf die Ebene eines referentiellen Elements innerhalb des ‚Funktionsmechanismus IKE‘. Es umfasst die Elemente der Entste-

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hung, Verbreitung und Charakterisierung des Tangos. 107 Die der ‚kulturellen Praktik Tango‘ und ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ externen – reflektierten oder intendierten – diskursiven Konzepte und Themenbereiche erweisen sich in der neu formierten Struktur ‚Tango IKE‘ als signifikante und konstitutive Elemente.108 Dazu zählen auch die diskursiven Strategien bzw. das generierte Konzept von Mythisierung/Klischee.109 Mit der Kategorie ist eine entsprechende Wertung (symbolisches Kapital im Bereich des Immateriellen) verbunden. Desweiteren übernehmen die Konzepte der Zeitlichkeit und der Lokalisierungen eine konstituierende Funktion dahingehend, dass sie die verschiedenen diskursiven Konzepte, Themenbereiche und korrespondierende Wissensbestände zuordnen und Wertigkeiten (symbolisches Kapital) definieren. Das Konzept um inhaltliche Oppositionen seitens [kritischer Stimmen] bildet ein neu generiertes Element. In diese Oppositionen verankert sich der Missbrauchsverdacht in finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht.110

107 Ausführlich zu diesen und allen im Folgenden benannten Konzepten in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang. 108 Signifikant darin sind charakterisierende [Kategorien des Formalen, des Emotionalen und des Klischees] sowie die funktionalen Kategorien als [Wirtschaftsfaktor] und als [Tourismus fördernd], als [Teil des nationalen Kulturguts] sowie im [Bereich der Gesundheit, der Sexualität und der Therapie]. 109 Zu dieser Kategorie zählend differenzieren sich der [Ursprungsmythos] (Wirtschaftliche Not, Verheißung auf besseres Leben, Heimweh, Verzweiflung, Massenimmigration, Milieu aus Kleinkriminalität, Prostitution und Armut), der [Tangomythos] (Inbegriff von Leidenschaft und Gefühlen, Verlangen, Romantik, Helden, Herzschmerz, Liebeskummer, Scheitern, Abschied, existentielle Not und Einsamkeit) und schließlich die [Idealisierung] (Kulturperlen der Menschheit, Hüter des Kulturerbes, Schmelztiegel der Kulturen). 110 Das diskursive Konzept formiert sich um die inhaltlichen Oppositionen zum IKE, zum Anerkennungsmechanismus sowie zu den Umsetzungsstrategien. Es umfasst den veränderten Kulturbergriff der UNESCO gegenüber dem [Kulturbegriff mitteleuropäischer Stadtteilfeste], die [Problematik Denkmalschutz] und die Frage nach [Repräsentativität] und [Entscheidungsbefugnis über Schutzwürdigkeit], mit den Elementen [Welt rascher Veränderungen], [Welt als Museum], [künstlerische Veränderungen], [versteinerte Kultur].

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Der Raum des Möglichen Wissensbestände – sowohl inkorporierte wie auch faktisch benennbare – können unter Berücksichtigung der Definitionsarbeit durch die korrespondierende symbolische Macht in die beiden Formen der legitimierten Wissensbestände (doxa) und der darüber hinaus nicht bzw. (noch) nicht legitimierten Wissensbestände (Raum des Möglichen) differenziert werden. Die erste Differenzierung bezieht sich auf die legitimierten Wissensbestände. Den Akteuren ist ein zumeist unbewusster Glauben an die impliziten Grundaxiome, offiziellen Stellungnahmen und allgemeinen Interessen eigen. Die zugehörigen Annahmen, Wertungen und Eigenschaftszuschreibungen finden unhinterfragt Anerkennung. Zugrunde liegt diesen Indikationen die spezifische doxa. Aus ihr heraus generieren sich die für die Strukturverhältnisse konstitutiven Definitionen, Kapitalformen und Wissensbestände. Sie korrespondieren zugleich dem offiziellen Standpunkt, der die Definitions- und Legitimierungsmacht über die geltenden Grundaxiome innehat. Er benennt eine gültige Norm für das legitimierte Agieren im Sinne eines modus operandi, bzw. für die Definition legitimierter Wissensbestände. Aus diesem Mechanismus heraus entstehen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung bestimmter Standpunkte, Eigenschaften, Definitionen und Praktiken – letztendlich um die Legitimierung inkorporierter und faktischer Wissensbestände. Die für die einzelnen Analysemomente erfassten signifikanten Schlüsselkategorien, diskursiven Konzepte sowie korrespondierenden Wissenskonzepte entsprechen legitimierten Wissensbeständen im gegenwärtigen Moment. Die Analysedaten erlauben für den ‚Tango IKE‘ die Formulierung von fünf signifikanten Kategorien an bereits legitimierten und inkorporierten, da erfassbaren Wissensbeständen. Sie fundamentieren neun zu differenzierende normierende Aspekte. Diese Kategorien entsprechen den oben benannten Differenzierungen für das spezifische ‚Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe‘, werden jedoch an dieser Stelle in Verbindung zu den entsprechenden normierenden Aspekten nochmals aufgeschlüsselt. Die erste Kategorie entspricht dem Konventionstext und seiner Genese. Das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes weist eine Wertegrundlage auf und positioniert sich innerhalb institutioneller Machtmechanismen. Eine zweite Kategorie umfasst das Konzept des immateriellen Kulturerbes. Es formt sich einerseits aus der Definition IKE, wie sie im Konventionstext zu finden ist; andererseits fließen die Interpretationen seitens vermittelnder und umsetzender Akteure ein. Sie manifestieren sich in Form von Maßnahmen, Umsetzungen und korrespondierenden Praktiken. Die dritte Kategorie basiert auf dem Ziel der Bewahrung. Es ist auf die Praxisebene hin und zukunftsorientiert ausge-

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richtet. Es leitet sich aus den normierenden Maßgaben aus den ersten beiden Kategorien ab (die Definition und Kategorien der Werte und Visionen), und wird durch die Interpretation und Umsetzung seitens vermittelnder und umsetzender Akteure, als auch seitens der Akteure der kulturellen Praktiken erweitert (die Programme allgemein, die Maßnahmen und korrespondierenden Praktiken). Die vierte Kategorie bezieht sich auf die kulturelle Praktik Tango. Sie ist als legitimierte kulturelle Praktik als immaterielles Kulturerbe gekennzeichnet und in der Bedeutung legitimierter Wissensbestände benannt. Diese normierenden Kennzeichnungen sind an die erste, zweite und dritte Kategorie gebunden, welche wiederum seitens der symbolischen Macht legitimiert und durch sie vermittelt sind. Der Tango als populäre Praktik konnte lediglich als narrativer Referenzpunkt, keinesfalls als ein diskursives Konzept der Praxis erfasst werden. Die fünfte Kategorie benennt die latent funktionierenden institutionellen Machtmechanismen und Diskursstrategien. Es ist gekennzeichnet durch eine Diskursanpassung (Strategie der Anpassung an Stellungnahmen durch die symbolische Macht) und durch die intendierte Narration des Populären und als das Originäre. Diese signifikanten Kategorien an legitimierten Wissensbeständen mit den entsprechenden neun zu differenzierenden normierenden Aspekten kennzeichnen die konsistenten Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe in seiner bis zum Moment der Datenerhebung ausagierten Form innerhalb gegebener Verhältnisse der symbolischen Macht und des ‚Funktionsmechanismus IKE‘. Die zweite Differenzierung bezieht sich auf die (noch) nicht legitimierten Wissensbestände. Mit dem Begriff Raum des Möglichen vereint Bourdieu die den Akteuren inkorporierten und in den Dingen materialisierten, mit der Genese der Strukturverhältnisse generierten Wissensbestände. Das sind zum einen die Limitierungen und Konditionierungen in Form von strukturspezifischen Dispositionen, Codes und Formalisierungen. Sie werden seitens der symbolischen Macht definiert und gehören in Funktion der doxa den bereits legitimierten Wissensbeständen zu (spezifische, juristische wie auch kommunikative Codes). Das sind zum anderen die durch die Strukturverhältnisse in den Habitusformen und impliziten Wissensbeständen inkorporierten Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen. Sie können von Seiten der Akteure auf neue Entwicklungsmöglichkeiten hin wahrgenommen und ausagiert werden. Diese korrespondieren sowohl den bereits legitimierten und ausagierten Wissensbeständen als auch den nicht und noch nicht ausagierten Wissensbeständen. Mit dem Konzept Raum des Möglichen stehen diese generierten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucks-

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schemata der Praxis zur Verfügung und werden der offiziellen Definitions- und Legitimationsarbeit durch die symbolische Macht entsprechend realisiert.111 Für den sich neu formierenden ‚Tango IKE‘ tritt nun der Fall ein, dass die impliziten Wissensbestände der kulturellen Praktik Tango lediglich in Form referentieller Benennungen als (noch) nicht legitimierte Wissensbestände zu erfassen waren. Werden sich die Strukturverhältnisse in der Weise entwickeln, dass diese impliziten Wissensbestände aus dem Raum des Möglichen heraus weiterhin ausagiert werden können, werden sie im Sinne der Konventionsintention bewahrt. Verbleiben sie aufgrund benannter latenter Interessen lediglich in der referentiellen Position in Funktion diskursiver Elemente und intentionierter Narrationen, gehen sie auf lange Sicht, insbesondere als praktisches Wissen verloren. Entsprechende Wissensbestände, die im Prozess der Veränderungen in den Strukturverhältnissen schließlich als (neu) legitimierte Wissensbestände zu kennzeichnen sind, korrespondieren dem bourdieuschen Verständnis eines spezifischen kulturellen Erbes. Der Begriff des kulturellen Erbes definiert die durch die symbolische Macht (neu) legitimierten Praktiken und entspricht somit den inkorporierten und ausagierten Wissensbeständen. Sie sind als die Wissenskonzepte zu verstehen, welche den Strukturverhältnissen implizit sind und einen distinktiven Wert innehaben. Das spezifische kulturelle Erbe des ‚Tango IKE‘ bezieht sich als ein distinktiver Wert auf die kulturelle Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe und entspricht dem spezifischen Tangowissen. Dieses Wissen steht für Originalität und Einzigartigkeit. Es umfasst Wissensbestände, die – im Falle des Auslöschens der Praktik – verloren gingen. Das spezifische Tangowissen steht zugleich für eine kulturelle Kompetenz.112 Es ermöglicht und konditioniert das Verstehen und adäquate Ausagieren der Wissensbestände und Handlungsoptionen. Das spezifische kulturelle Erbe der kulturellen Praktik Tango weist drei Differenzierungen auf. Das sind zunächst die Tangodiskurse als die signifikanten Narrationen. Sie umfassen die literarischen Diskurse und Liedtexte [letras de tango], die journalistischen bzw. analysierenden-beschreibenden Diskurse sowie die [metafísica

111 Detaillierte Aufzählungen zu den Limitierungen und Konditionierungen in Form von spezifischen Dispositionen, Codes und Formalisierungen seitens der Machtstrukturen sowie zu den inkorporierten Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen finden sich in den obigen Abschnitten, bzw. ausführlicher in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang. 112 In Anlehnung an Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.32.

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del tango].113 Es handelt sich um die Textelemente, die mit dem Ausagieren des Tangos generiert werden und die aus einer reflektierten bzw. distanzierten Position aus verfasst sind (beispielsweise die Prosa von Borges in der Funktion von Narrationen). Desweiteren sind das die intendierten Narrationen. Sie generieren sich sowohl durch an die kulturelle Praktik gebundene Akteure (Strategien der Kanonisierung bzw. Historisierung), als auch durch die kulturelle Praktik reflektierende analysierende Akteure anhand externer Themen [externe Schreibende]. Finden sich diese Elemente und Diskurse innerhalb der Strukturverhältnisse als naturalisierte wieder, sind sie Teil der neu legitimierten Wissensbestände. Sie korrespondieren Bourdieu folgend dem Prozess des Theorieeffekts: das inkorporierte Tangowissen wird als ein spezifisches kulturelles Wissen definiert und legitimiert. Das Diskurskonzept [metafísica del tango] beispielweise meint ein narratives Sprechen über und innerhalb der kulturellen Praktik, das sich durch autorisierte Akteure realisiert. Es umfasst alle weiteren an die kulturelle Praktik Tango gebundenen diskursiven Konzepte und vermittelt den symbolischen Wert auf Basis der spezifischen Diskurskonzepte [lo auténtico], [lo propio del tango], [lo originario], [Essenz], [Mythen und Legenden], [alma porteña].114 Eine zweite Differenzierung sind die den signifikanten Elementen korrespondierenden diskursiven Konzepte und impliziten Wissensbestände. Sie umfassen die konstitutiven Konzepte der Diskursformation: [escenario de Buenos Aires] mit den Elementen [barrio, calles, arrabal, el cafe, elementos típicos]; [orígen] mit den impliziten Elementen [vida social/orígen] und [lenguaje/lunfardo]; [Genese] bzw. [Wandel] der auszuagierende Formen der Praktik in

113 Elemente einer Kanonisierung, die wiederum die spezifische [metafísica del tango] generieren, sind das [Bandoneon] als das signifikante Instrument, [Gardel] in Funktion eines Mythos, [Piazzolla] im Bereich der Musik und ihres (revolutionären) Wandels, ebenso wie das [escenario de Buenos Aires] als die originäre lokale Verortung. Elemente des Theorieeffekts bzw. der externen Diskurselemente sind die [Bedeutung des Tanzes], [Tanztechniken] (in Funktion eines praktischen Wissens, bzw. benannt als ‚Bewegungsdialog‘), [Interessen] bzw. [Erwartungen] am Tango (dazu zählen ‚Identität‘ (nach Savigliano), ‚Politik‘ (nach Barrionuevo Anzaldi), ‚Ökonomie‘ (Konzept der ‚passion‘ nach Savigliano). 114 Zur [metafísica del tango] ein Zitat Borges: „Man könnte sagen, dass man ohne Abende und Nächte von Buenos Aires keinen Tango schreiben kann, und dass uns Argentinier im Himmel die platonische Idee des Tango erwartet, seine universale Form (diese Form, die La Hablada und el Choclo kaum andeuten), und dass diese wiewohl bescheidene, aber glückhafte Gattung ihren Platz im Universum hat.“ Borges: Kabbala und Tango, S.112.

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den Bereichen [Musik], [letras de tango] und [Tanz]; den [mito] bzw. die [narraciones], darunter der [Ursprungsmythos], [Gardel] als [representación del sueño] und [Piazzolla] als der [Erneuerer]; die [Oppositionen] in Form der [clase oligarchia] und dem [gaucho]. Darüber hinaus gehören die spezifische auszuagierende Praktik [Tangotanz] mit den impliziten Kategorien der Tanztechnik(en); das spezifische Element [Bandoneon]; und die [Erwartungen] zu dieser Kategorie. Die Zuordnung der kulturellen Praktik Tango in das Konzept des nationalen Erbes und seiner Definition als ‚moderne urbane Kulturpraxis‘ steht für seine kanonisierende Benennung und wird durch den Akteur ‚Academia de Tango‘ generiert. Die dritte Differenzierung eines legitimierten Wissensbestands entspricht dem praktischen Wissen, das den Agierenden inkorporiert ist. Als diskursives Element ist es als [arte del tango] erfassbar und begründet sich in den internen reflektierenden Diskursen über das Ausagieren des Tangos. Das nur annähernd beschreibbare, da inkorporierte praktische Wissen kann anhand der Tanzpraktik konkretisiert werden. Das implizite Wissen wird durch externe Positionen detailliert beschrieben: Das spezifische praktische Wissen steht für eine situative [(Inter-)Aktionspraxis]. Es basiert auf der leiblichen Materialisierung inkorporierter und narrativer Wissensbestände, insbesondere der Prinzipen der Tanzpraktik: im Ausagieren generiert sich ein spezifischer Kodex bzw. ein ‚Skript des Authentischen‘, da definierten und legitimierten Tanzens.115

115 In Hinführung auf das Konzept Bewegungswissen wird anlehnend an Elsner die Praktik Tanz als ein [Bewegungsdialog] verstanden. Sie umfasst drei Kategorien: die Choreographie in der Bedeutung als [Kult männlicher Leiblichkeit], der Bewegungsstil in Form des [caminar] und die Bewegungsprinzipien, verstanden als [Bewegungslogik]. Die Kategorie Choreographie steht als Metapher für das ausgetanzte Duell der früheren [Messerhelden] und impliziert das [Führen und Markieren], die [Konzentration und Koordination] sowie als symbolischer Wert das [Prestige]. Die Choreographie des getanzten Tangos steht für die Ausdrucksform, die sich als Wortund Tanzkultur entwickelt hat. Die Kategorie Bewegungsstil steht für die spezifische Bewegungsart des [caminar] als Ausdrucksform seiner [Urbanität] und [Männlichkeit]. Die Kategorie der Bewegungsprinzipien beschreibt eine spezifische Bewegungslogik. Sie umfasst wiederum den Grundschritt [caminar], die Tanzhaltung [abrazo] und das Tanzpaar [Führung und Interpretation]. Daran anschließend finden sich weitere, durch andere Autoren genannte Kategorien wie [Rhythmik], [originäre und signifikante Figuren], [Prinzipien der Achse], etc. bei u.a. Ferrer; Köhne-Kirsch; Copes benannt. Vgl. detaillierter zu diesem Diskurskonzept in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang.

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Das kulturelle Gedächtnis Die legitimierten Wissensbestände (doxa), die (noch) nicht legitimierten Wissensbestände (Raum des Möglichen) und die (neu) legitimierten Wissensbestände (kulturelles Erbe) bilden den bourdieuschen Termini folgend das spezifische ausagierte bzw. das auszuagierende symbolische Kapital des ‚Tango IKE‘. Sie können in ihrer Zuordnung in den ‚Funktionsmechanismus IKE‘ als das kulturelle Gedächtnis des Tangos bestimmt werden. In ihrem gesamten Funktionsmechanismus stehen die inkorporierten und faktischen Wissensbestände als das symbolische Kapital für die Bedeutungen und Werte des ‚Tango IKE‘. Sie generieren eine symbolische Ebene. Die Bedeutungen und Werte entwickeln sich gebunden an die Dispositionen der einzelnen Elemente und legitimen Definitionen. Sie implizieren zugleich ein Unbewußtes ihrer Geschichte und Genese. Es funktioniert als ein allen strukturspezifischen Elementen zugehöriges kulturelles Gedächtnis. Die ‚UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes‘ schließt an die bestehenden internationalen Rechtsinstrumente zu den Menschenrechten sowie an die im Vorfeld verabschiedeten Übereinkommen und Empfehlungen auf materieller Ebene an. Sie impliziert auf symbolischer Ebene eine Referenz auf die Werte Menschenrechte, kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit. Damit umfasst sie die symbolischen Praktiken IKE-Status-Antrag und Statusanerkennung sowie die Konzepte immaterielles Kulturgut, Natur- und Kulturerbe, Weltkulturerbetitel, Meisterwerke der Menschheit. Für die kulturelle Praktik Tango kann in diesem Zusammenhang ein weiterer spezifischer Aspekt konstatiert werden: finden sich ebenso auf materieller Ebene die Elemente des Ausagierens der spezifischen Wissensbestände (Elemente des [escenario de Buenos Aires]) sowie auf symbolischer Ebene dieselben Elemente mit der Disposition des Tangowissens, so eröffnet sich eine weitere Dimension signifikanter Bedeutungen und Werte mit der [metafísica de tango]. Diese sind an die Wissensbestände der Mythen und Narrationen gebunden. Bourdieu begreift in diesem Zusammenhang Mythos und Narrationen als einen über mentale, diskursive und auch physische Praktiken konstituierten Moment. Damit lassen Mythos und Narrationen auf implizite, kognitive und mentale Kategorien schließen. Das zum Mythos gewordene bzw. zum Kern einer Legendenerzählung generierte Element impliziert das gesamte Wissenskonzept Tango und funktioniert als die immerwährende Erinnerung des kulturellen Gedächtnisses.116

116 Borges schließt an das Konzept der Erinnerung und des Gedächtnisses in seinen literarischen Arbeiten – in der Funktion intendierter Narrationen – insofern an, dass

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Eine hohe funktionelle Bedeutung kommt den intendierten Narrationen zu. Die diskursiven Konzepte um [Essenz] und [Ursprung] kennzeichnen die kulturelle Praktik mit für sie originären bzw. singulären Kategorien und ordnen sie einem ebenso originären bzw. singulären Ort, dem [escenario de Buenos Aires] zu. Diese intendierte Narration formuliert darüber hinaus das Kriterium für die Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Die Entwicklung der Stadt Buenos Aires wird in dieser Narration der essentiellen und ursprünglichen Kennzeichnungen gleich gesetzt zur Entwicklung der kulturellen Praktik Tango.117 Damit umfasst diese Narration des Wesenhaften ein implizites Wissen um und die Fähigkeit des Erkennens dessen, was Tango ist. Das grenzt den ‚authentischen‘ Tango zum Verständnis des Tangos als bloße Tanzform ab, wie er vor allem in Europa rezipiert wird und unterstützt das Argument der IKE-Status-Anerkennung einer umfassenden Lebensweise.118

vermittels der mythisierten Tangoelemente dem Vergessen entkommen werden kann. Dafür hebt Borges mit literarischen Mitteln die Narrationen des Tangos aus dem ‚barrio‘ auf eine universelle Ebene und verknüpft sie in Anwendung der mythischen Kategorien der griechischen Sagen auf den Tango. Vgl. in Fumagalli: Jorge Luis Borges y el Tango. Vgl. darüber hinaus die detaillierte Aufschlüsselung zu Mythen und Narrationen im Textabschnitt zu den spezifischen diskursiven Verhältnissen, bzw. in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang. 117 Elsner beschreibt aus externer reflektierender Position die Narration ‚La historia de Buenos Aires es la historia del tango‘ als eine übergreifende Kulturtechnik: „In dieser Redewendung schwingt eine interessante Gemengelage von politischökonomischer Entwicklung, die den Lebensraum von Buenos Aires bestimmten, vermischt mit Erlebnisformen und Kulturtechniken des Tango, die die Perspektive auf Buenos Aires geprägt haben und somit Kommunikations- und Lebensformen gestalten. […] Er ist in die Art und Weise, wie die BewohnerInnen von Buenos Aires auf ihre Stadt blicken und diese wahrnehmen, bereits so entscheidend eingegangen, dass er als ein Teil der sozialen Wirklichkeitskonstruktion von Buenos Aires betrachtet werden muss.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.88/89. 118 Zur Verdeutlichung dienen die Aussagen der Komponisten Astor Piazzollas und Eduardo Roviras, die in einem gemeinsamen Interview der Zeitung ‚La Prensa‘ im Juli 1969 zur ‚Essenz des Tango‘ befragt werden: „PIAZZOLLA: Ritmo, sentido, acentuación. No hace falta definirlo; el que conoce el tango no se equivoca; sabe cuando lo que escucha es tango o no.“; „ROVIRA: Yo veo cuatro elementos esenciales: ritmo, ciertos giros melódicos característicos, algunos enlaces armónicos y las imágenes […], por empezar la ciudad.“ Rovira führt in diesem Interview weiter aus, als er nach seinem Verständnis des Tango gefragt wird: „El tango es una vivencia, es

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Mythen und intendierte Narrationen sind schlussfolgernd aus ihrer Funktion als kulturelles Gedächtnis Teil der spezifischen Wissensbestände des Tangos. Im Hinblick auf seine Beschreibung als anerkanntes immaterielles Kulturerbe in der Funktion eines solchen kulturellen Gedächtnisses werden entsprechend die themenspezifischen Konzepte, signifikanten Kategorien und ideellen Kennzeichnungen der Elemente als Wissenskonzepte benannt. Mit dem ‚Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe‘, konstituieren sich durch deren fortgesetzte Legitimation, Vermittlung und Umsetzung durch autorisierte Instanzen ideelle Werte. Diese entsprechen den fünf Kriterien der Begründung der Statusverleihung: die [Universalität] und das [allgemeine Interesse], die [Distinktivität] und das [identitätsstiftende als Teil der lokalen Kultur], die [Originalität], die [Bereicherung des kulturellen Dialogs] und schließlich das Vorhandensein eines [Maßnahmenkatalogs]. Diese Kriterien finden sich im ‚Tango IKE‘ als gültige Werte wieder.119 Einen neuen Aspekt an Werten und Bedeutungen bilden die mit der verpflichtenden Umsetzung der Konventionsinhalte verbundenen Erwartungen und Interessen. Diese umfassen die [verpflichtend/beabsichtigt zu realisierenden Maßnahmen] sowie die [erwarteten/beabsichtigten Wirkungen und Reaktionen]. Das sind zunächst externe Themenbereiche für den Tango, die innerhalb der Strukturverhältnisse zunehmend naturalisiert werden. Die korrespondierenden ideellen Werte sind durch den ‚Funktionsmechanismus IKE‘ bereits dem ‚Tango IKE‘ nachweislich implizit. Inwiefern im Bereich der in der Praxis ausagierten kulturellen Praktik, insbesondere in den gering kontrollierten Bereichen, diese Werte naturalisiert werden können, bleibt einer zeitlich späteren Analyse mit Fokus auf veränderte Habitusformen und implizite Wissensbestände vorbehalten. Das setzt einen zu berücksichtigenden zeitlichen Prozess voraus. Das zweite zentrale Wissenskonzept, das dem kulturellen Gedächtnis im ‚Tango IKE‘ zur Verfügung steht, ist die ‚Tangologie‘. Es ist im legitimierten ‚Wissenskonzept Tango IKE‘ wieder zu finden. Es konnte erweiterte und modifizierte Kennzeichnungen benannt werden. Die signifikante emotive Kennzeich-

algo que representa la manera de vivir y sentir de cada uno.“ Mesa: Eduardo Rovira y el reposionamiento del Tango, S.3. 119 Als weiteres Element dieser Kategorie steht die Schutzwürdigkeit. Allerdings bezieht sich diese nur auf die Elemente, welche für die Liste der besonders schutzwürdigen kulturellen Praktiken benannt werden sollen. Da der Tango bisher nicht dazu gehört, verbleibt dieses Kriterium in der Fußnote. Die [Schutzwürdigkeit] konkretisiert sich als das Schützens- und Erhaltenswerte, das dringend Schutzbedürftige, und referiert auf [Überlebenschance] und das [Rettungsmanöver].

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nung der kulturellen Praktik entspricht deren Identifizierungswert. Sie umfasst seine emotive Charakteristik als sinnlicher und verführender Tanz mit melancholischen Texten [baile sensual de roce de piernas y ochos sobre el suelo; baile seductor con letra melancólica].120 Desweiteren wird eine formale Kennzeichnung deutlich. Es wird seine tänzerisch-technische Charakteristik des (körperlich) Anspruchsvollen benannt und seine spezifische Beinarbeit beschrieben; seine tänzerisch-formalen Aspekte des Takts und die zu tanzenden dramaturgischen Höhepunkte, den Stillstand und die Unterbrechungen. Die formale Kennzeichnung unterscheidet seine unterschiedlichen Formen: als Gesellschaftstanz, der ‚ursprüngliche Tango‘, der ‚Tango Argentino‘, der salonfähige ‚Tango de Salon‘, die Erneuerungen durch Piazzolla, der neue Tango der jungen Generation. Die benannten, das kulturelle Gedächtnis konstituierenden Wissenskonzepte, insbesondere des emotiven und formalen Bereichs und der intendierten Narrationen waren eindeutig erfassbar. Der ‚Funktionsmechanismus IKE‘ mit den korrespondierenden realisierten Strategien legt nahe, dass sie entscheidend für die Kriterienkongruenz zwischen Tango und Kulturerbe-Konzept sind. Zu den Kennzeichnungen der Kriterienkongruenz zählen der [Ursprung] des Tangos, seine [Entwicklung] und [Verbreitung],121 verbunden mit dem Element der [Narrationen] und des [Mythos] sowie die Themenbereiche [Teil des nationalen Kul-

120 Die Beschreibung des Tangos erfolgt in seiner emotionalen Ausprägung oder als Klischee: er sei [Inbegriff von Leidenschaft und Gefühl], [getanztes Gefühl], [pure Sinnlichkeit] bzw. ‚a dramatic dance and sensual moves‘ [dramatischer Tanz und sinnliche Bewegungen]; es finde sich in ihm [Romantik, Verlangen, getanzte Erotik, Frivolität]; er stünde für [Melancholie, Herzschmerz, Scheitern, Abschied, und Wehmut]; er sei [zu verbinden mit schmachtender Tangomusik, mit Blicken, mit Eleganz, mit Stil, mit schummrigem Licht und mit rhythmischer Zweisamkeit]; und er sei [ein anrüchiger Tanz armer Leute], [als unsittlich gebrandmarkt und sündhaft]. 121 Der Themenbereich des Ursprungs umfasst auf materieller Ebene Elemente seiner lokalen urbanen Herkunft [Hafenherkunft] und seiner geographischen Verortung am [Rio de la Plata]. Damit verbunden sind die sozialen Dispositionen [die armen Verhältnisse, die Atmosphäre aus Kleinkriminalität, Prostitution und existentieller Not] und der soziokulturelle Hintergrund [die europäische Einwanderung sowie ‚descendentes de esclavos y criollos‘]. Auf mediengebundener Ebene sind sein musikalisches Erbe [Fandango, afrikanische Rhythmen und Habanera] zu erwähnen. Der Themenbereich der Entwicklung und Verbreitung findet sich in den entsprechenden Beschreibungen wieder: [Orchester reisen nach Paris, die Salons der Reichen, die Lokalisierungen Europa, USA und Japan, das Goldene Zeitalter 1935–1955, die Tango-Krise Mitte der 50er bis 80er Jahre].

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turguts] und seine [weltweite Symbolik]. Die Kategorie der Ursprungserzählungen und Mythen differenziert sich in den [Ursprungsmythos], den [emotiven Mythos] und den [Tango als universelles Element der Menschheit.]122 Das Element der nationalen Symbolik steht für die historische, soziokulturelle und emotive Bedeutung des Tangos.123 Das kulturelle Gedächtnis impliziert den Wissensbeständen korrespondierende Werte und Bedeutungen. Versteht die bourdieusche Habitustheorie die Vermittlung dieser Wissensbestände ohne notwendige Bindung an diskursive oder verbal vermittelte Praktiken, so formuliert Diaz-Bone in Erweiterung der bourdieuschen Habitustheorie sein Modell einer Feldstruktur als Diskursraum.

122 Drei Zeitebenen können unterschieden werden. Referierend auf das Vergangene liest sich ein [Ursprungsmythos] heraus. Darin sind die immer gleichen Narrationen der [Hafenherkunft, der Massenimmigration verbundenen mit der Verheißung auf ein besseres Leben und dem Heimweh, dem Milieu aus Kleinkriminalität, Prostitution und Armut bzw. einer generellen wirtschaftlichen Not] genannt. Im Gegenwärtigen werden Narrationen der Befindlichkeit und Stimmungslage des Tangos in einem [emotiven Mythos] vereint, indem Tango als ein [Inbegriff von Leidenschaften und Gefühlen] gilt. Dazu zählen die narrativen Elemente [Verlangen, Romantik, Herzschmerz und Liebeskummer, die Helden und deren Scheitern, der Abschied, die existentielle Not und Einsamkeit]. Schließlich formiert sich neu eine Narration auf das mit der Status-Verleihung verbundene [Zukünftige und zu Erwartende] sowie die Indikation des Tangos als [universelles Element der Menschheit]. Hierfür findet sich eine Narration aus diskursiven Elementen von [Kulturperlen der Menschheit], [Hüter des Kulturerbes], [Schmelztiegel der Kulturen] generiert. 123 Es werden das [allgemeine Lebensgefühl] benannt, bei dem der [Tanz als originärer Ausdruck einer Verfassung] der Bewohner des Rio de la Plata, als [la expresion mas profunda y vibrante] und mit [la amplia gama de costumbres] empfunden wird. Die Symbolik umfasst ebenso seine Kennzeichnung als [fester Bestandteil einer Kultur], die [unverwechselbare und kulturelle Identität] bzw. das [distinctivo cultural de identidad]. Desweiteren besteht eine enge Bindung an die Ursprungserzählung des Tangos: [la fuerte raíz cultural], [historia social de la inmigracion], [las raíces y la historia de una sociedad]. Tango entspricht damit in seiner nationalen Symbolik der [representacion de ambos ciudades]. Demgegenüber steht die Öffnung des Tangos über die Grenzen seines geographischen Orts heraus. Die Kategorie der weltweiten Symbolik bildet sich heraus. Diese umfasst die Kennzeichnungen des [sinónima de pasion latina a nivel global] und das [popular image of show tango and the kind dances in milongas]. An diese Kategorien anknüpfend findet sich Tango als Symbolik für Popularität und die Broadway- und TV-Shows benannt.

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Dieser ist mit denselben Strukturkategorien der Positionen und des symbolischen Kapitals (bzw. der Konsekration des kulturellen Felds) aufgebaut. Der Diskursraum verfügt über Sprecherpositionen sowie autorisierte Sprecher in legitimierten Sprechersituationen. Auf dieser Ebene verdeutlicht sich ihre Einbindung in die Strukturverhältnisse hinsichtlich ihrer Legitimierung, Repräsentationsfunktion sowie Vermittlung und Kontrolle durch entsprechende Strategien. Sie entsprechen weitestgehend der oben benannten Selbstzensur, um Legitimierung zu erhalten; letztendlich, um das spezifische symbolische Kapital anzueignen.124 Diaz-Bone benennt in diesem Rahmen explizit die medialen Diskurspositionen der publizistischen Organe und Akteure in ihrer konstitutiven und vermittelnden Funktion innerhalb des neuen Diskursraums. Deren Strategien umfassen die Bedeutungszuschreibung und Vermittlung von Wertekategorien und Bedeutungen, indem sie die konditionierten Positionen öffentlich und damit legitimierend bzw. autorisierend benennen. Darüber hinaus formulieren sie – für den Tango insbesondere die [Repräsentanten] und die [Academia de Tango] – die reflektierenden Diskurselemente. Im ‚Tango IKE‘ ist diese Funktion mit den Medien als die Positionen im Bereich der Öffentlichkeit zu rekonstruieren. Sie vermitteln den symbolischen Wert des IKE-Status und realisieren ihn erst in der Praxis. Darüber hinaus generieren sie die Elemente der Narrationen und Formalisierungen durch Strategien des Kanonisierens und Definierens.125 Bemerkenswert ist mit dem Moment der Anerkennung des IKE-Status das Sichtbarwerden einer starken symbolischen Ebene in den neuen Strukturverhältnissen. Sie wird in der Kontrastierung der objektiven Struktur und den Diskursverhältnisse erkennbar. Sie korrespondiert der Differenz der Relation zwischen den Elementen und deren Relation auf diskursiver Ebene: sind in der objektiven Struktur der Bereich des Institutionellen und der Bereich des Privaten zur symbolischen Bedeutung des Konzepts des Immateriellen noch klar abgegrenzt, dehnt sich in der diskursiven Praxis der Geltungsbereich der immateriellen Werte im Sinne des Kulturerbe-Konzepts auf Elemente des privaten Bereichs aus. Das bedeutet, dass durch die benennenden und administrativ-legitimierenden Akte der Anerkennung die Diskursverhältnisse und die Strukturverhältnisse zueinander verschoben wurden. Diese Verschiebung kann als das Geschehen interpretiert werden, das dem ‚Anerkennungsmechanismus‘ korrespondiert. Aus dieser Differenz heraus generiert sich die neue symbolische Ebene der gültigen Werte und Bedeutungen. Die neuen legitimierten Werte und Bedeutungen indizieren die Veränderungen der

124 Diaz-Bone, insbesondere S.55. 125 Diaz-Bone, insbesondere S.57.

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impliziten Wissensbestände und die Veränderungen im kulturellen Gedächtnis der kulturellen Praktik Tango. Sie bilden das neue spezifische symbolische Kapital des ‚Tango IKE‘. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auf Ebene der Diskursverhältnisse den kulturellen Praktiken die Eigenschaft des Immateriellen zugesprochen werden, die Anerkennung eines symbolischen Werts des Immateriellen auf der Ebene der objektiven Struktur, bzw. des Ausagierens in der Praxis jedoch (noch) nicht erfolgt ist. Das würde der Naturalisierung des neuen Wissenskonzepts auf Ebene der privaten Agierenden entsprechen und bleibt einer späteren Analyse vorbehalten, zu untersuchen.

BOURDIEUSCHE SPEZIALFÄLLE IM TANGO Als (relativ) autonom gekennzeichnete Strukturverhältnisse weisen spezifische Kategorien auf, die symbolische Werte generieren oder als solche legitimiert sein können. Für die kulturelle Praktik Tango als immaterielles Kulturerbe konnten identifiziert werden: der sprachliche Markt, durch dessen Funktionsmechanismen ein sprachlicher Habitus offizielle Legitimierung erhält; der Wandel als die permanente Veränderung einer kulturellen Praktik und seiner (symbolischen) Werte und Bedeutungen; die illusio im Verständnis spezifischer Interessen und Werte als die Wahrnehmungs- und Handlungskategorien; das Paradox im ‚Anerkennungsmechanismus‘ in Form von Legitimierung und Zurückweisung institutioneller Macht; die Tanzbewegung, die für die besondere Funktion und Bedeutung kultureller, insbesondere der körpergebundenen Praktiken steht; amor fati als Eigenwahrnehmung der Akteure. Lunfardo – normierte Sprachkompetenz Der sprachliche Markt steht für einen Funktionsmechanismus aus intendierten diskursiven bzw. verbal vermittelten Strategien der Agierenden. Einmal auf dem offiziellen sprachlichen Markt legitimiert, besteht das Interesse der Agierenden darin, eine Position hohen symbolischen Kapitals einzunehmen. Steht es nicht in der Macht der Agierenden, die Strukturverhältnisse und impliziten Wertekategorien zu ihren Gunsten zu gestalten, bleibt ihnen keine andere Strategie als ihre sprachlichen Praktiken einzupassen. Damit wird eine von Bourdieu so benannte Selbstzensur der Produktion von sprachlichen Elementen realisiert. Für den ‚Tango IKE‘ entsprechen die Elemente der Ausrichtung der Textelemente, der formalen Beschreibungen sowie der offiziellen repräsentativen Narrationen im

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Zuge der Antragstellung zum IKE am Sprachstil und den geltenden Wertekategorien des Wissenskonzepts IKE dieser Strategie.126 Der sprachliche Markt ist homolog zur objektiven Struktur innerhalb der Machtverhältnisse ausgerichtet. Bourdieu argumentiert, dass die Strategie der Legitimierung eines bestimmten Sprachhabitus immer zugleich eine Strategie der Machtpräsentation sei, da der Akt der Legitimierung die Machtrelation demonstriert und ausagiert.127 Der kontrollierte Sprachhabitus wird legitimiert und in die herrschenden Strukturen eingepasst, indem er einer Kodifizierung und Normierung unterliegend, aufgezeichnet, registriert und vermittelt wird.128 Für den Tango betrifft das den [lunfardo], der als ein Jargon der Unterwelt zunächst in die Tangodichtung Einzug hielt und mit der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe eine Formalisierung erfährt. So wie Bourdieu das Beispiel der französischen ‚patois‘ gegen die neue legitimierte Sprache der Revolution als eine politische Strategie abgrenzt, kann der ‚lunfardo‘ im Zuge der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe als ein legitimierter Sprachhabi-

126 Bourdieu begründet diese Strategie: „Nicht irgendein rationales […] Kalkül, sondern dieser Sinn für die Akzeptabilität bestimmt, indem er schon bei der Produktion dieses Diskurses für die Einkalkulierung seines wahrscheinlichen Wertes sorgt, die Korrekturen und alle Arten der Selbstzensur, also jene Zugeständnisse an das soziale Universum, die man schon damit macht, dass man akzeptiert, sich akzeptabel zu machen. […] Alle verbalen Äußerungen […] sind geprägt von ihren Rezeptionsverhältnissen.“ Bourdieu: Was heißt Sprechen, S.57. 127 Eine solche Strategie kennzeichnet Bourdieu: „Die Strategie der Herablassung besteht darin, Profit aus dem objektiven Machtverhältnis zwischen Sprachen zu schlagen, die noch im Akt der symbolischen Negation dieses Verhältnisses, also der Hierarchie zwischen diesen Sprachen und zwischen denen, die sie sprechen, praktisch miteinander verglichen werden.“ Ders.: Was heißt Sprechen, S.47. 128 Bourdieu beschreibt diesen Prozess: „Kurz, es geht […] darum, einer neuen Sprache der Macht mir neuem politischem Vokabular, neuen Verweis- und Bezugssystemen, Metaphern und Euphemismen Anerkennung zu verschaffen, und damit auch der Vorstellung von der sozialen Welt, die mit ihnen vermittelt wird. […] Das exemplarische Ergebnis dieser Kodifizierungs- und Normierungsarbeit ist das Wörterbuch, das, sachlich protokollierend, sämtliche im Laufe der Zeit akkumulierten sprachlichen Ressourcen, insbesondere alle möglichen Verwendungen desselben Wortes zusammenträgt und dabei Verwendungen nebeneinander stellt und ausschließt.“ Bourdieu: Was heißt Sprechen, S.24.

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tus des Tangos gekennzeichnet werden.129 Andererseits ist mit Bourdieu zu argumentieren, dass nur durch solche Maßnahmen das Sprachkapital bzw. die korrespondierende Sprachkompetenz erhalten bleibt, da sich mit der Anerkennung des Tangos als immaterielles Kulturerbe der gesamte sprachliche Markt infolge der erfassten Veränderungen in den Strukturverhältnissen ebenso verändert.130 Der wahre Tango – im steten Wandel Der Wandel als die permanente Veränderung einer kulturellen Praktik ist Voraussetzung ihrer Entwicklung. Für die Beschreibung des Tangos sollte bewusst sein, dass die rekonstruierten Strukturverhältnisse für eine Momentaufnahme stehen, die sich aus den vorangegangenen Veränderungen basierend auf den strukturimpliziten Mechanismen generiert hat.131 Ein solcher strukturinterner Wandel kann für den Tango mit seiner Genese (trajectoire) in den Etappen des erfassten und benannten [Tango Porteño] nachvollzogen werden: sein [orígen prostíbulo] in der Dekade von 1880 bis 1890, der [Tango Canción] und die Phase [Hollywood] in den Jahren zwischen 1908 und 1920, die Epoche des [Tango Nuevo] mit den musikalischen Neuerungen eines Astor Piazzollas, die Epoche [Perón] der 40er Jahre und die Epoche [Militärdiktatur] der 1970er Jahre, schließlich die [Krise] im Jahr 2002 und die anschließenden Entwicklungen zum electrotango. Der so benannte [Tango Nomade] entwickelt sich parallel dazu – im Sinne einer externen trajectoire – außerhalb

129 Bourdieu führt aus: „Ohne die Objektivierung in der Schrift und vor allem ohne die quasi rechtliche Kodifizierung, die mit der Entstehung einer offiziellen Sprache einhergeht, existieren diese ‚Sprachen‘ (langue d’oil, Dialekte und literarische Sprachen) nämlich nur praktisch, das heißt, nur in Form von sprachlichem Habitus, die wenigstens zum Teil aufeinander abgestimmt sind, und in Form von mündlichen Produktionen dieser Habitus.“ Ders.: Was heißt Sprechen, S.22. 130 Bourdieu argumentiert: „So kommt es, dass diejenigen, die bedrohtes Sprachkapital verteidigen wollen, gar nicht anders können, als den Kampf auf allen Ebenen zu führen: Der Wert der Sprachkompetenz lässt sich nur erhalten, wenn der Markt, das heißt die Gesamtheit der politischen und gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Produzenten-Konsumenten erhalten bleibt.“ Ders.: Was heißt Sprechen, S.34. 131 Bourieu dazu: „When we speak of a ‚field of prises de position‘, we are insisting that what can be constituted as a system for the sake of analysis is not the product of a coherence-seeking intention or an objective consensus (even if it presupposes unconscious agreement on common principles) but the product and prize of a permanent conflict.“ Ders.: field of cultural production, S.316.

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der lokalen Begrenzung des [escenario de Buenos Aires] mit den Etappen [Paris/London/Berlin] der Jahre 1910/1920, [USA] in den Jahren zwischen 1920 und 1930 mit dem korrespondierenden Interesse der Film- und Musikindustrie, [Europa] ab den 1930er Jahren bzw. [Europa/Japan] ab den 1980er Jahren mit dem korrespondierenden Interesse der Musikindustrie und der Orchesterreisen sowie der Generierung und Rezeption des Tango-Klischees.132 Mit dem ‚Anerkennungsmechanismus‘ zum immateriellen Kulturerbe finden sich die beiden Entwicklungslinien [Tango Porteño] und [Tango Nomade] in einer als universell definierten kulturellen Praktik der Menschheit zusammengeführt. Gebunden ist diese Entwicklung an ein strategisches Interesse der gegenwärtigen politischen Machtpositionen.133 Diese Zusammenführung entspricht den strukturellen Veränderungen und ist rückführend auf die impliziten Funktionsmechanismen und Wissensbestände möglich. Darüber hinaus umgeben konditionierende Machtverhältnisse die betreffenden Strukturräume. Sie synchronisieren sich durch das dem ‚Tango IKE‘ spezifische symbolische Kapital. Diskursive Praktiken realisieren diese Synchronisierung durch die oben im Text ausgeführten Strategien. Auf Praxisebene finden sich diese Vermittlungsmomente mit tangospezifischen Elementen wieder.134 Die Impulse für Strukturveränderungen in Bezug auf den Anerkennungsprozess zum immateriellen Kulturerbe sind in besonderem Grade externen Faktoren bzw. Funktionsmechanismen zuzuordnen. Diese Impulse können sich durch das Prinzip der Homologie durchsetzen. Bourdieu argumentiert diesen Mechanismus

132 Im Textmaterial finden sich veranschaulichende Beispiele für diese Epochen des Wandels; vgl. u.a. Gálvez: El tango en su época de gloria sowie Juárez Aldazábal: Identidades en danza; zur sozialen Anpassung kultureller Praktiken vgl. Varela: Genealogía política del tango Argentino; zum so genannten ‚Tango de Vanguardia‘ als ein Bruch und zugleich Öffnung zu neuen Entwicklungen, insbesondere vertreten durch Astor Piazzolla und bezeichnet als die notwendige ‚necesidad vital‘ vgl. Liska: El tango como disciplinador de cuerpos ilegítimos-legitimados, sowie Polti: Las formas contemporáneas del tango; zum Überleben des Tango in ‚formas contemporaneas‘ wie Performance und Musical Hybridization, aber auch seine neuartigen Bedeutungen als nationales Symbol und im Tourismus vgl. Garibaldi: El Tango Extranjero; wie auch notwendige Erneuerungen der kulturellen Praktik mit dem electrotango vgl. Liska: Cultura popular y nuevas tecnologías. 133 Zu den Positionen Kirchner bzw. Peronismus bei Pelinski: Tango nómade, S.27–70. 134 Zu diesen Elementen zählen [Tanz], [Poesie], [Musik], [Medien] wie Zeitschriften, Foren und CDs, [Design] und [Produkte] im ‚Tangostil‘, [Archive], Strategien im Bereich der [Politik].

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als eine Besonderheit der Felder kultureller Produktion: die Interessen und Strategien derer, die die Positionen mit ökonomisch und symbolisch hohem Kapitalwert besetzen, decken sich mit den Positionen des Machtfelds mit entsprechend hohem Kapital oder lassen sich als Interessens-Allianzen verbinden. Daraus kann die Begründung dafür abgeleitet werden, dass in der ‚kulturellen Praktik Tango‘ die Option für die Strukturveränderung durch externe Faktoren gegeben ist.135 Darüber hinaus ist Bourdieu folgend davon auszugehen, dass selbst dann, wenn innerhalb eines Bereichs die Elemente gleich bleiben, sich diese in ihrem (symbolischen) Wert und ihrer Funktion innerhalb der Gesamtstruktur und in Relation zum Machtfeld verändern, sobald ein Element innerhalb der gesamten Struktur variiert. Entsprechend kann die objektive Struktur der Elemente der kulturellen Praktik Tango unverändert sein, trotzdem steht die Einbindung in die ‚UNESCO-Konvention IKE‘ für eine veränderte Wertsetzung und Funktion.136 Als ein Effekt der Institutionalisierung und Formalisierung der kulturellen Praktik Tango kann mit Bourdieu von einer Metamorphose der anerkannten Objekte und Praktiken im Sinne einer ‚an Transsubstantiation gemahnende ontologische Erhöhung‘ ausgegangen werden.137 Das meint, dass der Tango aufgrund der Anerkennung eines neuen symbolischen Kapitals eine Veränderung des ihr bisher impliziten symbolischen Werts erfährt. Das ‚Wissenskonzept Tangologie‘ erhält einen originären offizialisierten Wert seiner Rechtmäßigkeit als institutionalisierte Praktik und legitimiertes Element innerhalb des ‚Funktionsmechanismus IKE‘, ebenso wie innerhalb der neuen Strukturverhältnisse.138 In einer zwei-

135 So kann für die kulturelle Praktik Tango geschlussfolgert werden, dass die Adaption von Elementen wie Sprachstil, Narrationen und Praktiken der Präsentation an eine im Machtfeld am institutionellen Machtpol näher positionierten Struktur und impliziten Werterelation einer Strategie der Homologisierung entspricht, um einen neuartigen Mechanismus der Praktiken und Werte zu konstituieren. Vgl. die Ausführungen zu diesem Prozess bei Bourdieu: field of cultural production, S.325. 136 Vgl. u.a. Bourdieu: field of cultural production, S.113. 137 Bourdieu formuliert dazu: „Die […] Kultur gewinnt sakrale Geltung. Und in der Tat: die Gegenstände, Personen und Situationen, welche die kulturelle Weihe erhalten, erfahren eine an Transsubstantiation gemahnende ontologische Erhöhung.“ Ders.: Die Feinen Unterschiede, S.26. 138 Eine Legitimierungspraktik im Sinne Bourdieus: „Mit dem Akt der Anerkennung der gesamten sozialen Existenz ist mit der verbindlichen Setzung eines Namens eine buchstäbliche Verwandlung der benannten Sache vollzogen: sie hört auf, tolerierte, illegale oder illegitime faktische Ausübung zu sein und wird soziale Funktion, also Mandat, Beruf, Amt, Rolle – dies alles Bezeichnungen, die sehr gut auf den Unter-

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ten Konsequenz kann die mögliche Veränderung des Ausagierens traditioneller Praktiken aufgrund variierter Wert- und Funktionssetzungen nach Bourdieu zur Parodie, oder auch im Sinne der Kritik der authentischen Kulturaufführungen zur kanonischen Festschreibung oder Klischeebildung führen.139 Tango als Wert Die den Strukturverhältnissen impliziten Werte und Interessen konditionieren die Wahrnehmung und die Wertsetzung seitens der Akteure: in der Funktion als Wahrnehmungs- und Wertungskategorien generieren sie einen spezifischen Habitus des Wahrnehmens, Wertens und Agierens. 140 Für die kulturelle Praktik Tango wird eine solche Differenzierung dann interessant, wenn die Relevanz – das meint die Inkorporierung – des ‚Funktionsmechanismus IKE‘ und korrespondierende Werte in den ‚Tango IKE‘ als das gültige Wissenskonzept bestimmt werden soll. In Bezug auf die Wahrnehmung und Wertsetzung der kulturellen Praktik Tango innerhalb der Strukturen des ‚Tango IKE‘ kann bereits auf Basis der Analysedaten konstatiert werden, dass sich die Wahrnehmungs- und Wertungskategorien zu denen in den Analysemomenten ‚kulturelle Praktik Tango‘ und ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ verändert haben. In diesem Zusammenhang argumentiert Bourdieu, dass den zu differenzierenden Positionen eine gemeinsame doxa zugrunde liegt. Trotzdem können die

schied verweisen zwischen der autorisierten, […] Tätigkeit und der bloß widerrechtlichen Inbesitznahme, die in Erwartung der Institutionalisierung ‚einen faktischen Zustand schafft‘.“ Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.749. 139 Zur Gefahr der Parodie formuliert Bourdieu: „This effect is most immediate in the case of so-called classic works, which change constantly as the universe of coexistent works changes. This is seen clearly when the simple repetition of a work from the past in a radically transformed field of compossibles produces an entirely automatic effect of parody.“ Ders.: Field of cultural production, S.113. Zu Kritiken zur Aufführungspraxis und festschreibenden Kanonisierung, wie sie seitens externer reflektierender Positionen für die kulturelle Praktik Tango angemahnt wurden, siehe in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang. 140 Bourdieu argumentiert: „Die Grundlage des in der Wahrnehmung von sozialer Welt wirkenden Relevanzprinzips, das die Gesamtheit der Merkmale der wahrnehmbaren Sachen und Personen definiert […], ist nichts weiter als das Interesse der betreffenden Individuen oder Gruppen, dieses bestimmte Merkmal zu erkennen sowie die Zugehörigkeit des betreffenden Individuums zu der durch jenes Merkmal definierten Gesamtheit.“ Bourdieu: Die Feinen Unterschiede, S.741.

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den Positionen impliziten Kategorien in Bezug auf die wertbesetzten Elemente lebensstilbegründet differieren. Für die kulturelle Praktik Tango wird diese diskrepante Wertsetzung als eine Frage nach dem Originären bzw. nach dem Authentischen formuliert. Desweiteren wird für den ‚Tango IKE‘ erkennbar, dass die Ausagierenden der Tangopraktiken an eine in der ‚Tangologie‘ begründeten illusio gebunden sind; die Akteure des öffentlichen Bereichs und des repräsentativen/vermittelnden Bereichs dagegen einer illusio korrespondieren, die auf den formalen und emotiven Beschreibungen und Kategorien des Tangos sowie auf das Konzept immaterielles Kulturerbe referiert. In der Konsequenz entspricht das Grundaxiom der ‚Tangologie‘ einem originären Konzept der kulturellen Praktik Tango, das Grundaxiom des immateriellen Kulturerbes hingegen einem formalisierten kanonisierten Tango innerhalb des Wertebereichs der UNESCOKonvention IKE. Die Differenzierung der Wertekategorien und der Interessen in Rückbindung an deren Positionierung im Machtfeld bilden die Ausgangsbasis für die Entstehung von Allianzen und Strategien der Erhaltung dieser Strukturverhältnisse bzw. der verbesserten Positionierung darin. Das beschreibt für den Tango der Aspekt der [politischen Vereinnahmung] der kulturellen Praktik. Die entsprechenden Strategien umfassen die Auswahl des Tangos als kulturelle Praktik der [nationalen Bedeutung], deren [Formalisierung] und [Narration] im Sinne der Selbstzensur auf dem offiziellen sprachlichen Markt und der [Umsetzung verbundener Maßnahmen] der vermittelnden und umsetzenden Praktiken. Zu nennen sind hierfür die Gründung bzw. Neuformierung der [Academia de Tango]. Eine der [Vereinnahmung der kulturellen Praktik] Tango korrespondierende Strategie ist jene der Legitimierung einer kulturellen Praktik als repräsentativer und konstituierender [Teil der nationalen Kultur]. Damit verbunden ist die Einsetzung der Agierenden zu [Repräsentanten] bzw. als [Generierende] der nationalen Kultur. Diese Strategie funktioniert dann sinnvoll, wenn die Generierung einer [nationalen Kultur] angestrebt wird. Dabei soll großen Teilen der Bevölkerung ein [Glauben an die Nation] vermittelt werden, indem sie sich als berücksichtigt und Teil des politischen Geschehens behandelt fühlen.141 Eine solche politische Strategie, verbunden mit den entsprechenden Einsetzungspraktiken für

141 Bourdieu hinterfragt: „Ob jene die Macht, die sie besitzen, ausüben könnten, wenn sie den Menschen […] nicht zumindest den Anschein eines Sinns und einer Daseinsberechtigung geben würden, das Gefühl, eine Funktion oder einfach eine Bedeutung zu haben und von Bedeutung zu sein?“ Ders.: Was heißt Sprechen, S.92.

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die kulturelle Praktik Tango, stellt die Antragstellung zum immateriellen Kulturerbe durch die politisch Verantwortlichen dar.142 Paradox im Anerkennungsmechanismus Einen weiteren Aspekt stellt Bourdieu in der Analyse der Funktionsmechanismen von Opposition und Monopol im akademischen Feld heraus. Der zeitgenössische Künstler beruft sich demnach auf seine Verortung innerhalb der Opposition zur übermittelten klassischen Kunst und kann sich trotzdem nur schwer der Anerkennung in Form der Nennung und Eingliederung in den durch die Vermittler und Schreiber der Kunstgeschichte generierten Kanon der zeitgenössischen Künstler entziehen. Der symbolische Wert einer solchen Legitimierung ist für sein (künstlerisches) Agieren innerhalb der Strukturverhältnisse sinnvoll.143 Dieses Paradox ist im ‚Tango IKE‘ erkennbar. Das eigentliche Interesse der ausagierenden Akteure des Tangos besteht darin, institutionsfern und informell im privaten Bereich innerhalb eigener Wertekategorien zu agieren. Doch können sie sich der Anerkennung in Form der Nennung und Eingliederung in den Kanon der authentischen Tango-Tänzer, Tango-Sänger, Tango-Dichter, Tango-Musiker durch die [Academia de Tango] nicht entziehen. Die Einpassung in einen institutionalisierten und formalisierten Mechanismus mit eigenen Wertekategorien geht damit einer und ist – zumeist – unvermeidbar.

142 Vgl. dazu diese Interpretation stützende Literatur, unter anderen bei Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango; Garibaldi: El Tango Extranjero; Savigliano: Tango and the political Economy of Passion. Vgl. ebenso im folgenden Kapitelteil zu den Themenbereichen des Politischen und Ökonomischen. 143 Bourdieu beschreibt dieses Paradox: „Während die Akademie Anspruch auf das Monopol erhebt, die zeitgenössischen Künstler auszulesen, und entsprechend dazu beiträgt, in gewisser Bindung an die Orthodoxie das kulturelle Feld in Form einer Rechtssprechung zu organisieren, die Tradition mit Neuerung verbindet, reklamiert die Universität das Monopol auf die Übermittlung sowohl der bereits etablierten Werke der Vergangenheit, die sie mit der Weihe des ‚Klassischen‘ versieht, wie auch auf die Auslese der allerkonformsten Bildungskonsumenten. Man versteht von daher das ambivalente und aggressiver Verhalten der Autoren, die, einerseits erpicht auf akademischen Lorbeer sich gleichwohl nicht verhehlen können, dass ihnen letztlich diese Auszeichnung von einer Institution zuteil wird, deren Legitimität sie mit all ihrer intellektuellen Aktivität bestreiten.“ Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S.113/114.

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Tanzbewegung Einen hohen Wert der strukturellen Funktion und symbolischen Bedeutung hat der Tango-Tanz bzw. die Tango-Tanzbewegung inne. Das wird im Textmaterial an Beispielen deutlich. Dazu zählt die explizite Benennung der Aspekte ‚Leib und Emotion‘, ‚Identität‘ und das ‚Authentische‘ sowie die soziale Ordnungsfunktion. Die besonderen Kennzeichnungen dieser Tangopraktik sind ihre Gebundenheit an das Körperliche, an implizite Wissensbestände und an das Emotionale. Sie weisen ihr diesen besonderen Stellenwert zu.144 Den Axiomen der Habitustheorie folgend, sind dem Agierenden sämtliche Struktureigenschaften als körpergebundene eingeschrieben. Sie funktionieren als eine Vermittlungsstelle zwischen Struktureigenschaften, den Agierenden und der Art und Weise des Agierens. 145 Dementsprechend kann argumentiert werden, dass dem Tango-Tanz als eine der Tangopraktiken spezifische, nicht bewusste und körpergebundene, nicht-rationale und nicht-mentale Wissensbestände eigen und den Tangotanzenden inkorporiert sind. Sie erweitern den Raum des Möglichen um diese Optionen des Agierens. Amor fati oder die Fatalität des Tangueros Bourdieu konstatiert einen beachtenswerten Aspekt der Eigenwahrnehmung der Agierenden: ‚amor fati‘ bezeichnet die Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Position als selbstverständlich und nicht anders denkbar. Sie resultiert in der akzeptierenden Haltung gegenüber der eigenen Position mit den korrespondierenden Dispositionen. Sie zeigen sich dem Agierenden als Handlungsmöglich-

144 Dazu vgl. Elsner: Das vier-beinige Tier; zu ‚Identität‘ und das ‚Authentische‘ vgl. u.a. Pelinski: Tango nómade, S.27–70, sowie Liska: El tango como disciplinador de cuerpos ilegítimos-legitimados und Polti: Las formas contemporáneas del tango; zur sozialen Ordnungsfunktion, vgl. u.a. Liska: Cultura popular y nuevas tecnologías; in einem weitem Kontext Varela: Genealogía política del tango Argentino. 145 Bourdieu führt aus: „Nichts vermittelt ein besseres Bild von der Logik des Sozialisationsprozesses, worin der Leib als eine Art Gedächtnisstütze fungiert, als jene Komplexe aus Gesten, körperlichen Posituren und Wörtern […]. Funktionieren doch die mit gesellschaftlichen Werten und Bedeutungen befrachteten elementaren Akte der Körperbewegung […] wie grundlegende Metaphern, die ein umfassendes Verhältnis zur Welt – ‚hochmütig‘ oder ‚unterwürfig‘, ‚streng‘ oder ‚weich‘, ‚ausgreifend‘ oder ‚eng‘ – und darin eine ganze Welt zu evozieren vermögen.“ Ders.: Die Feinen Unterschiede, S.739/740.

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keiten und realisierbare Perspektiven. Eng verbunden sind die entsprechenden Werturteile und die daran ausgerichteten Erwartungen sich selbst und den weiteren Agierenden gegenüber. Damit steht das Konzept ‚amor fati‘ zugleich für einen grundlegenden Funktionsmechanismus.146 Für den Tango korrespondiert diese Beschreibung der ‚amor fati‘ den kanonischen Narrationen der ‚Tangologie‘. Darin finden sich die narrativen, euphemisierenden Konzepte des Tangueros und seines [heldenhaften Lebens], seines [stilsicheren Tanzens] und seines [Muts]; die Konzepte der Einzigartigkeit des Tangos aufgrund seines originären Ursprungs [Originarität], seiner Entstehungsbedingungen und seines Entstehungsorts [Ursprungsmythos]; sowie die Konzepte der [metafísica] der besonderen [Texte], [Kompositionen], [Instrumente] und [Befindlichkeiten] des Tangos. Die spezifische ‚amor fati‘ des Tangos generiert sich mit der kennzeichnenden Eigenwahrnehmung aus [Melancholie] und [Stolz]. Die signifikante Charakterisierung des männlichen Protagonisten mit den Attributen [Ehre, Mut und Männlichkeit] in den Tango-Narrationen entspricht einer spezifischen Ausformung der ‚amor fati‘: sie stehen innerhalb der illusio für Grundaxiome der ‚tangologie‘ und sind zugleich eine Notwendigkeit des sinnvollen Handelns im Spiel des Tangos.147

146 Bourdieu: Sozialer Sinn, S.117 und Bourdieu: Meditationen, S.221/222. Bourdieu beschreibt die ‚amor fati‘: „Er fühlt sich in der Welt zu Hause, weil die Welt in Form des Habitus auch in ihm zu Hause ist: eine Not, aus der man eine Tugend gemacht hat, die eine Art Liebe zur Not einschließt, ein amor fati. Das Handeln des praktischen Sinns stellt eine Art notwendiger Koinzidenz zwischen einem Habitus und einem Feld (oder einer Position in einem Feld) dar, was ihm dem Anschein prästabilierter Harmonie verleiht.“ Ders.: Meditationen, S.183. 147 Wie Bourdieu in der Analyse der ‚Männlichen Herrschaft‘ konstatierte, unterliegen die männlichen Agierenden ebenso wie die weiblichen Agierenden einem korrespondierenden Habitus. Dieser ist ein nicht frei gewählter: „Wenn die Frauen, die einer Sozialisationsarbeit unterworfen sind, welche auf ihre Herabsetzung und Verneinung zielt, eine Lehre negativer Tugenden wie Selbstverleugnung, Resignation und Schweigen durchmachen, sind die Männer gleichfalls Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung. […] Der Status des Mannes im Sinne von vir impliziert ein Seinsollen, eine virtus, die sich im Modus des Fraglosen und Selbstverständlichen aufzwingt. In den Körpern in Form eines Ensembles von Dispositionen eingeprägt, denen der Schein des Natürlichen anhaftet und die häufig in einer bestimmten Art des Verhaltens, der Körperhaltung, einer Haltung des Kopfes, einem Auftreten, einer Gangart sichtbar werden, welche mit einer Denk- und Handlungsweise, einem ethos, einem Glauben aufs engste verbunden sind, regiert

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DISKURSE AUS POLITIK, WIRTSCHAFT UND DAS KULTURWISSEN TANGO Über den als distinktiv ausgewählten Textkorpus hinaus sind im gesichteten Textmaterial weitere Aspekte formuliert, die für die Interpretation der erfassten Analysemomente sinnvoll sind zu berücksichtigen. Sie zeigen zugleich den Grad der Reflexivität für die Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango an. In diesem Zusammenhang war zu konstatieren, dass sich mit dem Moment des einsetzenden ‚Anerkennungsmechanismus‘ zunehmend legitimierte externe Themenkomplexe benennen lassen. Zu diesen zählen Diskursstrategien bzw. Themenbereiche des Politischen und Ökonomischen, Konzepte eines Bewegungswissens und die Tangodiskurse im Verständnis eines impliziten Kulturwissens. Auf strukturell-funktioneller Ebene indizieren sie Veränderungen der Diskursverhältnisse: diese Themenkomplexe bilden einen zunächst oppositionellen Pol und können sich im Zuge des sich neu generierenden symbolischen Kapitals aus der Peripherie heraus bewegen. Diskursstrategien des Politischen und Ökonomischen Zu den Diskursstrategien bzw. Themenbereichen des Politischen und Ökonomischen zählen die Thesen von Savigliano ‚Political and Economical Capital of Tango: Passion‘, Barrionuevo Anzaldis Thesen zur ‚Politisierung des Tango‘ sowie Diaz-Bone Argumentation zum ‚eigenständigen Feld der kulturellen Produktion auf sozialer und ökonomischer Ebene‘. Savigliano geht in ihrem Text ‚The Political Economy of Passion‘ davon aus, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung zunehmend auf emotionales und affektives Kapital ihrer Waren setzen muss, um im beabsichtigten Sinne zu funktionieren. Darüber hinaus ermöglicht es, das korrespondierende ‚ideologische Strickwerk‘ in weiteren Ländern zu etablieren. Die im Ganzen von ihr als ‚imperialistic circulation‘ deklarierten ideologisch-ökonomischen Strategien implizieren eine Umschreibung der ‚exotic culture‘ zu nutzbaren ‚cultural patterns of behaviour‘. Diese Umschreibung besteht in der Legitimierung bisher externer oder peripherer Habitusformen und Strukturelementen, deren Kanonisierung und

die Ehre gleich dem Adel, den Ehrenmann jenseits allen äußeren Zwangs.“ Ders.: Männliche Herrschaft, S.90/91.

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Formalisierung innerhalb der herrschenden doxa bzw. des Wissenskonzepts der ‚peripheral-exotic passion‘.148 Die erfolgte Einbindung in die Strukturverhältnisse der ‚exotic elements‘ ist daran zu messen, dass ein Prozess der ‚practices of autoexoticism‘ einsetzt: die betreffenden Akteure, welche vom ‚exotic capital‘ profitieren möchten, unterwerfen sich diesen Kanonisierungen und Formalisierungen, um sie als eigene Handlungsoptionen zu nutzen. Dieser Prozess kann soweit führen, dass die neuen indoktrinierten Habitusformen nicht nur innerhalb der etablierten kapitalistischen Strukturen funktionieren, sondern in den betreffenden kulturellen Praktiken als ein Wert nationaler Symbolik naturalisiert wird. Savigliano konstatiert diesen Prozess für den Tango sowohl in Bezug auf seine Vermarktung auf dem Weltmarkt, als auch in der ideologisch-politischen Aufwertung innerhalb des politischen nationalen Diskurses.149 Das von ihr benannte Kapital der ‚exotic passion‘ des Tangos korrespondiert spezifischen Strategien der Vermarktung, der Teilhabe am Markt bzw. der Legitimierung für das Kapital ‚exotic passion‘ und letztendlich der Produktion der ‚exotic practices‘.150 Im Bereich der ideologisch-politischen Strategien bedeutet

148 Savigliano: Political Economy of Passion. Sie entwickelt darin ihre These des ‚emotional capital Tango: Passion‘: „The purpose of this study is to contribute to the historical account of capitalism by adding a new one: qua hypothesis that a political economy of Passion has been occuring and that this economy has been juxta posed and intertwined with the economies usually described in materialist and ideological grounds. […] This imperialistic circulation gave rise to an emotional capital – Passion – accumulated, recoched, and consumed, in the form of Exotic Culture: ‚mysterious‘, ‚untamed‘, ‚wild‘, ‚primitive‘, ‚passionate‘. The emotional practices of the colonized have been isolated, categorized and transformed into curious, ‚cultural‘ patterns of behaviour.“ Ebd., S.1/2. 149 Savigliano definiert dazu: „The exotic is not an item exclusively for the deligent of the imperial west; it is in the exportet, in its new colonized pachage – once modern, now postmodernized – to the rest, when exported to the (neo)colonized of ‚origin‘, practices of autoexoticism develop conflictively as a means of both adjusting to and confronting (neo)colonialism. […] Through these complex activities of autoexotization caried out in the periphery’s internal political settings, the exotic/exotized representations end up becoming symbols of national identity. Such is the case of Tango Argentino.“ Dies.: Political Economy of Passion, S.2. 150 Savigliano führt aus: „The capitalist production and consumption of the Exotic (Passion) does not affect only those directly involved in hierarchical exchanges of cultural and emotional capital. Exoticism is an industry that requires distribution and

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die Einführung des ‚exotic capital‘ eine neue Reflexivität und Ausbildung von Diskursen dahingehend, dass strukturinterne Oppositionen und Legitimierungskämpfe innerhalb der kulturellen Praktik unter ein von außen implementiertes Gesamtbild der ‚exotic practice‘ subsumiert werden. Somit steht Tango in der Wahrnehmung außerhalb Argentiniens sowie in der Darstellung für ein Identitätselement einer homogenen Nation Argentinien. Der Tango wird zu einem authentischen argentinischen kulturellen Element deklariert.151 Barrionuevo Anzaldi weist für den Tango der Epoche des Postperonismus (1960er Jahre) 152 die Herausbildung eines legitimierten Wissensbestands einer Tango-Geschichte im politischen Interesse der peronistischen Ära nach. Er bestimmt den Tango in einer strukturellen Funktion einer intendierten Narration als Analogie für das nationale Bewusstsein und für eine populistische Volksdefinition. Der Nationenbegriff konstituiert sich auf Basis des ideologisch-politischen Grundaxioms der populistischen Regierungsdoxa Perons.153 Die Intellektuellen als legitimierte Sprecher und Repräsentanten der Nation – als eine im populistischen Grundaxiom verstandene Nation des Volkes – durchlaufen einen Prozess der Institutionalisierung. Sie nehmen die Positionen als legitimierte Sprecher des Staates ein und formulieren mit diskursiven Strategien den Nationenbegriff. Ehemals periphere Intellektuelle – wie es Ferrer und Carretero sind – definieren eine ehemals periphere kulturelle Praktik als konstitutives Element der ideologisch-politischen doxa. Sie werden zu Interessenvertretern und Interessenvermittler der herrschenden Ideologie.154

marketing. Emotional capital must circulate, generating an ever-renewed. […] Exoticism is also reproduced and amplified by the exotics among themselves as they practice exotic reciprocities looking through core/western lenses: latinos, orientals, blacks, tropical islanders, asiens.“ Dies.: Political Economy of Passion, S.3. 151 Savigliano formuliert: „Tango represents a particular sector of argentinos at home, but it assumes national representation abroad. Argentina becomes a nation and tango its symbol when the question of identities is at stake owing to international negotiations, tango shapes and mobilizes Argentineness when confronted with imperialist maneuvers and is activated as a national representation as it crosses over lines of identity formation.“ Dies.: Political Economy of Passion, S.4. 152 Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango. Siehe zur Kritik der Tangoliteratur ebd., insbesondere Einleitungsteil, S.9–20. 153 Der Nationenbegriff wird von Barrionuevo Anzaldi als ein Produkt der Moderne konstituiert und konstruiert verstanden im Sinne Anderson/Hobsbawm. Vgl. bei Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango, S.22–24. 154 Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango, S.25/26 und 27.

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Diese Argumentationskette rechtfertigt zugleich die Interpretation des ‚Anerkennungsmechanismus‘ in Funktion einer Politisierung des Tangos: er wird in die ideologisch-politischen Strategien der Nationenbildung durch die verantwortliche Regierungspolitik eingebunden. Diese Schlussfolgerung findet unter anderem Unterstützung in den Ausführungen Garibaldis, welche den Peronismus als ‚the political manipulation of the tango‘ kennzeichnet.155 Diaz-Bone führt die Kategorie der ökonomischen und der symbolischen Produktion in die sich verändernde ‚kulturelle Praktik Tango‘ ein. Er analysiert die Herausbildung von Strukturen im Verständnis eines Felds der kulturellen Produktion (Ref. Bourdieu ’99), in dem sowohl als kommerzielle Güter konsumierbare als auch symbolische Güter nach dem Prinzip des kapitalistischen Marktes von Nachfrage und Angebot produziert werden. Er beschreibt das Ausagieren der Tangopraktiken in erster Linie in der westlichen Welt und damit außerhalb seines Ursprungsortes als ein ‚Tango-Business‘. Das ‚Tango-Business‘ kennzeichnet sich über die Herausbildung einer eigenständigen Kulturindustrie mit ihren spezifischen kommerziell verwertbaren Gütern wie beispielsweise Tango-Schuhe, Tango-Kleidung, Medien wie SpecialInterest-Zeitschriften, CDs und Videos; aber auch eigene Events wie Tanzveranstaltungen, Shows und Konzerte sowie Orchester und Tanzensembles, Tanzschulen und selbstverständlich die professionellen, authentischen Tanzlehrenden gehören dazu. Die ‚Milonga‘ als der Moment und der Ort, an dem Tango ausagiert wird, kennzeichnet und reduziert sich in dieser Beschreibung als ein Markt, der von den Ausagierenden – in der westlichen Welt fast ausschließlich Tanzende – als Tango (an-)erkannt wird und ein Tangoerlebnis außerhalb ihres gewohnten Alltags verspricht. Desweiteren konstatiert Diaz-Bone eine starke symbolische Kulturproduktion. Die von Diaz-Bone benannten Kapitalformen stehen für ein inkorporiertes, über Tanzkurse akkumuliertes, kulturelles Kapital und funktionieren als symbolisches Kapital im ‚Erlebnisraum Milonga‘. Das Zusammenwirken der Akteure, der Institutionen und Praxisformen realisiert sich in einer Weise, die einen spezifischen Habitus erkennen lässt. Dazu zählen die Bedeutung des Tangos, seine

155 Garibaldi führt veranschaulichend aus: „Perón renewed the link between the tango and the working class for political gains. The tango underwent some changes during the Perón years in style and execution, but was also an important political tool for the Peronists to further their nationalistic and populist agenda. […] Perón linked the tango with nationalist sentiments and with his nationalist agenda. During the Peronist era, the tango was fostered as a national symbol and politicized.“ Ders.: El Tango Extranjero, S.48/49 und S.54/56.

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wesenhafte Kennzeichnung, die Standards, Konventionen und Qualitäten des Tanzens, die legitimierte Art und Weise des Lehrens und des Tanzens. Daraus generiert sich nach Diaz-Bone eine soziale Realität des Phänomens Tango. In dieser wird er sowohl materiell als auch symbolisch als kollektive soziale Konstruktion hervorgebracht und reproduziert. Den Reproduktionsmechanismen sind die Reproduktion von herrschenden kulturellen Identitätsinszenierungen, der signifikanten Geschlechterinszenierung (hombre/mujer) und die ethnische Inszenierung (auténtico argentino) implizit.156/157 Tango als Bewegungsdialog und gelebte Geschichte Elsner formuliert den Themenbereich der Bewegung im Tango, der sich innerhalb des ‚Tango IKE‘ als ein Wissenskonzept neu etabliert. Ein Aspekt richtet sich auf den Bewegungsdialog im Tango-Tanz als eine den tänzerischen Bewe-

156 Das von Diaz-Bone rekonstruierte Feld der Kulturproduktion der westlichen Welt am Beispiel der ausgewählten Tangoszene Berlin umfasst die Kategorien der Institutionen, Praxisformen und Standards, die eigenen Medien (Zeitschriften, Internetseiten, Radiosender/Sendungen) sowie eine eigene Medienproduktion CD/DVD und Bücher, den Bereich mit den Waren Tangoschuhe und Bekleidung, ein ausdifferenziertes Angebot an Tangokursen, den Sektor der Tangoreisen und Tangoführer. Diaz-Bone konstatiert ein Set an ausdifferenzierten Rollen wie Tanzlehrer, DJs, Musiker, Instrumentenbauer/Restauratoren, Designer, Fotografen/Maler, Veranstalter, Journalisten sowie spezifische und der Legitimierung benötigenden Expertenrollen wie Rezensenten, Archivaren, Historiker, Theoretiker. Die spezifischen Kapitalformen umfassen Attraktivität, Informiertheit, Kompetenz, Kleidungsstil sowie die Disposition ‚argentino‘, das meint argentinischer Herkunft. Vgl. bei Diaz-Bone: „Tangowelt Berlin“; in Willems: Theatralisierung der Gesellschaft, S.355–376. 157 Villa bestätigt diese Thesen in ihren Analysen in der deutschen Tangoszene mit der Beschreibung eines Tangomarkts, in dem Tango als ein kulturelles Produkt zugleich als ein konsumierbares Markt-Produkt funktioniert. Den kommerziellen Aspekt findet sie in den Ausdifferenzierungen und Geldwertmachung von Tango-TanzenLernen und Tango-Lehren, den Tanz-Lokalitäten und jeglichen notwendigen Utensilien für die authentische Inszenierung einer vorgestellten Tango-Welt. Vgl. bei Villa in Hahn/Meuser: Körperrepräsentationen, S.179–203; sowie Villa in Alkemeyer u.a.: Aufs Spiel gesetzte Körper, S.131–154.

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gungen und Umgangsformen implizite Wissensform. Der zweite Aspekt fokussiert dessen Funktion für die Tanzenden und deren Umfeld.158 Für den – in der westlichen Welt benannten – ‚Tango Argentino‘ umfasst das als Bewegungsdialog benannte Konzept die komplexe Bewegungstechnik, die mentale Haltung der Konzentration und Versenkung, das Körperbewusstsein von Mann und Frau und den bewegten Erlebnisraum.159 Innerhalb dieses Wissenskonzepts wird der spezifische Habitus des ‚Tango Argentino‘ – als in der westlichen Welt ausagierte Praktik – beschrieben. Den spezifischen Bewegungstechniken innerhalb des Bewegungsdialogs und der Choreographie sind die Bewegungsformen der Alltagswelt der Tanzenden implizit. Sie bilden mit Elsner ein spezifisches, den Wissensbeständen der kulturellen Praktik Tango korrelierendes implizites Körperwissen.160 Als zweiten Aspekt des Wissenskonzepts Tanz formuliert Elsner die Bedeutung der Bewegung als eine Inkorporierung bzw. ein Ausagieren spezifischer Gegebenheiten. Dafür benennt sie verschiedene Kategorien von Funktionen für den Tango als Tanzpraktik. Eine erste Kategorie umfasst die Wirklichkeitskonstruktion durch die Akteure vermittels ihrer Wahrnehmung, Bewertung und ihrem Agieren. Dazu zählen ein individuelles lebensgeschichtliches Bewusstsein

158 Elsner formuliert dieses Wissensprinzip: „Jeder Tanz beruht auf einer Selektion aus den Möglichkeiten an Bewegungsarten, Bewegungsrichtungen, Bewegungsdynamik, etc., die den menschlichen Körper zur Verfügung stehen. Aufgrund dieser Auswahl, die auf einer Unterscheidung beruht, entsteht erst die prägnante formgebende Wirkung des Tanzes in Bezug auf die ästhetische Erscheinung des Körpers. Zugleich sind mit der Bewegungstechnik eines Tanzes auch die Grundlagen für die Erlebnismöglichkeiten im Tanz entworfen.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.31. 159 Die Bewegungstechnik kennzeichnet Elsner als die körperbezogene Komponente des Bewegungsdialogs: „In der Bewegungstechnik eines Tanzes sind Prinzipien der Körperhaltung aufgehoben, sie stellt Bewegungsregeln auf und schließt damit andere aus. Im Falle eines Paartanzes bestimmt sie die geeignete Tanzhaltung der Partner zueinander sowie die Art der körperlichen Beteiligung im Bewegungsdialog.“ Dies.: Das vier-beinige Tier, S.31. 160 Elsner formuliert dazu: „Die Choreographie des Tango hat für den ‚sozialen Körper‘ in der Vorstadt von Buenos Aires um 1900 eine bedeutende Rolle gespielt. In ihr soll daher eine ‚Verkörperung sozialer Kräfte‘ betrachtet werden, die in dieser Choreographie Gestalt angenommen haben: Gewohnheiten, Bewegungskomplexe, Selbstdeutungen, Empfindungsweisen und Wahrnehmungsstile von Subjekten der Vorstadt.“ Dies.: Das vier-beinige Tier, S.93/94.

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und die kollektive soziale Identität.161 Eine zweite Kategorie steht für den Tango als eine Ausformung bzw. Materialisierung der konkreten und spezifischen Situation seines Entstehungsraums. Den spezifischen Elementen des Tangos ist die Genese der korrespondierenden Sozialraumstruktur implizit. Sie werden als Ausdrucksform gelebter Geschichte definiert. 162 Diese gelebte Geschichte umfasst ebenso die spezifischen emotiven Befindlichkeiten und soziokulturellen Indikationen. Sie werden in den Praktikenformen als spezifische Habitusformen und hexis erkennbar.163 Mit der Bewahrung (gelebte Geschichte) und Vermittlung der impliziten Wissensbestände (Praktikenformen und Narrationen) steht den gegenwärtigen und folgenden Generationen ein Spektrum an spezifischen Handlungsoptionen – im praxeologischen Verständnis ein Raum an Möglichkeiten – zur Verfügung. Tangodiskurse im Verständnis eines impliziten Kulturwissens Ein dritter Themenbereich ist insbesondere in literarischen und journalistischen Diskurselementen zu konstatieren. Sie beziehen sich in erster Linie auf die Erscheinungswelt des Tangos im Verständnis als ein ‚populäres Bewegungsritual‘ und auf die besondere ‚Erlebnisqualität von Musik und Tanz‘. Sie generieren den rezipierbaren und vermittelten gesellschaftlichen Diskurs zur kulturellen Praktik Tango. Neben den von internen und externen verfassten Textelementen, den Stellungnahmen der Agierenden, gehören die Inhalte der Liedtexte dazu. Elsner kennzeichnet sie als ein Kulturwissen in Buenos Aires. Es steht für einen

161 Elsner führt dazu aus: „Im Tango sind demnach sinnenhafte, leibliche Momente des Ästhetischen besonders intensiv mit dem lebensgeschichtlichen Bewusstsein der Einwohner von Buenos Aires verbunden. Die Identitätsfigur ‚nosotros mismos‘ setzt sich zusammen aus Gefühlen, Modalisierungen von Zeit, Selbstbildern, etc., die sich aus dem Tango ergeben.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.90/91. 162 Elsner führt aus: „Der Tango als Ausdrucksform ‚gelebter‘ Geschichte ermöglicht es, dass Buenos Aires neben offizieller politischer, wirtschaftlicher etc. Geschichtsschreibung eine parallele Erinnerungsform, eine Geschichte der Choreographie und der Leiblichkeit besitzt.“ Dies.: Das vier-beinige Tier, S.90/91. 163 Elsner: Das vier-beinige Tier, S.91. Ein signifikanter Moment innerhalb dieser Kategorie stellt die Affektivität und Leiberfahrung von Männern und Frauen dar. Das widerspiegelt sich in der Kategorie von ‚el arte de ser macho y hembra‘. Es fungiert als ein wichtiger Indikator für kulturell geprägte Wahrnehmungsformen der Geschlechter sowie deren Selbstdarstellung. Somit ist das Bewegungskonzept an herrschende Geschlechterkonzepte gebunden. Vgl. ebd., S.94.

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spezifischen inkorporierten und ausagierten Wissensbestand. Neben der Choreographie als die korrespondierende Körperpraxis entsteht eine ‚populäre Philosophie‘ des Tangos, im Verständnis einer leibhaftigen Aneignung von Haltungen, Beziehungen, Wahrnehmungsstilen, Bewegungs- und Ausdrucksformen. Dieser Wissensbestand entspricht dem formulierbaren Tango-Wissen über die Welt (von Buenos Aires).164

164 Elsner: Das vier-beinige Tier, S.179/180.

Interpretation der Veränderungen des Tango Den Sinn für das Spiel haben heißt, das Spiel im Blut haben […]. Während der schlechte Spieler immer aus dem Takt ist, immer zu früh oder zu spät kommt, ist der gute Spieler einer, der antizipiert, der dem Spiel vorgreift.1

TANGO ALS IMMATERIELLES KULTURERBE Um die erfassten Strukturverhältnisse für die kulturelle Praktik Tango im Moment ihrer Anerkennung als immaterielles Kulturerbe zu interpretieren, werden die signifikanten Momente zusammengeführt. Anschließend werden die Schlüsselkategorien und relevanten Aspekte auf Grundlage der Theoreme Bourdieus formuliert. Ausgehend von der theoretischen Auseinandersetzung und den Erkenntnissen aus der Rekonstruktionsarbeit kann dann argumentativ zu den Schlussfolgerungen im abschließenden Teil hingeführt werden. Das Erkenntnisinteresse der interpretierenden Analytik fokussiert die Überprüfung der Annahme, dass die Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe an eine kulturelle Praktik dieselbe in einer spezifischen Weise verändert. Dafür wurden zwei Momente der kulturellen Praktik Tango – jeweils vor und im Moment der Verleihung des Kulturerbestatus – sowie als dritter Moment die Kulturerbe-Konvention analysiert. Mit den Ergebnissen des im vorangegangenen Kapitel erfolgten Vergleichs dieser drei Analysemomente kann nun eine zusammenführende und kritische Interpretation erfolgen. Mit dem Rekonstruktionsprozess kristallisierten sich signifikante Kategorien für die Interpretation und mögliche Veränderungen heraus:

1

Bourdieu: Praktische Vernunft, S.145.

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Der soziale Raum mit der korrespondierenden objektiven Struktur, den differenzierten Akteuren und Entwicklungen des ‚tango rioplatense‘ und ‚tango nómade‘; die ausagierten Tangopraktiken, zu denen Tanz- und Musikpraktiken, Textproduktion und emotionale Befindlichkeiten zählen; die Herausformung eines ‚Habitus Tango‘, das meint die Inkorporierung der konditionierenden gesellschaftlichen Strukturen und die Hervorbringung einer spezifischen sozialen Welt; das Selbstverständnis der Agierenden, entsprechende spezifische Diskurse bzw. intendierte Narrationen. Diese sind gekennzeichnet als mythologisierend, als Nationaldiskurse oder als historisch-deskriptiv; erkennbare Formen des Körperwissens bzw. Bewegungswissens in den Tangopraktiken und das Konzept eines kulturellen Gedächtnisses im Ausagieren der Tangopraktiken. Die kulturelle Praktik Tango im Moment ihrer Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe erweist sich als eine neue (relativ) autonome Struktur. Der Moment der Anerkennung entspricht dem Moment des Zusammengehens der beiden vorherigen (relativ) autonomen ‚kulturellen Praktik Tango‘ und ‚UNESCO-Konvention-IKE‘. Die neuen Strukturverhältnisse weisen ein neuartiges symbolisches Kapital und signifikante Wissenskonzepte auf. Schlüsselkonzepte der Analyse Für die erfassten Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ können ausgehend von den bourdieuschen theoretischen Begriffen Schlüsselkonzepte für die Interpretation benannt werden: spezifisches (symbolisches) Kapital; Praktiken der Macht: Machtrelationen von Institutionen und Ausagierenden kultureller Praktiken; sowie Kultur als Option: Materialität und inkorporierte Wissensbestände. Spezifisches (symbolisches) Kapital des Immateriellen Das Schlüsselkonzept spezifisches (symbolisches) Kapital umfasst die Aspekte symbolische Macht, symbolisches Kapital und spezifisches Kapital, die inPraxis-Setzung der Kapitalformen, die Institutionalisierung einer solchen Macht bzw. Kapitalstruktur innerhalb der staatlichen Strukturen sowie die Repräsentanzsituation in Gruppen. Die symbolische Macht steht für die herrschenden Positionen innerhalb der Strukturverhältnisse. Sie fundamentiert sich letztendlich auf einer (willkürlich) gesetzten doxa, die einen legitimierten und zumeist institutionalisierten Status innehat. Auf der Ebene der Praxis entsprechen die Setzung von Standpunkten, Wahrheiten, Werten, Recht und Sinn sowie die Legitimierungen und Formalisierungen seitens der herrschenden Positionen dem strukturinhärenten Interesse.

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Die illusio aller Akteure beruht auf der Anerkennung der symbolischen Macht und verschleiert sowohl den naturalisierten, willkürlichen Status der zugehörigen Sinnstruktur als auch die zugrundeliegende doxa. Im neu formierten ‚Tango IKE‘ korrespondiert die dem Konzept immaterielles Kulturerbe zugeordnete symbolische Macht der Institution UNESCO, den zugehörigen und agierenden Organen sowie den Vertragsstaaten der Konvention. Die doxa entspricht dem der UNESCO-Konvention IKE sowie allen anderen UNESCO-Dokumenten zugrundeliegenden Selbstverständnis der UNESCO. Es basiert auf einem okzidentalen Demokratieverständnis und der Deklaration der Menschenrechte. Das offizielle Interesse besteht darin, selbige Menschenrechte und korrespondierende Strukturmechanismen, politische Systeme und das Verhältnis der Agierenden zueinander zu reproduzieren. Die illusio korrespondiert dem offiziellen Standpunkt der Möglichkeit und Umsetzbarkeit idealer Wertsetzungen innerhalb der Praxis. Für den Tango als immaterielles Kulturerbe erweist sich das Konzept des Immateriellen als das spezifische Kapital. Das Kapital des Immateriellen definiert sich in der Verbindung eines (latent) institutionellen, da kulturellen legitimierten Kapitals mit der (vorgeblich) immateriellen Eigenschaft der inkorporierten Wissensbestände und der nicht-Materialität. Es ist – auf ideeller Ebene latent bzw. auf strukturell-institutioneller Ebene notwendig – an die allgemeinen Kriterien der UNESCO-Konvention IKE gebunden bzw. im Fall des Tangos an die fünf Kriterien der Anerkennung. Das Kapital des Immateriellen wird nicht mit dem Grad der Immaterialität gleichgesetzt, sondern definiert sich aus der Relation zwischen dem Immaterialitätsgrad und dem symbolischen Wert. Damit funktioniert das spezifische Kapital als ein symbolisches Kapital. Das symbolische Kapital referiert auf die legitimierten und offizialisierten Kapitalformen. Die Wirksamkeit des symbolischen Kapitals basiert auf der Formalisierung und Homologisierung des mit ihm verbundenen Interesses, der doxa und der Anerkennung der herrschenden Strukturverhältnisse. Grundlegende Bedingung für die Wirksamkeit ist deren Inkorporierung bzw. Naturalisierung bei den Akteuren durch die Reproduktionsmechanismen. Das symbolische Kapital für den ‚Tango IKE‘ umfasst mit dem Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe die implizite Qualität der Immaterialität und die Kongruenz mit den Kategorien der UNESCO-Konvention IKE, insbesondere den Anerkennungskriterien. Die kulturelle Praktik Tango wird in Bezug auf ihre Legitimität und ihre Verortung innerhalb der Kapitalstruktur in Relation ihres Verfügens über dieses symbolische Kapital des Immateriellen und der Kriterienkongruenz bestimmt.

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Das spezifische und symbolische Kapital weist signifikante Kennzeichnungen auf. Aus dem Vergleich der Wissenskonzepte der drei Analysemomente und deren Zuordnung zu den Vektoren Institutionalisierungsgrad, Materialitätsgrad und Zeitlichkeit war die symbolische Ebene in ihrer Ausdehnung und Funktionalität innerhalb der Strukturrelation Tango zu erfassen. Als signifikante Qualitäten für die spezifischen Elemente konnten Immaterialität/Materialität und die Kategorie der Institutionalisierung benannt werden. Die Ableitung und Bestimmung des symbolischen Kapitals des Immateriellen wurde damit möglich. Der Begriff der Materialität differenziert die erfassten materiellen Elemente in ihrer Objekt- bzw. Personengebundenheit. Die benannten Elemente mit einem geringen Materialitätsgrad sind dem Begriff des Immateriellen zuzuordnen. Hierzu zählen die [Ideale, Visionen, Ziele], die ideellen [Referenzen], die [Mythen] des Tangos sowie [Authentizität] und [Originalität] der kulturellen Praktiken. Im Vergleich der drei objektiven Strukturen wurde ersichtlich, dass die Elemente der materiellen Ebene (objektgebundene und personengebundene Elemente) des Tangos als kulturelle Praktik weitestgehend in eine referentielle Position im ‚Tango IKE‘ transformieren und überwiegend als diskursive bzw. ideelle Elemente strukturkonstituierende Funktionen innehaben. Desweiteren erweist sich der Begriff der Institutionalisierung als ein differenzierender Wert. Es werden Bereiche entsprechend des unterschiedlichen Institutionalisierungsgrads erkennbar. Dabei bilden sich zwei Oppositionspole. Das ist zum einen der Bereich des höchsten Institutionalisierungsgrads. Ihm korrespondieren die Institution UNESCO und deren Konventionsorgane, die entsprechenden diskursiven Elemente, wie Dokumente, Konventionsinhalte sowie die ideellen Elemente der Ziele und Interessen. Den zweiten Oppositionspol bildet der nicht-institutionalisierte Bereich, der lediglich als Referenzpunkt gesetzt wird. Dieser differenziert sich in die als die populär und authentisch gekennzeichneten kulturellen Praktiken und in den Bereich der Oppositionen. Auf die kulturellen Praktiken beziehen sich die umzusetzenden Ziele und verbundenen Maßnahmen. Die Oppositionen sind mit den Schlagwörtern der Bedrohung, der Auslöschung, des Missbrauchs und Illegitimität gekennzeichnet, denen das Konventionsinteresse entgegengesetzt ist. Mit der Zuordnung der Elemente zu einem Institutionalisierungsgrad konnten die beiden Bereiche der kontrollierten und der unkontrollierten Praktiken differenziert werden. Dabei steht das ‚kontrollierte‘ für den Grad der Institutionalisierung und für eine Kontrolle durch institutionelle Praktiken. Es impliziert die Anbindung der kontrollierten Praktiken an ein internationales Rechtsinstrument und an eine institutionelle Legitimierung. Das bedeutet, dass die Individualität der Agierenden und die Originalität der kulturellen Praktiken dem Status eines

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allgemeinen Interesses der Menschheit und einem universellen, durch die UNESCO proklamierten und durch die Vertragsstaaten legitimierten Wertekanon untergeordnet werden. In der Konsequenz sind auf struktureller Ebene keine unkontrollierten Bereiche des Tangos mehr zu konstatieren. Alle Elemente unterliegen dem Formalisierungsprozess innerhalb des erfassten Funktionsmechanismus. Der Formalisierungsprozess meint das Erfassen, Definieren und Legitimieren der Orte, Objekte, Charaktere und Mechanismen (Kommunikationscodes, Tanztechniken, Musikstile, Ambiente, etc.), an die das Ausagieren der Praktikenformen gebunden ist. Die beiden Bereiche, die durch kontrollierte und unkontrollierte Praktiken bzw. durch legitimierte und nicht legitimierte Praktiken differenziert sind, haben sich mit dem Moment der Anerkennung des IKE-Status verändert. Für den bisherigen nicht institutionellen Bereich kann formuliert werden: Die unkontrollierten Praktiken liegen zeitlich soweit zurück, dass sie als Referenzpunkt dienen und entsprechend der Notwendigkeit der Darstellung sowie im Sinne der Konvention interpretiert und zitiert werden. Sie fallen nicht unter die Definitionskriterien seitens der ‚Academia de Tango‘, so dass sie nicht als Teil der Wissenskonzepte immaterielles Kulturerbe oder Tango IKE anerkannt werden. Das Ausagieren der symbolischen Macht entspricht der Aneignung des symbolischen Kapitals. Es konnten zwei Formen des für diesen ‚Funktionsmechanismus‘ notwendigen Verinnerlichungsprozesses konstatiert werden. Die erste Form der Aneignung geschieht durch das Hineinwachsen in die Strukturverhältnisse. Die unhinterfragte Akzeptanz der herrschenden doxa scheint natürlich gegeben, da kein bewusster Aneignungsprozess vorangegangen ist. Eine solche Form inkorporierter Wissensbestände ist die [tangología] als das Wissen darum, was Tango ist und wie Tango auszuagieren ist. Ein Wissen, das über das Sozialisieren im [escenario de Buenos Aires] vermittelt wird. Die zweite Form der Aneignung bestimmt Bourdieu als einen Prozess der Inkorporierung. Der beschreibt die Einverleibung der Herrschaftsbeziehungen als ein innerer Zwang und ist grundsätzlich an Zensurmechanismen gebunden. Diese zweite Form der Aneignung entspricht dem ‚Anerkennungsmechanismus‘: das neu formierte symbolische Kapital ist notwendigerweise als Wissensbestand den Agierenden durch korrespondierende Strategien zu vermitteln und zu naturalisieren, um den ‚Funktionsmechanismus‘ zu realisieren. Strukturiert werden die Praktiken und Strategien des Ausagierens der symbolischen Macht durch die Kategorie der Zeitlichkeit. Eingeschlossen sind dabei das Vermitteln und Aneignen des symbolischen Kapitals. Auf der Zeitebene des Gegenwärtigen finden sich der Moment der Normsetzung und das Ausagieren

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der kulturellen Praktiken als referentieller Moment verortet. Die Normsetzung steht zugleich für die Setzung des spezifischen Kapitals als ein symbolisches: es werden Werte und Qualitäten des kulturellen Erbes und des Immateriellen in Funktion von zu inkorporierenden Wissenskonzepten formuliert und legitimiert. Das geschieht innerhalb der Funktionsmechanismen der symbolischen Macht. Die erfassten Oppositionen zu den gesetzten Normen bzw. das Fehlen des symbolischen Kapitals liegen außerhalb des Bereichs der symbolischen Macht und sind mit den Kennzeichnungen [Bedrohung] und [Verschwinden] dem unkontrollierten Bereich zugeordnet. Auf der Zeitebene des Vergangenen finden sich die Referenzpunkte für das Gegenwärtige, ebenso wie die Oppositionen als die negativen Pole außerhalb der neu formierten Strukturverhältnisse. Zu den Oppositionen zählen die fehlende [Rechtsstaatlichkeit] und das fehlende [allgemeine Interesse] sowie fehlendes [Bewusstsein], fehlender [Respekt] und [Dialog]. Das gegenwärtige als symbolisches gesetzte, spezifische Kapital ist ein Derivat dieser Genese und meint den Inkorporierungsprozess dieser Referenzpunkte. Auf der Zeitebene des Zukünftigen verorten sich die dem abstrakten Bereich zuzuordnenden ‚Visionen, Ideale und Ziele‘. Sie werden durch die vermittelnden und zu realisierenden Maßnahmen und Programmen umgesetzt, sofern sie durch die Vertragsstaaten und umsetzenden Instanzen legitimiert werden. Daraus generiert sich ein an den ‚Anerkennungsmechanismus‘ anschließender ‚Funktionsmechanismus‘ der Realisierung der Konventionsinhalte und der impliziten (latenten) Interessen. In Bezug auf das spezifische symbolische Kapital ist die Schlussfolgerung möglich, dass sich in der Zeitebene des Vergangenen Elemente und Werte finden, die durch den ‚Funktionsmechanismus‘ in der Ebene des Gegenwärtigen in den neu formierten ‚Tango IKE‘ eingebunden werden, um sie auf der Ebene des Zukünftigen naturalisiert und ausagiert zu wissen. Das meint, dass die spezifischen Werte in inkorporierter (unbewusster) als auch in bewusster Weise in den Tangopraktiken realisiert und praktiziert werden. Die Institution Staat bzw. die staatlichen Strukturen, sowohl auf nationaler wie auch auf multilateraler Ebene, können für den ‚Tango IKE‘ als symbolische Macht bestimmt werden. Das symbolische Kapital wird von den Akteuren legitimiert. Dieses wird seitens der staatlichen Strukturen kodifiziert und bürokratisiert. Der Staat als bürokratisierte Institution der staatlichen Strukturen besitzt die höchste Autorität über dieses Kapital. Das staatliche symbolische Kapital konnte als das legitimierte Konzept immaterielles Kulturerbe bestimmt werden. Es umfasst entsprechend das implizite Wissenskonzept der ‚UNESCOKonvention-IKE‘ mit den Funktionsmechanismen (Befugnisse, Dokumente,

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Strategien, Praktiken) und Grundaxiomen (Kulturbegriff, (latente) Interessen, offizialisierte Ziele, Visionen und Maßnahmen). Der Staat trägt sich für die Vereinheitlichung der Strukturverhältnisse verantwortlich und auch nur er hat die symbolische Macht dazu. Er bedient sich der spezifischen Strategien und Praktiken der Vereinheitlichung der Regelwerke und Klassifizierungen sowie der Homogenisierung der Kommunikations- und Interaktionsformen. Das sind die erfassten Praktiken und Strategien der Macht durch die ausagierenden und vermittelnden Instanzen (UNESCO-Organe, Medien und Vertragsstaaten) sowie die stringenten Funktionsmechanismen der Maßgaben, Verpflichtungen, Maßnahmen, Berichte sowie die entsprechenden Strategien der Kontrolle und Adaption. Dieser Prozess der Vereinheitlichung und Homogenisierung formiert einen einheitlichen Charakter aller strukturimmanenten Elemente. Im Rahmen der staatlichen Grenzen wird dieser als nationale Identität oder Nationalcharakter bestimmt. Der durch den Staat legitimierte und beherrschte Reproduktionsprozess (beispielsweise das Bildungssystem) ermöglicht, die offiziellen Definitionen in der Praxis durchzusetzen sowie auf symbolischer Ebene als nationale Kultur zu definieren. Innerhalb stark formalisierter Gruppenstrukturen geht die Autorität über das einzelne Interesse des einzelnen Akteurs an die repräsentative und – zumeist – institutionalisierte Position über. Das kann so weit gehen, dass sich der einzelne Akteur dem gruppenspezifischen allgemein(-er-)en Interesse entfremdet empfindet. Das symbolische Kapital der Gruppe und demzufolge die symbolische Macht des Vertreters sind im Allgemeinen höher als das der einzelnen Akteure. Der so entfremdete Akteur ist dem Vertreter gegenüber machtlos. Erst wenn die Entfremdung eine große Zahl an Akteuren betrifft, besteht strukturell die Option, das Mandat an den Vertreter zurückzuziehen. Allerdings ist dann ebenso die Existenz der Gruppe gefährdet. Der gesamte Anerkennungsprozess wird seitens institutioneller und institutionalisierter Akteure realisiert und getragen. Darüber hinaus liegt die symbolische Macht des neu formierten ‚Tango IKE‘ bei den UNESCO-Organen und staatlichen Institutionen. Damit haben die Agierenden der Praktikenformen an den symbolischen Werten und legitimierenden bzw. autorisierenden Definitionen keinen Anteil mehr. Das legitimierte Interesse ist in ein allgemeines und offizielles Interesse sowie in einen formalisierten Standpunkt transformiert. Ein Entziehen dieser Autorisierung ist seitens der Agierenden in keiner Weise mehr zu realisieren. Eine Deautorisierung wäre nur denkbar mit der Verweigerung der Definition Tango und einer (noch) nicht-legitimierten Neubenennung bzw. Neubestimmung. Diese Konsequenz entspricht nicht der Intention der UNESCO-

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Konvention zur Bewahrung kultureller Praktiken und würde den gesamten ‚Funktionsmechanismus‘ ad absurdum führen. Der Prozess der Realisierung von offiziellen Interessen seitens einer symbolischen Macht kann ebenso in umgekehrter Wirkrichtung betrachtet werden: es lassen sich nur dann Interessen in die Praxis umsetzen, wenn die Akteure diesen Interessen mit ihren sozialen Praktiken entsprechen. Für Institutionen wie die UNESCO und die staatlichen verantwortlichen Stellen ist das eine notwendige Voraussetzung für die Erfüllung des offiziellen Interesses und letztendlich für den Sinn der Etablierung und Bestand der Institution. Die Analysedaten weisen aus, dass innerhalb der ‚kulturellen Praktik Tango‘ zwei Kategorien von Akteuren agieren. Die legitimierten Vertreter und Repräsentanten rechtfertigen die Interessen der symbolischen Macht, indem sie den Antrag auf immaterielles Kulturerbe stellen. Sie beschreiben die kulturelle Praktik in diesem Sinne und sind disponiert, die kulturelle Praktik unter den in der Konvention benannten Maßnahmen und Kriterien zu formalisieren. Die Ausagierenden der kulturellen Praktik hingegen sind diejenigen, die im ‚Tango IKE‘ lediglich in der Funktion als Referenzpunkte stehen und keine individuellen Stellungnahmen bzw. Strategien ohne Kennzeichnung des gültigen symbolischen Wertes (allgemeines Interesse) realisieren. Das bedeutet, dass sie keine Autorisierung besitzen, ihre Vertreter und Repräsentanten, ebenso wie die neuen symbolischen Werte zu legitimieren oder zu delegitimieren. Die Verschleierung dieser Strategien wird offensichtlich, indem lediglich Vertreter und Repräsentanten sprechen, in keinem Moment jedoch ein Einsetzungsprozess durch die Ausagierenden der Tangopraktiken nachzuweisen war.2 Die Ausagierenden des Tangos sind notwendig an den vermittelten Habitus gebunden. Der Habitus wird durch inkorporierte und noch zu inkorporierende Wissensbestände generiert. In Bezug auf die der Ernennung vorangegangene Entwicklung des Tangos kann davon ausgegangen werden, dass eine institutionelle Festschreibung des Tangos den herausgearbeiteten bisher impliziten Wissenskonzepten von [tangología] und [metafísica de tango] sowie [escenario de Buenos Aires] und [personajes típicos] widerspricht. Es handelt sich um eine Selbsteinsetzung der Institution ‚Academia de Tango‘. Sie erhielt ihre Legitimierung auf Basis (latenter) politischer Interessen.3

2

Inwiefern die Ausagierenden der kulturellen Praktiken den Legitimierungsstrategien

3

Somit steht auch in Frage, ob ein entsprechender Habituswandel tatsächlich vorliegt

positiv gegenüber stehen, kann aus dem Textkorpus heraus nicht erfasst werden. und der neue symbolische Wert durch die Ausagierenden der Tangopraktiken aner-

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Praktiken der Macht. Der Begriff des Populären und Zensur Den Positionen, die symbolische Macht innehaben, konnten spezifische Praktiken zugeordnet werden. Zu ihnen zählen Strategien der Offizialisierung, Formalisierung und Kodifizierung; die Zensurmechanismen; die Reproduktionsmechanismen und die Gesetzgebung. Diese Praktiken operieren mit einer strategischen Abgrenzung zu den zum Volk zählenden Akteuren. Zwei Strategien konnten erfasst werden, die durch die herrschenden Positionen gegenüber dem durch sie definierten Volk angewandt werden. Eine erste Strategie besteht in der geringen Wertung der Praktiken des Volkes. Das geschieht, indem eine auf dem Kapitalbesitz basierende Distinktion artikuliert und mit symbolischem Kapital besetzt wird. Diese Strategie wird für den Tango mit den erfassten Elementen des Kulturkampfes und des Tangoverbots in der ‚feinen Gesellschaft‘ bis zu den 20er Jahren nachweisbar. Innerhalb dieser Strategie wird das ‚Klischee des Anrüchigen und Proletarischen‘ reproduziert. Eine zweite Strategie definiert das positive Populäre. Die spezifischen populären Praktiken der Positionen, die dem Volk zugeordnet werden, bekommen hierfür eine besondere, wenn auch zu den Praktiken der herrschenden Positionen unterschiedene Bedeutung zugeschrieben. Der Definition eines solchen positiv gewerteten Populären entsprechen die beiden Phasen der Politisierung des Tangos unter Perón (populistischer Staatspräsident Argentiniens in den 60er Jahren) und unter Kirchner (Staatspräsidentin von Argentinien, die die Antragstellung forcierte). In dessen Konsequenz erfolgte die institutionelle Anerkennung des Tangos als immaterielles Kulturerbe. Bedeutsam für diese Strategien ist die Definition von Volk. Sie artikuliert das Verhältnis der herrschenden Positionen zu den beherrschten Positionen. Die impliziten Interessen der Macht können aus dieser Definition heraus abgeleitet werden. Die erste benannte Strategie zielt darauf, die Notwendigkeit zu artikulieren, besondere für das Volk geeignete bildungspolitische Maßnahmen durchzusetzen. Das geschieht zumeist unter dem Schlagwort ‚Kultur fürs Volk‘. Letztendlich wird beabsichtigt, die Trennlinie und die Zugangsbarrieren zwischen Volkskultur und Hochkultur aufrecht zu erhalten. Die zweite benannte Strategie führt zur Verherrlichung oder Kanonisierung einer ‚Volkskultur‘. Sie kann in dieser Bestimmung ein definiertes Konstrukt sein. In der symbolischen Aufwertung der populären Praktiken signalisieren die herrschenden Positionen auf diskursiver und affektiver Ebene dem Volk, man realisiere seine Interessen. Diese

kannt wird. Wie bereits an anderer Stelle begründet wurde, kann ein solcher Nachweis erst in einer zeitlich späteren Felduntersuchung vorgenommen werden.

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Strategie führt zu einem politischen Populismus. Zugrunde liegt die Intention, Herrschaftseffekte zum Verschwinden zu bringen ohne jedoch die symbolische Macht gegenüber dem Volk abzugeben. Diese Strategie eines positiven Populären wird in Bezug auf die Motivation für den Antrag zur Anerkennung als immaterielles Kulturerbe seitens der politischen und repräsentierenden Positionen mit dem politischen Populismus im ‚Tango IKE‘ deutlich: der populistische Regierungsstil Kirchners strebt demnach die Erschaffung einer nationalen Kultur, basierend auf Tango und Folklore an. Die Anerkennung des Titels Kulturerbe und die Festschreibung des Tangos als eine kulturelle Ausdrucksform der Bewohner des Gebietes des Rio de la Plata beruht auf diesen spezifischen Interessen der Regierung. Ein weiterer Aspekt von Strategien der Macht ist die Definition des geltenden Zeitgeists oder eines (nationalen) Wesenhaften. Darin liegt auch der Grund für die Abweisung dieser Begriffe seitens der bourdieuschen Theorie: sie werden in nationalen Diskursen und für machtpolitische Interessen missbraucht. Die Diskurse staatlicher Strukturen sind zumeist durch genannte Begriffe gekennzeichnet. Durch diskursiven Strategien werden sie mit geographischen Grenzen und nationalen Konzepten gleichgesetzt. Mit Rückgriff auf den besonderen national verankerten Zeitgeist oder ein spezifisches lokales Wesen verleihen staatliche Strukturen bestimmten Orten, Praktiken und Stätten den Vorrang hinsichtlich der Zuschreibung von symbolischem Kapital. Entsprechende diskursive Strategien der Gleichsetzung konnten im Rahmen der Definition der Konventionskriterien und der Legitimierung korrespondierender Praktiken erfasst werden. Die Kanonisierung und Formalisierung von Elementen in Form intendierter Narrationen eines Wesenhaften realisiert die ‚Academia de Tango‘: sie generiert, legitimiert und autorisiert Narrationen und Definitionen des Tangos mit dem Ziel, den Konventionskriterien zu entsprechen. Das Sprechen von Wesenhaftem und Essentialitäten im Rahmen intendierter Narrationen in Bezug auf Gemeinschaften, Strukturen, Akteure, deren Agieren und auf Narrationen birgt die strategische Option zur Verallgemeinerung. Sie führt in der Konsequenz zu Naturalisierungen von distinktiven Eigenschaften. Neben diesen definierenden Strategien sind die legitimierenden Strategien wichtige Praktiken der Macht. Für das Feld des Politischen konstatiert Bourdieu konkrete Strategien der Offizialisierung. Diese beziehen sich auf die Legitimierung von Gruppen und die Zuschreibung eines Status des allgemeinen Interesses am verallgemeinerten Gruppeninteresse. Zugleich erklären sich die politischen Akteure kraft ihrer symbolischen Macht zu Vertretern der individuellen Interessen der Akteure. Sie werden in dieser Weise an die vom politischen Feld aus be-

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herrschten Strukturen gebunden. Aufgrund der Gruppeneffekte (illusio, symbolische Macht und Verschleierung) erfährt diese Zuschreibung Anerkennung und Legitimierung. Eine Konsequenz ist die Veränderung der Relationen, indem signifikante Elemente neu positioniert, bzw. Elemente und Strukturbereiche neu gebildet werden. Innerhalb der Kategorie der Offizialisierung verstehen sich im ‚Tango IKE‘ die beiden bereits existierenden Bereiche des Institutionellen und des Privaten als ein offiziell-legitimierter und ein nicht-offiziell-legitimierter Bereich. Es bilden sich mit der in-Praxis-Setzung der Offizialisierungsstrategie zwei weitere Bereiche: Der Bereich der Öffentlichkeit4 kann nur durch die Diskursverhältnisse legitimierte Elemente enthalten. Er vermittelt Positionen, Stellungnahmen und Wertkategorien des offiziellen Standpunkts als legitim. Er überschneidet die Bereiche der Institutionalisierung und des Privaten. Mit diskursgenerierenden und diskursvermittelnden Praktiken generiert sich innerhalb dieses öffentlichen Bereichs der ‚Anerkennungsmechanismus‘ zwischen der Konvention und den kulturellen Praktiken vermittelnd. Damit wird der ‚Funktionsmechanismus‘ sowie Werte und Interessen in der Praxis umgesetzt. Der zweite neue Bereich ist der symbolische. Er umfasst konzeptionelle bzw. ideelle Elemente und verortet sich bei einem geringen Materialitätsgrad bzw. nahe dem immateriellen Pol. Dieser umfasst die durch den offiziellen Standpunkt als symbolische Kapitalwerte definierten Wertekategorien und Qualitäten. Die Praktiken der Offizialisierung führen zu einem Formalisierungsprozess, der sich zunächst auf die Interessenlagen bezieht. Das individuelle Interesse bzw. das Gruppeninteresse bildet Teil des offiziellen Standpunkts, sofern die repräsentierenden Akteure in die offiziellen Strukturen eingebunden sind. In dem Fall unterliegt das allgemeine Interesse den staatlichen Regularien der Formalisierung. Die Institutionen der Verwaltung und des Rechts sind autorisiert, sich das Interesse anzunehmen. Es wird in die offiziellen Kodifizierungen eingeschrieben. Der einzelne Akteur hat im Resultat aus diesem Prozess in Bezug auf das Ausagieren und Definieren nur noch einen limitierten Zugang zu seinem individuellen Interesse. Im Gegenzug besitzt sein individuelles Interesse in dieser legitimierten Form höchsten symbolischen Wert.

4

Die Öffentlichkeit umfasst die Praktiken und Objekte, welche dem mittleren Institutionalisierungsgrad zuzuordnen sind. Hier finden sich vor allem die institutionalisierten und privaten Medien, staatliche Akteure und Repräsentanten der verschiedenen Praktiken und Instanzen. Sie generieren diskursive Elemente, die wertende und normierende Elemente aufnehmen und vermitteln.

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Formalisierung meint die Kodifizierung legitimierter Positionen, Kapitalformen und Interessen. Sie schreibt legitime Ausdrucksformen und Definitionen fest. Eine Formalisierung kann von einer verallgemeinernden bis zu einer juristischen Festschreibung variieren. Desto höher der Grad der Formalisierung, desto starrer das Konstrukt an Eigenschaften und desto niedriger der Spielraum im Habitus der Akteure. So ist beispielsweise zu bedenken, in welcher Weise das Festschreiben von Schritten, Schrittkombinationen, Ausführungsanweisungen, das Editieren detaillierter Partituren, das Niederschreiben signifikanter Narrationen, das Autorisieren repräsentativer Vertreter sowie das Bestimmen eines Kanons an signifikanten Elementen die kulturellen Ausdrucksformen und deren Entwicklungsoptionen determiniert. Formalisierung bedeutet ebenso Formgebung. Sie umfasst zum einen die legitime Art und Weise der Artikulation von Machtpraktiken und zum anderen die Verschleierung des zugrundeliegenden Interesses gegenüber den weiteren Akteuren, damit deren Wirksamkeit gesichert bleibt. Der Verschleierungsprozess betrifft in erster Linie die latenten ideellen Interessen (Begriffe von Moral und Vernunft), die politischen Interessen (translaterale Beziehungen und Demokratieverständnis) und ökonomischen Interessen (Wirtschaftsbereiche und Tourismus). In diesem Zusammenhang konnten für die UNESCO-Strukturen die latenten Interessen der Durchsetzung des Konzepts Menschenrechte sowie verbundene Werte der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Universalität erfasst werden; für die die Antragstellung initiierende argentinische Regierung konnten latente Interessen in Bezug auf die Etablierung staatlicher Strukturen des nationalen Populismus rekonstruiert werden. Die in diesem Zusammenhang im Diskurs erfassten Begriffe Ursprünglichkeit, Andersartigkeit und Echtheit bilden Diskursstrategien der Legitimation solcher Interessen. Es handelt sich dabei zumeist um intendierte Narrationen. Sie stehen für eine Verschleierung dieser Interessen, indem sie als Wissenskonzepte den Elementen der Struktur vermittelt und inkorporiert werden und somit als gegeben erscheinen.5

5

Vgl. bei Klein/Haller: Café Buenos Aires und Galeria del Latino, in Funke-Wieneke/ Klein (Hg): Bewegungsraum und Stadtkultur, S.51–74. Sie formulieren in Thesenform: die permanenten Verweise auf kulturelle Andersartigkeit und Ursprünglichkeit sind Muster einer performativen Hervorbringung und Legitimation von Echtheit; als solche sind sie Bestandteil für die Produktion von Ursprungsmythen einerseits und die Legitimierung der lokalen Tanzszenen andererseits. Sie sind Muster einer kulturellen Essentialisierung und Naturalisierung, die einerseits ein globales Netz translokaler Praktiken erst ermöglichen, erscheinen andererseits als postkoloniale Strategien, über die kulturelle Differenz und Andersartigkeit verfestigt wird. Ebd.

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Der rekonstruierte unkontrollierte Bereich der ‚kulturellen Praktik Tango‘ erfährt im Prozess der Formalisierung eine Veränderung. Dieser Bereich wird – sofern für eine solche formale Erfassung zugänglich – analysiert, kodifiziert und festgeschrieben. Trotz dieser Mechanismen der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe bildet sich mit den Elementen [escenario de Buenos Aires] und [personajes típicos] ein unkontrollierter Bereich, der sich im ‚Tango IKE‘ lediglich als Referenzpunkt wiederfindet. Hinzu kommt, dass im symbolischen Bereich als die Werteebene des Wissenskonzepts immaterielles Kulturerbe die Elemente [metafísica de tango] und [Ursprungsmythos] nicht benannt sind. Den bourdieuschen Theoremen folgend funktionieren solche institutionalisierten Praktiken der Formalisierung, indem sie Artikulationsformen homologisieren. Die Formalisierung kann solche restriktiven Formen annehmen, dass sie einem Zensurmechanismus gleichgesetzt wird. In dem Fall sind die Definitionen der Zugangskriterien und der legitimierten Aussagen so stark im Sinne des herrschenden Standpunkts definiert, dass Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien, die diesen nicht entsprechen, nicht in legitimierter Weise praktiziert werden können. Das bedeutet, dass derjenige Akteur, der innerhalb der Strukturverhältnisse legitimiert sein möchte, sanktionierte Artikulationsformen und Inhalte im Sinne der herrschenden Definitionen produzieren muss. Aus diesem Verständnis heraus kann der IKE-Status als ein Zensur-Apparat interpretiert werden, da mit der Anerkennung einer kulturellen Praktik als immaterielles Kulturerbe eine umfassende Formalisierung eingefordert und kontrolliert wird. Werden bestimmte Kriterien nicht erfüllt, erfolgt eine Aberkennung des IKE-Status.6 Die Wirksamkeit der symbolischen Macht meint die Vermittlung und Realisierung der offiziellen Definitionen und Formalisierungen. So liegt es im offiziellen Interesse, einen adäquaten Reproduktionsmechanismus zu etablieren.7 Die herrschenden Positionen bestimmen über die Ausrichtung und Inhalte der Reproduktionsmechanismen. Sie tragen damit einerseits Verantwortung für die Dispositionen und resultierenden Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten der

6

Verwiesen sei auf den Fall der Dresdner Elbbrücke und der Kölner Stadtsilhouette.

7

Ein erfolgreicher Reproduktionsmechanismus würde sich beispielsweise darin zeigen, dass die durch die vermittelnden Instanzen (‚Academia de Tango‘ und Medien) generierten intendierten Narrationen (insbesondere die Konzepte Authentizität und Universalität) seitens der Agierenden der kulturellen Praktik als wahr angenommen und reproduziert, sprich in ihre Artikulationsformen integriert werden: der sprachliche Habitus sowie die habituelle Praktiken (Kleidung, gesamte Produktion des Tango-Genres, Tanz- und Musikstile, etc.) richten sich an den offizialisierten Definitionen aus. In dessen Folge realisiert sich eine kanonische Bildung einer Gesellschaft.

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Akteure. Andererseits liegt auf Seiten der institutionellen und politischen Positionen ebenso die Verantwortung dafür, dass Praktiken der Offizialisierung und Formalisierung nicht für externe Interessen missbraucht werden. Konkrete Verantwortlichkeiten liegen bei der Kulturpolitik, im Bildungssystem und bei der Medienpolitik. Durch beide letztgenannten Reproduktionsinstanzen werden die neuen symbolischen Werte innerhalb der Strukturverhältnisse vermittelt. Für die Agierenden der Tangopraktiken gilt in einer zweiten Konsequenz, dass sie, um an der weiteren Entwicklung des Tangos als immaterielles Kulturhabe zu partizipieren, der offizialisierten und formalisierten Narration von Tango entsprechen müssen. Das heißt zugleich, die Konventionskriterien mit den korrespondierenden Maßnahmen, Zuschreibungen und Formalisierungen zu akzeptieren. Ansonsten laufen sie Gefahr, ihre Tangopraktiken in absehbarer Zeit nicht mehr ausüben zu können, sofern sich deren notwendige Dispositionen wie Orte, Formen, zugehörige Elemente verändern bzw. nicht mehr disponibel sind. Damit würde der unkontrollierte Bereich der Strukturverhältnisse schließlich verloren gehen und die kulturelle Praktik Tango eine umfassend kontrollierte formalisierte, institutionalisierte Form annehmen. Der Tango wäre in diesem Moment seinem ‚Tod als immaterielles kulturelles Erbe‘ geweiht. Die als Praktiken der Macht beschriebenen definierenden und offizialisierenden Strategien finden ihre Festschreibung innerhalb der Gesetzgebung. Die darin legitimierten Definitionen, Eigenschaften, offiziellen und legitimierten Interaktionen sind für die Akteure geltenden Rechte. Aufgrund der den Akteuren zugehörigen Dispositionen erscheinen sie, insofern sie der herrschenden doxa entsprechen, als natürliche Anrechte (wie es beispielsweise für die Allgemeinen Menschenrechte postuliert wird). Bourdieu betont dagegen, dass die verliehenen Rechte in dem Sinne willkürlich seien, da sie in keiner Weise ohne Rückbezug auf eine soziale Struktur dem Menschen von Natur aus zugehörig sind. Erst innerhalb sozialer Strukturen werden Definitionen über Eigenschaften und Dispositionen als Rechte formalisiert und den Positionen zugeordnet. Aus diesem Verständnis heraus kann die UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes als eine willkürliche Setzung von zu legitimierenden Kriterien der Zuschreibung auf Basis der herrschenden (latenten) Interessen bestimmt werden. Die Legitimierung dieser seitens der Akteure der kulturellen Praktik Tango ist eine Strategie, der ein (latentes) individuelles bzw. offizialisiertes Interesse zugrunde liegt. Die zugehörigen Grundaxiome und symbolischen Werte umfassen die ideellen und materiellen Referenzen (Deklaration der Menschenrechte und weitere voran gegangene UNESCO-Konventionen) sowie die Konvergenzkriterien. Aufgrund der Sozialisierung der auf den institutio-

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nalisierten Positionen Agierenden innerhalb der UNESCO-Konvention sind diese Grundaxiome und symbolischen Werte bereits als naturalisiert zu erfassen. Grundsätzlich aber kann dieser offizialisierte Standpunkt als die herrschende und symbolische Macht auf struktureller Ebene hinterfragt und in der Praxis delegitimiert werden. Das durch die Institution UNESCO formulierte und vermittelte Konzept immaterielles Kulturerbe ist in der Konsequenz ein willkürliches und definiertes Recht, das durch die Autorisierung der Vertragsstaaten Gesetz wird. Die Verhältnisse der Macht, in die ein konkreter lokaler und zeitlicher Raum des Ausagierens einer kulturellen Praktik auf struktureller Ebene eingebunden ist, bestimmen über die Optionen des (De-)Legitimierens seitens der Agierenden. Kultur als Prozess und Option Dem Begriff Kultur, der der Bestimmung eines Kulturerbes vorausgeht, können innerhalb der bourdieuschen Argumentation die beiden Aspekte Prozess und Option zugeordnet werden. Der Prozess steht für den möglichen Wandel der Strukturverhältnisse. Er ist eng an die permanente Reproduktion durch die kulturellen Praktiken gebunden. Dieser Prozess entspricht einem an inkorporierte Wissensbestände gebundenen Funktionsmechanismus. Die Option steht für die den Strukturverhältnissen impliziten Möglichkeiten des Agierens. Sie ist ebenso an Wissensbestände gebunden. Diese gehören dem Bereich der legitimierten, das meint in der Praxis ausagierten Wissensbeständen zu; oder aber dem Bereich der nicht legitimierten bzw. dem Bereich der noch nicht legitimierten Wissensbestände, die im gegenwärtigen Moment nicht auszuagieren sind. Beide Bereiche an Wissensbeständen sind den Strukturverhältnissen implizit und bilden den Raum des Möglichen. Sie stehen als Handlungsoptionen zur Verfügung, sofern sich Strukturverhältnisse entsprechend verändern. Die Form der legitimierten Wissensbestände (Grundaxiome, doxa und Kanon) und der nicht legitimierten Wissensbestände (Raum des Möglichen) kennzeichnen je zu differenzierende Funktionen innerhalb der Strukturverhältnisse. Für den Tango konnten eine Vielzahl an legitimierten Diskurskonzepten erfasst werden. Sofern diese als interne generiert worden, sind sie konstitutiv unmittelbar an die kulturelle Praktik Tango gebunden. Sie generieren eine starke distinktive Erzählung des Tangos, die zugleich der legitimierten Version der [Ursprungsmythen], der [Genese], den [Typologisierungen], [Lokalitäten] und [Verhaltensweisen] entspricht. Diskurskonzepte der externen Generierung, die als beschreibende und analytische Elemente erfasst wurden, stehen in keinem direkten Konstituierungsverhältnis mit der kulturellen Praktik. Die aus der Analyse

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des Textkorpus heraus benannten Themenbereiche und als spezifische Wissensbestände deklarierten Elemente waren in der ‚kulturellen Praktik Tango‘ legitimierte, jedoch lediglich im privaten Bereich verortete Wissensbestände. Mit der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe werden diese Themenbereiche in den Kanon der formalen Definition Tango aufgenommen und im institutionellen Bereich im ‚Tango IKE‘ legitimiert.8 Mit der formalen Anerkennung avancieren so genannte informelle Wissensbestände zu durch Institutionen anerkannten Kapitalwerten. Das bedeutet ihre Legitimation und Anerkennung als gesellschaftliche Funktionselemente. Trotzdem bleibt abzuwarten, inwiefern dieser formalen Anerkennung Veränderungen in der Praxis korrespondieren werden. Nicht zuletzt verlangt dies veränderte Habitusformen (Praktiken, Interessen, Kapitalwerte und Strategien), als auch deren Materialisierungen in Form von Rechten, Gesetzen und Maßgaben der Politik und Administration. Implizite konstitutive Wissensbestände der kulturellen Praktik Tango konnten als (noch) nicht legitimierte Wissensbestände rekonstruiert werden. Innerhalb der Formaldefinition des Tangos waren sie lediglich als Referenzpunkte benannt. Die Gefahr besteht darin, dass sie als referentiellen Narrationen keine strategischen Handlungsoptionen innerhalb des ‚Tango IKE‘ (mehr) formieren. Jedoch verhindern die referentiellen Benennungen zunächst, dass bestimmte implizite Wissensbestände in Vergessenheit geraten bzw. zu inkorporierende Wissensbestände, die sich in gegenwärtigen Strukturverhältnissen nicht ausagiert finden (wie beispielsweise die Realität eines Mythos und die konstitutive Bedeutung des Tanzens), disponibel bleiben. Diese impliziten Wissensbestände entsprechen den Optionen dessen, was denkbar und auszuagieren möglich ist. Das meint zugleich, was innerhalb der gegenwärtigen Strukturverhältnisse als legitimiert ausagiert und noch nicht bzw. nicht mehr auszuagieren möglich ist. Ein solcher spezifischer und impliziter Wissensbestand kann mit dem Element Mythos veranschaulicht werden. In den Argumentationen der unterschiedlichen Zugänge der weiterführenden Literatur in Bezug auf seine Bedeutung für gesellschaftliche Funktionsmechanismen finden sich enge konzeptionelle Parallelen zu den bourdieuschen Kategorien der Naturalisierung, der Inkorporierung,

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Zu den konstitutiven Diskurskonzepten zählen: [escenario de Buenos Aires], [personajes típicos], [la vida social], [el bandoneon], [el lunfardo], [las letras], [Ursprung und Genese]; neue Themenbereiche: [Erwartungen] an den Tango, [Tangoshows], [Academia de Tango], [Tanzkategorien], [Tanzkörper], [Passion], [Exotisierung].

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der narrativen Strategien und der impliziten Wissensbestände. 9 Herausgestellt seien im Zusammenhang von Mythos und den Begriffen von Macht, Zeit und Wissen die Arbeiten Barthes, Borges literarische Konzepte und Assmanns Begriff der Mythomotorik. Barthes konkretisiert seinen Begriff von Mythos, indem er ihn als Teil einer Semiologie einordnet und als Metasprache mit fluktuierenden Bedeutungen definiert. Der Mythos wird bestimmt durch den Verlust der historischen Eigenschaft der Dinge. Sie verlieren in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung. Die Menschen stehen zum Mythos nicht in einer Beziehung der Wahrheit, sondern des Gebrauchs (sie entpolitisieren nach ihren Bedürfnissen).10 Im konkreten Fall der kulturellen Praktik Tango können die Erzählungen Borges sinnvoll angeführt werden. Es handelt sich um Erzählungen der Wirklichkeit – letztendlich als Mythos verstanden – mit dem Ziel ihrer Verlängerung in die Ewigkeit. Borges erdenkt und wandelt zugleich die Geschichte seiner Stadt in mythischen Charakteren, Handlungen und Symbolen, die dem Tango innerhalb der erfassten Strukturverhältnisse tatsächlich eingeschrieben sind: das [Duell], der [Mut], der [Gaucho], der [Held], das Stadtviertel [Palermo].11 Der von Assmann formulierte Begriff der Mythomotorik bestimmt den Mythos als Element des kulturellen Gedächtnisses und Teil der kulturellen Praxis in den Funktionen als Motor und Dynamik sowie als Statuserhalt und Rückbezug.12 Das [bandoneon] verkörpert diese Begriffe von Mythos. Es wurde sowohl als signifikantes Element, als auch als konstitutive Narration, die in der [metafísica]

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Relevante Arbeiten für eine weiterführende Diskussion sind u.a. Levy-Strauss: die Geschichte als Erzählung bzw. Narratives; McLuhan: Mythenbildung bildet einen freien Raum des Lebens, den es nicht zu verschriftlichen gilt; Campbell: das Schaffen eigener Mythen in Religion, Wissenschaft, Philosophie, Literatur, Kunst; Blumenberg: in Mythen gibt es keine Chronologie, nur Sequenzen der Zeit; es geht um Macht und Vorrang; Marquard: er betont die Notwendigkeit der Narrationen; Vernant: Mythos (bzw. Tanz) als Raum/Ort, der bestimmtes Wissen/Glaubensinhalte transportiert und erhält; Hübner: Berechtigung des Mythos als Wissenssystem bzw. ontologisches System neben Wissenschaft, Magie und Ritus; Wunenburger: er definiert die Mythophorie – den Mythos als lebendige kulturelle Praxis; G. Flood: Abhandlung zum politischen Mythos heute als unabdingbares Element der Gesellschaft. Vgl. in der einführenden Zusammenstellung zu Mythentheorien bei Barner/Detken/Wesche: Texte zur modernen Mythentheorie.

10 Nach Barthes, in Mythen des Alltags, S.130–133. 11 Nach Fumagalli, in Borges y el Tango, S.124/125. 12 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S.78/79.

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des Tangos verortet ist, erfasst. Das [bandoneon] kann in beiden Bestimmungen des Mythos – als semiotische Funktion der Ewigkeit und als Element des kulturellen Gedächtnisses – interpretiert werden.13 Die Wissensbestände sind zugleich Bedingung und Möglichkeiten für die Entwicklung kultureller Praktiken. Innerhalb des Reproduktionsprozesses verändern sie sich im Rahmen der durch die Wissensbestände gegebenen Optionen. Bourdieu setzt voraus, dass ein Wandel durch Veränderungen der inhaltlichen Definitionen und strukturellen Zuschreibungen für Elemente bestimmt ist, die objektive Struktur selbst bleibt jedoch erhalten. Einflussfaktoren des Prozesses sind strukturinterne, häretische Strömungen oder strukturexterne Einflüsse, die innerhalb des umfassenderen Felds der Macht auf die Strukturverhältnisse bzw. auf einzelne Positionen einwirken können. Bourdieu formuliert die theoretische Option, um Strukturverhältnisse in ihren konstitutiven Praktiken zu gefährden: in dem Moment, in dem die herrschenden Positionen den strukturinternen Kampf vollständig zu ihren Gunsten kontrollieren und somit ein stillschweigendes Akzeptieren der definierten Positionen und Machtverhältnisse erreichen, wird jegliche weitere Entwicklung unterbunden (Status quo als das Ende der Geschichte). In der Konsequenz bedeuten diese beiden benannten Optionen einen im positiven Sinne bewerteten Kulturwandel oder einen im negativen Sinne bewerteten Kulturtod. Das meint für die positive Wertung eine Veränderung dahingehend, dass eine kulturelle Praktik entsprechend den impliziten Wissensbeständen ausagiert werden kann. Im Moment der Realisierung der ideellen Intention der Kulturerbe-Konvention bedeutet das eine Erweiterung der Entwicklungsoptionen für die kulturelle Praktik: die Wissensbestände des Raums des Möglichen werden bewahrt und zugänglich gemacht, indem die durch die Konventionsvorgaben verpflichtenden Maßnahmen als Optionen zur Verfügung stehen. Das meint für die negative Wertung eine Formalisierung im Zuge der Legitimierung einer kulturellen Praktik in einer solchen Weise, dass deren Festschreibung durch eine formale Definition und eine Kanonisierung dem den impliziten Wissensbeständen korrespondierenden Ausagieren nicht entsprechen kann. Für den Tango besteht die Gefahr des Verlusts des unkontrollierten individuellen Bereichs und der

13 Die Narration zum [bandoneon] postuliert: „In der urbanen Stimme des Bandoneons erkennen sich in Buenos Aires andere vibrierende Stimmen wieder. Es enthüllt sich die betrübte Seele in ihrem Schmerz. In der Geschichte der Stadt Buenos Aires, die sich für ihre Bewohner mit der Geschichte des Tango überschneidet, verknüpfen sich Prozesse kollektiver Projektionen und Identifikation mit der allgegenwärtigen Präsenz dieser Musik.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.191.

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impliziten Wissensbestände, die für seine (relativ) autonome Entwicklung notwendig sind: die kulturelle Praktik entspricht dann einem definierten formalen Kanon. Das Ende der Geschichte des Tangos wäre erreicht.14 In den Regeln der Kunst formuliert Bourdieu entsprechend seinen Ausführungen zum Prozess und zur Option sein Verständnis des Kulturbegriffs in einer normativen Stellungnahme und stellt die Forderung auf, die Kultur: „nicht als totes Erbe [zu] begreifen, dem man den obligaten Kult ritueller Verehrung entrichtet, und auch nicht als Herrschafts- und Distinktionsinstrument […], sondern als Instrument der Freiheit, die Freiheit voraussetzt, als modus operandi, der erlaubt, das opus operatum der geschlossenen, verdinglichten Kultur ständig zu überschreiten.“15

Mit dieser Bestimmung ist es unbedingt erforderlich, dass die Praktiken der Macht in einer permanenten selbstkritischen Hinterfragung und in Rückbesinnung auf die ideologischen Werte vermittels aller Agierenden dem Konzept einer lebendigen Kultur als Prozess des Werdens und als Option des Agierens korrespondieren. Das bedeutet in der Konsequenz, dass (latente) Interessen offengelegt werden und Formalisierungsprozesse im permanenten Rückbezug zu den in der Praxis Agierenden stehen sollten.16

14 Zu den positiv zu wertenden Maßnahmen zählen die Aufarbeitung von Archivmaterial, das Zusammentragen von inkorporierten Wissensbeständen wie Tanztechniken, Tanz- und Musikstile, Spielweisen, Narrationen, lokales Wissen und der [lunfardo]. Die Wissensbestände des in Gefahr stehenden individuellen Bereichs sind die [Narrationen] und [Mythen], [tangología] und [metafísica], das [escenario de Buenos Aires] und die [gente típica]. 15 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.524. 16 Pelinski stellt Fragen für eine Diskussion im Hinblick auf den Wandel einer lokalen sub- und populärkulturellen Praktik zu einem kulturellen Element des unterhaltenden Bereichs (ökonomischer Sektor) und des symbolisch-politischen Bereichs. Sie können ebenso für ein kritisches Hinterfragen leitend sein: ¿a quién pertenece el tango? ¿de qué manera la interacción del sonido, los movimientos y la palabra median o suscitan la emoción que produce el tango? ¿a través de qué procesos el tango como un producto cultural complejo ofreció y todavía ofrece, diferentes posibilidades para la construcción de identidades a través de sus diferentes elementos en diferentes partes del mundo? Vgl. bei Pelinski: Tango nómade, S.27–70.

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Rückführung auf theoretische Konzepte Auf der Ebene der theoretischen Konzepte kann schlussfolgernd aus den benannten Schlüsselkonzepten der Analyse der Begriff des kollektiven Erbes mit seinen kennzeichnenden Kategorien formuliert werden. Er dient als Bestimmungsgrundlage für den Begriff eines kulturellen Erbes, seiner signifikanten Aspekte und der besonderen Indikation des Immateriellen. Kollektives Erbe und ausagiertes kulturelles Erbe Die mit dem kulturell Unbewußten von Generation zu Generation vererbten Wissensbestände und möglichen Optionen des Agierens bilden einen Bestand an Entwicklungsmöglichkeiten in der Praxis. Dieses kollektive Erbe bestimmt Bourdieu als den Raum des Möglichen. Er definiert das kulturelle Unbewußte als die Möglichkeit der Entwicklung und des Wandels. Er erweitert mit diesem Begriff das starre Reproduktionsschema der Definition und Limitierung der kognitiven und mentalen Dispositionen der Akteure, das am Interesse innerhalb der Machtstrukturen ausgerichtet ist. Das durch die UNESCO-Konvention definierte Konzept immaterielles Kulturerbe kann diesem Begriff eines kollektiven Erbes entsprechen. Es bezieht die impliziten Wissensbestände, die an die individuellen Agierenden gebunden sind, explizit ein.17 Das Ausagieren gegebener Optionen aus dem Raum des Möglichen heraus steht für ein gelebtes kulturelles Erbe und vermittelt die in den Strukturen impliziten Wissensbestände in die gelebte Praxis. Die Bedingung dafür besteht darin, dass der Agierende im Sinne der strukturspezifischen Interessen agieren kann und entsprechende Dispositionen verinnerlicht hat. Dem gelebten kulturellen Erbe korrespondieren die Wissensbestände des Immateriellen mit den entsprechenden Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungskategorien, den inkorporierten Ausdrucksformen und Kommunikationscodes. Inkorporierte und legitimierte Wissensbestände Schlussfolgernd kann konstatiert werden, dass nur dann bestimmte Praktiken und deren impliziten Wissensbestände ausagiert werden können, wenn die Akteure über ihre Dispositionen dazu befähigt werden. Die Reproduktionsmechanismen müssen dahingehend funktionieren, dass die Akteure die im Raum des

17 Diese impliziten Wissensbestände des Tangos umfassen die Elemente Tanztechniken, Körperhaltungen und Subtexte des Tanzens, Narrationen und Mythen, Musikstile und Tonfarben, Wissen um Instrumentierungen, Phrasierungen, um Rhythmik/Dynamik, das Wissen um lokale Orte und Personen sowie Feinzeichnungen des Genres.

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Möglichen gegebenen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucksschemata inkorporiert haben und diese aus ihrer individuellen Position heraus als Praktiken ausagieren können. Im Umkehrschluss bedeutet das zugleich, dass nur dann die entstandenen Positionen und Funktionen besetzt bzw. ausagiert werden können. Andernfalls gehen diese, verbunden mit den zugehörigen Wissensbeständen und Praktiken verloren. Entscheidend für die positive Bewertung der angestrebten Umsetzung des Konzepts immaterielles Kulturerbe ist dementsprechend die Funktionsweise der Bewahrungs- und Vermittlungspraktiken innerhalb des Reproduktionsmechanismus sowie die aktive Funktion der umsetzenden Akteure. Der Zugriff auf den Raum des Möglichen bzw. die Verfügbarkeit des kulturellen Erbes ist nicht für alle Akteure gleich. Das generierte Erbe an Wissensbeständen, Praktiken und Dingen ist an die strukturspezifischen Positionen rückgebunden. Zugriff und Verfügbarkeit über den Raum des Möglichen entsprechen der Kapitalverteilung und den Dispositionszuschreibungen.18 Aus diesem Argumentationszusammenhang heraus kann der Aspekt der Verantwortung der innerhalb des Reproduktionsmechanismus Agierenden in Bezug auf die Funktionsweisen der symbolischen Macht hervorgehoben werden. Sie agieren konstitutiv und determinierend im Bereich der Setzung von Gesetzen und deren Umsetzung in der Realpolitik, insbesondere der Kulturpolitik und Bildung. Die vom Akteur ausgebildeten Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungsschemata formen seinen scheinbar individuellen Habitus. Der Akteur agiert im Sinne seiner Position eigenen Dispositionen und Interessen. Sie konditionieren seine Handlungsoptionen und limitieren den Zugriff des Akteurs auf die im Raum des Möglichen gegebenen Wissensbestände und Handlungsoptionen. Das bedeutet, dass spezifische Strukturverhältnisse ihren autonomen Status verlieren oder sich ganz aufheben, wenn deren spezifische Habitusformen nicht weitervermittelt und damit nicht mehr ausagiert werden. Diese Konsequenz wird in der Diskussion um die Funktion von Institutionen und nicht institutionellen Möglichkeiten der Vermittlung spezifischer Habitusformen im Rahmen des Kulturerbes und Schutzes kultureller Praktiken relevant.

18 Für Bourdieu ist es entscheidend, dass der Zugang zu kulturellem Kapital bzw. die Zugangsbedingungen zu Institutionen der Kunst, der mit hohem symbolischen Kapital definierten kulturellen Bereiche und zu Bildungsinstitutionen keinesfalls nur an das Interesse oder Intelligenz oder Talent, sondern immer auch an die grundlegende Verteilung des gesamten Kapitals eines Akteurs gebunden ist, so dass ein Akteur mit hohem ökonomischen Kapital oder mit hohem kulturellen Erbe im Allgemeinen leichteren Zugang zu Positionen und Institutionen von hohem symbolischen Wert findet. Vgl. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.117.

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Aus vorangegangenem Begründungszusammenhang werden aus Perspektive der praxeologischen Analyse heraus die machtstrukturellen Indikationen in Bezug auf die Diskussion zum Kulturerbe-Konzept und zu den Wissensbeständen des Körperlichen einbezogen. Weiterführend kann dann reflektiert werden, wie die Machtverhältnisse im jeweiligen Moment innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse funktionieren und inwiefern sie interessenspezifisch definieren und legitimieren. Das betrifft die Strategien des staatlichen Akteurs ebenso wie die Anerkennungshaltung der Akteure der kulturellen Praktiken. Für den Anerkennungsprozess des Status immaterielles Kulturerbe sind die Kriterien der Begründung zur Statusverleihung ein Instrument der symbolischen Macht. Die symbolische Macht wird insbesondere durch institutionelle (UNESCO-Organe und staatliche Akteure der Vertragsstaaten) und institutionalisierte Akteure der kulturellen Praktik ausgeübt. Die Konvergenzkriterien nehmen eine ambivalente Position ein: sie sind dem institutionellen Bereich als ein Werte generierendes Konzept zuzuordnen (Konventionstext) und als eine symbolische Praktik, indem sie begründend ernennen. Diese symbolische Praktik ist nur wirksam, indem sie über die Öffentlichkeit vermittelt im privaten Bereich anerkannt wird. (Immaterieller) Wert der Dinge Der Wert der erfassten Elemente konstituiert sich aus der jeweiligen Position und den zugehörigen Dispositionen innerhalb der Funktionsmechanismen. Der Wert entspricht einer Funktion im Gesamtgefüge und wird desto höher sein, je stärker diese Funktion mit den Interessen der Machtpole bzw. Legitimierungsinstanzen korreliert. Diese Instanzen verfügen letztendlich über die Autorität und stehen zugleich in der Verantwortung, Funktionen und Dispositionen zu definieren als auch zu legitimieren. Die Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungskategorien werden somit generiert und etabliert. Grundsätzlich braucht es keine Differenzierung in materielle und immaterielle Elemente für diesen Funktionszusammenhang. Trotzdem soll sie aufgrund der gegebenen – noch vorhandenen – Stigmatisierungen für den Nachvollziehbarkeit der Argumentation für den Tango reproduziert werden. Die Bereiche des Institutionellen, des Privaten, des Materiellen und des Immateriellen sind durch den Sprachstil und die Zuordnung der spezifischen Elemente bestimmt. Die Sprache des dem institutionellen Bereich zuzuordnenden Textmaterials ist formal und benennend. Das dem privaten Bereich zuzuordnende Textmaterial weist durch an Emotionen orientierten Beschreibungen, Klischeebildern, Wertungen und Kommentaren auf. Den Akteuren, Objekten und Dokumenten sind formale und materielle Eigenschaften innerhalb der strukturellen Hierarchie zugeordnet. Die mit dem Kul-

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turerbestatus verbundenen verpflichtenden Maßnahmen sind weitestgehend objekt- und körpergebunden. Die Akteure des privaten Bereichs verorten sich vor allem um den hohen bis mittleren Materialitätsgrad, die Akteure des institutionellen Bereichs dagegen vor allem um den mittleren bis geringen Materialitätsgrad. Im institutionellen Bereich finden sich in erster Linie Objekte und Dokumente auf administrativer und ideeller Ebene, im privaten Bereich vor allem die Referenz auf kulturelle Praktiken. Vermittelt durch die Relation von Dingen, Wissensbeständen und Praktiken konstatiert Bourdieu eine Materialisierung der Strukturverhältnisse in den Elementen der Praxis: Gegenstände archivieren deren Geschichte. Hinsichtlich des Werts der Dinge wird deutlich, dass sie nicht einem individuellen Akteur zuzuschreiben sind, sondern innerhalb der Strukturverhältnisse generiert und Kraft der illusio vermittelt werden. Das Interesse in wert- und sinnhafte Dinge resultiert aus ihrer Funktion. Im gegenwärtigen Moment bestimmt sich zugleich die Sinn- und Werthaftigkeit des Vergangenen. Für die neu formierten Strukturverhältnisse ‚Tango IKE‘ ist zu konstatieren, dass Elemente einen symbolischen Wert aufweisen, die in struktureller Hinsicht in keiner Weise einer Materialisierung archivierter Geschichte und dem Tango impliziter Wissensbestände entsprechen können. Schlussfolgernd realisieren sie externe (latente) Interessen. Dazu zählen auf Seiten der staatlichen Akteure neben den politischen Strategien mögliche positive Effekte für Wirtschaft, Tourismus und Finanzhaushalt. Im privaten Bereich finden sich hierfür die negativ besetzten Wertungen in den persönlichen Kommentaren und durch individuelle Autoren verfasste Texte als kritische Stimmen zu den offiziellen Stellungnahmen, verbunden mit dem Hinterfragen der Machtstrukturen und deren Strategien. Diese werden in einer wertenden Weise als [finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Missbrauch], als das deklarierte Konzept [Denkmalschutz] und der deklarierte [Kulturbegriff] benannt.19

19 Diese Stellungnahmen treten im Textkorpus nur mit geringer Nennung und als Oppositionen auf. Der Vorwurf des politischen Missbrauchs und eines verfehlten Denkmalschutz-Konzepts bezieht sich auf eine Macht- bzw. Kontrollerweiterung seitens staatlicher Akteure auf den privaten Bereich. Dazu zählen die Vereinnahmung durch einen nationalen Diskurs und die Kontrolle über die bisher informellen Praktiken auf Basis der umzusetzenden und reglementierten Maßnahmen zum Kulturerbe-Erhalt. Der Vorwurf des wirtschaftlichen und finanziellen Missbrauchs betrifft die nicht legitime Umwandlung von symbolischem Kapital in ökonomisches Kapital. Dazu zählen die missbräuchliche Nutzung finanzieller Fonds, eine auf dem Kulturerbestatus aufbauende Marketingarbeit sowie die touristische Nutzung des Kulturerbestatus. Diese Vor-

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Die kritische Analyse der offiziellen Diskurse in Bezug auf die UNESCOKonvention IKE und den IKE-Status stellt letztendlich die symbolische Macht betreffender Akteure in Frage. Das meint, dass den Akteuren des Tangos diese Diskurse bzw. Stellungnahmen (noch) nicht verinnerlicht sind. Diese Schlussfolgerung kann anhand der Differenz zwischen individuellen (kulturelle Praktiken), allgemeinen (kulturelle Praktiken im Sinne des IKE) und offizialisierten (symbolische Praktiken) Praktiken nachvollzogen werden. Die kulturellen Praktiken ohne den Status immaterielles Kulturerbe sind konkrete Praktiken, die im privaten Bereich Funktion in der alltäglichen sozialen Praxis besitzen. Die symbolischen Praktiken sind Strategien der Ernennung und Anerkennung sowie der ideellen Funktion, insbesondere im Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads. Gebunden an die durch Konventionstext und Begründungstext vermittelten Konzepte werden im Bereich der Institutionalisierung ideelle Werte (Kulturerbekonzept) und praxisorientierte Kategorien der ‚Schutzwürdigkeit‘ und ‚Traditionen‘ generiert. Die kulturellen Praktiken mit dem Status immaterielles Kulturerbe weisen sowohl einen symbolischen Wert im Sinne des immateriellen Kulturerbes und den impliziten ideellen Werten auf, da sie als solche legitimiert sind. Sie realisieren zugleich ihre Funktion der Praxisgenerierung im privaten Bereich. Die symbolischen Praktiken und Wissensbestände im Sinne des Kulturerbes finden sich zunächst im institutionellen Bereich und werden mit dem Anerkennungsmoment in den privaten Bereich vermittelt. Die Vermittlung der symbolischen Werte realisiert sich, indem kulturelle Praktiken des privaten Bereichs, die zumeist objekt- bzw. personengebunden sind, ein symbolischer Wert zugewiesen wird. Das geschieht seitens institutioneller Akteure durch Legitimierung oder seitens Ausagierender der kulturellen Praktik durch Anerkennung und Autorisierung. Die Vermittlung des symbolischen Werts kann nur durch vermittelnde Praktiken realisiert werden.

HINFÜHRUNG ZU DEN SCHLUSSFOLGERUNGEN Es wurden in den beiden Kapiteln der interpretativen Analytik die drei Analysemomente für den Anerkennungsprozess zum UNESCO-Kulturerbe erfasst und die veränderten Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe beschrieben. Als Zwischenschritt kann nun zu den

würfe laufen auf eine Kritik hinsichtlich einer möglichen staatlich initiierten und UNESCO zertifizierten Tango-Industrie hinaus.

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Schlussfolgerungen für das Konzept immaterielles Kulturerbe und für das immaterielle Kulturerbe Tango hingeführt werden. Das umfasst aus der interpretativen Analytik abzuleitende Ergebnisthesen und aus der Rekonstruktionsarbeit zu formulierende bedeutsame Aspekte. Sie führen zu ersten Aspekten einer Wertung bzw. Schlusskonsequenzen aus der Analyse. Ergebnisthesen: Kennzeichnungen der kulturellen Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe •









Die kulturelle Praktik Tango entspricht den in der Konvention zum immateriellen Kulturerbe formulierten Kriterien.20 Die signifikanten Aspekte, die aus dem Datenkorpus heraus rekonstruiert werden konnten, weisen für den Tango die Kategorien einer kulturellen Praktik in der Bestimmung der praxeologischen Theoreme auf. Die ausagierten Praktikenformen stehen für die spezifischen inkorporierten Strukturverhältnisse innerhalb eines gegebenen sozialen Raums und korrespondierender Machtverhältnisse. Sie werden nachvollziehbar in den durch die Habitusformen ausagierten Bewegungsmechanismen, musikalischen Spieltechniken, narrativen Stilistiken und Modi der Befindlichkeit. Die verschiedenen Formen der Tangopraktiken Tanz, Musik, Poesie und Narrationen bilden einen inkorporierten Wissensbestand an Kulturtechniken und Kulturpraktiken. Sie generieren eine spezifische kulturelle Ausdrucksform innerhalb von originären Strukturverhältnissen. Ein spezifisches Element des Tangos und notwendig konstitutiv seiner doxa und illusio ist der Mythos. Sowohl finden sich Narrationen und Elemente, die als Mythen im Tango existieren, als auch versteht sich der Tango in einigen Narrationen selbst als Mythos.

20 Die vom ‚Zwischenstaatlichen Komitee‘ erklärten Übereinstimmungen sind die [Kriterienkongruenz] bzw. [according to criteria defined: wide range of customs, beliefs and rituals (the tango is a musical genre that includes dance, music, poetry and singing); diversity and cultural dialog (even as it adapts to new environments and changing times/spreading the spirit of its community across the globe/now familiar around the world); distinctive cultural identity (the most recognizable embodiments of that identity/considered one of the main manifestations of identity/deeper understanding of the tango as a regional expression/incorporated into celebrations of national heritage in Argentina and Uruguay/widespread embrace of this popular urban music); nominated by States (the element is included in the inventories of intangible cultural); contribute to visibility of intangible cultural heritage].

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Mit den Klischeebildern war eine weitere diskursive Qualität zu konstatieren. Die Klischeebilder werden im Bereich der Öffentlichkeit durch verschiedene Medienformen und Repräsentanten vermittelt. Interessant in Bezug auf naturalisierte Werte und Wissensbestände ist die fehlende Charakterisierung des Tangos als formale Beschreibung oder als Skizzierung der Entstehung und der Verbreitung der kulturellen Praktik im aus dem argentinischen Raum stammenden, distinktiven Textmaterial des ersten Analysemoments. Eine mögliche Interpretation besagt, dass diese Themenbereiche bzw. diskursiven Elemente bereits als Teil der Wissensbestände naturalisiert sind und deshalb keine Nennung erfolgt. Sowohl formal innerhalb der Strukturebenen als auch inhaltlich innerhalb der Diskurskonzepte ist der Aspekt der sozialen Identität und der individuellen Befindlichkeit zu verorten. Dazu zählen im globalen Zusammenhang von kulturellen Praktiken die Aspekte ‚Glokalität, Community und Hybridität‘. Als korrespondierende Oppositionen sind der Wandel einer kulturellen Praktik und der Frage nach der Authentizität sowie die erstarkende Funktion als ein Marktelement in der Funktion einer kulturellen Ware relevant.21 Die benannten Aspekte generieren den offiziellen Diskurs Tango als immaterielles Kulturerbe und spiegeln seine Funktion bzw. seinen symbolischen Wert wider. Er ist an die Aspekte Identität, Mythos und Wissen gebunden. Tango konnte danach als eine spezifische kulturelle Ausdrucksform und eine originäre kulturelle Praktik bestimmt werden. Sie generierte einen einzigartigen Habitus mit den korrespondierenden Wahrnehmungs- und Wertungskategorien sowie emotionalen und affektiven Kategorien. Diesen benennt die UNESCO-Begründung in ihrem Anerkennungstext zum immateriellen Kulturerbe als seinen melancholischen Eigensinn. Diese Kennzeichnung erweist sich als prädestiniert zur Umformulierung für politische (latente) Interessen. Die signifikanten Elemente weisen eine repräsentative Charakteristik auf. Sie stehen in funktionell-strategischer Relation mit einem politischen und nationalen Selbstverständnis. Das korrespondiert im privaten Bereich einem Bewusstsein über Tradition und Identität. Die repräsentativen Charakteristiken bezie-

21 Innerhalb des Themenbereichs der Globalisierung öffnen sich weiterreichende Aspekte der Diskussion um die Bedeutung und Funktion kultureller Praktiken. Dazu zählt beispielsweise die Kategorie der Universalität. Damit ist eine der Übertragbarkeitskomponenten benannt, welche den Tango global konsumiert werden lässt. Seine Entstehung kennzeichnet sich als hybrid und marginal; seine Entwicklung durch Translation bzw. Migrationen. Vgl. zum Themenbereich der Globalisierungseffekte bei Klein: Tango in Translation.

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hen sich desweiteren im institutionellen Bereich auf das Image-Bild im Sinne eines Referenzelements außerhalb des originären kulturellen Kontexts.22 Perspektiven für die Schlussfolgerungen Die beiden Perspektiven, die für die zu formulierenden Schlussfolgerungen als zu berücksichtigen erachtet werden, sind auf der Ebene der theoretischen Begriffe das Kulturerbe-Konzept und auf Ebene der Analysedaten das immaterielle Kulturerbe Tango. Die Reflexion des Kulturerbes auf Ebene der theoretischen Konzepte in Konfrontation mit den Ergebnissen der interpretativen Analytik verdeutlicht die Relationen zwischen symbolischem Kapital und immateriellen Wert, zwischen institutionellem Kulturerbe und kulturellen Praktiken, zwischen kulturellen Praktiken, Kulturerbe und Gesellschaft. Die Perspektive auf ein immaterielles Kulturerbe Tango verdeutlicht die beiden Aspekte der Veränderungen einer kulturellen Praktik und der korrespondierenden (latenten) Interessen. Aus der Rekonstruktion und dem Vergleich der erfassten Analysemomente heraus werden Relationen zwischen dem symbolischen Kapital und immateriellen Wert im ‚Tango IKE‘ ersichtlich. Zunächst ist zu konstatieren, dass im privaten Bereich körperbezogene Praxis generiert wird. Die Elemente dieses Bereichs sind in der ‚kulturellen Praktik Tango‘ nicht der symbolischen Ebene zugeordnet. Für den Analysemoment ‚Tango IKE‘ wird dagegen deutlich, dass den Praktikenformen die Eigenschaft des Immateriellen zugesprochen wird; die diskursive Anerkennung eines symbolischen Werts des Immateriellen im Sinne des Konzepts immaterielles Kulturerbe erfolgt jedoch (noch) nicht. Es wird erkennbar, dass wenige signifikante Ele-

22 Die externen Diskurse benennen zwei Themenbereiche, welche für die kulturelle Praktik Tango und deren Funktionsmechanismen bestimmend (geworden) sind. Diese sind die beiden Diskurswelten im Tango: Pasion und Argentinidad. Pasion umfasst die typologisierten und kanonisierten Geschlechterbilder in den Tangotexten und in der Belletristik, welche vor allem die ‚models of machismo‘ formuliert, das meint das Grundaxiom der ‚masculinity of dancers‘. Argentinidad meint die Naturalisierung der durch offizielle Positionen formulierten Diskurse. Diese führen in Folge von Reproduktionsmechanismen zur Nationalisierung einer kulturellen Praktik. Beispiele hierfür sind das Verständnis von Nation und die strategische Eingliederung des Tango durch Perón. Vgl. zur These des Nationalismus und zum Nationenbegriff bei Barrionuevo Anzaldi: Der peronistische Nationaldiskurs in der Tangoschreibung der 1960er Jahre und in Klein: Tango in Translation, insbesondere S.211–223.

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mente dem Bereich des Materiellen und viele signifikante Elemente dem Bereich des Immateriellen zugeordnet sind. Es ist ein hohes Niveau an diskursiven Strategien sowie an definierten Werten (kulturelle Praktiken, symbolische Praktiken, Konzepte, ideelle Werte) zu konstatieren. Aus der Rekonstruktionsarbeit heraus wurde ersichtlich, dass im ‚Tango IKE‘ die Beziehung zwischen den Akteuren, Objekten und Praktiken der ‚kulturellen Praktik Tango‘, die Diskursverhältnisse jedoch der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘ entsprechen. Diese Inkongruenz lässt als Interpretation das Auf(-er-)legen einer symbolischen (Werte-)Ebene vermittels diskursiver Praktiken zu. Es fällt die unterschiedliche Ausdehnung der symbolischen Ebene im Vergleich der Struktur- und Diskursebenen auf. In der objektiven Struktur sind der Bereich des Institutionellen, der Bereich des Privaten sowie die symbolische Bedeutung des Immateriellen noch klar abgegrenzt zum Grad der Institutionalisierung des Elements. In der diskursiven Praxis hingegen dehnt sich der Geltungsbereich der immateriellen Werte bereits auf Elemente des privaten Bereichs aus. Verbindung wird über den Bereich der Öffentlichkeit durch diskursiv vermittelnde und umsetzende Praktiken hergestellt. Mit der Interpretation der erfassten Diskursverhältnisse im ‚Tango IKE‘ werden zwei Aspekte einer delegitimierenden Strategie auffällig. Sie sind signifikant für die Relation institutionelles Kulturerbe und kulturelle Praktiken. Zum einen sind keine diskursiven Elemente aus dem Bereich der ausagierten Praktik im Textkorpus zu finden. Das bedeutet, dass die [Stimme der Betreffenden] eine diskursive Referenz bildet, die aus dem Bereich mit hohem bis geringeren Institutionalisierungsgrad formuliert wird. Diesem referentiellen Element der Diskursverhältnisse – in Opposition zur konstitutiven Position desselben Elements in der aus der Praxis heraus erfassten ‚kulturellen Praktik Tango‘ – korrespondiert die Zuschreibung symbolischer Werte, indem das diskursive Element [tango tradicional y popular] als ‚expresion del lugar‘ bestimmt wird.23 Ein zweites in strategischer Hinsicht signifikantes und wertsetzendes Element aus dem Konventionstext benennt die [Bedürfnisse der Entwicklungsländer] bzw. die [Belange der südlichen Hemisphäre], um die Notwendigkeit der Konvention zu begründen. Im gleichen Moment bedeutet diese Referenz auf die Notwendigkeit der Definition des Immateriellen in Bezug zur südlichen Hemisphäre bzw. Entwicklungsländer eine formalisierende Definition bzw. wertende

23 Dem privaten Bereich sind die alltäglichen Objekte, Akteure und Orte der konkreten kulturellen Praktiken zuzuordnen. Das bestätigt eine rein referentielle Funktion des privaten Bereichs für den Tango im Moment der Anerkennung zum IKE-Status.

Interpretation der Veränderungen des Tango | 239

Limitierung. Sie steht zugleich für die – bisherige – Verleugnung des Werts des Immateriellen in der nördlichen Hemisphäre. Eine dritte signifikante, werte- und interessengeleitete Relation ist die zwischen kulturellen Praktiken, Kulturerbe und Gesellschaft. Mit dem Rekonstruktionsprozess wurde eine Differenzierung der den Praktiken impliziten Interessen offensichtlich. Sie bildet zwei wertende und zugleich durch Werte geleitete Strategien. Das sind zum einen die administrativen Praktiken der strukturellen Wertanerkennung. Dazu zählen Legitimierung, Autorisierung und Kontrolle sowie die Weitergabe der Funktionen und Vorgehensweisen an solche legitimierten, autorisierten und kontrollierten Instanzen. Damit werden Indikationen für ein richtiges Handeln, die Funktionsstruktur [Strategien und Anerkennungsmechanismus], ebenso wie die Werte und Normen der Infrastruktur [Fonds, Rechtsgrundlage] vermittelt. Das sind zum anderen die die ideellen Werte, Ziele und Visionen vermittelnden und umsetzenden Strategien. Den im öffentlichen Diskurs benannten Interessen der vermittelnden und umsetzenden Instanzen steht eine grundlegende Skepsis gegenüber. Das liegt darin begründet, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass hoch bis gering institutionalisierte Instanzen auf internationaler, multilateraler und nationaler Ebene die Werte [Respekt; Achtung; Aufwertung; Identität; Wille; Gemeinsamkeiten; Unterstützung] aus Visionarismus bzw. Idealismus durch einen hohen Aufwand an Umsetzungsmaßnahmen und an Investition von finanziellen Mitteln realisieren. Ein dem Strategiemechanismus implizites strategisches Interesse seitens externer Positionen ist – der interpretativen Analytik folgend – tatsächlich gegeben. Für die Entwicklung der beschriebenen Relationen einer kulturellen Praktik im zeitlichen Verlauf ist der Wandel ein notwendiger Aspekt. Das war aus den theoretischen Konzepten ableitbar und bestätigte sich im Analyseprozess. Der Wandel ist sowohl an die strukturinternen Reproduktionsmechanismen gebunden, als auch an das Inkorporieren von oder Anpassung an externe Elemente, Strategien und Interessen. Für den Tango ist ein solcher Wandel in beiden Aspekten zu konstatieren. Seit den ersten Erwähnungen des Tangos sind Entwicklungen und Differenzierungen in seiner Entwicklung offensichtlich. Mit dem Einsetzen des Anerkennungsprozesses ist die Ausrichtung auf den Status immaterielles Kulturerbe als ein externes Element zu konstatieren. Der als traditionell bestimmte Tango wird als Form einer Erinnerungskultur einer originären Situation zugeordnet. Der Tango in seiner gegenwärtigen Bestimmung generiert eine Funktion als Lebensform, Narration und Populärkultur. Tango wird nunmehr definiert als eine immaterielle kulturelle Praktik. Die legi-

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timierten Themenbereiche unterliegen diesem Wandel. Neue Themenkomplexe wurden erfassbar: Sensualität, Emotivität und Sexualität; Ökonomisierung als kulturelle Ware gebunden an ein ‚emotional capital passion‘ (Savigliano) und die ‚symbolischen Kulturproduktion‘, indem der Raum der Milonga zum symbolischen und ökonomischen Markt degradiert wird (Diaz-Bone); Politisierung der kulturellen Praktik im Sinne eines ‚politischen Tango‘ (Barrionuevo Anzaldi).24 Es ist eine Differenzierung der Tangodiskurse in Themenbereiche und in generierende (Beobachter-)Positionen zu konstatieren. Die Tangodiskurse, die innerhalb der Strukturgenese oder durch externe Positionen und getragen durch entsprechende (latente) Interessen generiert sind, formieren einen als Kulturwissen Tango zu bezeichnenden impliziten Wissensbestand. Dazu zählen die ‚Tangologie‘ als dem Analysemoment ‚kulturelle Praktik Tango‘ impliziter spezifischer Wissensbestand und extern generierte Themenbereiche wie das Konzept des Bewegungsdialogs als ein spezifischer Wissensbestand der TangoBewegung durch eine externe reflektierende Autoren-Position. Neben den gegebenen Relationen zwischen den Elementen und dem notwendigen Wandel für deren Entwicklung wird im Zusammenhang mit der institutionellen Statusanerkennung und der verbundenen Formalisierung die Setzung und Interpretation von Gesetzen und Rechten bedeutsam. Der Bereich des mittleren bis geringen Institutionalisierungsgrads mit den entsprechenden vermittelnden/kommunikativen und umsetzenden Praktiken ist in seiner Funktion als Interpretierungsinstanz signifikant zu kennzeichnen. Die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse erweist entsprechend eine interpretierende Strategie für diesen Bereich aus. Akteure sind nicht nur die eingesetzten Institutionen ‚ZK‘ und ‚Academia de Tango‘, sondern ebenso die neuen Elemente der Medien und Akteure im öffentlichen Bereich. Die Dialektik zwischen wertsetzender und interpretierender Funktion ist im Hinblick auf die zu formulierenden Schlussfolgerungen ein signifikantes Element sowohl in der Umsetzung der UNESCO-Konvention IKE als auch in der theoretischen Diskussion des Konzepts immaterielles Kulturerbe. Es kristallisieren sich in Bezug auf die Veränderungen der zum immateriellen Kulturerbe erklärten kulturellen Praktik Tango und den damit verbundenen institutionellen Funktionsmechanismen zwei Argumentationslinien heraus.

24 Diaz-Bone: „Tangowelt Berlin“, S.355–376, sowie Barrionuevo Anzaldi: Politischer Tango und Garibaldi: El Tango Extranjero.

Interpretation der Veränderungen des Tango | 241

Ein positives Fazit kann dahingehend formuliert werden, dass •







ein Prozess der Bewusstseinsbildung – trotz zu konstatierender politischer Implikationen – bei den Akteuren realisiert wurde. Dieser ist auf die Legitimierung von Wissensbeständen zurückzuführen, die den entsprechenden Praktikenformen implizit und nunmehr in öffentlichen Diskursen benannt sind. Darüber hinaus wird der Raum des Möglichen um diese Wissensbestände erweitert. Sie stehen als gegebene Optionen zum Ausagieren zur Disposition; originäre Akteure nicht in ihrem Ausagieren der Praktikenformen beeinflusst sind; das meint, dass ein Effekt des Aufführungscharakters in einem unkontrolliert bleibenden Teil des privaten Bereichs ausbleibt. Nachzuweisen bleibt dies in einer zeitlich später angelegten Felduntersuchung, kann aber aufgrund der Referenzqualität des privaten Bereichs innerhalb des ‚Tango IKE‘ als Hypothese einer solchen Untersuchung angenommen werden; im Zuge der verpflichtenden Maßnahmen zur Umsetzung der Konventionsinhalte der Erhalt der Narrationen zur Geschichte, der Originalität und der historischen Dokumente gewährleistet wird. Damit formiert sich auf lange Sicht ein materielles und gelebtes Archiv der kulturellen Praktik; das Bewahren innerhalb dieses Archivs von originären Elementen des Tangos als Narrationen und Materialisierungen des Traditionellen – wie Partituren, Texte, Photos – sich im Sinne einer authentischen Entwicklung in der gegenwärtigen Zeit entsprechend der doxa und Grundaxiomen der ‚kulturellen Praktik Tango‘ auswirkt, indem der Rückbezug auf einen originären Entstehungskontext präsent ist.

Ein negatives Fazit kann dahingehend formuliert werden, dass •



der Prozess der Bewusstseinsbildung nicht aus der Genese der Strukturverhältnisse selbst generiert, sondern von strukturexternen Faktoren initiiert wurde. Für den Tango sind das die institutionalisierten Akteure (Academia de Tango) in Zusammenarbeit mit politischen Stellen (Kultusministerium). Die politischen Implikationen waren im Verlauf der Rekonstruktion als die latenten Interessen der ‚Nationalisierung‘ und ‚Marktfähigkeit‘ des Tangos zu identifizieren. Die Deklaration eines immateriellen Kulturerbes kann somit kein Wert der privaten Akteure des Tangos sein, sondern entspricht einem Instrument (sozio-)politischer Strategie (latenter) Interessen seitens offizieller Positionen; die originären Akteure bis zum Moment der Datenerhebung nicht in ihrem Ausagieren der Praktikenformen beeinflusst sind, dass aber neue Akteure auf

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neuen Positionen vermittels Strategien der interessenführenden Machtpole generiert wurden. Diese neuen Akteure verschleiern die vorauszusetzende Naturalisierungsarbeit und den Inkorporierungsprozess bei den originären Akteuren, indem sie (als Tanzende, Musiker, Schreibende und Lehrende) vorgeben, den korrespondierenden Habitus des ‚Tango IKE‘ als authentisch anzuerkennen und inkorporiert zu wissen; der Erhalt der Narrationen zur Geschichte, zur Originarität und der historischen Dokumente durch die Umsetzung der verpflichtenden Maßnahmen gegeben ist, dass dieser Prozess allerdings zu einer Kanonisierung im Interesse der Offizialisierung und Formalisierung durch festzuschreibende formale Definitionen sowie zur Errichtung ausgewählter Archive führt. Innerhalb dieses Prozesses war eine strategische Mythenbildung und Traditionserfindung zu konstatieren. Das entspricht gemessen an der strukturinternen Genese einer Verfälschung der Narrationen; innerhalb des ‚Tango IKE‘ entspricht dieser Prozess den geltenden Grundaxiomen; die authentische Entwicklung der kulturellen Praktik entsprechend der doxa und Grundaxiome der ‚kulturellen Praktik Tango‘ somit in Frage gestellt ist. Es gilt darüber hinaus, in der Ergebnisdiskussion zu reflektieren: wer warum über das Authentische bzw. Originäre entscheidet.

Argumente und Konsequenzen Das ist kein Wettbewerb um die schönste Tradition […]. Es geht um Wertschätzung und Respekt.1 Der Bezug zu den Menschen muss sichtbar bleiben.2

Mit den Schlussfolgerungen aus der interpretativen Analytik werden zunächst die einzelnen Aspekte des Erkenntnisinteresses bzw. die Fragestellungen auf theoretischer und inhaltlicher Ebene beantwortet, um dann die Ergebnisse mit den einzelnen formulierten Thesen und Hypothesen zu konfrontieren. Es wird insbesondere auf die Fragen eingegangen, wie der Wandel der kulturellen Praktiken, der mit dem Anerkennungsprozess zum immateriellen Kulturerbe einhergeht, zu bewerten ist und in welcher Weise das neue symbolische Kapital des Immateriellen für die kulturellen Praktiken Bedeutung hat. Anschließend werden die Argumente im Hinblick auf eine Diskussion des Konzepts immaterielles Kulturerbe in der Praxis formuliert. Das betrifft die beiden Perspektiven institutionelle Praktiken, Strategien und normative Begriffe in Bezug auf die Erweiterung des Begriffs Kulturerbe um kulturelle Praktiken und um den Wert des Immateriellen (institutionelle Perspektive) und der Wert des Immateriellen und der kulturellen Praktiken in der Gesellschaft (Perspektive der kulturellen Praktiken).

1

Wulf, Christoph: Grußwort zum Fachsymposium „Immaterielles Kulturerbe erhalten und wertschätzen“. http_www_unesco_de_uho_11_2013_ike_rede_wulf_html_pdf=1 Er führt weiter aus: „Wenn man den besonderen Charakter immateriellen kulturellen Erbes verstehen will, muss man sich vor allem vergegenwärtigen, welche zentrale Rolle der menschliche Körper als sein Träger spielt. Der Mensch selbst ist Träger von immateriellem Kulturerbe und sorgt durch sein Handeln für die Überlieferung dieses Erbes, für die Weitergabe dieses Wissens von Generation zu Generation.“ Ebd.

2

Ausführlicher im Zitat: „Der Bezug zu den Menschen, die Riten, Tänze, Spiele, Feste etc. praktizieren, muss sichtbar bleiben. Sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses und erneuern es immer wieder durch ihr Tun.“ Ebd.

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Ein besonderer Fokus in Form formulierter Konsequenzen liegt auf den Kategorien der Institutionalisierung, der Verantwortlichkeit der Akteure und dem Begriff des Immateriellen, im Besonderen am Beispiel der Bewegungspraktiken.3 Als Konsequenz aus den gewonnenen Ergebnissen und Schlussfolgerungen können in Form einer Perspektivöffnung das Konzept immaterielles Kulturerbe und das Konzept Bewegungswissen (neu) formuliert sowie Ansatzpunkte für deren Anwendung in der Praxis in Form von möglichen Projektkonzepten als auch weiterführende Forschungsaspekte aufgezeigt werden.

ANTWORTEN FÜR DEN TANGO Es werden zunächst die einzelnen Aspekte des Erkenntnisinteresses bzw. die Fragestellungen auf theoretischer und inhaltlicher Ebene beantwortet, um dann die Ergebnisse mit den formulierten Thesen und Hypothesen zu konfrontieren. Fragestellungen Die der vorliegenden Analysearbeit vorangehenden Fragestellungen fokussieren die besondere Bedeutung der kulturellen Praktiken innerhalb der Funktionsmechanismen gesellschaftlicher Verhältnisse; desweiteren die Veränderungen der kulturellen Praktiken aufgrund ihrer Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe; und schließlich den Moment der Benennung kultureller Praktiken als inkorporierte Wissensbestände und deren Legitimierung als immaterielles Kapital seitens institutioneller und über symbolische Macht verfügende Akteure. Ausgehend vom formulierten Erkenntnisinteresse war auf inhaltlicher Ebene zu analysieren, inwiefern die institutionelle Anerkennung kultureller Praktiken als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO die Bedeutung dieser Praktiken für die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen und deren Wertstellung darin verändert. Aus der interpretativen Analytik heraus konnte für den Tango nachgewiesen werden, dass mit dem Anerkennungsprozess neuartige Strukturverhältnisse entstehen. Sie werden mit dem Reproduktionsprozess generiert. Damit verbunden sind Veränderungen in den Positionierungen kultureller Elemente und

3

Der Begriff ‚institutionell‘ bezieht sich auf Praktiken und Strategien, die den Positionen als dispositionell und kennzeichnend zugeordnet werden; in Abgrenzung zum Begriff institutionalisiert, der solche Praktiken und Strategien bezeichnet, die dem symbolischen Machtbereich der institutionellen Positionen inkorporiert werden und entsprechende Prozesse der Formalisierung und Offizialisierung durchlaufen.

Argumente und Konsequenzen | 245

der Akteure aller Ebenen (informeller Bereich, öffentlicher Bereich, institutionalisierter Bereich). Neue Positionen mit den entsprechenden Dispositionen, Interessen und Strategien konnten benannt werden. Zwischen den Akteuren waren veränderte Diskursverhältnisse und Machtverhältnisse nachzuvollziehen. Darüber hinaus ist eine Erhöhung des symbolischen Werts der Tangopraktiken nachweisbar. Diese Veränderungen entsprechen einer Neukonstituierung der Strukturverhältnisse, die die Tendenz aufweist, die (relative) Autonomie der kulturellen Praktik Tango aufzuheben. Sie ist an legitimierende Praktiken durch eine symbolische Macht und an deren Wertsetzung notwendig gebunden. Desweiteren war auf inhaltlicher Ebene von Interesse, inwiefern der Anerkennungsmechanismus zum immateriellen Kulturerbe zugleich für mögliche Veränderungen der Praktiken selbst steht. Aus der interpretativen Analytik heraus wurde deutlich, dass die kulturelle Praktik Tango im Anerkennungsmoment mit einem externen Einflussfaktor konfrontiert wird. Aufgrund seiner Autorisierung seitens Positionen der symbolischen Macht führt das zu strukturellen Veränderungen. Das impliziert ein neues, bis dahin externes Wissenskonzept: das ‚Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe‘ der ‚UNESCO-Konvention-IKE‘. Sie generieren in dieser Neukonstellation ein neuartiges ‚Wissenskonzept Tango IKE‘ bzw. das neue symbolische Kapital des Immateriellen neben dem bisherigen ‚Wissenskonzept Tangologie‘ und der herrschenden doxa. Das spezifische Immaterielle der kulturellen Praktik Tango weist mit der Konstituierung der neuen Strukturverhältnisse einen symbolischen Wert auf. Dazu zählen die im Textkorpus benannten verbindenden Elemente [Dialog], [urbanes Lebensgefühl] und der [hybride Ursprung] sowie die [Melancholie] als ein signifikanter Wert der spezifischen illusio.4 Die Strukturverhältnisse verändern sich dahingehend, dass neue Positionen generiert werden (‚Academia de Tango‘, Sachverständige für immaterielles Kulturerbe, ernannte Repräsentanten), neue Besetzungen von Positionen erfolgen

4

In diesem Zusammenhang sei für den Tango das Kriterium Lebensgefühl inmitten urbaner Migrationsräume und das Melancholische bzw. die Desolation umschrieben. Mittels dieser beiden Charakteristika kann der Tango in allen seinen soziokulturellen Ausdrucksformen wiedergefunden werden. Die [Melancholie] war als ein an den Tango gebundenes und soziale bzw. strukturelle Bereiche durchdringendes Wissenskonzept bzw. eines Wissensbestands zu erfassen. Die [Melancholie] steht ebenso für eine Befindlichkeit der [tangueros], ausgedrückt in den Praktikenformen Tanz, Musik und Poesie. Sie bildet eine definitorische Kategorie des spezifischen ‚Lebensstils Tango‘ aus Werten, Normen, Charakteren, Emotionen, Geschichten/Narrationen. Der Mythos Tango bewahrt und vermittelt diese Aspekte.

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(Autorisierungen und Legitimierungen von Repräsentanten), ebenso wie sich Zuordnungen von Dispositionen (Legitimierungen und Autorisierungen) und von Elementen innerhalb der formellen Bereiche verändern. Desweiteren war eine Verstärkung der durch Formalisierungsstrategien definierten Grenzen und Oppositionen zwischen legitimierten und nicht legitimierten Praktiken sowie zwischen dem kontrollierten und nicht kontrollierten Bereich nachweisbar. Ein signifikanter Moment ist die Formalisierung des bisher durch institutionelle Instanzen unkontrollierten Bereichs sowie die Definition des weiterhin nicht zu kontrollierenden Bereichs als einen Oppositionspol. Darüber hinaus galt es aufzuzeigen, durch welche Strategien erfasste Veränderungen in den Strukturverhältnissen verankert sind. Zum einen sind die diskursiven Strategien zu nennen. Sie leisten die Vermittlung der erhofften Zugewinne an symbolischem Kapital durch die Legitimierung der externen Wertsetzungen. So sind beispielsweise die externen Themenbereiche wie [Tourismus] und [Shows] bzw. [globaler Erfolg] bereits als strukturinterne Themen und Werte seitens der Repräsentanten und einzelner Ausagierenden der Tangopraktiken legitimiert sowie im eigenen Agieren naturalisiert. Die Umsetzung der neuen Diskursverhältnisse und symbolischen Werte realisiert sich durch die umsetzenden Maßnahmen seitens der ‚Academia de Tango‘. Dazu zählen die benannten Maßnahmen der Formalisierungen und Kanonisierungen, der Archivarbeit von Dokumenten und Wissensbeständen, als auch der (kontrollierten) Formierung von Tango-Akademien, Orchestern, Tanzensembles, etc. Eine solche Vermittlungsund Umsetzungsarbeit ist lediglich aufgrund der (interessenbasierten) Stützung seitens der politischen Machtpositionen möglich. Auf theoretischer Ebene war mit Fokus auf das formulierte Erkenntnisinteresse aufzuzeigen, in welcher Weise die Anerkennung, bzw. die Legitimierung kultureller Praktiken als immaterielles Kulturerbe deren Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse verändert und den kulturellen Praktiken einen veränderten Kapitalwert verleiht. Das bedeutet in Bezug auf die auf inhaltlicher Ebene benannten Veränderungen (Neuformierung von Positionen und Verschiebung von Zuordnungen) eine Neuformierung der Bereiche aus Peripherie, Häresie und Oppositionen und hat eine Veränderung der Machtverhältnisse zur Folge. Das betrifft insbesondere die Definition einer symbolischen Macht, deren korrespondierenden Interessen, Werte und Strategien der Legitimierung (Anerkennung und Offizialisierung). Somit ist zu konstatieren, dass die Entwicklung der kulturellen Praktik Tango aufgrund der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe mit einer Ent-Autonomisierung der (relativ) autonomen Strukturverhältnisse einhergeht.

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Arbeitsthesen und Hypothesen Aus den Fragestellungen heraus wurden im Vorfeld der Analyse Arbeitsthesen entwickelt. Sie werden im Folgenden mit den Ergebnissen der interpretativen Analytik konfrontiert. Die Ernennung des Tangos zum immateriellen Kulturerbe entspricht in der Perspektive der bourdieuschen Feldtheorie einer Veränderung der spezifischen Strukturverhältnisse.5 Damit korrespondiert die Einführung des spezifischen Kapitals des Immateriellen (mit den Aspekten des Institutionellen und des inkorporierten Wissens). An dieser spezifischen Kapitalform richten sich die veränderten Strukturverhältnisse (Macht-/Kapitalstrukturen) und Funktionsmechanismen (Strategien und Interessen) aus. Der symbolische (Kapital-)Wert der kulturellen Praktiken wird verändert. Infolgedessen werden auch die Habitusformen der Akteure einem Wandel unterworfen. Die hypothetisch formulierten Veränderungen der Strukturverhältnisse konnten für die kulturelle Praktik Tango nachgewiesen werden. Ebenso war es möglich, ein spezifisches symbolisches Kapital mit den angegebenen Aspekten zu definieren. Ein veränderter Funktionsmechanismus war mit der Differenzierung zwischen einem ‚Funktionsmechanismus IKE‘ und einem ‚Funktionsmechanismus der kulturellen Praktik Tango‘ zu konstatieren. Er korrespondiert den veränderten Diskurs- und Machtverhältnissen. Ein Habituswandel war im Rahmen der vorgenommenen Analyse nicht nachweisbar und erfordert eine Analyse mit zeitlichem Abstand zum Anerkennungsmoment. In einer zweiten These wurde davon ausgegangen, dass der Tango als eine durch den Körper ausagierte kulturelle Praktik, mit den als immateriell deklarierten Praktikenformen Musik, Poetik und Tanz, einer spezifischen emotionalen Befindlichkeit und einem spezifischen Selbstverständnis bestimmt ist. Tango impliziert konstitutive und inkorporierte Wissensbestände.6

5

An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass es aus der methodenkritischen Diskussion heraus zunächst notwendig war, den bourdieuschen Begriff Feld durch den Begriff Strukturverhältnisse umzubestimmen, um der methodischen Inkompabilität einer Sozialraumanalyse mit einer distinktiven Diskursanalyse gerecht zu werden.

6

Kulturelle Praktiken korrespondieren den spezifischen Strukturen. Sie sind zugleich Praxis konstituierend, indem sie die Strukturverhältnisse inkorporiert haben und reproduzieren. Kulturelle Praktiken entsprechen einem nicht-rationalen Wissen. Das bedeutet, dass kulturelle Praktiken als inkorporierte kollektive Geschichte und als ein spezifische Form des Körperwissens und der Wissensbestände des Immateriellen konstitutiv für die gesellschaftlichen Strukturen sind. Vgl. bei Bourdieu: Rede und Ant-

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Für die kulturelle Praktik Tango war eine Ausdifferenzierung als (relativ) autonome Strukturverhältnisse mit entsprechenden Praktiken, Interessen und Grundwerten (doxa und illusio) zu konstatieren. Der korrespondierende Funktionsmechanismus impliziert spezifische Wissensbestände, die aufgrund ihrer Reproduktionsfunktion als konstitutiv zu kennzeichnen waren. Es wurden zwei Formen an Wissensbeständen erkennbar. Das sind zum einen die körpergebundenen und inkorporierten Wissensbestände des Ausagierens der körpergebundenen Praktikenformen des Tangos (Tanz, Musik und Rezitation bzw. Autorenschaft). Das sind zum anderen die den diskursiven Praktiken impliziten Wissensbestände auf diskursiver, nicht körpergebundener Ebene (Narrationen, Mythen und Referenzen). Erst durch die (ausagierten) Wissensbestände ist eine Genese der Strukturverhältnisse überhaupt möglich. Die spezifische Wissensform der kulturellen Praktik Tango wird aus den beiden vorhergehenden Thesen heraus als inkorporierter Wissensbestand und die ausagierten Tangopraktiken als gelebtes kulturelles Wissen definiert werden können. Beide sind Elemente der Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturverhältnissen. In der Konsequenz kann das Konzept immaterielles Kulturerbe als Konzept eines lebendigen kulturellen Archivs formuliert werden. In Rückgriff auf die bourdieuschen Theoreme konnte der Begriff des inkorporierten Wissens in der interpretativen Analytik für die Praktikenformen des Tangos nachvollzogen, mit Rückgriff auf die Erweiterungen der bourdieuschen Konzepte konnte der Begriff des gelebten kulturellen Wissens begründet werden. Eine sinnvolle Verbindung beider Begriffe stellt der Begriff des gelebten kulturellen Erbes zur Verfügung. Dieser impliziert, dass das Konzept immaterielles Kulturerbe lediglich die formalisierte Strategie sein kann, das erst durch die Vermittlungs- und Inkorporierungsprozesse in der Praxis realisiert werden muss, um den ‚Funktionsmechanismus IKE‘ umzusetzen. Dem Analyseprozess wurden ableitend aus dem Erkenntnisinteresse, den Fragestellungen und den Arbeitsthesen zwei Hypothesen vorangestellt. Eine erste Hypothese geht davon aus, dass der Anerkennungsmechanismus zum immateriellen Kulturerbe mit den korrespondierenden Interessen und Strategien für eine Veränderung der kulturellen Praktiken entgegen der eigentlichen Intention des Kulturerbe-Konzepts ihrer Bewahrung und Vermittlung steht. Dieser Hypothese muss der interpretativen Analytik Folge leistend dahingehend zugestimmt werden, dass die kulturelle Praktik Tango nachweisbar in ih-

wort, die Aufsätze Kodifizierung; Lektüre; Programm für eine Soziologie des Sports sowie Bourdieu/Wacquant: Meditationen. Körperliche Erkenntnis.

Argumente und Konsequenzen | 249

rem Funktionsmechanismus, in ihren spezifischen Struktur-, Diskurs- und Machtverhältnissen sowie in Bezug auf die korrespondierenden Grundaxiome, Themenbereiche, (latenten) Interessen, Strategien und Wissensbestände verändert wird. Das bedeutet, dass das gesamte spezifische ‚Wissenskonzept Tangologie‘ der ‚kulturellen Praktik Tango‘ durch externe Einflussfaktoren verändert ist. Dem ‚Funktionsmechanismus IKE‘ der Bewahrung und Vermittlung korrespondiert eine neue und formalisierte Definition des Tangos entsprechend externen (latenten) Interessen, Werten und Strategien. In der Konsequenz wird diese neu bestimmte und legitimierte Narration einer kulturellen Praktik durch entsprechende Verschleierungsstrategien bewahrt und vermittelt. Dieser beschriebene Prozess muss allerdings von einem signifikanten Teil der ausagierenden Akteure der Tangopraktiken autorisiert, jedoch noch nicht notwendig naturalisiert sein. Eine zweite Hypothese behauptet demgegenüber, dass die Diskussion und Umsetzung des Konzepts immaterielles Kulturerbe für eine veränderte Bewertung kultureller Praktiken, das meint für einen höheren Grad ihrer Legitimierung innerhalb der Strukturverhältnisse eines sozialen Raums stehen. Das veränderte Bewusstsein in der konkreten Bestimmung der veränderten Diskursverhältnisse wurde mit dem neu formierten Bereich der Öffentlichkeit sowie den korrespondierenden neuen Positionen, den (intendierten) Narrationen sowie den formalisierten Definitionen erfassbar. Die veränderte Bewertung in der konkreten Bestimmung als ein neues symbolisches Kapital wird mit den dem Anerkennungsmechanismus zugehörigen Legitimierungs- und Autorisierungsprozessen erkennbar. In der Konsequenz entspricht die Umsetzung der Konventionsinhalte der Legitimierung immaterieller Wissensbestände und generiert das neuartige ‚Wissenskonzept Tango IKE‘. Mit den benannten Aspekten der Konfrontation der Erkenntnisse aus der interpretativen Analytik, den Arbeitsthesen und Hypothesen einher geht die grundlegende Frage danach, warum bereits nach 100 Jahren der Existenz einer kulturellen Praktik ein Anrecht auf den Kulturerbe-Titel besteht. Eine Begründung für die Rechtmäßigkeit des Kulturerbe-Titels ist mit einem Rückgriff auf den bourdieuschen Begriff ‚trajectoire‘ möglich. Für den Analysemoment kulturelle Praktik Tango bedeutet die ‚trajectoire‘, dass der traditionelle Tango in seiner populären, informellen und unkontrollierten Form nicht mehr existieren wird, insofern der umfassende soziale Raum starken strukturexternen Einflüssen unterworfen ist. Der Tango würde sich ebenso verändern und Gefahr laufen, zu ‚verschwinden‘. Dieser Entwicklung kann durch einen verantwortungsvollen Umgang mit den Intentionen und Strategien des ‚Funktionsmechanismus IKE‘ entgegengewirkt werden.

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Ergebnisthesen zur Umsetzung des Kulturerbe-Konzepts Aus dem Erkenntnisinteresse heraus und in Abstimmung mit den Ergebnissen der interpretativen Analytik können drei Ergebnisthesen formuliert werden. Die Anerkennung kultureller Praktiken als immaterielles Kulturerbe, die noch gelebt werden und sich ihrer strukturinternen Genese entsprechend entwikkeln, stehen in der Gefahr, durch die Interessen Politisierung und Ökonomisierung, durch die mit der Offizialisierung einhergehenden Institutionalisierung und verbundenen Formalisierung, ihre spezifische doxa und illusio zu verlieren. In der Konsequenz verändern sie sich in einer den strukturinhärenten Interessen und Werten nicht entsprechenden Weise. Die Entsprechung dieser These findet sich in einer negativen Wertung des Konzepts immaterielles Kulturerbe. Diese beschreibt den Effekt der Institutionalisierung informeller Praktiken als den Tod der Praktiken: durch die realisierten Strategien eines Definitionszwangs und eines Legitimierungsprozesses erfolgt ihr Einfügen in formale Strukturen und das Generieren eines Kanons. Die Anerkennung kultureller Praktiken als immaterielles Kulturerbe, welche in Gefahr ihres Verschwindens stehen, kann durch deren Legitimierung als ein als konstitutiver Teil der Gesellschaft anerkanntes Element diesen Prozess verhindern und durch das Bewahren ihres Raums des Möglichen die Bedingung generieren, als gelebte Praktik zu existieren. Die Entsprechung dieser These findet sich in einer positiven Wertung des Konzepts immaterielles Kulturerbe. Die gelebten kulturellen Praktiken werden in der Benennung eines Immateriellen symbolisch aufgewertet und deren funktionelle Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenhang erst deutlich gemacht. Dieser Prozess bedeutet einen Wandel im politischen Diskurs bzw. der offiziellen Stellungnahmen. Er kann die Perspektive für eine Handhabe kultureller Praktiken und Werte des Immateriellen öffnen, in der Konsequenz eine neue Handhabe in der Kulturpolitik initiieren. Ausgehend von den Ergebnissen der interpretativen Analytik können Argumente zu relevanten Aspekten des Erkenntnisinteresses formuliert werden. Die Analysemomente ‚UNESCO-Konvention-IKE‘, und ‚kulturelle Praktik Tango‘ fusionieren in den neuartigen Strukturverhältnissen ‚Tango IKE‘. Die sich nunmehr bestätigende Annahme im Vorfeld der Analyse bestand darin, dass das originäre Strukturverhältnis ‚kulturelle Praktik Tango‘ in einem Adaptationsprozess signifikant verändert wird. Auf der Ebene der objektiven Struktur erweitert sich diese um eine Ebene der Strukturierung und Kontrolle in Folge der Offizialisierung und Formalisierung. Aus der Position einer positiven Wertung

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heraus kann dieser Prozess einen (relativ) autonomen Bereich des Ausagierens der kulturellen Praktiken in der Praxis sowie den Raum des Möglichen mit inkorporierten und ausagierten bzw. (noch) nicht ausagierten Wissensbeständen im größtmöglichen Umfang ermöglichen bzw. erhalten. Aus der Position einer negativen Wertung heraus ist die Option gegeben, eine Praktik gerade nicht zu bewahren, in dem Fall, dass der private Bereich umfassend durch externe Interessen und Strategien formalisiert, neu definiert und kontrolliert wird (Prozess der Kanonisierung und der Ent-Autonomisierung). Ein externer Einfluss innerhalb des ‚Anerkennungsprozesses‘ zum immateriellen Kulturerbe wurde erkennbar. Zu differenzieren waren Veränderungen auf den Strukturebenen und bei den kennzeichnenden Elementen. In der ‚kulturellen Praktik Tango‘ wurde eine Ebene der institutionalisierten Positionen, Praktiken und Strategien inkorporiert, die in besonderem Umfang an staatliche Akteure und (latente) Interessen gebunden sind. Es waren veränderte und neue Kapitalformen und Interessen zu konstatieren sowie veränderte und neue Themenbereiche. Innerhalb der Diskursstrukturen waren veränderte Narrationen, Werturteile, Formalisierungsinstanzen, legitimierte Akteure und Definitionen zu erfassen. Die Frage nach der Veränderung von Praktiken setzt voraus, dass das Ausagieren der kulturellen Praktiken einen spezifischen Habitus (inkorporierter Wissensbestände und inkorporierter Strukturverhältnisse) erfordert. Die Veränderung eines solchen Habitus kann durch die vorgenommene Analyse nicht beschrieben werden und ist noch nicht absehbar. Es können aus der interpretativen Analytik heraus und im Hinblick auf eine anstehende notwendige Analyse dieses Aspekts in einer angemessenen Zeitspanne Hypothesen formuliert werden. Diese richten sich auf die angenommene Ausrichtung der Habitusformen an neuen Interessen und Strategien, die umfassende Formalisierung und (Neu-)Definition der (relativ) autonomen kulturellen Praktiken sowie eine externe Diskursgenerierung. Wie bereits zuvor benannt, konnten neu formierte Bereiche des Agierens und neu inkorporierte Interessen und Strategien konstatiert werden. Die Begründung für die Legitimierung und Autorisierung der externen Diskurse, Strategien und der (latenten) Interessen der UNESCO-Konvention IKE basiert auf einem (latenten) Interesse seitens interner, zumeist staatlicher und wirtschaftlicher Akteure durch Vorgabe einer ‚weißen Weste‘ im Sinne einer Verschleierung politischer und ökonomischer Interessen. Die Deklaration eines immateriellen Kulturerbes entspricht somit einem Instrument (sozio-)politischer Strategie (latenter) Interessen seitens offizieller Positionen. Die umzusetzenden Maßnahmen ermöglichen, diese Interessen in verschleierter Form in der Praxis zu realisieren. In Bezug auf das definierte und legitimierte soziale und symbolische Kapital betrifft das die Vorgabe von (neuen) Werten und Normen, in Bezug

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auf das politische Kapital die Erhöhung der Legitimationsmacht und des Kapitalwerts (neu) definierter Positionen und Elemente. Institutionalisierte Akteure bilden einen Bereich der umsetzenden bzw. vermittelnden Praktiken. Sie interpretieren letztendlich die gegebenen Handlungsoptionen (aus dem Raum des Möglichen bzw. der inkorporierten Dispositionen) und bestimmen über das ‚wie‘ (Habitusformen und Strategien) und ‚was‘ (Zensurmechanismen und Legitimierungs- bzw. Autorisierungs-prozesse) ihres Ausagierens anhand der inkorporierten Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungskategorien. Sie vermitteln die Ideale und Visionen bzw. die definierten Normen der UNESCO-Konvention IKE in die Praxis. Ihre Position innerhalb der Strukturverhältnisse korrespondiert einer symbolischen Macht der Selektion über die umzusetzenden Strategien, der (latenten) Interessen und über die Autorisierungsprozesse. Sie stehen für den entscheidenden Moment innerhalb des Funktionsmechanismus: ihr Agieren bestimmt die Umsetzung des Anliegens der UNESCO-Konvention IKE. Daraus kann in Bezug auf eine Bewertung für den Umsetzungsprozess des Konventionsanliegens die Schlussfolgerung formuliert werden, dass diesen Positionen die ethische und moralische Verpflichtung obliegt, ihr Agieren zu reflektieren und nach (latenten) Interessen zu hinterfragen. Aspekte einer solchen angestrebten kritischen und (relativ) autonomen Handlungsweise sind die in der interpretativen Analytik benannten Elemente: eine klar definierte Wertegrundlage, unabhängige Gremien in finanzieller, personeller und politischer Hinsicht, die Aufgabe der Bildung und Vermittlungsarbeit als Funktion des Reproduktionsprozesses. Der für die ‚kulturelle Praktik Tango‘ erfasste private Bereich ist innerhalb der Offizialisierungs- und Formalisierungsstrategien des ‚Tango IKE‘ lediglich als ein referentielles Element benannt. Da dieser Bereich für die (lebendige) kulturelle Praktik Tango als konstitutiv gekennzeichnet wurde, bedeutet diese Veränderung einen entscheidenden Moment im Anerkennungsprozess. Die neuen Positionen, Bereiche und korrespondierende Praktiken, Strategien, (latenten) Interessen und Themen, die in erster Linie in einem öffentlichen Bereich erfasst wurden, erweisen sich im ‚Tango IKE‘ als eine Gefahr für die (relative) Autonomie des Ausagierens der Tangopraktiken. Der Tango wird unter der Bedingung nicht ‚tot institutionalisiert‘, dass die hinter den neuen Themen und Positionen stehenden Interessen [Tourismus], [Wirtschaft/Vermarktung], [Kulturpolitik/Nation] und Agierenden einen eigenen Bereich bilden; die privaten Agierenden dagegen einen unkontrollierten, nicht institutionalisierten, keinen formalisierenden Strategien unterliegenden, (relativ) autonomen Bereich beibehalten (das kann beispielsweise sein: Bereitstellung von Lokalitäten ohne Auflagen, Garantie der Weitergabe von Wissen, keine Authentizitätsprüfungen, etc.). Insofern die

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im privaten Bereich zu verortende Tiefendimension der kulturellen Praktik Tango (Mythen, Legenden, etc.) mit dem Formalisierungsprozess (institutionalisierte Strukturen und institutionalisierte Akteure) als Handlungsoptionen verschwinden, kann die kulturelle Praktik Tango mit ihren impliziten Werten und Wissensbeständen in der Praxis nicht erhalten bleiben. Sie degeneriert in eine ‚Pseudopraktik‘, insofern sie sich einem eingeforderten Diskus angepasst bzw. dessen Interessen korrespondierend generiert wird. Eine Konsequenz besteht darin, dass die Tiefendimension der kulturellen Praktik nicht (mehr) gelebt wird und das Ausagieren kultureller Wissensbestände ein (strategisches) Organisationsevent darstellt (beispielsweise Weltausstellungen, Oktoberfeste, offizialisierte Folklorefestivals).7 Die Vergrößerung des symbolischen Bereichs steht für einen Legitimierungsprozess strukturinterner oder strukturexterner Elemente als interessenkonform. Zum einen werden kulturelle Praktiken als solche Elemente neu bewertet, zum anderen wird ein Umsetzungsprozess institutioneller ideeller Werte initiiert. In der Konsequenz war zu konstatieren, dass die Wertschätzung kultureller Praktiken in ihrer konstitutiven Funktion seitens institutioneller Akteure und seitens externer Akteure gestiegen ist. Desweiteren sind im öffentlichen Bereich, in dem zugleich der Anerkennungsprozess realisiert als auch vermittelt wird, kulturelle Praktiken sowie deren veränderter Wert und deren impliziten Wissensbestände nunmehr präsent. Aus den formulierten Argumenten heraus können Indikationen der Umsetzung des Kulturerbe-Konzepts benannt werden. Wenn ein idealistisches Interesse seitens der politischen und institutionellen Akteure zu konstatieren ist, dann ist die Option gegeben, dass auf Ebene der Praxis der Raum der kulturellen Praktik erhalten wird. Das meint, dass der Raum des Möglichen bzw. das implizite und ausagierte kulturelle Erbe im Rahmen der Entwicklung der kulturellen Praktik unverändert bleibt. Das Ausagieren der Praktik bleibt in gleicher Weise im Rahmen der generierten Praktikenformen und impliziten Wissensbeständen unverändert; auf Ebene der Diskursverhältnisse bzw. auf der Strukturebene ist die kulturelle Praktik durch einen höheren Grad an Bewusstsein (reflektiertes Wissen) und durch Benennung innerhalb der offiziellen Diskurse mit einem höheren symbolischen Wert gekennzeichnet (Kapital des immateriellen Kulturerbes).

7

An dieser Stelle müsste in einer weiterführenden theoretischen Diskussion ein Kriterium der Unterscheidung für das authentische Ausagieren und für den Aufführungscharakter der Darstellung kultureller Praktiken formuliert werden.

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Wenn ein interessengeleitetes, das meint, sich nicht auf den Wissensbeständen der kulturellen Praktik zuzuordnenden Aspekte beziehendes Agieren seitens der politischen und institutionellen Akteure bzw. der Repräsentanten der kulturellen Praktik zu konstatieren ist, dann ist die Option gegeben, dass auf Ebene der Praxis neue Themenbereiche und Interessen, neue Werte und Definitionen, neue Positionen mit korrespondierenden Dispositionen und Strategien und daraus folgend neue Habitusformen impliziert sind. In der Konsequenz steht das für eine Veränderung der spezifischen Grundaxiome und der illusio; auf Ebene der Diskursverhältnisse bzw. auf der Strukturebene externe Faktoren als neu eingebrachte Interessen, Kapitalwerte und institutionelle Positionen zu konstatieren sind, die für Veränderungen in Bezug auf den spezifischen ‚Funktionsmechanismus‘ und in der Funktion neuer bzw. veränderter Machtpole stehen. Damit funktioniert das Konzept immaterielles Kulturerbe als Strategie der staatlichen bzw. institutionellen Positionen, um Elemente aus dem sozialen Raum durch Strategien der Offizialisierung zu kontrollieren. Darüber hinaus konnte eine strategische Nutzung seitens benannter Akteure für politische und ökonomische Zwecke konstatiert werden.8 Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass die Veränderungen, denen eine kulturelle Praktik aufgrund ihrer Ernennung als immaterielles Kulturerbe unterliegen kann, in der Verantwortung der institutionalisierten und autorisierten Akteure liegen. Mit der positiven Bewertung des ‚Funktionsmechanismus IKE‘ handelt es sich um eine Raumgabe und damit um eine tatsächliche Bewahrung für das (relative) autonome Ausagieren der kulturellen Praktik in einem möglichst inoffiziellen und unkontrollierten Bereich. Die zweite Indikation formuliert hingegen eine negative Bewertung des ‚Funktionsmechanismus IKE‘ als den ‚Tod der Praktik durch Formalisierung‘. Im Fall einer gefährdeten Praktik ist die Ernennung zum immateriellen Kulturerbe sinnvoll, insofern auf Ebene der Praxis der Raum der kulturellen Praktik mit den verbundenen Habitusformen und Wissensbeständen aus dem Raum des Möglichen heraus bzw. als implizites und ausagiertes kulturelles Erbe überhaupt erst aufrechterhalten wird; auf Ebene der Diskursverhältnisse bzw. auf der Strukturebene die Strukturverhältnisse der kulturellen Praktik mit den korrespondierenden Positionen, entsprechenden Dispositionen und dem spezifischen symbolischen Kapital erhalten bzw. (relativ) autonom bleibt.

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Für den Prozess der Reproduktion von Strukturverhältnissen sind die Aspekte ‚Kapitalwerte schaffen und zuschreiben‘ sowie ‚mentale Strukturen formieren‘ relevant. Vgl. hierfür bei Bourdieu: Praktische Vernunft, S.106/107.

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Nach der erfolgten Rückführung der Analyseergebnisse auf die Fragestellungen und die Konfrontation mit den Arbeitshypothesen sowie der Formulierung von Ergebnisthesen können nun Schlussfolgerungen, Argumente und Konsequenzen auf theoretischer Ebene formuliert werden.

ARGUMENTE FÜR DAS IMMATERIELLE KULTURERBE Es werden in diesem Teil Argumente für die Umsetzung des Konzepts immaterielles Kulturerbe für drei Perspektiven formuliert: institutionelle Praktiken, Strategien und normative Begriffe in Bezug auf die Erweiterung des KulturerbeKonzepts um kulturelle Praktiken und den Wert des Immateriellen (institutionelle Perspektive); der Wert des Immateriellen und der kulturellen Praktiken in der Gesellschaft (Perspektive der kulturellen Praktiken); ein besonderer Fokus in Form formulierter Konsequenzen wird auf den Kategorien der Institutionalisierung, der Verantwortlichkeit der Akteure und auf dem Begriff des Immateriellen, im Besonderen am Beispiel der Bewegungspraktiken liegen. Die benannten Aspekte greifen stark ineinander über, sind für die Aufschlüsselung der Argumente in dieser Differenzierung beibehalten. Institutionelle Praktiken, Strategien und normative Begriffe Die Motivation dafür, die benannten Aspekte aus der institutionellen Perspektive heraus zu formulieren, besteht darin, den Begriff des immateriellen Kulturerbes, die zugehörigen institutionellen Praktiken und normativen Begriffe mit dem Fokus ihrer Funktion innerhalb der institutionellen und gesellschaftlichen Strukturen zu erfassen. Dieses Wissen ist sowohl für die Analyse der Veränderungen kultureller Praktiken als auch in Bezug auf die Neuformulierung und Neubewertung normativer Begriffe grundlegend.9 Drei thematische Aspekte können differenziert werden. Funktionsmechanismus IKE: Genese, Diskurse, ideelle Intentionen und normative Kategorien Ein erster thematischer Aspekt geht aus der Genese der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe und den korrespondierenden Praktiken, Diskursen und normativen Begriffen hervor. Er umfasst darüber hinaus die Intentionen und

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Kulturelle Praktiken sind nicht den institutionellen, sondern, sofern nicht mehr dem unkontrollierten Bereich zugehörig, den institutionalisierten Praktiken zugeordnet.

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Funktionen im Rahmen der Umsetzung der UNESCO-Konvention. Die in der UNESCO-Konvention benannten Kriterien, die der Ernennung zum immateriellen Kulturerbe zugrunde liegen (Konvergenzkriterien), wurden in ihrer Funktion als normative Begriffe untersucht. Die Aufschlüsselung der Genese, der Ratifizierung und des Funktionsmechanismus zur anschließenden Umsetzung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe ist im Abschnitt der interpretativen Analyse nachzuvollziehen.10 Im Prozess der interpretativen Analytik konnten die ideellen Intentionen, die hinter den Zielformulierungen der UNESCO-Konvention (Nachhaltigkeit und Kulturelle Vielfalt) und die Interessen, die hinter der Antragstellung seitens staatlicher Akteure stehen, herausgearbeitet und verschiedenen Diskursen zugeordnet werden. Relevant werden diese für die Diskussion, da die – so ist anzunehmen – nicht offensichtlichen, ideellen Intentionen fundamental für das Verständnis der Machtinteressen und Machtrelationen innerhalb der Situation der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe und der Umsetzung der UNESCO-Konvention sind. Ein besonderer Fokus in einer Diskussion des Kulturerbe-Konzepts wird darauf liegen müssen, in welcher Weise die Ernennung kultureller Praktiken zum immateriellen Kulturerbe durch die Erfüllung definierter Kriterien realisiert wird. Begründung findet das darin, dass die Kriterien als eine Schnittstelle zwischen dem in der Konvention festgeschriebenen institutionellen Diskurs und der Umsetzung der Konvention in der Praxis fungieren. Dabei ist – immer auch unter Berücksichtigung der ideellen Intentionen – nach der Normativität der Kriterien zu fragen. In diesem Rahmen ist relevant, inwiefern die Ernennung mit den formalisierten Kriterien der UNESCO-Konvention und dem Selbstverständnis der im privaten Bereich Agierenden des Tangos konform geht. Um den Aspekt Verantwortung der Akteure und Instanzen zu fundamentieren, kann in Bezug auf die Normativität der Konvergenzkriterien hinzugefügt werden, dass diese als auf supralateraler Ebene legitimierte Dokumente einen Rechtsstand aufweisen. Entsprechend der Generierungskette von Wissensbeständen, Institutionen und Instanzen, ausagierenden Akteuren und Reproduktionsprozessen definiert sich die Rechtskultur wiederum als die Gesamtheit einer Rechtsetzung und Rechtsprechung als ein spezifischer Wissensbestand eines Strukturgefüges.11

10 Detaillierter in den Ergebnissen aus der Datenerhebung im Anhang einzusehen. 11 Dazu Stolleis: „Alle Erörterungen über das Wissen des Staates, über seine Lernfähigkeit sind eingebettet in die Wahrnehmung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Wie eine Gesellschaft ihr Recht ausgestaltet, wie sie es achtet oder missachtet, wie sie

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In diesem Zusammenhang konstatiert die erweiternde Literatur anhand vergleichender Analysen von Konvergenzkriterien und Antragstext die Normativität der Praktiken. Sie bestätigt damit die in vorliegender Studie erfassten formalisierenden Strategien seitens institutioneller und institutionalisierter Akteure. 12 Sie benennen diese Normierung mit dem Konventionstext, der als ein Präsentationstypos generiert wird und mit den Beschreibungen, in denen Tango als originäres, einzigartiges und an den Ort Rio de la Plata notwendig gebundenes Element bestimmt wird. Darüber hinaus wird ein Maßnahmenkatalog eingefordert, der eine Diskussion um die adäquaten Mittel der Umsetzung der Konventionsvorgaben impliziert und letztendlich für ein Ausagieren der normierenden Machtverhältnisse bzw. der korrespondierenden Funktionsmechanismen steht.13 Die Funktionen der Reproduktion und Vermittlung der als kulturelles Erbe anerkannten kulturellen Güter impliziert ihre sozio-politische Bedingtheit und Konditionierung durch eine intendierte Interpretationsarbeit. Jiménez Ramírez/ Sainz Navarro differenzieren in ihrer Untersuchung zur Restaurationspraxis zwei solcher Aspekte. Das ist die Generierung bzw. Reproduktion der (intendierten) Interpretationen der kulturellen Güter seitens dafür autorisierter Spezialisten. Ziel ist die Vermittlung dieser an die konsumierende Öffentlichkeit. Dazu zählt die Distribution der kulturellen Güter und der korrespondierenden Interpretationen seitens institutioneller Akteure als eine Funktion der Kulturpolitik. Damit

ihre Spezialisten und Repräsentanten des Rechts hervorbringt und agieren läßt, nennen wir insgesamt ‚Rechtskultur‘.“ Fried/Stolleis: Wissenskulturen, S.75/76. 12 Bezugnehmend auf die referierte Literatur ist anzumerken, dass eine zunehmende Zahl an Autoren Mittel- und Lateinamerikas auf Schriften Bourdieus referieren. Insbesondere greifen sie die Aspekte der sozialen Konditionierung, der Körpergebundenheit sozialer Praktiken und die inkorporierten Wissensbestände auf. In erster Linie zu nennen sind Garcia Canclini (Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse aus einer stark sozialkritischen Perspektive), Vega Cardenas (Restaurationsarbeit als eine soziale Praktik), aber auch Pelinski (zu Fragen der Globalisierung), Morel (zum kommunalpolitischen Nutzen eines Kulturerbestatus), Liska (Analysen zum gegenwärtigen Tango und seinen Transformationen). 13 Gómez Schettini/Almirón/González Bracco: La cultura como recurso turistico de las ciudades, S.1027–1046; im Besonderen S.1039: Normierung eines Präsentationstypos (Kriterium 1); S.1039/1040 zu Beschreibungen einer originären, einzigartigen und lokal gebundenen kulturellen Ausdrucksform (Kriterium 2); S.1040/1041: Diskussion um den Maßnahmenkatalog und adäquaten Mittel der Umsetzung (Kriterium 3).

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beschreiben sie eine vergleichbare Situation zu den Ergebnissen der Analyse der kulturellen Praktik Tango.14 In der Diskussion um die Interessengeleitetheit der Initiierung des Anerkennungsmechanismus seitens institutioneller und institutionalisierter Akteure konstatiert die Literatur Belege für die (latenten) pragmatischen Interessen auf politischer Ebene und im wirtschaftlichen Bereich. Sie benennen das freiheitlichdemokratische Grundverständnis von Gemeinschaft, Dialog und Öffentlichkeit. Desweiteren heben sie den Warencharakter eines kulturellen Guts in Funktion als ein ökonomischer Kapitalwert hervor, ebenso wie seine Karikaturierung als Konsequenz seiner Funktion als touristische Attraktion.15 Innerhalb des Wertekanons eines demokratischen Grundverständnisses sind die legitimierten und proklamierten Grundwerte von nationaler Identität und kultureller Vielfalt verortet. Sie nehmen im Zuge der Realisierung der Konventionsinhalte diskursive Oppositionen ein. 16 Eine negativ wertende Benennung wird mit der Rhetorik des Verlusts im Rahmen der Globalisierung konstatiert. Ihr geht es um die Bewahrung der Tiefendimension der kulturellen Ausdrucksformen, die es vor den externen Interessen zu schützen gilt. Aus der interpretativen Analytik, ebenso wie aus den zitierten Belegen der Literatur geht hingegen hervor, dass die Sicherung und Verteidigung der Interessen seitens institutioneller und institutionalisierter, insbesondere politischer und wirtschaftlicher Akteure diese negativ wertenden Argumente lediglich als Verschleierungsstrategie nutzen.17

14 Vgl. dazu bei Jiménez Ramírez/Sainz Navarro: ¿Quién hace al patrimonio?, S.17. Sie formulieren in ihrer Untersuchung zur Restaurationspraxis die These ihrer soziopolitischen Bedingtheit und ihrer Konditionierung vermittels einer intendierten Interpretationsarbeit seitens der politischen Gemeinschaft. Ebd., S.16. 15 Gómez Schettini/Almirón/González Bracco: La cultura como recurso turístico de las ciudades, S.1027–1046; im Besonderen S.1041: Diskussion um das Gemeinwesen und die allgemeinen Interessen (Kriterium 4); S.1041/1042: Diskussion um den Warencharakter eines kulturellen Guts und seinem ökonomischen Kapitalwert im wirtschaftlichen und touristischen Bereich. 16 Morel führt aus: „En este contexto de consolidación y reconocimiento de la diversidad, el patrimonio cultural experimentó una serie de cambios importantes vinculados a la emergencia de nuevos actores y usos sociales […]. Como parte de estas reformulaciones respecto de las conceptualizaciones del patrimonio cultural, emerge un enfoque pluralista de la herencia cultural por medio del cual se busca fortalecer instancias democráticas y comunitarias con participación de la sociedad civil.“ Morel: Las políticas del patrimonio, S.166. 17 Vgl. u.a. bei Morel: Las políticas del patrimonio, S.170–173.

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In Bezug auf die internen und externen Interessen wurde in der interpretativen Analytik ausgeführt, dass die Antragstellung von pragmatischen Interessen (wirtschaftlicher Nutzen für den Tourismus und den Warenmarkt sowie innenund außenpolitische Ziele) initiiert und notwendig mit der Neuformulierung bzw. Anpassung der strukturinternen Interessen und Strategien verbunden ist.18 Dieser Aspekt findet u.a. bei Gómez Schettini/Almirón/ González Bracco Belege. Sie fassen ihre Untersuchungen zum Verhältnis der Konvergenzkriterien und der strategischen Maßnahmen seitens der lokalen staatlichen Akteure zusammen, indem sie die Interessen und Strategien als einen Konfrontationsbereich und Prozess des Aushandelns von Wertsetzungen, Machtpositionen und zu legitimierenden Interessen kennzeichnen.19 In diesem Rahmen des Aushandelns korrespondiert das Konzept immaterielles Kulturerbe einer ideellen Motivation, mit den Interessen der dominanten Positionen zu brechen und die Anliegen und Befindlichkeiten des sogenannten Volkes einzubeziehen. Diese Art von Strategien zeigt auf, dass die Anerkennung des Titels immaterielles Kulturerbe einer Distinktionsstrategie entspricht. Durch die Vermittlung eines neuen symbolischen Kapitals des Immateriellen in Bezug auf (populäre) kulturelle Praktiken aus Positionen der symbolischen Macht heraus werden diese mit distinktiven Wertzuschreibungen bestimmt, um deren Interesse der Positionierung im globalen Diskurs, in der nationalen Politik sowie in wirtschaftlichen Interessen in der Praxis zu realisieren.20 Dem entgegensetzend

18 Mit Graham stützt sich diese Zweiteilung der ‚externen Interessen‘. Er differenziert in ‚The Economic Uses of Heritage‘, indem kulturelles Erbe in der Funktion als ‚Konsumlandschaften‘ steht; und in ‚The Cultural Uses of Heritage‘, indem es einen distinktiven und einen politischen Wert erhält. In diesen Differenzierungen steht erstere für eine Funktion als ‚Resource‘; zweitere für eine Funktion als ‚Knowledge‘. Vgl. in Graham: Heritage as Knowledge: Capital or Culture? S.1003–1017. 19 Gómez Schettini/Almirón/González Bracco schlussfolgern: „la patrimonialización mundial del tango llevada a cabo por el gobierno de la ciudad de Buenos Aires puede verse como un ejemplo de estas nuevas legitimaciones necesarias. [...] Las contradicciones que aparecen en los distintos ámbitos relevados (Buenos Aires vs. Montevideo, localización vs. deslocalización, identidad vs. turistificación, gobierno nacional vs. gobierno local) refuerzan la idea del patrimonio como un campo de disputa, en el cual los ejes de la sociedad cultura-como-identidad y cultura-como-recurso deben ser redefinidos permanentemente.“ Dies.: La cultura como recurso turístico de las ciudades, S.1028/1029; S.1042–1044. 20 Morel argumentiert: „En este sentido, al unificar y disolver diferencias y desigualdades hacia el interior de los territorios nacionales, el campo de acción del patrimonio

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bestätigt Lixinski in seinen Ausführungen zum Konventionstext aus juridischer Perspektive das Umsetzen der Konventionsziele, indem das Bewusstsein über den Wert kultureller Praktiken und die Stimulierung entsprechender Strategien ihrer Bewahrung erreicht wurde. Er stellt lediglich die akzeptierten Fehlstellen auf juristischer Ebene in Frage.21 Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen und Veränderung der kulturellen Praktiken Ein zweiter thematischer Aspekt umfasst die Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen. Sie werden insbesondere in den sozialen und offiziellen diskursiven Praktiken sichtbar, aber auch in den diskursiven Strategien der Akteure der Tangopraktiken. Vorausgesetzt wird die Annahme, dass mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe der Begriff des Immateriellen als ein neuer Wert Einführung in institutionelle Diskurse und in das öffentliche Bewusstsein erfährt. Es bleibt die Frage zu beantworten, welche Bedeutung der Wert des Immateriellen in Form kultureller Praktiken für die gesellschaftliche Entwicklung hat. Der Prozess der Ernennung des Tangos zum immateriellen Kulturerbe konnte als eine Veränderung der Strukturverhältnisse nachgewiesen werden. Diese Veränderung korrespondiert jedoch nicht einer strukturinternen Genese, sondern ist an den Einfluss des externen Akteurs der staatenübergreifende Organisation UNESCO und deren institutionellen Praktiken (Einsetzungsmechanismen, Klassifikationen und Machtdiskurse) gebunden. In Bezug auf Veränderungen auf ideeller bzw. diskursiver Ebene generiert die Formulierung der Antragstellung einen neuen Diskurs und damit verbunden neue diskursive Strategien. Zugleich funktioniert die Antragsformulierung als ein Anerkennungsakt des Konventionstexts. Um dem Funktionsmechanismus der legitimierenden Praktiken der Konvention IKE zu genügen, werden innerhalb des bisherigen Wissenskonzepts Neudefinitionen vorgenommen und Elemente bzw. Zusammenhänge in veränderter, an den neuen Diskurs angepasster Weise formuliert.

representaba un poderoso recurso ideológico para la reproducción de valores e intereses de las clases dominantes. [...] En este sentido, el patrimonio supone un campo de disputa a partir del cual se definen y redefinen representaciones y sentidos de identidad en torno a aquello que la cultura oficial destaca de valor público y excepcional para las generaciones futuras. Estas son instancias de mediación y negociación en las que diversos actores y grupos subalternos disputan reconocimiento y legitimidad.“ Morel: Las políticas del patrimonio, S.166/167. 21 Vgl. bei Lixinski: Selecting Heritage, S.99.

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Belege aus der Praxis erweitern den Textkorpus dahingehend sinnvoll: „En un momento dado vino una persona, un mexicano que está en estos temas y que está en la UNESCO. Entonces, por ejemplo, había cosas que yo había puesto que me parecían muy claras […] y nos decía que esto no lo van a entender, y va a ser difícil de traducir y van a preguntarse…“ (Entrevista a funcionario B 10/11/09).22 Es wird ausgeführt, dass nach Hinweisen in Bezug auf den Legitimierungsprozess und der Forderung nach spezifischen an den Konventionstext angelehnten Formulierungen der Antragstellung eine Anerkennung des Tangos als immaterielles Kulturerbe in einem zweiten Anlauf möglich war. Innerhalb der Strategie der Formulierung eines Antragstextes in einer adäquaten, d.h. an den Konventionskriterien angepassten Weise der Darstellung der kulturellen Praktik Tango, werden die vorgeschobenen und die latenten Interessen seitens der Antragsteller in diesen Diskurs integriert. Sie können an den Verschiebungen innerhalb der Antragstexte nachvollzogen werden. Im Zitat wird beschrieben, dass die lokale Regierung von Buenos Aires als staatlicher Akteur im Anerkennungsmechanismus von dieser diskursiven Strategie für die Umsetzung ihrer (latenten) Interessen profitiert: „Esto forma parte del cambio instituido por UNESCO y mencionado por los entrevistados, con respecto a los criterios de selección: si antes se buscaba proteger aquello que se interpretaba en peligro de extinción, ahora se busca la representación de una identidad particular; en este caso, la que liga al tango a los habitantes de las ciudades del Río de la Plata.“23 Im Rahmen dieses Umdeutungsprozesses mit dem Hintergrund (latenter) und externer Interessen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene wird in der Literatur der Moment der ‚construccion del tango como referente patrimonial y atractivo de la ciudad‘ (Konstruktion des Tangos als Kulturerbe-Referenz und als Attraktion der Stadt) benannt. Mit diesen Untersuchungsergebnissen werden die in der interpretativen Analytik erfassten Interessen und korrespondierenden Strategien seitens institutioneller und institutionalisierter Akteure belegt.24 So ist seit Ende der 1990er Jahre ein gesteigertes Interesse am ‚tango porteño‘ sowie Ansätze einer ‚revitalización‘ seitens politischer, aber auch wirtschaftlicher lokaler

22 In Bezug auf das zweite Konvergenzkriterium wird angeführt, dass die Antragsteller die ‚Identidad Rioplatense‘ begründen, indem sie den Tango an den konkreten und festgelegten Ort Rio de la Plata binden. Vgl. bei Gómez Schettini/Almirón/González Bracco: La cultura como recurso turístico de las ciudades, S.1040/1041. 23 Weiterführend zu Versuchen der Abgrenzung und Authentizitätsbelege gegen die Verbreitung des Tango bei Gómez Schettini/Almirón/González Bracco: La cultura como recurso turístico de las ciudades, S.1040–1043. 24 Ausführlich ebd., insbesondere S.1033–1035.

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Akteure zu beobachten. Als Umsetzung der staatlichen Direktiven initiierte die Stadtregierung von Buenos Aires öffentliche Manifestationen und Veranstaltungen. Motivation dafür war die Entwicklung, Promotion und Institutionalisierung des Tangos als ein einzigartiger und originärer kultureller Ausdruck der Stadt sowie die Identifizierung mit ‚nuestra Buenos Aires‘.25 In Folge dieser Aktivitäten seitens institutioneller Akteure entwickelte sich ein an den Tango gebundener prosperierender Wirtschaftszweig. Er deckt insbesondere die Bereiche Buch- und Musikträgerproduktion, Aufführungen und Konzerte, Tanzakademien und Tangounterricht, Kleidung und Schuhe ab. Er nimmt als einnahmenstarker Wirtschaftssektor an Bedeutung zu. Diese Entwicklung ist vor allem an den Tangotanz gebunden.26 Veränderungen der normativen Bestimmungen und des Verständnisses eines kulturellen Erbes Ein dritter thematischer Aspekt bezieht sich auf den Begriff des immateriellen Kulturerbes, insbesondere dessen Modifizierung durch die mit der Umsetzung der Konvention anerkannten kulturellen Praktiken. Die Stichhaltigkeit des Kon-

25 Ab diesem Moment erfährt der Tango einen von Morel benannten ‚giro patrimonial‘. Im Rahmen dieser als politisch gekennzeichneten Strategie benennt er die mit dem Anerkennungsprozess verbundenen Erlasse und Anerkennungsakte sowie die verbindlichen Direktiven zu ‚Maßnahmen der Promotion und Verbreitung des Tango‘. Dazu zählen die Begründung der Radiostation ‚radio FM‘ mit ausschließlichem Programm Tangomusik und dem ‚Orquesta Escuela Tango Emilio Balcarce‘; die Anerkennung den ‚Paseo del Tango‘ im Viertel barrio del Abasto; die Begründung des ‚Paseo Turístico-Cultural Subterráneo del Tango‘ auf der Schienentrasse der Linie H; das Museum ‚Casa Carlos Gardel‘ im Viertel barrio del Abasto; ein BandoneonMonument im ‚Paseo del Tango‘; Begründung des ‚Ballet de Tango de la ciudad‘; Autorisierung des ‚Teatro de la Ribera‘ im Viertel barrio de La Boca als ‚sala oficial del tango‘. Darüber hinaus werden seitens der Stadt öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte, Milongas, Konferenzen, Aufführungen und Tango-Festivale durchgeführt. Schließlich wurde das ‚Campeonato de Baile de Tango‘ zwischen den Milongas der Viertel der Stadt sowie die Weltmeisterschaften ‚Mundial de Tango‘ ausgerufen. Vgl. bei Morel: El giro patrimonial del tango, S.158–163. 26 Morel belegt diesen Aspekt mit der nachzuweisenden Tendenz zum kulturellen Tourismus. In diesem Zusammenhang generiert sich neben dem originären Milongatänzer ein neuer Akteur mit dem professionellen Tango-Show-Tänzer und seinem stilisierten und choreographierten Tango-Stil. Vgl. bei Morel: El giro patrimonial del tango, S.158–163; bzw. ders.: Las políticas del patrimonio, S.168/169.

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zepts des Immateriellen, ebenso wie des Konzepts Körperlichkeit, bestätigt beide Begriffe als relevante Kategorien für diese Diskussion. Als weitere zu berücksichtigende Aspekte erweisen sich die Aspekte Einbeziehung immaterieller Werte in den Kulturerbe-Diskurs; Einführung der inkorporierten bzw. körpergebundenen Wissensbestände in das Konzept immaterielles Kulturerbe und Neubewertung kultureller Praktiken. Grundsätzlich wurden für die politischen Akteure zu differenzierende Intentionen für die Teilhabe am ‚Funktionsmechanismus IKE‘ erkennbar. Sie agieren nach unterschiedenen Prämissen ihrer Bestimmungen eines kulturellen Erbes und der Interpretation des Anliegens der UNESCO-Konvention IKE. Nachweisbar durch Belege aus der politischen Praxis sind vier politisch-kulturelle Paradigmen der Bewahrung zu differenzieren.27 Ein erstes Paradigma gründet sich auf dem traditionellen Substantialismus. Es findet sich in der gegenwärtigen Diskussion um die Musealisierung kultureller Elemente wieder. Zugrunde liegt das Verständnis dafür, dass ein kulturelles Erbe aus Elementen besteht, die von jeglichen sozialen Zusammenhängen ihrer Produktion und Verwendung losgelöst sind. Historischen Gütern wird ein hoher impliziter Wert zuteil, deren Bewahrung unabhängig von ihrem gegenwärtigen Nutzen als notwendig erachtet wird. Diese Position wird unterstützt durch diverse soziale Akteure, insbesondere aus dem traditionellen-konservativen bzw. bildungsbürgerlichen Bereich des akademischen Felds und der politischen Institutionen, welche auf solchen symbolischen Gütern als Legitimierungselemente notwendig rekurrieren. Ein zweites Paradigma entsteht aus dem Moment der ökonomischen Bewertung eines sozialen Raums oder eines einzelnen Elements darin. Dieses merkantilistische Konzept einer Akkumulation der Güter eines Raums bestimmt die Entscheidungskriterien hinsichtlich der Notwendigkeit ihrer Bewahrung. Die hierfür anfallenden Ausgaben sollten ihren Gegenwert in Gewinnen im infrastrukturellen bzw. touristischen Bereich finden. Das führt dazu, dass Maßnahmen der Bewahrung, wie beispielsweise Restaurationsarbeiten, auf die Attraktivität oder die Nutzbarkeit der Güter ausgerichtet sind. Ein drittes Paradigma fokussiert den symbolischen Nutzen der betreffenden Güter und Elemente für die Akteure im Hinblick auf Identifizierungs- und Distinktionsstrategien, sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene. Die politischen Akteure sehen sich in der Aufgabe, symbolische Güter als einen

27 Die Differenzierung und Benennungen der einzelnen Paradigmen erfolgt in Anlehnung an die Auseinandersetzung mit diesem Thema bei Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, S.16–33, insbesondere S.22–24.

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unhinterfragten Wert zu bewahren, ihren distinktiven Wert anzuerkennen und zu vermitteln. Deutlich wird dabei der Bezug auf das in der Debatte um Erinnerungskulturen benannte Konzept der Monumentalisierung. Das vierte Paradigma beruft sich auf ein partizipatorisches Konzept, indem die Bewahrung eines kulturellen Erbes im Verhältnis zu den Bedürfnissen der sozialen Gemeinschaften steht, sowohl auf lokaler wie auch auf translateraler Ebene. Die zuvor genannten Prämissen des intrinsischen, des merkantilistischen und symbolischen Werts sind dieser Prämisse untergeordnet. Zu schützende Güter schließen relevante Elemente des Alltagslebens ein. Dieses Argument der sozialen Partizipation ist die Schlüsselkategorie, um die Gefahr der oben benannten Musealisierung oder des Elitecharakters geschützter Güter zu vermeiden. Darüber hinaus sollte der Bewahrungsprozess aus Entscheidungskriterien und umzusetzenden Maßnahmen an einen demokratischen Prozess der Meinungsbildung und Diskussion gebunden sein.28 In diesem Zusammenhang sei auf eine im juridischen Bereich abgefasste Arbeit verwiesen, die ein fünftes Paradigma fundamentieren kann. Darin wird für einen relevanten Ansatz der Bewertung kultureller Praktiken in ihrer Funktion innerhalb des Reproduktionsmechanismus sozialer Strukturen mit der These ‚Heritage as Knowledge‘ argumentiert. In diesem stark pragmatischen Ansatz stellt die Differenzierung in ökonomischen bzw. ressourcenfokussierten und kulturellen bzw. strategisch-politischen Nutzen das Grundparadigma der ideellen, konzeptionellen und juridischen Bestimmungen dar.29

28 Rückgreifend auf Bourdieus Konzepte sollte dieses Partizipationsprinzip selbstverständlich sein, denn wird hierin eben dieser Gegensatz von Welt/Gesellschaft und Mensch/Akteur aufgehoben. Mensch/Akteur ist eines der konstituierenden Elemente von Welt/Gesellschaft, die in gleicher Weise das Element Mensch/Akteur in seiner Konstitution erst ermöglichen. Grundsätzlich findet sich diese Argumentationsweise in diesem Aspekt der Kritik wieder und sei die Leitlinie, die sich aus Partizipationsprinzip und immateriellen Werten ableiten lässt. 29 In Grahams pragmatischen These ‚Kulturerbe als ein Wissensbestand‘ finden sich die benannten Aspekte aufgegriffen. Graham bestimmt das Konzept Kulturerbe als eine soziale Konstruktion, welche innerhalb kultureller und ökonomischer Praktiken erdacht, definiert und vermittelt wird. Die impliziten Wissensbestände konstituieren sowohl kulturelles als auch ökonomisches Kapital. Graham weist den Ansatzes Bourdieus dahin gehend zurück, dass mit seinen Begriffen in erster Linie aus historischen Indikationen und symbolischen Machtverhältnissen heraus die Definition eines Kulturerbes fundamentiert sei. Er hingegen sieht die Bestimmung eines Kulturerbes unmittelbar an die Notwendigkeiten gegenwärtiger Praxis gebunden. Allerdings redu-

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Für das Konzept immaterielles Kulturerbe kann das vierte Paradigma des partizipatorischen Prinzips als das kommunizierte ideelle Grundgerüst den zu vermittelnden öffentlichen Stellungnahmen zugeordnet werden. Das wird deutlich im Prozess der Etablierung des Konzepts in Abgrenzung zum ersten Paradigma des traditionellen Substantialismus mit dem Verständnis der intrinsischen historischen Werte, wie sie in den ersten Ansätzen zum Verständnis eines kulturellen Erbes noch zu finden sind. Die erfassten Aspekte der externen und latenten Interessen in Bezug auf das immaterielle Kulturerbe wie dessen primär ökonomischen und politischen, aber auch distinktiv symbolischen Nutzens sind im zweiten und dritten Paradigma des merkantilistischen Konzepts und des monumentalistischen Konzepts wieder zu finden. Die kritische Besprechung des Konventionstextes kennzeichnet im Hinblick auf seine juristische Fundamentierung den Partizipationsaspekt als ein Begriff lediglich schwacher Funktionsmechanismen, die Garantie der Souveränität staatlicher Akteure hingegen als berücksichtigt. Das impliziert für Lixinski die Option, dass politischen Akteuren mit der UNESCO-Konvention IKE ein juristisches Instrument gegeben ist, sich die betreffenden kulturellen Minderheiten handhabbar zu machen und in den Reproduktionsprozess offizieller Stellungnahmen einzubinden. Wobei er ebenso konstatiert, dass diese Kritik der Mechanismen innerhalb des kritischen UNESCO-Diskurses bereits Berücksichtigung findet. Eine zweite Option besteht darin, dass kulturelle Minderheiten mit zunehmender Revision der Partizipationsmechanismen ein solches juristisches Instrument nutzen, um einen angestrebten Autonomiestatus gegenüber der staatlichen Macht und die Anerkennung eigener Interessen durchzusetzen.30 Er argumentiert, dass mit dem Partizipationsmechanismus die Verantwortung für das Ausagieren der Konventionsvorgaben letztendlich bei den individuellen Akteuren liegen müsste. (Entsprechen die Konventionskriterien juridischen Normen, so liegt die Verantwortung bei den die entsprechenden Positionen besetzenden natürlichen Personen.) Letztendlich aber entscheiden diese in Funktion staatlicher Akteure über die Nominierung und somit über die Wertstellung betreffender kultureller Praktiken und zugehörigen Gemeinschaften. Auseinandersetzungen bzw. die Entscheidun-

ziert er die Funktion und Bedeutung eines Kulturerbes auf eine Repräsentation dieser gegenwärtigen, in der und durch die Praxis eingeforderten Werte. Vgl. in Graham: Heritage as Knowledge: Capital or Culture?, S.1003–1017. 30 Lixinski: Selecting Heritage, S.81–100; insbesondere S.81/82. Lixinski diskutiert aus einer juridisch-kritischen Perspektive die UNESCO-Konvention IKE. Zu den benannten Ansatzpunkten gehört in Bezug auf Partizipation das Kriterium für den richtigen bzw. qualifizierten Vertreter der betreffenden Gemeinschaft. Ebd., S.90.

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gen über die Benennung eines kulturellen Erbes stehen für Lixinski in der Konsequenz für Strategien der Minderheitenpolitik und Kulturpolitik.31 Schlussfolgerungen für die institutionelle Perspektive: Strategien der Bewahrung (‚politics of preservation‘) Mit diesen Differenzierungen konnte aus der Perspektive der institutionellen Praktiken heraus eine Argumentationsbasis formuliert werden. Im Hinblick auf zu ziehende Schlussfolgerungen wird die formulierte Annahme, dass die Veränderungen, die mit der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe verbunden sind, ihrer eigentlichen Intention der Bewahrung und Vermittlung kultureller Praktiken entgegenstehen, einbezogen. Soll das Konzept immaterielles Kulturerbe in der Praxis anerkannt und im Sinne der impliziten Werte und Intentionen umgesetzt werden, sind die korrespondierenden politischen Strategien entsprechend so zu gestalten, dass nicht allein Maßnahmen der Bewahrung (Archivaufbau, Restaurierungsarbeiten, Bildungsprogramm, etc.) ergriffen werden, sondern das Bewusstsein dieser Werte muss bei den Agierenden naturalisiert sowie entsprechende Wissensbestände zugänglich sein.32 Anlehnend an die Argumentationen Douglas zum ‚Denken der Institutionen‘ kann in Anwendung auf die Ergebnisse der interpretativen Analytik die These formuliert werden, dass Konventionen als ein Rechtsmittel nur dann Bestand haben können, wenn sie in der Logik der Vernunft der betreffenden Akteure bzw. Gruppen gründen.33

31 Lixinski: Selecting Heritage, S.97–100. Er argumentiert: „Struggles over heritage often showcase deeper underlying political issues, especially when it comes to the recognition of cultural minorities, which may or may not have political agendas. In this sense, it is important that communities have a say in every initiative that involves their heritage, so that the necessary control can be asserted by the community. The much-dreaded commodification of heritage can then become a tool in favour of the groups involved, as it can also mean these groups’ empowerment.“ Ebd., S.98. 32 Vgl. dazu die Ausführungen bei Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, S.16–33. In der Konsequenz ihrer kritischen Untersuchung führen Jiménez Ramírez/Sainz Navarro als einen unbedingt zu berücksichtigten Aspekt in der Konzeption einer Arbeit der Bewahrung kultureller Güter an, dass diejenigen Akteure, welche kulturelle Güter in der Alltagswelt als Konsumenten oder Produzenten nutzen, zumeist sich dessen sozio-politischer Bedingtheit und soziokultureller Funktion nicht bewusst sind. Vgl. bei Jiménez Ramírez/Sainz Navarro: ¿Quién hace al patrimonio? 33 Douglas: Wie Institutionen denken, S.96. In ihren Arbeiten über Institutionen und ihren Wirkmechanismen argumentiert Douglas, dass Institutionen auf Basis eines ‚eige-

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Die kontinuierliche kritische Auseinandersetzung mit den Konventionsinhalten und den Strategien zu deren Umsetzung (Funktionsmechanismus), ebenso wie das Einbeziehen der Ausagierenden als autorisierte Vertreter (Partizipationsprinzip) sei als die notwendige Bedingung für die Umsetzung des Konventionsanliegens der Bewahrung kultureller Praktiken in der Praxis postuliert. Die Verantwortung liegt bei den über symbolische Macht verfügenden Akteuren der institutionellen und politischen Instanzen. Sie umfasst den Bereich der Strategien, ebenso wie die Definitions- und Vermittlungsprozesse. 34 Die Bedeutung dieser Vermittlungsprozesse im Rahmen des Partizipationsprozesses wird in der im Vorfeld der Ratifizierung der Konvention seitens der deutschen Regierung erstellten Machbarkeitsstudie ausgeführt. Darin wird die Notwendigkeit begründet, benannten kritischen Aspekten, sowohl Missverständnisse als auch berechtigte Bedenken, durch Kommunikationsstrategien und geeignete Maßnahmen, wie beispielsweise Leitprojekte entgegenzuwirken, um in der Öffentlichkeit ein positives Bild des Übereinkommens zu schaffen.35

nen Verstands‘ im Sinne einer impliziten Logik agieren. Damit begründen sich die Strategien der Reproduktion, der Exklusion und Inklusion, der Mechanismen von Erinnerung und Vergessen sowie der Klassifizierungskategorien. Ebd. 34 Stolleis argumentiert, dass jegliche Institutionen über ein Repertoire an Lernmethoden und Medien der Wissensvermittlung und entsprechend des Reproduktionsprozesses verfügen. Diese bedingen die Form und Entwicklung der Praktiken und Strategien betreffender Institutionen sowie bestimmen die Art und Weise des Zusammenfügens der Beziehungssysteme. Vgl. Fried/Stolleis: Wissenskulturen, S.73. 35 Weiterführend wird in der Machbarkeitsstudie in Bezug auf den Partizipationsprozess ausgeführt: „Die UNESCO hebt hervor: ‚Bewahrung‘ bedeutet die Lebensfähigkeit des immateriellen Kulturerbes sicherzustellen, d.h. seine fortwährende Neuerschaffung und Weitergabe zu gewährleisten […] Wie alles Lebende, folgt es einem Lebenszyklus, was bedeutet, dass manche Elemente verschwinden, nachdem neue Ausdrucksformen hervorgebracht worden sind. Es kann auch vorkommen, dass bestimmte Formen des immateriellen Kulturerbes von einer Gemeinschaft als nicht mehr relevant oder sinnvoll betrachtet werden. Das UNESCO-Übereinkommen will nur solches immaterielle Kulturerbe bewahren, das von Gemeinschaften auch als ihr eigenes Kulturerbe anerkannt wird und ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermittelt. Jegliche Bewahrungsmaßnahmen müssen daher mit dem Einverständnis und unter Beteiligung der betreffenden Gemeinschaft selbst entwickelt und durchgeführt werden.“ Albert: Machbarkeitsstudie – Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes, S.5.

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Der Wert des Immateriellen und der kulturellen Praktiken Aus der Perspektive der kulturellen Praktiken heraus werden die Veränderungen des Tangos auf Ebene der Praxis, auf institutioneller Ebene und auf symbolischer Ebene (gesellschaftlicher Wert der Praktiken) differenziert. Die interpretative Analytik konnte aufzeigen, dass mit dem Moment des Anerkennungsprozesses Veränderungen der Tangopraktiken in Form von Adaptationen stattfinden. Das betrifft insbesondere die diskursiven Praktiken und die durch externe normative und institutionelle Akteure bestimmte Maßnahmenumsetzung. Diese Veränderungen korrespondieren spezifischen, jedoch nicht dem ‚Wissenskonzept Tangologie‘ entsprechenden Interessen. Den Akteuren gelingt eine Akkumulation ihrer symbolischen Macht. Das geschieht aufgrund ihres strategischen Agierens und den entsprechenden Veränderungen des symbolischen Kapitals sowie der korrespondierenden Dispositionen und Machtrelationen. Veränderungen der konkreten Praktikenformen des Tangos konnten auf Basis der durchgeführten Analyse (noch) nicht benannt werden. Schlussfolgernd kann formuliert werden, dass der Anerkennungsmechanismus für Institutionalisierung und Offizialisierung steht. Das ist verbunden mit einer juridischen und diskursiven Bestimmung der signifikanten Elemente des Tangos. Es impliziert die Normierung einer bisher (relativ) unkontrollierten und autonomen kulturellen Praktik. Morel benennt in seiner Argumentation mit der These eines ‚giro patrimonial del tango‘ konkrete Momente innerhalb der Praktikenformen des Tangos, die neu generiert bzw. nunmehr in einer institutionalisierten und offiziellen Form vorzufinden sind. Eine notwendige Bindung an spezifische externe Interessen belegt er am Beispiel. So beschreibt er die (intendierten) Veränderungen der populären Veranstaltungen und Festlichkeiten zu offiziellen Veranstaltungen sowie den Event-Charakter der Initiativen der Promotion des Tangos. Er stellt den Bezug zu den latenten Interessen her und zeigt beispielsweise auf, dass Veranstaltungsinhalte, deren Ausrichtungsorte und Zeiten zu Gunsten einer Promotion der Stadt Buenos Aires und der ‚autenticidad porteña‘ in Form organisierter öffentlicher Veranstaltungen verändert wurden.36 Die konstatierten Veränderungen betreffen nahezu alle relevanten Positionen (veränderte objektive Struktur), deren Dispositionen (verändertes symbolisches Kapital) sowie den daraus resultierenden Machtverhältnissen mit den korrespondierenden Strategien und Interessen (symbolische Macht). Aufgrund dieser Ver-

36 Morel vollzieht diesen Prozess anhand detaillierter Eckdaten der Veränderungen nach. Vgl. dafür Morel: El giro patrimonial del tango, S.160.

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schiebungen und (konzeptioneller) Neubestimmungen strukturzugehöriger Elemente unterliegen ebenso die ausagierten, inkorporierten und (noch) nichtlegitimierten Wissensbestände einer neuen Zuordnung. Ableitend aus den veränderten Wissensbeständen wurde ein neuer, durch institutionelle Akteure bestimmter symbolischer Wert der kulturellen Praktiken erkennbar. Für den Tango betrifft das insbesondere die Tanzbewegungen als an das Körperliche, das Emotionale und an Klischeebilder gebundene Praktikenform. Kulturelle Praktiken sind als das Ausagieren der den Strukturen impliziten und dem Agierenden inkorporierten nicht bewussten bzw. körpergebundenen, nicht rationalen bzw. mentalen Wissensbeständen bestimmt. Diese inkorporierten Wissensbestände bilden ein kulturelles Kapital, das nunmehr als eine relevante Funktion im Reproduktionsprozess seitens autorisierter institutioneller Akteure (insbesondere der Bildungs- und Kulturpolitik) sowie innerhalb der korrespondierenden legitimierenden, zuschreibenden und vermittelnden Bestimmungen definiert ist.37 Damit kann argumentiert werden, dass kulturelle Praktiken den Raum des Möglichen um die nicht-rationale Sphäre des Wissens und des Agierens erweitern. Die aufgezeigten Veränderungen einer (relativ) autonomen kulturellen Praktik aufgrund der Anerkennung eines offizialisierten Status als Kulturerbe sowie die verbundenen Veränderungen des symbolischen Kapitals und der symbolischen Macht, der impliziten Wissensbestände und der Strategien stehen zugleich für eine Veränderung des Raums des Möglichen. Dem neuen spezifischen Kapital immaterielles Kulturerbe als ein symbolisches Kapital korrespondieren neue Strategien der Distinktion und adäquaten Ausagierens. Die mit der Intention der Bewahrung durch Strategien der Offizialisierung und Kanonisierung umgesetzten Bestimmungen der Konvention IKE resultieren in einem Archivierungs- und Formalisierungsprozess. Dieser verändert die kulturellen Praktiken in einer Weise, die nicht aus einer strukturinternen Option heraus generiert wird. Die (relative) Autonomie der kulturellen Praktik wird zugunsten einer neu bestimmten illusio und in Ausrichtung auf eine neu bestimmte symbolische Macht aufgegeben. Der Raum des Möglichen verändert sich abhängig zum Grad der Verantwortung, den die ausagierenden Akteure wahrnehmen. Ein solcher veränderter Raum des Möglichen impliziert ein verändertes Ver-

37 Am Beispiel sportlicher, bzw. im weiteren Sinne körperlicher Aktivitäten, zeigt Bennett das inkorporierte kulturelle Kapital als ein Reproduktionsfaktor und bereits legitimierter Wert in der Funktion eines ‚bridging social capital‘ auf. Er betont den distinktiven Charakter eines solchen Kapitals. Vgl. Bennett: Cultural capital and the body, in Bennett, u.a.: Culture. Class. Distinction, S.156/157 und S.168/169.

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ständnis der Funktion von Kultur: es inkorporiert den Wert des Immateriellen und stellt veränderte Praktiken der Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungsoptionen zur Disposition. Mit der institutionellen Anerkennung der kulturellen Praktiken als ein symbolischer Wert mit dem symbolischen Kapital des Immateriellen wird ihre konstitutive Funktion innerhalb des Reproduktionsprozesses legitimiert. Sie gelten nunmehr für das allgemeine, insbesondere institutionelle Interesse als relevant und sind im öffentlichen Bewusstsein präsent. Die spezifischen Aspekte inkorporierter Wissensbestände werden mit deren Körpergebundenheit ebenso wie deren Nicht-Faktizität bestimmt. Sie erhalten einen legitimierten Wert innerhalb des offiziellen Diskurses. Zu den konstitutiven Funktionen kultureller Praktiken zählen der identifikatorische Moment, die Generierung von Bewertungs- und Handlungskategorien, Habitusformen, Kommunikations- und Ausdrucksweisen sowie die Vermittlung von Wissensbeständen.38 Mit der Anerkennung eines Werts des Immateriellen erweitert sich der Raum des Möglichen um Differenzierungen der legitimierten Wahrnehmungs-, Wertungs- und Handlungsoptionen. Sie implizieren neu legitimierte Werte und Bestimmungen. Für die kulturelle Praktik Tango sind dabei die multisensuellen Kennzeichnungen innerhalb des offiziellen Diskurses maßgebend: der signifikante Takt (als der leibliche Rhythmus der Porteños), der bestimmte Geruch (‚se respira‘: mit der Atemluft eingesogen), eine signifikante Form (‚tiene forma de mujer‘), eine spezifische Motorik (als die Inkorporierung eines signifikanten Ausagierens), das ‚Timbre der Seele‘ (als die Befindlichkeiten des Porteño, ausgedrückt in den Klängen des Bandoneon).39 Emotionalität bzw. die Befindlichkeiten der Akteure, die Kategorien Räumlichkeit40 , Körperlichkeit, Zeitlichkeit und

38 Elsner veranschaulicht: „Dennoch erfüllt der Tango in der chaotischen Welt der Vorstadt eine wichtige Funktion von Kultur: nämlich die der Koordination. Dazu gehört nicht nur die Ausbildung eines gemeinsamen körperbezogenen Zeichensystems zur Musik, sondern auch die Entstehung eines gemeinsamen Lebenshorizonts für die Männer und Frauen der Vorstadt.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.116. 39 Vgl. insbesondere bei Elsner: Das vier-beinige Tier, S.189. 40 In Bezug auf ‚Räumlichkeit‘ und ihre Funktion führt Elsner aus: „Die visuelle und akustische Wahrnehmung eines Raums wird durch die den Zuhörer umgebende und (evtl.) erfüllende Anwesenheit der Musik verwandelt. […] Musik formt daher erst die Struktur des Räumlichen, in der die Tanzbewegung entstehen kann, sie bildet den leiblichen Raum des Subjekts um.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.213 und S.214.

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Sinneswahrnehmungen41. Sie finden in einen offiziellen, legitimierenden Diskurs als Qualitäten kultureller Elemente zurück. Es bleibt aus deutscher Perspektive dringend notwendig, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, was ein kulturelles Erbe ist, und insbesondere welche die immateriellen Werte der Gesellschaft sind.42

KULTURERBE, DER WERT BEWEGUNG UND VERANTWORTUNG IN DER PRAXIS Vorliegendes Forschungsanliegen möchte als Konsequenz aus der Analysearbeit eine Begründung dafür finden, in welcher Weise kulturelle Praktiken als körpergebundene und durch Bewegung ausagierte, zumeist nichtreflexive Praktiken für die gesellschaftliche Entwicklung und für die wissenschaftliche Forschung Bedeutung haben. Der Moment der Benennung kultureller Praktiken als inkorporierte Wissensbestände und deren Legitimierung als immaterielles Kapital seitens institutioneller und über symbolische Macht verfügende Akteure stellt für eine solche Argumentation relevante Ansatzpunkte bereit. Kulturelle Praktiken umfassen weite Themenbereiche und sind keinem eigenen Forschungszweig zuzuordnen, der diese Aspekte definiert. Um die bereits ausgearbeiteten bourdieuschen Begriffe themenspezifisch zu erweitern, wird auf Erkenntnisse der Tanz- und Bewegungswissenschaften sowie der Körper- und Kultursoziologie zurückgegriffen. Mit diesem Vorgehen können theoretische

41 Insbesondere meint das Sinneswahrnehmungen des Akkustischen: „Der Hörraum, in dem die Wahrnehmung eines Tones physische Reaktion auslöst, besitzt keine Gegenständlichkeit. […] Umso mehr ist der Hörraum von gefühlsmäßigen Färbungen und Assoziationen geprägt, die im kollektiven Unterbewusstsein und leiblichen Athmosphären eingebettet sind.“ Elsner: Das vier-beinige Tier, S.186. 42 Vgl. dazu die Stellungnahme bei Oliver Scheytt/Kulturpolitische Gesellschaft e.V., der diese Notwendigkeit mit der Frage nach dem Tango des Ruhrpots formuliert; in Merkel/Steinkamp (Hg): Kulturelle Vielfalt, S.209–213. Im Hinblick auf die institutionalisierte Ebene sei verwiesen auf die Dokumente der DUK: Memorandum. Immaterielles Kulturerbe in der Arbeit der UNESCO; DUK: Antrag. Ratifizierung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe vorantreiben; Deutscher Bundestag: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien; sowie Albert: Machbarkeitsstudie – Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes in Deutschland.

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Ansatzpunkte fokussiert werden, um die aus der interpretativen Analytik formulierten Argumente auf eine theoretische Basis zurückzuführen. Die Erweiterungen wurden auf Basis relevanter Aspekte der Körpersoziologie sowie der Bewegungs- bzw. Tanzwissenschaften im deutschsprachigen Raum, mit Rückgriff auf den angloamerikanischen Raum vorgenommen (Konzepte von Körperpraktiken und der spezifischen Körperpraktik Bewegung). Desweiteren wurden konzeptuelle Entwicklungen in der Kultur- und Bewegungssoziologie (kulturelle Praktiken und deren Bewegungswissen) sowie der Erinnerungskultur (kollektives und kulturelles Erbe) berücksichtigt. Das Nachvollziehen der Diskurse konnte verdeutlichen, dass das Paradigma des Körperlichen (Körpergebundenheit kultureller Praktiken) und das Paradigma des Performativen (Bewegungs-, Raum- und Zeitgebundenheit der kulturellen Praktiken) in der wissenschaftlichen Diskussion unumgänglich und etabliert sind. Die relevanten Begriffe, Aspekte und Kategorien der Erweiterungen erweisen sich mit dem Rückbezug auf die bourdieuschen Konzepte und auf die Analysesituation als signifikante Begriffe für die Interpretation: Der bourdieusche theoretische Begriff der Praktiken begründet in der Herleitung das ‚spezifische Kapital des Körperlichen‘ mit den Kategorien Räumlichkeit und Zeitlichkeit sowie Körperlichkeit und Inkorporierung, in Erweiterung um die relevanten Aspekte der Körper- und Bewegungskonzepte. Das bourdieusche Konzept der Inkorporierung der Geschichte begründet in der Herleitung das ‚spezifische Kapital des Immateriellen‘ mit den Kategorien des kulturell Unbewußten sowie von hexis und Habitus, in Erweiterung um die Aspekte der Inkorporierungsprozesse und Subjektkonstellationen. Die bourdieusche Kategorie der Wissenskonzepte begründet in der Herleitung die Konzepte ‚Körperwissen‘ und ‚Wissensbestände des Immateriellen‘ mit den Kategorien des körperbasierten Erfahrens und Erkennens sowie des inkorporierten Wissens, in Erweiterung um die Aspekte der Arbeiten zu Körperwissen, Körperarchiven, Reproduktionsprozessen, Erinnerung und Gedächtnis; sowie mit den Kategorien Raum des Möglichen, Reproduktion des Felds, Bewahren und Vergessen den Begriff kulturelles Erbe. Die bourdieusche Kategorie der Beziehung zur Definitionsmacht begründet in der Herleitung den Begriff der ‚Legitimierungsmacht‘ mit den Kategorien Formalisierung als institutionalisierte Zensur, Offizialisierung in Diskursen und Manifestationen, Interessen, Vertretungsanspruch und Autorität; erweitert um die relevanten Aspekte der Diskurse um Macht und Politik, Nationen, Diskurse.

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Das Kulturerbe-Konzept Das Konzept des immateriellen Kulturerbes wird als Konsequenz aus den formulierten Argumenten und Schlussfolgerungen sowie in Rückführung auf die herausgestellten Begriffe der Interpretation nach Bourdieu und in Erweiterung um Aspekte der themenbezogenen Literatur diskutiert werden.43 Dem Kulturerbe-Konzept sind den Analyseergebnissen entsprechend der ‚Funktionsmechanismus IKE‘ und die korrespondierende Kulturerbe-Praxis zuzuordnen. Die fundamentierenden Bestimmungen dieser Praxis entsprechen den bestimmten Wissenskonzepten. Signifikant für die Bestimmung der KulturerbePraxis sind das zunehmende Verständnis von Kultur als ein weiter Kulturbegriff, in Verbindung mit den Konzepten der kulturellen Vielfalt (bzw. Vielfalt kultureller Ausdrucksformen) und des interkulturellen Dialogs.44 Dem ‚Funktionsmechanismus IKE‘ korrespondieren darüber hinaus spezifische Strategien der Macht und ideelle Intentionen bzw. Interessen, wie sie in der interpretativen Analytik bestimmt werden konnten. Mit den offiziellen Stellungnahmen, Doku-

43 Bei Tubadji findet diese Forderung Unterstützung, wenn er argumentiert, dass die Berücksichtigung der immateriellen Komponente, ebenso wie die Kennzeichnungen der Prozesshaftigkeit und inkorporierten Wissensbestände kultureller Elemente notwendig ein neu zu bestimmendes Konzept kulturelles Erbe verlangt. Vgl. bei Tubadji in Kagan/Kirchberg: Sustainability, S.264/265. 44 Vgl. ausführlich den Textlaut der Grundfragen und Grundthesen der UNESCOKonventionen, insbesondere zu den Aspekten Genese, Positionen, Ziele sowie Begriffsbestimmungen, die Konventionstexte der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbe und der UNESCO-Konvention zur Bewahrung der kulturellen Vielfalt. Darüber hinaus sind sinnvolle Erweiterungen und Kommentationen im UNESCO-Weltbericht zu finden: UNESCO-Weltbericht Nr. 2: Investing in cultural diversity and intercultural dialogue, in Kulturelle Vielfalt und interkulturellen Dialog investieren. Deutsche Kurzfassung; sowie in den UNESCO-Broschüren. Dokumente und Veröffentlichungen sind leicht zugänglich über die offiziellen Websites der DUK www.unesco.de und der UNESCO www.unesco.org. Ansätze der Diskussion und kritischen Kommentation finden sich im Memorandum der DUK von 2007: Immaterielles Kulturerbe in der Arbeit der UNESCO: neue Aufgaben, neue Herausforderungen (Ergebnisse der Fachberatungen 2004–2006 der Deutschen UNESCOKommission) formuliert; sowie im fundamentiert und eng am Text der UNESCOKonvention IKE arbeitenden und kommentierenden Text von Blake: On Defining the Cultural Heritage, S. 61–85.

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menten und legitimierten Praktiken vermitteln und realisieren sich die definierten Grundwerte und Begriffsverständnisse. Seitens der erweiternden Literatur bzw. externer Stellungnahmen werden kritische Aspekte der Diskussion am Welterbe-Konzept formuliert. Diese beziehen sich in erster Linie auf dessen Funktion als strukturexterner Einfluss mit den entsprechenden Interessen gegenüber den kulturellen Praktiken. Ein Kritikpunkt, der mit vorliegender Analysearbeit belegt werden konnte. Daran schließt sich zumeist unmittelbar eine allgemeine Hegemonie-Kritik in Bezug auf die institutionellen Akteure auf Positionen der symbolischen Macht gegenüber den antragstellenden Staaten an. Dabei wird vor allem die Vorherrschaft des Okzidents angemahnt. Insbesondere sind es die Bestimmung, Vermittlung und Umsetzung der der UNESCO-Konventionen zugrundeliegenden doxa von ‚Einheit in Vielfalt‘, ‚Weltgesellschaft‘, bzw. ‚Weltbürger‘, die als eine Strategie und funktionelle Nutzung der Kultur als Ideologie kritisiert wird: das westliche Dogma soll durch die Realisierung des Kulturerbe-Konzepts in einer globalisierten Welt unter der symbolischen Herrschaft westlicher Staaten durchgesetzt werden.45 Ein weiterer starker Kritikpunkt ist das als Grundaxiom bestimmte statische Kulturmodell. Ausgangspunkt hierfür waren zunächst die Kritik an den Kriterien und prioritären Wertungen der Orte und Objekte sowie der Erhalt eines erfassten und definierten Status Quo betreffend der zu bewahrenden kulturellen Güter, wie sie mit dem Weltkulturerbe zunächst definiert wurden.46

45 Verwiesen sei auf Ansätze entsprechender Kritiken zur Definition von Kultur und zum Schutz kultureller Vielfalt sowie dem Erhalt und der Weiterentwicklung der bestehenden Kulturen u.a. auf Bernier: A UNESCO International Convention on Cultural Diversity, S.65–76. 46 Der problematische Moment liegt im Wandel der Kultur und Praktiken. Der Status Quo erfasst hingegen einen Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt und Entwicklungsstand eines kulturellen Elements. Die kritische Auseinandersetzung richtet sich auf den Gegensatz des Konservierens einer Tradition oder Bewahrung eines kulturellen Guts bzw. einer kulturellen Praktik. Vgl. u.a. Tubadji, in Kagan/Kirchberg: Sustainability, S.264/265. In seinem 1952 für die UNESCO verfassten Essay argumentierte Lévi-Strauss, dass sich der Schutz kultureller Vielfalt nicht auf die Erhaltung des Status quo beschränken sollte: „Das Faktum der Verschiedenheit ist zu erhalten, nicht der historische Inhalt, den jede Epoche ihm gegeben hat und den keine über sich selbst hinaus verlängern kann.“ Aus dieser Sicht bedeutet Schutz kultureller Vielfalt, den Fortbestand der Vielfalt an sich zu sichern, nicht jedoch einen bestimmten Zustand von Vielfalt. Vgl. bei DUK: UNESCO-Weltbericht. In kulturelle Vielfalt und interkulturellen Dialog investieren, S.2.

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Beide Aspekte, Hegemoniekritik und statisches Kulturmodell, sind als die initiierenden kritischen Positionen zu bewerten, die einen dynamischen Kulturerbe-Begriff anmahnen. Dieser sollte in jedem Fall als Maßgabe der Indikationen für die Umsetzung der Konventionsinhalte berücksichtigen, dass kulturelle Güter, insbesondere kulturelle Praktiken, konstituierende Funktion für die und zugleich konstituierte Position in der Praxis implizieren. Eine davon abgekoppelte formal bestimmte Bewahrungspolitik läuft Gefahr, für kulturelle Güter und Praktiken eine künstliche Authentizität zu bestimmen, die letztendlich deren Aufführungscharakter bzw. die Musealisierung zur Folge hat. Die Argumentationen einer gegenwärtigen kritischen Diskussion des Welterbe-Konzepts weisen die beiden Wertungspole der positiv urteilenden und der negativ urteilenden Aspekte in Bezug auf das Konzept ‚immaterielles Kulturerbe‘ und den ‚Funktionsmechanismus IKE‘ auf. Die positiv bewertende Perspektive benennt die Legitimierung von Sprecherpositionen für Akteure mit bisher nur geringem symbolischen Wert bestimmter kultureller Praktiken; den erfassten Sinneswandel im politischen Diskurs in Form veränderter Strategien und Werte; eine Veränderung der offiziellen Definitionen und Bestimmungen für anzuerkennende Wissensbestände und die Notwendigkeit ihres Bewussthabens; realpolitische Effekte transnationaler bzw. transkultureller Kooperationen. Die negativ bewertende Perspektive benennt die mit dem ‚Funktionsmechanismus IKE‘ notwendig verbundenen Formalitäten und Definitionszwänge in bisher informellen Bereichen der Praxis; die unscharfen Kriterien innerhalb des Anerkennungsprozesses und eine Beliebigkeit der Entscheidungen; die ideologische hegemoniale Strategie der Vermittlung eines okzidentalen Wertekanons unter dem Schlagwort der UNESCOisierung; den ‚zwanghaften Erhalt ausgedienter Dinge‘ mit dem Schlagwort der Musealisierung und den generierten Aufführungscharakter kultureller Praktiken. Es werden aus der interpretativen Analytik heraus und in Abstimmung mit Argumenten aus der erweiternden Literatur Aspekte für ein (neu zu bestimmendes) Begriffsverständnis kultureller Praktiken und kulturellen Erbes formuliert. Begriff des Immateriellen Besonderes Augenmerk wird mit dem Begriff des Immateriellen auf die Aspekte Differenzierung von Materialität bzw. Immaterialität und die nunmehr zu legitimierenden inkorporierten Wissensbestände gerichtet sein. Wulf formuliert in seiner Arbeit zur kulturellen Vielfalt den Ausgangspunkt der Kontroverse zum Begriff der materiellen Werte im Hinblick auf die Notwendigkeit der Neuwertung immaterieller Werte: „Während die Bedeutung der

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Denkmäler auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes für das kulturelle Selbstverständnis der Menschheit unstrittig ist, wird die Rolle der Praktiken immateriellen Kulturerbes kontrovers diskutiert. Da die allgemein geschätzten Denkmäler jedoch das Ergebnis immaterieller kultureller Praktiken sind, überrascht diese Diskussion besonders.“47 Inwiefern sind die Unterschiede dieses Begriffspaares ausreichend signifikant, um translaterale Abkommen und Vereinbarungen sowie politische Strategien neu zu bestimmen? Die Konsequenz dieser Kontroverse zu den Bestimmungen des Materiellen und des Immateriellen als Kennzeichnungen kultureller Güter und Praktiken, hinsichtlich ihrer Bewahrung als ein kulturelles Erbe der Menschheit kristallisiert sich darin heraus, dass kulturelle Elemente nicht isoliert erfasst und bewahrt werden können. Grundlegendes Argument dafür ist, dass kein Element nur als eine materielle oder immaterielle Komponente funktioniert. Dies wird anschaulich an Tanz- und Gesangspraktiken, die für ein körpergebundenes Agieren stehen, ebenso aber an materielle und räumliche Elemente wie Kleidung, Partituren, Instrumente, Räume, Plätze sowie an bestimmte Konstellationen räumlicher, zeitlicher und dinglicher Elemente gebunden sind. Ebenso sind Bauwerke und Monumente durch – implizite oder intendierte – Narrationen erst bedeutsam und fundamentieren ihren funktionellen bzw. symbolischen Wert in Wissensbeständen ihrer Konstruktion und Nutzung.48 Lixinski versteht diesen Zusammenhang als einen sozialen und kulturellen Prozess: „One important definitional issue in the 2003 Convention is the idea that ICH refers not to the cultural objects, but rather to the social and cultural

47 Wulf: Anthropologie der Kulturellen Vielfalt, S.65. 48 Wulf veranschaulicht diesen Zusammenhang am Beispiel anerkannter materieller Güter kulturellen Erbes: „Die ägyptischen Pyramiden, die Kulturlandschaft des Oberen Mittelrheintals oder das Opernhaus Sydney wären ohne Bräuche, Künste und Handwerk gar nicht möglich gewesen. Auch der Kölner Dom ist letzten Endes ein zu Stein gewordener Glaube. […] In diesem überlieferten Erbe befinden sich jedoch wichtige Ressourcen unserer Kultur – Kreativität und Erfindergeist.“ unesco heute online, www. uho_1_2013_interview_wulf.html. Die Differenzierung von kulturellen Gütern und Praktiken zu einem ökonomischen Gut bzw. seinem Warenwert liegt entsprechend in der Unvergleichbarkeit und Unersetzbarkeit. Der inkorporierte Wissensbestand korrespondiert einem dispositionellen Kapital, das aufgrund seines symbolischen Werts einem symbolischen Kapital entspricht. Dem gegenüber stehen die Elemente, die dem Ökonomisierungsprozess unterliegen. In ihrer Bindung an wirtschaftliche, touristische oder lokal-politische Interessen ähnelt ihr Ausagieren einer Imitation und konstituiert Güter als Produkte und Praktiken als Events.

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processes of which these objects are. Intangible cultural heritage can be defined […] as a concept which is dependent on tangible cultural heritage, it acts as the underlying culture to any given expression, encompassing the processes, skills, and beliefs leading to the creation of tangible works. In a way, it is the relationship of a people with its tangible cultural heritage.“ 49 Die Differenzierung von materiell zu immateriell als vorgeblich den Elementen implizite Kennzeichnungen ist erst in dem Moment geschehen, in dem es den Begriff des Kulturerbes im Rahmen einer kritischen Diskussion notwendig im Sinne einer Differenzierung und Erweiterung zu korrigieren galt. Aus der kritischen Perspektive heraus werden diese Begriffe als eine intendierte Definition mit der Funktion einer symbolischen Machtpraktik der Wertsetzung bewertet. Die weitreichende Zweiteilung der Benennung immaterieller Werte in materiell gebundene Elemente und in inkorporierte Wissensbestände zeigt auf, wie stark diese Bestimmungen an Interessen gebunden sind.50 Diese Differenzierung sollte für die Neubestimmung des Konzepts Kulturerbe revidiert werden, insofern der Begriff des Immateriellen nicht ohne eine materielle Komponente gedacht werden kann. Dem immateriellen Bereich zuzuordnende Elemente, beispielsweise des Rationalen, Ökonomischen oder des Emotionalen, sind demnach notwendig und ungeachtet ihres spezifischen Legitimationsvektors körper- oder objektgebunden, damit sie als funktionelle Elemente spezifischer Strukturverhältnisse in der Praxis ausagiert sein können. Letztes Argument findet sich in den fundamentierenden Arbeiten Assmanns zu Erinnerung und Gedächtnis wieder. Die verschiedenen von ihr dargestellten

49 Lixinski: Selecting Heritage: The Interplay of Art, Politics and Identity, S.83/84. In der lateinamerikanischen Forschungsliteratur finden sich diese Zusammenhänge ähnlich formuliert: „La reformulación del patrimonio en términos de capital cultural tiene la ventaja de no presentarlo como un conjunto de bienes estables neutros, con valores y sentidos fijos, sino como un proceso social que, como el otro capital, se acumula, se renueva, produce rendimientos que los diversos sectores se apropian en forma desigual.“ Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, S.18. 50 Die (In-)Wertsetzung als eine intendierte Narration und politische Funktion findet sich im lateinamerikanischen Forschungskontext ebenso formuliert: „La construcción del patrimonio es una operación dinámica, enraizada en el presente, a partir de la cual se reconstruye, selecciona e interpreta el pasado. No se trata del homenaje a un pasado inmóvil, sino de la invención a posteriori de la continuidad social. [...] Se abre así una dimensión política del patrimonio, un espacio de negociación por el reconocimiento de los bienes culturales y de los derechos ciudadanos.“ Martin: Política cultural y patrimonio inmaterial en el carnaval de Buenos Aires, S.297/298.

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Gedächtnisformen und Erinnerungsweisen sind in der Praxis (im Assmannschen Begriffen das Alltagsgeschehen) nur dann wirksam, wenn sie in sozialen Praktiken realisiert werden und Artefakte schaffen, welche Gedächtnisinstanzen oder Erinnerungsträger sind. Beispielsweise materialisiert sich historische Entwicklung in architektonischen Bauwerken und im gewachsenen Stadtbild.51 Die Darstellung von Elementen der Erinnerung in Gedächtnisinstanzen wie Museen und Archiven erfolgt in Erzählungen,52 Ausstellungen,53 Sammlungen und Inszenierungen.54 Diese kennzeichnen sich als ordnungskonstituierende und legitimierende Formen der Erinnerung in einem funktionellen Sinne. Mit diesem theoretischen Zugang wird nochmals die enge Bindung als materiell bestimmter kultu-

51 Assmann verdeutlicht am Beispiel der Diskussion um das Bewahren oder den Abriss von Gebäuden paradigmatisch die Situation des Aushandelns. Sie stellt zwei Positionen gegenüber: Diejenigen der kontinuierlichen Veränderung, welches das ‚Vergessen des Vergangenen‘ impliziert. Und diejenigen der konservatorischen Praxis, welche die Funktion der geschaffenen Gebäude und Ensemble als Erinnerungsträger begreift. Die konservatorische Praxis steht in enger Verbindung zu Kanonisierungsprozessen und impliziert einen interessengeleiteten, zumeist ideologisch-politischen Aspekt. Vgl. dies.: Geschichte im Gedächtnis, S.98/99. 52 Mit der Erzählung wird den Ereignissen von der gegenwärtigen Situation ausgehend Bedeutung, Interpretation und Sinn zugeschrieben. Damit lassen sich Erzählungen in unterschiedliche funktionale Kategorien zuordnen: Ursprungserzählungen, Passionsgeschichten, Befreiungsgeschichten, Konversionen, Bildungsromane, Niedergangsoder Fortschrittserzählungen usw. In dieses Schema fügt sich die Tango-Erzählung ein. Vgl. bei Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.150. 53 Ebenso wie in der Erzählung erfolgt die Konstruktion von Bedeutung, Interpretation und Sinn in der Ausstellung vermittels der Auswahl von Ausstellungselementen und deren wertorientierte Anordnung. Die Ausstellung basiert auf einer legitimierten Erzählung im Sinne eines ‚textuellen Skripts‘. Assmann definiert dementsprechend die Ausstellung als eine interessengeleitete und konstruierende Erinnerungsform. Vgl. bei Assmann: Geschichte im Gedächtnis, S.151/152. 54 Die Inszenierung beschreibt Assmann als eine bewusste und offensichtliche Anordnung von Elementen durch mediale Inszenierungen oder in räumlichen Inszenierungen und setzt sie in den Zusammenhang zur Geschichtskonstruktion bzw. hebt ihre funktionale Bedeutung hervor. Historische Gedenkstätten und sogenannte ‚heritage centers‘ inszenieren in diesem Sinne historische Orte, die sie zu einer Bühne von Geschichte machen. Vgl. dies.: Geschichte im Gedächtnis, S.152/153.

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reller Güter an immaterielle Bestimmungen, insbesondere an materialisierte und inkorporierte Wissensbestände deutlich.55 Neben den benannten Verkörperungen bzw. Objektivierungen im Sinne der Bindung von spezifischen Wissensbeständen wie Gedächtnis bzw. den Erinnerungen als in der Praxis existierende Elemente an die Körperlichkeit der Akteure, an materielle Elemente sowie an die spezifischen Strukturverhältnisse, kann das Gedächtnis ebenso in Orten und Räumen realisiert sein. Assmann/Harth konstatieren für die Erinnerungsorte eine bewahrende und legitimierende bzw. eine Vergangenheit konstruierende Funktion. Die Funktion Gedächtnisinstanz bzw. die korrespondierenden Erinnerungen können den Orten aufgrund ihrer Genese implizit sein oder sie sind den Orten seitens autorisierten bzw. strategieführenden Instanzen zugeschrieben.56 Im Gegensatz zum Ansatz der Praxistheorien, welche die Gedächtnisorte als praxisrelevante Elemente begreift, geht Assmann – in der Schlussfolgerung seiner Forschungen zur Verschriftlichung der Gedächtnisinstanz – von einer Semiotisierung solcher Orte und Räume aus.57 Nora schließt mit seinem Konzept der ‚lieux de mémoire‘ an eine solche semiotische Herangehensweise an. Er bestimmt Gedächtnisorte als innerhalb sozialer Strukturen gesetzte Symbole, die in Form von Gedächtniselementen bzw. Erinnerungen oder Institutionen gesellschaftlich wirksam sind. Sie helfen dabei vor allem die Identität kollektiver Ge-

55 Ausführlicher bei Assmann: Geschichte im Gedächtnis, insbesondere S.100–179. Ein weiterer lohnenswerter Verweis richtet sich auf die das soziale Gedächtnis fokussierenden Arbeiten von Esposito. Sie hebt den funktionalen Aspekt des Gedächtnisses hervor. Vgl. Esposito: Soziales Vergessen, S.24. 56 Gedächtnisorte sind in den Verkörperungen bzw. Materialisierungen in der Praxis jeweils zu differenzieren. Assmann zählt solche Orte auf und analysiert sie in ihrer Bedeutung, Konstitution und Funktion: Generationenorte, Heilige Orte und mythische Landschaften, Gedenkorte, Exemplarische Gedächtnisorte, Ruinen, Gräber und Grabsteine, Traumatische Orte (dem Sichtbarmachen einer unsichtbaren Realität verschrieben), Aura (nach Benjamin), milieu/lieu de memoire (nach Nora). Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S.298ff. bzw. detailliert zu Gedächtnisorte in Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S.217/218. 57 Aus dieser Zeichenhaftigkeit heraus erklärt sich die Relativität der gesetzten Bedeutungen und Funktionen der Gedächtnisorte, da sie als Zeichen den zugehörigen Diskursen unterliegen. Vgl. Assmann: Das Kulturelle Gedächtnis, Abschnitt: Orte. Die semiotischen Ansätze sind in Minderzahl im gegenwärtigen Forschungsdiskurs. Vgl. dazu u.a. in kritischer Diskussion Esposito: Soziales Vergessen, S.213/214 sowie Assmann/Harth: Kultur als Lebenswelt und Monument, S.17.

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meinschaften konstituieren. Gedächtnisorte verstehen sich als jene Orte, an denen die im Gedächtnis der Alltagswelt vergessenen bzw. nicht mehr praktizierten Gedächtniselemente verbleiben. Die Geschichte, insbesondere die Geschichtsschreibung entscheidet darüber, inwiefern die Gedächtniselemente dem Vergessen anheimfallen oder in der Rekonstruktion der Vergangenheit aufgenommen werden. 58 Das Konzept der Erinnerungsorte formuliert einen Ansatz, der die bourdieuschen Begriffe inkorporierter Wissensbestände, des Raums des Möglichen und der symbolischen (Definitions-)Macht in pragmatischeren Begriffen formuliert und für eine Neubestimmung der Strategien zur Bewahrung eines kulturellen Erbes bereitstellen kann. Das Vergessen solcher Gedächtnisinstanzen und verbundener Erinnerungsprozesse entspricht in der Literatur zu Gedächtnis- und Erinnerungskulturen der grundsätzlichen Auffassung in Bezug auf die sozialen Funktionsmechanismen von Kommunikation, Interaktion und Aneignungsprozessen. In diesem ‚Vergessensvergessen‘ liegt die enorme Stabilität inkorporierter Strukturen, geschuldet dem unbewussten Wirken der Lern- und Formierungsstrukturen.59 Sie stehen in bourdieuschen Termini für Naturalisierung und Inkorporierung: sie kennzeichnen diese Elemente als Komponenten von Gewohnheiten und habituellen Dispositionen. Der Begriff ‚Vergessensvergessen‘ umschreibt diese Erinnerungsprozesse. Als ein solcher Funktionsmechanismus können die Gedächtnisinstanz und Erinnerungsprozesse dem bourdieuschen Begriff eines inkorporierten Habitus parallel gesetzt werden und pragmatische Ansätze für eine neue Bestimmung eines Konzepts des immateriellen Kulturerbes formulieren helfen. Werte des Immateriellen Dem Begriff des Immateriellen können spezifische Bestimmungen zugeordnet werden. Dazu zählen die inkorporierten Wissensbestände und die wertsetzenden Bestimmungen des Immateriellen (Universalität und Authentizität) sowie Prozesse des Wandels. Sie bilden das kulturell Unbewußte, das als konstituierend für den Raum des Möglichen und für korrespondierende zu bewahrende Optionen eines kulturellen Erbes zu bestimmen war.

58 Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Solche geschaffenen Gedächtnisorte sind für Nora Museen, Archive, Friedhöfe und Sammlungen, Feste, Jahrestage, Verträge, Protokolle, Denkmäler, Wallfahrtsstätten, Vereine sind die Zeugenberge eines anderen Zeitalters sowie Ewigkeitsillusionen. Ebd., S.17. 59 Ausführlicher bei Hahn: Körper und Gedächtnis, S.97/98; Frank/Rippl: Arbeit am Gedächtnis, S.31/32; Assmann: Erinnerungsräume; sowie ders.: Zeit und Tradition.

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Als das spezifische symbolische Kapital, das durch den ‚Funktionsmechanismus IKE‘ generiert wurde, konnte der immaterielle Wert erfasst werden. Er ist die Kapitalart, die mit dem Anerkennungsprozess den kulturellen Gütern, Elementen, Praktiken und Wissensbeständen zugeschrieben wird. Dieses spezifische symbolische Kapital umfasst für die kulturelle Praktik Tango die immateriellen, doch jederzeit notwendig körper- oder objektgebundenen Werte. Sie korrespondieren sowohl der spezifischen Bewegung als auch den weiteren akteurgebundenen Praktiken der Musik, der Narrationen und diskursiven Elemente, insbesondere der spezifischen Poetik, den emotionalen und affektiven Befindlichkeiten und Bestimmungen. Mit dieser Bestimmung ist der Wert des Immateriellen als ein symbolisches Kapital konstituierend für das (neu) zu definierende Konzept kulturelles Erbe. Es umfasst notwendig die impliziten Wissensbestände der Praktikenformen. Den erfassten Bestimmungen eines kulturellen Erbes lag bis dato ein Verständnis von zu bewahrenden kulturellen Gütern zugrunde, dass die Existenz absoluter, objektiver und universeller Werte voraussetzt und damit Konzepte eines Wahren, Authentischen und Essentiellen formuliert.60 In den 1980er Jahren kam eine erste Diskussion im Kontext der generellen Infragestellung universeller Werte seitens der kulturanthropologischen und Umweltforschung sowie zugrundeliegender neu zu bestimmender ethischer Werte auf. Daraus geht ein Begriff des intrinsischen Werts der Dinge hervor, der in erster Linie als ein partikularer, nicht utilitaristischer und impliziter Wert formuliert wird.61 Dieser kann für eine (Neu-)Bestimmung des Konzepts kulturelles Erbe zumindest eine Infragestellung bisheriger Wertsetzungen sowie eine Erweiterung und Differenzierung des Konzepts initiieren. In der erweiternden Forschungsliteratur findet sich in erster Linie Kritik am essentialistischen Grundverständnis dahingehend, dass es mit der Anerkennung als kulturelles Erbe die kulturellen Elemente als Güter und Objekte kennzeichnet und sie den strukturspezifischen Strategien und Interessen unterordnet. Dahingehend wird das Konzept kulturelles Erbe als eine soziale Konstruktion kritisiert, vermittels der den Interessen der symbolischen Macht entsprechend kulturelle

60 Eine Auffassung, die seit dem 18. Jahrhundert vertreten wird. Vgl. u.a. Throsby, S.28; als Referenz bei Villaseñor Alonso: El valor intrínseco del patrimonio cultural. 61 Zur Diskussion eines intrinsischen Werts der Dinge der Verweis auf verschiedene Autoren, u.a. im philosophischen Feld Bernard Williams und Christine Korsgaard, in der Anthropologie Edward B. Tylor, sowie Franz Boas und Clifford Geertz; vgl. bei Villaseñor Alonso: El valor intrínseco del patrimonio cultural, S.6/7.

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Güter benannt werden. Damit werden diese nicht im eigentlichen Sinne bewahrt, sondern strategisch genutzt. Im Rahmen dieser Kritik wird die Bestimmung eines universellen Werts im Konventionstext als uneindeutig und konfus hinterfragt. Der Begriff des Universellen findet sich darin mit partikularen und intrinsischen Kennzeichnungen begründet, entspricht aber im eigentlichen Sinne einer essentialistischen Zuschreibung und etabliert zugleich einen Autorisierungs- und Besitzanspruch.62 Aus diesem Zusammenhang heraus begründet sich die strategische Nutzbarkeit des Titels Kulturerbe, indem durch den Vermittlungsprozess eine bestimmte illusio erst generiert wird. Mit Rückgriff auf die bourdieuschen Theoreme ist in der (Neu-) Bestimmung des Konzepts kulturelles Erbe auf den Begriff des Universellen und der zugrundeliegenden essentialistischen Perspektive zu verzichten. Aus seinem Verständnis der Geschichte heraus lehnt Bourdieu absolute Begriffe wie den Begriff des Ewigen und den Begriff des Universellen ab: indem einer definierten und legitimierten Gegebenheit das Merkmal des Ewig-Währenden bzw. des Allgemein-Universellen zugesprochen wird, formalisiert sich die feldinterne geschichtliche Arbeit der Verewigung und der Universalisierung als ein konstruiertes Kulturerbe. Die Verewigungs- und Universalisierungsarbeit besteht nach Bourdieu in der Vermittlung und Inkorporierung einer solchen Definition und blendet die Prozesshaftigkeit aus.63 Einen weiteren Begriff der determinierenden und normativ ausgerichteten Sichtweise weist Bourdieu in diesem Zusammenhang zurück. Das Wesensdenken stellt für Bourdieu den Versuch seitens der definierenden Positionen dar, den Anschein einer universellen Substanz in den gegebenen Strukturverhältnissen zu geben. Der Begriff des Wesenhaften funktioniert, indem die objektivierten oder inkorporierten Spuren der Geschichte des Felds verschleiert werden. Das geschieht zugunsten bestimmter Interessen. Somit konstatiert Bourdieu das, was als Wesen bezeichnet wird, als eigentliche Normen, die es mittels des essentialistischen Denkens zu vermitteln gilt.64

62 Kritische Positionen formulieren den begrifflichen Widerspruch und schlussfolgern u.a.: „lo que genera una visión esencialista que enfatiza al patrimonio como poseedor de valores pero pasa por alto a los agentes sociales que confieren dichos valores.“ Vgl. Villaseñor Alonso: El valor intrínseco del patrimonio cultural, S.8 und S.13. 63 Bourdieu: Männliche Herrschaft, S.144. Bourdieu veranschaulicht das am Beispiel der männlichen Herrschaft als naturgegebene Hierarchie zwischen den Geschlechtern. 64 Vgl. u.a. Bourdieu: Praktische Vernunft. Wissenschaft von den Kulturellen Werken, S.73/74; Bourdieu: Regeln der Kunst, S.467 und S.489.

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Der Grund für die Abweisung der essentialistischen Perspektive mit den Begriffen des Ewig-Währenden, des Universellen und des Wesenhaften liegt schlussfolgernd darin, dass sie in nationalen Diskursen und für machtpolitische Interessen missbraucht werden. Nationale Diskurse weisen zumeist genannte Begriffe auf. Anhand entsprechender diskursiver Strategien werden demzufolge staatliche Strukturen mit geographischen Grenzen und nationalen Konzepten gleichgesetzt. Mit Rückgriff auf den besonderen national verankerten Zeitgeist oder einem spezifischen lokalen Wesen geben sie bestimmten Orten, Praktiken und Stätten den Vorrang für die Zuschreibung des symbolischen Kapitals.65 Die Zurückweisung der Begriffe der Verewigung, der Universalisierung und des Wesenhaften sollte in der Definition eines für die Bestimmung des immateriellen Kulturerbes notwendigen Begriffs der Kultur seine Berücksichtigung finden. Das ausgeführte Konzept des kulturell Unbewußten kann hierfür eine sinnvolle begriffliche Grundlage schaffen. Der Begriff der Authentizität ist als offizielle Bestimmung in der ‚Venice Charter‘ deklariert. Er bezieht sich, da materielle kulturelle Güter betreffend, in erster Linie auf ein materielles Kulturerbe. Die Frage nach dem Authentischen im Sinne einer essentialistischen und absoluten Bestimmung ist mit Rückgriff auf die zuvor benannte Argumentation zurückzuweisen. In den bourdieuschen Termini findet sich der Begriff der Aufrichtigkeit, der für die Bestimmung des Begriffs Authentizität dienlich sein kann. Vor allem betrifft das die Aspekte inkorporierte Dispositionen, Wahrnehmungs- und Wertungskategorien sowie geteilte (und in seinem Verständnis der Sinn-vollen) Habitusformen.66

65 Bourdieu: Regeln der Kunst, S.320. Ebenso wie den Begriff des Ewigen, des Universellen und des Wesenhaften kontrastiert Bourdieu den Begriff des Zeitgeists gegen den Begriff des kulturell Unbewußten. Die korrespondierende stillschweigende Harmonie, die in der Übereinstimmung der praktischen Schemata der Akteure sowie in den kursierenden Themenkomplexen, Denkweisen und Paradigmen offensichtlich wird, hat ihre Ursache in den gemeinsamen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen. Die Akteure scheinen einem im lokalen Kontext situierten Geist (sensus communis) anzugehören, der gemeinhin als der spezifische Zeitgeist einer Epoche bezeichnet wird. Vgl. bei Bourdieu: Symbolische Formen, S.121–123. 66 Bourdieu definiert Aufrichtigkeit als eine der Voraussetzungen symbolischer Wirksamkeit. Sie ist „nur möglich, wenn eine vollkommene, unmittelbare Übereinstimmung zwischen den der eingenommenen Position eingeschriebenen Erwartungen und den Dispositionen des Positionsinhabers besteht.“ Bourdieu: Regeln der Kunst, S.266. Darüber hinaus soll im Hinblick auf eine weite Perspektive der Diskussion um Authentizität auf Garcia Canclini mit Beispielen aus dem mexikanischen Kulturerbe-

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In der Argumentationsfindung zur (Neu-)Bestimmung des Konzepts kulturelles Erbe kristallisierte sich der Gedanke heraus, dass das authentische Ausagieren bzw. die Weitergabe von Praktikenformen wie Tanz und Musik auf einer persönlichen Kommunikation basiert. Begründung findet das darin, dass die impliziten bzw. inkorporierten immateriellen Wissensbestände notwendig akteurgebunden sind. Somit ist die individuen- und situationsgebundene Kommunikation Bedingung für das Ausagieren und Vermitteln von Praktiken. Sie kann in keiner Weise durch Formalisierungsprozesse ersetzt werden. Dem In-Frage-Stellen der gesetzten Begriffe des Universellen und Authentischen als absolute Werte schließt sich die Frage nach der Funktion und nach den Grenzen des Wandels der als kulturelles Erbe anerkannten Elemente an. Im bourdieuschen Verständnis wird das Authentische als das Ausagieren eines inkorporierten kulturellen Unbewußten mit dem Begriff der Aufrichtigkeit bestimmt. Demzufolge liegt der authentische Wandel kultureller Situationen im Raum des Möglichen bereits als implizite Option begründet und wird entsprechend innerhalb der Strukturverhältnisse ausgehandelt. Ein intendierter Wandel durch externe Faktoren kann dem kulturell Unbewußten entsprechen, kann aber ebenso dasselbe unter Rückgriff auf starke symbolische Machtverhältnisse negieren und Veränderungen erzwingen. Die beiden Aspekte des Authentischen und des Wandels entsprechen somit Bestimmungen eines kulturellen Unbewußten bzw. als Optionen eines Raums des Möglichen. Aus dem Zusammenspiel beider heraus kann die These formuliert werden, dass der Erhalt originärer Elemente (im Tango: Partituren, Einspielungen, Texte, Schriften, Stile) die notwendige Bedingung für eine authentische Entwicklung der kulturellen Praktik formuliert. Diese authentische Entwicklung steht zugleich für einen Wandel. Kultur im Verständnis kultureller Praktiken und spezifischer korrespondierender Strukturverhältnisse impliziert einen Wandel. Die symbolischen bzw. politischen Machtverhältnisse des umgebenden sozialen Raums tragen die Verantwortung dafür, diesen Raum des Möglichen zu bewahren. Hinsichtlich der politischen Handhabung einer gelungenen KulturerbePolitik bedeutet das, dass es nicht um die Offizialisierung und korrespondierende Festschreibung bzw. Kanonisierung gehen kann, sondern dass die Prozesse kulturellen Wandels und ihrer Elemente sowie die sozialen Funktionen in der Praxis berücksichtigt sein müssen.67

Anerkennungsprozess verwiesen werden. Vgl. dazu Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, insbesondere S.29–32. 67 Dementsprechend fordert Garcia Canclini aus der Perspektive des mexikanischen Kulturerbe-Anerkennungsprozesses ein: „cualquier política patrimonial debe tratar los ob-

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Funktionen des Immateriellen Anschließend an die Analyseergebnisse und in Rückgriff auf die erarbeiteten theoretischen Begriffe werden Funktionen des Immateriellen im Hinblick auf die Bestimmung eines immateriellen kulturellen Erbes abgeleitet. Sinn entsteht durch die Kongruenz der Strukturverhältnisse und der Habitusformen. Er impliziert die korrespondierenden Dispositionen, Handlungsoptionen und ein – in höheren oder niedrigeren Grad implizites – Bewusstsein. Praktischer Sinn als das unreflektierte Agieren vermittelt zwischen den Bedingungen der Strukturverhältnisse und dem Habitus. In der Konsequenz sind Veränderungen in gesellschaftlichen Strukturverhältnissen nur dann erfolgreich, wenn sie durch Veränderungen des (praktischen) Sinns realisiert werden. 68 Veränderungen in den Strukturverhältnissen mit der Anerkennung des Kulturerbe-Status entsprechen in dem Moment einer Veränderung der Praktiken, der Interessen und Wertsetzungen, letztendlich der gesamten illusio in Bezug auf die spezifischen Praktiken, insofern diese den Ausagierenden der Praktiken inkorporiert sind.69 Auf der Ebene der staatlichen Akteure entsprechen die Strategien der Vermittlung (beispielsweise das Bildungssystem) einem Reproduktionsmechanismus. Der offizielle Standpunkt wird durch einen Inkorporierungsprozess in die Praxis vermittelt. Es entsteht eine kanonische Bildung einer Gesellschaft, die die staatlichen Strukturen in der zeitlichen Entwicklung als auch im sozialen Raum reproduziert. Darüber hinaus kommt den Reproduktionsmechanismen die Funk-

jetos, los edificios y las costumbres de tal modo que, más que exhibirlos hagan inteligibles las relaciones entre ellos, propongan hipótesis sobre lo que significan para quienes hoy los vemos o evocamos. Un patrimonio reformulado que considere sus usos sociales, no desde una mera actitud defensiva, de simple rescate, sino con una visión más compleja de cómo la sociedad se apropia de su historia, puede involucrar a nuevos sectores.“ Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, S.33. 68 Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der Scholastischen Vernunft, S.191. 69 Bezugnehmend auf die Analyseergebnisse kann angenommen werden, dass die kulturelle Praktik Tango auf zwei Ebenen verändert wird: aufgrund Veränderungen in den Diskursverhältnissen und aufgrund Veränderungen in den Machtstrukturen. Erst in dieser Doppelung wird die Veränderung in der Praxis relevant. Dazu argumentiert Diaz-Bone: „[…] Erst wenn diskursivierte (problematisierte) Aspekte der Lebensführung sich zu dauerhaften körperlichen Dispositionen einlagern, kann man von einer Rückwirkung der Wissensordnung auf die methodische und systematische Lebensführung (Weber, Foucault) oder auf die Stilisierung des Lebens (Simmel) sprechen. […] diskursive Habitualisierung ist somit die andere Seite der Habitusbildung.“ DiazBone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.132.

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tion zu, eine bestimmte Vertrautheit und Aufnahmebereitschaft gegenüber legitimierten Praktiken, Definitionen, Situationen und Interessen zu schaffen. Diese von Bourdieu für das Feld der Kunst konstatierte Funktion bedeutet in der Verallgemeinerung auf weitere spezifische Bereiche im sozialen Raum, dass die herrschenden Positionen in der Lenkung der Reproduktionsmechanismen über deren Ausrichtung und Inhalte bestimmen kann. Somit tragen sie die Verantwortung für die Dispositionen und daraus resultierenden Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten der Akteure.70 Berücksichtigt man den bourdieuschen Begriff der Entschleierung der erfolgten strategischen, aber auch notwendigen Vermittlungs- und Inkorporierungsarbeit, kann dem zuvor benannten essentialistischen und utilitaristischen Ausnutzen der kulturellen Praktiken im selben Reproduktionsmechanismus entgegengewirkt werden. Indem ein offener und aufrichtiger Dialog darüber etabliert wird, kann verhindert werden, dass kulturelle Praktiken auf ein starres Reproduktionsschema hin ausgerichtet und damit im Interesse der Machtstrukturen definiert bzw. limitiert werden. Bourdieu sieht dagegen im Bewusstsein des kulturellen Unbewußten die ‚aufrichtige‘ Möglichkeit des Wandels innerhalb von Strukturverhältnissen. Diese Ebenen können und müssen letztendlich im Hinblick auf eine authentische Entwicklung durch den ‚entschleiernden‘ Dialog verbunden werden.71 Zusammenfassende Bestimmungen Die Zusammenführung der Begriffe kulturelle Praktiken, spezifisches Kapital und kulturell Unbewußtes als relevante Kategorien der bourdieuschen Theoreme für die Kategorie des Immateriellen wird in Bezug auf die Argumentation des zu bestimmenden Begriffs Kulturerbe noch einmal aufgeschlüsselt. Die für das immaterielle Kulturerbe relevanten Praktiken sind kulturelle Praktiken. Sie sind durch die an den Akteur gebundenen inkorporierten Strukturverhältnisse und Wissensbestände als inkorporiertes kulturelles Kapital gekennzeichnet. Die Kategorie der Zeitlichkeit und der Prozesshaftigkeit bilden weitere Komponenten dieser Kapitalform. Die inkorporierten Strukturverhältnisse und korrespondierenden Wissensbestände formieren eine immaterielle, da nicht an materielle Datenträger wie Bild-, Ton- Schriftmedien, aber stets an Körperlichkeit gebundene Wissensform. Der Begriff der Körperlichkeit wird in Form der

70 Bourdieu schlussfolgert, dass die Richtung des Wandels letztendlich „von der Beschaffenheit des von der Geschichte ererbten Bestands an (konzeptuellen, stilistischen, usw.) Möglichkeiten abhängt.“ Bourdieu: Regeln der Kunst, S.329/330. 71 Ausführlicher bei Bourdieu: Rede und Antwort. Kodifizierung.

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konstituierenden körperbezogenen Funktion der Praktiken und in Form der konditionierten körperlichen Dispositionen (hexis und Habitusformen) als ein Aspekt des Immateriellen verstanden. Das Ausagieren kultureller Praktiken erfordert entsprechend ein spezifisches Wissen in Form von Fähigkeiten zum praktischen Ausagieren und als körperliche Dispositionen (Körperhexis und Habitusformen). Damit sind kulturelle Praktiken an immaterielle Wissensbestände gebunden, die als inkorporierte Wissensbestände des kulturell Unbewußten im Körperlichen archiviert sind. Somit kann das Körperliche im Sinne des objektivierten kulturellen Kapitals als materieller Kapitalträger verstanden werden. Das situationsgerechte Agieren setzt ein inkorporiertes Kapital der Wissensbestände bei den Akteuren voraus. Die institutionalisierte Kapitalform besteht hauptsächlich in Titeln. Sie entsprechen der offiziellen Anerkennung und Legitimierung eines inkorporierten und objektivierten kulturellen Kapitals seitens derer, die die Definitionsmacht innehaben. Innerhalb spezifischer Strukturverhältnisse ist eine implizite Anerkennung von Praktiken, die dem strukturspezifischen Interesse und Sinn konstitutiv zugehörig sind, gegeben. In der Deklaration des Kulturerbe-Status für kulturelle Praktiken wird eine solche offizielle Anerkennung und Legitimierung für inkorporierte Wissensbestände und der damit verbundenen prozesshaften, Zeit und Arbeit investierenden Inkorporierungsarbeit auf supranationaler Ebene vollzogen. Kulturellen Praktiken wird mit dem Kulturerbe-Titel ein legitimierter und somit symbolischer Wert zugeschrieben. Die Anerkennung des Werts der kulturellen Praktiken als ein strukturspezifisches und strukturkonstituierendes Element kennzeichnet sie als spezifisches Kapital. Es ist nunmehr im offiziellen Diskurs Grundlage für Praxis konstituierendes Agieren. Bourdieu definiert als Konsequenz seiner Strukturanalysen das symbolische Kapital. Wird das symbolische Kapital seitens derer, die die Machtpositionen zur Legitimierung von Kapital innehaben, als ein solches definiert, so kann es nur dann praktisch wirksam sein, wenn es seitens der Akteure ebenso erkannt und anerkannt ist. Indem eine Kapitalart den Wert eines symbolischen Kapitals annimmt, ist es innerhalb der Strukturverhältnisse wirksam und steht damit für Werte, Bedeutungen und spezifischen Sinn. Der Bewahrungsmoment für kulturelle Praktiken meint in erster Linie die zu bestimmenden immateriellen Werte. Den Medien der Bewahrung korrespondieren die Erinnerungen bzw. das kollektive Gedächtnis und die einzelnen Praktikenformen. Die Gedächtniskategorien könnten für eine Bestimmung der Werte des Immateriellen innerhalb eines (neu) zu bestimmenden Konzepts kulturelles

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Erbe übertragen werden.72 Kulturelle Praktiken und Artefakte entsprechen dann dem kollektiven Gedächtnis, das durch identifizierte Mitglieder der Gruppe gelebt wird. Im Rückgriff auf Erinnerungs- und Gedächtniskulturen formuliert sich ausgehend von dieser Bestimmung der Begriff der lebendigen Kultur. Er meint einen Fundus gemeinsamen Wissens, der eine kulturelle Identität stützt, indem er Formen der Wiedererkennung und gleichartige Erfahrungen ermöglicht.73 Veränderungen in der Praxis, die der offiziellen Anerkennung immaterieller und bislang informeller Werte korrespondieren, finden sich in der Realpolitik, in den symbolischen Werten und Habitusformen, den Verhältnissen der Macht und diskursiven Verhältnissen wieder. Für die Realpolitik sind das vor allem die Bereiche Kulturpolitik, Bildung und Wirtschaft. Dazu gehören ebenso die verbundenen negativen Besetzungen des Kulturerbetitels als Marketinginstrument und die Verortung des Kulturellen auf dem ökonomischen Markt. Die symbolischen Werte sind besetzt mit den Aspekten Habitus, kollektives Gedächtnis und Werte des Immateriellen. Eine Diskussion des Konzepts kulturelles Erbe sollte in der Schlussfolgerung aus den Analyseergebnissen das signifikante Element der Konvergenzkriterien berücksichtigen. Die Konvergenzkriterien der Konvention sind ‚Triebfeder kultureller Vielfalt‘, ‚Garant nachhaltiger Entwicklungen‘, ‚Prozesse der Globalisierung und gesellschaftlichen Wandel‘, ‚Kulturdialog‘, ‚Respekt und Bewusstsein‘, ‚Gefahren‘. Diese sind durch das Zurückgreifen auf intendierte diskursive Narrationen zumeist für eine anzuerkennende Praktik (wie es der Fall Tango ebenso aufwies) erfüllbar. Doch rechtfertigt diese Konvergenz in Bezug auf die

72 Für die kulturelle Praktik Tango sind die zu bestimmenden immateriellen Werte beispielsweise das spezifische Lebensgefühl des Melancholischen, des Dialogierens bzw. Kommunizierens in oder gegenüber einer sozialen Gruppe sowie das hybride Moment seines Ursprungs. Entsprechende Gedächtniskategorien sind beispielsweise für die Analysesituation des Tango die verschiedenen Medienformen (Medium Schrift: Musik, Poesie, Erzählungen, Notenmaterial; Medium Bild: Photo, Pathosformeln wie das Konterfei Gardels; Medium Körper: Tanz, Musizieren; Medium Ort: Bars, Straße, Bordell, Stadt Buenos Aires) und die symbolisch kodierten Körperprozesse. Diese formieren im Zusammenspiel das zu bewahrende kollektive Gedächtnis. Vgl. zu den Kategorien Wulf: Anthropologie kultureller Vielfalt, S.195. 73 Es sei verwiesen auf die Begriffe kollektives Gedächtnis nach Assmann/Assmann: Kanon und Zensur, als die den Medien eingeschriebene Geschichte; ebenso wie inkorporierte Geschichte der Bewegungen, Gesten und Lebensführung; vgl. insbesondere Konzepte der Tanzwissenschaft und Kulturwissenschaft bei Klein: Bewegung; Wulf: Zur Genese des Sozialen; Assmann: Erinnerungsräume.

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Intention der Bewahrung durch die UNESCO-Konvention IKE noch nicht das Konzept kulturelles Erbe. So könnte beispielsweise anstelle der mühsamen Suche und Kategorisierung eines definierten Ziels ‚Was ist Welterbe?‘ die Fragstellung ‚Welchen Kategorien nach ist eine kulturelle Praktik wertvoll und würdig?‘ sinnvoll sein. Denn die mit vorliegender Analyse erfassten intendierten Narrationen zur Kriterienkonvergenz verdeutlichen, dass der Titel selbst für die kulturelle Praktik und dem Ziel ihrer Bewahrung allein noch nicht sinnvoll ist. Hingegen ist zu konstatieren, dass die Anerkennung dieses Titels ein gruppeninternes Bewusstsein und die Reflexion begünstigen.74 Ein in dieser Weise bestimmter Begriff des kulturellen Erbes findet sich in der theoretischen Grundlage der praxistheoretischen Konzepte bei Bourdieu im Rahmen der Funktionsmechanismen aus Feldtheorie und Habitustheorie. In der kritischen Lektüre seiner Arbeiten wurde eine konstruktive Bezugnahme auf diesen Begriff erkennbar. Bonz konstatiert eine grundlegende Fundamentierung auf dem kulturellen Erbe eines zugehörigen Akteurs, wenn es auch nicht explizit in jeder Arbeit Bourdieus benannt wird. Bezugnehmend auf Bourdieu definiert er das kulturelle Erbe als ein schichtspezifisches, implizites Wissen, das von Generation zu Generation in Form einer Enkulturation weitergegeben wird. Es umfasst Bildung, Werteverständnis und Haltungen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen und gegenüber anderen Akteuren. Es versteht sich als ein habituelles Erbe, das wesentlich die Dispositionen des Akteurs bzw. die Strukturverhältnisse des sozialen Raums prägt.75 Aus diesem umfassenden praxeologischen Verständnis kultureller Praktiken und der immateriellen Werte heraus kann ein (neu) zu bestimmender Begriff des kulturellen Erbes Formulierung finden.

74 Im Rahmen dieser Reflexion wird argumentierbar, dass Kultur kein ‚reines ästhetisches Vergnügen‘ ist, sondern ein ‚zentrales Element der gesellschaftlichen Entwicklung‘. Siehe dazu auch die Stellungnahmen aus lateinamerikanischer Perspektive; in Merkel/Steinkamp (Hg): Kulturelle Vielfalt, S.182–186. 75 Bonz in Hillebrand, u.a. (Hg): Das Werk Pierre Bourdieus in interdisziplinärer Anwendung, S.94/95. Bonz kritisiert an diesem für Bourdieus Sozialtheorie grundlegenden Element seine begriffliche Unschärfe. Kulturelles Erbe scheint parallel zum kulturellen Kapital bei Bourdieu vor allem auf ästhetische Kategorien der Bildung und Sozialisation zu zielen. Ebd., S.95FN.

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Kulturelle Praktiken und der Wert Bewegung Anschließend an die Auseinandersetzung mit und Formulierung der Bestimmungen für ein kulturelles Erbe mit dem besonderen Fokus der immateriellen Werte können zwei Aspekte definiert werden, die zugleich für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit stehen. Zum einen die Frage danach, wie sich das spezifische Wissen im Kulturerbe-Konzept definiert und sich im Konkreten das Bewegungswissen konstituiert. Zum anderen sind die kulturpolitischen Konsequenzen zu formulieren, nachdem die Funktion des Immateriellen, im Besonderen des spezifischen Bewegungswissens als ein immaterielles kulturelles Erbe, innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt wurde. Aus dem veränderten Verständnis der Funktion kultureller Praktiken heraus ist die Möglichkeit gegeben, konkrete kulturelle Praktiken-, bzw. Ausdrucksformen neu zu werten, indem mit dem symbolischen Kapital des Immateriellen als ein legitimierter Wert deren konstitutive Funktion im Reproduktionsprozess sozialer Gruppen anerkannt ist. Im Folgenden richtet sich der Fokus auf die Praktikenformen der Bewegung, wie sie in besonderer Weise den Tanzpraktiken zugrunde liegt. Spezifische Aspekte der Bewegungsfunktion werden im Hinblick auf die Formulierung eines Bewegungsbegriffs als ein konstitutives Element der Gesellschaft benannt. Sinn und Funktion inkorporierter Wissensbestände Wulf hat aus seiner Auseinandersetzung mit den theoretischen Axiomen des Kulturerbe-Konzepts in Rückbindung an die praxistheoretischen Aspekte des Reproduktionsprozesses heraus zentrale Aspekte der Praktiken des immateriellen kulturellen Erbes entwickelt. Sie machen deren spezifischen Charakter deutlich und legen ihre Bedeutung für kulturell vielfältige Bildungsprozesse als Funktionen des Reproduktionsprozesses dar. Aufgrund der Relevanz für eine weiterführende Diskussion, insbesondere in der deutschsprachigen Diskussion der Umsetzung der Konventionsinhalte, sei Wulf zitiert: „Die körperbasierten Praktiken immateriellen Kulturerbes werden durch den Gang der Zeit und durch die Zeitlichkeit des menschlichen Körpers bestimmt. Sie hängen von der Dynamik von Raum und Zeit ab. Im Unterschied zu den kulturellen Monumenten und Objekten sind die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes nicht fixiert, sondern unterliegen Transformationsprozessen. Diese sind an den gesellschaftlichen Wandel und Austausch gebunden.“ 76 Er stellt insbesondere die Körpergebundenheit bzw. den menschlichen Körper sowie die Prozesshaftigkeit und den Wandel heraus. Darüber hinaus benennt er die

76 Wulf: Anthropologie der Kulturellen Vielfalt, S.66.

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Vermittlungsprozesse der spezifischen inkorporierten Wissensbestände als einen der zentralen Aspekte für die Bewahrung eines kulturellen Erbes. Dessen ‚Vielfalt und Verschiedenheit‘ seien gebunden an die Bewahrung der ‚Andersheit und Alterität‘ in der Funktion des bourdieuschen Raums des Möglichen. Deren Umsetzung stellt er in erster Linie in die ‚Verantwortung einer weitsichtigen und transkulturellen Bildungsarbeit‘.77 Aus dieser Argumentationskette heraus wird deutlich, dass die Praktiken selber nicht geschützt, sondern die sozialen Bedingungen erhalten werden müssen, damit die Praktiken in natürlicher lebendiger Weise bestehen und sich entwickeln können. Mit Rückgriff auf Argumente der körpersoziologischen Forschung werden für eine weiterführende Diskussion Aspekte zum Begriff der Körpergebundenheit und zum Prozesscharakter, zum spezifischen inkorporierten Wissensbestand der Bewegung sowie zum korrespondierenden Raum des Möglichen als ein funktioneller Archiv-Raum aufgeführt. Auf den Aspekt der Verantwortung wird im folgenden Kapitelteil eingegangen. Die Begriffe Körpergebundenheit und Prozesscharakter sind grundlegende Bestimmungen kultureller Praktiken. Sie umfassen das Körperhandeln, das Körpererleben, Körpertechniken sowie die Reproduktions- und Restriktionsprozesse. Das Körperhandeln steht zum einen für ‚das Handeln, das dem Körper geschieht‘ (Umgang, Gebrauch, Ausbildung von Körpertechniken und Körperpraktiken) und zum anderen für ‚das Handeln vermittels des Körpers‘, indem Körper Medium und Mittler für Emotionen, Fühlen, Denken, Tun wird. Das Körpererleben steht für das ‚Erleben des Körpers‘ (Körperwahrnehmung) und für das ‚Erleben vermittels des Körpers‘ (als Medium des Erlebens).78 Die Inkorporierung sozialer Praxen sind in der Funktion von Körper- bzw. Bewegungstechniken eng an die Kennzeichnungen von Körperlichkeit und Prozesshaftigkeit gebunden. Sie vollziehen sich über entsprechende Fertigkeiten. In einem technisch anspruchs-

77 Der Definition des kulturellen Erbes im Konventionstext folgend, konstatiert Wulf das Immaterielle als „ein zentrales Element des kulturellen Erbes der Menschheit, das Werke und Praktiken aus vielen unterschiedlichen Kulturen umfasst, deren Bedeutung für die gesamte Menschheit unstrittig ist. Diese Werke und Praktiken […] sind Ausdruck kultureller Vielfalt und fördern Verständigungsprozesse zwischen den Menschen. Sie initiieren Erziehungs- und Bildungsprozesse, in denen das kulturelle Erbe an die nachwachsenden Generationen weitervermittelt wird.“ Wulf: Anthropologie der Kulturellen Vielfalt, S.65; weiterführend ebd., S.66–72. 78 Abraham/Müller: Körperhandeln und Körpererleben, S.23.

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vollen Tanz wie Tango stellt das Beherrschen tänzerischer Fertigkeiten eine fundamentale Basis dar.79 Die Reproduktions- und Restriktionsprozesse sind notwendig an das Körperhandeln, Körpererleben und die Körpertechniken gebunden. Die geltenden Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien werden über die Körperlichkeit der Akteure vermittelt. Körperliche und mentale Zwänge (Diskurse, Narrationen, Mythen, Riten, Vorschriften und inhärente Imperative) formen die Bewegungen der Akteure in der Weise, dass Praktiken und implizite Strukturprinzipien dem herrschenden Interesse adäquat reproduziert werden.80 Ausgehend von Schlussfolgerungen zur Spezifik der Praktikenform Tangotanz, in Verbindung mit Argumenten aus der erweiternden Forschungsliteratur können Aspekte für die Bestimmung des spezifischen inkorporierten Wissensbestands der Bewegung formuliert werden. Zu ihnen zählen die Körpergebundenheit und Prozesshaftigkeit, bzw. die spezifische Kennzeichnung seiner Flüchtigkeit und Unsagbarkeit. 81 Dieses Beispiel eines inkorporierten Wissensbestands

79 Klein: Tango in Translation, S.130. Zudem erfolgt, laut neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, die Ausbildung und Schulung eines Bewegungsgedächtnisses und damit das quasi automatische Abrufen von Bewegungsmustern vor allem über das Beherrschen und Erinnern von tanztechnischen Bewegungen und Figuren. Die Naturalisierung einer kulturellen Praxis wird daher mit und über Tanztechnik hergestellt. Technische Fertigkeiten verschaffen dem Tangotänzer einen Zugang zu einer spezifischen Körpererfahrung, zu dem, was als ‚innere Bewegtheit‘ gedeutet wird. Vgl. zu den Foucaultschen Strategien des Selbst insbesondere bei Klein/Haller: Bewegtheit und Beweglichkeit, in Bischof/Feest/Rosiny (Hg): e_motion. Jahrbuch Tanzforschung, S.161–167. 80 Bourdieu: Praktische Vernunft, S.117. 81 Zum Begriff der Flüchtigkeit verweist Lepecki auf Siegel: At the Vanishing Point. A Critic Looks at Dance. Ihre Grundthese geht davon aus, dass Tanz im Augenblick seiner Erschaffung bereits wieder entschwunden ist. Darin eingeschlossen ist ebenso die im Vorfeld einer Tanzaufführung/praxis geleistete Körperarbeit. Vgl. bei Lepecki: Option Tanz, S.183. Dagegen sei hypothetisch argumentiert, dass Tanz nicht nach dem Moment seiner Präsenz verschwindet. Begründung findet das in den Argumenten, dass Tanzpraktiken Raum und Zeit der Vorbereitung und dementsprechende Infrastruktur der Institutionen und materiellen Elemente brauchen, ein generiertes und präsentes Denken und Fühlen beim Tanzenden als auch beim Rezipierenden voraus setzt, nicht einfach da sind, sondern einem Raum des Möglichen bzw. einem kulturellen Gedächtnis entstammen, ebenso aber im Moment des Kreativen neue Elemente bzw. Arten und Weisen schaffen können.

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kann die Relevanz der Bestimmung kultureller Praktiken und ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung aufzeigen. Bewegungsbegriff und Bewegungswissen Die Formulierung eines Bewegungsbegriffs erfolgt aus praxeologischer Perspektive heraus. Die funktionellen und kennzeichnenden Kategorien werden dafür besonders berücksichtigt. Grundlegend ist der permanente Rückbezug eines Bewegungsbegriffs auf eine Praxis und die entsprechenden Praktiken. Sie stehen für das Handeln der Akteure. Handeln ‚materialisiert‘ zugleich die mentalen und inkorporierten Wissensbestände als Praktiken. Im Rückkehrschluss ist es gerade dieses praktische Wissen, das die Akteure durch ihre inkorporierten Wissensund Handlungsstrukturen als auch durch ihr körperliches Agieren als Akteure im Sinne von Subjekten kennzeichnet und konstituiert. Das Handeln der Akteure erfolgt zum einen in Abstimmung der Akteure untereinander und zum anderen auf Basis ihrer kognitiven Strukturierung der Welt. Beides erfolgt seitens der Akteure durch das inkorporierte praktische Wissen. Damit erweist es sich als implizites Kriterium für eine kohärente Handlungsweise. Kontingenz und Sinnhaftigkeit des Handelns werden auf diese Weise realisiert.82 Neben dem permanenten Rückbezug auf die Praxis ist die materielle Verankerung der praktischen Wissensformen grundlegend für den Bewegungsbegriff. Sie findet sich sowohl in der Körperlichkeit der Akteure als auch in der Materialisierung und Strukturiertheit der Artefakte. In der Konsequenz sind sowohl die Strukturverhältnisse als auch die korrespondierenden Handlungsweisen sowie deren Kontinuität und Sinnhaftigkeit an die materielle Verankerung gebunden. Das Wechselspiel aus Inkorporiertheit und Performanz bilden damit die Grundaxiome für den Bewegungsbegriff. Sie basieren auf Körperlichkeit, durch die Körperbewegungen und Praktiken realisiert werden.83 In Bezug auf die Funktionsmechanismen von Bewegungspraktiken wurde mit der Analyse ein weiterer grundlegender Aspekt deutlich. Es war eine kontinuierliche Korrelation zwischen den Strukturverhältnissen und Machtverhältnis-

82 Reckwitz: Reproduktion und Subversion Sozialer Praktiken; in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.44/45. 83 Reckwitz differenziert „dass Praktiken sich aus Körperbewegungen zusammensetzen und dass Praktiken in der Regel Verhaltensweisen mit Dingen, mit Artefakten bilden, in deren Zusammenhang das praktische Wissen aktiviert wird. Die Körperlichkeit der Praktiken umfasst den Aspekt der Inkorporiertheit ebenso wie den der Performativität.“ Reckwitz: Reproduktion und Subversion Sozialer Praktiken; in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.44/45.

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sen zu konstatieren. Reichardt fokussiert in seinem Ansatz an die praxeologische Analyse die institutionellen Strukturen mit dem Argument, dass die Herausbildung einer Kultur als Praxis mit ihren spezifischen (Bewegungs-)Praktiken, mit eben diesen Machtstrukturen verklammert ist. Kultur definiert er als einen permanenten „Kampf um Bedeutungen, der Konflikt um den Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken“.84 Er wendet sich damit gegen einen Praxisbegriff als eine homogene, stabile oder fest gefügte Einheit. Im Hinblick auf die Diskussion des Kulturerbe-Konzepts hinterfragt dieses Kulturverständnis, inwiefern eine Festschreibung spezifischer (Bewegungs-)Praktiken einen solchen der Praxis und der praktischen Logik verhafteten Kulturbegriff erlaubt, wenn doch die zu schützenden kulturellen Praktiken erst in dieser Praxis generiert werden. Bewegung in der Funktion einer konstitutiven und konstituierten kulturellen Praktik ist in einen Reproduktionsprozess eingebunden und inkorporiert spezifische Wissensbestände. Sie kann unter verschiedenen Aspekten bestimmt und bewertet werden. Die relevanten theoretischen Zugänge aus der erweiternden Forschungsliteratur fokussieren die Funktion der Agierenden und die gesellschaftlichen Strukturmechanismen. Den inkorporierten Strukturverhältnissen (Machtstrukturen und kognitives Ordnungssystem) können zum einen der theoretische Zugang der Machttechniken der Zivilisierung sowie zum anderen die Bestimmung körperlicher Bewegungen als Kulturtechniken und Repräsentation sozialer Macht zugeordnet werden. Der erste Zugang kennzeichnet das Normieren und Konventionalisieren mit einer unmittelbaren Machtbindung; der zweite Zugang bezieht sich auf die Mechanismen, die Orientierung und Kontrolle generieren.85 Zu den inkorporierten Wissensbeständen, deren Vermittlung, Aneignung und Ausagieren arbeiten die Konzepte der Mimesis und die Ansätze der Erinnerungs- und Gedächtniskulturen. Die Vermittlungs- und Reproduktionsprozesse werden in erster Linie als mimetische Aneignungsprozesse beschrieben und damit einem Bereich des sozialen Handelns zugeordnet: Bewegung versteht sich als eine Kulturtechnik zur Herstellung sozialer Praxis.86

84 Reichardt: Praxeologie und Faschismus; in Ebd., S.134/135. 85 Klein, in Klein: Bewegung, S.145; ebenso Verweise auf Elias, Foucault, Bourdieu. 86 Dazu Wulf: Zur Genese des Sozialen; sowie Gebauer/Wulf: Mimetische Weltzugänge. Zu den parallelen Funktionsmechanismen der Erinnerungspraktiken und der Instanz des kollektiven Gedächtnisses finden sich bereits oben im Text relevante Aspekte ausgeführt.

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Eine umfassende soziologische Perspektive auf Bewegung formuliert Klein in ihrem Ansatz zu einer Bewegungssoziologie. Darin bestimmt sie die signifikanten Aspekte von Bewegung mit der Handlungsfähigkeit des Körpers, dem Handlungswissen, der Repräsentativität und Performativität, den räumlichen Dimensionen des körperlichen Handelns.87 Bewegung wird als ein umfassender Begriff beschrieben: die Soziologie der Bewegung versteht Handeln als einen Prozess der raumzeitlichen Verkörperung des Sozialen und untersucht die performative Dimension des Handelns (Kultur- und Machttechniken): in körperlichen Bewegungen aktualisieren sich Ordnungssysteme. Sie sind durch Praktiken, u.a. in den Bereichen Sport und Tanz habitualisiert und setzen die soziale Hierarchie in der Praxis um.88 Damit formuliert sich eine performative Herstellung sozialer Praxis als Grundaxiom der Bewegungssoziologie. Bewegung steht nicht nur für eine Funktion der Schwerkraft und Gesetzen der Motorik, sondern in erster Linie für ein Mit- und Gegeneinander der Agierenden innerhalb konkreter Strukturverhältnisse. Bewegung ist die Verbindung von Mensch zu Welt, indem die Übernahme der Ordnung der Welt realisiert wird bzw. das ‚Einpassen des Menschen in die Ordnungen der Welt‘ zugleich ein Ordnen der Welt bedeutet.89 Darüber hinaus ist Bewegung in ihrer Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen ebenso abhängig von der Bewertung seitens der politischen Instanzen (Wertsetzung als Techniken der Macht) bzw. durch Interaktionen und der korrespondierenden Konstitution in Bezug auf die Gegenstände und Umstände.90 Ein solcher Bewegungsbegriff impliziert inkorporierte Wissensbestände, die als Bewegungswissen benannt werden können. Der Prozess dessen Vermittlung ist den Funktionsmechanismen implizit. Diesem Prozess können daher dieselben funktionellen Bestimmungen einer strukturhomologen Praxis zugeordnet werden. Die Optionen für die Weisen der Vermittlung und Legitimierung von zu vermittelnden Wissensbeständen sind mit dem Raum des Möglichen konditioniert. Führt man den Raum des Möglichen mit den Konzepten der Erinnerungskultur zusammen, versteht sich dieser Raum der Optionen als eine Gedächtnisin-

87 Reckwitz, in Klein: Bewegung, S.155/156. 88 Klein, in Klein: Bewegung, S.147–151. 89 Gebauer, in Klein: Bewegung, S.24. 90 Appadurai: The social life of things, S.56/57; bzw. der gesamte Aufsatz darin als Einleitung von Appadurai: Commodities and the politics of value, S.3–63.

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stanz für Wissensbestände. In dieser Funktion entspricht er den Strukturverhältnissen und seinen Ordnungen korrespondierendem Archiv-Raum.91 Eine Herausforderung an eine solche Bewahrungsform besteht darin, dass über die Relevanz der einzelnen Elemente fortlaufend seitens der legitimierenden Positionen entschieden wird. Damit ist es kaum möglich, im Moment der Archivierungspraxis auch nur einen Bruchteil der zukünftigen an den Bestand herangetragenen Fragestellungen erahnen zu können. Es gilt zu berücksichtigen, dass kein Archivgegenstand für sich selbst bedeutsam ist. Eine Bedeutsamkeit generiert sich innerhalb eines komplexen Beziehungsgeflechts.92 In der Konsequenz dieser Argumente und Bestimmungen kann ein Konzept von Bewegungswissen formuliert werden, dass dem erweiterten Begriff der an Körperlichkeit gebundenen Wissensbestände den Aspekt des Archivarischen hinzufügt. Entscheidend ist dabei, in welcher Weise dem Akteur dieser Wissensbestand zur Verfügung steht. Mit Rückgriff auf die praxeologischen Theoreme werden drei notwendige Bestimmungen für einen Begriff von Bewegungswissen bzw. für ein entsprechendes Bewegungs-Archiv formuliert. Eine erste Bestimmung fokussiert den einzelnen Akteur und sein Agieren. Sein Können und Wissen ist konditioniert durch den ihm zugänglichen Raum des Möglichen. Darüber hinaus ist dessen Vielfalt und die Varianz der Optionen grundlegend. Eine zweite Bestimmung bezieht sich auf die Gruppen und Gemeinschaften (kollektive Ebene) und deren verfügbaren (legitimierten, zu vermittelnden und ausagierten) Wissensbestände. Nur ein weiter und variantenreicher Raum des Möglichen sowie die entsprechenden Optionen ausagierter und (noch) nicht ausagierter Wissensbestände und Praktiken in der Praxis generieren lebendige und sich wandelnde Strukturverhältnisse und Funktionsmechanismen. Damit ist eine dritte Bestimmung benannt. Zum einen ist der Prozess des Wandels von einem weiten Raum des Möglichen bedingt, zum anderen ist das sinnvolle Agieren der Akteure innerhalb sich wandelnder Strukturverhältnisse an einen solchen weiten Raum des Möglichen gebunden. Ein eng limitierter Raum

91 Den Begriff Archiv als kategorisierende Instanz formuliert Esposito: „Tatsächlich hat sich das Gedächtnismodell bereits verändert; es entspricht nicht mehr dem antiken Modell des Speichers, sondern ist zu einer Art Archiv geworden: zu einer Sammlung also, bei der das Bemerkenswerte nicht einfach in einer Ansammlung von Materialen besteht, sondern in der Verfügbarkeit eines Katalogs bzw. einer Organisation, die deren Handhabung und Koordination ermöglicht. [… Damit ist] der archivarische Katalog Ergebnis einer Selektion.“ Esposito: Soziales Vergessen, S.239. 92 Vgl. bei Baxmann/Cramer: Deutungsräume, S.120/121.

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des Möglichen bedingt die Unterbindung des Wandels. Das führt zum Stillstand der Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Bewegung in den genannten Aspekten der Körpergebundenheit, der sozialen Konditionierung, der Inkorporierungs- und Vermittlungsprozesse von Wissensbeständen sowie dem Agieren individueller und institutioneller Akteure erfordert letztendlich Konsequenzen für die Bildungs- und Kulturpolitik.93 Verantwortung in der Praxis Mit der Bestimmung der Funktion eines kulturellen Erbes konnte bereits verdeutlicht werden, dass durch herrschende symbolische Machtverhältnisse und entsprechenden Strategien der Reproduktion und Formalisierung eine enge Vermittlung zwischen dem Politischen und den kulturellen Praktiken besteht. In diesem Sinne konstatiert Franko aus Perspektive der Tanzwissenschaften für die tänzerischen Praktiken eine enge und substantielle Verbindung zum politischen Agieren. Tanz operiert in seinem Verständnis nicht unmittelbar in der politischen Sphäre und ist somit nicht im strengen Sinne politisch. Er kennzeichnet stattdessen tänzerische Praktiken dahingehend als ideologisch, dass sie kinästhetische und visuelle Kategorien aufweisen, die die ausagierenden bzw. rezipierenden Akteure identitätsbestimmenden Gruppen zuordnen. Tänzerische Praktiken implizieren rhetorisch-vermittelnde und dekonstruktivistische Kräfte sowohl innerhalb der Strukturverhältnisse als auch im Gegenüber der Ausagierenden (Tanzende) und der rezipierenden Akteure (Publikum). Tänzerische Praktiken entsprechen, reproduzieren und vermitteln zugleich die strukturimplizite illusio. Damit stehen tänzerische Praktiken als Vermittlungsmomente für Strategien politischer Interessen zur Verfügung. Franko formuliert relevante Fragen zum Verhältnis des Politischen zu tänzerischen Praktiken.94 Es können auch historische Umstände sein, die das Sprechen über das Politische im Tanz rechtfertigen. So ist der Moment zu konstatieren, in dem tänzerische Praktiken für politische Interessen als Vermittlungsmomente genutzt werden. Die damit verbundenen Veränderungen können sowohl historische als auch ästhetische Bestimmungen betreffen. Inwiefern ist es politischen Praktiken aber möglich, tänzerische Praktiken zu kontrollieren bzw. ihren Interessen entsprechend zu manipulieren? Diese Indikation ist von den symbolischen Werten und Verhältnissen der (symbolischen) Macht abhängig. Desweiteren ist sie an den

93 Abraham: Der Körper im biographischen Kontext, S.112/113. 94 Franko: Dance and the Political, S.5/6, sowie ausführlicher S.4–18.

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(relativen) Grad des Autonomiestatus der tänzerischen Praktiken gebunden. Darüber hinaus verfügen tänzerische Praktiken dahingehend über ein politisch Unbewußtes, insofern der Effekt der Verschleierungsstrategien seitens der symbolischen Macht funktioniert. Sobald dieser Moment aufgedeckt ist, wird das implizite Politische offenbar. Das betrifft in besonderer Weise extreme Situationen stark dominanter Politiken (Diktaturen und totalitäre Systeme) und Identitätskrisen bzw. Identitätskonstituierung mit den verbundenen politischen Behauptungsstrategien (Populismus, Postkolonialismus).95 Rechtssystem als Konvention Der ‚Funktionsmechanismus IKE‘ entspricht einer institutionellen Struktur der Machtverhältnisse und der korrespondierenden Strategien des Agierens. Innerhalb dieser spezifischen Relationen werden Werte und Definitionen bestimmt, die in der Legitimierung durch die symbolische Macht ein Rechtssystem bzw. einen begrifflichen Kanon konstituieren. Die geltende Gesetzgebung und die offiziellen Rechte fügen sich in das homologe Bild der Strukturverhältnisse ein. Sie entsprechen einer Kodifizierung und Verallgemeinerung von herrschenden Kräfteverhältnissen. Dementsprechend sind der Gesetzgebung und Rechtsprechung die grundlegende doxa und spezifischen Interessen seitens der Gesetzesmacht inhärent. Den kohärenten offiziellen Standpunkt, der Gesetz und Recht generiert und durch diese wiederum legitimiert wird, ordnet Bourdieu daher als zu einer ideologischen Ordnung zugehörig ein. Die ideologische Ordnung versteht sich als dem offiziellen Standpunkt zugehörige symbolische Relationen, legitimierte Definitionen und Positionen. Aus diesem Begründungszusammenhang heraus können die bestehenden Gesetze und Rechte den erfassten Strategien sowie in weiterführender Interpretation den deklarierten und latenten Interessen der herrschenden Positionen zugeordnet werden. Die Weise des Vermittelns und Ausagierens der Konventionsinhalte liegt in der Verantwortung der agierenden Positionen der symbolischen Macht. Das betrifft für den Tango die Strategie der Diskursanpassung innerhalb des Anerkennungsprozesses: die Anpassung von Definitionen und Textdokumenten an die Vorgaben der Konvention.

95 Franko: Dance and the Political, S.3–18. Franko führt aus: „With the development of modern dance in Germany and North America earlier in the twentieth century, the body in motion became a choreographic touchstone of national identity. [...] In the I930s and I940s dance entered the field of ideological conflict between capitalism, fascism, and communism in America and Western Europe.“ Ebd., S.4.

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Innerhalb der als ideologisch gekennzeichneten Strategien des Politischen ist der Begriff der Kultur zu verorten. Winter bringt den neueren Kulturbegriff in einen direkten Zusammenhang mit Praktiken der Macht (wertsetzend und regulierend): „Es überrascht nicht, dass der Aufstieg des Kulturbegriffs mit dem Auftauchen und der Legitimation neuer Formen und Akteure der Macht verbunden war: einerseits mit einer neuen Klasse von professionellen bürgerlichen Intellektuellen, deren Macht sich durch ihr Wächteramt über den Bereich von Kultur, Sinnstiftung und Interpretation definierte, und andererseits mit der Möglichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer neuen Form von Macht – mit dem Raum der Ideologie oder der Herrschaft durch Konsens.“96 Eng an das benannte ideologische Verständnis der Kultur ist die Strategie der Gleichsetzung von Hochkultur als akademische Kultur und die Unterscheidung von Hochkultur und populäre Kultur gebunden. Diese Setzung eines elitären Kulturbegriffs findet sich in der Grundbestimmung des kulturellen Erbes mit dem generierten ‚Funktionsmechanismus IKE‘ und den Strategien der Offizialisierung wieder. Das als Gegenkonzept benannte funktionelle Verständnis von Kultur fundamentiert auf der Trennung des benannten und als symbolisch gesetzten Werts der kulturellen Elemente und deren an Körperlichkeit, Zeitlichkeit und an inkorporierte Wissensbestände gebundenes praktisches Agieren.97 Bildungssystem und Zensurmechanismen Der ‚Funktionsmechanismus IKE‘ entspricht einer Reproduktionsfunktion, die durch die symbolische Macht in ihren Interessen, Definitionen, Wertsetzungen und Strategien bestimmt wird. Neben dem Rechtssystem übt das Bildungssystem eine zentrale Vermittlungs- und Umsetzungsfunktion der Wertsetzungen und legitimierten sowie distinktiven Praktiken aus. Neben dem Begriff der Kultur steht der Begriff der Bildung für ein zentrales distinktives Element. Beide Begriffe und ihre Vermittlungen in der Praxis sind durch die Interessen und Strategien der symbolischen Macht konditioniert. Beide Begriffe sind ebenso als Grundpfeiler für die Idee des kulturellen Erbes zu kennzeichnen. In dieser Bestimmung von Bildung kann sie als eine spezifische Form verstanden werden, die das kulturelle Gedächtnis in der sich modernisierenden Gesellschaft annimmt.98

96

Winter: Perspektiven der Cultural Studies, S.19/20.

97

Vgl. bei Winter: Perspektiven der Cultural Studies, S.19/20.

98

Der Begriff Bildung, griechisch ‚paideia‘, später von Varro und Cicero mit ‚humanitas‘ übersetzt, bezeichnet im Hellenismus jenen Komplex aus Lebensformen, Kulturen, Sport und klassischen Texten, der es den unter die Barbaren verschlagenen

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Einen funktionellen Aspekt des Reproduktionsprozesses bilden die mit den Praktiken der Wertsetzung und Vermittlung bedingten Zensurmechanismen. Die formalisierenden Praktiken realisieren die Homologisierung der Artikulationsformen und des Habitus der Akteure. Damit bedingen sie die Reproduktion des offiziellen Standpunkts. Sie erwirken innerhalb des Bildungssystems und des akademischen Felds eine Form institutioneller Zensur. Die Definitionen der Zugangskriterien und der legitimierten Aussagen sind innerhalb dieser beiden Bereiche im Sinne des herrschenden Standpunkts definiert, dass nichtkohärente Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien nicht in offizieller und legitimierter Weise praktiziert werden können.99 Die Bildungsinstanzen setzen als die autorisierten Vermittlungsakteure der symbolischen Macht deren Wertsetzungen und legitimierten Praktiken in die Praxis um. Zugleich sanktionieren bzw. nicht vermitteln sie nichtlegitimierte Werte und Praktiken. In gleicher Weise realisiert die ‚Academia de Tango‘ als die autorisierte Instanz der symbolischen Macht UNESCO deren Wertsetzungen, Legitimierungen, Sanktionierungsmaßnahmen und Bestimmungen der Formalisierung für die kulturelle Praktik Tango. Der Limitierungseffekt als eine Funktion des Zensurmechanismus wird beispielsweise in der Frage nach der Auswahl im Anerkennungsprozess um kulturelle Güter offensichtlich. Der diskursive Wi-

Griechen erlaubte, sich als Griechen zu manifestieren und sich ‚als eine privilegierte Klasse‘ und als ‚in ihrer gesellschaftlichen Stellung der Masse der Einheimischen‘ weit überlegen zu profilieren. Vgl. Assmann: Arbeit am Nationalen Gedächtnis, S.13. Assmann verweist darüber hinaus auf die Funktionen von Bildung, wie sie bereits von Herder und Humboldt benannt sind. Ihnen zufolge ist Bildung: „die Form von Kultur, die sich mit der Geschichte verbündet. […] Neben Historisierung und Nationalisierung bedeutet Bildung auch, und das ist ihre dritte Dimension, Verinnerlichung der Kultur.“ Ebd., S.24/25. Assmanns Ausführungen zur Genese der Bildungsidee könnten interessant für die Ideengeschichte des Kulturerbes sein. Vgl. dazu ebd., S.27–107/Kapitel II. 99

Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie, S.226. In diesem Sinne bezeichnet Bourdieu Denkgemeinschaften (homologer Artikulationsformen und Inhalte) als (verschleierte) Bildungsgemeinschaften. Siehe dazu Bourdieu: Zur Soziologie der Symbolischen Formen, S.106/107. Als ein Beispiel kann die Beschreibung der Genese der Hochsprache als ein normiertes Produkt herangezogen werden. Vgl. Bourdieu: Was heißt sprechen, S.21–25; ebenso die Ausführungen zur PAu [Pädagogische Autorität], PA [Pädagogische Aktion], PAr [pädagogische Arbeit] sowie deren Verhältnisse und Funktionsmechanismen. Bourdieu/Passeront: Grundlagen einer Theorie der Symbolischen Gewalt, S.12–62, insbesondere S.36–49.

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derspruch liegt in der wertsetzenden und legitimierenden Macht der staatlichen Institutionen und der verbal deklarierten Formel des Kulturerbes. Ein weiterer Effekt ist die Definition der legitimierten Ausdrucksweisen innerhalb eines lokalen, bestimmten Raums. Dazu zählen insbesondere Sprachweisen, Wahrnehmungsweisen und Körpergebrauch. Für den Tango konnten dafür der ‚lunfardo‘, die Tango-Typologien und die musikalischen Interpretations- und Tanzweisen, ebenso wie die signifikanten Habitusformen des Tanguero, des Melancholischen und des Porteño benannt werden. Politische Vereinnahmung In der Konsequenz kann das Konzept kulturelles Erbe für eine Strategie der Reproduktion von Machtverhältnissen und von Hegemonieanspruch im Interesse der an die UNESCO-Konvention gebundenen Staaten vereinnahmt werden. Indem sie auf die Erzählungen der Nation verweist, benennt Baxmann innerhalb des Konzepts kollektives Gedächtnis die Wiederentdeckung der Folklore als ein nationales Projekt. Sie beschreibt ein enges Zusammenspiel mit den politischen (ideologischen) Strategien der modernen nationalen Gesellschaften.100 Zu diesen geschaffenen, im Sinne von wieder erinnerten, regionalen Traditionen zählt sie Bräuche, Architektur, Musik- und Bewegungskulturen sowie Gastronomie. Die Wirksamkeit der Bindung von nationaler Erzählung an spezifische regionale kulturelle Praktiken (kommunitäre Praxis) besteht darin, dass die Inhalte und Elemente dieser Erzählung in der Körperlichkeit der Individuen (Gedächtnisort) verankert werden.101 Diese Beschreibung einer politischen Verein-

100 Baxmann formuliert: „Die Wiederentdeckung der Folklore erfolgte im Kontext moderner Strategien der Nationenbildung in Europa und beruhte auf einem neuen Modell der Nationen, die in den regionalen Kulturen versinnbildlicht war. Die Erfindung dieser regionalen Kulturen und ihrer Kohärenz ist also Teil des ‚Projekts der Moderne‘.“ Baxmann/Cramer: Deutungsräume, S.25. Neben der politischen Funktion verweist Baxmann auf die Tourismusindustrie, die sich der regionalen kulturellen Praktiken und Eigenheiten bedient. Ebd. Zu den ‚Erzählungen der Nation‘ vgl. Assmann/Friese: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, S.355. 101 Am Begriff der Folklore beschreibt Baxmann diesen Wirkungszusammenhang: „Indem sie über kollektiven Rhythmus, Bezug auf traditionelle Bewegungs- und musikalische Formen Identität performativ herstellt, trägt sie dazu bei, abstrakte Konzepte wie ‚Nation‘ oder ‚Region‘ zu emotionalisieren und im Tiefenraum der Gesellschaft zu verankern. Die ‚Heimat‘ avancierte zur Projektionsfläche für Sehnsüchte nach Gemeinschaft, die vorzugsweise über Feste und Tänze verkörpert wurde.“ Baxmann/Cramer: Deutungsräume, S.25.

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nahmung kann parallel zu den Funktionsweisen der UNESCO-Konvention IKE, den korrespondierenden intendierten Narrationen, den Strategien des Politischen sowie der Vermittlungs- und Realisierungsprozesse gesetzt werden. Im Rahmen seiner Studien zum mexikanischen Kulturerbe-Prozess konstatiert Garcia Canclini in erster Linie unter dem Aspekt ‚los usos del Patrimonio‘ die Nutzung des Kulturerbe-Titels sowie des gesamten korrespondierenden Umsetzungsprozesses im Interesse der Harmonisierung und Moderation sozialer Prozesse. Ausgangssituation ist eine soziale Ungleichheit der (Aus-)Bildung und des Besitzes materieller Güter zwischen den sozialen Klassen, den Ethnien und weiteren sozialen Gruppen bzw. Gruppierungen. Das betrifft ebenso den Zugang zu traditionellen und vormals gemeinsamen kulturellen Gütern. Diese Heterogenität ist nun Ausgangssituation für die privilegierte Aneignung eines als solches bestimmten kulturellen Erbes und wird als allgemeines Interesse deklariert. Die Deklaration versteht Garcia Canclini als ein funktionelles Instrument in der strategischen Reproduktion der hegemonialen Ordnung, der sozialen Differenzen und verbundenen limitierten Zugang zur Produktion, Verbreitung und Vermittlung von spezifischen Gütern und Wissensbeständen. Allerdings ist dieser Funktionsmechanismus nicht auf die Oppositionen zu den Machtpositionen hegemonialer Verhältnisse und auf die untergeordneten populären Klassen zu reduzieren. In den Verhandlungen um ökonomische, politische und symbolische Belange sind drei miteinander und gegeneinander agierende Gruppen von Akteuren zu differenzieren: der private Sektor, der Staat bzw. staatliche Instanzen und die sozialen Bewegungen.102

102 Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, insbesondere S.18–20. Natürliche und materielle Kulturerbe-Güter offerieren sich den Akteuren als Ressourcen hinsichtlich der Verbesserung ihrer materiellen und laboralen Situation. Der Staat bzw. die staatlichen Instanzen nehmen eine ambivalente Position gegenüber dem deklarierten kulturellen Erbe ein. Grundlegend wird es als ein integratives Element der Nationalität bewertet und deklariert. Im Zuge dieser politischen Strategie kehrt sich das Anliegen der Bewahrung des lokalen kulturellen Erbe in die Umbewertung desselben in kulturpolitische Abstraktionen in der Funktion von Symbolen einer nationalen Identität. Garcia Canclini konstatiert für das als ein zu bewahrendes und zu nutzendes allgemeines Gut deklarierte kulturelle Erbe eine Entwicklung hin zu einem Interesse der sozialen Bewegungen. War das Thema kulturelles Erbe bisher weder in der Kulturpolitik, noch in progressiven Gruppierungen benannt, so formieren sich mit dem Prozess der unkontrollierten Urbanisierung, dem demographischen Wandel und den ökologischen Gefahren soziale Bewegungen, welche so-

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Verantwortung der Akteure und politischen Instanzen In der Schlussfolgerung aus der Differenzierung der Interessengruppen in Bezug auf das kulturelle Erbe bleibt mit Garcia Canclini zu konstatieren, dass die Realisierung des Anliegens der UNESCO-Konvention IKE der Bewahrung des kulturellen Erbes nur dann erfolgreich sein wird, wenn die betreffenden Akteure, Gruppierungen und Instanzen ein eigenes Interesse darin erkennen. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Bewahrung des kulturellen Erbes in einer Weise vermittelt sein muss, dass dessen Notwendigkeit, insbesondere für das Wohlergehen der eigenen Position, von den individuellen Akteuren erkannt wird. Es kann in den Debatten zum kulturellen Erbe nicht nur um die Formalitäten, Techniken und Praktiken der Bewahrung gehen, sondern es muss um die Auswahl der zu deklarierenden Güter, ebenso wie um die Funktionen und Werte kultureller Güter für den Einzelnen und für die Gemeinschaft debattiert werden.103 Als Konsequenz aus diesen Bestimmungen der konditionierten und konditionierenden Verhältnisse der symbolischen Macht sowie des Reproduktions- und Vermittlungsprozesses stellt sich die Frage nach der Verantwortung der einzelnen Akteure in der Praxis. Sie agieren in einem Raum des Möglichen, der durch die symbolische Macht bedingte Pflichten, aber auch die (noch) nicht kontrollierten bzw. sanktionierten Möglichkeiten und Optionen umfasst. Für diesen Funktionszusammenhang bietet Stolleis einen denkbaren Ausweg mit dem Rückgriff auf den individuellen Akteur und seine Dispositionen für sanktionierende bzw. autorisierende Praktiken an. Im Ausüben ihrer Funktion korrigieren die individuellen Akteure die Institution bzw. den Funktionsmechanismus und können sie verändern. Dementsprechend definiert Stolleis einen ‚klugen Staat‘ als notwendig konditioniert von den Qualitäten und Dispositionen der ihn besetzenden Akteure. Der gesamte Reproduktionsprozess ist letztendlich konditioniert durch das individuelle legitimierende Agieren der Akteure auf allen Ebenen des Institutionalisierungsgrads und in allen Bereichen der Strukturverhältnisse.104

wohl die Lebensqualität im urbanen Raum als auch materielle Güter desselben zu bewahren notwendig erachten. Ebd. S.20–22. 103 Garcia Canclini: Los usos sociales del Patrimonio Cultural, S.22. 104 Fried/Stolleis: Wissenskulturen, S.61–72. Stolleis formuliert detaillierter: „Staatliche Einrichtungen, ja der Staat insgesamt, sind also lernfähig. Sie können trotz wechselnder personeller Besetzung Informationen aufnehmen und speichern, sie können sie wieder abgeben, und sie können ihr Handeln an Informationen ausrichten. Sie sind reaktionsfähig.“ Ebd., S.72.

Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis Denn es spiegelt unser Leben. Leben ist Bewegung. Wenn Sie sich nicht mehr bewegen, sind Sie tot.1

Die Motivation für die vorliegende Analyse lag zum einen im Erfassen der Veränderungen der kulturellen Praktik Tango sowie der korrespondierenden (latenten) Interessen und Strategien mit dem Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe; zum anderen darin, im Rahmen einer theoretischen Diskussion einen erweiterten Begriff inkorporierter Wissensbestände, im Besonderen einen Begriff von Bewegungswissen zu erörtern. Als eine die kulturelle Praktik Tango betreffende Untersuchungsperspektive erweist sich eine Analyse der sich weiterhin verändernden Strukturverhältnisse sinnvoll. Damit können sowohl die Entwicklung in der Praxis als auch Konsequenzen in Bezug auf die hypothetischen Annahmen auf Fundament der erarbeiteten Kategorien ausgewertet werden. Als Konsequenz aus den gewonnenen Ergebnissen können darüber hinaus in Form einer Perspektivöffnung der Wert des Immateriellen und der Begriff Bewegungswissen im Verständnis eines immateriellen Wissensbestands (neu) formuliert werden. Hierfür sei zunächst konstatiert, dass im Forschungsdiskurs Wissensbestände des Immateriellen, insbesondere Bewegungspraktiken, noch immer marginalisiert sind. Die gegenwärtigen Forschungen innerhalb der Kultursoziologie und der Dance Studies, ebenso wie die transdisziplinären Diskussionen um praxeologische Zugänge führen dazu, dass Bewegung und korrespondierende Wissensbestände zunehmend Forschungsthema und als Herausforderung für etablierte Begriffe von Wissen sichtbar werden.2 Eine Perspektive die-

1

John Neumeier in stern. 9/2012, S.118.

2

Brandstetter/Wulf: Tanz als Anthropologie, S.93; Bourdieu: Regeln der Kunst, S.11.

306 | Kulturerbe Tango

ser Entwicklung ist die Konstituierung immaterieller Praktiken als (legitimierte) Wissensordnung.

DAS IMMATERIELLE ALS WERT UND WISSENSORDNUNG Die positive Bewertung des Konzepts immaterielles Kulturerbe öffnet die Perspektive dafür, die den Praktiken impliziten immateriellen Bestimmungen als eine Wissensordnung zu konstituieren. Das meint sowohl deren Legitimierung als symbolischer Wert innerhalb der Machtverhältnisse als auch deren Ausagieren als gelebtes kulturelles Erbe in der Praxis.3 In der Konsequenz aus der Diskussion um die Zuordnung kultureller Elemente zur materiellen oder immateriellen Kategorie ist zu konstatieren, dass die Trennung der Qualitäten Materialität und Immaterialität nicht aufrecht zu halten ist. Der Agierende ist unmittelbar an die wahrnehmungskonditionierenden und wertsetzenden Bestimmungen beider Qualitäten gebunden. Aus der vorangegangenen theoretischen Diskussion heraus kann das Argument formuliert werden, dass die signifikante Qualität kultureller Praktiken in der notwendigen Akteurgebundenheit, den Bestimmungen der Körperlichkeit bzw. Körpergebundenheit und den inkorporierten Wissensbeständen, ebenso wie in der lokalen Verortung, Prozesshaftigkeit und Zeitlichkeit liegt.4 Im Hinblick auf die Konstituierung einer Wissensordnung inkorporierter und somit körpergebundener Wissensbestände wird am Beispiel der Bewegungspraktiken deren Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwicklung erörtert und ein

3

Zu Argumentationen zum Zusammenhang von Kulturerbe und Tanz vergleiche aus-

4

Vgl. dazu die Aussagen der erweiternden Literatur des lateinamerikanischen Diskur-

führlicher bei Wulf in Brandstetter/Wulf: Tanz als Anthropologie, S.121–131. ses: „La (im-)posibilidad de distinguir entre patrimonio tangible e intangible dio lugar a un gran número de discusiones por parte de sociólogos, folklorólogos y antropólogos culturales y sociales que han comenzado a actuar como funcionarios, expertos y consultores gubernamentales a partir de esta introducción de lo intangible al patrimonio [...] La declaración de la intangibilidad del patrimonio enmarca, entonces, lo memorable y preservable como conocimiento transmisible. Sólo a condición de separar tanto las obras del espíritu humano como las habilidades que las mismas suponen de los cuerpos de las personas que los producen puede un mito, una leyenda, un ritual o una ceremonia, ser considerada intangible.“ Carozzi: Carlos Gardel, el Patrimonio que sonrie. in Horizontes Antropológicos, S.79.

Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis | 307

Bewegungskonzept skizziert. Es werden Argumente aus dem Forschungsdiskurs zusammengetragen sowie Ansatzpunkte für die Praxis aufgezeigt.5 Für das mit dem Erkenntnisinteresse formulierte Anliegen der Bestimmung eines Begriffs Bewegungswissen wird zunächst der Bewegungsbegriff in seinen theoretischen Zugängen und Aspekten erfasst. Darauf aufbauend kann dann eine Perspektive für einen Begriff von Bewegungswissen konkretisiert werden. Ein Begriff von Bewegung und Bewegungswissen Die Genese eines Konzepts Bewegungswissen kann bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Allerdings kam es immer wieder zu Brüchen in der Wahrnehmung, der Funktionalisierung und Bewertung von Bewegungspraktiken, so dass bis dato kein fundamentierter Begriff von Bewegungswissen formuliert werden kann. Im Rahmen der Paradigmenwechsel ausgehend vom cultural turn, über den body turn und performative turn, bis hin zum practical turn ist gegenwärtig, verstärkt seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Berücksichtigung und Wertsetzung von Bewegungspraktiken zu verzeichnen.6

5

Zur Formulierung einer theoretischen Grundlage den Somatischen Pragmatismus vgl. bei Shusterman: Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil; für die Begriffsbildung von Bewegungswissen bei Gehm/Husemann/Wilcke: Wissen in Bewegung. Theoretische und forschungspraktische Fragestellungen zum Verhältnis von Bewegungspraktiken und gesellschaftlicher Entwicklung formuliert Reckwitz Ansatz zur Etablierung einer Bewegungssoziologie: Welchen Stellenwert kann dem Begriff der Bewegung in einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorie der Moderne zukommen? Inwiefern kann Bewegung als heuristische Kategorie zum Verständnis dessen beitragen, was moderne Kultur ausmacht? Welche reale Form der Bewegung strukturiert den Habitus moderner Subjekte, welche Form körperlicher Bewegungen, mentaler und emotionaler Bewegungen, Bewegungen von Artefakten ist für die Dispositionsstruktur moderner Subjekte kennzeichnend? Reckwitz in Klein: Bewegung, S.157/158.

6

Der Ausgangspunkt in der deutschen Entwicklung, die als richtungsweisend für den allgemeinen Forschungsdiskurs zu Bewegungspraktiken und Tanz gilt, sind die 20/30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wichtige VertreterInnen: Elsa Ginder/Heinrich Jaedy (20er), Gerda Alexander (Eutonie) (30er), Irmgard Bartenieff/Laban, Hellerau/Monte Veritas, Kurt Jooss/Sigurd Leeder (20/30er); ein Bruch ist für die Nazizeit zu verzeichnen, verbunden mit einer Emigrationsbewegung zahlreicher Bewegungspraktiken Ausagierender: Martha Graham, Limon/Humphrey, Alexandertechnik, Ideokinese (Todd), Feldenkrais (40/50er), Cunningham (50er), die Moderne, in Deutsch-

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Entsprechende Wissenskonzepte und Wissensbegriffe finden sich in verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen: im praxeologischen Ansatz die körpergebundene praktische Erkenntnis und das inkorporierte Wissen (der Begriff körperlicher Erkenntnis und körpergebundenen Wissens sowie die Bedeutung der an Körperlichkeit gebundenen Erkenntnis- und Wissensformen); der Wissensbegriff im Mimesiskonzept als ein körpergebundenes praktisches Wissen (der Körper als Ansatzpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis und die Definition eines körperbasierten praktischen Wissens als performatives und soziales Wissen, für das die Mimesis als Vermittlungsprozess gilt); der Begriff Körperwissen in der Körper- und Kultursoziologie (Kennzeichnung des Körperwissens in seiner Doppelperspektivität des externen und des impliziten Körperwissens sowie der Begriff des impliziten Körperwissens mit den Aspekten Einverleibung, Naturalisierung, Speichermedium und Reproduktion); Wissenskonzepte der Bewegungswissenschaften (Körperwissen als Körpererinnerung der Bewegungs- und Muskelerinnerung: empraktisches und nichtreflektiertes Körperwissen); Wissenskonzepte der Tanzwissenschaften und Kultursoziologie als sich etablierende Bewegungssoziologie (Bewegungswissen als bewegungssoziologisches Konzept: Bewegungen als soziale Praktiken und Wissenskulturen als Teil eines Wissenskonzepts der Praxis). Theoretische Aspekte zu einem Begriff von Bewegungswissen Weitere theoretische Begriffe in Bezug auf das Immaterielle bzw. auf einen Begriff des kulturellen Wissens und der Bewegung haben sich als relevant erwiesen: benannte Aspekte der Körperlichkeit, insbesondere die kulturelle Materialität sowie der Aspekt des Empfindens und Spürens (das nicht-rationale Erfahren, Denken und Wissen vermittels des Körperlichen); das Bewegungskonzept fundamentierend auf einem Bewegungsbegriff als ein Grundprinzip der Gesellschaftskonstitution (praxeologische Perspektive des Konstituierten und des Konstituierens)7; die Bedeutung von Tanz in Bezug auf den Menschen und die Ge-

land Pina Bausch und v.a. amerikanische Praktiken: Susan Klein, Bennie Bainbridge Cohen, Eric Franklin, Müller (70er), Countertecnics (90er). 7

Ein Beispiel für die von Knorr-Cetina theoretische argumentierte aufzulösende Hierarchie der Wissensproduktion, vor allem durch den Einbezug von praktischem Wissen im Sinne der Wissenskulturen, führen Gehm/Husemann/Wilcke an. Sie verweisen auf den Ansatz der Tänzerin und Choreographin Pina Bausch, welche „damit begann, ihren Tänzern Fragen zu stellen und sich ihre Antworten anzuhören, wodurch sich die Positionen der Wissenden mittels der Rede neu verteilte.“ Lepecki konstatiert hierin einen epistemologischen Bruch. Das Werk Pina Bauschs bestätigt somit die Forderung

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sellschaft (soziale Konstituierung, Formung und Vermittlung); einzelne Begrifflichkeiten, wie der Begriff des Authentischen, Kategorien der Bewegung wie Körperlichkeit, Raum und Zeit, die Aspekte Prozesshaftigkeit sowie Art und Weise,8 Wissensformen im Wandel und gesellschaftliche Funktionsmechanismen (Kognition und Mimesis als Prozess des Erkennens, Wahrnehmens, Lernens); mögliche Fundamente für ein Konzept kulturelles Erbe, insbesondere mit Rückgriff auf die Aspekte Speicherinstanzen und Archiv-Konzepte (Erinnerungsräume und Körper als Gedächtnisort), Institutionen sowie institutionelle Strukturen und Praktiken, auf das Verhältnis der Begriffe Gedächtnis, Erbe und Kultur sowie der Begriff der Traditionen.9 Funktionsweisen des Bewegungswissens Innerhalb der Optionen des Denkens wird neben das rationale Denken gleichermaßen die vom Rationalen unabhängige, körpereigene Intelligenz der Wahrnehmung und Bewegung sowie die Sensibilität und Affektivität gestellt. Dementsprechend können Bewegung bzw. der Tanz ‚aus seiner Opposition zum Denken befreit werden‘, um sie als einen Aspekt ‚innerhalb der Möglichkeiten des Denkens‘, wiederum als ‚eine neue Möglichkeit des Denkens‘ zu denken.10

nach Legitimierung des praktischen Wissens und informeller Wissensformen. Zitat nach Gehm/Husemann/Wilcke: Wissen in Bewegung, S.117. 8

Diese benannten Kategorien stellen das Bewegungswissen in Opposition zum Körperwissen, wie es Roscher am Beispiel der Bewegungskünste der östlichen Kultur nachweisen konnte: Körperwissen steht für Ego-Bezogenheit als Äquivalent zu Akteur, Bewegungswissen steht für eine Situierung des Elements in Raum und Zeit als Äquivalent zu Habitus. Vgl. bei Roscher: Bewegung und Gestaltung.

9

Wie eine von Gehm/Husemann/Wilcke vorgenommene Zusammenfassung der von ihnen ausgewählten Beiträge zum Begriff der Bewegung und des Bewegungswissen aufzeigen kann, geht es im Bereich der Bewegungs- und Tanzpraktiken keineswegs darum, Wissen beliebig zu akkumulieren, sondern um einen „praktischen und sinnlich-intelligiblen Zugang zum Verständnis derjenigen Erfahrungsprozesse und Zusammenhänge, die Wissen hervorbringen und zugänglich machen“. Gehm/Husemann/Wilcke: Wissen in Bewegung, S.16–21.

10 Vgl. Wagner in Fischer/Alarcón (Hg): Philosophie des Tanzes, S.11. Diese Möglichkeiten können zueinander in Verhältnis gestellt werden: „Das macht das Denken an sich aber nicht unvereinbar mit dem Tanz. Denken ist ein spezifisches Werkzeug, das dem Menschen zur Verfügung steht. […] In der Aktion (Tanz, Bewegung, Improvisation) ist Denken immer langsamer als das physische Geschehen. So wird es zum Hin-

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In der Konsequenz kann formuliert werden, dass die verschiedenen Möglichkeiten des Denkens spezifischen Aspekten des Wahrnehmens und Agierens entsprechen sowie je nach Anliegen, Absicht und Sachverhalt relevant sind. Wagner bestimmt einen Begriff von Wissensgenerierung und -vermittlung innerhalb des erweiterten Begriffs von Denken, indem das Körperliche bzw. die körpergebundene Bewegung wie beispielsweise Tanz eine grundlegende Funktion innehat. Dem körpergebundenen Wissen und körpervermittelten Agieren wird eine nahezu visionäre Eigenschaft zugesprochen, die als ‚Widerstand gegen die Mechanisierung und Rationalisierung der Welt‘ benannt wird. Diese spezifische Funktion konstatiert Wagner mit der ermöglichten Pluralität des Erkenntnisvermögens.11 Es bleibt die Frage offen, inwiefern solche Vielheit gegeben ist; aber auch, inwiefern Vielheit für einen Erkenntnisgewinn notwendig zusammenzuführen ist. Es kann hinterfragt werden, ob körpergebundenes Wissen, dessen Erfahren, Vermitteln und Ausagieren in das rationalistische Wissenskonzept eingeordnet werden muss oder ob dieses Kategorisierungs- und Wertungssystem eine eigenständige Option ist. Eine weitere spezifische Funktion definiert sich mit einem Begriff von Bewegungswissen als kritisches Potential. Lepecki postuliert, dass Bewegung bzw. tänzerischen Praktiken ein solches einerseits als ‚freier Assoziationsraum‘ innerhalb legitimierter Strukturen, andererseits als ‚reflexive Praktik des Bruchs und der Störungen struktureller Verhältnisses‘ implizit ist. Davon ausgehend zeigt er für den gegenwärtigen Stand der künstlerischen Tanzentwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts dessen kritisches Potential auf. Sein Argument besteht darin, dass sich der künstlerische Tanz der westlichen Kulturtradition in einer gesellschaftlichen Ordnung der Moderne entwickelt hat. Eine ihrer grundlegenden Kategorien ist Bewegung im Sinne von Dynamik, Fortschritt und Mobilität. Hingegen sind die Machtstrukturen der Moderne, die die Verfügungsgewalt über das legitimierte Bewegungsverständnis innehaben, trotzdem an einer Stabilität ihrer Strukturverhältnisse gebunden. So können der Bruch und die Störung des immergleichen und doch dynamischen Bewegungsverlaufs der gesellschaftlichen Dynamik als ein signifikanter Moment im kontinuierlichen Bewegungsfluss verstanden werden. Insofern Räume – als physische Räume und als mentale Assoziationsräume – existieren, in denen Subjekte ihrem Bewegungsfluss (Bewegungsformen und Bewegungsweisen sowie eigene Dynamiken und Rhythmen) ausagieren können, ohne sich auf legitimierte Bewe-

dernis, wenn der Tänzer die Lösungen und Vorschläge, die das Denken findet, wichtiger nimmt als die des Körpers.“ Ebd., S.14. 11 Wagner in Fischer/Alarcón: Philosophie des Tanzes, S.8–13.

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gungsformen beschränken zu müssen, kann ein wirksamer Bruch erwirkt werden. 12 Aus dieser Doppelwertigkeit der Bewegung heraus entstehen die für Lepecki tanzspezifischen Ansatzpunkte der Reflexion und Kritik bzw. die Option als kritisches Potential.13 Eine weitere spezifische Funktion der (insbesondere Tanz-) Bewegung im Rahmen und Verständnis eines sozialen Bewegungskanons impliziert das Argument der sozialen Formung. Für die grundlegende theoretische Frage, ob und inwiefern alles Soziale bzw. soziale Strukturen über die Praktiken des Körpers konstituiert sind, besteht bereits ein allgemeiner Konsens: das, was als die gewohnten normalen Bewegungspraktiken gilt, ist nicht natürlich gegeben, sondern wird sozial geformt. Dieser Kanon an gewohnten Bewegungsformen ist dementsprechend kultur-, gesellschafts- bzw. gruppenspezifisch unterschiedlich. Innerhalb des gegebenen Themenbereichs stellt sich daher die Frage danach, warum die Tanzbewegung nicht im Kanon der normalen Bewegungen in der okzidentalen Kultur eingeschlossen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben; bzw. umgekehrt, was der Wiedereinschluss der Tanzbewegung in den alltäglichen Bewegungskanon bedeuten würde.14 Bewahrung und Vermittlung von Bewegungswissen Das formulierte Fundament an Argumenten für die Konzeption eines Begriffs von Bewegungswissen fügt dem erweiterten Begriff des Körperwissens einen dritten Aspekt hinzu. Er fokussiert den Aspekt des Bewahrens und Vermittelns und fragt danach, in welcher Weise Körpergebundenheit und Prozesshaftigkeit des inkorporierten Wissens dem Akteur als ein Wissensbestand zur Verfügung stehen. Die Notwendigkeit dessen begründet sich in der fortlaufenden Vermehrung von als Wissen deklarierten Wissensbestände. Damit notwendig verbunden

12 Lepecki legt die These einer funktionalen Verbindung zwischen dem legitimierten Bewegungskonzept, der Moderne als gesellschaftliche Ordnung und den politischen Praktiken zugrunde. Vgl. dazu auch Brandstetter/Wulf: Tanz als Anthropologie, S.98. 13 Lepecki: Option Tanz, S.23. Lepecki benennt auf Basis seiner Analysen zeitgenössischer Tanzwerke kritische Aspekte in Bezug auf die konstituierenden Elemente westlichen Bühnentanzes, die sich in den künstlerischen Arbeiten finden: Solipsismus. Stillstand. Linguistische Materialität des Körpers. das Kippen der vertikalen Ebene der Darstellung. das Straucheln auf rassistischem Terrain. der Vorschlag einer Politik des Grundes. die Kritik am melancholischen Trieb im Herzen der Choreographie. Dazu ausführlicher bei Lepecki: Option Tanz, S.13ff. 14 Vgl. unter anderen Fritsch: Tanz, Bewegungskultur, Gesellschaft, S.85/86; sowie Brandstetter/Wulf (Hg): Tanz als Anthropologie, u.a. S.219/220 und 184/185.

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ist das Bewahren und Vermitteln dieser, aber auch das Vergessen spezifischer, eben nicht als Wissen deklarierter Wissensbestände. Um zukünftigen Entwicklungen gerecht werden zu können sowie um Innovationsboden durch eine Vielfalt an Wissensbeständen zu garantieren, müssen diese entsprechend bewahrt und vermittelt werden. Zum einen ist das im Sinne des Archivs anhand von Dokumenten und spezifischen Elementen möglich, zum anderen vermittelt und ausagiert als lebendiges Erbe.15 Für den Bereich des Tanzwissens können stellvertretend Beispiele für eine solche notwendige Neukonzeption der Wissensbewahrung und die daran anschließenden Ansätze auf theoretischer Ebene vorgestellt werden. Das ist zum einen das Archivkonzept des AID – Archives Internationales de la Danse. In diesem Konzept wird ein durch Medienträger vermitteltes Archiv aufgebaut. Ausgehend von den Bestimmungen des Bewegungswissens und im Spezifischen des Tanzwissens als ein inkorporiertes Kapital, werden an einem Ort durch eine konzeptionelle Strategie Wissensbestände zusammengeführt. Medien sind hierbei, neben den herkömmlichen wie Objekte, Photo- und Filmaufnahmen, auch der Körper selbst in seinem praktischen tänzerischen Agieren.16

15 Assmann/Hölscher argumentieren: „Nicht erst in den Bibliotheken, sondern schon in einer jeden Generation sollte daher neben dem Neuen auch das Alte bewusst sein“. Assmann/Hölscher: Kultur und Gedächtnis, S.286/287. 16 Dazu bei Gehm/Husemann/Wilcke: Wissen in Bewegung, S.219–226. Zur Intention der ‚Archives Internationales de la Danse‘, Bewegung als eigenständige Wissensform zu begründen: „Es ging nicht nur darum, das Wissen über den Tanz zusammenzutragen, sondern es im Austausch zwischen Praktikern, Theoretikern verschiedener Couleur und interessierten Laien für die Praxis fruchtbar zu machen. Die AID organisierten Ausstellungen, choreographische Wettbewerbe, Vorträge, Tanzdarbietungen verschiedener Stile sowie Herkunft und gaben eine Zeitschrift heraus, die ein breites Publikum ansprach, von Tänzern und Choreographen über Wissenschaftler bis zu interessierten Laien. […] Die Vielfalt der zusammengetragenen Materialien reichte von tänzerischen Darstellungen in den Künsten über Aufzeichnungen von Choreographien, Tanz- und Musiknotationen, ethnologischem Material und Volkstänzen bis hin zu Dokumenten von Tanztechniken aller Kulturen. Der Körper als Gedächtnisort, als Speicher von Bewegungswissen, Sinneserfahrungen und alternativer Sinnesarrangements stellte überkommene Vorstellungen von Archiv und entsprechende Kulturmodelle in Frage. Die Praktiken der Sammlung, der Konservierung und der Dokumentation mussten für die Erstellung eines Archivs der Bewegung und des Tanzes neu durchdacht werden.“ Ebd.

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Zum anderen kann das ‚Performative Archiv‘ von Susan Melrose als eine konzeptionelle Perspektive angeführt werden. In diesem Archivkonzept löst sich das Archiv von medienvermittelten Inhalten ebenso wie von zeitversetzt und ortsfern nachvollzogenem Wissen. Im Sinne des Performativen besteht das Archiv im konkreten Moment des Tanzens bzw. im Kreieren, Präsentieren und Rezipieren des Tanzens. Hier wird der Erkenntnis Folge geleistet, dass jede ausagierte Praktik das gesamte korrespondierende Wissen impliziert.17 Ein drittes Beispiel findet sich mit dem von Claudia Jeschke initiierten TanzRekonstruktions-Projekt. Als Ausgangspunkt ihrer Befassung mit der IdomeneoChaconne von Mozart war das Thema von ‚Körper-Zeit‘ und ‚Zeit-Körper‘ zu setzen. Damit definierte sich ein Spannungsfeld zwischen den Repräsentationen von historischen Materialien und deren heutiger Vermittlung als quasi mobiles, tänzerisches ‚Museum auf Zeit‘. 18 Als Ausgangspunkt dieser Konzeption der Bewahrung und Vermittlung kann Labans Idee einer non-verbalen Bibliothek

17 Dazu bei Gehm/Husemann/Wilcke: Wissen in Bewegung, S.88/89. Zu Susan Melrose Konzept des Performativen Archivs findet sich detailliert: „Das Archiv, von dem Melrose spricht, ist nicht das Archiv, das etwas bewahrt, was ansonsten verloren wäre: nicht ein Archiv, das nach der Kunst kommt, wenn das Werk bereits abgeschlossen ist. Melrose behauptet, dass jedes Werk, weil es Komposition, Choreographie oder Inszenierung ist, bereits auch sein eigenes Archiv enthält. ‚The time of the archive‘ ist in allen Phasen künstlerischer Arbeit anwesend und in Melroses Interpretation auch das Medium, um den Kreislauf zu schließen und wieder neue Arbeiten, neue Schaffensprozesse in Gang zu setzen.“ Ebd. Weiterführend zu ‚Performance as knowledge‘: www.mdx.ac.uk/rescen/archive/PaK_mayo6/PaKo6_transcripts4_1html 18 Das ‚Museum auf Zeit‘, das nicht mehr eine Universalgeschichte ausstellt, sondern ‚zum Ort wird für die Wechselausstellungen, für behauptete Inhalte, und somit mit Theatralisierungen operiert, mit den inszenatorischen Visualisierungen endlicher Momente‘. Vgl. bei Huschka: Wissenskultur Tanz, S.159–161. Dazu detailliert Jeschke im Interview mit Huschka: „Die Musik suggeriert, die formalen Bedingungen der Zeit zu zitieren, die rasante Entwicklung neuer technischer Standards zu demonstrieren und einen persönlichen Ausdruck der Tänzer suchen. Wenn man sich auf die Geschichte und Atmosphäre bezieht, die von dieser Komposition angeboten werden, verbindet sich die Idomeno-Handlung mit der persönlichen Geschichte der beiden Mozarts sowie mit dem Verhältnis der zwei Vestris als Protagonisten an diesem speziellen Wendepunkt in der Tanzgeschichte.“ Ebd., S.160/161.

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gesetzt werden, in welcher er die Bewegungspartitur als ein ‚Gedächtnis der Werke als Erhalt der Körperzustände und Sprachen‘ propagiert.19 Bewegungspraktiken und Gesellschaft Es konnten bisher Argumente zu den Bewegungspraktiken und inkorporierten Wissensbeständen sowie zu deren Funktionen und Vermittlungsprozesse zusammengestellt werden. Eine Argumentationsbasis für zu konzipierende Projekte der Bewahrung und Vermittlung von Bewegungspraktiken umfasst neben diesen theoretischen Aspekten ebenso praxisrelevante Themen. Dazu zählen der Bildungsbegriff (Aspekt der Vermittlungsprozesse), Globalisierungseffekte (Aspekt der gesellschaftlichen Verhältnisse und Diskurse), Identität und Kreativität (Aspekt des Agierens in der Praxis). Bildungsbegriff (Aspekt der Vermittlungsprozesse) Der Bildungsbegriff ist im Zusammenhang mit den Vermittlungsprozessen inkorporierter und sogenannter nicht-rationaler Wissensbestände relevant in seiner Opposition von Bildung und Ausbildung. Assmann definiert diese treffend: „Der Begriff Bildung tritt […] als Ergänzung und Korrektiv neben das gezielte Erwerben von Spezialwissen und Sachkompetenz. Die Bildungsidee stellt den Kontrapost dar zur Tendenz wachsender Spezialisierung und Fragmentierung des Wissens. Sie erinnert daran, dass es nicht nur darauf ankommt, was man kann, sondern auch darauf, was man sein kann, nicht nur auf das, was man weiß, sondern auch darauf, wer man ist.“20 Solcher Art von Forderungen an die Bildung kann über das ganzheitliche Humanitätsideal zurück bis zu Platons Erziehungsbegriff verfolgt werden.21

19 Vgl. Louppé: Poetik des Zeitgenössischen Tanzes, S.299–303. Ausführlich zu Labans Konzeption in seiner Arbeit Principles of Dance & Movements; notations London. 20 Assmann: Arbeit am Nationalen Gedächtnis, S.9. 21 Zur Erläuterung eine Referenz auf Platons Erziehungsbegriff, mit dem die musischen Praktiken als Fundament für das später formulierte Humanitätsideal und als Ideal der Erziehung konstituiert wird: „Dort (in den beiden ersten Büchern der Gesetze) erklärt Platon, dass es zur vollkommenen Erziehung keineswegs ausreiche, wenn man den Menschen von Kindheit an mit Schmerzen und Schrecken vertraut mache, damit er sie beherrschen lerne. Vielmehr sollte der Mensch von jung auf auch mit den größten Genüssen und Freuden bekannt gemacht werden. […] damit meine er die musische Erziehung überhaupt […], die Entwicklung des Sinnes für Rhythmus und Harmonie in poetischen Ausdruck und Tanzgebärde.“ Buschendorf, in Assmann/Harth: Mnemosy-

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In einer kritischen Abhandlung zum Schulsystem begründet Illich schließlich die Forderung nach neuem Wissen, indem er zunächst den ‚Fehlglauben Schule‘ benennt und dessen Zurückweisung begründet, da: „das Lernen meistens das Ergebnis von Unterricht sei. Gewiß kann Unterricht unter bestimmten Umständen zu gewissen Arten des Lernens beitragen. Die meisten Menschen aber erwerben den größten Teil ihres Wissens außerhalb der Schule […].“22 Daran schließt er die Forderung nach einem Zugang zu einem breiten Spektrum an Wissensbeständen an: „Wenn der Mensch heranwächst, dann braucht er in erster Linie Zugang zu Dingen, Orten, Prozessen, Ereignissen und Informationen. […] Diese Verfügung wird heute weitgehend verwehrt. Der Zugang zu Fakten geht weit über eine wahrheitsgemäße Bezeichnung und Benennung hinaus.“23 Neben dieser Referenz auf Illich sei ebenso zur vertiefenden und Alternativen formulierenden Lektüre auf Freire und seiner Befreiungspädagogik verwiesen, in der jegliche Arten von Wissensbeständen zunächst als relevante und zu legitimierende berücksichtigt werden müssten.24 Globalisierungseffekte: Heterologie (Aspekt der gesellschaftlichen Verhältnisse und Diskurse) Wulf konstatiert Bezug nehmend auf den Prozess der Globalisierung zwei konträre Dynamiken: „Die eine zielt auf die Nivellierung kultureller Unterschiede und die Angleichung weltweiter Entwicklungen an universelle Normen und Werte, die andere betont die Differenz der kulturellen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen der Welt. […] Der Motor der einen Dynamik ist das kapitalistisch organisierte Weltwirtschaftssystem, das auf die globale Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen und Konsumwünschen ausgerichtet ist; die Triebfedern der anderen Dynamik sind die unterschiedlichen Traditionen, Lebensformen und Lebensperspektiven, die für die kollektive und individuelle Identität eine zentrale Rolle spielen.“25 Innerhalb dieses Widerspruches muss der einzelne Mensch in seiner Alltagswelt agieren,

ne, S.319; sowie eine Referenz auf Melanchthons Humanismus: „gründet auf der einen Seite auf der typisch humanistische Verbindung von sprachlich-literarischer Bildung und praktischer Philosophie. Die sprachlich-literarische Bildung ist unerlässlich, weil nur sie zu einer ‚humanen‘ privaten und öffentlichen Lebensordnung führt.“ Wiedenhofer, in Assmann/Harth: Mnemosyne, S.306. 22 Illich: Entschulung der Gesellschaft, S.30–32. 23 Illich: Entschulung der Gesellschaft, S.178. 24 Freire: Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis. 25 Wulf: Anthropologie der Kulturellen Vielfalt, S.9.

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ebenso wie es die inkorporierten Wissensbestände der Bewegungspraktiken zu bewahren und vermitteln gilt. Dazu sind Wulf zufolge neue Kompetenzen erforderlich. Zu diesen zählt er den Umgang mit ‚neuen Formen relativer Gewissheit‘ sowie ein ‚umfassendes Verständnis der Alterität anderer Menschen und Kulturen‘. Es bedarf dementsprechend einer Haltung, in der ‚das Fremde als Erweiterung der eigenen Lebenswelt‘ positiv bewertet und die konstituierende Situation einer relationalen Beziehung, in der sich ‚das Fremde und das Eigene erst als Fremdes und Eigenes herausbilden‘, da beide unabhängig voneinander nicht existieren, als grundlegend einer heterologen Gesellschaftsordnung erachtet wird. Ein Vermittlungssystem solcher Wissensbestände fokussiert die Vermittlung einer die notwendigen Kompetenzen umfassenden kulturellen Kompetenz.26 Der Einbezug entsprechender immaterieller Wissensbestände mit den Bestimmungen Körpergebundenheit und Vermittelbarkeit durch die Sinne erscheint naheliegend. Wulf zufolge kann solche kulturelle Kompetenz „in der Auseinandersetzung mit dem immateriellen kulturellen Erbe, d.h. mit den Lebens- und Arbeitsformen, den Ritualen und Tänzen anderer Kulturen; in der interkulturellen Kooperation zwischen Schulen und Universitäten; im Jugendaustausch“ in der Kennzeichnung als ein praktisches Wissen vermittelt werden.27 Innerhalb eines solchen Ansatzes für die Vermittlung spezifischer Wissensbestände zeigt sich als besonders notwendig, die Gefährdung kultureller Vielfalt zu thematisieren und Maßnahmen zu treffen, die kulturelle Vielfalt zu fördern. Die Schwierigkeiten liegen darin, einerseits dem Anspruch auf kulturelle Vielfalt gerecht zu werden, andererseits den Veränderungen der einzelnen Kulturen nicht normativ im Wege zu stehen.

26 Wulf: Anthropologie der Kulturellen Vielfalt, S.9/10 und S.11. Das entsprechende Vermittlungssystem definiert Wulf als Erziehung und Bildung im Verständnis interkultureller Bildung. Er benennt eine Reihe von Konfliktformationen sowie Aspekte von zentraler Bedeutung für das Gelingen interkultureller Bildungsprozesse. Dazu ebd. S.24/25, bzw. S.20–23. Ein solcher Entwurf von Wissensvermittlung entspricht auf einer weiterreichenden Ebene dem Anliegen des auf die kulturellen Praktiken referierenden immateriellen Kulturerbes. Wulf verweist darüber hinaus auf den ‚deLorsBericht‘ der UNESCO, in dem die Vision eines lebenslangen Lernen begründet wird. Darin insbesondere Kapitel 4: Das Fremde als Korrektur, S.27–30. 27 Zur Herausbildung entsprechender Kompetenzen umfasst die interkulturelle Bildung nicht nur die Vermittlung theoretischer Einsichten, sondern erfordert auch praktisches Wissen, das Menschen befähigt, sich unter den Bedingungen kultureller Vielfalt richtig zu verhalten. Vgl. Wulf: Anthropologie der Kulturellen Vielfalt, S.145.

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Identität und Kreativität (Aspekt des Agierens in der Praxis) Zwei weitere Argumente werden im Diskurs zu Bewegungspraktiken deutlich. Es geht einerseits um das Individuum in seinem Agieren, seiner Interaktion mit anderen und seiner Selbstwahrnehmung. Es geht andererseits um die Optionen dieses Agierens im Sinne eines Raums des Möglichen und der Art und Weise.28 Der erste Fokus richtet sich darauf, durch die Wahrnehmung der eigenen Bewegung Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln, wer man ist und wie man zu anderen steht; als auch inwiefern eigene Bewegung Einschränkungen unterliegen und welcher Art. Eine solche Art des Bewusst-Seins erfordert notwendig ein praktisches Agieren, um zu erfahren. Die Weitergabe von Wissensdaten kann das nicht erreichen. Es ist anzunehmen, dass ein umso größerer unbeschränkter Bewegungsraum einen weiteren Erfahrungshorizont ermöglicht.29 Ein zweiter Fokus richtet sich auf die möglichen Weisen des Agierens, im Besonderen auf kreative Praktiken, in deren Bedingtheit durch das allgemeine Niveau an (lebendigem) Wissen und (ausagierten) Praktiken. Demnach muss schöpferisches und spontanes Verhalten auf Gewohnheiten zurückgreifen können. Im Umkehrschluss bietet ein weiter Raum des Möglichen an bewussten und unbewussten Wissensbeständen die Bedingung für die kreative und vielfältige Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft.30

28 Zum Vertiefen des Aspekts der leiblichen Komponente individueller Agierender in Bezug auf inkorporierte Wissensbestände und tänzerische Praktiken sei verwiesen auf Abraham: Frauen. Körper. Krankheit. Kunst, insbesondere S.237–249; zum Aspekt Identitäts- und Subjektkonstitution in Bezug auf inkorporierte Wissensbestände und tänzerische Praktiken Klein: Tango in Translation, S.17ff. 29 In diesem Zusammenhang ein Verweis auf die Ausführungen Roschers: „anders als jene Methoden [trainingswissenschaftliche Methoden des Erlernens und Optimierens] sehe ich in der Anwendung einer Methode, die Bewusstheit im Bewegen provozieren kann, die Möglichkeit, die Haltung eines Menschen zu seiner Umwelt und zu sich selbst zu verändern, er selbst zu werden. Indem der Mensch eine Freiheit im Bewegen entfaltet, kann er seine eigene Lebendigkeit aufspüren. […] Wollen wir die Methode zum Erwerb der Freiheit auch an unsere Schüler weitertragen, so dürfen wir uns keinesfalls auf unserem Wissen darüber ausruhen. Denn es geht hier nicht um ein Bewusstsein, das wir ‚haben‘, sondern um ein Bewusstsein, das wie ‚sind‘.“ Roscher: Bewegung und Gestaltung, S.206/207. 30 Frank/Rippl führen detaillierter aus: „Es ist nicht gemeint, dass Gewohnheiten schöpferischem und spontanem Verhalten im Wege stehen müssten. Im Gegenteil: Dieses baut auf jenem auf. Es käme gar nicht zustande, wenn es nicht schon auf hochkomplexe Gewohnheiten zurückgreifen könnte, deren Sinnhaftigkeiten und Bedeutungen

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Zu berücksichtigende Aspekte und zugleich notwendige gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen, die das Anerkennen einer solchen Wissensordnung einfordern, sind: • • • •



Anerkennung immaterieller Werte als konstitutiv für Machtverhältnisse Anerkennung inkorporierter Wissensbestände als Potential der Entwicklung Forderung nach kulturpolitischen Konsequenzen Notwendigkeit von Konzepten der Wissensbewahrung und Wissensvermittlung von Bewegungswissen im Spannungsfeld zwischen Vergessen und Bewahren die Forderung nach lebendiger Kultur und lebendigem Erbe.31

ANSÄTZE FÜR DIE PRAXIS 32 Der konkreten Anwendung in der Praxis kommt in Bezug auf die Relevanz der Analyseergebnisse und des gesamten Erkenntnisinteresses eine besondere Bedeutung zu. Das auf lange Sicht anvisierte Ziel der Forschungsarbeit ist es, im Sinne eines funktionellen Instruments des Reproduktionsprozesses ein Bewegungs-Projekt zu konzipieren.33 Leitgedanke hierfür ist, dass Bewegung die Funktion eines Wissensspeichers impliziert und Wissensvermittlung über Bewegungspraktiken erfolgen kann. Die Einbindung dieses spezifischen Bewegungswissens in den Sozialisationsprozess

nach ihren Voraussetzungen und Folgen ihm erst einmal nur vage und auch bei Reflexion nur unvollkommen bewusst sind. Doch es ist auch klar, dass ohne solche Gewohnheitsbildung der Mensch über einige wenige Verhaltensmöglichkeiten nicht hinauskommen könnte.“ Dies.: Arbeit am Gedächtnis, S.38. 31 Für ausführlichere Argumentationen zum Zusammenhang von Kulturerbe und Tanz sei verwiesen auf Wulf in Brandstetter/Wulf: Tanz als Anthropologie, S.121–131. 32 Hörning definiert Praxis als den signifikanten Moment im Prozess des Verstehens, indem Praxis selbst als jener Ort verstanden wird, ‚in dem Verstehen und Einsicht der Akteure hervorgebracht wird und in dem kulturelle Repertoires der Deutung und Bedeutung eingespielt werden‘. Vgl. in Hörning/Reuter: Doing Culture, S.19/20. 33 Im Hinblick auf Bewegungs-Projekte sei verwiesen auf Gehm/Husemann/Wilcke: Wissen in Bewegung; darin: zum Aspekt Aus- und Fortbildung Tanz (S.271–315), das Interview mit Royston Maldoom unter dem Aspekt Tanz für alle (S.317–343), sowie zur Idee der Mobilen Akademien mit dem Fokus auf Theorie und Praxis (S.49ff).

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ermöglicht einerseits erst den Zugang dazu und kann andererseits neue Perspektiven der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung öffnen.34 Das anvisierte Konzept für ein Bewegungs-Archiv in der Funktion einer Instanz der Bewahrung und Vermittlung spezifischer Bewegungspraktiken und deren impliziter Wissensbestände ist das Konzept eines lebendigen Archivs: performativ und medienvermittelt, an einem Ort und inszeniert. Der Schwerpunkt liegt im tänzerischen Agieren als eine lebendige kulturelle Praktik. Es bildet die Ausgangsperspektive für den Erkenntnis- und Vermittlungsprozess. Für die Umsetzung so genannter Bewegungs-Archive in der gegenwärtigen und zukünftigen Praxis seien drei Optionen benannt: 35 die bewegend-mediale Auseinandersetzung mit einem kulturellen Element im Rahmen eines reflektierenden künstlerischen Projekts; ein Bewegungsarchiv als ein wissenschaftlichakademisches Forschungsprojekt mit dem Fokus auf die Differenzierung von Archivierung und Bewahrung von Tanzpraktiken und impliziten Wissensbeständen, sowohl im theoretischen als auch im praktischen Zugang (mit den Schwerpunkten Gedächtnisformen/Archivformen, Bewegungsbegriff und Bewegungsformen sowie künstlerische Arbeit); ein soziokulturelles Tanzprojekt als ein soziokulturell-künstlerischer Ansatz mit der Ausrichtung auf die Bewegungssprachen einer urbanen Welt.

34 Zum Zusammenhang von Tanz, Wissen und Gesellschaft sowie dem gegenwärtigen Wandel von Paradigmen, verbunden mit den Forderungen nach neuen Bildungs- und Vermittlungskonzepten vgl. bei Brandstetter/Wulf: Tanz als Anthropologie, S.89–93. 35 Die ausführliche Formulierung der Projektkonzepte liegen in Form eines Themenpapiers vor und können bei Interesse bei der Autorin eingesehen werden.

Anhang

KONSISTENTE BESCHREIBUNG DER ERGEBNISSE AUS DER DATENERHEBUNG Die Datenerhebung erfolgte mit der distinktiven Diskursanalyse nach DiazBone. Hierfür wurden drei Analysemomente ausgewählt. Die erste Analysesituation bezieht sich auf die UNESCO-Konvention immaterielles Kulturerbe. Die Ergebnisse der zweiten Analyse referieren auf den Tango im Vorfeld seiner Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe. Der dritte Analysemoment entspricht der kulturellen Praktik Tango direkt nach der Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe. Die erhobenen Daten wurden der Typenformierung nach Kelle/Kluge folgend kategorisiert und typologisiert. Daran schloss sich die Rekonstruktion der Strukturverhältnisse an. Das Verfahren der Typenformierung ermöglicht diesen Rekonstruktionsschritt durch eine Kodierung, indem Schlüsselvektoren sowie zeitliche und strukturelle Ebenen als Grundstruktur der zu benennenden Typen an Elementen differenziert werden können. Die Kodierung, Strukturierung und Zuordnung der Elemente aus dem Datensample orientiert sich an den Analysekategorien der Distinktionsanalyse. Nach Anwendung dieser Verfahrensschritte werden die Ebenen der materiellen und der symbolischen Werte erkennbar. Das erlaubt es, die Elemente entsprechend dem materiellen Bereich, dem an materielle Elemente gebundenen immateriellen Bereich oder dem nicht an materielle Elemente gebundenen immateriellen Bereich symbolischer Werte zuzuordnen. In der weiteren Auswertung der Analysedaten und Rekonstruktion der Strukturverhältnisse wird die Differenzierung dreier Zeitmomente innerhalb des Datensamples berücksichtigt. Das sind der erste Zeitmoment mit den ausagierten Elementen des Tangos in der Praxis, der zweite Zeitmoment charakterisiert durch die Diskursivierung und Kategorisierung ausgewählter Elemente im Anerkennungsmechanismus zum immateriellen Kulturerbe, der dritte Zeitmoment der Rekonstruktion und Interpretation der benannten Elemente. Die drei Zeitmomen-

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te stehen für drei strukturelle Ebenen: die erste Ebene der Praxis, die zweite Ebene der Diskurselemente, die aufgrund der Erhebung des Datensample mit einer Diskursanalyse nur interpretativ zugänglich ist und als dritte die Ebene der mit Bourdieus Analysekategorien interpretierten Elemente. Die benannten Elemente aus der Datenerhebung sind durch Klammern gekennzeichnet. Die differenzierende Schreibweise verweist bei [KAPITÄLCHEN] auf erfasste materiale und personale, bzw. materiell und personell gebundene Elemente (Artefakte, Dokumente, Akteure und Praktiken) oder aus der Kodierung abgeleitete strukturierende Elemente und Konzepte; bei [kleinschreibweise] auf den übergeordneten Code differenzierende Elemente; bei [normaler Schreibweise] auf Elemente diskursiver oder symbolischer Werte. Die Verwendung von deutschen, englischen oder spanischen Begriffen erfolgt entsprechend der Datenquelle, Eigennahmen stehen in ‚Zeichen‘. UNESCO-Konvention immaterielles Kulturerbe Die erste Analysesituation bezieht sich auf die UNESCO-Konvention immaterielles Kulturerbe, der die Konvention des immateriellen Kulturerbes und korrespondierende Praktiken und Diskurse zuzuordnen sind. Distinktivität des Textkorpus und Perspektivprobleme Die vorliegenden Dokumente dieser Analysesituation entsprechen einer Diskursformation, auf Basis derer die Strukturverhältnisse mit den eingebundenen Wissenskonzepten rekonstruiert werden kann. Die Dokumente stehen für Rechtskräftigkeit und Legitimität, da der Konventionstext selbst bzw. die weiteren einbezogenen Dokumente der UNESCO durch die Ratifizierung der Vertragsstaaten als solche anerkannt sind. Mittels der Dokumente werden Einsetzungsmechanismen vorgeschrieben und Kategorien und Klassifizierungen ihrer Wissenskonzepte aufgestellt. Der Textkorpus enthält damit die grundlegenden Kategorien des immateriellen Kulturerbes und dessen Bewahrung in der Funktion offizieller Stellungnahmen. Die Auswahl und Bestimmung des Textkorpus richtet sich nach der begründeten Annahme der Distinktivität der ausgewählten Textelemente.1 Der Textkorpus basiert neben dem Konventionstext zum IKE (deutsche Übersetzung) [UD4] auf einer Auswahl an offiziellen Texten der Institution UNESCO, veröffentlicht in deren Publikationen oder als Dokumente auf deren Internetseiten. Damit entsprechen sie legitimierten und autorisierten Diskurselementen. Diese umfassen

1

Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.201/202.

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die Stellungnahme ‚the intangible heritage lists‘ [UE1]; die offizielle Beschreibung der kulturellen Praktik Tango innerhalb der IKE-Liste ‚The Tango‘ [UE2], die Stellungnahmen ‚Die repräsentative Liste des IKE‘ [UD1], ‚Die Listen des IKE‘ [UD2] und ‚Bewahrung des immateriellen Kulturerbes‘ [UD3].2 Um diese Auswahl zu begründen, sei desweiteren darauf verwiesen, dass die UNESCOKommission Argentiniens zum Zeitpunkt der Datenerhebung keine eigene Internetseite unterhält. Die UNESCO-Kommission Uruguays hat einen Internetauftritt, allerdings weder mit Bezug auf das immaterielle Kulturerbe, noch auf den Tango (Stand 09/2013). Zum Textkorpus gehört desweiteren ein Textdokument der ‚Academia de Tango‘ [A1]. Diese ist eine staatlich legitimierte Einrichtung in Buenos Aires, die die Antragstellung für den Tango inhaltlich und formal vorbereitet hat und zukünftig maßgebend an der Umsetzung der Verpflichtungen, die mit dem Kulturerbestatus verbunden sind, beteiligt ist. Um die Distinktivität nachvollziehen zu können, werden in aller Kürze die den Textelementen zugehörigen legitimierten Institutionen benannt. Die UNESCO ist eine legitimierte völkerrechtliche Institution. Ihre exekutiven und legislativen Organe werden per Wahl durch Vertreter der Mitgliederstaaten bestimmt. Übereinkommen der UNESCO erhalten ihre Rechtskräftigkeit durch eine Ratifizierung der Mitgliederstaaten. Über weitreichende Sanktionierungsmöglichkeiten verfügt die UNESCO nicht. Die Umsetzung ihrer Ziele basiert auf der Freiwilligkeit ihrer Mitgliederstaaten. Die Akteure der UNESCO sind Politiker, Diplomaten, Sekretäre, Angestellte des öffentlichen Dienstes und durch Kompetenz ausgewiesene eingesetzte Vertreter oder Berater. Sie zeichnen sich grundlegend durch ihre Loyalität zu den Richtlinien und der politischen Linie der UNESCO aus. Die ‚Academia Nacional del Tango‘ wurde im Jahr 1990 per staatlichem Dekret (Decréto del Poder Ejecutivo Nacional Nº 1235/1990) gegründet. Sie ist dem Ministerium für Bildung und der nationalen Kulturbehörde unterstellt. Seit 2002 existiert die Abteilung Welterbe, die sich um die mit dem Kulturerbestatus verbundenen Aktivitäten und Programme kümmert.3 Diaz-Bone fordert in seiner methodischen Herleitung die Reflexion von Perspektivproblemen ein. Damit kann erfragt werden, von welcher Position aus die Wissensordnung untersucht wird. Die Position für die durchgeführte Diskursanalyse befindet sich außerhalb der Strukturverhältnisse. Die ausgewählten Textelemente sind diskurseigene, da von beiden Institutionen autorisierte und ohne Autorennamen veröffentlichte Texte. Es handelt sich um Selbstthematisierungen, welche die strukturimpliziten Interessen und Strategien nach außerhalb der

2

Vgl. dazu die Auflistung der Textkorpora, die dieser konsistenten Beschreibung folgt.

3

http://www.anacdeltango.org.ar/

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Strukturgrenzen kommunizieren. Es sind in Bourdieus Sinne legitimierte und autorisierte Stellungnahmen. Diskussionen, Meinungsbildung und Oppositionen zu den Textdokumenten können anhand dieser Textdokumente weder bzw. nur in geringem Maße nachvollzogen werden. Die als Perspektivprobleme eingeräumten Performanzspielräume und Widersprüchlichkeiten sind innerhalb der Dokumente daher unwahrscheinlich. Einer weiteren und vergleichenden Analyse hingegen bedarf die von Diaz-Bone eingeführte Selbstreflexion in der Kulturwelt, d.h. inwiefern die Zurkenntnisnahme und Inkorporierung wissenschaftlich oder medial eingebrachten Wissens institutionsinterne Diskurse beeinflusst. Insofern wäre ein Einbeziehen von Textdokumenten im Vorfeld der Verabschiedung der Konvention zum immateriellen Kulturerbe notwendig. Das überschreitet das Erkenntnisziel vorliegender Analyse, der es um Veränderungen von Strukturverhältnissen kultureller Praktiken geht.4/5 Die Kodierung des bestimmten Textkorpus bereitet die Identifizierung von zentralen Kategorien, deren Typologisierung und die anschließende interpretative Analytik vor. Der Textkorpus wird mit einer offenen Kodierung bearbeitet, um nach signifikanten Begriffen, Objekten und Elementen zu suchen. Diese Kodierung wird mit dem mehrmaligen Durcharbeiten des Textkorpus dem Erkenntnisinteresse entsprechend strukturiert.6 Der Analysemoment UNESCO-Konvention IKE als eine Struktur institutionalisierter Akteure und normativer Stellungnahmen Im Folgenden wird eine konsistente Beschreibung für den Analysemoment UNESCO-Konvention IKE geleistet. Die Analyseergebnisse werden als Struktur

4

Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.221. Diaz-Bone führt dort aus: „Die Eingrenzung des Aufmerksamkeitsbereichs hängt vom Untersuchungsziel ab.“ Ebd.

5

Nach einer ersten Sichtung der Textelemente wurde der Textkorpus dahingehend reduziert, dass aus Gründen der Relevanz Dokumente (Stellungnahmen und Positionspapiere seitens der Deutschen UNESCO-Kommission) aus dem Textkorpus herausgenommen wurden [UD5K–UD10K]; siehe auch die Auflistung der Textkorpora. Sie können einerseits, im Gegensatz zu den einbezogenen Dokumenten, einem konkreten Autor und seiner persönlichen Stellungnahme zum Thema zugeordnet werden; sie sind andererseits im jeweils nationalen Kontext des Autors verankert. Das Dokument [UD4] um die Schlussbestimmungen (Artikel 32 bis Artikel 40; Inkrafttreten, Änderungen, Beitritt, Kündigung, Hinterlegung und Gültigkeit) wurde gekürzt, da es Gültigkeitsklauseln im völkerrechtlichen Sinne sind, die für die Erarbeitung relevanter Wissenskonzepte nicht notwendig sind.

6

Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.202.

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mit den Kategorien Akteure und Elemente (bzw. Dokumente und Objekte), Strategien und Praktiken, diskurstragende Kategorien und Themenkomplexe sowie davon abzuleitende normative Konzepte (Qualitäten und Konzepte) beschreibend rekonstruiert. Ziel ist es, die Beziehungen innerhalb einer diskursiven Praxis zu erfassen, um anschließend die Strukturverhältnisse, die enthaltenen Wissenskonzepte sowie Strategien und Machtpraktiken interpretieren zu können.7 In einem ersten Schritt wird die Struktur zwischen den Akteuren, Dokumenten und weiteren signifikanten Elementen sowie den kulturellen und institutionellen Praktiken bzw. Strategien herausgearbeitet. Als Faktoren für das Zuordnen der kodierten Elemente auf einer Skala erweisen sich der Vektor Institutionalisierungsgrad und der Vektor Materialität der Elemente als sinnvoll. Diese beiden Vektoren erschließen sich aus der Kodierung des Textkorpus heraus. Mit dem Zuordnungsprozess wird eine Differenzierung in einen institutionalisierten und einen nicht-institutionalisierten Bereich sowie in einen materiellen und einen nicht-materiellen Bereich erkennbar. Es ergeben sich Abstufungen in der Kombination der Vektoren Materialität und Institutionalisierung von abstrakt/ideell – administrativ – umsetzend – praktizierend und materiell gebunden – personell gebunden – verbal bzw. materiell/personell nicht gebunden. Das Zuordnen der Praktiken zu diesen Skalierungen ermöglicht wiederum eine Differenzierung in drei unterscheidbare Bereiche der Art der Praktiken. In einem ersten Bereich agieren institutionalisierte Akteure mit administrativen und diskursiven Praktiken. Ein zweiter Bereich umfasst umsetzende und vermittelnde Praktiken, die sowohl relativ hoch als auch relativ niedrig institutionalisierten Akteuren und Elementen korrespondieren. Einen dritten Bereich bilden die kulturellen Praktiken und Kulturgüter. Die Position mit dem höchsten Grad an Institutionalisierung nimmt die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur [UNESCO] ein. Ihr korrespondieren normsetzende, legitimierende, diskursive und administrative Praktiken sowie das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes [Konvention IKE]. Die Konvention umfasst materielle Outputs wie den [Konventionstext] selbst, auf personaler Ebene die zugeordneten ausführenden Organe und auf abstrakter Ebene deren Werte, Normen und Visionen. Das Übereinkommen schließt an die bestehenden internationalen Rechtsinstrumente zu den Menschenrechten sowie an die im Vorfeld verab-

7

Vgl. zur besseren Anschaulichkeit der rekonstruierten Struktur deren schematische Darstellung S.127/Abb.5. Die detaillierten Kodierungslisten liegen der Autorin vor.

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schiedeten Übereinkommen, Pakte und Empfehlungen auf materieller Ebene an. Es nimmt zugleich auf einer nicht-materiellen Ebene eine Referenzfunktion auf die Werte Menschenrechte, kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit ein. Der UNESCO sind verschiedene Organe ihrer Handlungsfähigkeit zugeordnet. Dazu zählen die Generalversammlung [GK] der Mitgliedsstaaten der UNESCO [MS]. Sie ist das beratende und beschließende Organ, das damit die Verantwortung für die Verabschiedung des Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes trägt. Dem Übereinkommen sind laut seinem Konventionstext weitere exekutive und legislative Organe zugeordnet, die sich aus Vertretern der Vertragsstaaten [VS] der Konvention zusammensetzen. Diese sind die Vollversammlung [VV] als beratendes und prüfendes Organ, das Zwischenstaatliche Komitee [ZK] als das ausführende Organ sowie das Sekretariat [SK], das durch Schreib- und Verwaltungsarbeit den beiden Organen zuarbeitet sowie als deren Exekutive agiert. Der diskursiven Produktion dieses institutionellen Bereichs entstammt das Dokument ‚the intangible heritage lists‘ [UE1] von der offiziellen Website der UNESCO. Die Position des Zwischenstaatlichen Komitees [ZK] der UNESCO liegt bereits außerhalb der ausschließlich diskursiven und institutionellen Praktiken. Es übernimmt neben den vorgenannten auch umsetzende und vermittelnde Praktiken entsprechend dem Konventionsanliegen. Ihm obliegt es, mit weiteren Akteuren zu kommunizieren, Entscheidungen zu treffen und im Konventionstext festgeschriebene Aufgaben umzusetzen. Dazu zählen die Erstellung der UNESCOKulturerbelisten [IKE-Listen], Unterstützung und Kontrolle der Umsetzung der Konvention [Berichte] sowie Antragsentscheidungen. Das relevante zentrale Dokument des ZK ist ‚the tango‘ (description of the element of the ICH-list) [UE2], in dem die Begründung für die Anerkennung des Tangos als immaterielles Kulturerbe festgeschrieben steht. Die Nationalen UNESCO-Kommissionen [NUC] als nationale und direkt durch die Nationen finanzierte UNESCO-Organe nehmen eine Funktion als Vermittler zwischen nationalen politischen Belangen und den Anliegen der UNESCO ein. Sie sprechen Empfehlungen aus, initiieren und setzen Maßnahmen um. Desweiteren sind sie in Kooperation mit den nationalen Regierungen in die Erstellung der [IKE-Inventarlisten] eingebunden. Die Deutsche UNESCOKommission (DUK) tritt in vorliegender Analyse als Autor verwendeter Dokumente auf [UD1/2 und UD3], deren Inhalt sich direkt auf die durch die UNESCO legitimierten englischsprachigen Dokumente bezieht. Parallel zum Zwischenstaatlichen Komitee steht auf Seiten der kulturellen Praktik Tango in der Funktion als deren Vertretung auf institutioneller Ebene die [Academia de Tango]. Sie unterhält eine Abteilung Welterbe [division patrimo-

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nio], welche konkret in die Antragstellung zum immateriellen Kulturerbe Tango eingebunden ist und ein solches Antragsdokument [A1] produziert hat. Das Antragsdokument auf materieller Ebene enthält parallel zum Konventionstext auf nicht-materieller Ebene Werte, Intentionen und Visionen und ist auf personeller Ebene an die Mitglieder und Kooperierenden der ‚Academia de Tango‘ sowie an die autorisierenden Regierungen gebunden. Weitere Akteure im Bereich der umsetzenden und vermittelnden Praktiken sind die vorschlagenden Staaten, the two [nominating states]: Argentina and Uruguay. Daneben stehen die beratenden und beobachtenden Organisationen [BO] und [NGOs], die Spezialisten [SPEZ] und Sachverständigen [SV] in den das Kulturerbe betreffenden Bereichen (dazu zählen auch institutionalisierte Akteure wie Universitäten und Akademien [UNI]) sowie die Vertreter der kulturellen Praktiken [Repräsentanten], die bei der Umsetzung der Konventionsvorgaben grundsätzlich einbezogen werden. In diesem Bereich finden sich die einzuleitenden [Maßnahmen], das meint im konkreten die zukünftigen Dokumentationsbereiche der ‚Academia de Tango‘, die ‚areas documentales de la academia‘ [DokZentrm] und Kommunikationsräume, die ‚espacio de comunicacion‘ [EsCom]. Es werden die Programme umgesetzt, welche die staatlichen Inventarlisten, das Dokumentationszentrum und die weiteren Maßnahmen beinhalten. Zuletzt genannte Akteure bilden den Übergang zum dritten Bereich der [kulturellen Praktiken] und der [Kulturgüter]. Sie sind in der Praxis die zentralen Referenzpunkte der Kulturerbe-Konvention. In diesem Bereich finden sich die [betreffenden Gruppen] der kulturellen Praktik Tango: die [tango community], die aus Musikern, Tänzern, Komponisten, Lehrenden und Einwohnern besteht sowie die junge Generation [jóvenes], die einbezogen werden soll. Daneben sind historische bzw. im Gegenwärtigen nicht mehr agierende Akteure und Elemente benannt, auf die sich in den Dokumenten [UE2 und A1] in der Funktion von Referenzpunkten bezogen wird: das sind auf personeller Ebene die Arbeiterklasse [the urban class] und die Mischung aus europäischen Immigranten, Sklaven und Kreolen [the mix of european imigrants, slaves and criollos], denen die kulturellen Praktiken [dance, music, poetry, singing] zugeordnet werden. Zu ihr gehören auf Ebene des abnehmenden Grads an personeller Bindung die ‚wahrhaftigen Protagonisten und Schöpfer‘ [verdaderos actores y creadores]. Diese Elemente stehen für den Charakter des Originären im nicht-institutionalisierten Bereich. Desweiteren sind auf materieller Ebene Elemente wie spezifische Räume, Texte, Instrumente und die Städte Buenos Aires und Montevideo zugeordnet. Die strukturellen Mechanismen, welche die Praktiken, Strategien und Diskurse umfassen, differenzieren sich ebenso wie die Praktiken im allgemeinen in die

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drei Bereiche des institutionalisierten/administrativen Vorgehens, der Umsetzung der Konventionsinhalte und des Ausagierens der kulturellen Praktik. Die zuvor benannten Elemente der drei Bereiche stehen vermittelt durch die strukturellen Mechanismen in einer permanenten Interaktion. Sie fügen sich damit zu einer konsistenten Struktur zusammen. Die [UNESCO] vereint aufgrund ihrer Position mit dem höchsten Grad an Institutionalisierung auf sich das höchste Maß an Autorität für die Setzung von Werten und für Legitimierungsakte. Im konkreten Fall realisiert sie das durch die Konvention zum immateriellen Kulturerbe. Es werden Übereinkommen und Konventionen verabschiedet [Konvention setzen], welche die Mitgliederstaaten nach erfolgter Ratifizierung umsetzen; desweiteren werden Empfehlungen ausgesprochen, welche die Mitgliederstaaten umsetzen können. Die Politik der Staaten richtet sich in diesen Fällen an den Vorgaben durch die UNESCO aus. Das Zwischenstaatliche Komitee [ZK] besetzt die zentrale Position zum einen in der Administration, zum anderen in der Durchsetzung der Wertesetzung und der Legitimierungsakte (Einsetzung als ausführendes Organ). In Bezug auf die Umsetzung der Konventionsinhalte gilt das ebenso für den ‚Anerkennungsmechanismus‘ kultureller Praktiken zum immateriellen Kulturerbe. In Koordination mit den weiteren Organen der Konvention umfassen die Praktiken und Strategien die [operational directives of the convention], das meint das mit der Konvention benannte Programm der [Maßnahmen] und administrativen Wege zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes [AdminPraktik]. Der ‚Anerkennungsmechanismus‘ zum Kulturerbe begrenzt sich auf die Interaktion zwischen den vorschlagenden bzw. antragstellenden Staaten sowie deren beratenden Akteuren und dem bewilligenden Zwischenstaatlichen Komitee sowie deren beratenden Akteuren. Die umzusetzenden Maßnahmen im Rahmen der Verpflichtungen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes finden sich dagegen bei den Akteuren bzw. Positionen des geringer institutionalisierten Bereichs wieder. Sie betreffen die Forschung, die Archivierung und Ausbildung sowie Verbreitung bzw. Promotion der als Kulturerbe anerkannten kulturellen Praktik. Inwiefern die Maßnahmen auch Rückwirkungen auf die kulturellen Praktiken des nicht institutionalisierten Bereichs haben, kann aus dem Textkorpus heraus nicht interpretiert werden. Auf nationaler Ebene schließt diese Anerkennung als ein struktureller Mechanismus der Legitimierung eine Verpflichtung zur Umsetzung der Konventionsinhalte [Verpflichtung] durch die Mitgliedsstaaten der Konvention, das entsprechende Berichtswesen [rechenschaftspflichtig] und Einzahlungen in den Finanzierungsfonds [FONDS] ein. Sowohl die vorschlagenden Staaten [VS] sind dem Zwischenstaatlichen Komitee [ZK] als auch dieses selbst ist der Vollver-

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sammlung [VV] gegenüber rechenschaftspflichtig. Vorausgesetzt, dass die Staaten mittels ihrer Programme und Maßnahmen die kulturellen Praktiken entsprechend lenken, mindestens aber beobachten können, entsteht so ein Berichtswesen zwischen dem Bereich der kulturellen Praktik durch die Zwischenkontrolle des Zwischenstaatlichen Komitees mit dem institutionellen Bereich. In umgekehrter Richtung erfolgt die Auszahlung von Fondsgeldern zur Umsetzung der Programme und Maßnahmen. UNESCO und Vertragsstaaten kommen für die Fondsmittel auf, welche über die Bewilligung des Zwischenstaatlichen Komitees an die vorschlagenden Staaten ausgezahlt werden. Desweiteren sehen sich die Vertragsstaaten in der Position und Verpflichtung, aktiv an der Konventionsumsetzung mitzuwirken, indem sie Vorschläge anhand ihrer Inventarlisten zum immateriellen Kulturerbe einbringen [Vorschlag] und auf inhaltlicher bzw. rechtlicher Ebene durch Spezialisten, Sachverständige und Beratende zuarbeiten [Zuarbeit]. Auf internationaler Ebene sieht sich die UNESCO in der Verpflichtung, die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes durch die Erstellung der Repräsentativen Liste des IKE [awareness and visibility] zu gewährleisten und die ‚internationale Zusammenarbeit und den kulturellen Dialog‘ zu koordinieren [InternatDialog]. Die [Academia de Tango] als durch den argentinischen Staat eingesetztes Organ nimmt die Position des umsetzenden und zuarbeitenden Vermittlers auf nationaler Ebene ein.8 Sie funktioniert als das Bindeglied zwischen der kulturellen Praktik Tango, die im nicht-institutionalisierten Bereich zu verorten ist, und dem institutionellen administrativen Funktionsmechanismus. Die ‚Academia de Tango‘ ist einerseits nationalen staatlichen Institutionen unterstellt und hierin rechenschaftspflichtig; andererseits bindet sie Vertreter der kulturellen Praktik Tango für eine spezialisierte Zuarbeit in ihre Arbeit ein. Der dritte Bereich der Strukturmechanismen benennt schließlich das Ausagieren der kulturellen Praktik [TANGO]. Eine Einbindung in den ‚Funktionsmechanismus‘ aus Setzung, Legitimierung, Anerkennung, Verpflichtungen, Rechenschaftspflicht bzw. Vorschlagswesen sowie der Zuarbeit der institutionalisierten, administrativen und umsetzenden Praktiken ist für diesen Analysemoment nicht nachzuvollziehen. Aus den kodierten Kategorien konnte eine Struktur der Interaktion aller Akteure rekonstruiert werden. Es wurden zunächst initiative Impulse für die Konventionssetzung identifiziert. Sie kommen aus dem Bereich der kulturellen Praktiken aufgrund deren tatsächlicher Bedrohung und aus dem Bereich der vermittelnden

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Detailliert zu Aufgaben, Strukturen und Aktivitäten: http://www.anacdeltango.org.ar/

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Positionen, welche dies wahrnehmen, kommunizieren und damit in den Bereich der administrativen/institutionellen Instanzen einbringen. Darüber hinaus kann aus den beiden erstgenannten Bereichen eine kritische Diskussion um bestehende Konventionen und Rechtsmittel der UNESCO initiiert werden. Im Bereich des hohen Institutionalisierungsgrads wird die Konvention als Norm gesetzt. Sie umfasst die ideellen Fundamente und Visionen, die Maßgabe an Zielen sowie die entsprechenden Verpflichtungen der Umsetzung. Eine Legitimierung der Konvention, was zugleich ihre Einsetzung als ein Funktionsmechanismus bedeutet, erfolgt erst durch ihre Ratifizierung. Sie legitimiert diese und verleiht entsprechende symbolische Macht. Damit bestehen für die Vertragsstaaten Verpflichtungen zu administrativen Maßnahmen der Umsetzung der Konventionsinhalte, für die UNESCO-Organe Verpflichtungen zu Kontrolle, Koordination und Berichtswesen. Im Bereich der kulturellen Praktiken bedeutet die Einsetzung der Konvention als ein Funktionsmechanismus die Einbindung in die administrativen Maßnahmen, da zugehörige Räume, bzw. Orte, Zeiten und Akteure in entsprechender Weise beobachtet, bewertet und beeinflusst werden. Das Maß dieser Einbindung kann aus den Ergebnissen vorliegender Analyse nicht abgelesen werden und bleibt dem zweiten Analysemoment (Moment der Anerkennung) vorbehalten. Rekonstruktion einer Diskursstruktur der Themenkomplexe sowie diskursiven Qualitäten und Wissenskonzepte Anschließend an die Rekonstruktion der Struktur zwischen Akteuren, Objekten bzw. Dokumenten und Praktiken werden die diskurstragenden Kategorien herausgearbeitet. Mit dem Kodierungsprozess wurden fünf Themenkomplexe erkennbar: die Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes, die Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe an kulturelle Praktiken, die mit dem Konventionstext und der Antragstellung verbundenen Ziele, Ideale und Visionen, den strukturellen Mechanismen zugehörige Instanzen, die verpflichtenden Maßnahmen und umzusetzenden Programme und Projekte. Der Konventionstext stellt dahingehend eine eigenständige Diskurskategorie dar, dass er einer Position zuzuordnen ist, an der sich die Elemente ausrichten. Der Konventionstext ist materielle Manifestation der Ideale, Visionen und Werte der Institution UNESCO. Er bildet die Basis für ein administratives Agieren der Konventionsorgane. Zugleich bindet ihn die Interaktion zwischen Konventionsorganen und Agierenden der kulturellen Praktiken sowie Agierenden der UNESCO-Praktiken auf mittlerer institutioneller Ebene unmittelbar ein.

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Der Konventionstext entstammt der gegenwärtigen Diskurspraktik der UNESCO. Darüber hinaus impliziert er die diachrone Entwicklung dieser Diskurspraktik: signifikante Elemente bzw. Kategorien der Diskurspraktik wurden in den Konventionstext aufgenommen, erweitert oder spezifiziert. Basis dafür ist die kontinuierliche Diskussion und Kritik der bestehenden Instrumente der UNESCO durch die Agierenden.9 Die Kodierung zeigt eine Referenzlinie auf, in welcher jedes Diskurselement auf die vorhergehenden bezogen wird. Sie findet ihren Ausgangspunkt in der Erklärung der Menschenrechte von 1948. Letztgenannte stellt die Wertegrundlage des Konventionstextes dar, die mit jedem weiteren Diskurselement spezifiziert und neu interpretiert wird.10 Der Konventionstext weist Qualitäten auf, welche die ihm zugehörige Diskurspraktik kennzeichnen. Es geht um eine Strategie, Interessen und Werte zu kommunizieren, die im Interesse der Konventionsorgane stehen, kommuniziert zu werden. Diese Qualitäten werden dem Kodierungsprozess folgend in Sinngruppen sortiert: Kontinuität und Transparenz, Ausgewogenheit, frei und unabhängig; Kompetenz, weitreichend und Offenheit; Kooperation und Gemeinschaft, integrativ, Partizipation; Allgemeininteresse, Legitimität und Rechtsstaatlichkeit; Schutz und Bewahrung, Respekt und Dialog; Originalität und Besonderheit, Identität bzw. Authentisches. Mit der Zuordnung der Qualitäten in die erfasste Struktur werden Oppositionen deutlich. Darin bilden sie signifikante Argumentationsstränge und Bedeutungsbereiche. Sie funktionieren wie Pole der Inklusion und Exklusion innerhalb der kontrollierten und unkontrollierten Bereiche. Der Pol des kontrollierten Be-

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Die kritische Diskussion umfasst drei referentielle Oppositionen in Formulierung von Begründungen und Anforderungen: bisher gab es kein verbindliches multilaterales Instrument zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes; neue Bestimmungen zum immateriellen Kulturerbe sollten aufgrund neuartiger Schutzelemente ergänzt werden; die besonderen Bedürfnisse der Entwicklungsländer seien zu berücksichtigen.

10 Der Textkorpus referiert auf vorangegangene Konventionen, Übereinkommen und Memoranden der UNESCO. Als Referenzlinie sind benannt: bestehende internationale Rechtsinstrumente zu den Menschenrechten, insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966; desweiteren die Empfehlung der UNESCO zur Bewahrung traditioneller Kultur und Folklore von 1989; die Allgemeine Erklärung der UNESCO zur kulturellen Vielfalt von 2001; das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972; das Übereinkommen zu ‚Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit‘.

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reichs umfasst Qualitäten der Anwendung des internationalen Rechtsmittels UNESCO-Konvention IKE auf eine kulturelle Praktik: Rechtsstaatlichkeit und Legitimität (incl. der Kriterienkongruenz), Schutz, Bewahrung und Identität/Diversität, das allgemeine Interesse und Partizipation, Respekt. Demgegenüber stehen die Qualitäten eines unkontrollierten bzw. nicht institutionalisierten oder nicht-legitimierten Bereichs: fehlendes wirksames und Rechtsmittel, gesellschaftlicher Wandel und Globalisierungseffekte, Verlust und Zerstörung, Individualität und Besonderheit, Intoleranz. Die mit dem Konventionstext formulierten Definitionen und Manifestationen des immateriellen Kulturerbes korrespondieren den elementaren Kategorien der Struktur: es werden Praktiken [Agieren] benannt, damit verbundene Artefakte und Kulturräume [Raum], Gemeinschaften und Gruppen [Identität], Generationen [Zeit], Entwicklung/Genese in Auseinandersetzung mit Umwelt/Menschen [Kontinuität]. Es wird auf Nachhaltigkeit und Menschenrechte referiert [Referenz/Wertegrundlage]. 11 Die Begriffsbestimmungen und Manifestationen sind die entscheidenden Elemente der diskursiven Macht. Sie werden im Vollzug der Anerkennungsmechanismen an die vermittelnden und umsetzenden Agierenden für die konkrete kulturelle Praktik kommuniziert. Sie formulieren ein Konzept eines immateriellen Kulturerbes, das als ein Wissenskonzept der rekonstruierten Struktur UNESCO-Konvention funktioniert. Die Anerkennung des Status immaterielles Kulturerbe an kulturelle Praktiken ist das zweite diskurstragende Element. Es funktioniert als Schnittstelle zwischen dem Bereich des hohen Institutionalisierungsgrads und der administrativen Praktiken sowie dem Bereich des geringeren Institutionalisierungsgrads und der umsetzenden, vermittelnden Praktiken. Das wird mit den Kategorien [administrative Praktiken/Strategien], [Konventionskriterien] und [Kriterienkongruenz] deutlich. Im Konventionstext sind die allgemeinen Anerkennungskriterien für ein immaterielles kulturelles Erbe festgeschrieben. Diese bilden als die Begriffsbestimmungen und Manifestationen des immateriellen Kulturerbes ein spezifisches Wissenskonzept.12 Die durch das Zwischenstaatliche Komitee als erfüllt benann-

11 Mit der Definition des immateriellen Kulturerbes im Diskurselement der DUK [UD3] kommt ein weiteres Diskurselement dazu: die kulturelle Praktik als [Bestandteil ihres Kulturerbes]. Das meint, dass ein Bewusstsein darüber vorausgesetzt wird. Tatsächlich findet sich im Konventionstext das Kriterium des ‚part of cultural inventory‘, das jedoch nicht ausdrücklich das Bewusstsein benennt. Welche Legitimierung dieses Diskurselement hat, war aus der Analyse heraus nicht erfassbar. 12 Vgl. zum Begriff Wissenskonzept im Abschnitt ‚Wissenskonzepte‘ in diesem Kapitel.

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ten Kriterien bilden den Schnittpunkt zwischen der institutionellen Diskurspraktik der UNESCO und der Diskurspraktik der vorschlagenden Staaten bzw. deren beratenden Akteuren. Das wird in ihrer Darstellung des Tangos bzw. deren Interpretation als immaterielles Kulturerbe deutlich.13 Der ‚Anerkennungsmechanismus‘ zum IKE-Status umfasst die administrativen Praktiken der Setzung, Ratifizierung bzw. Legitimierung und Umsetzung der Konvention. Dieser Mechanismus bildet die spezifische Interaktion, um die Konventionsinhalte zu setzen (als Norm), zu vermitteln (Konventionstext), zu legitimieren (Ratifizierung und Antragstellung), umzusetzen (Antragstellung und Maßnahmen) und zu kontrollieren (Rechenschaftspflicht). Die Setzung der Konvention durch die UNESCO-Vollversammlung und deren Legitimierung durch die Vertragsstaaten entsprechen administrativen Praktiken aus dem Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads. Die Umsetzung der Konventionsinhalte mit Verpflichtungen gegenüber den hoch institutionalisierten Akteuren (Berichte, Fondszahlungen, IKE-Inventarlisten, Initiative zur Umsetzung der Konventionsinhalte) und für die Agierenden der kulturellen Praktiken (konkrete Maßnahmen und Programme) gehören zum Bereich der umsetzenden und vermittelnden Praktiken des mittleren Institutionalisierungsgrads. Diese beiden Bereiche treten durch den ‚Funktionsmechanismus‘ in Interaktion. Der ‚Funktionsmechanismus‘ umfasst die spezifischen Strategien, Interessen und Maßnahmen ausgehend von einem konkreten Anerkennungsprozess.14

13 Die vom [ZK] erklärten Übereinstimmungen sind [UE2]: wide range of customs, beliefs and rituals: the tango is a musical genre that includes dance, music, poetry and singing; diversity and cultural dialog: even as it adapts to new environments and changing times; spreading the spirit of its community across the globe; now familiar around the world; distinctive cultural identity: the most recognizable embodiments of that identity; considered one of the main manifestations of identity; deeper understanding of the tango as a regional expression; incorporated into celebrations of national heritage in Argentina and Uruguay; widespread embrace of this popular urban music; nominated by States: the element is included in the inventories of intangible cultural heritage; contribute to visibility of intangible cultural heritage. 14 Aus der Gegenüberstellung der Dokumente [UD4] (benannte Aufgaben der Vertragsstaaten), [UE3] und [A1] (benannte Programme der Vertragsstaaten) verdeutlicht sich die direkte Bezugnahme der durch die ‚Academia de Tango‘ benannten umsetzenden Maßnahmen zu den im Konventionstext festgeschriebenen administrativen Praktiken: erforderliche Maßnahmen zur Bewahrung ergreifen/geeignete rechtliche, technische, administrative und finanzielle Maßnahmen ergreifen – a number of joint and individual safeguarding measures; Bildungs-, Sensibilisierungs- und Informationsprogramme

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Eine weitere diskurstragende Kategorie sind die in die Zukunft gerichteten Ziele und Erwartungen. Sie werden mit dem Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes legitimiert in die Diskurspraktik eingeführt. Sie leiten sich von den Grundwerten der diskursiven Praktik sowie von den noch nicht als ausreichend erachteten Rechtsmitteln der UNESCO ab (vgl. FN9). Die Zielvorgaben geben die impliziten ideellen und die öffentlich proklamierten Interessen der Diskurspraktik wieder. Sie sind für die Veränderungen der allgemeinen Politik in Bezug auf kulturelle Praktiken maßgebend. Die Ziele und Erwartungen korrespondieren der diskursiven Kategorie der Bewahrung. Sie umfassen laut Konventionstext allgemein die Bewahrung des Kulturerbes im Sinne einer Sicherung seiner Lebensfähigkeit [safeguarding] unter Berücksichtigung der Aspekte des Bewusstseins, der Sichtbarkeit und des Respekts [awareness und visibility]. Diese Kategorie der Bewahrung differenziert sich in Identifizierung, Erforschung und Dokumentation des immateriellen Kulturerbes, die Ausrichtung von besonderen Maßnahmen zu seinem Schutz und zu seiner Erhaltung, wozu seine Förderung, Aufwertung und Weitergabe (Bil-

für die breite Öffentlichkeit – mecanismos, programas, estrategias; Bildung und Erziehung/Sensibilisierung und Stärkung professioneller Kapazitäten/spezieller Bildungs- und Trainingsprogramme – la salvguarda, preservacion, registro y difusion del acervo patrimonial de tango; Ausbildungsaktivitäten im Bereich der Bewahrung des immateriellen Kulturerbes, zur Verwaltung und wissenschaftlichen Erforschung/ Zugang zum immateriellen Kulturerbe gewährleisten/Dokumentationszentren für das immaterielle Kulturerbe einrichten – creation of specialized training and documentation centres, the establishment of an orchestra, museums and preservation trusts; Elemente des immateriellen Kulturerbes identifizieren und bestimmen – included in the inventories of intangible cultural heritage; Fachstellen benennen oder einrichten – Academia de Tango; die Weitergabe dieses Erbes im Rahmen von Foren und anderen Örtlichkeiten/informellen Formen der Wissensweitergabe – the nomination of the element benefitted from the continuous participation of the Uruguayan and Argentinian communities; die Anerkennung, die Achtung und die Aufwertung des immateriellen Kulturerbes in der Gesellschaft sicherzustellen – contribute to visibility of intangible cultural heritage and a deeper understanding; die Öffentlichkeit laufend über die Gefahren zu unterrichten, die dieses Erbe bedrohen sowie über die Aktivitäten – comunicacion, publicacion y difusion de las diferentes actividades de la division; wissenschaftliche, technische und künstlerische Untersuchungen sowie Forschungsmethoden fördern – programas de registro, rescate, investigacion, dicencia y difusion del mismo; Auf- oder Ausbau von Ausbildungseinrichtungen für die Verwaltung des immateriellen Kulturerbes fördern – equipo tecnico de la Academia.

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dung) gehören. Ebenso wird die Option zur Neubelebung kultureller Praktiken eingeräumt. Sie geht grundsätzlich über den Erhalt und Schutz hinaus und entspricht dem gesonderten Bereich der Rettung bedrohter Praktiken. Auf der Ebene der ideellen Konzepte finden sich dementsprechend die Ziele Erhalt und Förderung von [kultureller Vielfalt], [nachhaltige Entwicklung] sowie [Respekt] und [(inter-)kultureller Austausch] benannt. Ein weiterer signifikanter Aspekt für die umsetzenden Maßnahmen der Konventionsvorgaben ist die Ausrichtung der politischen Entscheidungsträger an den Zielen der Konvention. Auf der institutionellen Ebene sind die Vervollständigung und Entwicklung bisheriger Instrumente und die Konsequenzen aus dem Zusammenspiel von materiellem Erbe und Naturerbe benannt. Dazu zählen auf der Ebene der internationalen Politik und auf lateraler Ebene die [internationale Zusammenarbeit] mit den Aspekten der Annäherung, des Austauschs und des gegenseitigen Verständnisses. Auf Ebene der kulturellen Praktiken als auch auf Ebene der umsetzenden und vermittelnden Praktiken wird der Aspekt der [Partizipation] benannt. Mit diesem Aspekt vermittelt sich die abstrakte Ebene der Werte und Ideale der Konvention in die Ebene der politischen Direktiven und umsetzenden Institutionen sowie in die Ebene der kulturellen Praktiken (Praxis). Mögliche Interessen auf der Ebene der umsetzenden und vermittelnden Praktiken sowie auf der Ebene der kulturellen Praktiken selbst konnten aus den Analysedaten heraus nicht ermittelt werden. Eine dritte diskurstragende Kategorie bilden in Bezug auf die strukturellen Mechanismen die zugehörigen Instanzen und Administrationen. Diese differenzieren sich in die UNESCO-Organe der Konvention, in die vermittelnden Instanzen und die betreffenden Gruppen des Tangos. Eine erste Kategorie stellt die Institution der UNESCO mit den die Konvention betreffenden Organen und Dokumenten. Dazu zählen deren beschließendes Organ Vollversammlung [VV] und deren exekutives Organ Zwischenstaatliches Komitee [ZK] als die Vermittlungsinstanz zu den umsetzenden und vermittelnden Organen. Sie agieren supranational aufgrund der Legitimierung ihrer Machtposition (in der diskursiven Praktik) durch eine Vielzahl an Staaten (Mitgliedschaft und Ratifizierungen). Die Praktiken der UNESCO-Organe der Konvention sind dem administrativen Bereich zuzuordnen. Sie schließen diskursive Praktiken (Konventionen, Weisungen, Berichte, Forschungen) und symbolische Praktiken (Anerkennungsakte, Ratifizierungen, Listenerstellung) ein. Eine Ausnahme bildet der Mitteltransfer des Fonds zur Unterstützung der Umsetzung der Programme und Maßnahmen.

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Eine zweite Kategorie umfasst die vermittelnden Positionen innerhalb der objektiven Struktur. Sie bilden einen Bereich der Vermittlung zwischen den kulturellen Praktiken mit den institutionellen, administrativen Instanzen sowie deren korrespondierenden Diskurspraktiken und administrativen Praktiken. Sie sehen sich für die Umsetzung von Konventionsinhalten und der konkreten Realisierung in der Praxis verantwortlich. Zu diesen Instanzen zählen zunächst in der Funktion des Übergangs zu den institutionellen, administrativen Instanzen das Zwischenstaatliche Komitee bzw. die von ihm erklärten Anerkennungskriterien, ebenso wie die vorschlagenden Staaten bzw. die Verpflichtung tragenden Staaten und Instanzen [the communities and the authorities] als die auf administrativer, politischer Ebene Agierenden. Schließlich gehört auch die ‚Academia de Tango‘ als die vermittelnde Instanz zu den konkreten kulturellen Praktiken sowie deren angeschlossene beratende Organe, Fachleute, Forschungs- und Dokumentationsinstanzen dazu. Die Gruppe der Betreffenden sind die Agierenden der kulturellen Praktiken. Sie sind eine diskurstragende Kategorie, obwohl sie lediglich eine Referenzposition einnehmen. Im allgemeinen Kontext der Konvention handelt es sich um die [betreffenden Gruppen und Vertreter/the community or group concerned and community representatives]. In Bezug auf den Tango sind sie als [community includes musicians, professional and amateur dancers, choreographers, composers, songwriters, teachers of the art and the national living treasures, the inhabitants of the Rio de la Plata region] in der Bedeutung von ursprünglichen und wahrhaftigen Agierenden der kulturellen Praktiken [verdaderos creadores] benannt. Sie agieren in den authentischen Lokalitäten [dance halls], sie sind die zukünftigen Bewahrenden der kulturellen Praktiken [los jóvenes investigadores]. Auf dieser referentiellen Basis gelingt es, den Tango als ‚tradicional y popular‘ (traditionell und populär) und als ‚expresion mas profunda del lugar‘ (der tiefste Ausdruck dieser Region) darzustellen. Eine letzte Diskurskategorie bildet sich um die durch die Konventionsinhalte verpflichtend gesetzten Aufgaben und Maßnahmen im Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads sowie um die konkreten Aufgaben und Maßnahmen in Bezug auf den Tango durch die ‚Academia de Tango‘ in ihren formulierten Programmen im Bereich der umsetzenden Instanzen. Im Konventionstext werden Aufgaben und Maßnahmen proklamiert, die seitens der vermittelnden und umsetzenden Akteure erfüllt werden sollten. Dazu zählen [Bewahrung], [Entwicklung], [Forschung], [Koordination] und [Weitergabe]. Auf internationaler Ebene sind diese an die Konventionsorgane der UNESCO, insbesondere an das Zwischenstaatliche Komitee gebunden; auf nati-

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onaler Ebene sind es die Vertragsstaaten, die ihre Aufgaben und Maßnahmen umsetzen, nachdem sie kulturelle Praktiken auf Basis der Inventarlisten zur Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe vorgeschlagen haben. Die im Konventionstext benannten Aufgaben und Maßnahmen des Zwischenstaatlichen Komitees garantieren die Durchsetzung der Diskurspraktiken der UNESCO dahingehend, dass die gesamten Strukturverhältnisse durch Anerkennungs- und Kontrollmechanismen gesteuert werden. Die Vertragsstaaten nehmen diesen Mechanismus in Erfüllung ihrer Aufgaben an und richten ihre Maßnahmenprogramme an der vorgegebenen Diskurspraxis aus. Vorausgesetzt, dass die Programme tatsächlich realisiert werden, setzen sie das bisher nur diskursiv vermittelte Wissenskonzept der Konvention letztendlich erst um. In dem von der ‚Academia de Tango‘ vorgestellten Programm sind für den Tango konkrete Maßnahmen formuliert. Die Referenzen sind die benannten Zielsetzungen Bewahrung, Entwicklung, Forschung, Koordination und Weitergabe der kulturellen Praktik im Sinne der Konventionsvorgaben. Umgesetzt werden sollen diese Ziele durch das Einrichten eines [Dokumentationszentrum] mit den Bereichen des Archivs und der Forschung, eines [Orchester] und eines [Ballett], von [Ausbildung] und entsprechende Ausbildungsstätten (Tanz, Gesang, Komposition, Instrumentenspiel) sowie einer [Publikationsstruktur] von Verlagen und Editionen der Partituren, Texten und anderen relevanten Dokumenten. Mit der Kodierung und Gegenüberstellung des Textkorpus der Dokumente [UE3] und [A1] wird die direkte Bezugnahme der konkreten Programme auf die im Konventionstext benannten verpflichtenden Aufgaben und Maßnahmen deutlich (vgl. dafür auch FN14).15

15 Konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Konventionsinhalte sind im Dokument [A1] benannt: crear la Division Patrimonio: declarar los objetivos/generar un programa/elaborar estrategias y programas; crear un registro internacional: crear mecanismos para la preservacion de los archivos documentales/generar proyectos propios/gestionar mecanismos de financiamiento/crear mecanismos de funcionamiento/establecer estrategias de comunicacion, publicacion y difusion de las diferentes actividades de la division; revitalizar las expresiones culturales: estimular el desarrollo de sus capacidades y conocimiento/promover la investigacion/alentar el desarrollo de proyectos de jovenes investigadores; garantizar la participacion directa: garantizar el reconocimiento/asegurar la transmision intergeneracional de los saberes y las practicas relacionadas; abrir sus puertas: coordinar las acciones/coordinar la postulacion del tango/abrir un espacio de comunicacion.

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Mit dem Kodierungsprozess der diskursiven Elemente der Strukturverhältnisse UNESCO-Konvention IKE konnten Themenkomplexe und diskurstragende Kategorien herausgestellt werden. Als solche sind diese bereits als spezifische Qualitäten gekennzeichnet worden. Darüber hinaus finden sich mit dem Prozess der Rekonstruktion weitere signifikante Strukturelemente. Dazu zählen die Begriffe [MATERIALITÄT] bzw. [IMMATERIALITÄT] sowie die Kategorie [INSTITUTIONALISIERUNG], die [DISKURSFORMATIONEN] mit den Kennzeichnungen Sprachstil und Diskursinhalte, die strukturierende Kategorie [ZEITLICHKEIT] mit den vorzufindenden Zeitebenen und weitere für die Ergebnisinterpretation relevante [AUFFÄLLIGKEITEN]. Der Begriff der Materialität differenziert die benannten Elemente in ihrer Objekt- bzw. Personengebundenheit. Es leitet sich damit ein Vektor ab, welcher die Struktur kategorisch ordnet und für die Analyse der Diskurselemente ein spezifischer differenzierender Wert ist. Es werden die Ebenen der objektgebundenen Elemente, der personengebundenen Elemente, der diskursiven Elemente und der ideellen Elemente sichtbar. Die Elemente auf der Ebene eines hohen Materialitätsgrads entsprechen den objektgebundenen Elementen. Dazu zählen die Konventions-Dokumente, die Berichte, die Inventarlisten, die Orte/Räumlichkeiten und korrespondierenden Objekte der kulturellen Praktik. Die Elemente eines mittleren Materialitätsgrads entsprechen den personengebundenen Elementen. Dazu zählen die (Voll-) Versammlungen, die Konventions-Organe, die Praktiken der Akteure. Die Elemente auf der Ebene eines geringen Materialitätsgrads entsprechen schließlich sogenannten immateriellen Elementen, welche jedoch in einer exakten Zuordnung immer noch mit materiellen oder körperlichen Bestimmungen verbunden sind. Dazu zählen die Narrationen innerhalb der kulturellen Praktik (Körpergebundenheit der verbalen Weitergabe), die Entscheidungen und Ratifizierungen der Konventionsorgane und Staaten (Anwesenheit der Entscheidungsträger oder Unterschriften auf Dokumenten), die Konventionssetzung selbst (Personen erforschen, arbeiten zu, formulieren, diskutieren, geben ab), die Referenzen auf vorläufige Dokumente. Die Elemente auf der Ebene mit dem geringsten/(hypothetisch) keinem Materialitätsgrad sind dem Begriff des Immateriellen zuzuordnen. Hierzu zählen die Ideale, Visionen und Ziele, die ideellen Referenzen, die Mythen des Tangos und die Begriffe der Authentizität und Originalität der kulturellen Praktiken. Neben der Kategorie der Materialität wird eine zweite differenzierende und strukturierende Kategorie eines Institutionalisierungsgrads erkennbar, dem die

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Elemente zugeordnet werden können. Es ergeben sich Bereiche entlang dieses Vektors entsprechend dem unterschiedlichen Institutionalisierungsgrad. Der Bereich des höchsten Institutionalisierungsgrads korrespondiert mit der Institution UNESCO und deren Konventionsorganen sowie diskursiven Elementen wie Dokumente, Konventionsinhalte und ideelle Elemente der Ziele und Interessen. Dem Bereich eines hohen Institutionalisierungsgrads sind die Vertragsstaaten, die exekutiven Konventionsorgane und deren Entscheidungen, Dokumente und Instanzen zugeordnet. Der Bereich eines geringen Institutionalisierungsgrads umfasst die Instanzen im Bereich der umsetzenden Praktiken. Dazu zählen die Academia de Tango, die Forschungs- und Dokumentationszentren, die Spezialistenstellen und Medien. Der nicht-institutionalisierte Bereich funktioniert lediglich als Referenzpol. Zum einen sind kulturelle Praktiken als populäre und authentische Praktiken gekennzeichnet, auf welche sich die vermittels der Maßnahmen umzusetzenden Ziele beziehen. Zum anderen ist es der Bereich der Oppositionen mit den Schlagwörtern Bedrohung, Auslöschung, Missbrauch und Illegitimität, denen sich das Konventionsinteresse entgegenstellt. Damit ergeben sich entlang des Vektors Institutionalisierungsgrad die Bereiche der kontrollierten und der unkontrollierten Praktiken. Der kontrollierte Bereich steht für die Institutionalisierung und zugleich für die Einbindung unkontrollierter Bereiche in die Struktur der UNESCO-Konvention IKE. Das meint die Anbindung der kulturellen Praktiken an ein internationales Rechtsinstrument und seine institutionelle Legitimierung. Die zu rekonstruierende Struktur entspricht aufgrund der durchgeführten Diskursanalyse einer Diskursformation. Sie differenziert Sprachstile und Diskursinhalte. Die Differenzierungen sind den Bereichen der administrativen und institutionalisierten bzw. der kulturellen Praktiken zuzuordnen. Es werden zwei Sprachstile erkennbar. Auf der einen Seite ein mechanistischer Sprachstil, der durch technokratische und administrative Termini gekennzeichnet ist; dem gegenüber ein Sprachstil der belebten Wörter, welcher für Kreativität und Lebendigkeit der Zukunft steht. Desweiteren findet sich ein Bereich der abstrakten Begriffe, die die ideellen, visionären Konzepte sowie die referentiellen Grundwerte umfassen. In der Einordnung der Termini unter Berücksichtigung ihres originären Diskurselementes zeichnet sich ab, dass die Dokumente des höchsten und hohen Institutionalisierungsbereichs ein hauptsächlich mechanistischer Sprachstil sowie einen sehr viel höheren Anteil an abstrakten Begriffen auszeichnet; die Dokumente aus dem geringen Institutionalisierungsbereich hingegen einen stärkeren Anteil an belebten Wörtern aufweisen. Im konkreten kann nachvollzogen werden, dass der Konventionstext [UD4] – als ein isoliertes,

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aber als das zentrale Element des Textkorpus – durch einen funktionellen und administrativen Sprachstil charakterisiert ist, dem nur eine geringe Zahl an weichen Begriffen entgegensteht. Interessant ist die Gegenüberstellung des Elements der ‚Academia de Tango‘ [A1], als die Institution, welche die Antragstellung und Umsetzung der Konvention maßgeblich trägt. Der funktionelle Sprachstil, der den Konventionstext charakterisiert, findet sich auch im Diskurselement der ‚Academia de Tango‘ wieder. Die Analyse erweist jedoch einen höheren Anteil der weichen Begriffe. Diese beziehen sich auf die angestrebte Kreativität und Lebendigkeit der zukünftigen Entwicklung.16 Richtet sich der Fokus auf die inhaltlichen Termini, so zeigt sich eine starke Übereinstimmung der Qualitäten des Konventionstextes [UD4] und des Diskurselements [A1]. Adaptierte Qualitäten darin sind [ORIGINALITÄT und BESONDERHEIT], [GEMEINSCHAFT], [KOOPERATION], [INTEGRATIV], [OFFENHEIT und AUSTAUSCH], [TRANSPARENZ], [SCHUTZ und BEWAHRUNG], [DIALOG].17 Der Konventionstext [UD4] ist dem Bereich eines hohen

16 Termini des mechanistischen Sprachstils finden sich in den Diskurselementen [A1] und [UD4]: mecanismo; estrategia; programas; equípo técnico; registros; archivos; proyectos; financiamento; comunicación; publicación; difusión; la transmision intergeneracional; garantizar; asegurar; coordinar; elaborar. Entsprechende belebte Wörter sind: crear; generar; revitalizar; promover; alentar aus dem Diskurselement [A1] und Lebendigkeit und Neubelebung aus dem Diskurselement [UD4]. Der funktionelle Sprachstil steht für administrative Praktiken: allgemeine Politik; Förderung der Ziele; Unterstützung und Überwachung; Umsetzung und Beratung; Maßnahmen ergreifen; Sicherstellung; rechtliche, technische, administrative und finanzielle Maßnahmen; Verwaltungseinrichtungen und Verwaltung; Vereinbarung; Operationale Richtlinien; Mechanismen; Anträge und Bewilligungen; identifizieren und bestimmen, benennen und einrichten; Forschungsmethodologien; Studien und Gutachten; Zugang. Dem stehen gegenüber die weichen Begriffe: Anerkennung, Achtung, Aufwertung und Stärkung, Neubelebung. 17 Die Ausrichtung der Diskurselemente an der Diskurspraktik der UNESCO wird in folgender Auflistung betreffender Kodierungen verdeutlicht (zuerst benannt die Qualität in [UD4-Konventionstext], gefolgt von [A1-Antragstext] und [UE2-offizieller Text der Tangoeinschreibung auf der UNESCO-Website]): ORIGINALITÄT/BESONDERHEIT – tango tradicional y popular/tango en todos sus aspectos/su propio contexto/verdaderos creadores y actores – practice in traditional dance halls of Buenos Aires and Montevideo; GEMEINSCHAFT – acciones/espacios/practicas/academias/ relacionadas y vinculadas – tradition of music, dance and poetry; KOOPERATION – organismos y universidades/nacionales e internacionales – (--); INTEGRATIV – ase-

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Institutionalisierungsgrads und der administrativen Praktiken, das Diskurselement [A1] dem Bereich eines geringeren Institutionalisierungsgrads und der umsetzenden Praktiken zugeordnet. Darüber hinaus werden die Maßnahmen auf eine kulturelle Praktik aus dem nicht-institutionalisierten Bereich angewendet. Innerhalb dieses Zusammenhangs wird offensichtlich, dass eine Ausrichtung aller Diskurselemente an der Diskurspraktik der UNESCO-Konvention IKE erfolgt. Die Rekonstruktion der Struktur der kulturellen Praktik Tango wird nachweisen, inwiefern diese Qualitäten dort zu finden sind. Neben der Ausrichtung von Diskurselementen (Sprachstil und Termini) zeigen sich signifikante Relationen zwischen den vermittelnden, den zuarbeitenden als auch legitimierenden Praktiken. Hinsichtlich der vermittelnden Praktiken funktioniert die ‚Academia de Tango‘ als Bindeglied zwischen der (bisher nicht) institutionellen kulturellen Praktik Tango und dem institutionellen administrativen ‚Funktionsmechanismus‘. Sie agiert dahingehend, dass die kulturelle Praktik Tango in deren diskursive Praktik eingebunden wird. Mit diskursiven Strategien wird sie in entsprechender Weise transformiert. Die Diskursformationen werden durch das inhaltliche Zuarbeiten kompetenter Spezialisten etabliert: Sachverständige und beratende Organisationen arbeiten mit dem Zwischenstaatlichen Komitee zusammen, Vertreter der betreffenden Gruppen sowie der wissenschaftlichen Einrichtungen (Forschungsstellen und Akademien) beraten die vorschlagenden Staaten. Desweiteren sind die legitimierenden und die umsetzenden Praktiken der Vertragsstaaten zu nennen, ohne die der Anerkennungsmechanismus nicht funktionieren würde und der Konventionstext ein funktionsloses Dokument wäre. Eine starke Argumentationslinie kristallisiert sich in der Kodierung der diskurstragenden Elemente bzw. Qualitäten und des Sprachstils heraus: eine originäre Praktik wird als ein allgemeines Interesse deklariert und mittels der Einbindung in ein internationales Rechtsinstrument legitimiert. Daraus resultiert eine auf die kulturelle Praktik bezogene, sich aber an der institutionellen Diskurspraxis ausrichtende, diskursive Struktur. Das wird darin deutlich, dass die Diskurselemente [A1] der ‚Academia de Tango‘ und der offizielle UNESCO-Text zum

gurar la transmision/intergeneracional/jovenes investigadores – adapt to new environements and changing times; OFFENHEIT/AUSTAUSCH – accesible a los investigadores/abrir espacios de/comunicacion e investigacion – spreading spirit/across the globe; TRANSPARENZ – participacion directa – (--); SCHUTZ/BEWAHRUNG – salvguarda/preservacion/registro y difusion/programa de registro/rescate, dicencia y difusion – safeguarding measures/part of inventory; DIALOG – comunicacion y publicacion – diversity and cultural dialog.

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Tango als immaterielles Kulturerbe auf der Repräsentativen Liste des IKE [UE2] an den Textlaut der Konvention [UD4] stark angelehnt sind. Diese diskursive Ausrichtung trägt sich bis in den Bereich der kulturellen Praktiken hinein. Im Textkorpus Tango – das geht aus den Analyseergebnissen der kulturellen Praktik Tango im Moment ihrer Anerkennung zum IKE hervor – wird die direkte Bezugnahme auf den Textlaut aus [UE2] erkennbar. Mit der Zuordnung der Diskurselemente zu den benannten Vektoren und Bereichen, kristallisieren sich die drei Zeitebenen der Vergangenheit, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen heraus. In der gegenwärtigen Zeitebene finden sich im Bereich der kulturellen Praktiken die betreffenden Gruppen – die [community], die aus Musikern, Tänzern, Komponisten, Lehrenden und Einwohnern besteht sowie die junge Generation [jóvenes], die einbezogen werden soll. Die Konventionssetzung ist ebenso im institutionalisierten Bereich gegenwärtig. Daneben formt sich eine Zeitebene heraus, die historische bzw. im Gegenwärtigen nicht mehr agierende Akteure und Objekte enthält, auf die sich in Dokumenten bezogen wird. Diese Zeitebene weist den Charakter des Originären auf. Zu ihr gehören die ‚wahrhaftigen Protagonisten und Schöpfer‘ [verdaderos actores y creadores], die Arbeiterklasse [the urban class] und die Mischung aus europäischen Immigranten, Sklaven und Kreolen [the mix of european imigrants, slaves and criollos], denen die kulturellen Praktiken [dance, music, poetry, singing] zugeordnet werden. Im institutionellen Bereich finden sich auf dieser Zeitebene die Referenzen, sowohl auf ideeller [Menschenrechte, kulturelle Vielfalt, Kultur- und Naturerbe, etc.] als auch auf Dokumentenebene [vorläufige Konventionstexte und Diskussionspapiere bzw. Memoranden]. Auf der Zeitebene des Zukünftigen sind die zum immateriellen Kulturerbe zu ernennenden kulturellen Praktiken zu verorten. Dem korrespondieren die im Bereich des hohen Institutionalisierungsgrads benannten referentiellen Ziele, Visionen und Ideale. Auf diese wiederum bezugnehmend und im kontinuierlichen Austausch stehend sind die verpflichtenden Maßnahmen und diese umsetzenden Programme. Sie sind damit ebenso zugehörig zum zukünftigen Geschehen. Die Zeitebene des Zukünftigen weist aufgrund der beabsichtigten Einbindung der noch unkontrollierten/nicht institutionalisierten kulturellen Praktiken in die institutionalisierten Strukturverhältnisse keinen Bereich des nicht-institutionellen bzw. unkontrollierten mehr auf. Ausnahme bilden lediglich die Elemente des Oppositionspols [Illegitimität, fehlendes Rechtsmittel, individuelles Interesse sowie Verlust, Verschwinden, Bedrohung]. Auf der Zeitebene des Gegenwärtigen sind als Referenz in der Praxis der Moment der Normsetzung und der Moment der ausagierten kulturellen Praktiken

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zu verorten. Mit der Normsetzung werden Konzepte, Werte und Qualitäten formuliert und legitimiert. Die Oppositionen finden sich im unkontrollierten Bereich mit [Bedrohung] und [Verschwinden]. Der Zeitebene des Vergangenen sind die Referenzpunkte für das Gegenwärtige zuzuordnen. Es zeichnet sich eine Wertelinie ab, die der Normsetzung im Gegenwärtigen und dem allgemeinen Interesse korrespondiert. Die Oppositionen mit der Qualität der (noch) fehlenden Rechtsstaatlichkeit als die negativen Pole gehören ebenso dazu. Auf der Zeitebene des Zukünftigen sind die dem abstrakten Bereich zugehörigen Visionen, Ideale und Ziele zu verorten. Sie finden ihre Umsetzung in den zu vermittelnden und auszuagierenden Maßnahmen und Programmen, sofern sie durch die Vertragsstaaten und umzusetzenden Instanzen legitimiert werden. Mit der Interpretation der Analysedaten werden über die zuvor benannten Kategorien hinaus weitere relevante Aspekte und Elemente auffällig. Im Textkorpus sind keine Diskurselemente vertreten, die dem Bereich der konkreten kulturellen Praktiken entstammen. In der Konsequenz funktioniert dieses benannte Element innerhalb der Diskursstruktur als eine diskursive Referenz, welche von Positionen aus dem Bereich des hohen und geringeren Institutionalisierungsgrads sowie eines hohen nicht personen-/objektgebundenen Grads formuliert wird. Diesem referentiellen Element korrespondiert die Zuschreibung von Werten, indem das diskursive Element ‚Tango tradicional y popular‘ als ‚expresion del lugar‘ bestimmt wird. Ein weiteres Diskurselement aus dem Konventionstext benennt die ‚Bedürfnisse der Entwicklungsländer‘ bzw. die ‚Belange der südlichen Hemisphäre‘, um die Notwendigkeit der Konvention zu begründen. Zugleich kann diese Referenz auf ein ‚Immaterielles‘ mit Betonung der südlichen Hemisphäre und deren Status als Entwicklungsländer als eine Verleugnung, bzw. ein ‚Nicht-Bewusstsein‘ eigener immaterieller Werte interpretiert werden. Ausgehend von der vorangegangenen Rekonstruktion eines Strukturverhältnisses der UNESCO-Konvention immaterielles Kulturerbe mit den signifikanten Themenkomplexen und den diskurstragenden Kategorien konnten weiterführend spezifische Wissenskonzepte herausgearbeitet werden: die Konvention IKE (bzw. der Konventionstext); das Konzept des immateriellen Kulturerbes; das Ziel der Bewahrung des IKE; Tango als kulturelle Praktik i.S. des IKE, das meint als legitimierte kulturelle Praktik; die latent in den Analysedaten zu erkennende Relation der Machtmechanismen und Diskursstrategien. Das erste Wissenskonzept entspricht dem Konventionstext und seiner Genese. Das Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes weist ei-

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ne entsprechende Wertegrundlage auf und positioniert sich innerhalb institutioneller Machtmechanismen. Ein zweites Wissenskonzept enthält das Konzept des immateriellen Kulturerbes. Es basiert einerseits auf der Definition IKE, wie sie im Konventionstext zu finden ist; andererseits fließen die Interpretationen und Anwendungen seitens vermittelnder und umsetzender Akteure ein. Deren Agieren entspricht den Manifestierungen in Form von Maßnahmen, Umsetzungen und korrespondierenden Praktiken. In diesem Zusammenhang wird angenommen, dass kulturellen Praktiken durch die vorschlagenden Staaten im Sinne des Wissenskonzepts immaterielles Kulturerbe dargestellt werden. Das dritte Wissenskonzept basiert auf dem Ziel der Bewahrung. Es ist praktisch und zukunftsorientiert ausgerichtet. Es leitet sich aus dem Wissenskonzept der Konvention IKE ab und wird durch die Interpretation und Umsetzung seitens vermittelnder und umsetzender Akteure, als auch seitens der Akteure der kulturellen Praktiken erweitert. Das vierte Wissenskonzept ist an die kulturelle Praktik Tango gebunden. Tango ist in einer solchen diskursiven Weise dargestellt, in welcher er als immaterielles Kulturerbe legitimiert ist. Das Wissenskonzept Tango entspricht einer kulturellen Praktik im Sinne des immateriellen Kulturerbes, das meint eine als immaterielles Kulturerbe legitimierte kulturelle Praktik. Dieses implizite Wissen referiert auf die ersten drei Wissenskonzepte. Der Tango als die in der Praxis ausagierte Praktik konnte nur als eine diskursive Referenzposition, keinesfalls als ein konsistentes Wissenskonzept erfasst werden. Ein weiteres latentes Wissenskonzept bilden die institutionellen Machtmechanismen und die Diskursstrategien. Hierzu zählt die Diskursanpassung des Dokuments der ‚Academia de Tango‘ und des Präsentationstextes durch das Zwischenstaatliche Komitee an die Kriterien, den Wortlaut und an den Schreibstil des Konventionstexts. Desweiteren fällt in den Dokumenten die Betonung des Populären bzw. Originären auf. Die kulturelle Praktik Tango im Vorfeld ihrer Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe Die Ergebnisse der zweiten Analyse beziehen sich auf die kulturelle Praktik Tango im Vorfeld ihrer Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe. Dieser Analysemoment ermöglicht, die Strukturverhältnisse des Tangos als eine Praktik auf Ebene der Praxis zu rekonstruieren. Sie umfassen die Relationen zwischen Akteuren, Objekten und Praktiken sowie die Formulierung der spezifischen Qualitäten, Wissenskonzepte und ideellen Begriffe.

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Distinktivität des Textkorpus und Perspektivprobleme Die Distinktivität der Textelemente für den Analysemoment ist darin gegeben, dass sie unmittelbar aus der diskursiven Produktion der kulturellen Praktik Tango entstammen. Das umfasst sowohl den Bereich der die spezifischen Praktiken Ausagierenden wie auch den Bereich der reflektierenden und theoretisierenden Positionen. Zu unterscheiden sind darin die Elemente einer internen Perspektive und die Elemente einer externen Perspektive. Die Elemente der internen Perspektive sind Akteuren als deren Autoren zuzuordnen, welche die zugehörigen spezifischen Praktiken ausüben: (Tango)Musiker [Astor Piazzolla18; MUS1–3], (Tango)Dichter [Jorge Luis Borges19; LIT1–4; interpretierend hinzugenommen Fumagalli], (Tango)Tänzer [Juan Carlos Copes20; TANZ1; interpretierend hinzugenommen Elsner TANZ2] sowie autorisierte Repräsentanten [Horacio Ferrer, zugleich Mitbegründer der ‚Academia de Tango‘; HIS5] und anerkannte Historiographen der kulturellen Praktik [Horacio Salas; HIS3/Blas Matamoro; HiS4/Ernesto Sabato; HiS1/Florentino Bustos; HiS2]21.22 Die Elemente der externen Perspektive entstammen der Feder von Au-

18 Astor Piazzolla (1921–1992). Bandoneonist und Komponist. Einer der umstrittensten Tangomusiker. Gilt als der Tangoerneuerer. Er verband den traditionellen Tango mit Einflüssen der klassischen Musik, des Jazz und urbaner Elemente. Es entstand auf diese Weise seine ‚Musik von Buenos Aires‘. 19 Jorge Luis Borges (1899–1986). Argentinischer Literat, Philosoph und selbst ernannter Kosmopolit. War Zeitgenosse des Tango und Mythenschaffender. Fumagalli formuliert die Legitimierung Borges: „[...] se trata de un aporte determinado tambien por sus textos de valor mas ensayistico, pero siempre relacionados con la redefinicion poetica de algunos aspectos del tango. Inferido sobre todo a la ‚historia del tango‘, la cual dibuja un recorrido personal del autor antes que una contribucion interesante a la historiografia del tango.“ Fumagalli: Jorge Luis Borges y el Tango, S.151. 20 Juan Carlos Copes (1931). Renommierter argentinischer Tangotänzer und Vertreter des ‚Tango de Salon‘. Er prägte einen zurückhaltenden, aber stilistisch sauber erarbeiteten Tanzstil. Er initiierte die erste weltweit erfolgreiche Tango-Show, die über Jahrzehnte Welttourneen absolvierte und Vorlage zahlreicher Tango-Shows ist. 21 Diese Akteure sind renommierte Autoren der argentinischen Literatur. 22 Es ist eine bemerkenswerte Abstimmung der mit Piazzolla Zusammenwirkenden zu konstatieren. Kennzeichnend für die Auswahl diskursiver Elemente ist, dass die Autoren nach ihrer Repräsentanz ausgewählt wurden und sich im Nachhinein herausstellte, dass zwischen den gewählten Akteuren eine Zusammenarbeit innerhalb der kulturellen Praktik Tango existierte, welche sich letztendlich um die Person Piazzolla mit den Personen Ferrer, Borges, Copes gruppierte.

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toren, die einen reflektierenden Zugang im Sinne eines theoretischen Wissens zur kulturellen Praktik haben. Sie sind damit – zumindest in ihrer Funktion als Autoren – keine Ausagierenden. Die akademischen Akteure aus dem Kulturkreis des Tangos (Region Rio de la Plata) produzieren eine thematische Referenz [Marta Savigliano23; POL1/Franco Barrionuevo Anzaldi; POL2; interpretierend hinzugenommen Kusch]. Eine historisierende Referenz nehmen akademische Akteure vor, die außerhalb des dem Tango zugehörigen Kulturkreises zu verorten sind [Dieter Reichhardt/Gabriele Klein/Paula-Irene Villa; DT1–6]. Diese sind in die empirische Erhebung nicht eingeschlossen, da sie keinen spezifischen Diskurselementen entsprechen, sondern eine eigene externe Diskursebene generieren. In dieser Konsequenz stehen sie lediglich für Interpretationen der innerhalb der Struktur Tango produzierten diskursiven Elemente zur Verfügung. Diaz-Bone thematisiert desweiteren die Selbstreflexion in der Kulturwelt. Er nennt dafür den Theorieeffekt und die Medialisierung. Er bestimmt sie als die Zurkenntnisnahme und Inkorporierung eines medial oder wissenschaftlich produzierten und eingebrachten Wissens.24 Ein solcher Effekt ist bei vorliegendem Textmaterial in Form von Kategorisierungen, Klischeebildern und selektiertem Wissen vorzufinden. Dieser Effekt ist in der Funktion von Diskursmechanismen jedoch zugleich Teil der Struktur bzw. der Funktionsmechanismen und deshalb gegebenenfalls herauszuarbeiten.25

23 Savigliano ist sowohl persönlich als auch in ihrer Funktion als Wissenschaftlerin dem Tangofeld zugehörig. Sie stammt aus der Rio de la Plata Region und widmete sich erst nach ihrer Emigration in die USA dem Tango und dem Tangotanzen. Daraus entwickelte sich ihr Interesse – aus der ihr zugeschriebenen Position der kolonisierten Autorin und dem damit verbundenen Zwang zur Auseinandersetzung mit Tango aufgrund des eigenen Exils heraus – an der reflektierenden Arbeit zum Tango. Vgl. Savigliano: Tango and the political Economy of Passion, S.XIV/XV Preface. 24 Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.221. 25 Die diskursgenerierenden Akteure reflektieren ihre Position und ihre Stellungnahmen selbst. Dabei weisen sie auf zwei diskursive und anscheinend bereits spezifische Strategien hin. Borges spricht von der Methode der Zuschreibung und formuliert: „Der Tango ist unbedeutend. Seine einzige Bedeutung ist die, welche wir ihm verleihen.“ Borges: Kabbala und Tango, S.112. Ferrer spricht hingegen von der Methode der Metapher und formuliert veranschaulichend: „de todas maneras, esta cuestion de descender al principio del principio del tango, nos pone mas cerca de la conseja que de la ciencia. Esto sera, amigo, como cualquier interpretacion de la historia, un buen ejercicio de la imaginacion, estimulado por el propio misterio de las cosas que se relata.“ Ferrer: el libro del tango, S.4.

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Der Textkorpus formiert sich aus generierten diskursiven Elementen von Autoren, die innerhalb der Strukturverhältnisse Tango einen Namen haben und entsprechend als Repräsentanten des Tangos autorisiert sind. Nicht berücksichtigt sind mögliche diskursive Elemente und Stellungnahmen von unbekannten bzw. unbenannten Akteuren. Deren Berücksichtigung erfordert eine Datenerhebung als Feldforschung anhand von Interviews vor Ort. Ein solcher Textkorpus würde eine Mikroanalyse der konkreten Situation des Ausagierens der kulturellen Praktik Tango ermöglichen. In Bezug auf das Erkenntnisziel einer Rekonstruktion der Strukturverhältnisse Tango unter Einbeziehung der institutionellen und repräsentativen Praktiken und Positionen ist das nicht notwendig. Desweiteren hätte eine solche Datenerhebung bereits im Vorfeld der Ernennung erfolgen müssen. Das war aufgrund des zeitlichen Flusses nicht mehr möglich, da diese Forschungsarbeit erst im Moment der Anerkennung der kulturellen Praktik Tango als immaterielles Kulturerbe motivierte wurde. Eine Datenerhebung im Nachhinein impliziert darüber hinaus problematische Aspekte der ‚oral history‘. Dazu zählen Erinnerung und Verfälschung, Selektion und Mythisierung, Idealisierung als auch Auswirkungen der Ernennung selbst.26 Tango als ein Strukturverhältnis mit diskursiven Ordnungen Hinsichtlich der Beschreibung der Ergebnisse der Textkorpuskodierung muss beachtet werden, dass es sich aufgrund der Vielzahl der Elemente um eine Reduktion auf signifikante Begriffe handelt. (Beispielsweise fällt die Vielzahl an benannten Sängernamen unter das Element [Sänger], es sei denn, ihnen kommt eine weitere spezifische Bedeutung zu.) Es erfolgt zunächst eine Rekonstruktion der Struktur mit den relevanten Elementen und themenspezifischen Konzepten. Eine klare Unterscheidung zwischen den Elementen der Strukturebene oder der Diskursebene ist grundsätzlich schwierig, da mit wenigen Ausnahmen die Elemente (Objekte, Praktiken, Akteure) bereits in der gesamten Tango-Narration,

26 Die Schwierigkeit einer rückverfolgenden Diskursrekonstruktion formuliert Ferrer darüber hinaus in der Kritik zu den historischen Quellen. Ferrer kritisiert die Unvollständigkeit der musikalischen Aufnahmen und das Fehlen der vergessenen, da nicht archivierten Vorläufer. Er formuliert den Gegensatz ‚lo archivado versus lo vivo‘ [das Archivierte gegenüber dem Lebenden], wobei er das ‚lo vivido‘ mit Affekt und Athmosphäre gleichsetzt: „porque el tango se ejecuta con las notas escritas pero solo se recaba y se interpreta con lo que esas notas tienen de sospecha; con […] presentimiento que el corazon sintoniza de algo que merodea la notacion pero que no esta pautado y es incribible, porque no es del gremio de los electrocardiagramas sino del pais de los suspiros y de los sincopes.“ Ferrer: el libro del tango, S.20.

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aus der die analysierten Elemente des Textkorpus stammen, symbolische Bedeutung implizieren und ohne diese implizierten Bedeutungen als Narrationen und somit distinktive Diskurselemente nicht existieren würden. Die Rekonstruktion der Struktur erfolgt – wie es bereits für den vorangegangenen Analysemoment sinnvoll war – über die Einordnung der Elemente entlang der strukturierenden Vektoren Institutionalisierung und Materialität. Der den Institutionalisierungsgrad anzeigende Vektor verläuft zwischen den Polen eines hohen Institutionalisierungsgrads [öffentlicher Bereich/Öffentlichkeit] und eines geringen Institutionalisierungsgrads [privater Bereich]. Die zweite Einordnung erfolgt entlang des Vektors des Materialisierungsgrads. Da ein Begriff von Materialität bzw. Immaterialität innerhalb der kulturellen Praktik Tango – ausgehend von den Analysedaten – nicht existiert, kennzeichnet sich dieser Vektor als eine Einordnung nach dem Grad der Bindung der Elemente an die konkrete ausagierte Form der kulturellen Praktik Tango (spezifischer symbolischer Wert) bzw. in umgekehrter Ausrichtung nach der Bindung an den sozial-geographischen Gegebenheiten (materieller Wert). In der Zuordnung der Elemente in dieses Raster bilden sich zwei Bereiche mit jeweils zwei Polen. Der Bereich der Öffentlichkeit unterteilt sich in den Pol des öffentlichen Bereichs des Ausagierens der kulturellen Praktik Tango und in den Pol des öffentlichen Bereichs im Sinne gesellschaftlicher Gegebenheiten. Der Bereich des Privaten/Individuellen differenziert sich dementsprechend in den Pol der kulturellen Praktik Tango als eine nicht-institutionalisierte, populäre Praktik und in den Pol der existentiellen Bedingungen der einzelnen Akteure bzw. der Eigenschaften der Elemente und des emotionalen Erlebens. Der Übergang der Zuordnungsbereiche der einzelnen Elemente entlang des Vektors des Institutionalisierungsgrads erfolgt fließend, entsprechend der Funktion und Nutzung der Elemente innerhalb der Struktur. In Bezug auf die Übergänge entlang des Vektors des Materialisierungsgrads bzw. der Elemente der kulturellen Praktik Tango oder der sozial-geographischen Gegebenheiten lassen sich hingegen weitere Bereiche der Zuordnung der Elemente differenzieren. Diese können gekennzeichnet werden als Bereich der strukturell-faktischen Elemente; Bereich der kulturellen Praktik Tango korrespondierenden faktischen Elemente; Bereich der kulturellen Praktik Tango korrespondierenden symbolisch/mythischen Elemente. Es wird eine Doppelung der Elemente erkennbar: die im Bereich der strukturell-faktischen Elemente benannten und dem Pol der sozial-geographischen Gegebenheiten zugeordneten Akteure und Elemente sind ebenso in den Bereichen der faktischen und symbolischmythischen Elemente zu finden, gekennzeichnet mit einer spezifizierenden dis-

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kursiven Zuschreibung. Die Elemente der gekennzeichneten Vektorenbereiche werden im Folgenden stichwortartig aufgeschlüsselt.27 Dem Bereich der strukturell-faktischen Elemente entspricht deren sozialgeographische Benennung und schlüsselt sich in den Pol des öffentlichen Bereichs in der Bedeutung institutionell-gesellschaftlicher Gegebenheiten und in den Pol der existentiellen Bedingungen und Gegebenheiten der einzelnen Akteure auf. Als Elemente finden sich das [escenario de Buenos Aires – la Ciudad]28 sowie die [Bevölkerung/Volk] 29 . Es kristallisiert sich heraus, dass [Bevölkerung/Volk] tatsächlich nur jene Akteure umfasst, die ebenso als Ausagierende der kulturellen Praktik Tango angesehen werden, weitere benannte Akteure des [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] bilden Gegenpole: [Politiker] 30 und [clase dirigente/oligarquia] auf institutioneller bzw. sozialhierarchischer Ebene und [gaucho] als Opposition von Stadt und Land. In der Funktion institutioneller Gegebenheiten sind [la institucion] 31 und in der Funktion existentieller Gegebenheiten [la vida social/la realidad social]32 und in besonderer Benennung [el lenguaje] zu finden. Der Bereich der kulturellen Praktik Tango korrespondierenden faktischen Elemente nimmt Elemente des ersten Bereichs auf und konkretisiert diese in ihrer Bindung an ausagierte Formen der kulturellen Praktik Tango. Diese umfassen spezifische Akteure, Praktiken, Objekte und Situationen. Akteure sind die Ausagierenden des Tangos und spezifizieren sich als [TANZENDE]33, [MUSIKER]34,

27 Vgl. zur Veranschaulichung und für die Nachvollziehbarkeit der rekonstruierten Struktur deren schematische Darstellung S.128/Abb.6. 28 Es sind benannt: barrios/patios; calles/talleres; conventillos; confiterías; clubes; cafe de los barrios; bailetines en la calle; circo creollo; baile de carnaval; teatro/varieté. 29 Es sind benannt: Immigranten; Bewohner Stadtrand; Bewohner Conventillo; trabajadores; delinquientes; Prostituierte; ‚Wäscherinnen‘, junge Generation der 90er. 30 Es sind benannt: Irigoyen; Ibaguren; Perón. 31 Es sind benannt: frontera política; justicia; policía; carcel. 32 Im Detail sind benannt: Dolch/Duell; Karren; Alkohol; Kartenspiel (tuf, poker, truco); Glücksspiel; Rennbahn; la familia; el barrio; Mädchenhandel; neues Argentinien. 33 Im Detail sind benannt: Kleinbürgertum; bessere Gesellschaft (feine Damen/niño bien); Mittelschicht (Werktätige und Studenten); Compadritos mit Mädchen; Miettänzerinnen, Tanzdamen; Anwälte, Richter, Künstler; Autoren, Musiker, Komponisten; conflinfleros, Prostituierte. 34 Im Detail sind benannt: Musiker und Orquester der verschiedenen Genres: instrumentistas; compositores; MusikerInnen; Piazzolla; Guardia Vieja; Orquestras Típica; Piazzolla; Avantgarde.

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[DICHTER]35, [SÄNGER]36 sowie ein hörendes Publikum [HÖRENDE]. Die spezifischen Praktiken des Tangos umfassen [TANGOTANZ], [TANGOMUSIK] und [LETRAS de TANGO] als Poesie/Lyrik und als gesungener [Tango Canción]. Den spezifischen Praktiken zugeordnet finden sich die Lokalitäten [PISTA de BAILE]37 und die mit der Tangomusik verbundenen [Instrumente]38. Eine signifikante Position kristallisiert sich durch die Vielfachnennung für das [BANDONEON] heraus. Diese benannten Elemente sind ebenso im Bereich des individuellen Erlebens der Akteure als das individuelle Ausagieren, als auch im Bereich der Öffentlichkeit und der institutionalisierten Strukturen innerhalb der sozialgeographischen Gegebenheiten (Stadtraum) zu finden. Dem entgegen verbleibt das Element [lenguaje] im Bereich des Privaten im Sinne eines ‚Außerhalb‘ institutionalisierter Strukturen und spezifiziert sich als [LUNFARDO]. Dem Pol der strukturalisierten Öffentlichkeit (mediale Infrastruktur) im Bereich der Öffentlichkeit sind signifikante Bezugspunkte für die externen/analytischen Diskurse zuzuordnen. Verschiedene [MEDIEN] 39 sind an die Genese und Weiterentwicklung des Tangos gebunden. Der europäische Kontext [dt/europ.Szene]40 ebenso wie die Bühnenversion und künstlerischen Entwicklungen des Tangos [BÜHNENSHOW] stehen für seine Wahrnehmung und Appropriation außerhalb seines originären geographischen Raums. Der [TANGO in PARIS]41 korrespondiert darüber hinaus in den internen Diskursen einem magischen-mythischen Gegenpol zum [escenario de Buenos Aires – la ciudad] und ist Teil der TangoNarrationen. Im Bereich der symbolisch/mythischen Elemente sind zugleich Elemente des ersten als auch des zweiten Bereichs wiederzufinden – das meint alle faktischen

35 Es sind benannt: Dichter der verschiedenen Epochen: 20er (llorón); 30er (típico); 40er (social); Ferrer (lírico); 70/90er (nuevo) sowie Dichter in unzähliger Namensnennung. 36 Es sind benannt: Gardel, Goyeneche, Sosa, Rovira; SängerInnen sowie Sänger in unzähliger Namensnennung. 37 Im Detail sind benannt: Tanzlokale; Tanz-Salon; Tanz-Cafe am Wochenende; TanzLokale: (lo de Hansen) und (Maria laVasca); cabaret; academias/burdeles. 38 Im Detail sind benannt: Violine, Guitarre, Flöte; Oganito; Piano, Kontrabass, (Harfe); Besetzung Orquestra Típica, Bandoneon. 39 Im Detail sind benannt: Strassenbahn; Cabaret; Zeitungen; Cafe/Tanzlokale; Radio; Kino/Film; Vinyl/Phonograph. 40 Im Detail sind benannt: Produzenten: Organisation Milongas; Konsumenten: Tanzende; Gäste/Besuchende. 41 Im Detail sind benannt: Oberschicht: Guiraldes/Machado.

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Elemente. Diese korrespondieren in ihrer Nennung, die einer symbolischen bzw. mythischen Kennzeichnung entspricht, der kulturellen Praktik Tango. Das [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] und [pista de baile] formen [el mundo compadrito]42. [Bevölkerung/Volk] bzw. in ihrer Spezifizierung als [TANZENDE], [MUSIKER], [DICHTER], [SÄNGER] sind die [personajes típicos]43. Die weiteren Akteure [Politiker], [gaucho], [clase dirigente/oligarquia] und [la institucion], welche die Pole im gesellschaftlich-institutionellen Bereich bilden, tauchen lediglich in den [schriftl.Referenzquellen]44 und den [letras de tango] bzw. [el tango como tema del tango]45 auf. Anstelle dessen finden sich im Bereich der Öffentlichkeit die [Repräsentanten] der kulturellen Praktik Tango. Die Elemente [lenguaje] und [vida social – la realidad social] am Pol der existentiellen Bedingungen und des individuellen/emotionalen Erlebens fließen ebenso in die Konstitution der Elemente [el mundo compadrito] und [el tango como tema del tango] gemeinsam mit den spezifizierten Elementen [pista de baile], [letras de tango] und [lunfardo] ein. Die [schriftl.Referenzquellen] wiederum generieren interne Diskurselemente aus der Genese des Tangos und externe Diskurselemente im Schreiben über Tango. Mit dem Kodierungsprozess lassen sich spezifische Qualitäten und Eigenschaften sowie Diskurse, Konzepte und abzuleitende signifikante Kategorien erkennen. Sie kennzeichnen und verdeutlichen spezifische Strukturen und verweisen auf symbolische Bedeutungen. Die spezifischen Qualitäten und Eigenschaften sind den vorgenannten Elementen direkt zuzuordnen. Es handelt sich um Qualitäten im Sinne von Funktionszuschreibungen oder Eigenschaften. Die dem diskursiven Konzept der [GENESE des TANGO] korrespondierenden Veränderungen implizieren die Elemente [vida social – la realidad social] als gesellschaftliche Gegebenheiten, [Politiker] als strukturell-institutionelle Gegebenheiten, [MEDIEN] als die medialen Elemente. Kennzeichnend für diese Relation ist die Veränderung der benannten Elemente im sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bereich seitdem benannten [URSPRUNG] des Tangos bis in die [90erJahre] des 20. Jahrhunderts hinein. Die kontinuierliche Veränderung der kulturellen Praktik im Zuge der veränderten Gegebenheiten der so-

42 Im Detail sind benannt: arrabal; esquinas; orillas; corales; lupinares/quilombo. 43 Im Detail sind benannt: compadre/malevo; pupta/pupila; milenita/madame; gil/ compadre; conflinflero/cafisho; Tanzdame; niño bien. 44 Hierzu sind zu zählen als anerkannte und benannte Repräsentanten: Gardel, Piazzolla und die ‚Academía de Tango‘ unter Initiator und Direktor Ferrer. 47 Es sind benannt: amor; mujeres; reproche; Liebesleid; Glücksspiel; la madre; barrio.

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zialen Realität begründet sich mit dieser Relation, ohne dass das Authentische abgesprochen wird. 46 Die verschiedenen Medienformen verstehen sich als die Träger dieser Veränderungen. Dieser dekadenüberspannende [Wandel] der kulturellen Praktik zeigt sich in den einzelnen Praktiken des Tangos [TANGOTANZ], [TANGOMUSIK] und [LETRAS de TANGO]. Die Musik des Tangos kennzeichnet sich durch sich veränderte und durch Orchesterformationen oder einzelne Musiker getragene Stile, beginnend mit den originären Grundrhythmen und musikalischen Formen. 47 Bei den Dichtern und Sängern finden sich ebensolche Stildifferenzierungen und sind gleichermaßen gebunden an bestimmte Personen48 oder Charakterisierungen49. Neben den Veränderungen und der Genese [Wandel] kennzeichnen weitere Elemente in der Funktion fundamentierender Kategorien die kulturelle Praktik Tango. So weist die Kodierung für den ‚Ursprungsmythos‘ drei Elemente auf. Das [Bandoneon] als das ‚Instrument des Tangos‘ ist mit seinem ihm eigenen Klang als [sello definitivo] gekennzeichnet, obwohl und möglicherweise gerade deshalb die [llegada del bandoneon] einem unerklärbaren Mythos gleicht. Ein weiteres Element ist der [lunfardo], der als Sprache der sozialen Gegebenheiten des Tangos den Elementen [pueblo], [lo propio] und [el poseer del barrio] korrespondiert. Ein originäres Element, das innerhalb der Praktiken des Tangos noch immer präsent, aber ebenso Teil des [Ursprungsmythos] ist. Dasselbe gilt für das Element [Tango en Paris]. Es steht für einen wichtigen Moment in der [Genese des Tango] der Anfangsjahre und kann damit ebenso dem [Ursprungsmythos] zugeordnet werden, gleichzeitig aber korrespondiert dem Traum des nunmehr fernen [Europa] der gehobenen Klasse und der Bohème. Weitere Elemente sind grundlegende kategorisierende formale Zuordnungen. Die [Musikkategorien]50 kennzeichnen die Charakteristik der Musik des Tangos, die [Tanzgrundkategorien]51 entsprechend die Spezifik des Tangotanzes. Die ge-

46 Eine Stellungnahme: „al cambiar de ambiente, el género habia asimilado la nueva realidad [...] el tema de tango dejo la estrechéz original dada por los personajes y los hechos del microcosmos nativo.“ Matamoro: La Ciudad del Tango, S.100. 47 Benannt sind: origen/ritmos; Guardia Vieja; Orquestras Típica; Piazzolla; Avantgarde. 48 Das sind bei den Sängern: Gardel; Goyeneche, Sosa, Rovira sowie die SängerInnen. 49 Das sind bei den Dichtern die signifikanten Epochen: 20er (llorón); 30er (típico): 40er (social); Ferrer (lírico); 70/90er (nuevo). 50 Als Musikkategorien sind benannt: Rhythmus, Duktus, Dichte, Dynamik, Klangfarbe, Struktur, Harmonik, Klangkörper. 51 Im Detail sind benannt: Tanz-Grundkategorien (Führung, Rollen, Gehen, Achse); Tanz-Techniken (corte, Haltung, quebrada), Grund-Axiome.

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samte Thematik des Tangos [el tango como tema del tango]52 ordnet sich den [LETRAS de TANGO] zu. Diese spiegeln die sozialen Gegebenheiten als auch die Befindlichkeiten der Akteure wider, enthalten aber auch Narrationen und Charakteristiken des Tangos. Den [LETRAS de TANGO] ebenso impliziert wie [el mundo compadrito] ist die Aufteilung der Akteure in [Frauenrollen] 53 und [Männerrollen]54. Die Rollen entsprechen signifikanten Akteuren innerhalb des Tangos bzw. wie sie innerhalb der Narrationen vermittelt sind. Neben dem Themenbereich der Genese und Entwicklung des Tangos und der signifikanten fundamentierenden Elemente generieren die beiden weiteren spezifischen und benannten Positionen der Referenzquellen und der Repräsentanten spezifische Qualitäten. Die [schriftl.Referenzquellen] für die Diskurse, Textelemente und Narrationen innerhalb der Struktur differenzieren sich in interne und externe Diskurse und darin generierte Textelemente. Die internen Referenzquellen generieren Qualitäten im Themenbereich des Ursprungs und des Mythos. Ein Fokus liegt auf den [Einflüssen] auf die Genese des Tangos und sind Teil der ‚Tango-Erzählung‘. Dazu zählen die Immigration in die Entstehungsregion Rio de la Plata, die politischen Interessen in Bezug auf die Unterstützung oder das Rückweisen der kulturellen Praktik Tango innerhalb der Gesellschaft sowie die Einflussfaktoren Europa und USA für den ‚Import‘ und ‚Export‘ des Tangos. Die externen Referenzquellen weisen einen soziokulturell-analytischen oder einen kritisch-analytischen Zugang auf. Ein thematischer Fokus der externen Diskurse richtet sich auf den [Tanzkörper]55. Darüber hinaus werden die im öffentlichen Bereich zu verortenden und seitens der Akteure der kulturellen Praktik im individuellen Bereich legitimierten [Repräsentanten] mit Charakterisierungen benannt. So korrespondiert dem Sänger [GARDEL] die Qualität ‚TangoLlorón‘ und der ‚individuelle Traum eines jeden Porteño‘. Dem Musiker [PIAZZOLLA] korrespondiert die ‚musikalische Revolution‘. Der repräsentativen Institution für den Tango im institutionellen Bereich [Academia de Tango] unter Leitung der Person Ferrers korrespondiert hingegen die Einbindung in institutionelle Strukturen.

52 Für die Kategorie sind benannt: Vorstadt-Welt; Sorgen und Not des Kleinen Mannes; Sinnsuche; Nostalgie, Melancholie, llorón; Bandoneon, la ciudad de Buenos Aires. 53 Als Frauenrollen sind benannt: Tanzpartnerin; Animierdame; Mama; prostituta. 54 Als Männerrollen sind benannt: porteno/argentino; guapo/taita; compadrón/compadre; cafisho/canflinflero; malevo/niño bien. 55 Das sind: leibliche Ergriffenheit; Emotionalität; Emotivität; Präsenz; Kommunikation.

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Über die benennenden Kennzeichnungen und Charakterisierungen hinaus können den signifikanten Elementen aus dem Kodierungsprozess heraus diskursive Konzepte zugeordnet werden: Geographisch-soziale Gegebenheiten (‚patria mítica‘): das [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] umfasst als Kategorie der geographisch-sozialen Gegebenheiten Orte der kulturellen Praktik Tango.56 Es zeichnet sich als ein authentischer Ort des Ausagierens und als ein symbolischer Ort der Narrationen des Tangos aus. Signifikant vor allem die Benennung des [barrio] als ‚patria mítica‘ der Tango-Akteure (die [personajes típicos] und die Ausagierenden [TANZENDE], [SÄNGER], [DICHTER] und [MUSIKER]). Typologisierungen (‚el mundo compadrito‘ und ‚personajes típicos‘): eng daran gebunden formiert sich das diskursive Konzept von [el mundo compadrito] und den zugehörigen [personajes típicos]. Zwei Differenzierungen sind darin signifikant: das ambigue [Frauenbild] und das [Männerbild] des ‚männlichen virilen Porteño‘. Das ‚ambigue Frauenbild‘ benennt auf der einen Seite die Mutterrolle der sorgsamen, gefühlvollen Frau des heimischen Viertels (hogar); auf der anderen Seite die sinnliche Frau bzw. in deren Extrem die Prostituierte in ihren Eigenschaften der Verführung des Mannes und Bedrohung seiner Existenz. Steht das Mutterbild zugleich für die emotionale Seite des Mannes, seiner Herkunft, seiner Sehnsüchte, seiner Vergangenheit; so steht die ‚sinnliche, verführende Frau‘ für das Prestige seiner Männlichkeit, die ‚Prostituierte‘ hingegen als Untermauerung seiner Sexualität. Das Männerbild zeichnet einen ‚männlichen virilen Porteño‘ als einen Bewohner der Stadt Buenos Aires, welcher sich dementsprechend bewegt und verhält, stets in enger Bezogenheit auf sein heimisches Viertel. 57 Sind diese Akteure als Typologisierungen benannt, so sind ihnen in Funktion von [Repräsentanten] konkrete Personen als auch für sie stehende diskursive Konzepte zugeordnet. Solche Repräsentanten sind [GARDEL] benannt als ein ‚nationaler Mythos‘, [PIAZZOLLA] gekennzeichnet als eine (musikalische) ‚Revolution‘ im Tango sowie [FERRER] bzw. sein Vorsitz und Wirken in der [ACADEMIA de TANGO], die wiederum die ‚patria mítica‘ proklamieren. Alle drei Repräsentanten sind als [MEILENSTEINE] im Sinne von ‚Wendepunkten‘ in der Genese des Tangos benannt. Diskursrelationen (‚tangología‘ vs. ‚Erwartungen‘); ein weiteres diskursives internes Konzept kennzeichnet sich als [tangología]. Es korreliert mit den

56 Die Kategorie umfasst: barrio, calles, arrabal, el cafe, etc. 57 Das Männerbild ‚Männlichkeit/Virilität‘ kennzeichnet den porteño als ‚obligado ser macho‘, impliziert [männl. Bewegungsformen] und seine spezifische habitusform: ‚el tango es macho‘. Die Typologie ‚Virilität‘ umfasst [Stärke, Mut, Furcht, Respekt].

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[schriftl.Referenzquellen] und den diskursiven Positionen der sprechenden Subjekte.58 Es formiert sich aus den signifikanten internen und externen Diskursen (wie letztendlich alle diskursiven Konzepte auf den schriftlichen Referenzquellen entstammenden internen und externen Diskursen basieren). Schließlich lässt sich ein mit der Antragstellung zum Tango erst zu formulierendes diskursives externes Konzept der [Erwartungen] benennen. Dieses steht für Erwartungen an den Tango als immaterielles Kulturerbe seitens der politischen Institutionen/Politiker und umfasst hierfür Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Vorteile im ökonomischen, wirtschaftlichen und politischen Bereich (Tourismus, Wirtschaft, Nation, Außenpolitik bzw. internationale Zusammenarbeit). Das Konzept steht ebenso für seitens der externen Tanzenden bzw. deren Analytiker formulierten Erwartungen an die kulturelle Praktik Tango. Diese beziehen sich vor allem auf die Erfüllung sexueller Bedürfnisse, das Versprechen von Leidenschaft, Sinnlichkeit und Intensität, aber auch auf soziale Aspekte der Kommunikation und Individualität. Oppositionen (‚gaucho‘ und ‚TANGO en el MUNDO‘): ein signifikantes diskursives Konzept, das einen Gegenpol zum [Tango-Akteur] und zum [escenario de Buenos Aires] bildet, ist der [gaucho]. Außerhalb des [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] steht er zwar ebenso für ‚patria mítica‘, ist aber den Konzepten [lo originario] und [urbano/porteño] nicht zuzuordnen. Ein weiteres oppositionelles Konzept, das sowohl externe als auch interne Bezugspunkte aufweist, formiert sich als [TANGO en el MUNDO] im Zusammenspiel mit den entsprechenden lokalen Tangoszenen [dt./europ. szene] außerhalb des Rio de la Plata und den weltweit tourenden [Tangoshows]. Die Kennzeichnungen [Passion] als ein emotionales Kapital und [Exotismus/Autoexotisierung] als eine Funktion, sind diesem Konzept zugeordnet. Tango in Europa weist mit dem [TANGO in PARIS] einen Unterpunkt der internen Diskurse auf. Dieser steht sowohl für einen ‚Meilenstein‘ der Genese des Tangos als Import/Export-Effekt, als auch für den ‚Mythos Paris‘ als Repräsentation des Traums eines Tangueros von ‚Wohlstand, Klasse und Ferne‘. Rekonstruktion einer Diskursformation aus Diskursstrategien, diskursiven Konzepten und Wissenskonzepten Anschließend an die Rekonstruktion der Strukturen zwischen Akteuren, Objekten und Praktiken werden die signifikanten diskursiven Konzepte, Diskursstrategien und Wissenskonzepte herausgearbeitet.

58 Das spezifische signifikante Konzept im Sinne einer ‚diskursiven Position des sprechenden Subjekts‘ nach Barrionuevo Anzaldi; vgl. ders.: Politischer Tango, S.99.

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Im Textkorpus finden sich spezifische Konzepte und Diskurse, die sich in Bezug auf ihre Referenzquellen und ihre Verweildauer differenzieren lassen. Das sind einerseits die internen und die inkorporierten Konzepte bzw. korrespondierenden Diskurse, andererseits die von internen Akteuren aus einer reflektierenden Position heraus generierten. Darüber hinaus lassen sich im zeitlichen Verlauf der Entwicklung des Tangos bis zum Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe Konzepte und Diskurse identifizieren, die durch externe beschreibende bzw. analysierende Akteure generiert und in zunehmendem Maße der Struktur zugehörig sind. Die internen Diskurse umfassen Themen aus dem privaten Bereich und dem Bereich der öffentlichen Elemente. Die internen reflektierenden Konzepte und Diskurse sind dem öffentlichen Bereich zugeordnet. Das begründet sich damit, dass sie für eine öffentliche und legitimierende Rezeption generiert sind. Sie sind Teil der kulturellen Praktik Tango, stehen aber nicht für das Ausagieren der Praktik selbst, sondern entsprechen einer reflektierenden Distanzierung ihnen gegenüber. Den reflektierenden Praktiken ist ein spezifisches künstlerisches, literarisches, historisches oder politisch-ökonomisches Interesse vorausgesetzt. Die aus einer externen Perspektive generierten Konzepte und Diskurse sind nicht konstitutiv der kulturellen Praktik und bilden die Randbereiche der Struktur. Es handelt sich einerseits um genrefremde Themenbereiche und andererseits um weiterführende Aspekte der formalen Definition des Tangos. Die erfassten signifikanten diskursiven Konzepte werden im Folgenden benannt: Das interne Konzept des [URSPRUNG/ORIGEN] beinhaltet zunächst historische Daten. Darüber hinaus umfasst es die spezifischen Narrationen (‚oral history‘ der tangueros) und den signifikanten [URSPRUNGSMYTHOS]. Der Ursprungsmythos generiert sich auf Basis eines ‚Ungewissen‘, das der nicht abgesicherten historischen Datenlage und der offenkundigen Rekonstruktion von vermeintlichen Referenzquellen geschuldet ist. Die Elemente ‚historische Daten‘, ‚Narrationen‘ und ‚Ursprungsmythos‘ stehen in engem Zusammenhang mit den Konzepten der [HIBRIDAJE] 59 , des sozio-kulturellen und ökonomischen Umfelds des [VIDA SOCIAL], des besonderen der [LENGUAJE/LUNFARDO] und der resultierenden [SINGULARIDAD] des Ursprungs. Das bedeutet, dass nur in diesem Moment unter den gegebenen Umständen am Rio de la Plata als das [escenario de Buenos Aires – la Ciudad] die Entstehung des Tangos möglich

59 [HIBRIDAJE] meint die Umstände und Einflüsse der Immigration zum Entstehungsmoment und der Entwicklung des Tangos. Dazu zählen das Einbringen europäischer, afrikanischer und indischer Elemente, als auch in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase die modernen Einflüsse aus Westeuropa und Nordamerika.

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war. Das Diskurskonzept [lo ORIGINARIO] 60 kennzeichnet sich dementsprechend als dem Moment und dem Ort zugeordnetes originäre Phänomen und originäre Seinsweise. Ein zweites internes Konzept erweist sich mit dem Element der Stadt Buenos Aires als das [ESCENARIO de Buenos Aires – la CIUDAD]. Sie steht für das den [URSPRUNG/ORIGEN] generierende Element [KULTUR der VORSTADT] 61 . Diese ‚Erlebnisdimension Buenos Aires‘ ist Teil der sozialen Wirklichkeitsstruktur und steht für eine signifikante Identität und ‚Haltung der Würde/Ehre‘ gegenüber der eigenen Lebenswelt. Die Genese dieser Elemente korreliert mit der Genese des Tangos: ‚la historia de Buenos Aires es la historia del tango‘. Aus dieser Idealisierung heraus, die bereits einer Mythisierung gleichkommt, erwächst das Diskurskonzept der [METAFISICA tanguera]. Diese versteht sich als eine von internen Akteuren gelebte und verbalisierte Selbstauffassung als ‚porteño/tanguero‘ und eine Selbsterfahrung des ‚escenario de Buenos Aires‘. Beide Aspekte werden im Sinne eines ‚philosophischen Zustands‘ der kulturellen Praktik Tango kommuniziert. Neben dem ‚Ursprungsmythos des Originären‘ und dem ‚escenario de Buenos Aires‘ im Sinne einer ‚metafísica del tango‘ kann die [GENESE des TANGO] als ein weiteres internes diskursives Konzept benannt werden. Es umfasst den Aspekt der Entwicklung der kulturellen Praktik und den zugehörigen so benannten ‚Meilensteinen‘ sowie den Aspekt des Wandels und den so benannten ‚Wendepunkten‘. Die Entwicklung des Tangos wird grundsätzlich in sechs Phasen eingeteilt, beginnend in den 1880er Jahren, endend – begrenzt durch den gewählten Textkorpus – mit der ersten Dekade der 2000er Jahre. Sie differenziert die musikalische Entwicklung 62 , die Entwicklung der [LETRAS de

60 Im Konkreten wird im Textkorpus formuliert: ‚fenómeno mas original de la plata‘, ‚modo del ser porteño‘; Stadt und Mensch fusionieren in ihrer Konstitution: ‚Immigrant formiert Stadt/Stadt formiert Mensch‘. 61 Die Aufschlüsselung dieser Vorstadtkultur erfolgt über die politisch-ökonomische Entwicklung [VIDA SOCIAL], die (Vor-)Stadt als lokaler und authentischer Lebensraum [ESCENARIO de Buenos Aires – la CIUDAD], die korrespondierenden Erlebnisformen und Kulturtechniken [ALMA PORTENA], und schließlich die korrelierenden Kommunikationsformen und Lebensformen [ESTADO PORTENO], [LUNFARDO] bzw. [el MODO de POSEER la CIUDAD]. 62 Die hierbei unterschiedenen Stile bzw. Kategorien sind bailables/no-bailables; con/sin letras; mala fama y prostibulario/popular y decente.

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TANGO] 63 und in geringem Umfang die Entwicklung von Tanzstilen 64 . Der

[Wandel] macht sich vor allem an historischen und sozio-kulturellen Bruchstellen 65 deutlich. Sie geben Impulse für Veränderungen. Das diskursive Konzept des [Wandels] umfasst neben der kanonischen Beschreibung einer Genese ebenso die Konfrontation von [Neuem/neue Elemente] und formuliert Bewertungen für das neue Element ‚europeizarlo‘ in Konfrontation mit dem ‚Althergebrachten‘. Der ‚Wandel‘ realisiert sich in drei Aspekten: der [KLASSENTRANSFER/RE-IMPORT], die [MEDIENENTWICKLUNG] – beide sind Träger einer expressiven kulturellen Praktik – und die Bindung an das Element [ESCENARIO de Buenos Aires – la CIUDAD], das sich grundsätzlich innerhalb der oben benannten Kategorien entwickelt. Die Elemente, die die [GENESE des TANGO] generieren, transformieren schließlich zu den repräsentativen ‚Meilensteinen‘: sie werden der kulturellen Praktik inkorporiert und als Teil seiner Genese benannt. Diese Veränderung führt zu einer symbolischen Überhöhung in der Funktion von signifikanten [MYTHEN oder LEGENDEN]. Dieser Prozess führt zu einem weiteren internen diskursiven Konzept. Es umfasst die thematischen Elemente [BANDONEON], [GARDEL] und [PIAZZOLLA]. Diese drei Elemente haben eine gemeinsame Basis. Die ‚unerklärbare Ankunft‘ und der ‚fatale Klang des Bandoneons‘, der überlieferte persönliche Lebensweg Gardels sowie die ‚essentielle Musik von Buenos Aires‘ von Piazzolla bilden eine Parallele zur Genese des Tangos und korrespondieren dem [URSPRUNGSMYTHOS]. Das Bandoneon wird als ‚das Instrument des Tangos‘ benannt. Durch seinen ihm eigenen und dem Tango als charakteristisch geltenden Klang sowie durch das Mysterium seiner Ankunft im ‚escenario de Buenos Aires‘ funktioniert es in der Nennung als ‚sello definitivo‘ des Tangos. Sein Klang gilt als die ‚urbane Stimme des Tango‘, der Tanguero personifiziert das Instrument als seine eigene Befindlichkeit. Die Stadt als auch die ‚alma porteña‘ sind im [BANDONEON]

63 Es sind zu differenzierende Inhalte der [LETRAS de TANGO] benannt, welche zugleich eigene Kategorien der Kodierung bilden: eine Perspektive auf Leben; Gefühle/estado; fühlbar und hörbar; Spiegel der Wirklichkeit; authentischer Ausdruck von Buenos Aires und seiner Bewohner: ‚comedie humaine‘. 64 Es wird lediglich in [TANGO del PROSTIBULARIO] (‚BAILE SEXUAL‘; mit diesem Ruf in Europa und innerhalb der Oligarchie: sexuelle Natur: lasziv, obszön, unsittlich, erotisch) und [TANGO de SALON] (gesellschaftsfähig) unterschieden. 65 Als solche Bruchstellen sind benannt: cabaret; canto/tango canción; 20er Jahre Tango de Salon/Jazz; Discepolo und seine ‚letras‘; Rock, Punk und Untergang des Tango; 90er Jahre/electrotango.

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präsent. Mit dem [BANDONEON] beginnt die eigentliche Epoche des Tangos. [GARDEL] als zweiter ‚Meilenstein‘ der musikalischen Entwicklung, indem er dem Initiationspunkt des ‚Tango Canción‘ als den romantisch-nostalgischen ‚Tango Llorón‘ korrespondiert, sieht sich als [MITO] stilisiert. Er repräsentiert den ‚sueño del tanguero‘ auf Erfolg und Glück. Der ‚caso piazzolla‘ schließlich führt zu einer Wende in der Eigendefinition des Tangos und zu einer Konfrontation der Akteure. [PIAZZOLLA] korrespondiert der musikalischen Avantgarde, für eine Erneuerung des bisherigen musikalischen Kanons und für eine neue Erlebnisdimension des ‚escenarios de Buenos Aires‘. Der Tango verändert sich musikalisch, bleibt weiterhin ‚die Musik von Buenos Aires‘, allerdings des ‚neuen Buenos Aires‘.66 Ein mit der [GENESE des TANGO] korrelierendes diskursives Element formiert sich um die [OPPOSITIONEN] der Struktur. So sind im Bereich der internen Diskurse die Elemente des ‚gaucho‘, die ‚cosas de negros‘ und die ‚oligarchia‘ benannt, im Bereich der internen reflektierenden Diskurse sind dem die Elemente ‚Folklore‘ und die Einflüsse aus ‚Klassik, Jazz, Rock‘ hinzugefügt. Sie generieren ein diskursives Konzept um das [NO ES]. Ein übergeordnetes diskursives Konzept etabliert sich mit der [TANGOdefinition]. Im Bereich der internen Diskurse finden sich hierfür die Begriffe [ESSENZ] und [BEFINDLICHKEIT]67. Tango definiert sich innerhalb dieses diskursiven Konzepts als der ‚estado porteño y universal‘ ebenso wie als der ‚estado de las cosas‘. In seiner [ESSENZ] korrespondiert die kulturelle Praktik der [BEFINDLICHKEIT] der agierenden ‚tangueros‘ und dem [lo ORIGINARIO] der sozio-geographischen Gegebenheiten des ‚escenario de BUENOS AIRES‘. Die [ESSENZ]68 umfasst die Aspekte [URSPRUNGSMYTHOS] als den Vergangenheitsbezug, dem [MODO de SER PORTENO] als Befindlichkeit und Identitätsmoment, vor allem aber formiert sie einen (gegenwärtigen) [Teil des kulturellen

66 [PIAZZOLLA] steht als ‚Meilenstein‘ für Fortschritt, Kraft und Qualität. Als zugehörige Elemente sind Jazz, Kammermusik, klassische Musik sowie der Bezug zur Ästhetik des Balletts und der Poesie benannt. 67 Zu ESTADOS/BEFINDLICHKEIT finden sich im Detail benannt: RECUERDOS/ NOSTALGIA; SOLEDAD; RENCOR/DESCONTENTO; RESENTIMIENTO; TRISTEZA; ILLUSION/DES-ILLUSION. 68 Im Detail werden benannt: ‚PASADO ILUSORIO‘; ‚PARTE de NUESTRA BIOGRAFIA‘; ‚FAJA de NUESTRA HISTORIA‘; ‚PREGUNTA sobre NUESTRA IDENTITAD‘; ‚representacion de la vida social‘; ‚lo de hoy y urbano‘.

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Erbes]. Ein weiterer Aspekt kommt mit dem Begriff der [LIBERTAD]69 hinzu, der von Agierenden der tänzerischen Praktik benannt wird. Im Bereich der internen reflektierten Diskurse werden Fremdkonzepte erkennbar, die der kulturellen Praktik Tango neben den vorbenannten Qualitäten der internen Diskurse signifikante Kennzeichnungen zuschreiben. Diese sind [UNIVERSALIDAD] und [AUTENTIDAD/ECHTHEIT]70. Ersteres steht für seine Essenz der ‚alegría y tristeza‘, wobei die Universalität in seinem ‚origen heterogeno‘ und ‚lo humano‘ liegen soll. Zweiteres basiert auf den beiden Kategorien von Erfahrung, Wissen, Können, Empathie und von der ethnischen Kategorie und seinem Ursprungsort, vertreten durch [lo ORIGINARIO] und [el HIBRIDAJE]. Sie formieren das diskursive Konzept des [lo AUTENTICO]. Ein Vertreter dieser internen reflektierenden Diskurse ist [FERRER]. Sein Schreiben über Tango im Form von Narrationen und reflektierter Historisierung entspricht einer [KANONISIERUNG] im Rahmen der ‚Academia de Tango‘, steht aber zugleich für eine Legitimierung innerhalb der Strukturverhältnisse. Auf dieser Diskursstrategie der Kanonisierung basiert das diskursive Konzept des [lo PROPIO del TANGO]71. Darin wird das Ausagieren des Tangos als ein ‚modo de posession de la ciudad‘ formuliert. Im Textkorpus wird die sich wiederholende Referenz auf Ferrer offensichtlich. Die kulturelle Praktik Tango formiert das Konzept [el ARTE del TANGO] mit Kategorien der Ausübung und Charakterisierung jeder einzelnen Tangopraktik (Tanz, Musik, Letras). Vor allem für die Tangopraktik [TANGOTANZ] finden sich diese Konzepte ausgearbeitet und die Aspekte der [Tanztechniken] und der [Tanzkategorien] als diskursive Konzepte benannt.72

69 Hierzu zählen die Aspekte Improvisation, Kommunikation/Dialog, Koordination, Vielfalt der Stile. Sie sind beispielsweise durch den Tänzer und legitimierten Repräsentanten Copes benannt. 70 Die [AUTENTIDAD/ECHTHEIT] widerspiegelt sich in den Aspekten der ‚performativen Hervorbringung‘; der ‚Legitimierung‘ als Echtheit; der kulturellen ‚Essenzialisierung/Naturalisierung‘. 71 Elemente und Kategorien innerhalb des Diskurskonzeptes sind ‚el abrazo‘ (copes); ‚lo argentino‘ im Sinne einer [expresion genuina] und Verkörperung der Essenz [encarna rasgos esenciales]; bzw. ‚lo porteño‘ im Sinne des [singular] und des [nacional]. 72 Die [arte interpretativo] formiert sich im Detail als ‚interpretacion‘; ‚musica instrumental‘; ‚danza‘ und ‚cancion‘. Wobei ‚cada uno con una autonomia de origen y desarrollo animico y estetico‘ gekennzeichnet ist. Die Ausführungen zu Tanztechniken und Tanzkategorien finden sich für den deutschsprachigen Diskursraum insbesondere bei Elsner, Reichhardt und Köhne-Kirsch.

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Im Bereich der internen Diskurse und Konzepte kann ein zweites übergeordnetes Thema der [FUNKTION/BEDEUTUNG] des Tangos identifiziert werden. Damit formiert sich ein diskursives Konzept um [IDENTITÄT] als Kernpunkt heraus. Es umfasst eine dem internen Diskursbereich korrespondierende Identität als die ‚identidad porteña‘ im Sinne der ‚identidad social‘73. Diese korrespondiert sowohl dem Inklusions-/Exklusionsmoment der ‚Vorstadt-Kultur‘ (suburbio) als auch als Kommunikationsform innerhalb des ‚escenarios de Buenos Aires‘74. Desweiteren umfasst es einen dem externen Diskursbereich korrespondierenden und von den internen reflektierenden Diskursen gestützten Begriff von Identität des ‚lo Argentino‘. Dieses diskursive Konzept um [IDENTITÄT] korrespondiert aufgrund seines Gebundenseins an die Elemente ‚Vorstadt-Kultur‘ und ‚escenario de Buenos Aires‘ dem diskursiven Konzept des [lo Porteño]. Es formiert darauf aufbauend das diskursive Konzept der [ALMA PORTENA]. In den Themenbereichen der externen Diskurse finden sich weitere Aspekte des diskursiven Konzepts [FUNKTION/BEDEUTUNG], die dem Bereich der internen Diskurse (noch) nicht zugehören. Das ist zum einen die [VERMARKTUNG] und umfasst die Elemente ‚Tourismus‘, ‚Tango-Ware‘ wie Schuhe, Musik, etc. und die ‚TangoShows‘ sowie ‚Orchester‘ auf Welttourneen.75 Das ist zum anderen die [NACION] bzw. der ‚Nationalisierung des Tangos‘. Dieser Themenbereich generiert sich beginnend im [KULTURKAMPF] Anfang der 20er Jahre, innerhalb dessen die [ARGENTINIDAD des TANGO] mit dessen ‚Ablehnung durch die Oligarchie‘ konfrontiert ist; er umfasst desweiteren die Funktion des Tangos als [Metapher für NATIONALES SEIN] (nach Perón) und die Herausbildung des [nationalen HELDENMYTHOS] als ein Diskurselement; er findet ebenso eine Verankerung in der gegenwärtigen Diskursformation als ein [TANGOWISSEN] im Verständnis eines kollektiven Gedächtnisses. 76 Darüber hinaus ist dem Bereich der externen Diskurse und Konzepte ein weiteres, dem

73 ‚Identidad social‘ entspricht der ‚identidad porteña‘, impliziert jedoch bereits eine eigene Bewegungs- und Habitusform: [el modo de ser porteño]. 74 Dazu sind im Detail benannt: suburbio; inclusion/exclusion; pasaporte de entrada a Buenos Aires; sowie das Phänomen des ‚exotismo‘: sich der Vorstadt nicht zugehörige Akteure, wie Aristokraten und die ‚niño bien‘ mischen sich unter das Volk (plebeyo), um so den [toque exotico y fascinante] zu (er)leben. 75 Nach Diaz-Bone formiert sich hier ein eigenständiges ‚Feld der kulturellen Produktion‘. Vgl. Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.46–49. 76 Vgl.

zu

[NACION]

bei

Barrionuevo

Anzaldi:

Politischer

Tango;

zu

[TANGOWISSEN] als ein kollektives Gedächtnis u.a. Baxmann/Cramer: Deutungsräume (2005) und Klein: Bewegung.

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internen Bereich (noch) nicht zugehöriges diskursives Konzept der [ERWARTUNGEN] zuzuordnen. Das sind die Erwartungen im institutionellen bzw. öffentlichen Bereich an den Tango als immaterielles Kulturerbe. Das sind im privaten Bereich die Erwartungen an die Tangopraktik [TANZ] durch die Tanzenden.77 Neben den Elementen der Struktur und den diskursiven Konzepten konnten Diskursstrategien und diskursive Praktiken erfasst werden. Fünf Differenzierungen sind möglich: Narrationen im Sinne von Erzählungen/Erfindungen; vor allem in Bezug auf die Diskurskonzepte [URSPRUNGSMYTHOS] und [GENESE des TANGO]; Strategien der Grenzziehung und der (Ent-)Autorisierung für Elemente des Felds der kulturellen Praktik. Das sind vor allem Polemisierung und Polarisierung, die wiederum auf einer Traditionsfestschreibung basieren; Kanonisierung im Sinne einer Traditionsfestschreibung innerhalb der Narrationen und der Textgenese; die benannten Strategien Grenzziehung, (Ent-)Autorisierung und Kanonisierung referieren auf die Diskurskonzepte von [lo AUTENTICO], [lo ORIGINARIO], [lo PROPIO del TANGO] und dem Konzept der [ESSENZ]; diskursive Konzepte sind eine weitere Differenzierung. Es konnten die Konzepte UNIVERSALITÄT (nach Ferrer), ZEIT/(UN-)ENDLICHKEIT und VERGESSEN (nach Borges), MÄNNLICHKEIT, URSPRUNG, MYTHEN und LEGENDEN, AUTHENTITÄT/loAUTENTICO sowie die signifikanten Elemente LENGUAJE/ LUNFARDO, BANDONEON, CABARET, TANGO in PARIS benannt werden; Konstruktion der Gegenpositionen zur Bestätigung der Narrationen und zur Umsetzung der Autorisierung und Kanonisierung. Dabei werden diskursive Konzepte als (Gegen-)Pole eingebracht. Dazu zählen [PASSION] im Verständnis eines emotionalen Kapitals, [EXOTISIERUNG], [VERMARKTUNG], [POLITISCHERtango], [CASO.PIAZZOLLA]. Dieser erfassten Struktur zwischen den Akteuren, Objekten, Praktiken und diskursiven Kategorien sowie der Einordnung der spezifischen Konzepte und diskursiven Praktiken sind die signifikanten Wissenskonzepte der kulturellen Praktik Tango impliziert, die anschließend an den Kodierungs- und Rekonstruktionsprozess formuliert werden können. Die spezifischen Wissenskonzepte bilden Wissensformationen und implizieren distinktive Funktionen. Sie ordnen sich auf der Vektorebene des Materiellen/materiell Ungebundenen ein und können differenziert werden in TangoDiskurse, die einen Interdiskursraum generieren; thematische/diskursive Kon-

77 Eine Aufschlüsselung der Erwartungen findet sich im Abschnitt zu den spezifischen Qualitäten, Eigenschaften und diskursiven Kategorien.

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zepte, die den Elementen implizit sind und praktisches Wissen, das den spezifischen Praktiken inkorporiert ist. Gemeinsam bilden sie das spezifische Tangowissen. Dieses Wissen steht für die ‚Originalität/Einzigartigkeit‘ des Tango und umfasst Wissensbestände, die – im Falle des Auslöschens der Praktik – verloren gingen. Das spezifische Tangowissen formiert eine kulturelle Kompetenz.78 Es ermöglicht und konditioniert das Wahrnehmen und Ausagieren der den Strukturverhältnissen impliziten Elemente und Wissenskonzepte. Die differenzierten Wissensformationen werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. Die Tangodiskurse entstehen gebunden an die generierenden Autorenpositionen und die genutzten Medien. Sie umfassen an erster Stelle die literarischen Diskurse und Liedtexte. Das sind die Textelemente, die im Rahmen des Ausagierens der kulturellen Praktik generiert werden [LETRAS de TANGO] oder aus einer reflektierenden Position heraus verfasst sind (beispielsweise die Prosa von Borges). Diese Diskurse sind in ihrer Funktion als Wissensbestände konstitutiv für die kulturelle Praktik Tango und werden gleichermaßen kontinuierlich innerhalb dieser generiert. Desweiteren sind den Tangodiskursen die journalistischen bzw. analysierenden/beschreibenden Diskurse zugeordnet. Diese generieren sich innerhalb der Struktur durch legitimierte agierende Akteure [KANONISIERUNG/HISTORISIERUNG] und durch reflektierende analysierende Akteure (externe [SCHREIBENDE] mit externen Themen). Innerhalb dieser Diskurse wird das spezifische Tangowissen im Sinne eines Kulturwissens erfassbar. Werden externe Diskurse inkorporiert, darin legitimiert sowie naturalisiert, ist eine Art [THEORIEEFFEKT] zu konstatieren. 79 Elemente einer solchen Kanonisierung sind das [BANDONEON], die [METAFISICA del TANGO], [GARDEL] in der Funktion als Repräsentant und als Mythos, [PIAZZOLLA] im Bereich der Musik und ihres (revolutionären) ‚Wandels‘. Elemente des Theorieeffekts bzw. der externen Diskurselemente sind die [BEDEUTUNG des TANZES], [TANZTECHNIKEN] (Praktisches Wissen/Bewegungsdialog), [INTERESSEN am TANGO] wie [IDENTITÄT], [POLITIK], [ÖKONOMIE]. Diese Diskurse implizieren die spezifischen Diskurskonzepte [TANZTECHNIKEN], [ERWARTUNGEN], [GENESE des TANGO], [TANGOWISSEN].80

78 Im Sinne Diaz-Bone, vgl. ders.: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.32/FN. 79 Vgl. zum Theorie-Effekt u. a. bei Bourdieu: Rede und Antwort, S.225–228. 80 Ein Beispiel für eine reflektierte Narration anhand [elDUELO – elCUCHILLO]: „Borges, en cambio, transforma el duelo criollo en uno de los puntos claves de su mitologia. El duelo se convierte en simbolo del coraje del hombre frente a la muerte y la destreza en el uso del cuchillo se vuelve un requisito fundamental de los protagonistas

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Ein dritter Diskurs schließlich ist mit der so genannten [METAFISICA del TANGO] zu identifizieren. Er steht für ein abstrahierendes Sprechen über den Tango, das sich durch autorisierte Akteure realisiert. Er entspricht einem rein diskursiven Element. Darüber hinaus umfasst er alle weiteren an die kulturelle Praktik Tango gebundenen (Diskurs-)Elemente und diskursiven Konzepte, fundamentiert sich jedoch vor allem auf Basis der spezifischen Diskurskonzepte [lo AUTENTICO], [lo PROPIO del TANGO], [lo ORIGINARIO], [ESSENZ], [MYTHEN und LEGENDEN] sowie [ALMA PORTENA].81 Die thematischen Bereiche bzw. diskursiven Konzepte des zweiten Wissenskonzepts umfassen die bereits benannten diskursiven Konzepte bzw. Diskurse und werden deshalb nur benannt: [ESCENARIO de Buenos Aires – la CIUDAD] mit den Elementen ‚barrio, calles, arrabal, el cafe, elementos típicos: Karren, Dolch‘; [ORIGEN] mit den Elementen [VIDASOCIAL/ORIGEN] und [LENGUAJE/LUNFARDO]; [GENESE bzw. WANDEL] mit den Bereichen [Musik], [Letras de Tango] und [Tanz]; die spezifische Praktik [TANGOTANZ] mit den zugehörigen Kategorien; [MITO/NARACIONEN], darunter in erster Linie der [URSPRUNGSMYTHOS], [GARDEL] als ‚representacion del sueño‘ und ‚paralela al tango‘; [PIAZZOLLA]; [BANDONEON]; die [OPPOSITIONEN] mit der ‚clase oligarchia‘ und ‚gaucho‘; sowie [ERWARTUNGEN]. Die Diskursformation des praktischen Wissens führt zu einem dritten signifikanten Wissenskonzept. Als diskursives Element ist es als [ARTE del TANGO] in der Diskursstruktur enthalten. Es wurde durch Positionen der internen reflek-

borgianos. Asi el corte del cuchillo se convierte en una interrupcion imprevista del deslizamiento de la danza; la corrida empleada en el duelo para sustrerse al adversario se vuelve la aceleracion del paso en el tango.“ Jedoch wurde diese mythologisierende Diskursstrategie naturalisiert und ist Teil der Narration Tango. Vgl. bei Fumagalli: Jorge Luis Borges y el Tango, S.142/143. Ein Beispiel anhand von [EVARISTO CARRIEGO eine Vita] für das Legitimieren von Repräsentanten für die Genese des Tango über das Generieren von Diskursen bzw. ‚Personajes Típicos‘ bei Borges: „Para Borges, Carriego representa el descubridor, es decir, el inventor del mundo cotidiano del arrabal, ya transformado en un universo ideal para la definicion de su mitologia (ciudadana).“ Ebd., S.136. 81 Dazu ein Zitat von Borges, welches die benannten Elemente zusammen führt: „Man könnte sagen, dass man ohne Abende und Nächte von Buenos Aires keinen Tango schreiben kann, und dass uns Argentinier im Himmel die platonische Idee des Tango erwartet, seine universale Form (diese Form, die La Hablada und el Choclo kaum andeuten), und dass diese wiewohl bescheidene, aber glückhafte Gattung ihren Platz im Universum hat.“ Borges: Kabbala und Tango, S.112.

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tierenden Diskurse generiert. Das Konzept der [ARTE del TANGO] begründet sich in den im Ausagieren der kulturellen Praktik implizierten Konzepten des [lo AUTENTICO], [ESSENZ], [GENESE des TANGO] und [DEFINITIONEN]. Die in diesen Elementen implizite kanonisierte Benennung der kulturellen Praktik Tango ermöglicht die Zuordnung derselben zu einem Konzept des nationalen Erbes und seiner Definition als ‚moderne urbane Kulturpraxis‘. Dieses diskursive kanonisierende Element ist durch den Akteur ‚Academia de Tango‘ generiert. Das praktische Wissen kann darüber hinaus mit dem durch externe reflektierende Positionen benannten ‚Bewegungsdialog‘ veranschaulicht werden. Dieses der [TANZPRAKTIK] implizite Wissen und im Forschungsdiskurs als [BEWEGUNGSWISSEN] benannte Wissenskonzept versteht die Praktik Tanz als einen ‚Bewegungsdialog‘. Das meint nach Elsner eine Differenzierung in drei Kategorien der CHOREOGRAPHIE (Kult männlicher Leiblichkeit), dem BEWEGUNGSSTIL (caminar) und den BEWEGUNGSPRINZIPIEN (Bewegungslogik bzw. ‚Pathik der Füsse‘).82 Darin eingeschlossen sind weitere benannte Kategorien, wie Rhythmik, originäre und signifikante Figuren, Prinzipien der Achse, etc. (vgl. dazu Ferrer; Köhne-Kirsch; Copes). Das praktische Wissen steht in der Schlussfolgerung aus diesen Aspekten für eine situative [(Inter-)AKTIONSPRAXIS]. Sie basiert auf der leiblichen Materialisierung eines kulturellen Körperwissens. Beide Aspekte bilden Prinzipen der [TANZPRAKTIK].83 Für die rekonstruierten Strukturverhältnisse ist der umfassende Bereich des Privaten mit den Elementen Akteure, Praktiken, Orte und symbolische Werte auffällig. Dieser Bereich geht in den Bereich der öffentlichen Elemente [Repräsentanten, Tanzlokale und Konzerte, Medien jeglicher Art der Entstehung und Verbreitung] über. Elemente des institutionellen Bereichs finden sich ausschließlich als Gegenpole im Sinne von Markierungen eines ‚Außerhalb‘ des Tango [Politi-

82 Das Prinzip Choreographie ist Metapher für das Duell der früheren Messerhelden und umfasst das Führen und Markieren, die Konzentration und Koordination sowie als symbolischer Wert das Prestige. Die Choreographie des getanzten Tangos funktioniert als Ausdrucksform, die sich als spezifische Wort- und Tanzkultur entwickelt hat. Das Prinzip Bewegungsstil steht für die spezifische Bewegungsart des [porteño] als Ausdrucksform seiner Urbanität und Männlichkeit. Der Bewegungsstil widerspiegelt eine typische [Mann-Frau-Situation] im [escenario] der Stadt. Das Prinzip der Bewegungsprinzipien beschreibt eine spezifische Bewegungslogik. Sie umfasst den Grundschritt [caminar], die Tanzhaltung [abrazo] und das Tanzpaar [Führung und Interpretation]. Vgl. bei Elsner: Das vier-beinige Tier, S.239ff, S.31–39, S.136ff. 83 Elsner: Das vier-beinige Tier, S.220–230.

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ker, Institutionen wie Gefängnis, etc. die Oligarchie, die europ. globale Szene] oder als peripheres Element zum Zeitpunkt der Konsolidierung für die Anerkennung innerhalb eines politischen Diskurses [academia de tango]. Mit der Differenzierung entlang des Vektors der Gebundenheit an die kulturelle Praktik kann deutlich von faktischen, sozio-geographischen Elementen und deren Dopplung im Bereich der an die kulturelle Praktik Tango gebundenen Elemente unterschieden werden. Diese Dopplung erfolgt als eine Spezifizierung der Elemente in Bezug auf die Akteure, Orte und ausagierten Praktiken sowie als eine symbolische Bewertung bzw. Aufwertung der Elemente in Form von Narrationen, Typologien und Einbindung in die Ursprungsmythen. Den Strukturverhältnissen sind differenzierte Diskurskonzepte implizit. Diskurskonzepte, die als interne generiert wurden (Narrationen zu den spezifischen Themen), sind als Teil der kulturellen Praktik Tango erfassbar und konstitutiv unmittelbar an diese gebunden. Diese Diskurselemente bilden eine starke Erzählung des Tangos und beinhalten die legitimierte Version der Ursprungsmythen, Genese, der Typologisierungen, Lokalitäten und Verhaltensweisen. Die als extern generiert erfassten Diskurskonzepte (beschreibend und analytisch) sind nicht direkt der Konstituierung der kulturellen Praktik zuzuordnen und formen eher ein Abbild der kulturellen Praktik Tango mit starken Referenzpunkten innerhalb der diskursiven Konzepte. Diskurskonzepte, die wiederum innerhalb der Struktur von Akteuren der kulturellen Praktik selbst als reflektierende Stellungnahmen produziert wurden, sind konstitutiv für die kulturelle Praktik, da die Generierenden als autorisierte Sprecher legitimiert sind und sich entsprechende Stellungnahmen in die Struktur eingebunden finden. Dementsprechend gilt das für die spezifischen Themenbereiche und diskursiven Konzepte, welche je nach benennender Zuordnung konstitutiv für die kulturelle Praktik Tango anzusehen sind, wie die intern generierten [personajes típicos, escenario de Buenos Aires, la vida social, el bandoneon, el lunfardo, las letras, Ursprung und Genese] oder neu eingeführten Themenbereiche [Erwartungen an den Tango, Tangoshows, Academia de Tango, Tanzkategorien und Tanzkörper, Passion, Exotisierung]. Die rekonstruierten Strukturverhältnisse charakterisieren sich als ein statisches Ensemble, das sich innerhalb eines festen Rahmens durch interne Impulse und Konflikte verändert. Die signifikanten Elemente aus Akteuren, Objekten, Lokalitäten und Praktiken sind benannt, es gibt eindeutige Diskurskonzepte zu den Funktionen und Wertzuschreibungen. Externe Einflüsse werden im Laufe der Genese inkorporiert. Gravierende strukturelle Änderungen oder einen Bruch der Diskursformation war nicht zu konstatieren. Desweiteren sind dem Tango als kulturelle Praktik eine geringe Strukturalität, ein hoher Grad an symbolischen Werten, eine Übereinstimmung von Struktur und Diskurs – das meint einen ho-

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hen Grad an Diskurs-Realität – eine starke doxa sowie eine geringe Differenzierung in den Positionen und Ausdifferenzierungen eigen. Die kulturelle Praktik Tango im Moment der Anerkennung als immaterielles Kulturerbe Die Ergebnisse der dritten Analyse beziehen sich auf den Moment direkt nach der Anerkennung des Tangos als immaterielles Kulturerbe. Wie in den beiden vorherigen Analysen wird für den spezifischen Moment erfasst, welcher Art und Qualität Beziehungen zwischen den Akteuren, Objekten und Praktiken bestehen. Daran anschließend werden die Positionen, ideelle Konzepte und Oppositionen benannt und die Wissenskonzepte formuliert. Distinktivität des Textkorpus und Perspektivprobleme Der Textkorpus basiert auf Textmaterial, das den Moment der Anerkennung des Tangos zum immateriellen Kulturerbe durch die UNESCO thematisiert. Für die vorliegende Analyse wurde eine Auswahl an Reaktionen in Presse und Webportalen auf die Ernennung des Tangos zum Kulturerbe herangezogen. Für die Datenerhebung wurde innerhalb der ersten drei Tage nach der Ernennung (30.9.– 3.10.2009) mit einer Internetsuchmaschine unter den Stichworten Kulturerbe und Tango eine Auswahl an Dokumenten getroffen.84 Der nach benannten Kriterien ausgewählte Textkorpus kann nach formalen Kriterien folgendermaßen eingeordnet werden: etablierte Zeitungen und Nachrichtenkanäle in ihren Online-Formaten, private und journalistische Web-Blogs der Bereiche Nachrichten, Reise, Politik und Informationen, private Kommentare sowie eine Special-Interest-Zeitschrift; jeweils des deutschsprachigen, des spanischsprachigen und englischsprachigen Raums. Als generierende Akteure des Textmaterials treten auf: öffentliche institutionelle Repräsentanten, Journalisten, Blog-Betreuer, Informatiker, private Personen und Verleger. Diese verfügen über einen Informations- und Internetzugang sowie über ein gesamtgesellschaftliches Interesse im politischen oder kulturellen Bereich. Sie agieren ausgehend von einem individuellen Interesse am Thema oder aufgrund struktureller, funktionaler Bestimmungen (u.a. Presse, Politik). Es handelt sich bei dem vorliegenden Textmaterial aus vorwiegend Pressetexten und Informationen auf Web-Portalen um Thematisierungen85. Mit diesem Begriff wird formuliert, dass die Dokumente von einem externen Standpunkt aus

84 Vgl. die Auflistung der Textkorpora, die dieser konsistenten Beschreibung folgt. 85 Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.221.

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über das Thema verfasst sind. Das Textmaterial basiert auf Agenturmeldungen und auf individuellen Stellungnahmen. Das hat zur Folge, dass die Themenpräsentation in einer eingeschränkten – da bereits vorformulierten oder individuellen interessensabhängigen – Form erfolgt. Es muss berücksichtigt werden, dass die Auswahl der Dokumente nicht nach unabhängigen Relevanzkriterien erfolgte, sondern durch die vordefinierten Relevanzkriterien einer Internetsuchmaschine eingeschränkt ist. Diaz-Bone verweist darüber hinaus im Rahmen der Perspektivprobleme auf die Selbstreflexion in der Kulturwelt (Theorieeffekt und Medialisierung).86 Ein solcher Effekt ist bei dem vorliegenden Textmaterial in Form von Kategorisierungen, Klischeebildern und Unwissen vorzufinden. Sie sind zugleich Teil der Diskursmechanismen. Trotz dieser Perspektivprobleme liegt die Begründung für die Verwendung von Pressemitteilungen und auf den Verzicht von Statements und Interviews in Anschluss an die Statusverleihung darin, dass die Zeitnähe der Statusverleihung eine tatsächliche Beeinflussung der kulturellen Praktik Tango noch nicht erkennen lassen kann. Eine Veränderung der Strukturverhältnisse kann jedoch anhand der generierten Texte durch institutionalisierte Instanzen bereits analytisch festgestellt werden.87 Die Pressetexte sind trotz ihrer referentiellen Struktur – das meint das Schreiben über ein Ereignis, ohne ein unmittelbares diskursives Element zu sein – relevant für den Textkorpus, da sich die Pressetexte auf eine dpa/ap-Meldung beziehen. Diese stammen wiederum direkt aus der diskursiven Produktion der UNESCO-Konvention IKE. Die Autorentexte sind ebenso innerhalb der diskursiven Strukturverhältnisse verortet, da die Autoren selbst Agierende darin sind. Eine internationale Presseschau wurde aus dem Grund verwendet, dass zum einen eine größere Bandbreite an Reaktionen und eine dementsprechende Varianz an Diskurselementen zu erwarten ist und zum anderen die argentinischen und uruguayischen Medien allein dem Diskursraum der

86 Das meint die Zurkenntnisnahme und Inkorporierung von medial oder wissenschaftlich eingebrachtem künstlichen bzw. genrefremden Wissens. Vgl. dazu im laufenden Text der vorangegangenen Analysen; bzw. in Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S.221. 87 Im Hinblick auf eine Analyse der möglichen Veränderungen der kulturellen Praktik Tango in der Praxis müsste eine Inkorporierung der strukturellen Veränderungen und Diskursrelationen bei den Agierenden stattgefunden haben, das meint eine tatsächliche Habitusveränderung nachzuweisen sein. Hierfür muss eine gewisse Zeitspanne (geschätzte fünf bis sieben Jahre) vorausgesetzt werden, um das nachweisen zu können. Somit wäre eine solche Analyse sinnvoll, aber im Moment der Datenerhebung noch nicht realisierbar.

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UNESCO-Konvention IKE als eine multilateral agierende Instanz nicht parallel gesetzt werden können. In der Interpretation der benannten diskursiven Elemente wird Berücksichtigung finden, dass aufgrund des referentiellen Charakters der Pressetexte diese Elemente nur benannt werden. Die zu erfassende Struktur unterliegt damit einer referentiellen Rekonstruktion. Die möglichen Indifferenzen zwischen Diskursverhältnissen und Strukturverhältnissen werden in die Ergebnisanalytik einbezogen. Für vorliegendes Textmaterial werden die Kodierungskategorien für Akteure, Objekte und deren Funktionen innerhalb der Diskursverhältnisse spezifiziert: die Kategorien differenzieren sich in diskursvermittelnde und diskursgenerierende Akteure, benannte und agierende Akteure und Elemente in Diskursen sowie Akteure und Elemente als Referenzen. Für die Interpretation der Analyseergebnisse wird weiterhin berücksichtigt, dass sich verschiedene diskursive Ebenen unterscheiden lassen: die Ebene der in der Praxis funktionierenden Diskursverhältnisse und die Ebene der durch die Diskurse benannten Strukturelementen und deren Relationen. Beide Ebenen müssen nicht notwendig übereinstimmen. Normative Stellungnahmen und abzuleitende Wissenskonzepte Die Aufarbeitung der Ergebnisse der Textkorpuskodierung erfolgt durch die Rekonstruktion der Beziehungen zwischen den benannten Akteuren, Objekten und Praktiken sowie durch das Herausarbeiten der impliziten Wissenskonzepte. Der Fokus liegt darauf, die erfassten diskursiven Elemente in die spezifischen Kategorien der Materialität und der Institutionalisierung zuzuordnen sowie die impliziten bedeutungstragenden Kategorien innerhalb dieser Bereiche zu benennen. Darüber hinaus werden die signifikanten Verschiebungen von Elementen auf den verschiedenen Ebenen einbezogen.88 Die Rekonstruktion der Struktur erfolgt – wie es bereits bei den beiden vorangegangenen Analysen sinnvoll war – über die Zuordnung der Elemente entlang des Vektors Materialisierungsgrad zu den Bereichen des Materiellen und des nichtobjekt bzw. nicht-körpergebundenen (des so genannten Immateriellen). Den Übergang zwischen beiden Bereichen bilden die körpergebundenen Praktiken und die mediengebundenen Diskurselemente. Die Skalierung dieser Bereiche erfolgt wiederum durch einen zweiten Vektor, der für den Institutionalisierungsgrad der einzuordnenden Elemente steht. Dieser verläuft zwischen den Polen ei-

88 Vgl. zur besseren Anschaulichkeit der rekonstruierten Struktur deren schematische Darstellung S.129/Abb.7.

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nes hohen Institutionalisierungsgrads [UNESCO-Institution] und eines geringen Institutionalisierungsgrads [privater Bereich]. Damit waren wiederum die beiden Bereiche in Abhängigkeit zum Grad der Materialität und zum Institutionalisierungsgrad der Elemente zu unterscheiden: der institutionelle Bereich und der private Bereich. Die beiden Bereiche erscheinen in der Zuordnung der Akteure, Praktiken und Objekte klar getrennt. Im Bereich des mittleren bis geringen Institutionalisierungsgrads konnte ein neu zu benennender Bereich der Öffentlichkeit identifiziert werden. Dieser entsteht durch die vermittelnden Praktiken und Instanzen sowie durch die Produktion diskursiver mediengetragener Elemente. Es wird angenommen, dass dieser Bereich der Öffentlichkeit konstituierend für die Ebene der Diskursverhältnisse ist, da diesem Bereich die Akteure, Elemente und Praktiken zuzuordnen sind, die Diskurse generieren und vermitteln, indem sie spezifische diskursive Elemente innerhalb eines Bereichs der Öffentlichkeit kommunizieren. Der institutionelle Bereich umfasst die staatlichen und staatlich getragenen Organisationen und Akteure, deren formale Praktiken89 und Dokumente der Diskursgenerierung 90 sowie die angeschlossenen diskursvermittelnden Instanzen, wie Konventionsorgane und Pressemedien91. Dem Bereich einer hohen Institutionalisierung ist die [UNESCO] als UNKulturorganisation zugeordnet, die den [Konventionstext] generiert hat. Der Konventionstext bestimmt sich sowohl als ideelles Konzept in seiner Zuordnung zum nicht-objekt/körpergebundenen Materialitätsgrad als auch in der Zuordnung als materiales Dokument. Desweiteren zählen die der Konvention zugeordneten administrativen und vermittelnden Organe dazu, insbesondere das [Zwischenstaatliche Komitee]. Das Komitee verfasst den [Begründungstext] für die als immaterielles Kulturerbe anerkannte kulturelle Praktik und vermittelt die Inhalte des Konventionstextes. Im Bereich des hohen bis mittleren Institutionalisierungsgrads finden sich weitere Akteure, die vermittelnde Funktionen in Bezug auf die Interessen und Inhalte des institutionellen Bereichs ausüben. Hierzu zählen die diskursiven Elemente [Pressemitteilungen], die sich als offizielle – das meint legitimierte –

89 Symbolische Akte sind: [Anerkennung des Kulturerbetitels]; [UNESCO-Schutz]; [Gemeinsame Antragstellung]. 90 Schriftstücke und rechtsgültige Dokumente sind: [Repräsentative Liste des IKE]; [Übereinkommen zur Bewahrung des IKE]; [Rote Liste]. 91 Diskursvermittelnde/diskursgenerierende Akteure im institutionellen Bereich sind: [UNESCO, UN-Kulturorganisation (Konventionstext)]; [Zwischenstaatliches Komitee (Begründungstext)]; [UNESCO-Diplomaten, fuentes diplomáticas (PresseInfo)].

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Stellungnahmen auf den UNESCO-Webseiten und als Pressetexte finden, desweiteren so genannte Referenzpunkte der [‚UNESCO-Diplomaten‘] und [‚fuentes diplomáticas‘], welche als die Generierenden der Presseinformationen benannt werden. Dieser Bereich ist diskursgenerierend, insofern in ihm rechtsrelevante Dokumente auf der Ebene eines hohen, da medien- und personengebundenen Materialitätsgrads und ideelle Konzepte auf der Ebene eines geringen, da nicht medien- und personengebundenen Materialitätsgrads produziert werden.92 Dieser Bereich ist diskursvermittelnd, indem offizielle legitimierte Stellungnahmen als diskursive Elemente (Pressetexte, etc.) aus dem Bereich des hohen bis mittleren Institutionalisierungsgrads hervorgehen. Die Kategorie der diskursiven Elemente differenziert sich in Schriftstücke und rechtsgültige Dokumente sowie in konzeptuelle Dokumente.93 Die Differenzierung der diskursiven Ebenen in Strukturverhältnisse und Diskursverhältnisse erlaubt, neben den diskursgenerierenden und diskursvermittelnden Akteuren weitere Kategorien an Akteuren zu kennzeichnen. Die zweite Form von Akteuren sind jene Agierenden, die in diesen generierten und vermittelten Diskursen als institutionelle Akteure auftreten. Das sind Institutionen selbst und einzelne autorisierte Personen. 94 Ihnen korrespondieren die administrativen Praktiken und die symbolischen Akte innerhalb des ‚Funktionsmechanismus der UNESCO-Konvention IKE‘.95 Die dritte Form der Akteure sind im

92 Konzeptuelle Dokumente und Praktiken sind zu benennen: [immaterielles Kulturgut]; [Natur- und Kulturerbe]; [Weltkulturerbetitel]; [Meisterwerke der Menschheit]. 93 Zu den Schriftstücken und rechtsgültigen Dokumenten zählen die [Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes (IKE)], das [Übereinkommen zur Bewahrung des IKE] und die [Rote Liste] im Bereich des administrativen/institutionellen mit einem höheren Materialitätsgrads, da dokumentengebunden. Desweiteren sind die konzeptuellen Dokumente zu benennen, welche dem ideellen Bereich zuzuordnen sind. Genannt sind hier das [immaterielle Kulturgut], das [Natur- und Kulturerbe], der [Weltkulturerbetitel] und die [Meisterwerke der Menschheit]. 94 Das sind als Institutionen die [UNESCO bzw. UN-Kulturorganisation], das [Zwischenstaatliche Komitee] und [Delegierte der Konferenz], die [Vertragsstaaten], [Argentinien und Uruguay] bzw. Buenos Aires und Montevideo als staatliche Akteure sowie die politischen Instanzen ‚la embajada‘ (die Botschaft). Desweiteren zählen zu diesem Kreis der Akteure die [Kulturpolitiker, Kulturbeauftragte, Vereinspräsidenten und weiteren Repräsentanten]. 95 Zu den administrativen Praktiken und symbolischen Akten gehören [Anerkennung des Kulturerbetitels], [UNESCO-Schutz] und [gemeinsame (!) Antragstellung] durch die Staaten Argentinien und Uruguay.

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institutionellen Bereich jene, auf die in den diskursiven Elementen Bezug genommen wird.96 Die Objekte, Akteure und Orte der konkreten Praktikenformen sind dem privaten Bereich zugeordnet. Akteure sind als in den Diskursen Agierende benannt. Dazu zählen einzelne im Gegenwärtigen Agierende und damit die ‚Involvierten des Tango-Genres‘, wie Dichter, Komponisten, Sänger, Tänzer und Musiker; ebenso die Tanzenden, das Publikum, die Anhänger allgemein sowie die einfache Bevölkerung und die ‚Immigranten‘, die dem [Ursprung], der Entstehungszeit des Tangos zugeordnet sind. Sie dienen innerhalb der Diskursverhältnisse als Referenzpunkte und generieren keine eigenen diskursiven Elemente. Die korrespondierenden objekt- und personengebundenen Elemente korrespondieren einem Bereich der bedeutungstragenden Elemente im privaten Bereich. Dazu zählen das [Bandoneon], die [Figur des Carlos Gardel], die [Vororte] der beiden Städte Buenos Aires und Montevideo. Ein fundamentierendes benanntes Element im Bereich des Privaten sind die konkreten Praktikenformen. Sie sind wiederum unterschieden in körperbezogene Praktiken und symbolische Praktiken. Die körperbezogenen Praktiken umfassen die konkreten Praktiken wie [Tangotanz, Tangomusik, Tangolieder, Poesie], den typischen Argot des Tangos [lunfardo]; die allgemeinen im Konventionstext formulierten und auf der ideellen Ebene des geringeren Materialitätsgrads anzusiedelnden [Traditionen, Gesänge, Bräuche, Handwerkstechniken, Feste, Rituale, Wissensformen und mündlichen Überlieferungen]. Diskursgenerierende und diskursvermittelnde Akteure und korrespondierende Elemente können der Textkorpuskodierung nicht entnommen werden. Das bedeutet eine reine referentielle Funktion des privaten Bereichs im Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe. Neben den beiden Bereichen des Institutionellen und des Privaten entlang des Vektors Institutionalisierungsgrad formieren sich entlang des Vektors Materialitätsgrad zwei weitere Bereiche: der Bereich der so genannten Öffentlichkeit, der durch den Diskurs legitimierte, mediengebundene Elemente enthält; zum anderen der symbolische Bereich, der ideelle Elemente umfasst und im Bereich eines geringen Materialitätsgrads zu verorten ist. Der Bereich der Öffentlichkeit überschneidet die beiden Bereiche der Institutionalisierung und des Privaten. Er umfasst die Praktiken und Objekte, welche dem geringeren bis höheren Institutionalisierungsgrad zuzuordnen sind. Hier finden sich die institutionalisierten und privaten Medien, staatliche Akteure und Repräsentanten der verschiedenen Praktiken und Instanzen. Die Öffentlichkeit

96 Das sind UNESCO, UNESCO-Diplomaten sowie ‚fuentes diplomáticas‘.

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umfasst bestimmte zumeist diskursvermittelnde Akteure [Politiker, Repräsentanten, Journalisten] und korrespondierende Objekte [Pressetexte, Medien]. Im öffentlichen Bereich agieren Journalisten und Presseagenturen in Nachrichtenmedien (Tageszeitungen online, TV online, News-Blogs), in Fachzeitschriften und in Online-Magazinen sowie private Personen in privaten Medien (beispielsweise Themen-Blogs) und in Kommentaren. Diese Akteure generieren referentielle diskursive Elemente: sie nehmen Elemente auf und vermitteln sie. Eine implizite symbolische Ebene zeichnet das Spezifische dieser Struktur aus. Diese liegt im oberen Bereich des Vektors Materialitätsgrad entlang des gesamten Vektors Institutionalisierungsgrad. Die symbolische Ebene formiert sich aus rein diskursiven Konzepten, die keine Objekt-, Ort- oder Körpergebundenheit aufweisen. Die Ebene des Symbolischen umfasst die symbolischen Praktiken (IKE-Status-Antrag und Statusanerkennung) und die symbolischen Konzepte (immaterielles Kulturgut, Natur- und Kulturerbe, Meisterwerke der Menschheit). Die Textkorpusanalyse lässt Konzepte und Kategorien erkennen, welche die rekonstruierten Strukturverhältnisse und die vermittelnden Diskursverhältnisse kennzeichnen sowie die spezifischen Werte und Bedeutungen konstituieren. Auf der zeitlichen Ebene des Gegenwärtigen finden sich spezifische Konzepte in der Benennung und ideellen Kennzeichnung der Elemente ‚Kulturerbe-Konzept‘ bzw. ‚IKE-Status-Verleihung‘ (betrifft im Konkreten die diskursiven Elemente Konventionstext und Begründungstext) und als ideelle Kennzeichnungen der kulturellen Praktik Tango als nunmehr anerkanntes immaterielles Kulturerbe. Auf der zeitlichen Ebene des Zukünftigen handelt es sich um die Erwartungen und Interessen, die mit der Verleihung des IKE-Status und der damit verpflichtenden Umsetzung der Konventionsinhalte verbunden sind. Diese umfassen die verpflichtenden und beabsichtigt zu realisierenden Maßnahmen sowie die erwarteten und beabsichtigten Wirkungen. Zuerst zu spezifischen Konzepten als ideelle Kennzeichnungen. Die Konzepte ‚Kulturerbe‘ bzw. ‚IKE-Status-Anerkennung‘ und die kulturelle Praktik Tango als anerkanntes immaterielles Kulturerbe sind dem Bereich des Materialitätsvektors zuzuordnen, der eine geringe Objekt- und Mediengebundenheit aufweist bzw. einen hohen Immaterialitätsgrad. Beide Elemente formieren Pole und zentrieren die Bereiche des Institutionellen und des Privaten. Das Kulturerbe-Konzept ist im institutionellen Bereich verortet. Es wird durch den Konventionstext vermittelt. Mit diesem Prozess konstituieren sich im Sinne einer Legitimation durch autorisierte Instanzen [die Akte Ratifizierung der Konvention und Status-Anerkennung] ideelle Werte. Diese sind die fünf Krite-

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rien, die zugleich die Kriterien der Begründung der Statusverleihung sind: die Universalität und das allgemeine Interesse, die Distinktivität, die Originalität, das Identitätsstiftende als Teil der lokalen Kultur, die Bereicherung des kulturellen Dialoges und das Vorhandensein eines Maßnahmenkatalogs.97 Als Gegenpol zum Kulturerbe-Konzept findet sich die kulturelle Praktik Tango als ein anerkanntes immaterielles Kulturerbe dem Bereich des Privaten zugeordnet. Aus der Textkodierung sind spezifische für diesen Moment der Anerkennung des IKE-Status Kennzeichnungen des Tangos zu erfassen. Die Kategorie einer emotiven Kennzeichnung ist stark ausgeprägt. Die emotive Charakteristik benennt den Tango als ‚baile sensual de roce de piernas y ochos sobre el suelo‘ (sinnlicher Tanz des roce und der ochos über dem Tanzboden) und umfasst die Beschreibung des Tangos in seiner emotionalen Ausprägung. Auf Basis dieser diskursiven Elemente formiert sich ein starker emotionaler Diskursbereich.98 Daneben wird eine Kategorie der formalen Kennzeichnung erkennbar. Darin wird seine tänzerisch-technische Charakteristik des ‚körperlich Anspruchsvollen‘ benannt, seine spezifische ‚Beinarbeit‘ wird hierfür beschrieben; seine tänzerisch-formalen Aspekte des ‚Takts‘ und die ‚zu tanzenden dramaturgischen Höhepunkte, den Stillstand und die Unterbrechungen‘ (cortes y quebradas). Die formale Kennzeichnung unterscheidet schließlich seine unterschiedlichen Formen: als Gesellschaftstanz, der ursprüngliche Tango, der Tango Argentino, seine frühen Formen, der salonfähige Tango de Salon, die Erneuerungen durch Piazzolla. Kontinuierlich benannte, spezifische Themenbereiche werden im Kodierungsprozess deutlich. Es scheinen diese Themenbereiche zu sein, die für die

97 Als weiteres Element diese Kategorie steht die Schutzwürdigkeit. Allerdings bezieht sie sich nur auf Elemente, die für die Liste der besonders schutzwürdigen kulturellen Praktiken benannt werden – denen der Tango nicht zugehört. Die [Schutzwürdigkeit] konkretisiert sich als das Schützens- und Erhaltenswerte, das dringend schutzbedürftige, und referiert auf [Überlebenschance] und das [Rettungsmanöver]. 98 Er formiert im Kanon der Tangoerzählungen ein Klischee. Der Tango sei [Inbegriff von Leidenschaft und Gefühl], [getanztes Gefühl], [pure Sinnlichkeit] bzw. ‚a dramatic dance and sensual moves‘ [dramatischer Tanz und sinnliche Bewegungen] als auch ‚baile seductor con letra melancólica‘ [ein verführender Tanz mit melancholischen Texten]; es finde sich [Romantik, Verlangen, getanzte Erotik, Frivolität]; er stünde für [Melancholie, Herzschmerz, Scheitern, Abschied, und Wehmut]; er sei [zu verbinden mit schmachtender Tangomusik, Blicken, Eleganz, Stil, schummrigem Licht und rhythmischer Zweisamkeit]; und schließlich sei er [ein anrüchiger Tanz armer Leute], [als unsittlich gebrandmarkt und sündhaft].

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Kriterienkongruenz zwischen kultureller Praktik und Kulturerbe-Konzept entscheidend sind. Zu diesen zählen der [Ursprung des Tango, seine Entwicklung und Verbreitung], auf der Ebene der nicht objekt-/mediengebundenen Elemente im privaten Bereich das signifikante spezifische Element [Narrationen und Mythos] und schließlich die beiden weitergreifenden Themenbereiche seiner [Bedeutung innerhalb der nationalen Strukturen] und seiner [weltweiten Symbolik]. Der Themenbereich des Ursprungs umfasst verschiedene Abstufungen entlang des Vektors Materialität. Auf materieller Ebene geht es um seine lokale urbane Herkunft und seine geographische Verortung am Rio de la Plata. Damit verbunden sind die sozialen Dispositionen und der soziokulturelle Hintergrund. Auf mediengebundener Ebene ist das Erwähnen seines musikalischen Erbes unumgänglich. Der weiterführende Themenbereich der Verbreitung des Tangos umfasst Beschreibungen seiner lokalen und sozialen ‚trajectoire‘. Beide Themenbereiche sind auf der zeitlichen Ebene des Vergangen zu verorten.99 Der weitere Themenbereich der Ursprungserzählungen und Mythen verortet sich im Bereich des Immateriellen im privaten Bereich. Diese werden als der kulturellen Praktik ‚essentiell kennzeichnend‘ sowie ‚unmittelbar und unbedingt zugehörig‘ beschrieben. Es lassen sich drei Zeitebenen unterscheiden. Mit Referenz auf das Vergangene liest sich ein Ursprungsmythos heraus. Darin sind die immergleichen Narrationen der Herkunft und entsprechenden Kennzeichnungen benannt. Im Gegenwärtigen werden Narrationen der Elemente Befindlichkeit und Stimmungslage in einem emotiven Mythos vereint, indem der Tango als ein ‚Inbegriff von Leidenschaften und Gefühlen‘ gilt. Schließlich formiert sich als ein neues diskursives Element eine Narration auf das mit der IKE-StatusVerleihung verbundene Zukünftige und zu Erwartende. Der Tango wird als ‚universelles Element der Menschheit‘ beschrieben.100

99

Benannte Elemente sind: [Hafenherkunft], [die armen Verhältnisse, die Atmosphäre aus Kleinkriminalität, Prostitution und existentieller Not], [die europäische Einwanderung bzw. Massenimmigration sowie ‚descendentes de esclavos y criollos‘ (Nachkommen von Sklaven und Criollos)], [Fandango, afrikanische Rhythmen und Habanera], [Orchester reisen nach Paris, die Salons der Reichen, die Lokalisierungen Europa, USA und Japan, das Goldenes Zeitalter 1935–1955, die Tango-Krise Mitte der 50er bis 80er Jahre].

100 Zum ‚Ursprungsmythos‘ zählen [Hafenherkunft], [Massenimmigration verbundenen mit der Verheißung auf ein besseres Leben], [Heimweh], [Milieu aus Kleinkriminalität, Prostitution und Armut bzw. einer generellen wirtschaftlichen Not]. Zum ‚emotiven Mythos‘ zählen die narrativen Elemente des Verlangens, der Romantik, dem Herzschmerz und dem Liebeskummer, die Helden und deren Scheitern, der Ab-

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Ein weiterer Themenbereich bezieht sich auf die Kennzeichnung des Tangos als [Teil des nationalen Kulturguts] und [Teil der nationalen Identität]. Entsprechend konnte im Textkorpus das Element der nationalen Symbolik erfasst werden. Es steht für die soziokulturelle, historische und emotive Bedeutung des Tangos. Die Symbolik umfasst ebenso seine identifikatorische Kennzeichnung als [fester Bestandteil einer Kultur] sowie einer [unverwechselbaren und kulturellen Identität] im Sinne eines [‚distinctivo cultural de identidad‘]. Auf zeitlicher Ebene besteht eine starke Referenz auf das Vergangene, das bis in die Gegenwart hinein als real existent benannt wird.101 Dem gegenüber steht die Öffnung des Tangos aus seinem begrenzten geographischen Ort heraus. Dem entspricht der Themenbereich seiner weltweiten Symbolik. Er umfasst die Kennzeichnungen des [‚sinónima de pasion latina a nivel global‘] und das [‚popular image of show tango and the kind dances in milongas‘]. Tango steht innerhalb dieser Symbolik für Popularität, für seinen weltweiten Siegeszug, die Broadway-/TV-Shows. Auf zeitlicher Ebene führt diese Symbolik den Tango als kulturelle Praktik in das Gegenwärtige hinein. Referiert die nationale Symbolik innerhalb der Diskursstränge stark auf den privaten Bereich des örtlich und soziokulturell konditionierten und begrenzten, so steht die weltweite Symbolik für die Elemente des Images [Leidenschaft], Popularität und Show-Charakter/Kulturindustrie. Darüber hinaus finden sich im Textkorpus Themenbereiche außerhalb der Diskurse um den Konventionstext. Sie stehen für die Interessen der antragstellenden Staaten. Neben den bereits benannten Kategorien des [Image] und des Show-Charakters als [Element der Kulturindustrie], benennen weitere Kennzeichnungen des Tangos die Themenbereiche [Therapie und Gesundheit] sowie

schied, die existentielle Not und Einsamkeit. Für den ‚Mythos des Universellen‘ findet sich eine Narration aus [Kulturperlen der Menschheit], [Hüter des Kulturerbes], [Schmelztiegel der Kulturen] generiert. 101 Für dieses Element sind benannt: das [Allgemeine Lebensgefühl], der Tanz als [originärer Ausdruck einer Verfassung] der Bewohner des Rio de la Plata, als [‚la expresion mas profunda y vibrante‘] (der tiefste und lebendigste Ausdruck) und als [‚la amplia gama de costumbres‘] (einem weiten Fächer der Gewohnheiten). Der Tango steht schließlich in seiner nationalen Symbolik für die [‚representacion de ambos ciudades‘] (Repräsentation beider Städte). Die ‚Ursprungserzählungen‘ in Funktion der ‚nationalen Symbolik‘ umfassen die Elemente: [‚la fuerte raiz cultural‘] (die starke kulturelle Wurzel), [‚historia social de la inmigracion‘] (die Sozialgeschichte der Immigration), [‚las raices y la historia de una sociedad‘] (die Wurzeln und die Geschichte einer Gesellschaft).

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[Sexualität].102 Auch werden in Bezug auf den Tango seine Funktion als [Wirtschaftsfaktor] und in der [Tourismusförderung] angesprochen. Eine zweite fundamentierende Kategorie formiert sich um die [Erwartungen] und [Interessen] sowie deren kritische [Opponenten], die mit der Verleihung des IKE-Status verpflichtenden Umsetzung der Konventionsinhalte verbunden sind. Dieser Themenbereich ist auf der zeitlichen Ebene des Zukünftigen angesiedelt und somit noch ohne materielle Bindung im Gegenwärtigen. Er umfasst zum einen die [verpflichtend und beabsichtigt zu realisierenden Maßnahmen] und obliegt den vermittelnden umsetzenden Akteuren [academía de tango].103 Zum anderen waren die [erwarteten und beabsichtigten Wirkungen] erfassbar. Eng mit diesen [Erwartungen] sind die auf bestimmte mit dem IKEStatus verbundene Entwicklungen fokussierten [Interessen] verbunden. Diese sind den antragstellenden [staatlichen Akteuren] zuzuordnen und betreffen in erster Linie konventionstextferne Themenbereiche. Diese gegenwärtigen Interessen bzw. ins Zukünftige gerichteten Erwartungen fokussieren auf wirtschaftlicher Ebene die [Finanzierung der Umsetzung der Konventionsinhalte], die [Tourismusförderung] und die Stärkung des [Tango als Wirtschaftsfaktor]; damit verbunden [die verstärkte Präsenz in der Presse durch die internationale Anerkennung] sowie auf politischer Ebene sein [Anteil am nationalen Kulturgut und an der nationalen Identität]. Im Kodierungsprozess sind verschiedene thematische Anmerkungen als kritische Reaktionen in der Funktion von [Oppositionen] der benannten Maßnahmen und Interessen zu unterscheiden. Sie benennen Argumente im Themenbereich der politischen-ideellen Ebene in Bezug auf den Konventionstext [Intention zur Schließung einer kulturpolitischen Lücke], im Themenbereich der politischen Ebene und verbundener Interessen das kritisches Hinterfragen nach der [Repräsentativität für eine Nation, für einen Staat oder eine lokale Kultur] sowie nach der [Entscheidungsgewalt], im Themenbereich konventionsferner Interes-

102 Für diese Themenbereiche finden sich die Elemente [Einfluss auf Stress- und Sexualhormone], [das Stimmung hebende], den [Stressabbau], [die Körper beider Partner], die [positiven psychologischen Effekte], [Paartherapeuten und verfahrene Beziehungen], [Musiktherapie] auf verschiedenen Wirkungsgebieten. 103 Als verpflichtende und umzusetzende Maßnahmen sind erfassbar: die [Weiterverbreitung des Tango] (in die Welt und in den Generationen), das [Dokumentationszentrum] für Tanz und Musik, ein [Tango-Orchester], ein [Tango-Ballett], ein [Verlagshaus für Partituren und Tangomusik], eine [Instrumentenbauerausbildung] und [Akademien].

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sen wie Wirtschaft und Tourismus der [Missbrauchsverdacht gegenüber dem Kulturerbestatus] in finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Als dritte Kategorie konnten dem Moment der Anerkennung des IKE-Status basierend auf den erfassten Relationen zwischen Akteuren, Objekten, Praktiken und themenspezifischen Konzepten korrespondierende Wissenskonzepte herausgearbeitet werden. Diese sind in ihren tragenden Elementen bereits benannt worden, werden als spezifische Wissenskonzepte im Folgenden komprimiert formuliert. Diese Wissenskonzepte weisen Differenzierungen auf: sie formieren Referenzkonzepte, sofern sie bereits in den Strukturverhältnissen der UNESCOKonvention oder der kulturellen Praktik Tango als Wissenskonzepte vorkommen, sie formieren Parallelkonzepte, sofern sie allen Analysemomenten zugrunde liegen; sie formieren neue Wissenskonzepte, sofern sie erst mit dem Moment der Anerkennung zum IKE hinzugekommen sind. Wissenskonzept um die Erklärung des Kulturerbekonzepts und dessen Genese. Dieses Referenzkonzept geniert sich auf Basis der Kategorien und Elemente [UNESCO-Kulturerbe], [immaterielles Kulturerbe], [Vielfalt kultureller Ausdrucksformen], [Meisterwerke des traditionellen und mündlichen Kulturerbes der Menschheit] sowie die [Rote Liste]. Wissenskonzept um die Antragstellung und IKE-Status-Anerkennung. Dieses Referenzkonzept umfasst die [Ernennung zum Kulturerbe] bzw. den [Kulturerbestatus]; die [gemeinsame Antragstellung] seitens Argentiniens und Uruguays trotz der Streitigkeiten um den Ursprung des Tangos zwischen beiden Staaten sowie das [Bewusstsein über Tradition und Identität]. Wissenskonzept um die mit dem Kulturerbestatus verbundenen Aufgaben und Verpflichtungen sowie Maßnahmen. In diesem Referenzkonzept eingeschlossen sind die kommenden Feierlichkeiten, die Freude und die Erwartungen, die sich mit der Anerkennung des IKE-Status und der Umsetzung der Konventionsinhalte verbinden sowie die Finanzierung (Kreditnahmen) der umsetzenden Maßnahmen. In Bezug auf die konkreten Veränderungen in den Strukturverhältnissen der kulturellen Praktik Tango mit der Anerkennung des IKE-Status schließt es neue, konkret benannte Elemente ein. Wissenskonzept der Entstehung und Verbreitung des Tangos sowie seine Charakterisierung. Dieses Referenzkonzept bezieht sich auf die konkreten Veränderungen der kulturellen Praktik Tango. Signifikante Elemente darin sind die Kategorien des Formalen, des Emotionalen und des Klischees sowie die funktionalen Kategorien als Wirtschaftsfaktor und als Tourismus fördernd, als Teil des nationalen Kulturguts sowie der externen Themenbereiche.

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Wissenskonzept der Mythisierung. Mit der Kategorie des Mythisierten als ein weiteres Referenzkonzept ist bereits eine entsprechende Wertung verbunden. Innerhalb des Mythisierten differenzieren sich der Ursprungsmythos, der Tangomythos und schließlich die Idealisierung.104 Wissenskonzept der Bestimmungen von Zeitlichkeit und Örtlichkeit. Diese strukturierenden Kategorien liegen den Analysemomenten zugrunde und finden sich in allen formulierten Wissenskonzepten wieder. Es funktioniert als Parallelkonzept, indem es die verschiedenen Wissenskonzepte zuordnen kann und symbolische Werte erfassbar macht. Wissenskonzept um die inhaltlichen Oppositionen und kritischen Stimmen. Es formiert ein neues Wissenskonzept mit dem Moment der Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe bzw. mit dem beginnenden Anerkennungsmechanismus. Es umfasst die oppositionellen Elemente zum Konzept des immateriellen Kulturerbes und zum Anerkennungsmechanismus sowie zu den Umsetzungsstrategien. In diese Oppositionen gliedert sich der Missbrauchsverdacht in finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ein.105 Spezifische Kategorien und diskursive Konzepte Zu den diskurstragenden und Kategorien bildenden Elementen des Analysemoments gehören erfasste Akteure, Objekte, kulturelle Praktiken (ohne Status des immateriellen Kulturerbes), symbolische Praktiken im Sinne des IKE (eingeschlossen die kulturellen Praktiken mit Status des immateriellen Kulturerbes) und spezifische diskursive Konzepte. Die Relationen dieser Elemente werden unter Berücksichtigung besonderer den Diskursverhältnissen zu entnehmenden Kennzeichnungen im Folgenden komprimiert dargestellt. Die abgeleiteten spezi-

104 Die zugehörigen Elemente aufgeschlüsselt: [URSPRUNGSMYTHUS] (Wirtschaftliche Not, Verheißung auf besseres Leben, Heimweh, Verzweiflung, Massenimmigration, Milieu aus Kleinkriminalität, Prostitution und Armut), [TANGOMYTHUS] (Inbegriff von Leidenschaft und Gefühlen, Verlangen, Romantik, Helden, Herzschmerz, Liebeskummer, Scheitern, Abschied, existentielle Not und Einsamkeit), [IDEALISIERUNG] (Kulturperlen der Menschheit, Hüter des Kulturerbes, Schmelztiegel der Kulturen). 105 Dieses Konzept impliziert die Elemente: den veränderten Kulturbergriff der UNESCO gegenüber dem [Kulturbegriff mitteleuropäischer Stadtteilfeste], daran anschließend die [Problematik Denkmalschutz] und die Frage nach [Repräsentativität] und die [Entscheidungsbefugnis über Schutzwürdigkeit] (mit den Elementen [Welt rascher Veränderungen], [Welt als Museum], [künstlerische Veränderungen], [versteinerte Kultur]).

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fischen Wissenskonzepte (vgl. im vorangehenden Abschnitt) und konstatierten Auffälligkeiten werden in der zusammenfassenden Beschreibung verdeutlicht. Die Akteure des privaten Bereichs verorten sich im Vektorbereich des hohen bis mittleren Materialitätsgrads. Die Akteure des institutionellen Bereichs im Vektorbereich des mittleren bis geringen Materialitätsgrads. Im institutionellen Bereich finden sich Objekte und Dokumente auf administrativer und ideeller Ebene, im privaten Bereich die Referenz auf kulturelle – körperbezogene oder symbolische – Praktiken. Die kulturellen Praktiken ohne Status des immateriellen Kulturerbes sind konkrete kulturelle Praktiken, die im privaten Bereich ihre Funktion in der alltäglichen Praxis besitzen. Die symbolischen Praktiken sind Praktiken der Ernennung und Anerkennung. Sie üben eine ideelle Funktion im Bereich des hohen Institutionalisierungsgrads aus. Im Bereich der Institutionalisierung werden ideelle Werte in Form der verschiedenen Kulturerbekonzepte sowie praxisorientierte Kategorien der Schutzwürdigkeit und Tradition generiert. Das geschieht unter Rückgriff auf die dem Konventionstext und Begründungstext impliziten Konzepten. Eine besondere Bedeutung liegt auf den kulturellen Praktiken mit dem Status des immateriellen Kulturerbes. Sie weisen einen symbolischen Wert im privaten Bereich auf. Die Interessen innerhalb dieses Beziehungsnetzes beziehen sich auf Seiten der staatlichen Akteure sowohl auf politische Strategien als auch auf positive Effekte für Wirtschaft, Tourismus und Finanzhaushalt. Im privaten Bereich finden sich hierfür die negativ besetzen Wertungen. In den persönlichen Kommentaren und durch individuelle Autoren verfassten Texten erscheinen schließlich kritische Stimmen: das Hinterfragen der symbolischen Machtstrukturen und die generierten Konzepte [finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Missbrauch] sowie [Denkmalschutz] und [Kulturbegriff]. Der Vorwurf des politischen Missbrauchs bezieht sich auf eine Macht- bzw. Kontrollerweiterung seitens staatlicher Akteure auf den privaten Bereich. Auf der Ebene der rekonstruierten Struktur entspricht dieser Sachverhalt der Ausdehnung der symbolischen Ebene auf die Praktiken und Akteure des privaten Bereichs. Dazu zählen zum einen die Vereinnahmung durch einen bewusst inszenierten nationalen Diskurs und zum anderen die Kontrolle über die bisher informellen Praktiken des Volkes auf Basis der umzusetzenden und reglementierten Maßnahmen zum Erhalt des Kulturerbes. Der Vorwurf des wirtschaftlichen und finanziellen Missbrauchs bezieht sich auf die Umwandlung von symbolischem Kapital in ökonomisches. Dazu zählen die missbräuchliche Nutzung finanzieller Fonds, eine auf dem Kulturerbe-Status aufbauende Marketingarbeit sowie dessen touristische Nutzung. Diese Vorwürfe laufen auf eine Kritik hin-

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sichtlich einer möglichen staatlich initiierten und UNESCO zertifizierten ‚Tango-(Kultur-)Industrie‘ hinaus. Eine erste diskursive Kategorie bilden die repräsentativen Charakteristiken der Elemente. Sie stehen in Verbindung mit einem politischen und nationalen Selbstverständnis, das im privaten Bereich einem Bewusstsein über Tradition und Identität korrespondiert. Die repräsentativen Charakteristiken beziehen sich im institutionellen Bereich auf das Image-Bild im Sinne eines Referenzelementes außerhalb des originären kulturellen Kontextes. Die signifikanten Elemente sind desweiteren an Kennzeichnungen von Mythos und Klischeebildern gebunden. Der Mythos ordnet sich in die Charakterisierung des Tangos (Genese und Selbstbeschreibung) mit einem der alltäglichen Praxis enthobenen Wert ein. Die Klischeebilder finden sich im Bereich der Öffentlichkeit wieder. Sie werden durch verschiedene Medienformen und Repräsentanten vermittelt. Eine zweite diskursive Kategorie bilden die fünf Kriterien der Begründung zur Statusverleihung. Sie sind sowohl dem institutionellen Bereich als ein Werte generierendes Konzept zuzuordnen (Konventionstext) als auch als eine symbolische Praktik (Begründungstext), indem sie ernennen. Diese symbolische Praktik hat nur Wirkung insofern sie über die Öffentlichkeit vermittelt im privaten Bereich anerkannt wird. Eine dritte diskursive Kategorie generiert sich über die Berücksichtigung der Aspekte Sprachstil, Zeitlichkeit und Lokalisierungen. Sie finden sich in allen vier Bereichen – des Institutionellen und des Privaten sowie des Materiellen als das Objekt- bzw. Körpergebundene und des Immateriellen – wieder. Die erfassten Bereiche sind durch je einen spezifischen Sprachstil und durch die Zuordnung spezifischer Elemente gekennzeichnet: die Sprache des dem institutionellen Bereich zuzuordnenden Textmaterials ist formal und benennend; das dem privaten Bereich zuzuordnenden Textmaterial zeichnet sich durch an Emotionen orientierten Beschreibungen, Klischeebildern und persönlichen Wertungen oder Kommentaren aus. Darüber hinaus sind im Textkorpus Elemente der Zeitlichkeit und der Lokalisierungen zu finden. Zeitliche Elemente formieren einen zeitlichen Fächer der Vergangenheiten ab Mitte des 19. Jahrhunderts, über das Gegenwärtige bis in die [Zukunft] hinein.106 Elemente der Kategorie der Lokalitäten formieren einen Bereich ausgehend von urbanen konkreten Orten bis hin zu den

106 Folgende Attribute der Zeit werden genannt: 20. Jahrhundert, heute, Ende 19. Jahrhundert, vor mehr als 100 Jahren, ‚late 1800s‘ (die späten 1800er), Mitte XIX Jahrhundert, (seit) 2003, (seit) 2001, 20. April 2006, von 1972, in Zukunft, ab sofort, spätes 20. Jahrhundert, seit 2008, seit 30. September, ‚principios del siglo XX‘.

382 | Kulturerbe Tango

[‚dancefloors worldwide‘]. 107 Die Berücksichtigung der Kategorien Sprachstil, Zeitlichkeit und Lokalisierung ist dahingehend relevant, da sie Kennzeichnungen der Veränderungen der Strukturverhältnisse sind. Aus dem Vergleich der Elemente, diskursiven Konzepten und Kategorien in den differenzierten Ebenen der erfassten Struktur und der Diskursverhältnisse heraus werden abschließend Auffälligkeiten in Bezug auf die erfassten Elemente und Bereiche stichwortartig formuliert. Die Objekte, Akteure und Orte des Ausagierens der konkreten kulturellen Praktiken sind dem privaten Bereich zuzuordnen, in dem körperbezogene Praxis generiert wird. Die Elemente dieses Bereichs sind nicht der symbolischen Ebene zugeordnet. Diskursgenerierende und diskursvermittelnde Akteure und korrespondierende Elemente konnten der Kodierung nicht entnommen werden. Das bedeutet eine rein referentielle Funktion des privaten Bereichs innerhalb der Strukturverhältnisse des Tangos im Moment der Anerkennung des IKE-Status. Desweiteren wurde ersichtlich, dass im Textmaterial den konkreten kulturellen Praktiken die Eigenschaft des Immateriellen zugesprochen wird, die diskursive Anerkennung eines symbolischen Werts des Immateriellen im Sinne des Konzepts immaterielles Kulturerbe erfolgt jedoch (noch) nicht. In nur zwei Quellen [E1(BBCmundo) und LA5(elClarin)] findet sich die Zuordnung der Begründungskriterien für die Anerkennung der kulturellen Praxis. Interessant im Hinblick auf naturalisierte Werte und die Wissensbestände ist die fehlende Charakterisierung des Tangos in Form einer formalen Beschreibung oder der Skizzierung der Entstehung und der Verbreitung der kulturellen Praktik im argentinischen Textmaterial (LA3 und LA5). Eine mögliche Interpretation dafür ist, dass diese Themenbereiche bereits als Wissensbestand naturalisiert sind und deshalb keine Nennung erfolgt. Im Rekonstruktionsprozess wurden wenige Elemente dem Bereich des Materiellen und viele Elemente dem Bereich des Immateriellen zugeordnet. Die diskursive Praxis stimmt darin mit den erfassten Strukturverhältnissen überein: es

107 Folgende lokale Bestimmungen sind benannt: Hafenherkunft, Vororte, Slums, Elendsquartiere, Conventillos, ‚run down immigrant areas‘, Argentinien, Uruguay, südamerikanisch, lateinamerikanisch, Buenos Aires, Montevideo, die Hauptstädte, argentinisch, uruguayisch, Großstädte, Rio de la Plata sowie der Rest der Welt, gesamte Welt, in der Welt, Japan, Europa, USA, Paris, Rest des alten Kontinents, elegante Salons der Reichen, Finnland, Deutschland, in der neuen Welt. Weitere Lokalisierungen sind Bordelle, typische Milonga, Parkett, das Bett, ‚dancefloors worldwide‘ (weltweite Tanzparkette).

Anhang | 383

gibt ein hohes Niveau an diskursiven Strategien sowie an immateriellen Werten (kulturelle Praktiken, symbolische Praktiken, Konzepte). Im Vergleich der beiden Schemata von Strukturverhältnissen und Diskursverhältnissen fällt weiterhin auf, dass die symbolische Ebene eine unterschiedliche Ausdehnung aufweist. In den Strukturverhältnissen sind die Bereiche des Institutionellen und Privaten sowie die symbolische Bedeutung des Immateriellen noch klar abgegrenzt in Relation zum Institutionalisierungsgrad des betreffenden Elementes. In der diskursiven Praxis hingegen dehnt sich der Geltungsbereich der immateriellen Werte im Sinne des Kulturerbe-Konzepts bereits auf Elemente des privaten Bereichs aus. Auffällig ist die Entsprechung der Strukturverhältnisse beider Analysemomente der kulturellen Praktik Tango – als immaterielles Kulturerbe und vor dem Anerkennungsmoment. Die Diskursverhältnisse dagegen variieren. Hier entsprechen sie im Moment der Anerkennung der UNESCO-Konvention IKE. Einer Interpretation vorgegriffen bedeutet das ein Auf(-er-)legen einer diskursiven Ebene in Funktion einer symbolischen (Werte-)Ebene, was mit dem Anerkennungsprozess initiiert wird. Verbindende, nicht nur referentielle Elemente zwischen dem privaten Bereich der kulturellen Praktik und dem institutionellen/administrativen Bereich der UNESCO-Konvention IKE sind aus der Kodierung nicht hervorgegangen. Verbindung wird auf struktureller Ebene über den Bereich der Öffentlichkeit als ein diskursiver Raum und entsprechenden diskursiven Praktiken sowie über die symbolische Ebene als ein Bereich der symbolischen Konzepte und Werte hergestellt. Das ‚Wissenskonzept immaterielles Kulturerbe‘ wird erst durch diesen Funktionsmechanismus in der Praxis realisiert.

384 | Kulturerbe Tango

TEXTKORPORA DER ANALYSESITUATIONEN UNESCO-Konvention immaterielles Kulturerbe Dok

Name

Medium

Land/Zuordnung

A1

Academia de Tango de BA. Division patrimonio

website

Argentinien

UE1

the intangible heritage lists

website

UE2 UD1 UD2 UD3 UD4

The Tango (part of the intangible heritage list) Die Repräsentative Liste des IKE Die Listen des IKE Bewahrung des immateriellen Kulturerbes Konventionstext IKE (deutsche Übersetzung)

website website website website website

UNESCO international UNESCO international UNESCO DUK UNESCO DUK UNESCO DUK UNESCO DUK

konsultierend hinzugezogen UD 5K UD 6K UD 7K UD 8K

(Auszug) Ergebnisse einer Fachkonsultation 02/2007 (komplett) Ergebnisse einer Fachkonsultation 02/2007 Anmerkungen Intangible Heritage Bedeutung des IKE Grasping the Intangible

website Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift

UD 9K

Interview Chérif Khaznadar

Zeitschrift

UD10K

Konventionsprojekt UNESCO Deus ex machina

Zeitschrift

UNESCO DUK UNESCO DUK UNESCO DUK UNESCO DUK UNESCO DUK UNESCO DUK

Anhang | 385

TEXTKORPORA DER ANALYSESITUATIONEN Kulturelle Praktik Tango im Vorfeld ihrer Anerkennung zum immateriellen Kulturerbe Distinktive Texte des Textkorpus (‚interne Stellungnahmen‘): Borges, Jorge Luis: Kabbala und Tango, Frankfurt: Fischer 20083. Borges, Jorge Luis.: Niedertracht und Ewigkeit, Frankfurt: Fischer 20032. zusätzlich und erweiternd zu Borges: Sarlo, Beatriz: Borges, un escritor en las orrillas, Buenos Aires: Seix Barral 2007². Fumagalli, Monica: Jorge Luis Borges y el Tango, Buenos Aires: Abrazos 2004. Salas, Horacio: Tango. Sehnsucht, die man tanzen kann, München: Bertelsmann 2010. Ferrer, Horacio Arturo: el libro del tango: historia e imágenes, Buenos Aires: Ossorio 1971. zusätzlich und erweiternd als Analysekategorien: Reichhardt, Dieter: Tango. Verweigerung und Trauer, Frankfurt: Suhrkamp 1984. Mazo, Mariano del und d’Amore, Adrian: Quién me quita lo bailado. Juan Carlos Copes: una vida de tango, Bunos Aires: Corregidor 2001. Gorin, Natalio: Astor Piazzolla. Erinnerungen, Berlin: Metro 2001. Piazzolla, Diana: Astor, Buenos Aires: Emecé 1987. Mesa, Paula: Eduardo Rovira y el reposicionamiento del tango en las decadas del 50 y 60. Paradigmas, teorías, investigaciones, análisis y marcos referenciales de la Música Popular, Universidad Nacional de La Plata. www. http://webarchivo.unvm.edu.ar/images/ noticias/ actas%20res%C3%BAmenes%20congreso%20musica%20popular.pdf Erweiternde Kategorien (‚externe Stellungnahmen‘): Savigliano, Marta E.: Tango and the political Economy of Passion, Boulder/Oxford: Westview Press 1995. Barrionuevo Anzaldi, Franco: Politischer Tango. Intellektuelle Kämpfe um Tanzkultur im Zeichen des Peronismus, Bielefeld: transcript 2012. Borges, Jorge Luis und Clemente, José Edmundo: El lenguaje de Buenos Aires, Buenos Aires: Emecé 1998 (Buenos Aires: Emecé 1963) Elsner, Monika: Das vier-beinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurse des Tango Argentino, Frankfurt: Lang 2000.

386 | Kulturerbe Tango

TEXTKORPORA DER ANALYSESITUATIONEN Kulturelle Praktik Tango im Moment der Anerkennung als immaterielles Kulturerbe Kod D1

Name tangoDanza 1/2010

Medium Zeitschrift

Land Deutschland

Quelle -

D2

TangoKulturInfo

webPortal

Deutschland

dpa/unesco

D3

Die Zeit

ZeitungOnline

Deutschland

afp

D4

Tagesspiegel

ZeitungOnline

Deutschland

dpa/ap

D5

BerlinerMP

ZeitungOnline

Deutschland

unesco

D6

Augsburger Allgemeine

ZeitungOnline

Deutschland

-

D7

RheinZeitung

ZeitungOnline

Deutschland

-

D8

Hamburger Abendblatt

ZeitungOnline

Deutschland

-

D9

SüddeutscheZeitung

ZeitungOnline

Deutschland

ap/gxg

D10

FocusOnline

ZeitungOnline

Deutschland

dpa

D11

ntvOnline

TVonline

Deutschland

dpa

D12

N24online

TVonline

Deutschland

afp

D13

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DB3

reisemagazinLA

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DB4

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dpa/ap/epd

DB5

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BBCmundo

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-

E2

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USA

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E3

Momento24

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engl/LA

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E4

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-

E5

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ap

E6

BBCnews

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-

EB1

blOke9

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engl/Arg

ap

EB2

AlDarbDiya

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engl/arab

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EB3

AlexTangoFuego

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EB4

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sda/afd/ dpa

CH2

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sda/ata

CH3

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Schweiz

ap/sda/ sels

CH4

NZZonline

ZeitungOnline

Schweiz

red.

Lie1

Volksblatt

ZeitungOnline

Liechtenstein

-

AT1

Wiener Zeitung

ZeitungOnline

Österreich

-

AT2

Der Standard

ZeitungOnline

Österreich

apa

AT3

nachrichten.at

ZeitungOnline

Österrreich

ad

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388 | Kulturerbe Tango

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390 | Kulturerbe Tango

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche Oktober 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

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Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

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Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

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