Versammlung und Teilhabe: Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste [1. Aufl.] 9783839426814

In consideration of what constitutes democracy today, social and artistic discourses often go hand in hand. Urban public

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Versammlung und Teilhabe: Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste [1. Aufl.]
 9783839426814

Table of contents :
Inhalt
EINLEITUNG
Versammlung, Teilhabe und performative Künste – Perspektiven eines wissenschaftlich-künstlerischen Graduiertenkollegs
VERSAMMLUNG UND TEILHABE IN KÜNSTLERISCHEN PRAKTIKEN
Coming together, coming apart: Wege zur Versammlung
Gemeinsam tanzen
Groove relations – Bewegungsqualitäten als Ordnungsstruktur partizipativer Versammlungen in Clubtanz und zeitgenössischer Choreografie
Kommen und gehen. Zur leiblichen Verfasstheit der Versammlung im ersten Teil von Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda
Performative Sammlungen. Sammeln und Ordnen als künstlerische Verfahrensweise – eine Begriffsbestimmung
MATERIALIEN, MEDIEN UND BEDINGUNGEN VON VERSAMMLUNGEN
Der besetzte Syntagma-Platz 2011: Körper und Performativität im politischen Alphabet der ›Empörten‹
VERSTÄRKUNG – Public Address Systems als Choreografien politischer Versammlungen
Kollektive Entscheidungen und ihre performative Dimension
Wer versammelt wen? Die Forschungsversammlung als ethnografisches Experiment
Das Wissen der Versammlung. Versammeln als Forschungsverfahren einer beteiligten Wissenschaft
PARTIZIPATION UND ÖFFENTLICHKEITEN
»Die kennen das doch gar nicht.« – Öffentlichkeitskonzepte im Spiegel eines lokalen Onlinevideowettbewerbs
Alternatives now. Über die (Un-)Möglichkeiten der Erfindung alternativer Zukünfte
Das theatrale und das bürokratische Dispositiv des Gerichts
Eintopf und Konsens. Urbane künstlerische Beteiligungsprojekte und die Kunst des sozialen Austauschs
Urbane Öffentlichkeiten zwischen Kunst und Nichtkunst. Kollektive Dynamiken im Lauf der Zeit – am Beispiel des Gängeviertels
Autorinnen und Autoren

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Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.) Versammlung und Teilhabe

Edition Kulturwissenschaft | Band 40

Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.)

Versammlung und Teilhabe Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste

Das wissenschaftlich-künstlerische Graduiertenkolleg »Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste« wird gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Wissenschaft und Forschung. Die Herausgeberinnen danken besonders Frederike Neißkenwirth für ihre Mitarbeit an dieser Publikation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen, jeweils von links nach rechts: 1. Reihe: Katharina Kellermann, Rasande Tyskar, Thies Rätzke 2. Reihe: Thies Rätzke, Jan Reimers, Thies Rätzke 3. Reihe: Thies Rätzke, Thies Rätzke, Anja Kühn 4. Reihe: Daniel Ladner, Judith Kästner, Thies Rätzke alle 2013 Redaktion: Frederike Neißkenwirth Lektorat: Dr. Petra Schilling Satz: Lene Benz und Julia Zajaczkowska Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck Print-ISBN 978-3-8376-2681-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2681-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

EINLEITUNG Versammlung, Teilhabe und performative Künste – Perspektiven eines wissenschaftlich-künstlerischen Graduiertenkollegs

Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington und Gesa Ziemer | 7

VERSAMMLUNG UND TEILHABE IN KÜNSTLERISCHEN P RAKTIKEN Coming together, coming apart: Wege zur Versammlung

Esther Pilkington | 21 Gemeinsam tanzen

Kerstin Evert | 37 Groove relations – Bewegungsqualitäten als Ordnungsstruktur partizipativer Versammlungen in Clubtanz und zeitgenössischer Choreografie

Sebastian Matthias | 51 Kommen und Gehen. Zur leiblichen Verfasstheit der Versammlung im ersten Teil von Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda

Martin Nachbar | 75 Performative Sammlungen. Sammeln und Ordnen als künstlerische Verfahrensweise – eine Begriffsbestimmung

Stefanie Lorey | 97

MATERIALIEN , MEDIEN UND BEDINGUNGEN VON V ERSAMMLUNGEN Der besetzte Syntagma-Platz 2011: Körper und Performativität im politischen Alphabet der ›Empörten‹

Margarita Tsomou | 113

VERSTÄRKUNG – Public Address Systems als Choreografien politischer Versammlungen

Sylvi Kretzschmar | 143 Kollektive Entscheidungen und ihre performative Dimension

Hannah Kowalski | 173 Wer versammelt wen? Die Forschungsversammlung als ethnografisches Experiment

Inga Reimers | 197 Das Wissen der Versammlung. Versammeln als Forschungsverfahren einer beteiligten Wissenschaft

Sibylle Peters | 215

PARTIZIPATION UND ÖFFENTLICHKEITEN »Die kennen das doch gar nicht.« – Öffentlichkeitskonzepte im Spiegel eines lokalen Onlinevideowettbewerbs

Dorothea Grießbach | 231 Alternatives now. Über die (Un-)Möglichkeiten der Erfindung alternativer Zukünfte

Eva Plischke | 253 Das theatrale und das bürokratische Dispositiv des Gerichts

Elise v. Bernstorff | 281 Eintopf und Konsens. Urbane künstlerische Beteiligungsprojekte und die Kunst des sozialen Austauschs

Hilke Berger | 301 Urbane Öffentlichkeiten zwischen Kunst und Nichtkunst. Kollektive Dynamiken im Lauf der Zeit – am Beispiel des Gängeviertels

Gesa Ziemer | 317 Autorinnen und Autoren | 333

Versammlung, Teilhabe und performative Künste – Perspektiven eines wissenschaftlich-künstlerischen Graduiertenkollegs Einleitung

R EGULA V ALÉRIE B URRI , K ERSTIN E VERT , S IBYLLE P ETERS , E STHER P ILKINGTON UND G ESA Z IEMER

Etablierte Formen demokratischer Versammlung und gesellschaftlicher Teilhabe werden derzeit sowohl auf globaler als auch auf lokaler Ebene herausgefordert. Ereignisse wie diejenigen rund um den sogenannten Arabischen Frühling in den Jahren 2010 bis 2012, die Platzbesetzungen im Zuge der Occupy-Bewegung, die von New York über Kairo bis nach Athen erfolgten, aber auch etwa die Entwicklung innovativer Risikotechnologien und damit einhergehender neuer Formate des Dialogs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft stellen immer wieder aufs Neue die Frage nach geeigneten und möglichst inklusiven Formen und Foren der gesellschaftlichen Verhandlung. Auf lokaler Ebene geht diese Frage mit der Sorge einher, dass mit der zunehmenden Gentrifizierung, Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums ein zentrales Forum und Medium demokratischer Öffentlichkeit verloren gehen könnte. Dabei wird insbesondere die Polis, die Stadt als politischer Raum, zum Gegenstand von Auseinandersetzungen um Teilhabe und (Versammlungs-)Öffentlichkeiten. Sowohl auf globaler wie auf lokaler Ebene geht es weniger um die offiziellen, institutionalisierten politischen Bühnen als vielmehr um die Entstehung und Erprobung neuer Formen von Versammlung und Teilhabe bzw. um die grundlegende Frage, in welchen Foren und auf welche Weise Fragen des Zusammenle-

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bens verhandelt werden sollen.1 In der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen und Thematisierungen spielen künstlerische Interventionen oft eine wichtige Rolle. Sie stehen in einer langen Tradition, die der Kunst in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit jeher wichtige Positionen und Funktionen zuschreibt. Gerade die performativen Künste können den öffentlichen Raum als Möglichkeitsraum erfahrbar machen.2 Sie öffnen Freiräume und erarbeiten Tools, die das Experimentieren mit neuen Formen der öffentlichen Versammlung und der Teilhabe ermöglichen. Sie haben v.a. auch das Potenzial, den öffentlichen Raum nicht als Bühne der großen Events, sondern als Vielzahl von Szenen und Performanzen demokratischer Teilhabe und öffentlicher Selbstorganisation zu entwickeln. Dies geschieht, wenn sie die Bühne oder den white cube des Kunstmuseums verlassen, sich in neuen Kontexten und an anderen Orten einer Stadt engagieren, aber auch, wenn sie ins Theater oder in den Kunstraum zurückkehren, um diese zu öffnen und neu zu entdecken. (Vgl. Groys 2008) Die öffentliche Versammlung im Sinne der Kopräsenz von Menschen, die einander zumindest teilweise fremd sind, galt lange als konstitutive Voraussetzung für Aufführungen schlechthin. (Vgl. Fischer-Lichte 2004) Im Zuge der Verbreitung der Performancekunst, im Experiment mit dem Verhältnis von Zuschauer_innen und Akteur_innen sowie mit medialen Konstellationen ist die öffentliche Versammlung heute in den performativen Künsten von einer Voraussetzung zu einem Ziel geworden. Ob und wie eine spezifische Form der öffentlichen Versammlung zustande kommt – genau darum geht es in zahlreichen zeit-

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Vor diesem Hintergrund müssen die Grundlagen des klassischen partizipatorischen Demokratieverständnisses (vgl. Pateman 1970; Habermas 1992; Barber 1994; Dahl 1994) derzeit neu bewertet werden. Es zeigt sich, dass sich mit dem Charakter der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auch die Figurationen von Öffentlichkeit und die Formen der Teilhabe ändern. Demokratie ist demnach als etwas zu begreifen, das ›im Kommen bleibt‹ (Derrida 2006), das immer wieder neu entwickelt werden muss und in keiner konkreten Form von Repräsentation letztgültig realisiert werden kann. (Vgl. Nancy 2010; Rancière 2011; Agamben et al. 2011) Insgesamt stellt die Theorieentwicklung hinsichtlich der politischen Versammlungskultur immer noch ein Desiderat der Forschung dar. (Vgl. Halberstadt/Hensel 1997; Gerhards 1992)

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Als performative Künste werden hier nicht nur Performance, Tanz oder Theater, sondern auch Medienkünste verstanden, denn digitale Filmaufführungen, Videoinstallationen, Multimediaperformances oder Netzkunst sind insofern ebenfalls als performativ zu bezeichnen, als sie gewissermaßen erst aufgrund der Interaktivität zwischen Zuschauenden und dem medialen Werk in performativen Akten entstehen.

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genössischen Performances.3 Dies betrifft die Ebene der Adressierung der Beteiligten solcher Projekte ebenso wie Fragen hinsichtlich der medialen Vermittlung, der verschiedenen Rollen, der Wahrnehmung, der Erzeugung von Aufmerksamkeit, der Verteilung und des Kontakts der Körper, der Organisation von Raum und Zeit sowie schließlich Fragen hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten einer spezifischen Versammlung. All diese Aspekte werden gegenwärtig unter dem Schlagwort ›Partizipation‹ verhandelt. Nicht nur gesellschaftliche und künstlerische, sondern auch (kultur-) wissenschaftliche und künstlerische Entwicklungen verlaufen derzeit im Hinblick auf die Frage nach geeigneten Formen und Foren der gesellschaftlichen Verhandlung in vieler Hinsicht parallel. Diese Parallelitäten in der Entwicklung von wissenschaftlich-theoretischer und performativ-künstlerischer Arbeit lassen sich als vier zentrale Gemeinsamkeiten beschreiben: •



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Eine kritische Beschäftigung mit dem Begriff der Partizipation: Eine Gemeinsamkeit zwischen kulturwissenschaftlicher und künstlerischer Thematisierung besteht in einem gegenüber den klassischen partizipatorischen Demokratietheorien differenzierteren und kritischeren Umgang mit ›Partizipation‹ als Schlüsselbegriff. Sowohl in der Kunstkritik als auch in der politischen Kritik stehen bestimmte Spielarten der Partizipation heute im Verdacht, Teilhabe lediglich zu simulieren, neoliberalen Konzepten von Gouvernementalität und Selbststeuerung Vorschub zu leisten, Herrschaftsinstrumente zu sein und Teilhabegerechtigkeit an die Stelle von Verteilungsgerechtigkeit zu setzen. (Vgl. McKenzie 2001; Miessen 2010) Gerade das künstlerische Experimentieren mit neuen Formen von Versammlung und Teilhabe eröffnet ein Feld, in dem Kunst und Wissenschaft diese Fragen differenziert und am konkreten Beispiel erörtern können. (Vgl. geheimagentur 2011; Ziemer 2010 und 2013) Eine kritische Inventur des Konzepts der Öffentlichkeit: Gemeinsam ist kulturwissenschaftlichen und künstlerischen Diskursen zudem die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Öffentlichkeit. Seit Habermas gilt, dass Öffentlichkeit im Sinne einer Grundbedingung demokratischer Gesellschaften nicht gegeben, sondern produziert und darin von zahlreichen Gelingensbedingungen abhängig ist. (Vgl. Habermas 1971) Heute scheint es darüber hinaus nicht mehr treffend, von ›der Öffentlichkeit‹ im Singular zu sprechen. Moderne Gesellschaften sind von einer wandelbaren Vielzahl von

Vgl. z.B. die Arbeiten von Gob Squad, Lab of Insurrectional Imagination, La Pocha Nostra, LIGNA, She She Pop, geheimagentur und Turbo Pascal.

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Öffentlichkeiten geprägt (vgl. Fraser 1990; Raunig/Wuggenig 2005), für deren Entstehung und Entwicklung spezifische performative und mediale Prozesse der Adressierung, der Imagination, der Zirkulation und der Versammlung konstitutiv sind (vgl. Golinski 1992; Warner 2002). Diese Prozesse sind emergent, also nicht vollends kontrollierbar, nichtsdestoweniger aber Gegenstand zahlreicher künstlerischer Experimente an der diskursiven Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Politik. Eine Perspektive auf performative und medial-materielle Faktoren von Versammlungen: Eine weitere Parallelität zwischen künstlerischer und (jüngerer) wissenschaftlicher Reflexion zeigt sich in der besonderen Bedeutung, die – anders als bei klassischen Positionen der Demokratietheorie – performativen Protokollen und medial-materiellen Faktoren beigemessen wird. (Vgl. Leggewie/Maar 1998; Hurrelmann/Liebsch/Nullmeier 2002) Dies geht bis hin zu der Frage, inwiefern Dinge, Medien oder räumlich-materielle Konstellationen als aktive Teilnehmer öffentlicher Versammlungen betrachtet werden müssten. (Vgl. Latour 2005; Latour/Weibel 2005; Burri 2008) Ein Interesse an Choreografie als Analysekategorie: Schließlich teilen die Künste und die Kulturwissenschaften auch ein in den vergangenen zwei Jahrzehnten stetig gewachsenes Interesse an Choreografie als theoretischem Sujet.4 Choreografie als Beschreibungskategorie von Wissen und Verfahren der Bewegungsgestaltung im Raum ist dabei stets wiederum Spiegel geschichtlicher und gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Denn die mit choreografischem Wissen verknüpften Körpertechniken beinhalten ein Wissenspotenzial, das in einer auf Mobilität ausgerichteten Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Bewegungsströme und (architektonische) Bewegungslenkungen und -strukturierungen prägen den öffentlichen Raum. Jenseits der Frage nach körperlicher Virtuosität entdecken künstlerische Arbeiten diese gesellschaftliche und politische Relevanz von Bewegung und verdeutlichen diese insbesondere im öffentlichen Raum. (Vgl. Evert 2003

Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich besonders im westeuropäischen Kontext ein großes künstlerisches Innovationspotenzial im Bereich der performativ-diskursiv orientierten choreografischen Ansätze entwickelt, welches die Grenzen zwischen Tanz und Performance unter dem Aspekt des ›Choreografischen‹ verbunden hat. Wesentlich gekennzeichnet ist dieser Bereich der zeitgenössischen Choreografie durch eine verstärkte Hinwendung zu prozessorientierten Arbeitskontexten, die sich, zumeist im transdisziplinären Zusammenhang, mit grundsätzlichen Fragen körper- und raumbezogener künstlerischer Forschung beschäftigen.

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und 2011)5 Andererseits nutzen die Kulturwissenschaften den Begriff des Choreografischen zunehmend als gesellschaftliche und diskursive Beschreibungskategorie. (Vgl. Hewitt 2005; Cvejic/Vujanovic 2012) Die Kulturwissenschaften und die performativen Künste teilen nicht nur kritische Positionen oder thematische Fokusse; zunehmend expliziter wird derzeit in den Künsten ebenfalls ein Forschungsanspruch vertreten. Künstlerisches Arbeiten als Forschung zu begreifen, hat dabei eine lange Tradition, die von der Romantik über die ›Experimentierbühne‹ der klassischen Avantgarde bis in die Gegenwart zu verfolgen ist. (Vgl. Mersch/Ott 2007) Im Sinne eines Forschens in der Kunst sollen ästhetische Erfahrungen die theoretischen Figuren affizieren und vice versa. Dieses Vorgehen nähert sich damit der grundlegenden Frage nach dem Stellenwert ästhetischer Erfahrung, wie sie historisch schon Alexander Baumgarten im 18. Jahrhundert gestellt hat: Inwiefern ist die sinnliche Erfahrung die Basis aller Erfahrung, die wir machen und in Handlungen und Entscheidungen übergehen lassen? (Vgl. Baumgarten 1988) In ›Kunst als Forschung‹ also eine vollkommen neue, jüngst installierte Praxis zu sehen, erschwert vor diesem Hintergrund die historische Differenzierung ebenso wie die gegenwärtige Neubestimmung künstlerischen Forschens. (Vgl. Borgdorff 2009) Bis zu Beuys reicht die romantisch-avantgardistische Traditionslinie, der zufolge die Perspek-

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Die sogenannten Radioballette der Hamburger Medienkunstformation LIGNA sind nur ein Beispiel für künstlerische Arbeit im Feld choreografischer Strukturen, die auf Teilhabe und Teilnahme ausgerichtet sind. LIGNA plädiert mit seinen Aktionen für einen differenzierten Umgang mit dem Medium Radio sowie mit dem öffentlichen Raum, indem bewusst auf gesellschaftliche Kontexte – wie das Problem der Privatisierung von öffentlichen Räumen – Bezug genommen wird. LIGNAs Aktionen sind somit choreografische Eingriffe in den öffentlichen Raum und seine Alltagsordnung, die Bewegung und ihr strukturierendes Potenzial im öffentlichen Raum fokussieren. Dieser Ansatz demonstriert die gesellschaftspolitische Dimension von Choreografie und Performance unter dem Aspekt der Erzeugung von Öffentlichkeiten. Auch Arbeiten wie diejenigen von Rimini Protokoll (Sonde Hannover, 2002) oder Gob Squad (Super Night Shot, 2003), die Medienkunstinstallationen des international renommierten Choreografen William Forsythe, die dieser seit einigen Jahren unter dem Oberbegriff choreographic objects für unterschiedliche Raumformationen entwickelt, die mit ritualisierten Strukturen arbeitenden Projekte der israelischen Formation Public Movement, die choreografischen Stadtkompositionen des Wiener theaterkombinats stehen in diesem Spannungsfeld von Choreografie, Teilhabe und Versammlung in gesellschaftlichen Kontexten.

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tiven von Kunst und Wissenschaft qua künstlerischer Forschung in ein organisches Ganzes zu reintegrieren sind. Im Unterschied zu diesem Ansatz geht es heute um eine Ausdifferenzierung der Diskurse, um Übergänge und Kooperationen. (Vgl. Klein 2010) Sowohl auf der Ebene der Strukturen (Institutionen, Studiengänge) als auch auf der Ebene der Präsentations- und Arbeitsformen sind Hybride zwischen Kunst und Wissenschaft entstanden. (Vgl. Rey/Schöbi 2009; Peters 2011) Dieser Entwicklung ist in Kunst und Wissenschaft eine intensive Beschäftigung mit Wissensformen vorausgegangen, die im abendländischen System der Wissenschaften traditionell nicht vertreten sind und im Verhältnis zum formalisierbaren und klassisch philosophisch-historischen Wissen in der Vergangenheit immer wieder abgewertet wurden. Hier handelt es sich um Taktiken, Stile, Know-how, Formen des lokalen, habituellen, situativen, des körperlichen, des performativen und des bildlichen Wissens. (Vgl. Polanyi 1967; de Certeau 1988; Deleuze/Guattari 1992; Bourdieu 1996; Burri 2008 und 2012) Im Rahmen des künstlerischen Forschens sind zahlreiche Verfahren entstanden, um diese Wissensformen in Forschungsprozesse miteinzubeziehen. (Vgl. Frayling 1993) Mittlerweile erfährt das ›How-to-Wissen‹ im Zuge der Forderung nach mehr Anwendungsorientierung der akademischen Bildung eine allgemeine Aufwertung. Zugleich entstehen im Zuge der europaweiten Reformen der Kunsthochschulen zahlreiche Programme für künstlerisches Forschen. Sie stehen allerdings immer wieder in der Kritik, künstlerische (Lern-)Prozesse zu sehr den Standards wissenschaftlichen Arbeitens unterwerfen zu wollen. (Vgl. Busch 2009) Künstlerisches Forschen wird vor diesem Hintergrund auch heute noch als Wissenschaftskritik in Stellung gebracht. (Vgl. Bippus 2009) Mit der Anwendung des Forschungsbegriffs auf künstlerische Arbeit verbindet sich auch eine legitime Kritik an Traditionen und Konventionen von Kunstdiskursen. Wo Forschung und Wissensproduktion zu wichtigen Bezugspunkten zeitgenössischer künstlerischer Praxis werden, geht dies mit einer Abkehr von Genieästhetik und Repräsentationskunst zugunsten dokumentarischer, diskursiver, experimenteller und kollektiver Herangehensweisen einher. (Vgl. Caduff/Wälchli 2007; Mader 2011; Peters 2013) An die Stelle ideologischer und diskurspolitischer Debatten kann damit die Frage treten, welche Interessen Kunst und Wissenschaft im Hinblick auf Forschung teilen, welche Kompetenzen und Ressourcen sie einander zur Verfügung stellen können, bzw. welchen gesellschaftlichen Desideraten sich die Forschung zwischen Kunst und Wissenschaft gegenübersieht. Im Übergang zur Wissensgesellschaft steht das traditionelle Forschungsmonopol der Wissenschaften heute keineswegs nur im Verhältnis zur Kunst infrage. Die science studies beobachten

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und diskutieren seit zwei Jahrzehnten den Übergang in die sogenannte mode 2 knowledge production – in eine Wissensproduktion, die u.a. nicht mehr dem Dualismus von wissenschaftlicher Wissensproduktion einerseits und gesellschaftlicher Anwendung andererseits gehorcht, sondern die auf die Mitwirkung von sogenannten citizen scientists an der Wissensproduktion abstellt (vgl. Nowotny/ Scott/Gibbons 2001). Mode 2 knowledge production verortet Forschung nicht mehr im abgeschotteten Labor oder Archiv, sondern an den Schnittstellen von Wissenschaft und Gesellschaft. Gerade im Kontext der viel diskutierten Krise der Geistes- und Kulturwissenschaften scheint die Orientierung auf eine solche Wissensproduktion vielversprechend. (Vgl. Weigel 2003) Für die künstlerische Forschung eröffnen sich hier neue Möglichkeiten. Sie kann auf Erfahrungen im Experimentieren mit Teilhabe zurückgreifen und verfügt über vielfältige Mittel, die traditionell eine Brückenfunktion zwischen Wissensdiskursen und alltäglicher Erfahrungswelt einnehmen. Einem solchen Ansatz verschreibt sich das wissenschaftlich-künstlerische Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe: Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste6, das der Frage nachgeht, auf welche Weise die performativen Künste – einschließlich der Medienkünste – zur Entwicklung neuer Formen und Foren der öffentlichen Versammlung und demokratischen Teilhabe beizutragen vermögen. In diesem Sammelband werden erste Ergebnisse dieser Untersuchung präsentiert. Der erste Teil – Versammlung und Teilhabe in künstlerischen Praktiken – beschäftigt sich mit Formen des (Ver-)Sammelns und Partizipierens als forschende Verfahren einer performativen Kunstpraxis. Die performativen Künste produzieren per se Versammlungen, denn Kopräsenz ist eine ihrer Grundbedingungen. Mit dem Aufkommen der ortsspezifischen, der partizipatorischen und der transmedialen Performance steht die Form dieser Versammlung jedoch zur Disposition und wird von einer Ausgangsbedingung zu einem experimentellen

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Das Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe: Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste wurde 2012 von Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters und Gesa Ziemer mit Finanzmitteln der Hamburger Behörde für Wissenschaft und Forschung gegründet. Es stellt das erste Graduiertenkolleg in Deutschland dar, das künstlerische und wissenschaftliche Herangehensweisen in einer Kooperation zwischen einer Universität (HafenCity Universität Hamburg) und zwei künstlerischen Institutionen (FUNDUS Theater sowie K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg in der Kampnagelfabrik) verbindet. Im Unterschied zu anderen Graduiertenkollegs arbeiten die Stipendiatinnen und Stipendiaten in ihren Projekten sowohl mit künstlerischen als auch mit wissenschaftlichen Ansätzen.

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Set-up. Die Artikel in diesem Teil umkreisen verschiedene Aspekte performativer Versammlungen – wie Mobilität, Bewegung, Leiblichkeit, Anwesenheit und Interaktion – und fragen danach, welche Formen der Teilhabe sich aus diesen Versammlungen ergeben. Esther Pilkington beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Mobilität als Grundbedingung jeder Versammlung. Ausgehend von der Prämisse, dass eine Performance als Ereignis ohne Reisen nicht zustande kommt, fragt sie danach, wie durch Mobilität Relationen jenseits der Kopräsenz im Rahmen des singulären Ereignisses hergestellt und dabei neue Formen von Öffentlichkeiten konstituiert werden. In einer Umkehrung der Perspektive interessiert sie sich dafür, wie sich andererseits in dieser Verschränkung von Reise, Versammlung und Performance Fragen von Mobilität neu verhandeln lassen. Kerstin Evert untersucht die Versammlungsform des gemeinsamen Tanzens als wieder aufkommende Ausdrucksform zeitgenössischen Tanzschaffens. Im Spannungsfeld des Tanzes als sowohl gesellschaftlichem (Frei-)Zeitvertreib wie auch professioneller Bühnenpraxis, die beide zugleich seit den 1990er-Jahren verstärkt im Kontext kultureller Bildung eingesetzt werden, zeigt sie anhand verschiedener Beispiele auf, wie Künstlerinnen und Künstler derzeit versuchen, kollektives Tanzen jenseits von pädagogischem Nützlichkeitsdenken neu zu thematisieren. Mit seinem Fokus auf partizipative Tanzversammlungen schlägt Sebastian Matthias das Konzept eines choreografischen Groove für deren Analyse vor. Tänzer_innen wie Zuschauende generieren in den Versammlungen durch ihre partizipative Wahrnehmung und die körperliche Verarbeitung von Rhythmen (entrainment) fortlaufend neue Bewegungsrhythmen, die sich überkreuzen und im wechselseitigen Informationsaustausch den choreografischen Groove somatisch spürbar machen. So wird das Ereignis der Versammlung aus einem kollektiven Zusammenspiel zwischen dem Senden und Empfangen von Bewegungsqualitäten konstituiert. Martin Nachbar erörtert Aspekte der Leiblichkeit von Versammlung im Theater und in Performances. Leiblichkeit wird dabei als methodische Möglichkeit verstanden, durch die die Wirkweisen von Performativität untersucht werden können. Unter Einbezug des eigenen Erlebens – im Hinblick auf die sich vollziehenden Leiblichkeiten in den Bewegungen von Handlung und Wahrnehmung der Anwesenden – analysiert der Autor Nicole Beutlers reenactment 2: Dialogue with Lucinda (2010) und fragt danach, warum er bei einer Performance, in der die Tänzerinnen und Tänzer hauptsächlich gehen, im übertragenen Sinne mitgehe. Den Begriff ›performative Sammlung‹ entwickelt Stefanie Lorey, um Sammlungsformate in den Künsten hinsichtlich ihrer performativen Eigenschaften zu untersuchen. Darunter versteht sie Akkumulationen, die ihre Sammlungsobjekte erst im Moment der Präsentation als Vollzugsereig-

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nis generieren. Im Thematisieren des Sammelvorgangs selbst können performative Sammlungen so einen Raum erschaffen, zu dem sich die Betrachterinnen und Betrachter ins Verhältnis setzen, der sie einlädt, Lücken zu schließen, Fehlendes mit Eigenem zu füllen und der sie damit auf der Ebene einer rezeptionalen Teilhabe anregt, die Sammlung weiter zu vervollständigen. Der zweite Teil – Materialien, Medien und Bedingungen von Versammlungen – fragt nach den Körpern und Gesten, Objekten und Medien, Zeiten und Räumen sowie nach den Atmosphären und Stimmungen, die Versammlungskonstellationen konstituieren, und interessiert sich dafür, welche Formen der Teilhabe damit verbunden sind. Margarita Tsomou untersucht die Platzbesetzung der griechischen ›Empörten‹ – der ›Aganaktismenoi‹ – auf dem zentralen Syntagma-Platz vor dem Parlamentsgebäude in Athen 2011. Dabei stehen die Körper und ihre Performativität im Fokus. Ausgehend von vier dokumentarisch beschriebenen Szenen nimmt sie eine Analyse der Akte, Gesten, Rituale, performativen Protokolle und Tänze der ›Empörten‹ vor, um das ›politische Alphabet‹ der griechischen Platzbesetzungen zu dechiffrieren. Mit der Rolle von Public-Address-Systemen als Apparate in Choreografien politischer Versammlungen beschäftigt sich Sylvi Kretzschmar. Dabei geht sie von der These aus, dass diese aus Lautsprechern und Verstärkern bestehenden Apparate Methoden und Techniken des Versammelns darstellen, welche die politischen Diskursen inhärenten Machtkonstellationen (und Systeme der Repräsentation) nicht nur spiegeln, sondern aktiv festlegen. So schaffen Public-Address-Systeme politische Arenen als konkrete Auditorien, indem sie Teilhabe und Ausschluss bestimmen. Hannah Kowalski befragt die performative Dimension von kollektiven Entscheidungsverfahren. Materialien, Objekte, Gesten und Bewegungen, die beim gemeinsamen Entscheiden eine Rolle spielen, stehen im Fokus ihres Beitrags. Gestützt auf ihre Erfahrungen im Rahmen einer experimentellen Versammlungsanordnung mit Kindern und Erwachsenen geht sie der Frage nach, ob man den Entscheidungsmoment re-choreografieren und neu mit den Dingen in Beziehung setzen kann, um auf diese Weise die Motivation für die Teilnahme an kollektiven Entscheidungen zu erhöhen. Inga Reimers widmet sich epistemologischen und methodologischen Fragen von Versammlungen im Rahmen ethnografischer Arbeit. Sie beschreibt am Beispiel zweier Dinnersettings den Begriff der ›Forschungsversammlung‹: Diese folgt einem experimentell-ethnografischen Ansatz und hat die Schaffung von Möglichkeitsräumen zum Ziel, in denen sich Wissen ereignen kann. Dabei liegt der Fokus auf den sinnlichen, atmosphärischen Dimensionen solcher Versammlungen, deren Gelingen somit auch von der Anwesenheit und Teilhabe mehrerer Akteur_innen abhängt. Das Wissen einer Versammlung steht ebenfalls im Zentrum von Sibylle Peters’ Beitrag. Ausge-

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hend von einem Zitat von Heinrich von Kleist – »Nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unserer, welcher weiß« – erörtert sie die Frage, ob nicht die Menschen, sondern vielmehr die Versammlungen selbst, d.h. die Konstellationen von Menschen, Räumen, Zeiten, Medien, Maschinen, es sind, die wissen. Und kommen wir in diesen ›Zustand, welcher weiß‹, indem wir an unterschiedlichen dieser Versammlungen teilhaben? Welche Formen von Teilhabe ermöglichen solche Versammlungen des Wissens? Der dritte Teil – Partizipation und Öffentlichkeiten – thematisiert gesellschaftliche und künstlerische Beteiligungsformen im öffentlichen Raum, wobei insbesondere urbane Kontexte untersucht werden. Am Beispiel eines von einer Stadtbehörde initiierten Onlinevideowettbewerbs, der sich an Bewohnerinnen und Bewohner einer marginalisierten Stadtregion mit dem Ziel wendete, den stereotypen Vorstellungen von einem sogenannten sozialen Brennpunkt andere Bilder entgegenzusetzen, analysiert Dorothea Grießbach die unterschiedlichen Erwartungen und Interessen, die dem Wettbewerb von den Beteiligten entgegengebracht wurden. Dabei werden Asymmetrien deutlich und unterschiedliche, nur schwer zu vereinbarende Öffentlichkeitskonzepte kommen zum Tragen, die im Zusammenhang mit der geringen Partizipationsbereitschaft der Stadtteilbewohner_innen zu interpretieren sind. Eva Plischke analysiert die Versprechen und die Krisen von partizipativen Zukunftserfindungs- und Zukunftsplanungsprogrammen wie Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten, die in der Zukunftsforschung, im Organisationsmanagement oder in der Stadtplanung angewendet werden. Anhand ihres künstlerischen Experiments mit Hamburger Schülerinnen und Schülern, das zur Gründung eines Jungen Instituts für Zukunftsforschung mit konkreten Aufträgen von gesellschaftlichen Institutionen führte, zeigt sie die Schwierigkeiten der Erfindung alternativer Zukünfte jenseits von bereits vorhergesagten Zukünften und Wachstumsparadigmen auf. Ebenfalls mit Schülerinnen und Schülern hat Elise v. Bernstorff das Amtsund Landgericht Hamburg-Mitte erkundet. Ausgehend von den gemeinsamen Erfahrungen während der Recherche untersucht sie in ihrem Aufsatz den Widerstreit zweier Grundzüge des Gerichts: des theatralen und des bürokratischen Dispositivs der Rechtsprechung. Wie sich die theatralen und bürokratischen Aspekte auf die Zugänglichkeit und die Möglichkeiten zur Teilhabe am Gericht auswirken, wird mit Bezug auf Kafkas Erzählung Der Prozeß genauer untersucht und problematisiert. Hilke Berger beschäftigt sich mit der Rolle der Kunst zwischen Zweckfreiheit und Heilsbringung. Sie zeichnet in kondensierender Form die Entwicklungen partizipativer künstlerischer Praktiken und die Auflösung der Genrezuschreibungen in der Kunst seit den 1960er-Jahren nach. Diskutiert werden hierbei Fragen nach der Rolle von Zuschauer_innen und Kunstschaffenden

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gleichermaßen wie das daraus resultierende Problem der Autorinnen- bzw. Autorenschaft. Problematisiert werden Diskussionen um die Indienstnahme von Gemeinschaftsutopien, um Instrumentalisierungstendenzen, städtisches Planungsvorgehen und die entsprechende ›Festivalisierung‹ der Kunst. Der Beitrag von Gesa Ziemer schließlich befasst sich mit den Begriffen ›Versammlung‹ und ›Kompliz_innenschaft‹. Versammlungen, die eine mögliche Organisationsform größerer Kollektive darstellen, liegt oft eine Komplizenschaft, die als kleine Keimzelle angelegt ist, zugrunde. Am Beispiel des Hamburger Gängeviertels zeigt die Autorin auf, wie sich eine kleine, heterogene, schlagkräftige Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten große Öffentlichkeit verschafft hat und diese heute in Form von Versammlungen kollektiv organisiert.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

Agamben, Giorgio/Badiou, Alain/Bensaid, Daniel/Brown, Wendy/Nancy, JeanLuc/Ranciere, Jacques/Ross, Kristin/Žižek, Slavoj (2011): Democracy in What State?, New York. Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie, Hamburg. Baumgarten, Alexander (1988): Theoretische Ästhetik, Hamburg. Bippus, Elke (Hg.) (2009): Kunst des Forschens, Zürich/Berlin. Borgdorff, Henk (2009): Die Debatte über Forschung in der Kunst, in: Anton Rey/Stefan Schöbi (Hg.), Künstlerische Forschung – Positionen und Perspektiven, Zürich, S. 21-53. Bourdieu, Pierre (1996): Die Praxis der reflexiven Anthropologie, in: Pierre Bourdieu/Loic Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M., S. 95249. Bräuer, Stefanie et al. (Hg.) (2008): Kunst Macht Öffentlichkeit, Beiträge des 73. Kunsthistorischen Studierendenkongresses vom 30. November bis 2. Dezember 2007 in Berlin, Berlin. Burri, Regula Valérie (2008): Doing Images: Zur Praxis medizinischer Bilder, Bielefeld. Burri, Regula Valérie (2012): Visual Rationalities: Towards a Sociology of Images, in: Current Sociology 60, S. 45-60. Busch, Kathrin (2009): Wissenskünste. Künstlerisches Forschen und ästhetisches Denken, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens, Zürich/Berlin, S. 141158. Caduff, Corina/Wälchli, Tan (Hg.) (2007): Autorschaft in den Künsten. Konzepte – Praktiken – Medien, Zürich.

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Coming together, coming apart: Wege zur Versammlung E STHER P ILKINGTON

»We have come a long way to be here and what’s more we’ve come a long way to be here together.« (Lone Twin 2000)

Wenn eine Versammlung beginnt, hat sie sich bereits versammelt. Dieser Artikel beschäftigt sich mit Wegen und Versammlungen, mit Prozessen des Ver- und des Entsammelns. Dabei werden Mobilität, Versammlung und performative Künste ineinandergreifend diskutiert. Sechs Betrachtungen zum Zusammenspiel von Reise und Versammlung sind ebenso vielen kurzen Schilderungen verschiedener Aspekte der Performance Hello My Friend, die ich 2013 im Seemannsclub Duckdalben im Hamburger Hafen realisiert habe, gegenübergestellt. Die Performance und dieser Artikel sind Manifestationen des Forschungsprojekts Coming together, coming apart, das ich im Rahmen des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe durchführe. ***

A NREISEN Jeder Versammlung geht eine Reise voraus, oder genauer gesagt viele Reisen: die Reisen, die alle Teilnehmenden unternehmen müssen, um zum Ort der Versammlung zu gelangen – z.B. ins Theater, das Hans-Thies Lehmann als einen Ort »der realen Versammlung« beschreibt. »Im Unterschied zu allen Künsten des Objekts und der medialen Vermittlung findet hier sowohl der ästhetische Akt selbst (das Spiel), als auch der Akt der Rezeption (der Theaterbesuch) als reales Tun in einem Hier und Jetzt statt«. (Lehmann 2000: 12) Es sind die An- und Ab-

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reise, die den alltäglichen Raum mit dem ästhetisch organisierten Raum des Theaters verbinden. Unter ›Versammlung‹ wird hier zuallererst eine physische Zusammenkunft verstanden, in der etwas gemeinsam getan bzw. erlebt wird. Betrachtet man nun die Prozesse des Ver- und Entsammelns als Formen der (Fort-) Bewegung, dann muss die Versammlung stets mit der Reise zusammengedacht werden: Eine Reise ist Bedingung jeder Versammlung, ohne bereits selbst notwendigerweise Versammlung zu sein. Theater und Performance als ›reale Versammlungen‹ in einem Hier und Jetzt zu betrachten, erfordert somit auch, über Mobilität als gleichzeitig konstitutiven und dissoziativen Faktor für eben diese Versammlungen nachzudenken. Lehmanns Charakterisierung des Theaters als Versammlung zielt vornehmlich auf den Aspekt der Kopräsenz aller am Theaterereignis Beteiligten ab. Versteht man jedoch die Prozesse des Ver- und Entsammelns als Bedingung des Zustandekommens einer jeden Versammlung, ergibt sich daraus auch eine andere Perspektive auf die Kopräsenz im Hier und Jetzt des (hier als exemplarisch zu betrachtenden) Theaters: Während die Reise diese Kopräsenz (das ›to be here together‹) erst möglich macht, bricht sie auf der anderen Seite das Hier und Jetzt der Versammlung auf und setzt diese mit anderen Orten in Verbindung (›we have come a long way‹). Somit gerät für den Bereich der performativen Künste auch die Frage nach deren Potenzial in den Blickpunkt, Relationen zu stiften, die nicht ausschließlich auf Kopräsenz beruhen. Oder anders gesagt: In einer Beschäftigung mit den physischen Prozessen des Versammelns kann die Versammlung selbst zum experimentellen Set-up werden, in dem das Zustandekommen und die Bedingungen der Versammlung performativ neu verhandelt werden.

I. »This is the beginning of our journey together tonight. And I would like to suggest that we try to imagine, to anticipate the destination of our journey tonight together – while we are driving along, while we are leaving places behind that some of us know well, while we are approaching the place that we are going to.« (Pilkington 2013)

Am Abend des 12. Mai 2013 machen sich mehrere Menschen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln aus verschiedenen Himmelsrichtungen auf den Weg zum internationalen Seemannsclub Duckdalben im Hamburger Hafen. Die Seeleute werden mit Kleinbussen von ihren Containerschiffen abgeholt – Hamburg und der Duckdalben sind ein Zwischenstopp auf ihren monatelangen Seereisen. Die Seeleute kehren regelmäßig auf ihren Reisen im Duckdalben ein – um Bier zu trinken, um andere Leute zu treffen, um Karaoke zu singen, aber v.a., um per

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Telefon oder Internet in Kontakt mit Familie, Freundinnen und Freunden zu Hause zu treten, denn an Bord der Schiffe stehen ihnen diese Technologien meist nicht zur Verfügung. Doch an diesem Abend ist noch eine andere Gruppe von Besucher_innen unterwegs zum Seemannsclub: Von der S-Bahn-Haltestelle Wilhelmsburg bringt ein Reisebus ›Landratten‹ zu der Performance Hello My Friend – eine einmalige Zusammenkunft von ›Landratten‹ und Seeleuten, die durch diese verschiedenen Anreisen bedingt und geprägt ist.

U NTERWEGSSEIN Immer wieder ist heute von einer ›Welt in Bewegung‹ (z.B. Karentzos/ Kittner/Reuter 2010) die Rede, und von der wachsenden Bedeutung von Mobilität in allen Bereichen der Gesellschaft: »All the world is on the move.« (Sheller/ Urry 2006: 207) Die Soziologen Mimi Sheller und John Urry sprechen von einem »new mobilities paradigm«, um sich dieser Welt »on the move« (ebd.) anzunähern. Der Begriff ›Mobilität‹ umfasst hierbei die verschiedensten Formen des Reisens und damit auch ein komplexes Spektrum unterschiedlicher Motivationen und Zwänge (Migration, Tourismus, Business, Militär etc.). Es geht nicht um die eine Reise, gerahmt durch »Abreise und Rückkehr« (Kravagna 2010: 71), sondern um eine »Vervielfältigung von freiwilligen und unfreiwilligen Formen des Unterwegsseins« (ebd.: 70)1. Neben der physischen (Fort-)Bewegung von Menschen bezeichnet Mobilität auch die internationalen globalisierten Warenkreisläufe sowie virtuelle Daten- und Informationsflüsse (z.B. im Finanzwesen). (Vgl. Büscher/Urry/Witchger 2011: 5) In den verschiedensten Theorien lässt sich »über Disziplingrenzen hinweg« zudem die Verwendung von »mobilitätsbezogenen Metaphern« (Lenz 2011: 2) feststellen, in denen häufig auch bestimmte Wertungen zum Ausdruck kommen – Tom Holert und Mark Terkessidis sprechen von einem »Enthusiasmus der Mobilität« (Holert/Terkessidis 2005: 100) und nennen diesbezüglich Autoren wie Paul Virilio, Michel de Certeau, Gilles Deleuze und Félix Guattari. Um diese Wertungen zusammenzufassen, stellt der Geograf Tim Cresswell einer ›Metaphysik der Sesshaftigkeit‹ (sedentarist metaphysics) eine ›Metaphysik des Nomadischen‹ (nomadic metaphysics) gegenüber und plädiert für eine kritische Auseinandersetzung mit beiden Konzepten. (Vgl. Cresswell 2002) Ebenso spricht sich Ramona Lenz für eine Be-

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Christian Kravagna trifft diese Feststellung in Bezug auf Künstler_innenreisen. Kravagna beschreibt die Vorstellung der einen Reise als einer westlichen Perspektive verbunden, während das vielfältige Unterwegssein in »postkoloniale Darstellung[en]« (Kravagna 2010: 70) zu finden sei.

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trachtung der Metaphern der Mobilität aus – sie betont jedoch auch, dass die materiellen und physischen Gegebenheiten des Unterwegsseins im Vordergrund stehen sollten: »Die Erforschung und Theoretisierung von Mobilität kommt ohne die Anerkennung von Körperlichkeit und Materialität nicht aus. Um der Vielfalt der Mobilitätspraxen und -konzepte gerecht zu werden, müssen ForscherInnen und erkenntnisleitende Metaphern aber gleichzeitig in Bewegung bleiben. Der mobility turn und seine Metaphern müssen immer wieder auf Potenziale, Grenzen und Gefahren beim Verstehen, Erklären und Beeinflussen der Welt überprüft werden.« (Lenz 2011: 26, Herv. i.O.)

Im Bereich der performance studies lässt sich im Umgang mit Konzepten der Mobilität eine ähnliche Form der Metaphorisierung und – damit einhergehend – eine grundlegend positive Wertung der Mobilität finden – z.B., wenn es darum geht, Performance als per se mobile Praxis zu beschreiben: »Live Art might be understood as an inherently journey based artform. Whether through literal movement or the movement of ideas, live performance frequently employs mobilisation as a key strategy.« (Overend 2012: 5) Bewegung ist erst einmal gut – und als prozess- und ereignishafte Kunstform lässt sich Performance auf verschiedenste Weise mit Vorstellungen von Mobilität in Verbindung bringen, sodass tatsächliche wie auch metaphorische Bewegung gleichsam als ›Mobilisierung‹ beschrieben werden können. Den Zusammenhang von Reise und Versammlung (im Kontext der performativen Künste) zu untersuchen, heißt jedoch auch, die physischen und materiellen Bedingungen der Mobilität sowie die Orte des Unterwegsseins in den Blick zu nehmen. Nicht nur ergibt sich daraus die Frage, was die mobile Welt für das Sich-Versammeln bedeutet, sondern auch die, wie wir überhaupt zusammenkommen können, wenn alle (angeblich) immer unterwegs sind?

II. »The place we are going to is an important stop on somebody else’s journey.« (Pilkington 2013)

Die Seeleute sind so gut wie immer unterwegs – auf den Containerschiffen sind sie bis zu neun Monate am Stück auf Reisen und gehören zu den Hauptakteur_innen der mobilen globalen Welt – nicht nur durch ihre eigene physische Fortbewegung, sondern auch dadurch, dass ihre alltägliche Arbeit die Basis für den weltweiten Transport von Gütern ist. Und gleichzeitig sind die Seeleute von

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der ›world on the move‹, die sie erst möglich machen, doch ausgeschlossen: Auf den allermeisten Containerschiffen stehen ihnen weder Internet noch Telefon zur Verfügung. Der Kontakt mit Zuhause kann somit ausschließlich von Orten wie dem Seemannsclub Duckdalben aus stattfinden. Und mehr noch: Während sich das Schiff über den Ozean bewegt, bewegen sich die Seeleute nur auf dem Schiff. Die ›Landratten‹ – die, die im Club arbeiten, und die, die den Club am 12. Mai 2013 zur Zusammenkunft mit den Seeleuten besuchen – sind im Vergleich mit den Seeleuten weniger mobil: Viele sind in Hamburg ansässig und zum Arbeiten bewegen sie sich höchstens in einen anderen Stadtteil. Doch in ihrem Alltag genießen sie einen weitaus freieren Zugang zur Mobilität – nicht nur ist ständiger Internetzugang eine Selbstverständlichkeit, die meisten von ihnen können (abhängig von ihrem staatsbürgerlichen Status) weitgehend ungehindert innerhalb Deutschlands und von dort aus in die meisten Länder der Welt reisen. Gleichzeitig bleibt das Meer für sie ein oft unerreichter und unerreichbar scheinender Projektionsraum (touristischer) Fluchtträume (und dass es diese zahlreich gibt, belegt nicht zuletzt die boomende Kreuzfahrtindustrie). Im Duckdalben an sich und v.a. bei Hello My Friend versammeln sich also verschiedene gegensätzliche und doch miteinander verwobene Mobilitätskonzepte und -praktiken, die, wie Holert und Terkessidis allgemein über Mobilität schreiben, »produziert und gemanagt [sind] durch ein komplexes Zusammenspiel von Erleichterungen und Erschwernissen, Gewährleistungen und Restriktionen« (Holert/Terkessidis 2005: 98).

D URCHREISEN Theorien der Mobilität halten sich nicht oft mit Orten auf. Die positive Wertung des Nomadischen geht meist mit einer Fokussierung auf die Bewegung selbst einher. Berühmterweise beklagt Marc Augé in seiner Beschreibung der Welt des Reisens den Verlust von Ort: sein Begriff des ›Nichtortes‹ behauptet einen Gegensatz zwischen Ort und Mobilität. Den vielen Orten, die gerade durch und wegen Mobilität bestehen (Orte des Transports und Transits oder des temporären Aufenthaltes – Autobahnen, Flughäfen, Bahnhöfe, Häfen, Hotels, Flüchtlingslager, Supermärkte) spricht er ihr ›Ortsein‹ ab: Ihnen fehlen die Geschichte, die individuelle Identität und – für ihn besonders wichtig – die Möglichkeit sozialer Beziehungen. (Vgl. Augé 2011) Im Bereich von performance und live art ist in den letzten Jahren eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Thema ›Mobilität‹ und eine Hinwendung zu mobileren Formen und Formaten festzustellen. Interessanterweise findet diese

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sowohl praktische wie theoretische Auseinandersetzung v.a. im Bereich der sitespecific performance statt – also im Kontext einer Form der Performance, die sich explizit zu spezifischen Orten verhält und traditionell eher als immobil verstanden wird, was bspw. in Richard Serras berühmtem Diktum »to remove the work is to destroy the work« (zitiert nach Weyergraf-Serra/Buskirk 1991: 38)2 zum Ausdruck kommt. Aktuelle Theorien von site-specificity entwerfen ein mobiles Konzept von sites bzw. Orten (siehe bspw. Kaye 2000; Kwon 2004; Meyer 2000; Pearson 2010; Wilkie 2008 und 2012)3 – oftmals in Anlehnung an aktuelle Diskurse der Geografie oder Soziologie. So zitiert z.B. Mike Pearson in seinem Buch Site-Specific Performance John Urrys und Mimi Shellers Definition von Orten: »Places are thus not so much fixed as implicated within complex networks by which hosts, guests, buildings, objects, and machines are contingently brought together to produce certain performances in certain places at certain times.« (Urry/Sheller 2006: 214) Im Gegensatz zu Augés These, Mobilität schaffe Nichtorte, entstehen nach den Vertreter_innen des new mobilities paradigm Orte erst durchs Unterwegssein – als Knoten- und Treffpunkte auf den verschiedenen Wegen. Orte werden hier per se als Versammlungen gesehen (›hosts, guests, buildings, objects, and machines are contingently brought together‹), die – in dieser Beschreibung eher zufällig – erst durch Reisen entstehen. Und dort liegt dann auch ein weiterer Gegensatz zu Augés ›Ethnologie der Einsamkeit‹ – es ist das Reisen selbst, durch das neue Formen von Zusammenkünften und sozialen Beziehungen möglich werden: »Mobilities thus entail distinct social spaces that orchestrate new forms of social life around such nodes, for example, stations, hotels, motorways, resorts, airports, leisure complexes, cosmopolitan cities, beaches, galleries, and roadside parks.« (Ebd.: 213) Fiona Wilkie sieht in den mobilen Formaten der site-specific performance sowohl eine Mög-

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Richard Serras Skulptur Tilted Arc wurde 1981 auf dem Federal Plaza in New York als ein Auftragswerk für die General Service Administration (GSA) errichtet und 1989 – interessanterweise erneut im Auftrag der GSA – abgebaut. In der jahrelangen Kontroverse um diese Vorgehensweise formulierte Serra das zitierte und für die Geschichte der site-specific art zentrale Diktum. (Für eine ausführliche Darstellung dieser Auseinandersetzung siehe Weyergraf-Serra/Buskirk 1991.)

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Es sei jedoch erwähnt, dass sich Mobilität von Beginn an als ein Element der sitespecific art sehen lässt – man denke bspw. an die Anreisen zu ungewöhnlichen Orten, die durch site-specific performance oft notwendig werden, oder an die Rolle der Dokumentation in diesem Bereich. Die Hinwendung zu mobileren Formen lässt sich dann auch als eine Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld von Mobilität und Immobilität, das der site-specific art inhärent ist, sehen. (Vgl. Pilkington 2011)

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lichkeit, sich der ›world on the move‹ anzunähern, als auch eine Beschäftigung mit der Frage, welche Bedeutung ›Ort‹ in diesem Kontext erhält. (Vgl. Wilkie 2012) Es ließe sich jedoch weiterfragen: Wie kann vor dem Hintergrund der Definition von ›Ort‹ als zufälliger Versammlung site-specific performance Zusammenkünfte durch Reisen möglich machen?

III. »The place we are going to …« (Pilkington 2013)

Der Duckdalben ist nicht so leicht zu erreichen – auch von der Hamburger Innenstadt aus nur per Auto. Zwischen Containerterminals, Eisenbahnschienen, der Autobahn und ehemaligen Zollämtern wirkt der Ort abgeschnitten von der Stadt, die sich vom Duckdalben aus selbst noch nicht einmal erahnen lässt. Die Seeleute werden in Kleinbussen von den Containerschiffen oder Terminals abgeholt – ein Service, ohne den der Duckdalben nicht existieren könnte. Der Seemannsclub ist für viele der Seeleute der einzige Ort, den sie in Hamburg betreten und kennenlernen. Die Stadt, für die der Hafen historisch und auch aktuell so wichtig ist, bleibt für die vielen hundert Seeleute, die noch immer jeden Tag nach Hamburg kommen, meist nur Kulisse – so wie umgekehrt der Hafen vom nördlichen Elbufer aus Kulisse für Stadtbewohner_innen und Tourist_innen ist. In seiner Selbstdarstellung beschreibt der Duckdalben sich als ›Ankerplatz‹4 und somit als ein Ort in der Welt des Unterwegsseins. Der Duckdalben ist als Ort durch das Reisen definiert – er ist in Urrys und Shellers Sinn ein Knotenpunkt, an dem sich die Wege zahlreicher Reisender treffen. Zu diesen Reisenden gehören normalerweise jedoch nicht die ›Landratten‹ – dass ihre Wege sich am 12. Mai 2013 im Duckdalben mit denen der Seeleute kreuzen, ist eine Ausnahme. Hello My Friend versucht genau diese Ausnahme herzustellen – in einer Stadt, die durch den Hafen geprägt ist, in der sich jedoch Hafen- und Stadtleben nur in Events wie dem Hafengeburtstag oder den sogenannten Cruise Days im Modus des oberflächlichen Spektakels begegnen (und auch diese Begegnung bleibt meist nur einseitig). Hello My Friend führt zwei Gruppen zusammen, die an diesem Abend mit vollkommen unterschiedlichen Intentionen in den Duckdalben kommen – die ›Landratten‹ kommen speziell zu der Performance Hello My Friend, die Seeleute dagegen kommen wie sonst auch in den Duckdalben. Es sind genau diese Wege, die sich an diesem Abend im Duckdalben kreuzen; es sind genau diese Wege,

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http://www.duckdalben.de (letzter Zugriff am 04.02.2014).

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die das Versammeln im Duckdalben möglich machen. Während die Seeleute auf ihren (ihnen vorgegebenen) üblichen Routen bleiben, steigen die ›Landratten‹ in einen eigens bestellten Reisebus, um diese Begegnung möglich zu machen. Die Performance trägt der Kontingenz der Begegnung Rechnung: eine lose Spielstruktur aus Instruktionen eröffnet verschiedene Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme, zu einem Kennenlernen und zu einem Austausch zwischen ›Landratten‹ und Seeleuten.

A NHALTEN In seinem Buch A Short History of Western Performance Space beschreibt David Wiles das antike Theater als Zwischenstopp einer Prozession und spricht vom Theater selbst als einem ›Durchgang‹ (»thoroughfare«) (Wiles 2003: 67). Das Anhalten im Theater – oder mit anderen Worten, die Versammlung im Theater – ist hierbei nicht einfach Gegenpol oder Endpunkt, sondern Teil der Bewegung, der Reise. In Debatten um Mobilität in der Soziologie, aber auch in der Migrationsforschung werden Momente des Innehaltens, der Immobilität nicht als Opposition zur mobilen Welt verstanden. Stattdessen wird eine Interrelation zwischen Anoder Innehalten und Bewegung diagnostiziert. (Vgl. Sheller/Urry 2006: 210) Holert und Terkessidis drehen die Blickrichtung sogar um und definieren Mobilität selbst – unter den Bedingungen der Migration – als »erstarrte Bewegung« (Holert/Terkessidis 2005: 102). Mobilität erscheint hier nicht mehr als Fortbewegung, sondern als ein »Zustand«: »Mobilität ist ein Zustand, in dem Individuen an einem Ort anwesend sind und gleichzeitig auch abwesend beziehungsweise sich zugleich auch an einem anderen Ort aufhalten. Personen verbringen physisch längere Zeiträume an einem bestimmten Ort, doch gleichzeitig scheint ihr ›eigentliches Leben‹ oder zumindest ein relevanter Teil ihres Lebens woanders stattzufinden. Mobilität wäre also weder Beweglichkeit noch Bewegung, ihre Besonderheit läge vielmehr darin, ein Zustand der anwesenden Abwesenheit zu sein.« (Ebd.)

Wichtig ist hierbei, dass dieser ›Zustand‹ kein passiver ist (wie Holerts und Terkessidis’ Wortwahl vielleicht vermuten lässt), sondern dass er stets neu produziert und praktiziert wird – nur dass er, obwohl durch diese bedingt, nicht ausschließlich aus Bewegung besteht. Vor diesem Hintergrund setzt Mobilität die scheinbaren Gegensätze des An- bzw. Abwesendseins nicht nur in Beziehung zueinander, sondern löst sie ineinander auf. Das Innehalten, das Sich-Versammeln, kann somit als integraler Bestandteil der Bewegung gesehen werden.

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Wenn sich also die Versammlung – wie zuvor für das Theater beschrieben – durch die physische Kopräsenz aller Beteiligten auszeichnet, muss man umgekehrt auch fragen, inwieweit sie – als Anhalten einer Bewegung – sich immer auch im Zustand der ›anwesenden Abwesenheit‹ vollzieht bzw. wie in ihr über die Relation von Bewegung und Anhalten auch die Relation von An- und Abwesenheit neu verhandelt werden kann.

IV. »The place we are going to has stronger connections to, let’s say, the Philippines, than to the city of Hamburg.« (Pilkington 2013)

Wenn die Seeleute in Hamburg an Land gehen, ist der Duckdalben oft der einzige Ort, den sie besuchen. Sie besuchen ihn jedoch nicht notwendigerweise, um dort zu sein – sondern um Kontakt mit anderen Orten aufzunehmen, in der Regel mit ihren Heimatorten. In ihrer Anwesenheit im Duckdalben sind sie gleichzeitig abwesend – ihre Aufmerksamkeit gilt in erster Linie anderen Orten und Personen, die sie nun per Internet und Telefon oft nach langer Zeit wieder erreichen. Die Einkäufe im Duckdalben dienen auf der einen Seite den alltäglichen und aktuellen Bedürfnissen der Seeleute, oft sind sie aber auch schon als Mitbringsel und Souvenirs für zu Hause bestimmt – als Reisende bereiten die Seeleute sich damit auf ihre zukünftige Anwesenheit an einem Ort vor, von dem sie gerade abwesend sind. Ihre Zeit, ihre Energie, ihr Interesse, ihr Geld werden oftmals nicht in den Ort, an dem sie sich gerade befinden, investiert, sondern in ein Anderswo. Von Holerts und Terkessidis’ Definition von Mobilität als Zustand der ›anwesenden Abwesenheit‹ ausgehend ließe sich feststellen, dass die Seeleute auf ihren Schiffen – also gerade dann, wenn sie unterwegs sind – nicht mobil sind, da sie nicht die Möglichkeit der ›anwesenden Abwesenheit‹ haben: Auf den Containerschiffen können sie nur dort sein. Die Zusammenkunft der Seeleute, die täglich im Hamburger Duckdalben stattfindet, kann auch als eine Versammlung der anwesenden Abwesenden beschrieben werden: Der Ort ist eben auch deshalb wichtig für die Seeleute, weil sie dort nicht dort sein müssen. Die ›Landratten‹ hingegen, die sich sonst nicht in den Duckdalben verirren, die sonst abwesend sind, verschieben mit ihrer außerordentlichen Anwesenheit, in der Interaktion mit den Seeleuten die Aufmerksamkeit zunächst einmal auf den Ort selbst, und damit allgemein in Richtung Anwesenheit. Für die Seeleute sind die ›Landratten‹ jedoch in ihrer Anwesenheit im Duckdalben gleichzeitig Repräsentantinnen und Repräsentanten der Stadt, in deren Hafen ihre Schiffe

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liegen, die sie aber vielleicht nie betreten werden – was dann wiederum umgekehrt als ›abwesende Anwesenheit‹ zu beschreiben wäre.

A BREISEN Während das Reisen oft mit Abwesenheit, die Versammlung, die Zusammenkunft dagegen mit Anwesenheit verbunden wird, löst Holerts und Terkessidis’ Definition von Mobilität als ›anwesender Abwesenheit‹ solche Gegensätze auf. Eine entscheidende Rolle hierbei und in Debatten über Mobilität allgemein spielt die mobile Kommunikation. Anthony Eliott und John Urry beschreiben, wie Mobiltelefone Intimität mit Personen herstellen, die nicht anwesend sind, während diejenigen, die kopräsent sind, in den Hintergrund treten. (Vgl. Elliott/ Urry 2010: 34) Mehr noch: Mit mobilen Kommunikationstechnologien muss der Kontakt zu Abwesenden nicht mit einer Unterbrechung der Bewegung verbunden sein, sondern kann als Teil dieser Bewegung stattfinden, wie Kai van Eikels beschreibt: »Mit den mobilen Kommunikationstechnologien, den Smartphones, Laptops, iPads, findet ja die Online-Kommunikation nicht mehr vorwiegend in einer Unterbrechung der körperlichen Bewegung durch den städtischen Raum und des Nebeneinander- oder Zusammenlebens dort statt, sondern beides verschaltet sich – zuerst grob, dann zunehmend diskreter und gelassener. Während des Gesprächs im Café, auf der Party, beim Gehen im Pulk oder in der Bahn lesen und schreiben die Leute SMS und Emails, posten Facebook-Beiträge mit frisch gemachten Fotos oder Filmen usw., kommunizieren also mit körperlich Präsenten und medial Anwesenden zugleich und gewöhnen sich mit ihrem Verhalten und ihren Haltungen in diese Wirklichkeit des Kommunizierens.« (van Eikels 2012)

Im Kontext der Migrationsforschung verwendet Dana Diminescu den Begriff »connected migrant« (im Gegensatz zum »uprooted migrant«) (Diminescu 2008: 567): In ihrer Analyse von Migration hebt sie Elemente der Verbindung und Zirkulation gegenüber solchen der Distanz hervor und spricht hier von »connected ›presences‹« (ebd.: 572). Während das Nachdenken über den Zusammenhang von Reisen und Versammlung mit der physischen (An-)Reise zur Versammlung, also mit dem Sich-Versammeln, beginnt, geht es in einer weiteren Beschäftigung mit Mobilität auch darum, wie Kommunikationstechnologien während des Unterwegsseins neue Formen von Versammlungen möglich machen, die nicht mehr durch eine physische Zusammenkunft definiert sind. Die Frage der Kopräsenz wurde schon zu Anfang gestellt: Die verschiedenen Wege zur Versammlung öffnen diese gleichzeitig räumlich und zeitlich. Dasselbe geschieht mithilfe mo-

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biler Kommunikationstechnologien, wenn auch auf andere Weise, da hier neue Formen des Zusammenkommens während dieser Wege möglich werden, ohne dass es überhaupt zu einem physischen Zusammenkommen kommen muss. Mit dem Abreisen, mit dem Verlassen des zeitlichen und räumlichen Rahmens der Versammlung muss die Verbindung nicht abreißen.

V. »Yes, I would like to ask you to cheer for us, for us here tonight, for all of us and for every single one of us, but also for those who could not make it, for those who are still somewhere out there, wherever this out there might be.« (Pilkington 2013)

Die Seeleute vereinen die Figuren des ›uprooted‹ und des ›connected migrant‹: Während der Seereisen von Informations- und Kommunikationstechnologien abgeschnitten, sind für sie unterwegs keine Verbindungen zu Abwesenden möglich – nur zu den an Bord Anwesenden. Die alltägliche Erfahrung ist eine der Distanz. Können die Seeleute an Land – wie z.B. im Duckdalben – diese Technologien nutzen, werden sie zu ›connected migrants‹. Viele Seeleute haben Mobiltelefone bei sich mit verschiedenen SIM-Karten für die verschiedenen Länder, die sie bereisen. Doch diese Form der Verbindung mit den Nichtanwesenden bleibt eine Ausnahme. Die Forderung vieler Seeleute, auch auf den Schiffen die Möglichkeit zur Internetnutzung und damit zu anderen Formen der Verbindung zu erhalten, wird ebenfalls Teil von Hello My Friend: Eine der Instruktionen fordert die ›Landratten‹ auf, sich ein temporäres Tattoo (Motiv: Anker mit Herz) auf den Arm applizieren zu lassen. Komplett ist das Tattoo jedoch erst, wenn eine_r der Seeleute eine Forderung zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse an Bord in die auf dem Tattoo frei gelassene weiße Fläche hineingeschrieben hat. ›Internet‹ lautet die häufigste Forderung. Während die Performance Hello My Friend den Akzent meist auf die gemeinsame Anwesenheit aller Beteiligten legt – genau in der unwahrscheinlichen Begegnung von ›Landratten‹ und Seeleuten besteht ja die Besonderheit des Abends – werden in manchen Instruktionen doch mögliche Fortsetzungen und zukünftige Kontakte verhandelt. So in der Instruktion, die vorsieht, dass sich eine zur See fahrende Person und eine ›Landratte‹ verabreden, sich gegenseitig einen Monat nach der Versammlung eine SMS zu schicken, oder, indem Seeleute und ›Landratten‹ eingeladen werden, einen Pakt miteinander einzugehen, jeweils etwas füreinander auf See und in der Stadt Hamburg zu tun, also an dem Ort, den der oder die andere nicht erreichen kann.

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Z IRKULIEREN Laut Michael Warner konstituieren sich Öffentlichkeiten dadurch, dass sie als solche adressiert werden. Eine Öffentlichkeit, so Warner, »exists by virtue of being addressed« (Warner 2002: 67, Herv. i.O.). Sibylle Peters greift Warners Gedanken auf und betont die Rolle des Imaginären in dieser Adressierung: »Da sich moderne Öffentlichkeiten im Sinne von ›Publics‹ dadurch definieren, dass sie immer auch aus einander unbekannten Mitgliedern, also aus Fremden, bestehen, spielt das Imaginäre im Geschehen der Ansprache eine entscheidende Rolle. Eine Ansprache im Sinne der öffentlichen Adresse richtet sich demnach notwendig an eine partiell imaginäre Gruppe, deren Existenz sie nichtsdestoweniger voraussetzt. Gelingt die in der Adresse implizierte Anrufung, scheint sich diese Voraussetzung zu bestätigen, obwohl sich die entsprechende Öffentlichkeit doch erst im Performativ ihrer Adressierung herstellt. Die Öffentlichkeit, die in einer Ansprache vorausgesetzt ist, entsteht erst, insofern AdressatInnen sich als Mitglieder dieser Öffentlichkeit angesprochen fühlen, so dass eine Zirkulation des Imaginären in Gang kommt.« (Peters 2011: 189f.)

Performance – und Peters formuliert diesen Gedanken in Bezug auf lecture performances – kann das Imaginäre in der Adressierung einer Öffentlichkeit experimentell ausspielen und so »zur Probe auf das gesellschaftliche Potential einer unwahrscheinlichen Versammlung« (ebd.: 190) werden. Während Peters hier eine reale Versammlung kopräsenter Akteurinnen und Akteure im Sinn hat, entwickelt der Literaturwissenschaftler Warner sein Modell von Öffentlichkeiten auch für Adressierungen, die sich nicht an eine Gruppe real versammelter Menschen richten. Mehr noch, Warner betont, dass die Adressierung, durch die eine Öffentlichkeit entsteht, nie auf eine konkrete Situation beschränkt bleiben darf, sondern dass sie zirkulieren muss: »All discourse or performance addressed to a public must characterize the world in which it attempts to circulate and it must attempt to realize that world through address.« (Warner 2002: 114) Im Gegensatz zu dem gängigen Modell der Öffentlichkeit als auf Ausschluss basierender »social totality« (ebd.: 65), das sich für Warner im Bild einer Versammlung von »already co-present interlocutors« (ebd.: 115) präsentiert, die gemeinsam eine »public opinion« (ebd.: 117) aushandeln, ist für Warner, wie auch für Peters, die Bedeutung des Fremden für die Konstitution von Öffentlichkeiten elementar. Eine Öffentlichkeit ist für Warner eine »relation among strangers« (ebd.: 74, Herv. i.O.): »A public sets its boundaries and its organization by its own discourse rather than by external frameworks only if it openly addresses people who are

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identified primarily through their participation in the discourse and who therefore cannot be known in advance.« (Ebd.)

VI. »At the place we are going to – when you meet a stranger you greet them not only by saying ›hello‹, but by saying ›hello, my friend‹.« (Ebd.)

Man kann nie vorher wissen, wen man im Duckdalben treffen wird. Für die Seeleute entscheidet sich oft erst kurzfristig, ob sie das Schiff verlassen können oder ob Aufgaben an Bord Vorrang bekommen. Die Containerschiffe im Hafen zu zählen, kann einen Anhaltspunkt geben, aber genau kann niemand vorher wissen, ob an einem bestimmten Abend 20 oder 200 Seeleute in den Seemannsclub kommen werden. Wenn Warner sagt, dass die Menschen, die an einer Öffentlichkeit teilnehmen, nicht im Voraus bekannt sein können, so trifft diese Beschreibung exakt die Beschaffenheit der einen Gruppierung, die Hello My Friend adressiert, nämlich die der Seeleute. Die ›Landratten‹ hingegen haben sich bereits zuvor angemeldet, um sich einen Platz im Bus zu sichern (wobei es auch hier Überraschungen gibt). Die Struktur des Abends, die durch ein Aufeinandertreffen dieser zwei Gruppierungen definiert ist, gewährleistet, dass sich hier notwendigerweise Fremde begegnen. Die Öffentlichkeit, die in diesem Zusammentreffen entsteht, bewahrt diese Heterogenität, die Unterscheidung zwischen Seeleuten und ›Landratten‹ wird aufrechterhalten, auch wenn man miteinander Karaoke singt. Und es ist stets klar: Man wird wieder auseinandergehen, wahrscheinlich für immer. Inwieweit kann diese temporäre und diesem einen Performanceereignis spezifische Adressierung überhaupt zirkulieren, inwieweit kann sich die imaginierte Öffentlichkeit jenseits dieses einen Ereignisses konstituieren? Diese Frage übersieht, dass es sich hier bereits um das Zirkulieren einer Adressierung handelt: Zum einen wurden als Teil der Recherche für Hello My Friend Seeleute im Duckdalben gefragt, welche Wünsche sie für eine Zusammenkunft mit ›Landratten‹ hätten, und diese Wünsche der – meist bei dem eigentlichen Event abwesenden – Seeleute trugen wesentlich zur Form der tatsächlichen Zusammenkunft bei. Zum anderen griff die Performance die im Seemannsclub gängige Begrüßungsformel ›Hello, my friend‹ nicht nur im Titel auf, sondern auch als Modell der sich an dem Abend konstituierenden Öffentlichkeit: Die Adressierung selbst impliziert bereits, dass sich an diesem Ort eine potenziell heterogene Öffentlichkeit einander meist fremder Menschen unter der Prämisse der Gleichheit versammelt: »At the place we are going to they tell the following story: As usual, one employee greeted a seafarer who had just arrived by

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saying: ›Hello, my friend.‹ The seafarer replied: ›I am not your friend. I am the captain.‹ And the employee replied: ›Hello, my captain friend.‹« (Pilkington 2013) *** Mobilität macht Versammlungen möglich. Auf der anderen Seite verhindert sie Zusammenkünfte. Die Kontrollmechanismen, die die mobile Welt produzieren und bestimmen, sorgen dafür, dass bestimmte Wege sich eben nicht kreuzen. In einer Verschränkung von Reisen und Versammlung ergibt sich die Möglichkeit einer Verschiebung und Unterbrechung dieser festgeschriebenen Pfade. Unwahrscheinliche Versammlungen können sich temporär konstituieren. Und wenn eine Versammlung endet, machen sich alle erst mal wieder auf den Weg.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

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Gemeinsam tanzen K ERSTIN E VERT

»Gemeinschaften ohne Tänze sind undenkbar. Über den symbolischen Gehalt der Interaktionsformen und vor allem der performativen Prozesse der Interaktion und Bedeutungsgenerierung tragen Tänze zur Herausbildung von Gemeinschaft bei. […] Indem verschiedene Menschen gemeinsam tanzen, stellen sie die ansonsten zwischen ihnen bestehenden Unterschiede in den Hintergrund. Ihre Tanzbewegungen gelingen nur, wenn sie sich aufeinander beziehen und kooperieren. […] Unter der momentanen Zurückstellung von Differenzen erzeugen sie in rhythmischen Bewegungen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.« (Wulf 2010: 38f.)

Das obige Zitat stammt aus einem Text mit dem Titel Anthropologische Dimensionen des Tanzes, der Tanz, Tänze und Tanzen als grundlegende menschliche Darstellungs- und Ausdrucksformen bestimmt. Im Hinblick auf die gemeinschaftsbildende Funktion des Tanzes wird dabei sowohl seine soziale, Gesellschaft performativ erzeugende Wirkung betont1 als auch das integrative Potenzial, das sich demnach im Moment des Aufeinanderachtens im Tanz entfaltet. Partys werden häufig als gelungen gewertet, wenn ausgelassen getanzt wird – allein und auf sich selbst bezogen, versunken im Rhythmus oder in Paar- bzw. Gruppenkonstellationen. Mit anderen geteilte Erinnerungen an solche Tanzmomente beruhen vermutlich auf Effekten, wie sie im Eingangszitat beschrieben sind: Im gemeinsamen Tanzen entsteht ein (temporäres) Zusammengehörigkeitsgefühl. Es macht Spaß und kann ekstatische Emotionen hervorrufen. Tanzen, besonders Paartanzen, macht zudem – verschiedenen medizinischen Studien zufolge – gesund und fördert die körperliche wie die seelische Konstitution. (Vgl. exemplarisch Jötten 2013)

1

Einen Überblick über die gesellschaftliche Performanz von Tanz bietet der Text Tanz als Aufführung des Sozialen (Klein 2010).

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Diese gesellschaftlich produktiven Wirkungen des Tanzens sind u.a. auch Grundlage der hohen Erwartungen an Tanz im Kontext schulischer und außerschulischer kultureller Bildung: »Von Theater-, Musik oder Tanz-Projekten wird erwartet, dass sie einen unverwechselbaren Beitrag zur Verbesserung der sozialen, personellen und künstlerischen Fähigkeiten junger Menschen leisten können. […] Was den Tanz betrifft, scheint er aus seinem Schattendasein nicht nur hervorgetreten, sondern auch bereits über sich hinausgewachsen zu sein. Die Presse sieht in ihm ein neues Allheilmittel für soziale Probleme und schulische Defizite.« (Klinge 2010: 79f.)

Damit erhält Tanzen – hier das gemeinsame Tanzen von Kindern und Jugendlichen im Probenprozess mit (zumeist) öffentlicher Abschlusspräsentation – einen stark aufgeladenen gesellschaftlichen Bildungsauftrag, der zurückgeht auf den Ausdruckstanz in Deutschland in den 1910er- bis 1930er-Jahren. (Vgl. ebd.: 80) Der viel zitierte Satz »you can change your life in a dance class« des britischen Community-dance-Lehrers Royston Maldoom fasst diesen Anspruch zusammen.2 Die Dokumentation seines Tanzprojekts mit den Berliner Philharmonikern, Rhythm Is It! (2004), begeisterte zu Beginn des 21. Jahrhunderts zahlreiche Kultur- und Bildungspolitiker_innen und führte – insbesondere wegen der vermuteten positiven Effekte besonders bei Schülerinnen und Schülern aus sogenannten bildungsfernen Familien – zu einer bislang unbekannten Zustimmung für Tanz.3 Mittlerweile hat sich die zumeist unkritische Euphorie etwas gelegt. Als positiver Effekt ist jedoch geblieben, dass sich Tanz im Kontext schulischer und außerschulischer kultureller Bildung eine zentrale Rolle erarbeitet hat. Hier wird mehr und mehr Tanz als Kunstform in den Mittelpunkt gestellt und nicht mehr nur als Gesellschaft heilendes Instrument. Tanz gilt als flüchtigste Kunstform, die sprachlich und schriftlich schwierig zu fassen ist.4 Zur Betonung seiner Bedeutung sind an Tanz deshalb immer wieder

2

Der Trailer zum Film, in dem auch der zitierte Satz vorkommt, findet sich online auf der Seite http://www.digitalconcerthall.com/de/konzert/101/maldoom (letzter Zugriff am 20.12.2103).

3

Auch wenn sich das kulturpolitische Interesse am Tanz in den letzten Jahren deutlich positiv entwickelt, ist Tanz im Vergleich zu anderen Kunstformen und Sparten im Kontext öffentlicher Kulturförderung immer noch deutlich unterrepräsentiert. (Vgl. z.B. Zentrum für Kulturforschung/Tanzplan Deutschland 2010)

4

Zur Geschichte der Tanznotation siehe Claudia Jeschkes Buch Tanzschriften (Jeschke 1983).

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universal formulierte Wirkungsbehauptungen angelegt worden.5 Aber was ist eigentlich ›der Tanz‹ bzw. was sind ›die Tänze‹, auf die sich auch Christoph Wulf in seiner eingangs zitierten anthropologischen Bestimmung bezieht? Tanz existiert in verschiedensten Formen und hat sich in seiner Historie und seiner Praxis immer wieder neu ästhetisch und diskursiv ausgeformt. Unterschiedliche Tanzformen und -ästhetiken reflektieren in ihrem jeweiligen Verständnis und ihrer jeweiligen Nutzung des Körpers jeweils zeitgenössische Körperbilder. (Vgl. Evert 2003: 10f.) Das Feld des Tanzes lässt sich jedoch grundsätzlich in zwei Bereiche unterscheiden: Tanz als professionelle Bühnenkunst bzw. künstlerischer Tanz – und Tanzen als körperliche, soziale und gesellige, mit anderen gemeinsam ausgeführten Praxis. Auch das gemeinsame Tanzen hat jeweils unterschiedliche zeitgenössische Ausprägungen erfahren. Die verschiedenen Formen des geselligen Tanzens sind jedoch nicht eindeutig definiert, da klare Abgrenzungen aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkungen schwierig sind. Gemeinsames Tanzen wird deshalb z.B. unterschieden in »geselligen Tanz« (Dahms 2001: 192ff.), »höfischen Tanz« (Klein 2010: 127), »Gesellschaftstanz«, der sich zumeist als Paartanz äußert (Dahms 2001: 50ff.), »Volkstanz« (ebd.: 188ff.) und »populären Tanz« (Klein 2010: 133).6 Spätestens mit der Gründung der Académie royale de danse in Paris im Jahr 1661 trennen sich die Bereiche von Tanzen als sozialer und geselliger Praxis und Tanz als virtuos-professioneller Bühnenkunst. Zwar gibt es im Laufe der Tanzgeschichte immer wieder ästhetische Wechselwirkungen, aber es existieren kaum hybride Formen, die künstlerischen Tanz und Tanzen als soziale Praxis miteinander verbinden. Diese Trennung in künstlerischen Tanz, der von professionellen Tänzer_innen vor Publikum aufgeführt wird, und Tanz, der von jeder und jedem selbst praktiziert werden kann, führt bereits im Kontext des Ausdruckstanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu dem Bedürfnis der Annäherung und damit zu einer von Künstler_innen initiierten Laiinnen- und Laientanzbewegung, die u.a. zum Ziel hatte, das Publikum an den damals entstehenden modernen Tanz heranzuführen. Rudolf Laban als einer der bekanntesten Vertreter des Ausdruckstanzes entwickelt den sogenannten Bewegungschor:

5

Eine Analyse der an den Tanz angelegten, noch immer wirkenden Mythen aus der

6

Nicht berücksichtigt werden hier gesellige Tanzformen, die in Bühnenshows als

Zeit von 1700 bis 1900 bietet die Publikation Beredte Körper (Thurner 2009). Schautänze von professionellen Tänzerinnen und Tänzern aufgeführt werden, sowie sportliche Wettkampfformen von Tanz vor Publikum.

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»Der Bewegungschor konnte zum idealen Repräsentanten einer neuen Laientanzkunst werden, weil er sich stärker als der künstlerische Solotanz oder die Gesellschaftstänze an der Schnittstelle einer Reihe von Diskursen über Rhythmen, Gemeinschaft und Körper befand. […] Die Bewegungschöre sollten einen verschollen geglaubten Laientanz wiederbeleben, der sowohl als zentrales Element einer neuen Festkultur begriffen wurde, als auch ein kundiges Publikum für den modernen Tanz schaffen sollte. […] Dabei waren das gemeinsame Erfahren und Erleben von zentraler Bedeutung. Das Erleben sollte durch den gleichen Rhythmus, das ›Mitschwingen‹ ermöglicht werden.« (Hardt 2004: 210)

Am Beispiel der Bewegungschöre7 wird jedoch die Ambivalenz des gemeinsamen Tanzens deutlich: Das Vergnügen an der gemeinsamen Bewegung und die positiven gesundheitlichen wie sozialen und kommunikativen Effekte sind zugleich das Einfallstor für eine Vereinnahmung durch politische Ideologien von links und rechts, die im gemeinsamen Tanzen ein praktisches, für ›das Volk‹ gesundes und zugleich symbolisches Übungsfeld für Vorstellungen von Kollektiv bzw. Volksgemeinschaft sahen. Auf dem schmalen Grat zwischen Volksvergnügen und Volksverführung ist das gemeinsame Tanzen – ob als Bewegungschor, Massenchoreografie oder Volkstanz – seither nicht mehr unbelastet von der Gefahr der politische Vereinnahmung und der Instrumentalisierung zu betrachten. (Vgl. Hardt 2004; Cvejic/Vujanovic 2012) Insbesondere der Spaß am gemeinsamen Tanzen markiert einen Angriffspunkt ideologischer Manipulation: Im gemeinsamen Tanzvergnügen sollen Menschen körperlich ›auf Linie‹ gebracht werden. Im zeitgenössischen Tanz entwickelt sich zu Beginn der 1990er-Jahre eine Tendenz zum selbstreflexiven Umgang mit Choreografie, Tanz und Tanzgeschichte. Neben inhaltlichen und ästhetischen Gründen für die Reflexion künstlerischer und diskursiver Grundlagen der Kunstform haben auch die Arbeitsbedingungen Anteil an dieser Entwicklung: Bühnenformate werden kleiner, weil Probenräume klein sind und nur wenige Beteiligte bezahlt werden können. Aufführungsformate orientieren sich am Prozess, ihr Publikum besteht dabei zumeist aus interessierten Insider_innen. Möglicherweise hat die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vieler Tanzschaffender in den vergangenen Jahren zu einem veränderten und neuen Interesse für ›Publikum‹ beigetragen. Insbesondere Choreo-

7

Im Rahmen von Tanzfonds Erbe hat das Hamburger Kollektiv LIGNA, das für seine Radioballette im öffentlichen Raum bekannt ist, mit Tanz aller ein Projekt zum Thema ›Bewegungschor‹ entwickelt, das sich mit den historischen Kontexten und der Praxis der Chöre auseinandersetzt. Eine Beschreibung findet sich hier: http:// www.tanzfonds.de/de/projekte/tanz-aller (letzter Zugriff am 23.12.2013).

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grafinnen und Choreografen der Freien Szene8 richten das eigene künstlerische Interesse vermehrt auf das Publikum als Anwesende und Partner_innen in Aufführung und auch Probenprozess, um andere Wege der Kommunikation mit den Zuschauerinnen und Zuschauern zu suchen, diese stärker zu involvieren bzw. zu ›bewegen‹9. Dadurch gerät auch die räumliche Gestaltung der Aufführungssituation wieder in den Blick, die mehr Nähe zwischen Zuschauenden und Tanzenden bieten soll, als in einer konventionellen Aufführungssituation möglich ist. Diese neu entstehenden Formen choreografischer Arbeit sind spezifische Ansätze künstlerischer Vermittlung, die auf einen persönlichen Kontakt zwischen Tanzschaffenden und Publikum zielen und versuchen, gemeinsame Erlebnisse und damit auch ein anderes Verständnis für die künstlerische Arbeit zu schaffen.10 In diesem Zusammenhang geraten auch Formen des gemeinsamen Tanzens als Bestandteil von zeitgenössischen Choreografien wieder in den Blick. Anhand von drei Beispielen, die gemeinsames Tanzen11 zentral setzen, werden Ansätze der Verbindung von Tanzen und Performance/Choreografie aufgezeigt, die mit unterschiedlichen Formen des gemeinsamen Tanzens arbeiten und damit neue Möglichkeiten der Partizipation zu entwickeln suchen.

8

Als Beispiele dafür seien z.B. Künstler_innen wie Jenny Beyer, deufert&plischke, Sebastian Matthias, Martin Nachbar, Isabel Schad und die Tanzinitiative Hamburg genannt.

9

Zum ›Bewegen‹ als künstlerischem Forschungsverfahren siehe den gleichnamigen Aufsatz (Evert 2014).

10 Dieses Interesse am Publikum im Theaterraum ist auch eine kulturpolitische Notwendigkeit, der sich Kulturschaffende gegenübersehen: Um Menschen an die Ticketkasse zu führen, reichen klassische Wege der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr aus. 11 In diesem Text wird bewusst vom Begriff des gemeinsamen Tanzens ausgegangen und nicht Bezug genommen auf das Konzept der ›sozialen Choreografie‹ (vgl. Hewitt 2005). Choreografie als Beschreibungskategorie verweist auf die Organisation bewegter Körper bzw. Objekte in Raum und Zeit. Hier aber steht gemeinsames Tanzen als körperliche Praxis im Fokus.

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W ARUM

TANZT IHR NICHT ?

»Warum tanzt ihr nicht?« – Diese Frage wirft die gleichnamige Produktion des Performancekollektivs She She Pop auf. (She She Pop 2004) Der Ballsaal – Ort des Begehrens, der einzigartigen Möglichkeiten und außerordentlichen Peinlichkeiten – wird in diesem Projekt zur Metapher für das Feld des Beziehungslebens mit seinen Hoffnungen, Ängsten und Enttäuschungen: Es geht um das Leben als Tanz, allein oder als Paar, kurz: um die gesellschaftliche und soziale Bedeutung von Bewegung und Tanz. Und damit um das gemeinsame Tanzen – auf dem Ballsaalparkett wie, metaphorisch betrachtet, im Leben. An den seitlichen Rändern der Tanzfläche sind Stühle platziert. Auf einer Tribüne an der Raumfront sind Tische logenartig angeordnet. Diese Szenerie eines Ballsaals ruft sofort Ängste aus pubertären Tanzschulzeiten als »Ort des körperlichen Erlernens bürgerlicher Konventionen« (Klein 2010: 136) auf: Findet man den richtigen/überhaupt eine (Tanz-)Partner_in? Warum tanzen alle besser, sind alle anderen attraktiver als man selbst? She She Pop integriert Gesellschaftstanz als Paartanz in ein zeitgenössisches Performanceprojekt. Dieser ist aber nicht nur Handlungsfeld der Performer_innen, vielmehr lädt die räumliche und dramaturgische Konzeption der Produktion sehr direkt zur Beteiligung ein: Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden von Beginn der Vorstellung an als (mögliche) Tanzpartner_innen der Performer_innen Teil der Aufführung. Im Verlauf des Abends variieren die Optionen der aktiven Teilnahme und eröffnen der oder dem Einzelnen unterschiedliche Stufen des performativen Engagements: durchtanzen, zeitweilig mitmachen oder nur beobachten? Jederzeit besteht die Möglichkeit des Rückzugs in die beobachtende Haltung, z.B. auf der Tribüne, die eine größere Distanz zur Tanzfläche erlaubt, oder in einem Videoraum, in dem man Zeug_in der geheimen Beichten der Performer_innen vor dem Toilettenspiegel wird. Indem Warum tanzt ihr nicht? Gesellschaftstanz in einen performativen Aufführungskontext integriert und dabei das Publikum einbezieht, überschreitet die Performance die Grenze zwischen Tanz als körperlicher und geselliger Praxis auf der einen und Tanz als virtuoser Bühnenkunst auf der anderen Seite. Es geht nicht darum, perfekt zu tanzen und Schrittfolgen zu beherrschen, sondern um die geteilten (Tanz-)Begegnungen zwischen allen Anwesenden, die für die Dauer des Stücks ein gemeinsames performatives Feld teilen. Im Lauf der Aufführungsserie in Hamburg kommen mehr und mehr Menschen gezielt zum Tanzen

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und bringen ihre Tanzschuhe und -kleider mit. Damit gestalten sie das Stück für ihre eigenen Interessen, zu tanzen und tanzend gesehen zu werden, um.12 Die Verquickung von Sehen und Tun, der Wechsel von Aktiv-beteiligt-Sein und Rückzug ins Betrachten verändert sowohl die Praxis des Zuschauens als auch die des Aufführens. Dass auch die Performer_innen keine professionellen Tänzerinnen und Tänzer sind, senkt die Hürde, die es zu überwinden gilt, um sich auf die Tanzfläche zu begeben. Das Projekt ist damit exemplarisch für die graduelle Verschiebung der Funktion ›Zuschauen‹ und der Funktion ›Performen/Darstellen‹ in der Aufführungssituation, denn ohne eine gewisse Bereitschaft zur Partizipation aufseiten der eigentlich Zuschauenden würde die Performancegruppe ins Leere laufen und die Aufführung scheitern.

E NTROPISCHES I NSTITUT Das Entropische Institut des in Berlin ansässigen Künstlerzwillings deufert& plischke versteht sich als eine temporäre Installation gleichzeitiger Aktivitäten. Das Institut, das bislang in Berlin, Sofia und Hamburg stattgefunden hat, ist: »active theater, not theatrical activism! Artists, theoreticians, and spectators, prepared and instantaneous activities collaborate in the conception of the Entropic Institute at the moment of its appearance.« (deufert&plischke 2013) Theater verstehen deufert&plischke nicht als Aufführungs-, sondern als Entstehungsort eines gemeinsamen Wirkens aller Anwesenden. Der Rahmen dafür wird für jedes Institut mit einer wechselnden Gruppe beteiligter Künstlerinnen und Künstler vorbereitet und in den Öffnungstagen des Instituts kontinuierlich weiterentwickelt. Ein wesentlicher Bestandteil der Entropischen Institute, die aus verschiedenen Stationen bestehen, sind choreografische Konzerte. Diese werden von allen Anwesenden gemeinsam aus- und aufgeführt.13 Ausgestattet mit je einem Set beschriebener Karteikarten betritt eine Personengruppe einen Raum, der mit einer rechteckigen grünen Teppichfläche ausgelegt ist. Jede Karte beinhaltet einen Handlungsvorschlag, den die Teilnehmenden im Laufe des nun folgenden choreografischen Konzerts ausführen können. Auch das Tauschen der Karten mit anderen Teilnehmenden ist möglich. In dem Mo-

12 Beim Bedürfnis, gemeinsam mit anderen zu tanzen und dieses für die Vermittlung zeitgenössischen Tanzes zu nutzen, setzt auch der Kalender von Bal Moderne an, der 1993 von Michel Reilhac entwickelt wurde: http://www.balmoderne.be (letzter Zugriff am 19.12.2013). 13 Die folgende Beschreibung bezieht sich auf die Variante des Instituts in Berlin (2012), die in den Folgestationen verschiedene Veränderungen erfahren hat.

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ment, in dem die Gruppe den Raum betritt, werden ihre Mitglieder zu den Tänzer_innen des Konzerts, das ohne sie nicht stattfinden kann und in dem sie frei sind, den Bewegungsaufforderungen zu folgen. Zuschauen als ausschließliche Funktion ist nicht vorgesehen, vielmehr erfordert das eigene Handeln – das Umsetzen der Bewegungsvorschläge auf den Karten – genaues Zusehen und Beobachten der anderen Teilnehmenden. In den folgenden ca. 20 Minuten entwickelt sich aus den Bewegungsoptionen, die die Karten eröffnen, ein komplexes Geflecht von choreografischen Bezügen zwischen allen Teilnehmenden. Aus den Bewegungsvorschlägen auf den Karten – von den Teilnehmenden umgesetzt, interpretiert, aktiviert, variiert – entsteht eine gemeinsame choreografische Komposition. Die Handlungsvorschläge sind unterschiedlich komplex, umfassen sowohl einfache Anweisungen – »Sit on a chair and cover your face with both hands. Stay like this until you have counted to 100« – als auch komplexere Bewegungsfolgen, die Bezug nehmen auf andere Aktionen: »When a person covers their face with their hands: lift both arms up, interlace the fingers of both hands and move your hands down in a half circle to the height of your navel. Move them up again. Pause. Repeat this five times.«14 Schnell wird deutlich, dass die Beziehung, die zwischen den Handlungsvorschlägen besteht, das choreografische Konzert als ein komplexes soziales Gefüge entwickeln, in dem es notwendig ist, auf die Aktionen der anderen Teilnehmenden zu achten. Erst so ist es möglich, Handlungsvorschläge umzusetzen, die sich direkt auf Aktionen von anderen beziehen. Aus (Re-)Aktionen entsteht so eine komplexe, mal dynamischere, mal langsamere Choreografie, die Ensemblesituationen, Solos, Trios, partnerbezogene Handlungen und Duos herstellt sowie Bewegungskorrespondenzen und Rhythmen im Raum erzeugt. Die Handlungsvorschläge sind so gestaltet, dass sie auch ohne tänzerische Expertise oder Vorerfahrung umsetzbar und ausführbar sind. Im Rahmen des gemeinsam von allen Anwesenden hervorgebrachten choreografischen Konzerts als körperliche und kommunikative Verflechtung der Teilnehmenden entsteht eine gemeinsame, in dieser Form nicht wiederholbare Aufführung. Alle Anwesenden sind zugleich aufmerksame Beobachtende und (Re-) Agierende, und somit als Performer_innen und Zuschauer_innen in ein (Re-) Aktionsgeflecht eingebunden, das durch die Handlungsvorschläge auf den Karteikarten initiiert ist und auch das Zusehen als aktive Haltung und Handlung setzt, die der eigenen motorischen Aktivität vorausgeht. Am Beispiel der choreografischen Konzerte scheint sich die integrative, kommunikative und kooperative Wirkung des gemeinsamen Tanzens belegen zu

14 Hiermit danke ich deufert&plischke für die ›Bewegungskarten‹ des Berliner Instituts.

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lassen: Die Anwesenden werden zu »Komplizen« (zum Begriff ›Komplizenschaft‹ vgl. Ziemer 2013) des choreografischen Moments, den sie nicht nur teilen, sondern selbst erschaffen. HEUTE : VOLKSTANZEN Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurde Volkstanz, historisch belastet durch seine kulturpolitische Instrumentalisierung im Nationalsozialismus und in der DDR (zur Instrumentalisierung von Volkstanz vgl. Walsdorf 2010), im zeitgenössischen Tanzschaffen bislang kaum reflektiert.15 Als quasi exotische Attraktion besitzt Volkstanz als folkloristischer Schautanz im Rahmen von Heimatabenden eine gewisse touristische Attraktivität. Im ganzen Land gibt es verschiedene Volkstanzgruppen und -vereine, die bestrebt sind, Volkstanz und -tänze zu bewahren und weiterzugeben. Dennoch erscheint der Volkstanz altbacken, wenn nicht reaktionär,16 weil er durch seine historisch-politische Instrumentalisierung sinnbildhaft für die politische Manipulierbarkeit gemeinsamen Tanzens steht. Da es keine einheitliche Bestimmung von Volkstanz gibt, schlägt Hanna Walsdorf eine ahistorische Definition vor: »Volkstanz wird verabredet und sozial hergestellt, erlebt und vermittelt. Volkstanz ist Geselligkeitstanz, der von jedermann gelernt werden kann, eine Gemeinschaft konstituiert, bestätigt und repräsentiert, der in dem Moment aber, wo er auf eine Bühne gestellt wird, vom geselligen zum Schautanz transformiert wird.« (Walsdorf 2013: 2)

Der leichte Zugang, die Niedrigschwelligkeit, ist demnach ein wesentliches Merkmal des Volkstanzens. Darin wiederum liegt vermutlich ein Grund für die Attraktivität des Volkstanzes im Kontext ideologischer Systeme. Andererseits liegt in der Niedrigschwelligkeit zugleich aber auch eine Chance für einen neuen Zugang zu Volkstanz im Kontext künstlerisch verstandener Tanzvermittlung als aktive Teilhabe am gemeinsamen Tanzen.

15 In der letzten Zeit wächst das Interesse zeitgenössischer Choreograf_innen am Volkstanz; siehe z.B. Jochen Roller (Trachtenbummler) oder Alessandro Sciarroni (Folk-S), die sich in ihren Produktionen mit seiner Geschichte und seinen Strukturen auseinandersetzen. 16 Entgegen dem schlechten Image des Volkstanzes entsteht in urbanen Zentren Europas zurzeit eine neue Volkstanzbewegung, die jenseits von Vereinsstrukturen der Spaß am Tanzen zusammenführt. (Vgl. Klitzsch 2013)

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Das im Rahmen von Tanzfonds Partner, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, geförderte Projekt heute: volkstanzen17 des choreografischen Zentrums K3 in Kooperation mit dem Tanzarchiv Leipzig und der Schaubühne Lindenfels fragt deshalb nach zeitgenössischen Äquivalenten zum traditionellen Volkstanz und erforscht Tanzvermittlung und Partizipation an der Schnittstelle von Tanz als künstlerischer und als sozialer Praxis. In der künstlerischen Leitung des Dramaturgen Matthias Quabbe entwickelten vier Choreografinnen – Jenny Beyer (Hamburg), Heike Hennig (Leipzig), Isabelle Schad (Berlin) und Doris Uhlich (Wien) – sowie der DJ und Musikjournalist Sebastian Reier zusammen mit jeweils einer Gruppe tanzinteressierter Menschen choreografische Strukturen möglicher zeitgenössischer Volkstanzpraxen. Der Bühnenraum ist als Festraum gestaltet, es gibt weder eine Tribüne für das Publikum noch eine als Bühne gekennzeichnete Fläche. In der linken Raumecke befindet sich eine Bar mit einigen Hockern, Bierbänke sind an den Wänden locker verteilt. Auf der rechten Raumseite sind das DJ-Pult und ein Platz für Licht- und Tontechnik verortet. Gelbe Stoffbahnen spannen sich über die gesamte Fläche wie ein Festzelthimmel. Die Dramaturgie des Abends lehnt sich an die Struktur von Volkstanzfesten an, die Präsentieren und gemeinsames Tanzen miteinander verbinden. D.h., die von den Choreografinnen mit den Teilnehmenden im Probenprozess erarbeiteten Choreografien sind so in den Ablauf des Abends gesetzt, dass die dramaturgische Struktur einen Wechsel aus Aufführen und Freiräumen zum Tanzen eröffnet. Einige Choreografien sind so angelegt, dass sie entweder zum Ende des Stücks oder auch bereits mittendrin zum Mittanzen einladen. Ähnlich wie bei Warum tanzt ihr nicht? kommen auch zu heute: volkstanzen gezielt Menschen mit der Absicht zu tanzen. Die Altersstruktur des Publikums ist mit Senior_innen mit Volkstanzerfahrung über junge Erwachsene mit Tanzaffinität bis zu Familien mit Kindern auffällig heterogen. Die Auseinandersetzung der beteiligten Choreografinnen mit Motiven und choreografischen Strukturen des Volkstanzes spiegelt die Breite und auch die Ambivalenz seiner Rezeption und seiner Formen. Dies zeigen zwei Beispiele aus dem Projekt: Während sich das Publikum im Raum versammelt, beginnt die erste Choreografie (collective practices) der Gruppe um Isabel Schad. Die neun Tänzer_innen nehmen die mittige (Tanz-)Fläche in Beschlag und beginnen, sich zunächst einzeln am Platz mit einem Seitwärtsschritt zu bewegen, begleitet von einer parallel vollzogenen Schwingbewegung der Arme. Die Bewegungen werden zunehmend raumgreifender und ausladender. Die Tanzenden synchronisie-

17 Eine Dokumentation des Projekts heute: volkstanzen findet sich unter: http:// www.tanzfonds.de/de/projekte/volkstanzen-heute (letzter Zugriff am 27.12.2013)

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ren sich schließlich, gehen dann über in wechselnde Paarkonstellationen. Diese Paare drehen sich mit unterschiedlichen Handfassungen umeinander, verlieren sich wieder, treffen mit anderen Partnerinnen oder Partnern zusammen. Daraus bildet sich nach und nach ein Kreis aller Tanzenden, der sich schließlich öffnet. In dieser Formation greifen die Tanzenden die seitliche Schrittbewegung und das Mitschwingen der Arme wieder auf, bilden also einen offenen Reigen. Leise setzt Musik ein, die peu à peu lauter wird. Kurz danach schließen sich zunächst einzelne Zuschauer_innen dem Reigen an. Innerhalb weniger Sekunden sind dann nahezu alle Anwesenden am Tanzen. Der Seitschritt in Kombination mit den vor- und zurückschwingenden Armen ist zwar schwieriger zu tanzen, als es beim Zusehen scheint. Aber im Versuch, die Bewegungsfolge aufzunehmen und mitzutanzen, scheint für niemanden die korrekte Ausführung der Schritte wirklich relevant. Die offene Struktur des Reigens scheint besonders geeignet, einen Einstieg und eine Grundlage für das gemeinsame Tanzen zu schaffen, da man – anders als beim Paartanz – keine_n Tanzpartner_in benötigt und die choreografische Form des Reigens bzw. Kreises die Unterschiede in der Tanzkompetenz der Einzelnen zwar nicht negiert, aber doch sekundär erscheinen lässt. Die Gruppe um die österreichische Künstlerin Doris Uhlich wiederum analysiert in ihren drei Choreografien Volkstanz in seiner Ambivalenz zwischen Volksvergnügen und Manipulation. Besonders markant wird dies in ihrer dritten Choreografie. Während im Saal noch auf einer Kreisbahn ein Tanz mit Partner_innenwechsel getanzt wird, betreten die vier Performer_innen nahezu unbemerkt den Saal. Sie tragen neongrüne hautenge Ganzkörperanzüge und positionieren sich auf Hockern in einer Reihe am Rand der Tanzfläche. Mit dem Ausklingen der Musik ziehen sie in der eintretenden Stille mit ihrer ungewöhnlichen Kleidung die Aufmerksamkeit auf sich. Nach einer Weile beginnen sie, langsam im Gleichtakt mit weit ausholenden Händen zu klatschen. Der Klatschrhythmus steigert sich, bis die Performer_innen schließlich einzelne Jubelrufe ausstoßen: ›juhui‹, ›juha‹, ›supa‹, ›guat‹ … Die rhythmische Frequenz der Rufe und des Klatschens steigern sich, bis schließlich weitere Anwesende in das Klatschen einsteigen. Je ausgelassener die vier Performer_innen werden, umso mehr lassen sich auch die Anwesenden zum Mitklatschen und -rufen animieren. Diese kurze Intervention ist eine deutliche Irritation im Ablauf des Abends, da hier die Ambivalenz des gemeinsamen Tanzens deutlich und die Partystimmung temporär unterlaufen wird: Wann kippt der ›Volksspaß‹? Wie wird aus ›Volksbelustigung‹ Animation? Wann aus Animation wiederum Manipulation? – Dass die Musik im Anschluss an diese Intervention mit dem selben Musikstück wieder einsetzt, das zuvor als Begleitung zu einem Kreistanz gespielt wurde, und

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die Anwesenden ihren Reigen begeistert wieder aufnehmen, markiert diesen schmalen Grat zwischen Rausch und Verführbarkeit noch deutlicher. Gleichzeitig zeigt es bei aller Ambivalenz aber auch, dass die Lust am gemeinsamen Tanzen hoch ist. Eingeleitet durch den Reigen zu Beginn des Abends ist es gelungen, die Hürde zum Einstieg in das gemeinsame Tanzen niedrig zu setzen und damit unabhängig von der individuellen Vorerfahrung der Beteiligten einen gemeinsamen Interaktionsraum zu schaffen. Die drei Beispiele zeigen unterschiedliche Formen choreografischer Beteiligung des anwesenden Publikums auf, die aus sehr unterschiedlichen künstlerischen Positionen heraus verschiedene Formen des gemeinsamen Tanzens einbringen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es gelingt, zeitgenössische Choreografie und geselligen Tanz miteinander zu verknüpfen und damit einen ungewohnten Zugang zu zeitgenössischem Tanz zu eröffnen. In allen drei Fällen entsteht aus dem Besuch eines Theaterabends eine temporäre Versammlung zum Zweck des Tanzens. Teilnehmen und Teilhaben ist im Wechsel von Schauen und Tanzen ohne besondere Vorkenntnisse möglich. Wie heute: volkstanzen zeigt, heißt das jedoch nicht, dass sich im Spaß der kritische Umgang mit der Ambivalenz des gemeinsamen Tanzens und seine politisch-ideologischen Vereinnahmungen auflösen müssen. Vielmehr gilt es, diese weiterhin kritisch zu reflektieren und theoretisch wie künstlerisch zu befragen, um Wirkungen, Effekte und Potenziale gemeinsamen Tanzens zu untersuchen.18 Dennoch zeigen die Beispiele aktuelle künstlerische Ansätze auf, die versuchen, zeitgenössische choreografische Konzepte mit Strategien der Partizipation zu verbinden und dabei die Trennung zwischen Tanz sehen und selbst tanzen aufzuheben. Die Niedrigschwelligkeit der räumlichen und tänzerischen Anlage der Projekte ist dabei wesentlich für die Beteiligung der Anwesenden. Die Vorbehalte gegenüber Formen des gemeinsamen Tanzens – wie z.B. die Verteufelung des Tanzens durch die christliche Kirche im Mittelalter – zeigen aber auch die Angst vor dem Tanzen als Indikator und Auslöser gesellschaftlicher Umbrüche und Proteste. Gemeinsames Tanzen besitzt also nicht nur affirmative, sondern auch subversive Potenziale, die Gesellschaft nicht nur reflektieren, sondern unterlaufen können. Gemeinsames Tanzen nicht nur als mögliches

18 Mit Sebastian Matthias’ Untersuchung zum choreografischen Groove am Beispiel des Clubtanzens und Martin Nachbars Analyse des Gehens als künstlerischer Praxis sind in diesem Band zwei Beiträge zum Verständnis der Wirkungen und Motive gemeinsamen Bewegens. Auch im Kontext kultureller Bildung wird die Wirkungsforschung zunehmend wichtig (siehe z.B. den neu aufgelegten Forschungsfonds kulturelle Bildung der Mercator Stiftung).

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Instrument politischer Manipulation, sondern auch als politische Protestform zu untersuchen, ist somit eine weitere wichtige Thematik der Untersuchung von Tanz und Tanzen als Formen von Versammlung und Teilhabe.

L ITERATUR -

UND

QUELLENVERZEICHNIS

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Groove relations – Bewegungsqualitäten als Ordnungsstruktur partizipativer Versammlungen in Clubtanz und zeitgenössischer Choreografie S EBASTIAN M ATTHIAS

»Und als der Bass im Beat zurückkam, erhob sich jetzt vieltausendkehlig ein Geschrei. Die Menschen schrien: ›Wunderbar!‹ Der Bass ist wieder da. Und sie tanzten und sprangen wie wild herum, und eine große, riesengroße Stimme sagte: ›ENTER THE ARENA‹. Enter the arena. Ja natürlich, gerne danke. Vielen Dank. Bin dabei. – Ich auch. – Ich auch.« (Goetz 1998: 22)

Populärer Tanz auf Raves oder beim Clubbing stellt im Kontext von Versammlung und Teilhabe eine besondere Art der Zusammenkunft dar. Im gemeinsamen Rezipieren von elektronischer Tanzmusik tritt die physische Bewegung als konstitutives Element der Versammlung der Tanzenden deutlich hervor. Tanzbewegungen koordinieren auf Raves oder in Clubs1 die Interaktion von Teilnehmer_innen, die in einem kollektiven Prozess die Tanznacht hervorbringen.

1

Ich unterscheide nicht zwischen Rave und Clubbing aufgrund der Ähnlichkeit in der Rhythmuserfahrung. Der Begriff ›Rave‹ wird für singuläre Events verwendet, wäh-

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Um ein Verständnis für die Wirkungsweisen von Körperbewegungen in Tanzversammlungen zu entwickeln,2 bieten sich eine Beobachtung und eine differenzierte Beschreibung des konkreten Zusammenspiels der Tanzenden an. Vom Tanz ausgehend könnte eine Perspektive auf Körperbewegungen in Versammlungen aufgezeigt werden, die oft wegen ihrer Flüchtigkeit und schweren Differenzierbarkeit vernachlässigt werden. Diese Schwierigkeit zeigt sich jedoch auch in den Beschreibungen von Clubtanz. Für Tim Olaveson wird die gemeinsame Teilnahme und Teilhabe an elektronischer Tanzmusik als eine Art Energie oder Puls erfahrbar, »which cannot be expressed or understood in words, but as that can only be physically experienced« (Olaveson 2004: 90). Die Versammlung der Tanzenden tritt als solche in einer Körpererfahrung3 – in einem ›Spüren‹ – in Erscheinung, deren Ursprung metaphorisch von einer Energie- oder Schwingungsübertragung abgeleitet wird und auf die sich auch die gebräuchlichen Ausdrücke wie »collective energy« (Fikentscher 2000: 80) oder ›vibe‹4 beziehen. Der Begriff ›Groove‹ hingegen ist nicht verbunden mit der Metapher einer Energieoder Schwingungsübertragung, sondern bezieht sich auf Groovepatterns5 oder Rhythmusmuster der Beats in der Musik, die Bewegung und Tanz beim Zuhörenden beeinflussen.6 Der Begriff verknüpft ein festgelegtes Pattern mit einer

rend Clubs durch eine lokale Verortung, den Club, bestimmt sind und die Tanzversammlungen dort periodisch abgehalten werden. Im Folgenden werde ich mich zur besseren Übersicht nur auf Clubbing beziehen. (Vgl. Rietveld 1998) 2

Zur Theorie einer Performativität von Bewegungen siehe den Text Übertragungen

3

Tim Olaveson hat in einer quantitativen Analyse im Rahmen einer kollaborativen Stu-

(Brandstetter/Brandl-Risi/van Eikels 2007: 7ff.). die mit Melanie Takahashi versucht, die Existenz dieser körperlichen Erfahrung als das zentrale Erlebnis von Rave und Clubbing nachzuweisen. (Vgl. Olaveson/ Takahashi 2003: 72-96) 4

Marc Butler erklärt, dass beim (von ›Vibration‹ abgeleiteten) »vibe« »communication flows in both linear and lateral directions: that is, not only between audience and DJ, but also within the audience« (Butler 2006: 72).

5

Sogenannte locked grooves sind speziell für DJs hergestellte Schallplatten, deren Rillen nicht zu einer Spirale gepresst sind, sondern in einem geschlossenen Kreis eine kurze bassline und Perkussionen kontinuierlich wiederholen können. Im DJ-Set werden sie kombiniert und bilden die Grundlage für das musikalische Gewebe. (Vgl. Butler 2006: 5)

6

Jeff Pressing bestimmt »Groove« in afroamerikanischer Musik weitergehend als »cognitive temporal phenomenon emerging from one or more carefully aligned concurrent rhythmic patterns that is characterized by […] its effectiveness in engaging

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partizipativen, bewegten Rhythmuserfahrung und verweist somit auf die zentrale Funktion von rhythmischen Mustern bei der Entstehung einer Versammlung im Club. Die zyklische Struktur der Groovepatterns generiert eine rhythmische Matrix, die die Interaktionen zwischen DJ und Tänzer_innen koordiniert und ein funktionierendes Zusammenspiel erst ermöglicht. Der vom Groove strukturierte Tanz erweitert das musikalische Geschehen um eine Bewegungsebene, welche nach Kai Fikentscher die Performance des DJs »affektiert und nicht nur komplementiert« (Fikentscher 2000: 81). In der Feedbackschleife der »booth-floor interaction« (ebd.: 80) generieren DJ und Tänzer_in miteinander kollektiven Groove in der ›Arena‹ einer qualitativen Erfahrung, welche durch die formalen Rhythmusstrukturen des Patterns organisiert wird. Groove als Ordnungsstruktur kann so auch als eine Kategorie für die Beobachtung von Körperbewegungen bei Versammlungen denkbar werden. Eine große Ähnlichkeit zu den Interaktionen in Clubs weist das Konzept der autopoietischen Feedbackschleife von Erika Fischer-Lichte auf, dem sie im Kontext von Theateraufführungen in ihrem Buch Ästhetik des Performativen eine zentrale Rolle bei der Hervorbringung von Gemeinschaft zuweist: Am Beispiel von Einar Schleefs chorischen Theaterinszenierungen führt Fischer-Lichte den für ihre Bestimmung von Performance/Theater zentralen Begriff der ›Kopräsenz‹ und ihren Wechselwirkungen ein. »Es hat den Anschein, als hätte die feedback-Schleife der Wechselwirkungen von Handlungen und Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Zuschauer [in ihrer Kopräsenz] in diesem Fall in allen Beteiligten Energien von besonderer, gemeinschaftsbildender Qualität freigesetzt.« (Fischer-Lichte 2004: 97, Herv. i.O.) Wie Olaveson es für den Clubtanz postuliert, wird auch für Fischer-Lichte diese gemeinschaftsbildende Qualität – diese Energie – erst im »leiblichen Spüren« (ebd.: 99) wahrnehmbar.

synchronizing body responses (e.g., dance, foot-tapping)«. (Pressing 2002: 288) Neben der Beziehung des Begriffs zum festgelegten Pattern verbindet Tobias Widmaier ›Groove‹ auch mit körperlichen Bewegungen. Er assoziiert ihn mit der lustvollen Erfahrung im sexuellen Liebesakt: Die wörtliche deutsche Übersetzung des englischen Worts ›groove‹ lautet seit dem 19. Jahrhundert »Rinne, Rille, Furche«. ›Groove‹ wurde im afroamerikanischen Slang in den 1930er-Jahren auch als Bezeichnung Vagina verwendet. Der jazzbezogene Ausdrucksgebrauch von »to get in the groove« spielte unterschwellig auf sich wiederholende und pulsierende Bewegungen an, welche von entsprechender Musik stimuliert und mit jenen während des Liebesakts assoziiert werden. (Widmaier 2004: 2)

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»Während der Blick sein transformatorisches Potential in der direkten Konfrontation mit dem anderen entfaltet, ist das energetische Potential eher ungerichtet. […] Wahrnehmung in der Aufführung – ob nun als Blick oder als leibliches Spüren – ist insofern gar nicht ohne das Wirkpotential zu denken, das sie zu entfalten vermag.« (Ebd.: 100)

Die Wechselwirkungen von Handlung und Wahrnehmung sollen laut FischerLichte Energie7 und Gemeinschaft erzeugen, die sich in somatischer Erfahrung manifestieren. Sie misst dem Rhythmus eine Schlüsselfunktion bei dieser Übertragung bei. Als rhythmische Phänomene wird so eine Beziehung zwischen autopoietischer Feedbackschleife und Groove im Club denkbar: Indem Energien auf Grundlage von rhythmischen Übertragungen zwischen Zuschauenden und Akteur_innen erzeugt werden sollen, deutet Fischer-Lichte im Kontext des Theaters jedoch darauf hin, dass jene Wechselwirkung über die visuelle Wahrnehmung koordiniert und so auch beobachtbar werden könnte. Welche Ordnungsstrukturen werden bei diesen rhythmischen Übertragungen performativ und durch welche Handlungen oder Bewegungen kann unter Kosubjekten eine gemeinschaftsbildende, spürbare Qualität erzeugt werden? Gibt es ein Äquivalent für Groove in der Bewegung? Wie sind Interaktionen koordiniert, die aus der Ansammlung von Rezipient_innen eine Versammlung8 machen? Auch wenn sich die Kontexte des Clubs und der Aufführung in ihren Bedingungen unterscheiden, können nach Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen die Bereiche Kunst und soziale Lebenswelt nicht vollkommen voneinander getrennt werden. (Vgl. Fischer-Lichte 2004: 82) Im Kontext des Clubs stützen sich Rezipient_innen auf Strategien und Bewegungen, um mit rhythmischen Groovepatterns tänzerisch miteinander in Beziehung zu treten. Diese Strategien sollten nicht ausschließlich nur im Clubraum zugänglich sein: Ähnlich gestaltete Bewegungselemente können im Kontext von Kunst isoliert und erprobt werden, um deren Funktionalität für die Konstitution von Versammlung zu hinterfragen. Im Folgenden möchte ich daher versuchen, Beobachtungen aus beiden Kontexten produktiv aufeinander zu beziehen, um der autopoietischen Feedbackschleife nachzuforschen. Ethnografische Studien zum Clubbing und meine eigene tanz-

7

Für Fischer-Lichte ist die Energie kein »Hirngespinst«, doch nimmt die Autorin der »Erfahrungsnähe willen eine Vagheit bewusst in Kauf« (Fischer-Lichte 2004: 99) und bleibt so eine genaue Erklärung dieser Energie schuldig.

8

Die Vorsilbe »ver-« zeigt im Sprachgebrauch nicht nur eine Schwierigkeit an, wie in »Ich habe mich verlaufen«, sondern kann auch auf Bewegung verweisen.

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wissenschaftliche Clubrecherche9 bilden die Grundlage für diese Untersuchung. Als ein produktives Gegenüber fungiert das künstlerische Experiment im zeitgenössischen Tanz. Meine choreografische Arbeit bildet ein künstlerisches Labor, indem die Wirkungsweisen der Bewegungen künstlich aus der Komplexität des Clubkontexts herausgelöst werden können. In diesem Aufsatz entwerfe ich aus Erkenntnissen des künstlerischen Labors den Begriff ›Bewegungsqualitäten‹, der weniger einen Referenzpunkt für eine Beschreibung von Bewegungsmodi10 darstellt, sondern versucht, spezifische Organisationsstrukturen innerhalb eines Bewegungsmodus herauszuarbeiten und von einer Bewegungssequenz abzugrenzen. Ich übertrage damit eine Überlegung aus der Musiktheorie, die bei rhythmisch-musikalischer Produktion und Rezeption oscillatory motions von gestischen Ganzkörperbewegungen oder gestural motions unterscheidet. Letztere finden ihre Entsprechung in der musikalischen Phrase, während die periodischen Patterns dem Takt oder Beat zugeordnet werden. (Vgl. Klingmann 2010: 77) ›Bewegungsqualitäten‹ verstehe ich somit als periodische Bewegungsabläufe mit einer homogenen qualitativen Zuordnung, die sich aus einem spezifischen Kraftaufwand, zugehöriger Raumveränderung mit seiner Zeitlichkeit – also einem spezifischen Bewegungsmodus – zusammensetzen und nicht auf eins dieser Elemente reduziert werden kann. Durch die Wiederholung tritt der qualitative Aspekt des Bewegungsablaufs stärker hervor, während sein semantisches Potenzial in den Hintergrund rückt. Diese Perspektive folgt anstatt eines linearen Bewegungsverständnisses Gille Deleuzes qualitativer Bewegungskonzeption. (Vgl. Deleuze 1989: 13ff.) Das Forschungsprojekt zu Bewegungsqualitäten besteht aus einer schriftlichtheoretischen Auseinandersetzung und der praktischen, künstlerischen Arbeit Danserye (2013)11, die mit vier Tänzer_innen und vier Musiker_innen mit Musik

9

In drei Feldstudien zur Bestimmung von Groove in der Bewegung konnte ich 2010 für verschiedene Clubs Überschneidungen zwischen musikalischen und tänzerischen Ausprägungen aufzeigen und sechs Merkmale der Tanzimprovisationen herausarbeiten. (Vgl. Matthias 2010 und 2014)

10 In der Labanotation werden acht Bewegungsqualitäten (Drücken, Wringen, Gleiten, Schweben, Peitschen, Stoßen, Tupfen, Flattern) genannt, die für die Bewegungsanalyse als Grundqualitäten bestimmt werden. (Vgl. Laban 1991: 41ff.) 11 Danserye ist eine eigenständige künstlerische Produktion, die jedoch in Verbindung mit meiner Dissertation am Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe mit den Tänzerinnen und Tänzern Jan Burkhardt, Lisanne Goodhue, Deborah Hofstetter und Isaac Spencer kreiert wurde und sich mit historischer populärer Tanzkultur der Renaissance beschäftigt. Schwebende Lichtlinien strukturieren den offenen Auffüh-

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von Michael Wolters erarbeitet und in einem offenen Bühnen-Set-up als Installation von Awst und Walther zur Aufführung gebracht wurde. Die Choreografie besteht aus sechs interaktiven Improvisationssystemen auf Grundlage von Bewegungsqualitäten wie basse danse, BB und Allemande,12 die im Hinblick auf die hier fokussierte Fragestellung entwickelt wurden und mir im Folgenden als Grundlage für die Argumentation dienen. Durch Beobachtungen im ›Labor‹ des Künstlerischen und der Feldstudie im Club werde ich zwei Konzepte der Bewegungswahrnehmung mit ihren Ordnungsfiguren herausstellen: gestische Nachahmung und entrainment periodischer Patterns oder Bewegungsqualitäten. Aus Letzterem leite ich schließlich den Begriff ›choreografischer Groove‹ ab, welcher versucht, die partizipative Wahrnehmung der Tanzenden im Club theoretisch zu fassen und ein Erklärungsmodell dafür zur Verfügung zu stellen, wie sich durch Tanzbewegungen – sowohl im Club wie auch in Theaterkontexten – eine Versammlung in der somatischen Wahrnehmung konstituieren kann.

G ESTISCHE N ACHAHMUNG

UND

S YNCHRONISIERUNG

Fiona Buckland beschreibt in ihrer Analyse queerer Identitätskonstitution in der New Yorker Clubkultur, wie sich Tanzende mittels Nachahmung die gängigen Tanzpraktiken aneignen. (Vgl. Buckland 2002: 100) Tanzschritte – wie Kreisbewegungen der Hüfte oder ein ›Step-Touch-Motiv‹13 – werden von Freundinnen oder Freunden vorgeführt und dann nachgetanzt. Doch bei versierten Clubtänzer_innen sind diese Motive nicht mehr einfach zu beobachten. Sie weben Motive so flüssig ineinander, dass das Repertoire von Versatzstücken erst in der Wiederholung und bei längerer Beobachtung wiedererkannt werden kann. Die Impulse von Armschwüngen, Würfen oder Schlägen werden in einer Form auf

rungsraum, der ohne feste Bestuhlung es den Zuschauer_innen erlaubt, sich frei zu bewegen. Danserye wurde am 16. Januar 2013 auf Kampnagel in Hamburg uraufgeführt. (Vgl. http://www.sebastianmatthias.com/danserye.html) 12 Es handelt sich hier nicht um die jeweils historische Form dieser Tänze, sondern um neu erarbeitete Bewegungs- und Improvisationssysteme, die nur noch in ihrer rhythmischen oder qualitativen Struktur an die historische Form angelehnt sind. Die Bezeichnungen haben sich im Probenprozess ergeben und beinhalten nur noch vage Verbindungen zum historischen Material. 13 Beim ›Step-Touch-Motiv‹ werden zwei Schritte auf je einen Grundbeat zur Seite gesetzt, wobei die Knie auf dem Beat in einem Bounce elastisch einknicken. Beim dritten und vierten Schritt wird die Richtung gewechselt, während der Oberkörper mit jeder Richtungsveränderung seitlich nachschwingt.

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den ganzen Körper übertragen, dass der Eindruck eines Bewegungsflusses entsteht. Das Wiedererkennen eines einzelnen aus dem Bewegungsfluss herausgelösten Bewegungsmotivs kann durch die Prägnanz des Motivs oder eine zeitliche Eingrenzung ermöglicht werden. Im Rahmen meiner Clubrecherche konnte ich z.B. auf dem Rave Piknic électronik in Montreal beobachten, wie in die Höhe gehobene wackelnde Finger als prägnantes Motiv von Tanzenden nachgeahmt und zu anderen Tanzenden weitergegeben wurden. Des Weiteren beschreibt Buckland, wie durch die kollektive Beantwortung bestimmter musikalischer Elemente dazugehörige Bewegungssequenzen hervorgehoben werden können. »Everybody knew the parts of the song and a part of the song would come up, or there’d be a break in the music and ›hey‹ and everybody’s arms would go up, ›hey!‹.« (Ebd.: 101) Durch die Pause in der Musik wird die Armbewegung aus dem Fluss der Improvisation herausgehoben und bildet mit einem musikalischen Anfangs- und Endpunkt eine Art Bewegungssequenz. Wackelnde Finger, hochgerissene Arme, aber auch das Step-Touch-Motiv sind Versatzstücke, die als ›Geste‹ bezeichnet werden könnten. Diese Versatzstücke stellen neben Blicken, Berührungen oder den räumlichen Beziehung zu anderen Tanzenden die Grundlage der »scriptings of coolness« (Malbon 1999: 92) und des sozialen Handelns im Club zur Verfügung. In ihrer Analyse zeigt Buckland weiter, wie spielerisch, dialoghaft, aber auch wetteifernd mit Adaptionen umgegangen wird, und veranschaulicht dies an einer Tanzpraxis – den challenge circles oder dance offs –, die zwar auch im Clubkontext zu finden ist, sich jedoch von der engen, gleichzeitigen und auf den eigenen Tanz fokussierten Improvisation unterscheidet. In den Tanzkreisen ›duellieren‹ sich zwei Tanzende, während sich außen um sie herum ein Kreis von unterstützenden und tanzenden Beobachter_innen bildet: »Occasionally, an informal contest or challenge began between dancers. One performed a phrase of movements, and the next picked up their dominant or last moves, or complemented it, and developed it through their own phrase. Each playfully seemed to try to outdo the other.« (Buckland 2002: 98) In den challenge circles tritt ein Teilaspekt von Clubtanz deutlich hervor, der die Improvisation als Mittel der Selbstrepräsentation nutzt. Mit den kleinen Versatzstücken von Bewegungssequenzen oder »(micro)identifications« (Malbon 1999: 98) performen die Tänzer_innen ausschließlich ihre »coolness« oder »fabulousness« (Buckland 2002: 73ff.). Das Spiel mit tänzerischen Versatzstücken ermöglicht eine Selbstinszenierung14, die in der Aktualisierung und dem Neuarrangement des Bewegungsrepertoires Differenzen erzeugt und somit ein konstruktives Ele-

14 Gabriele Klein beschreibt die Funktion der Selbstinszenierungen im Ravekontext und deren soziale Relevanz. (Klein 2004: 173)

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ment in die Selbstidentifikation15 der eigenen Community bringt. Das Repertoire an Bewegungen und Handlungen, das den »key scriptings of style and coolness« (Malbon 1999: 92) und die sozialen Regeln des Clubkontexts bestimmt, wird nach Buckland durch mimetische Übertragungen oder »kreative Nachahmung« (Wulf 2005: 26) vermittelt. Innerhalb dieses Bewegungstextes werden Bewegungscodes entziffert, zitiert, gemischt oder abgelehnt. Die Wahrnehmungsweise dieser Versatzstücke ist hierbei für eine Selbstdarstellung von besonderer Bedeutung. Nach Christoph Wulf sind in sozialen Situationen Gesten das Mittel der Sinngebung, die den Ausdrucksgehalt und die Bedeutung der Darstellung des mimetisch Wahrgenommenen dechiffrieren. »Soziales Handeln beruht auf inkorporiertem Wissen und bildet sich in Sprach- und Handlungsspielen. Es ist gestisch und entsteht im Gebrauch. […] Es ist häufig repetitiv und nur in Sequenzierung verständlich. Soziales Handeln ist körperlich, symbolisch und entsteht unter Bezug auf das individuelle und kollektive Imaginäre des Handelnden.« (Ebd.: 7)

In den challenge circles wird der gestische Gebrauch von Bewegungssequenzen auch in der Bewegungsausrichtung sichtbar. Tanzsequenzen werden seitlich abgeflacht und orientieren sich an einer Linie parallel zu der Kontrahentin oder dem Kontrahenten, die bzw. der mit dem Tanz herausgefordert wird. Der Winkel der Perspektive jenes fixierten herausfordernden Gegenübers wird mit in die Improvisation eingebunden. Akzentuierte Bewegungen finden nie verdeckt statt, sondern werden gut sichtbar in den Blickwinkel des Gegenübers gesetzt. Arretierungen werden rahmend zwischen die Bewegungen eingefügt, um die Versatzstücke besser hervorzuheben. Durch diese Maßnahmen wird sichergestellt, dass die Bewegungen vom Kontrahenten erkannt und beantwortet werden können. In der adressierten Improvisation wird eine Sichtbarkeit sichergestellt, die außerhalb der challenge circles nicht zu beobachten ist. Wäre gestische Wahrnehmung ebenfalls ein Hauptaspekt von Clubbing, würden die Tanzpraktiken mehr auf eine Adressierung und Sichtbarkeit ähnlich der challenge circles ausgerichtet sein.16 Das nicht adressierte, flüssige, enge gemeinsame Tanzen sowie die Ver-

15 Fiona Buckland beschreibt detailliert, wie der gemeinsame Tanz ein Verständnis von queerness ermöglicht und dem Begriff eine bestimmte Körperlichkeit zuordnet. (Buckland 2002: 107) 16 In den höfischen Tänzen der Renaissance, in denen Repräsentation dominierte, durfte z.B. in der révérence die gegenseitige Adressierung nie fehlen und die Ornamente in den Fußvariationen wurden klar durch das Metrum gerahmt. (Vgl. Arbeau 1980: 28ff.)

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dunkelung in Clubräumen und der Gebrauch von wechselndem Licht erschweren jedoch im Gegenzug ein Erkennen von einem sequenzierten Versatzstück: »I found it impossible to focus on individual dancers, as we were dancing so close, but it was possible to pick up on the qualities within the mass of movement around me. It throbed and pulsed to the rhythm, holding together tightly within the space. Within the mass, participants incorporated the energy of movement, rather than the individual moves of those around them. Emphasis tended to be on the continuity of energy flow and on rhythmic impulses, rather than on specific positioning of body parts.« (Buckland 2002: 103)

Fiona Buckland grenzt die individuellen Bewegungen mit bestimmten Körperhaltungen von einem verkörperten Bewegungsfluss ab, den sie jedoch nicht weiter erläutert. An dieser Stelle ist es hilfreich, individuelle Bewegungssequenzen von rhythmischen Impulsübertragungen zu trennen und beide einander gegenüberzustellen. Das Bewegungssystem des basse danse aus meiner Choreografie Danserye kann die vorab beschriebene Beobachtung Bucklands ausdifferenzieren: Beim basse danse stehen sich die Tänzerinnen Lisanne Goodhue und Deborah Hofstetter gegenüber. Auf die ersten drei Schläge der Takte gibt eine der beiden Tänzerinnen einen isolierten Impuls, der in ihrem Körper über erhöhten Muskeldruck an andere Körperteile weitergeleitet wird und der über die Spannung die Haltung der Tänzerin verschiebt. Die zweite Tänzerin absorbiert den Impuls in ihrem eigenen Körper und nimmt den Weg der Übertragung der ersten Tänzerin zeitgleich auf, damit der Bewegungsschub auch sie in eine neue Körperposition lenken kann. In den letzten drei Schlägen des Takts verharren beide in dieser veränderten Position, bis mit dem dann folgenden Takt die zweite Tänzerin wiederum einen neuen Impuls in ihrem Körper auslöst, entlang dessen beide erneut ihre Positionen verschieben. In den Pausen zwischen diesen muskulär gepressten Impulsverschiebungen setzen beide Tänzerinnen unterschiedliche Abschlussvariationen: Verlängerung des Impulses in Drehungen, Unterbrechungen durch Sprünge oder Blockierungen und Isolationen in den Extremitäten als Ornamente. In den Variationen der Endungen vollzieht sich ein Dialog, in dem sich die Tänzerinnen im jeweils folgenden Takt auf die vorgeschlagenen Endungen antworten. In diesem mimetischen Handlungsspiel verwendet jede Tänzerin die Endung als einen gerahmten Vorschlag, der als Gesamtes erfasst werden muss, um adaptiert werden zu können. Diese gestischen Bewegungen bringen eine Differenz hervor, die die Improvisation für beide vorantreibt. Der Moment der Gemeinsamkeit manifestiert sich jedoch nicht in den Endungen, sondern in dem kurzen

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Moment der Impulsübertragung, wenn sich die räumlichen Schübe des Kraftaufwands in der Impulsübertragung zwischen beiden Tänzerinnen synchronisieren. Entlang dieses Antriebs organisieren sich ihre Bewegungen, sodass zwischen ihnen in der gleichzeitigen räumlichen Bewegung eine Entsprechung sichtbar wird. Der Schub kann in unterschiedliche Raumrichtungen abgeleitet werden, jedoch bleibt eine Verbindung nur so lange sichtbar, wie die Qualität dieses Bewegungsschubs aufeinander bezogen bleibt. Diesen Bezug können die beiden Tänzerinnen nur im wechselseitigen Abgleich erzeugen. Im Moment der Aushandlung reißt der Antrieb des Schubs der einen Tänzerin die andere mit sich, drückt sie in unerwartete Positionen und erleichtert so die Bewegungsgenerierung. In der ›Echtzeit‹-Abgleichung17 wird der Schub für beide Tänzerinnen produktiv, da keine vorhersehen kann, wohin der Körperimpuls abgeleitet wird. Es ist kein à priori abgeschlossenes Versatzstück, das als Ganzes im Raum vorher erkannt werden muss. Dabei genügt zu einer gegenseitigen Unterstützung die Übereinkunft dieser qualitativen spezifischen Impulsübertragung, ohne vorher dessen genaue Ausformung im Raum kennen zu müssen. Die zeitliche Rahmung des Takts gibt einen Rhythmus an, entlang dessen sich beide Tänzerinnen synchronisieren können.18 Als Bewegung konstituiert sich dieser Rhythmus für die Tänzerinnen im Schub der muskulären Weiterleitung des Anfangsimpulses. Der qualitativ spezifische Antrieb dieses Schubs stellt die Grundlage zur Verfügung, auf der die Aushandlung möglich wird. Es bedarf einer gemeinsamen qualitativen Bewegungsdauer – hier in Form des Schubs – , die diese Form der abgleichenden Synchronisierung hervorbringt. Am Beispiel des Bewegungssystems basse danse können demnach zwei Konzepte der Übertragung differenziert werden, mit denen die Tänzerinnen zueinander in Beziehung treten: der mimetische Dialog mittels gestischer Bewegungssequenzen sowie Synchronisierungen in qualitativen Bewegungsdauern. In seinem Buch Kunst des Kollektiven verwendet Kai van Eikels das Konzept der Synchronisierung, um Erika Fischer-Lichtes Energieübertragung in Aufführungen als eine Form der Informationsübertragung zu erklären und dessen rhythmische Affizierung umzudeuten. (van Eikels 2012: 170) Anstatt als eine Fiktion

17 ›Echtzeit‹ meint hier, dass die Tänzerinnen die Bewegung nur von Moment zu Moment, Stück für Stück miteinander entwickeln können, da Richtung und Dauer nicht vorhersehbar sind. 18 Kai van Eikels beschreibt Synchronisierung als ein Konzept der Informationsübertragung, bei dem »seine wechselseitige Wirkung das Wie und Wohin beeinflusst, aber nicht das dass.« (Van Eikels 2012: 167). Zur allgemeinen Theorie der Synchronisierung vgl. den Band Synchronization (Pikovsky/Rosenblum/Kurths 2003: 8ff.).

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von Gemeinschaft durch Energieübertragung beschreibt er die Aufführung als »irreduzible kollektive Performance eines wechselseitigen Sich-Messens und -Zumessens von Zeit.« (Ebd.) Dieses ›Sich-Zumessen‹ von Zeit wird, wie oben beschrieben, nicht über die choreografische Figur19 der Geste als Ordnungsstruktur der Informationsübertragung vollzogen, sondern über Synchronisierung in einer Bewegungsdauer, die zeitlich über einen Rhythmus organisiert und innerhalb qualitativer Parameter strukturiert ist. Für die Suche nach Bewegungen im Club, die durch Tanz diese Form von Kollektivität20 stiften, scheint es sinnvoll, der Bewegung genauer nachzugehen, die im engen Zusammenhang mit dem strukturierenden Rhythmus im Club steht: dem Bounce.

B OUNCE , B EWEGUNGSQUALITÄT

UND ENTRAINMENT

»Rhythm […] functions as a synchronizer, regulating the amounts of energy contained and communicated through both the DJ’s music and the dancer’s dancing. Underground Clubbers use the term ›vibe‹ to refer to this level of energy as it appears either through the music as a result of the DJ spinning, or through the varied yet synchronized moving bodies on the dance floor.« (Fikentscher 2000: 80)

Der dröhnende, kontinuierliche Bass in der Musik strukturiert und leitet als Bezugsrahmen das Zusammenspiel der Tanzenden. Beats als Einheit in den Groovepatterns werden von Mark Butler in Unlocking the Groove aus musikwissenschaftlicher Perspektive als grundlegende Einheiten – oder »cognitive entities« (Butler 2006: 91) – der Musik für die Cluberfahrung analysiert. Er erklärt, wie Beats zu kurzen wiederkehrenden Groovepatterns beim Techno oder House zusammengeführt und übereinandergelegt werden und so musikalisch mehrdeu-

19 Der Begriff ›choreografische Figur‹ bezieht sich – Gabriele Brandstetter folgend – auf die choreografische Gestalt einer Bewegung oder Bewegungskonfiguration, die durch ihre identifikatorische Anordnung die Bewegung markiert, strukturiert und von einem Grundmuster ablösen kann. Im Wahrnehmungsprozess verleiht die Figur der Bewegung Signifikanz, Performanz und Evidenz, wobei in einer unauflösbaren Blickbeziehung »die Sicht das Gesehene gestaltet und damit: Figur figuriert« (Brandstetter 2002: 249). 20 Kai van Eikels versucht, das für ihn problematische Konzept von der gleichmachenden Gemeinschaft durch das eines getrennten bzw. zerstreuten Kollektivs zu ersetzen. Synchronisierung kann hierin eben nur durch den Abstand von- und die Differenz zueinander produktiv werden. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden mit dem Konzept des Kollektiven arbeiten.

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tige Metrumwahrnehmungen erzeugen. Neben den scheinbar eintönigen und simplen Patterns bietet diese Musik eine überraschende, sich stets verändernde rhythmische Vielfalt, welche viele Interpretationsmöglichkeiten bereitstellt. (Vgl. ebd.: 255) Was Fiona Buckland als »throbing« und »pulsing« (Buckland 2002: 103) zum Rhythmus der Beats beschreibt, konnte ich in meiner ethnologischen Clubrecherche als ein Wippen mit den Knien oder Bounce benennen. Dieser Bounce wird meist mit dem Beat oder Off-Beat synchronisiert. Bounce kann als besondere Form eines körperlichen Rhythmuspatterns beschrieben werden, der den Körper der oder des Wippenden in eine kontinuierliche Schwingung bringt. Für den Bounce knicken die Knie kurz ein, damit das Gewicht leicht zum Boden fallen gelassen werden kann, wodurch eine elastische Spannung in den Muskeln der Beine entsteht. Im Moment der höchsten Spannung in den Oberschenkeln bleiben die Knie nicht gehalten in der Beugung, sondern die Abwärtsbewegung wird umgekehrt. Die Spannung der Muskeln entlädt sich im Auftrieb gegen die Schwerkraft, sodass die Beine ohne besonderen Kraftaufwand wieder in die Ausgangsposition hochschnellen. Kurz vor der vollständigen Streckung der Beine lässt der Auftrieb nach und sie fallen wieder in die Kniebeugung. Die Beine bleiben beim ›Bouncen‹ in dieser Bewegungsschleife, die sie in eine konstante Bewegungsqualität des Fallens und Wiederansteigens bringt. Durch eine leichte Beugung der Arme und der Wirbelsäule wird der Bewegungsimpuls an den restlichen Körper weitergeleitet, um so den ganzen Körper in eine ähnliche ›bouncende‹ Bewegungsqualität zu bringen. Hierbei wird in der stetigen Wiederholung der einzelne Fall und der Wiederanstieg unwichtig; sie sind im Zusammenspiel als Bounce untrennbar miteinander verbunden. Das Fallen und Wiederansteigen wird nicht als eine Abfolge einzelner verschiedener Teilschritte wie eine Schrittfolge oder Tanzphrase verwendet, sondern wird modular als Qualität erkennbar, die überall im Körper auftreten kann, wenn sich ein Körperteil in seine spezifische Schwingung begibt: »Emphasis [in dancing] tended to be on the continuity of energy flow and on rhythmic impulses, rather than on specific positioning of body parts.« (Ebd.) Eine spezifische Frequenz von aufeinanderfolgenden Intervallen kann als eine rhythmische Folge wahrgenommen werden, die es vermag, einen motorischen Wahrnehmungsmodus auszulösen: entrainment – die körperliche Verarbeitung von Rhythmen.21 Nach der Entrain-

21 Der Begriff ›entrainment‹, vom engl. ›to entrain‹ für einkuppeln, mitnehmen, mitreißen, bezieht sich ausgehend von der Musik- und dynamischen Systemtheorie auf Synchronisierungsphänomene und benennt die Integrierung und Verarbeitung von sinnlichen Informationen entlang verschiedener Modalitäten. In der Musik wird der Begriff vor allem für die Fähigkeit verwendet, in komplexen musikalischen Rhythmen – trotz

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ment-Theorie von Jessica Phillips-Silver et al. wird ein externer periodischer Stimulus mit einer motorischen Synchronisierung verknüpft. Wenn der Kopf – scheinbar von sich aus – beginnt, zum Beat mitzuschwingen, spricht PhillipsSilver von akustischem entrainment. (Vgl. Phillips-Silver/Aktipis/Bryant 2010: 4) Diese Synchronisierung kann entlang unterschiedlicher sensorischer Modalitäten – also nicht nur bei akustischen Informationen – erfolgen und dient der Wahrnehmungsverarbeitung zeitlicher Prozesse. Das Vermögen der menschlichen Wahrnehmung, sich vom Rhythmus mitreißen zu lassen (englisch: to entrain), soll nach Phillips-Silver v.a. eine wichtige Rolle bei komplexen Interaktion spielen, da die sensomotorische Wahrnehmung auch bei vieldeutigen und mehrschichtigen Stimuli eine gleichbleibende isochrone Abfolge herausfiltern kann. (Phillips-Silver/Aktipis/Bryant 2010: 2) »In social entrainment, mechanisms capable of sensing rhythmic sensory stimuli are activated by cues from the social environment in ways that generate coordinated behavior and can potentially lead to complex feedback loops between rhythmic information production and detection.« (Ebd.: 6) Durch die Intermodalität von Rhythmen (vgl. Brüstle et al. 2005: 16) liegt es nahe anzunehmen, dass entrainment nicht nur durch den akustischen Beat motorisch produktiv werden kann, sondern auch durch periodisch sich wiederholende Bewegungsintervalle. In Danserye wurde das Bewegungssystem BB entwickelt, welches sich aus dem spezifischen qualitativen Bewegungsintervall des Bounce ableitet. BB versucht, ein Bewegungssystem zu erzeugen, das einen dem Bounce ähnlichen, sich selbst erhaltenden Rhythmus besitzt. Im Gegensatz zum Bounce wird die Fähigkeit der Wiederholung von BB aus der Hebelwirkung der Körperhaltung abgeleitet und nicht durch den Auftrieb der Muskelelastizität. Um diese Hebelwirkung zu ermöglichen, muss Tänzer Isaac Spencer in BB seine Muskulatur leicht anspannen. Zu Beginn lockert er z.B. am Scharnierpunkt der linken Hüfte diese Stützung leicht, sodass sein Becken gedreht nach hinten gleitet. Der Oberkörper, der von der Hüfte gestützt wurde, gleitet im Zuge dessen um den Angelpunkt der Hüfte zur Seite. Bevor Spencers Oberkörper am Ende der Wendung ankommt, knickt sein Knie ein, sodass der Oberkörper in einem Richtungswechsel weitergleiten kann. Durch den Wechsel schiebt sich die andere Körperseite wie ein Hebel nach oben, was den Tänzer wieder in seine Ausgangsposition bringt. Im kontinuierlichen Spiel mit An-, Entspannung und Gewichtsverlagerung entsteht

Variationen in den Meterstrukturen der einzelnen Musikstimmen – eine motorische Synchronisierung zu einem reglär empfundenen Beat herzustellen. (z.B. ein Mitwippen zu einer mehrschichtigen Jazzimprovisation). (Phillips-Silver et al. 2010; London 2004: 11)

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eine periodische Abfolge. Im Wechsel von Stützung und lokaler Entspannung versucht der Tänzer, die Körperpositionen an den Wendepunkten durch Arretierungen nicht zu akzentuieren, sondern die gleitende, fließende Qualität hervorzuheben. Gebunden an die individuelle Anatomie und die Dramaturgie der Körperpositionen brauchen Tänzer_innen unterschiedlich lang, um kontinuierlich im Hin und Her den Bewegungsablauf zu reproduzieren und damit eine gleitende Bewegungsqualität im Körper hervorzubringen. Von mehreren getanzt, entsteht ein Rhythmenpluralismus, in dem das seitlich entspannte Gleiten deutlich hervortritt und das Zusammenspiel zwischen den Tanzenden charakterisiert. Bei dem Versuch, BB im Modus des entrainment zu betrachten, bemerke ich, dass mein Körper seitlich mitschwingt. Ich lasse mich durch das Herabsinken der Tänzerinnen und Tänzer mitreißen, verlagere mein Gewicht durch eine leichte Entspannung und gleite mit dem Oberkörper zur Seite. In der sich wiederholenden Betrachtung des gleichen gleitenden Bewegungsablaufs verfalle ich durch seine anhaltende Dauer in ein Pendeln. Das Intervall meines Pendelns folgt jedoch nicht der Zeitlichkeit einer bestimmten tanzenden Person, sondern liegt in der Frequenz bei einem Mittelwert, der im Unterschied zu den unterschiedlich langen und wechselnden Intervallen der Tänzer_innen – wie bei Phillips-Silver – meine eigene isochrone Abfolge hervorbringt. Meine Wahrnehmung synchronisiert motorisch nicht nur ein bestimmtes zeitliches Intervall, sondern vermischt die Rhythmen und bringt so ein neues, eigenes Intervall hervor. Ich synchronisiere mich nicht geplant mit den Tänzer_innen, doch wehre ich mich auch nicht gegen den Impuls, mich beim Zuschauen mitzubewegen. Das entrainment bewegt mich nicht gegen meinen Willen, sondern ich kann mir diese Kapazität des Wahrnehmungsmodus für meine Tanzbetrachtung aneignen. Für die Tänzer_innen bedeutet dieser Modus der Wahrnehmung eine Hilfestellung in der Bewegungsgenerierung. Isaac Spencer beschreibt, wie seine Improvisation durch die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer in unmittelbarer Nähe unterstützt werden kann, ohne dass er auf diese fokussiert: »If I am close to the other dancers, I can be supported by their movement. It is easier for me to keep my body in the specific gliding quality of BB, although I can never keep any dancer in my vision for long. The moments are even too short to try to copy someone else. Due to the turning of my upper body to the side, my head moves along through space. I can only catch the beginning of Debbie’s [Deborah Hofstetter’s] movement and at the end of my glide it is Lisanne that visually supports my movement quality.« (Matthias 2013)

Isaac Spencer gleicht seine Bewegungsqualität gleichzeitig mit beiden Tänzerinnen ab; aus seiner Perspektive kann er nur Teilaspekte der Bewegungen der an-

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deren wahrnehmen. In seiner Bewegung verknüpft sich das Gleiten von Hofstetters Oberkörper mit dem Hüftschwung von Lisanne Goodhue. Es ist nicht eine einzige Person mit ihrem spezifischen Rhythmus, mit der sich der Tänzer synchronisiert oder ›entraint‹, sondern das entrainment setzt sich aus Teilstücken vom qualitativen Aspekt der Bewegungen beider Mittänzerinnen zusammen. Spencer nimmt diese nicht fokussiert wahr, sondern nur aus dem Augenwinkel, und lässt sich so durch deren Bewegungen in seiner Improvisation unterstützen. Er braucht nicht die gesamte Dauer der Bewegungen zu erfassen, sondern synchronisiert sich plural mit dem homogenen Bewegungsmodus aus Kraftaufwand, Zeitlichkeit und Raumveränderung, den alle drei Tänzer_innen miteinander teilen. Innerhalb dieser Bewegungsqualität ermöglicht entrainment die Verarbeitung von Bewegungsinformationen, die jedoch nicht zu einer Reproduktion oder Adaption führt. Isaac Spencer ›vermischt‹ die wahrgenommenen Bewegungen der anderen Tänzerinnen in seiner Ausführung und auch mein Pendeln in meinem eigenen Rhythmus als Zuschauer bringt eine Differenz in der Synchronisierung hervor. Wie beim basse danse, sind es eigenständige differente Bewegungsabläufe innerhalb des Bewegungsmodus einer Bewegungsqualität. Diese modularen Bewegungsqualitäten ermöglichen die Synchronisierung und bringen gleichzeitig neue Differenzen für die weiterführende Improvisation hervor. Es scheint – vom basse danse und BB ausgehend – dass rhythmische modulare Bewegungsqualitäten im Gegensatz zu gestischen Versatzstücken mit ihrem semantischen Überschuss die Grundstruktur von entrainment in der Bewegung bilden. Das Vermögen von motorischer Synchronisierung durch die Wiederholung eines qualitativen Bewegungsmodus grenzt Bewegungsqualitäten – ähnlich eines kontinuierlichen Riffs oder Grooves als musikalische Entsprechung – als eigenständige choreografische rhythmische Struktur ein. Hieraus ließe sich ableiten, dass auch Bounce als rhythmisches Muster motorische Synchronisierungen im Club affektieren kann. Doch kann entrainment auch auftreten, wenn Tanzende ihre Bewegungen so flüssig miteinander verweben, dass keine periodisch wiederkehrenden Ereignismuster erkennbar werden? Können auch kontinuierliche Bewegungsqualitäten ohne akzentuierte Ereignisfolge – also ohne Rhythmus – entrainment hervorbringen?22

22 Martin Pfleiderer definiert musikalischer Rhythmus durch Akzente in seiner Ereignisfolge. (Vgl. Pfleiderer 2005: 353)

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C HOREOGRAFISCHER G ROOVE Der Körper der Tänzerin Deborah Hofstetter scheint sich im Bewegungssystem Allemande unendlich lang zu entwirren. Die Wucht aus dem Wurf ihres Arms endet nicht in ihrem Schultergelenk, sondern sie vermag ihn durch ihre Schulter hindurch weiterzuleiten. Der Schwung verdreht ihren Oberkörper und wird entlang ihrer Wirbelsäule ins Hüftgelenk geleitet. Dort erschöpft sich seine Wucht ebenso wenig wie an der Schulter; er wird vielmehr nach hinten umgelenkt und auf der anderen Körperseite wieder zum Oberkörper geführt. Hofstetter folgt dem Schwung mit ihrem Körper, führt ihn jedoch gleichzeitig in unterschiedliche Körperteile, um ihn als kontinuierliche Kraft in ihrem Körper aufrechterhalten zu können. Die Schubkraft der Wucht einer Bewegung tritt in diesem Improvisationssystem als Bewegungsqualität deutlich hervor, ohne dass in der Umlenkung des Schwungs Bewegungsimpulse akzentuiert werden. Allemande ist eine kontinuierliche Bewegungsqualität, die als künstliche Übersteigerung der flüssigen Verwebung von Bewegungsimpulsen in der Clubtanzpraxis angesehen werden kann. Bei der Beobachtung von Hofstetters Tanz bewege ich den Kopf. Er wird durch den der Bewegung folgenden Blick geleitet. Meine Kopfbewegung weitet sich auf meinen Oberkörper aus, bringt ihn nach einiger Zeit in eine kreisende Bewegung. Meine choreografische Arbeit im Studio mit dieser Bewegungsqualität und der Aufführung zeigen, dass Allemande ein besonderes Entrainment-Potenzial besitzt, das auch in den Aufführungen sichtbar wurde. Der Moment der Aufführung, wenn alle Tänzerinnen und Tänzer das Bewegungssystem Allemande tanzten, war der Augenblick, in dem sich in einer Reihe von Aufführungen bei einigen Zuschauer_innen eine Veränderung in ihrer Zuschauerhaltung zeigte. In der Aufführung in Freiburg fand sich z.B. eine Zuschauerin zwischen den Tänzern wieder und kreiste – ähnlich wie ich – mit.23 Doch andere Zuschauer bewegten sich nicht explizit mit, sondern positionierten sich direkt neben den Tänzer_innen, spreizten leicht ihre Arme. Anstatt die Augen auf einen spezifischen Tänzer zu richten, verharrte ihr Blick ungerichtet aber konzentriert zwischen den Körpern. In einem Publikumsgespräch in Basel erklärte mir ein Zuschauer, der sich bei der Allemande so platzierte, dass er zum ersten Mal Tanz in seinem Körper »spüren« konnte.24 Wie kann diese Aussage über die Energie-

23 Diese Beobachtung konnte ich bei der Aufführung im Stadttheater in Freiburg am 19.04.2013 machen. 24 Dieser Kommentar stammt von Ingo Starz bei der Aufführung von Danserye am 08.03.2013 in der Kaserne Basel.

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übertragungsmetapher Fischer-Lichtes hinaus differenziert und im Kontext der Grooveerfahrung erklärt werden? Bounce und das Mitwippen zur Musik kann hier zum Verständnis dieser Körpererfahrung beitragen. In der elastischen Spannung des Körpers im Bounce übertragen sich die kontinuierlich wippenden Bewegungen der Knie auf die Wirbelsäule und werden mitbewegt. Großflächig entstehen rhythmische Verschiebungen der Gelenke im Raum, die sich in der propriozeptischen Wahrnehmung manifestieren. Nach Brian O’Shaughnessy ist die Propriozeption ein eigenständiges Phänomen, welches sich von allen anderen Sinnen durch seine räumlichen Eigenschaften unterscheidet. (O’Shaughnessy 1995: 177) Die »postural/kinesthetic sensations« (ebd.: 194) ermöglichen eine Wahrnehmung der Haltung der eigenen Körperteile im Raum durch die Reizwahrnehmung der Nervenenden an Muskeln und Haut. Die Information von der Relation der Körperteile im Raum bildet sich hierbei nicht in einer kognitiven oder ›bildlichen‹ Vorstellung, sondern in einer somatischen Erfahrung ab. O’Shaughnessy stellt heraus, dass die propriozeptiven Informationen immer aus der Differenz der verschiedenen Haltungsempfindungen entstehen. Aus der Tatsache, dass eine Sportlerin oder ein Sportler immer spontan auf dieses Raumempfinden zugreifen kann – sei es z.B., um blitzschnell einem Ball auszuweichen –, zieht O’Shaughnessy den Schluss, dass diese rezessiven Informationen von den Empfindungen der Haut und den Rezeptoren in Muskeln und Gelenken immer präsent sind, jedoch nicht permanent in das Bewusstsein treten. (Vgl. ebd.: 183) Diese räumliche Haltungsbestimmung stellt O’Shaughnessy in drei unterschiedlichen Körperbildern heraus, den »short-term body images« (ebd.: 191): erstens das räumliche Bild, das der Körper aus den Informationen der Haltungsempfindungen in einem Moment tatsächlich hat; zweitens das Bild des ganzen Körpers, das zur Verfügung steht, dem aber keine Aufmerksamkeit gewidmet wird; und drittens das Wissen um die Summe aller potenziellen räumlichen Ausbreitungen des Körpers. Dadurch dass im Bounce Bewegungsimpulse von den Knien in den ganzen Körper übertragen werden, entstehen in allen bewegten Körperteilen – und nicht nur in den Knien – Haltungsverschiebungen. Im Bounce schiebt sich die propriozeptive, somatische Information über den ganzen Körper in die bewusste Wahrnehmung. Die periodische Abfolge des Fallens und Wiederaufsteigens im Bounce scheint durch die Haltungsempfindungen in der Körperwahrnehmung eine anhaltende spezifische Färbung zu produzieren, die mit der Frequenz des Bounce in Verbindung gebracht werden kann. ›Bouncen‹ wir mit einem langsamen Dubstepgroove mit, bringt dieser eine qualitativ andere Rhythmuserfahrung mit sich als ein Bounce zu einem schnellen Technogroove. Zur Erzeugung dieser Rhythmuserfahrungen muss die motorische Synchronisie-

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rung zum Beat nicht notwendigerweise als voller Bounce ausgetanzt werden. Ein leichter Schwung in der Wirbelsäule, der auch zum Mitwippen mit dem Kopf werden kann, könnte bereits diese propriozeptive Wahrnehmung und ein somatisches Empfinden der Musik erzeugen. Es wäre zu vermuten, dass diese wippenden, durch entrainment partizipativen Mikrobewegungen bereits ein ›leibliches Spüren‹, eine somatische Erfahrung hervorbringen. Entrainment von Grooves und Bewegungsqualitäten würde sich dann zuerst in einer somatischen Wahrnehmung manifestieren, bevor die synchronisierende Bewegung so explizit wird, dass sie bewusst wahrgenommen wird. Es ist dementsprechend nicht die Energie, die erspürt wird. Vielmehr ermöglicht die Teilnahme am rhythmischen Prozess im entrainment die spezifische subjektive Rhythmuserfahrung. Isaac Spencer spricht von einem spezifischen ›Code‹25 eines somatischen Empfindens, die er versucht als Referenzpunkt überall in seinem Körper zu reproduzieren und so Allemande als Bewegungsqualität hervorbringt. Dieser Code ist mit einem bestimmten Kraftaufwand, einer Zeitlichkeit und Räumlichkeit verbunden; seine somatische Empfindung gibt Auskunft darüber, ob der Kraftaufwand für die korrekte Ausführung von Allemande z.B. zu hoch ist, sodass der Ablauf verzerrt werden würde. Dieser Code kann als Körpermilieu gedacht werden. Deleuze und Guattari haben sich in Bezug auf das Ritornell eingehend mit dem Rhythmusbegriff beschäftigt, wobei hier v.a. ihre Überlegungen zur Codierung hilfreich erscheinen. Für sie ist »jedes Milieu codiert, wobei der Code durch die periodische Wiederholung bestimmt wird.« (Deleuze/Guattari 1974: 427)26 In der kommunizierenden Transcodierung von Milieus – im Raum zwischen den Milieus – verorten Deleuze und Guattari den Rhythmus: »Rhythmus gibt es, sobald es einen transcodierten Übergang von einem Milieu zum anderen gibt, also die Kommunikation von Milieus, die Koordination von heterogenen Zeiträumen.« (Ebd.) Mit Deleuze und Guattari kann die Bewegungsqualität Allemande, die mit den Übergängen und Umlenkungen des Schubs verschiedene Spannungsmilieus im Körper erzeugt, als ein rhythmisches Muster angesehen werden. So können Bewegungsqualitäten und deren periodische Wiederholung

25 Spencer erläuterte diese Erfahrung bei der Vermittlung des Bewegungssystems Allemande beim ›Open Practice‹ an der Gessnerallee Zürich am 04.07.2013. 26 »Jedes Milieu vibriert, das heißt, es ist ein Block aus Raum und Zeit, der durch die periodische Wiederholung der Komponenten gebildet wird. So hat das Lebendige ein äußeres Milieu aus Materialien, ein inneres Milieu aus zusammensetzenden Elementen und zusammengesetzten Substanzen, ein Zwischen-Milieu aus Membranen und Grenzen und ein annektiertes Milieu aus Energiequellen und WahrnehmungenHandlungen.« (Ebd.)

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eine Ordnungsstruktur zur Verfügung stellen, die entrainment und eine somatische Erfahrung ermöglichen. Ich möchte die These aufstellen, dass das entrainment von Bewegungsqualitäten – wie vom Bounce oder von den flüssigen Impulsübertragungen – den vorherrschenden Wahrnehmungsmodus beim Clubtanz darstellt und Clubber mit motorischer Synchronisierung am Tanz anderer partizipieren. Über den Modus von entrainment treten Tanzende im Club in Beziehung zueinander. Periodische Sequenzen mit einem qualitativen homogenen Zusammenhang – Bewegungsqualitäten – stellen die Elemente der Ordnungsstruktur für die Wahrnehmung im entrainment zur Verfügung.27 Im Tanz werden die Bewegungsqualitäten in der nahen Umgebung nicht nur von der oder dem einzelnen Tanzenden motorisch aufgenommen. Die Qualität von Armen, Oberkörpern und anderen Körperteilen weiterer Tanzender verknüpft sich im Körper der oder des Einzelnen zu einer eigenen Bewegungsvariante ähnlicher Ausprägung, ohne dass die wahrgenommenen Bewegungen zuvor bewusst gemischt oder als Muster erkannt werden müssen. Indem der oder die Tanzende diese Bewegungsqualitäten in der Wahrnehmung motorisch synchronisiert und so in veränderter Form dem Rhythmuspluralismus der Tanzenden wieder beisteuert, entsteht eine Feedbackschleife, die den Tanzenden immer wieder die nötige Differenz für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Improvisation zur Verfügung stellt. Das ›Sichtbarmachen‹ des Wahrnehmungsprozesses im entrainment kann als eine Art Veröffentlichung und Filterung der Informationen des Wahrgenommenen gedacht werden, das neue Informationen für eine plurale Verknüpfung zur Verfügung stellt. Diese autopoietische Feedbackschleife variiert die körperliche Rhythmuserfahrung und manifestiert sich in einer subjektiven somatischen Dramaturgie. »Among all the challenges a group faces, one that is extremely subtle yet fundamental to its travels is a feature of group interaction that requires the negotiation of a shared sense of the beat, known in its most successful realization, as striking a groove.« (Berliner 1994: 349)

27 Walter Benjamin beschreibt am Beispiel des Verfalls der Aura, dass die »Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt« (Benjamin 1974: 478) ist. Im Sinne Benjamins verstehe ich Bewegungsqualitäten als die Form der Organisation, die die sinnliche und eben motorische Wahrnehmung strukturieren und so hervorbringen kann.

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Paul F. Berliner formuliert für den Bereich der Jazzimprovisationen, dass Groove in der gemeinsamen Gruppeninteraktion als eine »rhythmische Matrix« (Widmaier 2004: 1) angesehen werden kann. Das Konzept von musikalischem Groove im Jazz zielt auf eine produktive Verknüpfung unterschiedlicher Rhythmen, die mit einer »motionalen« (Butterfield 2010: 173) Qualität als »ästhetisches Ideal« (Monson 1996: 201) verbunden ist. Bewegungsqualitäten verorten sich wie Groove zwischen einem periodischen Pattern und einer qualitativen Erfahrung bei der Erzeugung komplexer Rhythmen. In diesem Sinne schlage ich das Konzept des choreografischen Groove vor, in dem Bewegungsqualitäten – wie Groovepatterns in der Musik – als Ordnungsstruktur fungieren. Es wäre dann nicht die ›kollektive Energie‹, die von einem Tanzenden zum anderem ›fließt‹; vielmehr bringt die partizipative Wahrnehmung durch entrainment neue Bewegungsrhythmen hervor, welche als choreografischer Groove von sich überkreuzenden Rhythmusinformationen die Clubnacht als subjektiv erlebtes, somatisches Ereignis kollektiv erzeugen. »Die Frage nach der zeitlichen und räumlichen Form eines Kollektivs betrifft Dynamiken, die die Bestimmung dessen, was Gegenwart heißt, immer wieder erst mit hervorbringen«. (van Eikels 2012: 176) Durch die Bindung an den eigenen Körper und seine subjektiven Handlungen entsteht eine singuläre Rhythmuserfahrung, die durch die Dynamiken des choreografischen Groove aus der Versammlung der Tanzenden emergiert. Bewegungsqualitäten als periodische Organisation von entrainment bieten die Möglichkeit der gleichzeitigen Veräußerung und Öffentlichmachung des Akts der Wahrnehmung. Sie sind die Ordnungsstruktur, mittels derer die oder der Wahrnehmende im Club bereits im Wahrnehmen von Tanzinformationen selbst neue Tanzinformationen bereitstellt. Diese wiederum prägen das Ereignis mit und machen aus einer Ansammlung Tanzender eine Versammlung. Während ein Erkennen der Geste als signifikantes Versatzstück in der dialogischen Kommunikation eine Rollenverteilung von Sender_innen und Empfänger_innen voraussetzt, kann im entrainment empfangen und gleichzeitig gesendet werden. Dies wirft auch einen anderen Blick auf zeitgenössische Choreografie als Versammlung. Die Zuschauerin, die in Freiburg in der Allemande mitschwang, oder der Zuschauer, der sich in Basel explizit neben die Tanzenden stellte, wurden in ihrer handelnden Wahrnehmung auch zum Sender von Informationen – ohne dabei jedoch zum Performer werden zu müssen. Durch die offene Bühnensituation der Installation in Danserye können hier auch kleine und unscheinbare Bewegungen den Blick vom Tanz der Performer_innen ablenken28 oder durch

28 Ich folge hier einem Gedankengang, den Kai van Eikels in Bezug auf den Ausstellungsraum vorgestellt hat: »Geht man im Erlebnis der eigenen Ablenkung und Um-

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die motorische Synchronisierung von Bewegungsqualitäten zum Rhythmuspluralismus der Performer beitragen. Nicht nur die Tänzer_innen werden von diesen Bewegungen in ihren choreografischen Entscheidungen beeinflusst, auch für andere Zuschauende können die veröffentlichten Bewegungen zu differenzierten Wahrnehmungsstrategien und Handlungen führen. So werden die Zuschauerinnen und Zuschauer in den verschiedenen Manifestationen ihrer Wahrnehmung auch Teil des Ereignisses der Aufführung. Durch Bewegungsqualitäten in ihrer periodischen, entrainment ermöglichenden, choreografischen Anordnung kann choreografischer Groove – nicht nur in Clubs – die Performance von Tanzenden und Rezipierenden zu einer Versammlung machen. Auf der Grundlage dieses Denkmodells kann eine Perspektive erschlossen werden, die das, was an der Metapher der Energieübertragung von Versammlungen im Theater, so wie sie Fischer-Lichte aufwirft, vage bleibt, ausdifferenziert und die Besonderheit der Kopräsenz verdeutlicht. Kopräsenz ermöglicht die Sichtbarkeit des veröffentlichten Wahrnehmungsprozesses und bedingt damit die Möglichkeit einer Partizipation und Wirkungskraft des Zuschauers. Im Rhythmenpluralismus des wechselseitigen Informationsaustauschs der Teilnehmenden wird choreografischer Groove somatisch spürbar. Im Wahrnehmungsmodus des entrainment stellt jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer während der Rezeption Bewegungsinformationen zur Verfügung, die im Zusammenspiel das Ereignis der Versammlung mithervorbringen. Durch Bewegungsqualitäten als Ordnungsstruktur der Wahrnehmung können Bewegungen für Versammlungen konstitutiv werden.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

Arbeau, Thoinot (1980): Orchésographie, Hildesheim. Benjamin, Walter (1974): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung), in: Walter, Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2, hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M., S. 471-508.

lenkung nur ein wenig weiter, […] so dringt die Beliebigkeit derjenigen, die im ZeitRaum der Ausstellung anwesend sind und auf ihren verschiedenen, mitunter beiläufig ähnlichen Bahnen an den Bildern vorbei, um sie herum und zwischen ihnen hindurch manövrieren, in die Konstitution dessen, was Kunst heißt, selbst ein.« (van Eikels 2012: 188)

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Kommen und Gehen Zur leiblichen Verfasstheit der Versammlung im ersten Teil von Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda

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E INTRETEN Der große Saal des Frascati Theaters in Amsterdam wird über zwei Zugänge betreten. Einmal über das kleine Foyer auf der Vorderseite des Gebäudes, wo sich auch die Abendkasse befindet. Zum anderen durch das Café um die Ecke vom Foyer, wo man Freundinnen und Freunde trifft und noch schnell etwas trinkt, bevor die Vorstellung beginnt. Öffnen sich die Türen zum großen Saal, treffen sich die zwei Menschengruppen aus Café und Foyer in einer dunklen Seitengalerie. Viele kennen sich, grüßen einander, wechseln das eine oder andere Wort, hängen vielleicht noch ihre Jacken oder Mäntel an den bereitstehenden Kleiderständern auf und gehen dann durch einen Spalt in einem schwarzen Vorhang, der direkt hinter ein paar Säulen hängt, in den Saal. Die Bühne befindet sich rechts auf dem Niveau der Galerie, während die Publikumstribüne nach links hin ansteigt. Als ich am 24. März 2010 mit ca. 100 weiteren Gästen in die Seitengalerie eintrete, komme ich aus dem Foyer. Der Saal liegt links von mir. Zunächst muss ich ein paar Meter durch die Seitengalerie an den schwarzen Vorhängen vorbei, die die Publikumstribüne verhängen. Die Vorhänge, die normalerweise die Bühne von der Seitengalerie abschirmen, scheinen sehr viel weiter geöffnet als sonst. Lichtschein fällt von der Bühne auf die aus dem Café kommenden Zuschauer_innen. Ihre Aufmerksamkeit ist auf ein Geschehen gerichtet, das ich aus meiner Perspektive noch nicht erkennen kann. An der Bühne angekommen, sehe ich, dass die Vorhänge zwischen Bühne und Seitengalerie nicht nur weiter geöffnet sind, sondern gar nicht hängen.

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Ich blicke auf weißen Tanzboden, auf dem vier Tänzer_innen in einem leichtfüßigen Gleichschritt und gegen den Uhrzeigersinn im Kreis gehen. Der Raum ist, für eine Bühne zumindest, spärlich beleuchtet. Lediglich ein Rund von etwa acht Metern Durchmesser in der Bühnenmitte ist erhellt. Die Aufgänge zur Publikumstribüne sind abgesperrt. Sofort ist klar, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sich das Bühnengeschehen nicht von ihrer gewohnten Position auf der Tribüne aus anschauen, sondern den Bühnenraum mit den gehenden Tänzer_innen teilen sollen. Also verteilt sich das Publikum, statt sich wie gewohnt auf seine Sitzplätze zu begeben, rund um den Lichtkreis, um dem ersten Teil von Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda, Radial Courses beizuwohnen.

S ICH -V ERSAMMELN Das Theater bringt Menschen zusammen, es ist Ort einer »realen Versammlung« (Lehmann 1999: 12). Dabei erzeugt eine Aufführung unter und zwischen den Anwesenden Empfindungen, Gefühle, Assoziationen und Bedeutungen, die teilweise auch kommuniziert werden. Für ihre Aufführungsuntersuchung bringt Erika Fischer-Lichte John L. Austins Begriff der Performativität als Wirklichkeit konstituierende Handlung (vgl. Fischer-Lichte 2004: 31-35) sowie Judith Butlers Verständnis einer durch performative Akte konstituierten Identität im Prozess der Verkörperung (vgl. ebd.: 36-39) in Anschlag. Eine solche verkörpernde »Performativität führt zu Aufführungen« (ebd.: 41), wobei es jedoch »die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern [ist] [...], welche die Aufführung konstituiert« (ebd.: 47). Letztere ereignet sich zwischen den Anwesenden und wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht. (Vgl. ebd.: 47) Dieser Vorgang geschieht in der von Fischer-Lichte so genannten »autopoeitischen feedbackSchleife«, einem selbstbezüglichen offenen System der Kommunikation zwischen Performer_innenhandlung und Reaktion der Zuschauenden mit unvorhersehbarem Ausgang. (Vgl. ebd.: 61) Die leibliche Versammlung im Theater ist zwar nicht uneingeschränkt steuerbar, nichtsdestotrotz stellt sie etwas her, nämlich die Aufführung. Dieses Verständnis von Aufführung bzw. Performance als ein Prozess der Herstellung im Sinne einer Poeisis wird von Kai van Eikels hinterfragt. Aristoteles folgend unterscheidet er in Die Kunst des Kollektiven zwischen Praxis, einem politischen Handeln, das sein Ziel in der Verwirklichungsbewegung habe, und Poeisis, dem Herstellen eines Produkts, und bezieht diese Unterscheidung auf den Begriff der Performance. (van Eikels 2013: 29) Er stellt dabei eine »Intelligenz des Herstellens« und eine »des Vollziehens« (ebd.) fest und kommt so auf die »Fährte eines Nachdenkens über die eigentümliche Freiheit des Vollziehens«. (Ebd.: 33) Das

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Theater, in dem Performances stattfinden, wird zu einem Ort, an dem »verschiedene Richtungen der Verwirklichungsbewegung und verschiedene Haltungen im Verwirklichen« wahrgenommen und erprobt werden. (Ebd.) Die Versammlung im Theater möchte ich so als ein Zusammenkommen von Menschen verstehen, die als Akteur_innen oder als Zuschauende einer Performance beiwohnen, während sich ihr Zusammensein im Verlauf der Aufführung in unterschiedlichen Richtungen von Verwirklichungsbewegungen ausdifferenziert. Es handelt sich um eine Versammlung der Vollziehenden eben nicht nur der – in Aktion und Affizierung – herzustellenden Effekte der Inszenierung, sondern vielmehr der in den unterschiedlichen Handlungen und Wahrnehmungen des Geschehens zu verwirklichenden Zusammenkunft. Dabei befinden sich die Anwesenden in Zuständen erhöhter Aufmerksamkeit, welche sich sowohl auf die Körper der anderen wie auch auf den jeweils eigenen Körper beziehen. (Vgl. Fischer-Lichte 2004: 291) Mich interessiert in der vorliegenden Untersuchung der Versammlung im Theater v.a. die Frage nach dem, was Fischer-Lichte daran als „Unverfügbarkeit« (ebd.: 274) bezeichnet: die ästhetische Erfahrung der Aufführung als Erleben eines Zwischen und einer Instabilität. Ist es möglich, diese Unverfügbarkeit näher zu betrachten und sie in einigen Momenten einer Aufführung, bzw. in der Erinnerung an diese, genauer zu verstehen und so doch für ein eingehenderes Verständnis der Erlebensweisen einer Aufführung verfügbar zu machen? Fischer-Lichte attestiert den Zuschauenden, dass sie während einer Aufführung beständig zwischen der Ordnung der Repräsentation, also der Ordnung der geplanten und gelesenen Bedeutungen, und der Ordnung der Präsenz, also der Ordnung der leiblich wahrgenommenen und beständig emergierenden Gestalten, Atmosphären und Gefühle, hin und her oszillieren. (Vgl. ebd.: 260) Auch erwähnt sie in der Analyse eine durch die präsenten Schauspieler freigesetzte Energie, die für alle spürbar sei. (Vgl. ebd.: 289) Eine Analyse, wie die Energie freigesetzt und wahrgenommen wird, bleibt jedoch aus. Zwar werden immerhin die Wirkungsweisen der Energie während einer Aufführung eingehend in Bezug auf die Momente der Destabilisierung der Zuschauerwahrnehmung durch bestimmte Inszenierungseffekte zum Zweck der Verwandlung untersucht. (Vgl. ebd.: 340f.) Doch sind Performances bzw. die darin gebrauchten und zur Geltung kommenden Organisationsprinzipien „nicht bloß Mittel zur Veränderung, sondern die Wirklichkeit ihres Stattfindens« (van Eikels 2013: 33). Was also passiert, wenn man die Unverfügbarkeiten, die sich in und zwischen den Anwesenden entspinnen, in ihrem Stattfinden auch unabhängig von Verwandlungsmomenten genauer untersucht und differenziert? Wenn man den Ordnungen der Repräsentation und der Präsenz eine dritte Ordnung hinzufügt und in ihren Wirkungsweisen betrach-

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tet, nämlich die der Leiblichkeiten, die eben nicht nur Präsenz erzeugen und Verwandlung ermöglichen, sondern auch Bewegung hervorrufen, nämlich in den und durch die bewegten und sich bewegenden Leiber?1 Mit diesen Fragestellungen möchte ich aus meiner Perspektive des zuschauenden Choreografen und mit meinem spezifischen Interesse an den Materialitäten einer Aufführung und deren Organisation den Blick für eben diese Materialitäten und dafür, wie diese mit den Materialitäten der agierenden und wahrnehmenden Leiber kommunizieren, schärfen. Methodisch geht es mir so nicht nur um eine Aufführungsanalyse von Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda, sondern auch um eine Beschreibung des von mir leiblich Erlebten in Bezug auf die Aufführung. Dazu arbeite ich mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung aus der Soziologie (vgl. Flick 2011: 287f.), die ich im vorliegenden Fall auf ein Beobachtungsprotokoll stütze, das ich am Tag nach dem Aufführungsbesuch angefertigt habe, sowie auf ein Video der Premiere, das ich zur Verifizierung von genauen Abfolgen der Performance heranziehe. Ich werde einzelne Momente aus dem Gesamtgeschehen isolieren, um so Aspekte von Leiblichkeit exemplarisch zu beschreiben und zu analysieren. Dabei greife ich auf meine Erfahrungen als Tänzer und Choreograf von eigenen Tanzstücken zurück und beziehe mein körperlich-leibliches Erleben der Aufführung in die Untersuchungen mit ein. Der von mir hierzu verwendete Leibbegriff stützt sich v.a. auf den von Thomas Fuchs, den er in Bezug auf unterschiedliche Räumlichkeiten definiert.2

1

Kai van Eikels bringt in seiner Kritik des Gebrauchs des Energiebegriffs bei FischerLichte die Begriffe ›Information‹ und ›Organisation‹ ins Spiel, um eine solche Differenzierung vorzunehmen. (Vgl. van Eikels 2013: 165f.) Während Kai van Eikels den Begriff ›Information‹ unter materiellen Gesichtspunkten betrachtet, möchte ich mit einem Beharren auf dem Begriff der Leiblichkeit die motorischen sowie die physiologischen Aspekte des Vollziehens unterstreichen.

2

Diese Untersuchung ist der erste Schritt meiner künstlerischen wie auch wissenschaftlichen Forschungen zu der Frage, wie Versammlungen und ihre Räume in und durch Performance leiblich konstituiert werden. Dabei fokussiere ich auf Performances, deren Grundmaterial das Gehen ist, da Gehen sowohl eine Alltags- als auch eine künstlerische Praxis darstellt und sich so eignet, das mit der leiblichen Konstitution von Versammlung und ihren Räumen ins Spiel kommende Thema der Teilhabe auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren. Zum einen im Sinne eines gemeinsamen Handelns von Akteur_innen und Publikum, das in Aktion selber zum Akteur wird, zum anderen im Sinne eines Wahrnehmens als Teilnehmen im Zuschauen, das so als Handlung verstanden wird. Für meine Forschungen wähle ich zunächst den relativ überschaubaren Rahmen einer Performance wie 2: Dialogue with Lucinda im Theaterraum mit den

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Die Problematik des Leibs in Bezug auf den Seele- und Geistbegriff beschäftigt die abendländische Philosophie bereits seit Platon. (Vgl. Müller/Halder 1988: 170f.) Mit Edmund Husserls phänomenologischer Methode der ›Epoché‹ – d.h. der schrittweisen Reduktion von Vorurteilen über den Betrachtungsgegenstand, um zu Erkenntnissen über den betrachteten Gegenstand selbst zu gelangen – wird der Leib in Abgrenzung zum Körper als in den »Empfindnissen« Gegebenes verstanden. (Vgl. Fuchs 2000: 45) Der Leib wird demnach in Erfahrungen wie Schmerz oder Hunger als innerlicher Raum mit spürbaren »Leibinseln« erfahren, die zu restriktiven wie auch zu expansiven Tendenzen neigen können. (Vgl. ebd.: 102)3 In Vorgängen wie der Atmung oder der Einverleibung und dem Ausscheidung von Nahrung werden diese Tendenzen in beständigen, rhythmischen Wechseln erlebt. (Vgl. ebd.: 104) Auch im Tasten, so Thomas Fuchs, erfährt der Leib einerseits seine expansive Tendenz in Relation zum Umraum, der andererseits aber auch Widerstände bietet, anhand derer der Leib seine Grenzen und restriktiven Tendenzen (im Zurückziehen einer Hand) erfährt. (Vgl. ebd.: 110) Im Ertasten einer Hand mit der anderen erfährt sich der Mensch selbst als gleichzeitig berührend und berührt, was Husserl als ›Doppelempfindung‹ bezeichnet. (Vgl. ebd.) Darin liegt die »phänomenale Basis für die Identifizierung von zuständlichem Leibglied, also der absolut gegebenen ›Leibinsel‹ der Hand einerseits und gegenständlichem Körperglied, der tast- und sichtbaren Hand andererseits«. (Ebd., Herv. i.O.) So basiert Erfahrung auf dem beständigen Wechsel zwischen Leib- und Körpererfahrung. Die Übergänge sind dabei fließend. Die Grenzen dazwischen sind markiert durch innere Widerstände wie Schmerz, Verletzung oder Krankheit, in denen der zuvor selbstverständlich gelebte Leib in seiner Trägheit und Müdigkeit zum schweren, materiellen Körper wird; durch Situationen, in denen man von außen betrachtet wird und sich der eigenen Ding-

üblichen Rollen von Akteur_innen und Zuschauenden, mit mir als Zuschauer, um hier das zu untersuchende Feld mit den darin befindlichen Grundbegriffen abzustecken. Für den weiteren Verlauf plane ich, Performances draußen und mit Zuschauerpartizipation zu untersuchen. 3

»Ausgangspunkt ist [für Herrmann Schmitz] also das von Sehen, Hören und Tasten unabhängige Spüren des eigenen Leibes in Form etwa von Hunger, Durst, Schreck, Wollust, Müdigkeit, Frische, Ein- und Ausatmen, Spannung, Druck oder Schmerz […]. Im Spüren präsentiert sich der Leib als ein lockeres Ensemble unscharf umrissener ›Leibinseln‹ […], die mehr oder weniger stark hervortreten können, manchmal ineinander verfließen oder auch ganz verschwinden.« (Fuchs 2000: 73f.)

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haftigkeit in Form des Körpers bewusst wird, wie bspw. beim Arztbesuch; und beim Erlernen und Ausführen von Fertigkeiten, bei denen man aus der Unmittelbarkeit seiner Leiblichkeit heraustritt und den Leib als Körper instrumentalisiert. (Vgl. Fuchs 2000: 123) Es ist zugegebenermaßen nicht unproblematisch, die Leiblichkeiten einer Aufführung im Rückblick untersuchen zu wollen. Schließlich müssen sie hierzu betrachtet und reflektiert werden, was der obigen Definition von Leiblichkeit in Abgrenzung zum Körper widerspricht. Die Unmittelbarkeit, die den Leibern zugesprochen wird, muss vermittelt werden, will man sie untersuchen. Doch lässt sich die Unmittelbarkeit des Leibs durch eine Betrachtung der fötalen Entwicklung ausdifferenzieren: Nach Bonnie Bainbridge Cohen entwickeln sich im Nervensystem des Fötus zunächst die Nervenbahnen, die die fötalen Bewegungen im Mutterleib registrieren. Empfindungen entstehen hiernach nicht zuerst durch Berührung, sondern durch Bewegung, (vgl. Bainbridge Cohen 1993: 115) und sie existieren nicht als unvermittelte bzw. passiv erlebte, energetische Geschehen.4 Leibliche Wahrnehmungen bzw. die Wahrnehmungen des Leibs sind also eng mit dessen Bewegungen verknüpft. Damit eröffnet sich ein Raum, in dem die vermeintliche Unmittelbarkeit von Leiblichkeit durch den Begriff der Bewegung vermittelbar wird. Während in der Medientheorie die Medialität von geschauter Bewegung z.B. einer Tanzvorführung unumstritten ist, (vgl. Buhre 2013: 262f.) soll in meiner Untersuchung der Versuch unternommen werden, auch Eigenbewegungen medial zu verstehen. Diese werden zwar nicht gesehen, aber doch in Propriozeption, Kinästhesie und Gleichgewichtssinn empfunden, d.h. also wahrgenommen.5 Der Leib erschließt sich uns nicht direkt, sondern

4

Bainbridge Cohen bezieht sich im zitierten Text zwar nicht explizit auf die Problematik von Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit des Leibs, formuliert jedoch klar, dass es kein Empfinden ohne die Aktivität der Bewegung gibt: »The Vestibular Nerves begin to myelinate in utero by registering the movement of the fetus and its environment (mother). That the Vestibular Nerves myelinate first indicates that they perform the first essential function for survival – before the need for registering touch to the head, taste, smell, hearing and vision. This indicates we learn first through the perception of movement. Not only is movement a perception, but as the first perception of learning, it plays an important role in establishing the baseline for our concept or process of perceiving.« (Bainbridge Cohen 1993: 115)

5

Auch hierzu Bainbridge Cohen: »The vestibular mechanism located in the inner ear receives information from the proprioceptors, interoceptors and kinesthetic receptors throughout the body and from gravity, space and time. The proprioceptors and kinesthetic receptors in the bones, joints, ligaments, muscles and fascia, tell us where each

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über seine Bewegungen, die sich unserer Wahrnehmung, die ihrerseits als Bewegung z.B. der Augen verstanden werden kann, mitteilen. Der sonst unmittelbare und nicht zu vermittelnde Leib kann so in vermittelbare, differenzierte Beziehungen treten zu den Medialitäten und Mediatisierungen einer Aufführung (vgl. Matzke 2013: 374) und denen einer Versammlung. (A-Z der transdisziplinären Forschung 2014: Versammeln)

S ICH -E RINNERN Im sechsten Kapitel der Ästhetik des Performativen geht Erika Fischer-Lichte u.a. der Frage nach, ob sich Aufführungen verstehen lassen. (Fischer-Lichte 2004: 270-283) In einer Fußnote führt sie Daniel L. Schacters dreifachen Unterscheidung des Gedächtnisses an: »das episodische Gedächtnis, mit dessen Hilfe wir bestimmte Vorfälle aus unserer persönlichen Vergangenheit erinnern; das semantische Gedächtnis, das weitgespannte Netz aus Assoziationen und Konzepten, das unserem allgemeinen Weltwissen zugrunde liegt; und das prozedurale Gedächtnis, mit dessen Hilfe wir Fertigkeiten lernen können und dem wir entnehmen, wie wir die vielen Tätigkeiten ausführen, auf die wir in unserem Alltag angewiesen sind. « (Schacter 2001: 222, Herv. i.O.)

Fischer-Lichte übergeht in ihrer Analyse der Verständnismöglichkeiten einer Aufführung explizit das prozedurale Gedächtnis. Sie spricht ihm zwar eine große Bedeutung für Schauspieler_innen und Performer_innen zu, die durch wiederholtes Üben ein Körpergedächtnis in Form motorischer Patterns für ihre Rollen bzw. Performances aufbauen müssen. »Für den Versuch, eine Aufführung nachträglich zu verstehen, spielt es jedoch eine eher marginale Rolle.« (FischerLichte 2004: 277) Damit wird jedoch ausgeklammert, dass ich mich auch als Zuschauer während einer Vorstellung ständig bewege. Diese Bewegungen sind oft spontan und aktualisieren keine eingeübten Bewegungsmuster in ihrer Gänze. Oft finden sie auch nicht in direkter Reaktion auf die Wirkungen der Aufführung statt. Doch liegen ihnen immer eingeübte Bewegungen zugrunde. So wird die »gemeinsam geatmete Luft« (Lehmann 1999: 12) in der eingeübten Atembewe-

part is in relation to the other parts, where each part is in space, and their quality of rest and activity.« (Ebd.) Sie fügt meiner Liste die Interozeptoren hinzu, die sich in den Organen, Drüsen, Blut- und Lymphbahnen sowie in den Nerven befinden und uns mitteilen, wo sich diese inneren Körperteile befinden und ob sie sich bewegen oder nicht – eine Art innerer Tastsinn. (Vgl. ebd.)

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gung ausgetauscht. Augenbewegungen folgen eingeübten Mustern im Raum und stehen in beständiger Kommunikation mit unseren Erinnerungen an Tast- und Raumerfahrungen, anhand derer Elemente wie Volumen und Abstände von Körpern ermessen werden können. (Vgl. Noe 2004: 72f.) V.a. aber liegen den emphatischen Neigungen der oder des Zuschauernden nicht nur episodische und semantische Erinnerungen zugrunde, sondern eben auch motorische, die es mir bspw. erlauben, einen bestimmten Bewegungsablauf einer Performerin oder eines Performers durch mein »Körpergefühl innerlich nachzubilden« (FischerLichte 2004: 54). So ist das Gehen der vier Tänzer_innen im ersten Teil von Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda ein mir hinlänglich bekannter motorischer Ablauf, den ich nicht nur beim Eintritt in den großen Saal des Frascati Theaters am 24. März 2010 aus meinem prozeduralen Gedächtnis abrufe. Im Verlauf des 19-minütigen Stücks werden mich mein Wissen über das Gehen und meine Erfahrungen damit dazu befähigen, an der Performance teilzuhaben und im übertragenen Sinn mit den Performer_innen mitzugehen. 2: Dialogue with Lucinda ist ein Abend, der zwei Remakes von Arbeiten Lucinda Childs’ beinhaltet: Radial Courses (1976) und Interior Drama (1977). Auf gewisse Weise ist er also ein Abend, an dem etwas erinnert und aktualisiert wird. (Vgl. Nachbar 2003: 93) Er wurde von der in München geborenen Choreografin Nicole Beutler entwickelt, die seit 1993, dem Beginn ihres Studiums an der School for New Dance Development, in Amsterdam lebt und arbeitet. Nachdem sie mit Les Sylphides (2008) ihre Version des Ballettklassikers des russischen Choreografen Michael Fokine von 1908 vorgelegt hat, erarbeitet sie 2010 zwei Remakes von Klassikern des postmodernen Tanzes der US-amerikanischen Choreografin Lucinda Childs, die dem Judson Dance Theater angehörte. Childs stieß 1963 zu dieser Gruppe New Yorker Künstler_innen, die von 1962 bis 1964 über 200 Tänze aufführten. Die Künstler_innen der Gruppe entwickelten Bewegungsästhetiken, die u.a. die Alltagswelten in das Bewegungsund ästhetische Repertoire mit aufnahmen. (Vgl. Fischer 2011: 222-225) So zeigt Childs’ Carnation (1964) »eine absurde Konstellation aus verschiedenen Haushaltsgegenständen, die in […] choreographierten Aktionen benutzt werden« (Huschka 2002: 264). In Radial Courses (1976) arbeitet Childs ohne Objekte aus dem Alltag, aber mit der Alltagsbewegung des Gehens. In dem Stück sind vier Tänzer_innen in drei Sequenzen zu sehen, die das grundlegende Bewegungsthema in Sprüngen und Drehungen in einer beständig sich verschiebenden kreisförmig angelegten Choreografie variieren. Es entsteht ein Kontrast zwischen dem einfachen Gehen und seiner exakten, durchchoreografierten Phrasierung, die Ersteres aus seiner Alltäglichkeit heraushebt und u.a. in seiner Rhythmik intensiviert.

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In meiner Untersuchung beschränke ich mich auf die Version Nicole Beutlers.6 Diese Beschränkung hat zwei Gründe: Zum einen möchte ich mit der vorliegenden Untersuchung keinen Beitrag zur Diskussion um die Themen Rekonstruktion und Aneignung von Stücken im Tanz leisten,7 sondern mich auf die Analyse der weiter oben erläuterten Aspekte konzentrieren. Zum anderen sind gerade die Eingriffe Nicole Beutlers in Lucinda Childs’ Choreografie interessant für eine Untersuchung der leiblichen und körperlichen Aspekte einer Aufführung als Versammlung im Theater. Beutler hat, wie oben bereits beschrieben, die ursprüngliche Raumaufteilung von Tanzenden auf der Bühne und Zuschauenden im Zuschauerraum zugunsten einer von allen geteilten Bühne aufgegeben und so die sonst übliche Distanz zwischen Zuschauer- und Bühnenraum verringert. Zudem hat sie damit gearbeitet, dass einzelne Tänzer_innen die Choreografie verlassen, um ihr Tun zu kommentieren oder einander zuzuschauen. Beutler war es wichtig, »dass die Zuschauer […] auch die Arbeit, das Körperliche, das Zählen miterleben; lernen, wie es vielleicht funktioniert; die Konzentration der Tänzer begreifen, in der Wiederholung nicht in die Irre zu geraten; den Wind spüren« (aus einer E-Mailkorrespondenz mit der Choreografin, 2. September 2013). Über dieses Miterleben und Spüren möchte ich im Folgenden anhand von vier Momenten, an die ich mich aus der Aufführung vom 24. März 2010 erinnere, eingehender sprechen. Zunächst aber zur grundlegenden Bewegung von Radial Courses.

6

Der Übersichtlichkeit halber werde ich im weiteren Verlauf mit Radial Courses nicht Lucinda Childs’ Arbeit, sondern ausschließlich die Version von Nicole Beutler benennen.

7

Zu Rekonstruktion im Tanz siehe u.a. Tanzgeschichte und Rekonstruktion (Gehm/Husemann/Wilcke: 2007). Sowie die Website des Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes: http://www.tanzfonds.de/de/artikel/salon-tanzerbe. Außerdem folgende Artikel: Lepecki, André (2010): The Body as Archive: Will to Re-Enact and the Afterlives of Dances, in: Dance Research Journal 42, S. 28-48; Bleeker, Maike A. (2012): (Un)Covering Artistic Thought Unfolding, in: Dance Research Journal 44, S. 13-26.

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G EHEN Gehen ist, wie Ralph Fischer feststellt, »eine genuin menschliche Eigenschaft […]. Aus anthropologischer Perspektive kann die Aufrichtung der Körperachse und die Emergenz der zweibeinigen Fortbewegung […] als Urakt der Menschwerdung betrachtet werden« (Fischer 2011: 25f.). In der Phänomenologie wird das Gehen als Form des »motorischen Sehens« (Hermann Schmitz, zitiert nach Fischer 2011: 28) verstanden. »Jeder Schritt, den ich tue, zeigt mir einen neuen Ausschnitt der Welt, oder ich sehe den alten von einer neuen Seite. Dabei ist der perspektivische, gelebte Raum inhomogen und anisotrop: Die Zentralität des Leibes unterscheidet qualitativ seine Stellen und Richtungen, sei es als Gegensatz von Vorn und Hinten, Oben und Unten, sei es als Gefälle von Nah und Fern oder als Gliederung nach Erreichbarkeit und Unwegsamkeit.« (Fuchs 2000: 258)

Gehen ist also Orientierung in der Welt. Es kann mit jedem Schritt zu einem vielschichtigen Experiment werden, mit dem das Unbekannte erkundet wird und die Bezüge zur Welt erweitert oder sogar neu definiert werden. Kleinkinder, die das Gehen gerade erlernen, oder Entdecker_innen und Reisende stoßen so beständig in neue Räume vor. Doch auch im Alltag eines erwachsenen Menschen geschieht es mitunter, dass ein eigentlich bekannter Platz aus einem bisher nie genutzten Ausgang aus der U-Bahn betreten wird und in neuem Licht erscheint oder dass Straßenarbeiten den Untergrund des Arbeitswegs plötzlich unsicher erscheinen lassen. Solche Momente machen wieder bewusst, dass das Gehen einst erlernt wurde. Es ist, wie der französische Soziologe Marcel Mauss bemerkt, eine Technik (vgl. Mauss 1978: 204), die Erwachsene dazu befähigt, sicheren Schritts durch den Alltag zu schreiten.8

8

In einer Besprechung von Mauss’ Vortrag Die Techniken des Körpers, auf den ich mich hier beziehe, bemerkt Erhard Schüttpelz: »Körpertechniken wären im Sinne einer techné dementsprechend körperliche Verrichtungen, die man durch Vorschriften, ständige Übung und Nachahmung lernen kann und auch muss und deren Wissen mit ihrem Tun auf die eine oder andere Weise zusammenfällt.« (Schüttpelz 2010: 110) Darüber hinaus attestiert Schüttpelz den Körpertechniken interessanterweise eine gewisse Medialität, da sie »in einer ständigen Zyklisierung mit der Erfindung neuer materieller Artefakte, mit Ritual- und Sprachtechniken, mit Imaginationen und medialen Publikationen, mit stillen Gebeten und lauten Suggestionen begriffen [sind]. Und gerade die modernen Erfindungen im Bereich der Körpertechniken, von denen viele auf

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Abgesehen von den oben erwähnten Momenten möglicher Verunsicherung im Alltag, begeht dieser sichere Schritt meistens Räume, die weitgehend bekannt sind. Ich habe sie mehrfach im wahrsten Sinne des Wortes durchmessen, ihre Gefälle zwischen nah und fern erkundet und das, was für mich darin erreichbar oder unwegsam ist, kennengelernt. In den Räumen des Alltags bin ich orientiert. Thomas Fuchs beschreibt sie als »Form des unmittelbar gelebten Raumes, nämlich die organisierte Gesamtheit der Situationen und Bereiche, in denen die Person lebt. Er bringt zum Ausdruck, daß Person und Welt nicht getrennt bestehen, sondern einander konstituieren« (Fuchs 2000: 311). In diesem Raum werden u.a. Bewegungsabläufe bzw. Verlaufsgestalten im Leibgedächtnis geprägt, die mit der Zeit in einen selbstverständlichen Handlungsbogen münden. (Vgl. ebd.: 328) Gehen ist ein solcher Handlungsbogen: Hinter mir liegt, woher ich komme, vor mir breitet sich aus, wohin ich gehe. Die Bewegungsebene, der ich dabei hauptsächlich folge, schneidet sagittal durch meinen Körper und teilt ihn so in eine linke und eine rechte Körperhälfte. Abwechselnd schwingen meine Beine nach vorne und machen einen Schritt, während das jeweils andere Bein das Gewicht meines Körpers trägt. Darüber schwingen die Arme in Gegenrichtung zu den Beinen vor und zurück. Das Abrollen der Füße bewirkt ein Auf und Ab meines gesamten Körpers und der Kopf nickt ein wenig. Ich pendle von links nach rechts, während meine Wirbelsäule inmitten der Gegenbewegungen von Armen 9 und Beinen leicht rotiert. Gehen ist in Radial Courses das grundlegende Material und wird in seiner Materialität variiert. Menschen werden hier als Gehende gezeigt, die eine Technik beherrschen. Gleichzeitig wird in dem Stück mit dieser Technik experimentiert. Dieses Experimentieren mit den Techniken des Körpers ist, mit Boyan Manchev anthropologisch betrachtet, eine der Funktionen des Tanzes. Im Tanz wird gezeigt, dass der Körper nicht nur Techniken beherrscht, sondern selber »technisch« ist. (Vgl. Manchev 2006: 105) D.h. der Körper erschließt sich nicht nur in seinen Empfindungen medial durch Bewegung (siehe oben), sondern auch in seinem Bewegungsvermögen, das ihn zur Ausbildung von Techniken befä-

eine Somatisierung des körperlichen Ablaufs, also auf eine bewusste und methodische Reduktion abzielten, haben ganz neue Zyklisierungen von psychosomatischer Verkörperung, Ritualisierung und Medialisierung geschaffen« (ebd.: 118). 9

In der Sportmedizin und Physiotherapie widmen sich etliche Forscher_innen und Autor_innen dem Gehen. Meine Beschreibung des Gehens stützt sich, neben Beobachtungen meines eigenen Gehens, auf Kirsten Götz-Neumanns Buch Gehen verstehen (Götz-Neumann 2006), hier v.a. auf die Seiten 9 bis 22 mit ihrer eingehenden Analyse des Gangzyklus.

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higt. Diese Techniken wiederum ermöglichen die bereits erwähnten ›selbstverständlichen Handlungsbögen‹, die trotz ihrer kulturellen Prägung unzählige, individuelle Ausformungen kennen. Zu Beginn von Radial Courses ergibt sich daraus ein spannungsvolles Spiel: Die verschiedenen Körpergrößen der vier Tänzer_innen machen unterschiedliche Schrittlängenanpassungen nötig, um den Gleichschritt während der ersten Minuten zu erzielen. Und auch wenn die Tanzenden ihre Arme im gleichen Takt kontralateral zu den Beinen mitschwingen lassen, werden unterschiedliche Haltungen in ihren Schultern und Rücken sichtbar. Das Gehen der vier Tänzer_innen ist so zugleich simpel und komplex: Aufgrund der mannigfaltigen Koordinationen, die nötig sind, um die Choreografie des Gleichschritts im Kreis zu realisieren, ist das Gehen in Radial Courses von Anfang an eine vielschichtige Handlung, auf die sich die Tänzer konzentrieren müssen. Gleichzeitig ermöglicht die Alltäglichkeit, mit der den Zuschauerinnen und Zuschauern das Gehen leiblich und im prozeduralen Gedächtnis eingeschrieben ist und mit der sie an diesem Abend den Saal betreten, eine direkte Identifizierung mit dem Geschehen. »Gehen«, schreibt die amerikanische Tanzkritikerin Sally Banes, »ist etwas, das alle tun, sogar Tänzer, wenn sie nicht auf der Bühne sind. Gehen ist die mitschwingende Verbindung zwischen Tänzern und Zuschauern, eine geteilte Erfahrung, die Raum für persönliche Eigenarten und individuelle Stile lässt« (Banes 1987: 60, Übers. v. M.N.).

E RINNERUNG 1: M ITGEHEN Anfangs überlagern sich die individuellen Schritte der Tänzer_innen und die der eintretenden Zuschauerinnen und Zuschauer und erzeugen so ein polyrhythmisches Gefüge voller Eigenarten, das sich erst dann beruhigt und wieder auf die Schritte der Tanzenden konzentriert, als die Zuschauer_innen ihre Plätze gefunden und sich auf die Performance und ihren Raum eingestellt haben. Der Gehund Springtanz der vier Tänzer_innen rückt nun in den Mittelpunkt des Geschehens, an dem die Zuschauenden »in einem heimlichen Nacherleben […], in einer Aufnahme […] durch das Körpergefühl in einem geheimen Drang, die gleichen Bewegungen auszuführen«, (Max Herrmann, zitiert nach Fischer Lichte 2004: 54) teilhaben. In dieser leiblichen Bezogenheit auf das Geschehen in der Mitte des Saals erlebe ich als Zuschauer, wie mein Bewusstsein vom Kopf in den Rumpf sinkt. Indem mein Blick dem Tanz folgt und mein Körper das Gehen der Tänzer »schattenhaft nachbildet«, befinde ich mich zwar nicht im Mittelpunkt des Geschehens, aber doch tatsächlich mittendrin. Die Rhythmen des Gehens er-

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zeugen eine Sogwirkung, die meine Aufmerksamkeit immer stärker zwischen mir und den Tänzern oszillieren lässt. Der menschliche Körper ist in vielen seiner physiologischen Funktionen rhythmisch organisiert, wie z.B. im Herzschlag, in der Atmung oder im SchlafWach-Rhythmus. Auch viele seiner Bewegungsabläufe, wie die handwerklichen Tätigkeiten des Sägens und Hämmerns oder auch Nicken und Kopfschütteln, Rennen, Hüpfen und eben Gehen, sind rhythmisch. Wie Erika Fischer-Lichte anhand von Theaterperformances analysiert, ist Rhythmus ein leitendes Ordnungsprinzip zeitgenössischer Performance. Im »wechselseitigen Einschwingen in den Rhythmus anderer und […] durch wechselseitiges körperliches Einwirken von Akteuren und Zuschauern« (Fischer-Lichte 2004: 239) wird mir nicht nur das performative Hervorbringen des Gehens durch die Tänzer_innen deutlich, sondern ich beziehe es auf das nun intensivierte Empfinden meines Leibes: In dem Moment, als zwei der Tanzenden aus ihrem Gehrhythmus fallen und in eine Sprungsequenz wechseln, bemerke ich, wie mein Körper sich den Gewichtsverlagerungen der Tänzer_innen im Sitzen angepasst hat und leicht hin und her geschwungen ist.10 Mein prozedurales Gedächtnis hat beim Betrachten der Gehenden einen Teil des Bewegungsablaufs des Gehens abgerufen. Das zuvor unbewusste Mitschwingen, mit dem ich mich auf den Moment und auf die gehenden Tänzer_innen eingelassen habe, wird bewusst. Ich spüre, wie die ›Leibinseln‹ (siehe oben), an denen ich sitzend Kontakt mit dem Boden habe, bis dahin durch den wechselnden Druck meines leicht hin- und herpendelnden Gewichts unbewusst und doch leiblich präsent waren, und wie sie durch den plötzlichen Rhythmuswechsel der Tänzer_innen, der meinen Rhythmus der Gewichtsverlagerung unterbricht, ins Bewusstsein rücken. Obwohl die Tänzerinnen und Tänzer weitergehen, nun zu zweit in entgegengesetzte Richtungen, schwinge ich für einige Momente nicht mehr mit, sondern halte meinen Körper bewusst vom innerlichen Mitgehen zurück und stelle fest,

10 Dieses Hin- und Herschwingen findet nicht notwendig im gleichen Rhythmus wie dem der gehenden Tänzer_innen statt. Kai van Eikels beschreibt eine solche Vernetzung von Bewegungen, in denen gerade keine Energie, sondern Information ausgetauscht wird, in Anlehnung an den Physiker Christian Huygens als Synchronisation (vgl. van Eikels 2013: 166f.). Interessanterweise bringe dies das Konzept der Eigenbewegung ins Spiel, nach dem eine Hierarchisierung von Bewegung nach Kategorien von eigenständigem oder fremd induziertem Bewegen unerheblich sei, so van Eikels (vgl. ebd.: 168). »Jedes Element eines Synchronisierungsprozesses ist ein ›oscillator‹, unterhält eine zeitliche Selbstbeziehung, für die der geläufige Name in unserer Sprache Rhythmus lautet.« (Ebd.)

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dass sowohl das innerliche Mitgehen als auch das Mich-davon-Abhalten eine körperliche, in ihrer Bewegung und Anstrengung bemerkbare Handlung ist.

E RINNERUNG 2: L ACHEN Die Tänzer_innen folgen nun einer komplexen Struktur, nach der immer wieder zwei von ihnen in die Sprungsequenz wechseln und sich von den noch Gehenden entfernen, um sie entweder wieder einzuholen oder auf halbem Weg wieder ins Gehen zu fallen, um sich dann von den zurückgebliebenen Tänzern springend einholen zu lassen. Dabei wechseln die Formationen wie auch die Rhythmusgefüge der Schritte beständig. Die Konzentration der Tänzer_innen auf ihre Synchronisationen der Geh- und Sprungrhythmen und der repetitive Charakter der Choreografie erzeugen eine kontemplative Atmosphäre im Saal, in der ich meine Rhythmen des Mitschwingens, aber auch die des mal mehr, mal weniger konzentrierten Zuschauens mit den wahrnehmbaren Bewegungsrhythmen der Tanzenden beständig abgleiche. Nach einigen Runden, in denen die Tänzerinnen und Tänzer ihre Geh- und Sprungrhythmen verschoben und einem Kanon gleich verschoben und übereinander gelagert haben, springen alle vier gemeinsam als eine Gruppe im gleichen Rhythmus. Nach der dritten Wiederholung jedoch drehen sich die zwei Männer der Gruppe plötzlich um, was zugleich Anlass für alle vier ist, die Sprungsequenz zu beenden. Sie gehen nun wieder, diesmal in zwei Gruppen und in entgegengesetzten Richtungen. Daraufhin erhebt sich im Theatersaal ein kurzes Lachen unter den Zuschauern, die Atmosphäre kippt für einen Moment vom Kontemplativen ins Humorvolle. »Atmosphären sind«, so Thomas Fuchs, »räumliche Ausdrucksphänomene, die unbestimmt und diffus über die Weite des Umraums gebreitet sind«. (Fuchs 2000: 213) Sie können in der Stille eines menschenleeren Museums begründet sein, im Lärm einer belebten Straße oder eben in der Stimmung, die sich zwischen den Handlungen einer Tänzer_innengruppe und der Aufmerksamkeit der Zuschauenden ausbreitet. Diese Atmosphären erschließen sich durch den empfindenden Leib, der so in einen Stimmungsraum eingebettet ist und mit ihm resoniert. (Vgl. ebd.: 90) Die Zuschauerinnen und Zuschauer von Radial Courses haben sich, je in ihrer Position und im eigenen Rhythmus mit den je eigenen Unterbrechungen, mit den Tänzer_innen auf das Gehen im Kreis eingependelt und wären ihnen wahrscheinlich noch lange gegen den Uhrzeigersinn gefolgt. In der Bewegung einer innerlichen Gewichtsverlagerung und im Ausdruck der kontemplativen Konzentration der Anwesenden hatte die Atmosphäre der Performance bis hierher ihre leiblichen Resonanzen bei mir hervorgerufen. (Vgl. ebd.: 214) Die Kehrtwende

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der männlichen Tänzer bricht in diese Atmosphäre als überraschendes Moment ein, das mich jedoch nicht nur, wie zuvor der Einsatz der Sprungsequenz, auf die Wahrnehmung meiner eigenen Motorik zurückwirft, sondern diesmal auch eine soziale Komponente hat. Denn während erstere Regung sich für die anderen Anwesenden unsichtbar auf einer mikrokinetischen Ebene vollzieht, ist das Lachen für alle hörbar und ansteckend. Nachdem einige Zuschauer_innen zu lachen begonnen haben, pflanzt sich dieses Lachen in einem Prozess mimetischer Resonanz fort, (vgl. ebd.: 246) und in der eruptiven Rhythmik des Lachens macht sich ein Teil des Publikums, darunter auch ich, seiner Überraschung über den plötzlichen Richtungswechsel gemeinsam Luft. Die anwesenden Zuschauer_innen haben eine Verbindung zueinander hergestellt, die anders als die Blicke der im Kreis stehenden und sitzenden und einander sehenden Zuschauer_innen keine Spiegelung der jeweiligen Wahrnehmungen darstellt, sondern eine Gruppe von Menschen im ähnlichen Rhythmus gemeinsam laut ausatmen lässt. Neben den Resonanzen mit dem Gehen der Tänzer stellt sich spätestens hier auch eine Resonanz unter den Zuschauernden ein.11

11 An dieser Stelle muss auf ein Problem hingewiesen werden, das einer weiteren Untersuchung würdig ist, jedoch den Rahmen des vorliegenden Texts sprengen würde. Kai van Eikels beschreibt ›Resonanz‹ in Anlehnung an die von ihm zitierte Synchronisierungsforschung als »einseitigen Einfluss durch Übertragung kinetischer Energie« (van Eikels 2013: 166), während Synchronisation bei ihm »ein Vorgang [ist], bei dem mehrere Performanzen oder Prozesse mit distinkten Eigenrhythmen einander wechselseitig so beeinflussen, dass sie einen ungefähren rhythmischen Zusammenhang finden« (ebd.). Thomas Fuchs dagegen verwendet den Begriff ›Resonanz‹, um die Wirkungen von Gefühlen mit ihren Richtungen zu beschreiben: »Gefühle motivieren […] jeweils spezifisch gerichtete Ausdruckshandlungen. « (Fuchs 2000: 220) Dabei unterscheidet Fuchs in seiner Analyse streng zwischen den dynamischen Trieben, die als Regung erlebt werden, und den intentionalen Gefühlen, die sich in leiblicher Resonanz entfalten. (Vgl. ebd.: 224f.) In der von Fuchs so genannten Czwischenleiblichen Kommunikation« (ebd.: 244) nun entfaltet sich durch den leiblichen Gefühlsausdruck einer Person zwischen dieser und einer weiteren Person eine »zwischenleibliche Resonanz« (ebd.: 246), die in seiner Beschreibung tatsächlich zunächst nur eine Richtung kennt (vgl. ebd.). Diese Einseitigkeit versucht Fuchs durch die Begriffe der »reziproken Entsprechung« (ebd.: 247) und der »›wechselseitigen Einleibung‹ (Schmitz 1989), als Aneinanderkopplung zweier Leiblichkeiten und ihrer Dynamik« (ebd.: 248) zu dynamisieren. Interessant sind hier die Fragen, ob es möglich ist, mehr als nur zwei Leiblichkeiten mit ihren Dynamiken zu erfassen, und ob dann der Begriff der Resonanz noch Gültigkeit hat oder ob andersherum dem Begriff der Synchronisation eine auf

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E RINNERUNG 3: S PRECHEN Nach einer weiteren Abfolge der Geh- und Sprungsequenzen in unterschiedlichen Formationen und Richtungen, beenden die Tänzer_innen den zweiten Teil der Choreografie wieder mit der Sprungsequenz aller gegen den Uhrzeigersinn, diesmal in einer Art Windradformation, in der zwischen den Einzelnen jeweils ein Viertelkreis Abstand liegt. Dann, zu Beginn des dritten Teils, verlässt die Tänzerin Hillary Blake Firestone den Kreis und stellt sich an ein Mikrofon in einer Ecke des Saals. Während die anderen Tänzer_innen weitergehen und -springen, beschreibt sie, was diese machen, nennt sie beim Namen und gibt Organisationsprinzipien der Choreografie und Gedanken ihrer Kolleginnen und Kollegen preis. Außerdem erzählt sie eine Anekdote vom Probenprozess: Lucinda Childs kam demnach einmal zu Besuch ins Studio und erklärte die Betitelung der Choreografie als Radial Courses selbstironisch als Taktik, das Stück interessanter klingen zu lassen, als es ein Titel wie Running in Circles getan hätte. Sprechend erklärt die Tänzerin daraufhin, was die Zuschauer_innen gleichzeitig sehen und leiblich (mit-)erleben. Man kann Blake Firestones Sprechen als ein ›Sich-Mitteilen‹ auffassen, in dem sie etwas hergibt, um »ein Erlebtes aus der unmittelbaren Leiblichkeit herauszulösen, symbolisch zu explizieren und als solches […] zu vermitteln,« damit wir an ihrem »Erleben« teilnehmen. Damit tritt die »Mitteilung […] an die Stelle der ursprünglichen leiblichen Partizipation bzw. erweitert sie«. (Fuchs 2000: 387f.) Wenn ein Kleinkind Sprache erwirbt, so lernt es einerseits Wörter in ihrem Zusammenhang kennen. Andererseits lernt es auch mit der Reduktion leben, die mit Sprache einhergeht. (Vgl. ebd.: 278f.) So ergeben sich zwei parallele Erfahrungswelten, eine sprachliche und eine ohne Sprache, wobei keine der beiden unmittelbarer ist als die andere. Bei beiden handelt es sich um Konstrukte, nämlich einerseits um die sprachliche Rekonstruktion der Erfahrungswelt und andererseits um das Wahrnehmungskonstrukt, mit dem die Erfahrungswelt erschlossen und erlebt wird. (Vgl. Stern 2008: 151-155) Die Verwobenheit dieser beiden Welten ist vielfältig und komplex. Sie lässt sich im Zusammenhang von Radial Courses vielleicht am besten anhand einer körperlichen Geste erschließen, mit der Blake Firestone ihre Rede gestisch untermalt und am Ende dann beschließt: dem Zeigen.

Gefühl, Ausdruck und Bewegung basierende Leiblichkeit eingeschrieben werden kann.

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E RINNERUNG 4: Z EIGEN Die Tänzerin erklärt, sie werde gleich zu den anderen zurückgehen, um dann gemeinsam mit ihnen den vierten Teil des Stücks zu tanzen. Dabei zeigt sie mit ihrem rechten Arm in einem leicht nach oben weisenden Bogen in die Richtung, in die sie fast im selben Moment einem der anderen Tanzenden folgen wird. Dabei zieht sie den Arm so weit aus der Schulter, dass der ganze Rumpf sich in einer leichten Spirale zum Kreis mit den Gehenden hinwendet. Gleichzeitig trippeln die Füße in Erwartung, bald der angezeigten Richtung folgen zu können. Schließlich geht sie los, und es sieht so aus, als hätte ihr rechter Zeigefinger ihren ganzen Körper zurück in den Kreis gezogen. Nach Steve Paxton basiert das Zeigen auf dem Greifen. (Vgl. Andrien/Corine/Paxton 2008) Ersterem liegt also eine Verlaufsgestalt zugrunde, die den zeigenden Finger nicht nur symbolisch, sondern auch intentional mit der Welt und motorisch mit dem Schulterblatt und dem Rücken verbindet. Der Rumpf kann beim Zeigen, wie bei der Greifbewegung der Hand, dem Zeigefinger jederzeit folgen. Nach Thomas Fuchs beginnt im Zeigen etwas aber auch Beziehung: Mit dem Zeigen will das Kind seine Wahrnehmung mit der Bezugsperson teilen. Diesem Akt gehen erste Trennungserfahrungen des Kindes voraus, eine Unterscheidung oder Loslösung von der Bezugsperson, die im zeigenden Mitteilen wieder eingeholt wird. Dabei reagieren die meisten Erwachsenen auf das kindliche Zeigen, indem sie das Gezeigte beim Namen nennen. Leibliches Zeigen wird so zum sprachlichen Zeichen. (Vgl. Fuchs 2000: 277f.) Als Hillary Blake Firestone ihrem Zeigefinger tatsächlich folgt, unterbricht sie ihre Rede und wechselt von der sprachlich-symbolischen Ebene wieder zurück zu einer leiblich-körperlichen Bewegung. Mit dem Zeigen agiert Blake Firestone an dieser Stelle zwischen diesen beiden Ebenen und trägt Sprachlichkeit in das Gehen hinein. In dieser Verknüpfung sprachlicher und leiblichkörperlicher Prozesse kann nach Merleau-Ponty neuer Sinn entstehen, und zwar als Ausdruck eines offen-endlosen Vermögens, »kraft dessen der Mensch durch den Leib und die Sprache sich selbst transzendiert zu neuem Verhalten, zu Anderen hin und zum eigenen Denken« (Merleau-Ponty 1965: 230). Indem Blake Firestone am Ende ihrer Rede Sprechen, Zeigen und Gehen überlagert, hebt sie die Verbindungen zwischen Sprache und Körper performativ hervor und zeigt, wie ihr Denken und ihr Bewegen sich beständig gegenseitig beeinflussen. Mit Blake Firestones kurzen Ausführungen hat sich auch meine Sicht auf das Geschehen geändert. Nun ist bekannt, dass die Gehenden nicht einfach nur gehen, sondern dabei immer auch bis neun zählen und so einer strengen choreogra-

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fischen Struktur folgen. Man kennt die Namen der Tänzer12 und hat erfahren, wie selbstironisch Lucinda Childs mit ihrem Werk umzugehen versteht. Auf gewisse Weise wurde auf das sich vollziehende Gehen als choreografisch durchdacht gezeigt, sodass die Handlung meines Zuschauens durch die gegebenen Informationen verändert bzw. transzendiert wurde.

(R AUS -)G EHEN

UND

(MIT -)T EILEN

An Blake Firestones Rückkehr in den Kreis schließt sich eine längere sich beständig zwischen den Tänzer_innen verschiebende Sprungsequenz an. Nach ca. fünf Minuten verlassen die anderen drei ihrerseits den Kreis, um am Mikrofon flüsternd Blake Firestones Schritte wiederholt bis neun auszuzählen bzw. ihr von einer Zuschauerposition aus zuzuschauen. Die zuvor Zeigende wird nun Gezeigte. Ihr Gehen wird intellektuell, aber auch körperlich durch das leise Zählen in seiner Eingespanntheit in die Choreografie nachvollziehbar. Die Mütze, die Blake Firestone bis dahin trug, zieht sie währenddessen aus und gibt sie ihrer zählenden Kollegin am Mikrofon. Es entsteht der Eindruck körperlicher Anstrengung, die den Körper erwärmt. Beides, das dem Atmen nahe Flüstern der Zahlen und das Ausziehen der Mütze, macht das Körperliche des Zählens und die Arbeit des Gehens deutlich. Das Zuschauen der beiden männlichen Tänzer hingegen führt mir mein eigenes Zuschauen jenseits aller Transzendierung als körperlich-leibliche Handlung vor, die an etwas teilhat, das ich kenne: dem Gehen. Jederzeit könnte ich aus dem Zuschauen heraustreten, es den Tänzern gleichtun und wieder ins Gehen übertreten. Am Ende des Stücks werde ich dies sogar tun, wenn ich aufstehe und aus dem Saal herausgehe. Doch zunächst kommen die Tänzerinnen und Tänzer wieder zusammen, um noch einige Runden gemeinsam zu springen und zu gehen. Am Ende dann bleiben sie plötzlich stehen, schauen sich kurz an und verlassen dann den Saal. Gehen ist ein »Paradigma des Postmodern Dance, der bekanntlich kein Tanz mehr sein will und dennoch Tanz als Performance reformuliert« (Brandstetter 2000: 120). Die Grenzen zwischen Tänzer_innen und Nichttänzer_innen sowie zwischen Kunst und Alltag werden verwischt. Für die Mitglieder des Judson Dance Theater war dies nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch motiviert. Sie waren daran interessiert, Bewegungs-, Handlungs- und Ausdrucksweisen zu finden, die für eine gesellschaftliche Mehrheit Bedeutung haben könnten. Gehen war für diese Generation ein symbolisch aufgeladener revolutionärer Akt. (Vgl.

12 Neben Hillary Blake Firestone sind dies: Naiara Mendioroz, Aimar Pérez Gali und Javier Vaquero Ollero.

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Banes 1987: 18) Für die Wiederaufnahme von Lucinda Childs’ Radial Courses in Nicole Beutlers 2: Dialogue with Lucinda wurde dieser Akt nicht nur erneut belebt, sondern auch auf eine Gegenwart bezogen, die eines symbolisch aufgeladenen revolutionären Akts vielleicht gar nicht so sehr bedarf (vgl. van Eikels 2013: 92) wie vielmehr eines Mitteilens und Teilens von Praxen als Handlungsweisen, die nichts weiter tun, als sich zu vollziehen. (Vgl. ebd.: 29) Dabei geht es nicht primär um Verwandlung, sondern darum, in der Aktivierung des prozeduralen Gedächtnisses in Verbindung zu den vielfältigen symbolischen Ebenen einer Handlung die Verwobenheit der teilhabenden Leiber erlebbar zu machen. Dass sich dabei auch Verwandlung oder Transzendierung im Sinne MerleauPontys oder auch Fischer-Lichtes ereignet, kann in diesem Zusammenhang weniger als Ziel der Praxis denn als ihr mögliches Resultat verstanden werden. Indem die Zuschauerinnen und Zuschauer sich in Nicole Beutlers Version auf annähernd gleicher Ebene mit und sehr nah an den Tänzern befinden, erleben sie nicht nur das Körperliche des Gehens mit, sondern erfahren es als Ähnliche unter Ähnlichen. Und selbst wenn die Sprung- und Drehsequenzen einer Körperbeherrschung bedürfen, die über das durchschnittliche Vermögen hinausgeht, können die Zuschauenden die meiste Zeit mit den – die meiste Zeit gehenden – Tänzerinnen mitgehen, d.h., sie können ihr eigenes Gehen einpendeln auf das Teilbare daran. Gleichzeitig können je eigene Praxen des Gehens im Vergleich mit den Gangarten der vier Tanzenden differenziert werden, auch ohne dass alle im Saal tatsächlich gehen müssen. Im Eintreten in den Saal des Frascati und dem gemeinsamen Organisieren des Performance- und Publikumsraums waren alle Anwesenden, Tänzer_innen wie Zuschauer_innen, auf ihren Füßen und haben die Versammlung dadurch konstituiert, dass sie ihre unterschiedlichen Rollen und ihre Positionen bzw. Haltungen eingenommen haben. In den Rhythmuswechseln der Tänzerinnen und Tänzer wurden Mitgehbewegungen unterbrochen bzw. verstärkt. Im gemeinsamen Lachen verbanden sich die Zuschauer_innen als gemeinsam Zuschauende. Die darin freigesetzte Energie war auch eine (mit-)geteilte, körperlich bewegte Handlung, während die Rede der Tänzerin Hillary Blake Firestone die Möglichkeiten zu unterschiedlichen Les- und auch Erlebnisarten in der Aufführung aufzeigte. Das transzendierende Moment in Radial Courses könnte so in der Vergegenwärtigung des Gehens als individuelle Praxis liegen, die gleichzeitig in ihrer Alltäglichkeit und in ihrer immer schon geteilten bzw. stetig zu teilenden Technizität weit über das zuschauende wie auch tanzende und sprechende Subjekt hinausgeht und die auf die zugleich verbindenden und differenzierenden Leiblichkeiten der Versammelten hinweist. Während sich Nicole Beutler in ihrem

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reenactment von Lucinda Childs’ Tanzstück mit den Strukturen der Choreografie und deren räumlicher Verortung innerhalb des Theaters auseinandersetzt, verweist ihre Version zugleich auf die Möglichkeit, dass die Versammlung am Ende gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern den Saal verlassen und durch die Straßen Amsterdams gehen könnte. Denn von der bewegten Aktivität des leiblichen Wahrnehmens wäre es nur noch ein kleiner Schritt zur bewegten Handlung des Gehens.

L ITERATUR -

UND

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Performative Sammlungen Sammeln und Ordnen als künstlerische Verfahrensweise – eine Begriffsbestimmung

S TEFANIE L OREY

Sammeln und Ordnen als künstlerische Verfahrensweise und eigenständige Kunstform ist spätestens seit den 1970-Jahren fester Bestandteil der bildenden Künste und hat seitdem Künstlerinnen und Künstler wie etwa Christian Boltanski, Annette Messager, On Kawara, Jochen Gerz, Sophie Calle, Edward Ruscha, Peter Piller oder Dong Song1 große Aufmerksamkeit beschert. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts haben sich zudem Kurator_innen verstärkt mit Ausstellungskonzepten auseinandergesetzt, die künstlerische Sammlungsstrategien in den Fokus der Betrachtung stellen. Auch auf theoretischer Ebene erfreut sich das Thema zunehmend großer Beliebtheit, so finden sich in den Buchveröffentlichungen der letzten Jahre Titel wie Sammeln als Wissen, Sammeln als Selbstentwurf, Die Kunst des Sammelns oder Die Kunst der Serie. Eine Betrachtung künstlerischer Sammlungen allerdings, die sich in performativen Formaten präsentieren oder performative Eigenschaften aufweisen, ist bisher sowohl in den bildenden als auch in den performativen Künsten außer Acht gelassen worden. Dabei zeichnen sich diverse zeitgenössische Arbeiten durch performative Sammlungsverfahren als Mittel der Materialgenerierung sowie Übersetzung in die jeweilige Aufführungsform aus. So bspw. in Projekten wie Shoot von Çidem Üçüncü, While we are holding it together von Ivana Müller, 50 Aktenkilometer von Rimini Protokoll oder Augenblicke, einer eigenen Ar-

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Diese Aufzählung ist als exemplarische Auswahl verstanden und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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beit, um hier nur diejenigen zu nennen, die ich im Verlauf dieses Texts exemplarisch betrachten werde.2 Es scheint also notwendig, die bereits existierenden Benennungen für künstlerische Sammlungsverfahren und Künstler_innen als Spuren- und Materialsuchende um den Begriff des performativen Sammelns zu erweitern. Gleiches ist im Hinblick auf die Kategorie der performativen Sammlung für Sammlungsformate wie Künstler_innenmuseen oder Künstler_innenarchive vonnöten. Ziel dieses Texts ist es, eine erste Beschreibung performativer Sammlungsverfahren vorzulegen, um sie von bereits bekannten künstlerischen Sammlungsformen abzugrenzen. Dazu ist es erforderlich, einen kurzen Überblick über die Entwicklung von Sammlungsformaten in den bildenden Künsten nachzuzeichnen sowie grundsätzliche Qualitäten und Besonderheiten künstlerischer Akkumulationen aufzuzeigen. Im Rahmen dessen wird es notwendig sein, zwischen Sammlung und Archiv zu differenzieren, wie es außerdem gilt, eine Begriffsbestimmung des Performativen zu formulieren, um schlussendlich eine erste Beschreibung performativer Sammlungen skizzieren zu können. Dabei wird sich zeigen, dass performative Sammlungen spezifische Formen rezeptionaler Teilhabe evozieren, da sie nicht nur als in sich geschlossenes Kunstwerk betrachtet werden können, sondern gleichzeitig als ein nie abgeschlossenes, in die Zukunft hinein offenes Ordnungssystem zu verstehen sind. Da sich zudem der Sammelvorgang selbst als Vollzugsereignis in ihrer Präsentation zeigt, vermögen performative Sammlungen einen Raum zu eröffnen, zu dem sich die Betrachterinnen und Betrachter ins Verhältnis setzen und der sie gleichsam zum mitsammeln auffordert. Als künstlerische Präsentationsform sind performative Sammlungsformate damit immer schon auf eine aktiv teilnehmende Rezeption hin ausgelegt

S AMMELN UND O RDNEN ALS KÜNSTLERISCHE UND D ARSTELLUNGSFORM IN DEN BILDENDEN

M ETHODE K ÜNSTEN

Sammlungen anzulegen, um aus ihnen heraus künstlerisches Material zu generieren, lässt sich nach Walter Grasskamp bis in die Ateliers der Renaissancemaler zurückverfolgen, die, wie Grasskamp schreibt, kleine Kuriositätenkabinette

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Weitere Beispiele performativer Sammlungsformate sind Tomorrow’s Parties von Forced Entertainment, Die Enzyklopädie der Performancekunst von Wagner-FeiglForschung, Serie Deutschland von Lindholm & Hofmann, Bouncing in Bavaria von Auftrag : Lorey, Retrospektive von Xavier Le Roy, WEBEGO von Kolja B. Kunt oder Body of Work von Julia Krause.

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anlegten und so Vorlagen für ihre Bilder horteten, um im Bedarfsfall auf sie zurückgreifen zu können. (Vgl. Grasskamp 1979: 34) Diese Künstler_innenarchive dienten wiederum als Vorlage für Künstler wie Adolph Menzel, der mit seiner Atelierwand von 1872 das »Atelier als Panoptikum« (ebd.: 34) nachzeichnete. Grasskamp führt weiter aus, dass auch Sammelbilder, auf Leinwand oder Holz gemalte nebeneinander gestellte kleine Bilder, die Wilhelm Busch zu seinen Bildgeschichten inspirierten, als eine frühe Form künstlerischer Sammlungsformate gelesen werden dürfen. Erst jedoch mit der Collage und Montage im frühen 20. Jahrhundert erhält das Sammeln als Darstellungsform eine eigene künstlerische Ausdrucksweise und wird zur selbstständigen Gattung in der Kunst. Dabei lässt sich »von den Collagen und Objekten der Dadaisten und Surrealisten bis hin zu den Assemblagen der nouveaux réalistes und der Pop-Art […] eine Entwicklung rekonstruieren, in der die Ateliersammlung sich aus der Rolle eines bloßen Vorrats an Vorbildern gelöst hat und zum Vorrat möglicher Werkbestände wurde«. (Ebd.: 35) In den 1970er-Jahren etablieren sich zwei neue Gattungsformen, deren Künstler_innen Grasskamp zum einem als »Spurensicherer« (ebd.: 32) und zum anderen als »Museumgründer« bezeichnet. (Ebd.: 72)3 Einen Impuls für die Entwicklung dieser Kunstformen sieht er im »Sammeln als Verzicht auf die Produktion von Neuheiten, als Versteck hinter scheinbar fremdem und altmodischem Material«, das »beide Male als ein Weg aus der Stagnation der Objekttreue« gelesen werden könne. (Ebd.: 48) Vitali, Schuster und von Wiese beschreiben in ihrem Vorwort zum Ausstellungskatalog Deep Storage – Arsenale der Erinnerung die neue künstlerische Bewegung wie folgt: »Auf die ›materialistische‹ Pop Art und den Nouveau Réalisme der 60er Jahre, die in wahren Materialschlachten die Dinge in Objektassemblagen versammelten, antworten in den 70er Jahren die als Spurensucher etikettierten Künstler wie Christian Boltanski, Jochen Gerz und Annette Messanger. Auf den grellen lauten Auftritt der Waren- und Schrottberge folgt eine Generation von Künstlern, die im Kleinen und Privaten, im Unscheinbaren und scheinbar Nebensächlichen, im zufällig Gefundenen und in angestaubten Zeugnissen nach den Spuren alltäglicher Biographien, aber auch des traumatischen Schicksals der anonymen ›kleinen Leute‹ suchen.« (Vitali/Schuster/von Wiese 1997: 7)

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In diesem Zusammenhang nennt Grasskamp die Museen von Marcel Broodhaers, Clas Oldenburg und Herbert Distel. (Vgl. Grasskamp 1997: 35)

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Vitali, Schuster und von Wiese unterscheiden im Gegensatz zu Grasskamp zwischen »Spurensuchern« und »Materialsammlern« (ebd.: 8), indem sie beide Kunstformen als Auseinandersetzungen mit Erinnerungskultur und Gedächtnisbild lesen, deren Differenzen darin liegen, dass »Spurensicherer bei ihrer Gedächtnisarbeit vor allem die Schrift und die Spur als Gedächtnis-Metapher setzen« (ebd.: 8), während Materialsammler_innen sich »an das Gedächtnis-Bild des Magazins oder des gebauten Speicherraums« (ebd.) halten. Triebkraft dieser künstlerischen Arbeiten, die sich mit Objektakkumulationen im weitesten Sinne befassen, ist oftmals Skepsis und grundlegender Zweifel an musealen Sammlungsverfahren und wissenschaftlichen Taxonomien. Mit ihren subjektiven Systematisierungen reagieren die Künstlerinnen und Künstler mit eigenen Zugängen, die, so Sabine Rusterholz, »gängige Ordnungssysteme unterlaufen und neue Ordnungskonzepte reflektieren. [...] Bedeutungsproduktion geschieht nicht mehr nur durch eine hierarchisierte Organisation von oben, sondern durch eine Vielstimmigkeit, innerhalb derer sich der Einzelne mit seinen ganz eigenen Referenzialitäten positioniert.« (Rusterholz 2008: 21) Sammeln heißt folglich, sich gegenüber gängigen Ordnungssystemen zu emanzipieren und sich die Freiheit zu nehmen, selbst zu entscheiden, was sammelwürdig und was es wert ist, einer genaueren Betrachtung unterzogen zu werden. Anders gesagt: Jegliche Sammlung spielt mit dem »Phantasma der Beherrschung« (Wuggenig/Holder 2002: 211) unserer Umwelt. Die kreative Lust an der Erfindung eigener Regelwerke treibt die Künstler_innen dabei ebenso an wie die Neufokussierung des Blicks auf vermeintlich Altbekanntes, indem Dinge aus ihren ursprünglichen Kontexten gelöst werden, um sie in arrangierten Objektakkumulationen neu zu betrachten und ihnen so Matthias Winzen, »bildhafte Kraft und neue Bedeutung einzuschreiben« (Winzen 1997: 12). Im ›Singularisieren und Sakralisieren‹ (vgl. ebd.: 13) des gesammelten Materials wird der Blick geschärft für das Besondere, das sich in ihm zeigt. Denn was, so Grasskamp, ist in der Betrachtung einer Sammlung anregender »als eine Ansammlung von gleichen Gegenständen, die eine Unzahl feiner Unterschiede und Differenzierungen erkennen lassen, gerade weil sie sich, grob betrachtet, so ähnlich sind.« (Grasskamp 1979: 57) Künstlerische Sammlungsformate, die häufig das Banale, das Gewöhnliche in den Fokus der Betrachtung rücken, stellen damit den gesellschaftlichen Kanon des Sammelwürdigen infrage und schaffen zugleich neue Aufmerksamkeiten für alltägliche Phänomene. Tradierte Sammlungsformen werden hinterfragt und neue Strategien des Sammelns und Ordnens in Abgrenzung zu institutionalisierten Sammlungsformaten entworfen. Künstlerische Sammlungsformate zeigen, wie wir uns sammelnd in der Welt verorten, sie erfinden neue Auswahlverfahren

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und Ordnungssysteme und überprüfen damit klassische Taxonomien. In diesem Sinne, so Grasskamp, »haben die sammelnden Künstler das Sammeln als eine Tätigkeit rehabilitiert, die nicht nur Zusammenhänge stiftet, sondern auch in Frage stellt und mit den Zusammenhängen so beliebig schaltet und waltet, dass man sich am Ende fragt, ob die selbstverständlichsten Zusammenhänge nicht gerade die absurdesten sind.« (Ebd.: 70) Matthias Winzen zufolge orientieren sich Künstler_innen hinsichtlich der Präsentationsform unterschiedlicher ›Ortsmetaphern‹, die er in die Kategorien ›Archiv/Sammlung, Atelier, Kiste oder Datenraum‹ unterteilt. (Vgl. Winzen 1997: 13) Dabei versteht Winzen den Datenraum als askulpturale Aufbewahrungsform, im Gegensatz zur Kategorie der Kiste – zu der er auch Koffer, Behälter und energetische Speicher zählt –, deren künstlerischen Zugriff auf das Material er als einen skulpturalen beschreibt. Hier liegt der Fokus darüber hinaus auf dem »Verpacken, Einlagern, Verschwindenlassen, Dematerialisieren oder auch […] [dem] symbolisch energetische[n] Aufladen« (ebd.: 15), wie etwa in Marcel Duchamps Time Capsules. Im Atelier wiederum stehe »der Vorgang des Sammelns, Sortierens, Bewertens und Verpackens selbst« im Vordergrund. (Ebd.: 14) Das Archiv und die Sammlung, die Winzen als Präsentationsformen zusammenfasst, charakterisieren für ihn »thematische Bezüge auf Erinnerung, Gedächtnis, Tagebuch, Geschichte und Vergangenheit überhaupt. Der künstlerische Gestus solcher Werke ist, etwas festzuhalten, auszubreiten, zu dokumentieren, herzuleiten, aufzuzählen und zu sortieren.« (Ebd.: 15) Im Zuge meiner Definition performativer Sammlungen ist es an dieser Stelle erforderlich, beide letztgenannten Ordnungssysteme auf ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen hin zu überprüfen, um meine explizite Entscheidung für den Begriff der Sammlung zu begründen. Hierfür ist es zunächst hilfreich, Archiv und Sammlung in ihrer klassischen institutionellen Bedeutung und Funktion zu betrachten.

A RCHIV

ODER

S AMMLUNG ?

Monika Rieger definiert das Archiv als »eine Institution zur systematischen Erfassung, Erhaltung und Betreuung administrativer, juristischer und politischer Dokumente sowie den Raum oder das Gebäude, in dem dies stattfindet.« (Rieger 2009: 253) Eine Sammlung dagegen, schreibt Krzysztof Pomian, ist »jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zwecke eingerichteten

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Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt und angesehen werden können.« (Pomian 1998: 16) Beiden Definitionen scheint auf den ersten Blick vieles gemein: Sowohl Archive als auch Sammlungen tragen Objekte von unterschiedlichen Orten in einem gemeinsamen Raum zusammen, der – im allgemeinen Verständnis – errichtet wurde, um Objekte zu verwahren. Aleida Assmann führt dazu aus: »Was aus dem Leben verbannt und der Tradition geraubt wird, geht der Kultur nicht verloren, sondern erhält Asyl im Archiv, in der Bibliothek, in den Magazinen der Museen.« (Assmann 2009: 172) Sowohl das Archivieren als auch das Sammeln zielt darauf, Objekte vor dem Verfall und dem Vergessen zu bewahren, sie zu konservieren und zu erhalten. Ein Archiv allerdings befasst sich weniger damit, die individuelle Auswahl eines Einzelsubjekts anzulegen. Archivgut, so Assmann dazu, fällt an und wird nicht eigens gesucht und kann folglich eher als »ein Ort der Ansammlung und nicht der Sammlung« (ebd.: 173) verstanden werden. Assmann unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem Speichergedächtnis und dem Funktionsgedächtnis, die wiederum beide das kulturelle Gedächtnis bilden. »Das Speichergedächtnis kann als der passive Pol des Erinnerns beschrieben werden. Ihm ist im aktiven Pol das Funktionsgedächtnis gegenüberzustellen.« (Ebd.: 169) Das Aktive des Funktionsgedächtnisses liegt laut Assmann in einem »identitätsstützenden Gedächtnis, das durch die Enge seiner Auswahl bestimmt wird. Es beruht auf einem Kanon verbindlicher und vorbildlicher, normativer und formativer Texte, Orte, Werke und kollektiver Mythen, die der religiösen, nationalen und ästhetischen Traditions- und Identitätsbildung zugrunde liegen und in kulturellen Praktiken der Wiederholung, Aneignung und symbolischen Wertschätzung immer wieder affirmiert und symbolisch aufgeladen werden.« (Ebd.: 170)

So zählt sie Kanon, Museen und Denkmäler zu offenen Funktionsgedächtnissen, im Gegensatz zu Archiven und Magazinen, die für sie geschlossene Speichersysteme darstellen, da sie »Verwahrungsvergessen« (ebd.: 169) betreiben. Das Archiv also sammelt, um zu verwahren, um das Vergangene möglichst lückenlos rekonstruieren zu können; eine Sammlung hingegen wählt aus, immer auch im Hinblick auf die Präsentation der gesammelten Objekte. Oder anders gesagt: Das Archiv befasst sich mit einer möglichst dichten Akkumulation, das Hauptaugenmerk einer Sammlung hingegen ist auf eine Selektion von Objekten gerichtet. Liegt der Fokus auf der Auswahl der gesammelten Objekte, kommt man nicht umhin, dem Subjekt, das diese Auswahl trifft, eine besondere Bedeutung

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beizumessen: Den Sammlerinnen und Sammlern nämlich, die sich durch ihre Auswahl der Objekte mit einschreiben in die Sammlung, die in ihre Sammlung gleichsam verwoben sind (vgl. te Heesen/Spary 2002: 17) und damit dem Auswahlverfahren einen subjektiven Charakter verleihen. Die Motivation also, aus der heraus Dinge zusammengetragen werden, scheint ein weiteres wesentliches Merkmal für die Differenzierung zwischen beiden Sammelverfahren zu sein. Denn eine Sammlung kennzeichnet »ihr internes Organisationsprinzip, die ›innere Thematik‹ als primäre Motivation«. (Wuggenig/Holder 2002: 209) Im Gegensatz dazu ist das Zusammentragen von Objekten im Archiv nicht subjektiv, sondern institutionell motiviert und in erster Hinsicht davon geleitet, Geschichte rekonstruierbar zu machen. Die entscheidende Differenz zwischen beiden Ordnungssystemen liegt aber sicherlich in der divergierenden Form der Präsentation von zusammengetragenen Objekten: Eine Sammlung im institutionalisierten Sinne ist darauf angelegt, die gesammelten Objekte einem breiten Publikum zu präsentieren, was sich sowohl in der architektonischen Struktur der Räumlichkeiten als auch in der Sichtbarmachung der einzelnen Objekte niederschlägt. Ein Archiv dagegen ist kein Präsentations-, sondern ein Verwahrungsort. Archive sind nicht auf die Zurschaustellung ausgewählter Objekte hin angelegt, sondern darauf, archiviertes Material bei Bedarf hervorzuholen, um es für Interessierte zugänglich zu machen und für Recherchen fruchtbar zu machen. Denn »das Archiv vereint in sich zwei Körper: Es ist ebenso Institution wie Konzeption, das heißt Arbeitsort und Methode.« (Ebeling/Günzel 2009: 10) In künstlerischen Arbeiten, die sich im weitesten Sinne mit Akkumulationen beschäftigen, sind diese Trennlinien nicht ganz so einfach zu ziehen. Und sicherlich liegt Matthias Winzen nicht falsch darin, Sammlungen und Archive unter einer gemeinsamen Kategorie zusammenzuführen, gerade weil sich in der bildenden Kunst ebenso wie in den performativen Künsten vielfältige ›Zwitterformen‹ aus beiden Ordnungs- oder Verwahrungssystemen finden lassen. Es muss also, wie Alma-Elisa Kittner schreibt, »differenziert werden, was akkumuliert wird und in welchen Kontexten die Akkumulationen stehen. Kleiderberge suggerieren etwas anderes als Campbell’s Suppendosen«, denn »Materialien setzen je nach Kontext unterschiedliche Assoziationen frei«. (Kittner 2009: 162) Es scheint demnach in einem ersten Schritt angebracht, die einzelnen Kunstwerke auf ihre Referenzen hin zu überprüfen: ›Welche Art Objekte wird zusammengetragen, wie wird gesammelt, angeordnet und präsentiert?‹, um nachfolgend künstlerische Akkumulationen entsprechend ihres Ordnungssystems als Archiv oder als Sammlung zu charakterisieren.

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Trotz dieser Unterscheidungen werde ich im Folgenden ausschließlich den Begriff der Sammlung verwenden, da auch künstlerische Arbeiten, deren Objektakkumulationen archivarische Anordnungen widerspiegeln, letztendlich nicht nur zusammentragen, um zu verwahren. Vielmehr machen sie ihre Sammlungsobjekte als subjektive Auswahl und nicht institutionell motiviert einem breiten Publikum öffentlich zugänglich. Künstlerische Akkumulationen sind demzufolge im Moment ihrer Präsentation immer als eine Sammlung zu begreifen, selbst wenn sie in ihrer Anordnung einen archivarischen Charakter aufweisen.

P ERFORMATIVE S AMMLUNGSFORMATE Wie verhält es sich nun mit dem Attribut des Performativen im Zusammenhang mit künstlerischen Sammlungsformen? Im Hinblick auf performative Sammlungsformate verstehe ich die Kategorie ›performativ‹ – nach Erika FischerLichte – als wirklichkeitskonstituierend und selbstreferenziell. (Vgl. FischerLichte 2004: 28) Performative Aussagen bringen zum einen Wirklichkeiten hervor, zum anderen bedeuten sie das, was sie vollziehen, ohne auf etwas anderes zu verweisen. Performative Sprechakte sind weiter zu verstehen als Transformationsprozesse, die im Moment der Äußerung einen Zustand in einen anderen überführen und damit neue Realitäten hervorbringen. Ihr Vollzug manifestiert sich als eine »ritualisierte öffentliche Aufführung« (ebd.: 41), die einer autorisierten Person oder einer Zeug_innenschaft bedarf, um Wirklichkeit zu werden. Performativität, so erläutert es Erika Fischer-Lichte, »führt zu Aufführungen beziehungsweise manifestiert sich im Aufführungscharakter performativer Handlungen.« (Ebd.: 41) Aus kunsttheoretischer Perspektive bezeichnet Dorothea von Hantelmann das Performative eines Kunstwerks als eine realitätserzeugende Dimension, die den Aktcharakter, das Vollzugsereignis sowie Momente der Setzung enthüllt. (Vgl. Hantelmann 2007: 12) Die vorgestellten Begriffsbestimmungen erscheinen mir für eine Definition von performativen Sammlungen fruchtbar zu sein, denn in einer ersten Abgrenzung zum konventionellen Sammlungsbegriff zeichnen sich performative Sammlungen als erfahrbares Vollzugsereignis durch ihren Ereignischarakter aus. Das sich immer wieder neu Konstituierende, das der Begriff des Performativen impliziert, scheint ein hervortretendes Merkmal des performativen Sammlungsbegriffs zu sein – im Gegensatz zu den erhaltenden, konservierenden Eigenschaften einer klassischen Sammlung. Im Spannungsfeld zwischen Ereigniskunst und musealem Bewahren können performative Sammlungen deshalb als momenthafte Sammlungen beschrieben werden, die sich im Moment ihrer Aufführung erst bzw. immer wieder neu konstituieren und die zwischen den gegensätzlichen

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Polen ›Konservierung‹ und ›Vergänglichkeit‹ oszillieren. Die Charakteristik des Flüchtigen4 ist dabei nicht nur ihrer Eigenschaft des Ereignishaften geschuldet, sondern darüber hinaus im gesammelten Material selbst verankert: Affekte, Handlungen, Erinnerungen, Visionen, Ideen oder Träume können Bestandteil dieser Sammlungen sein, die gebannt auf Foto, Tonband, Video, als gesprochenes Wort oder in Bewegungsabläufen5 ihre Präsentationsform finden.

P ERFORMATIVES S AMMELN Unter dem Aspekt eines ephemeren Sammlungsmaterials kann das Performative einer Sammlung demnach schon im Sammlungsvorgang selbst verortet werden. Dabei ist jegliches Sammeln hinsichtlich des Vorgangs des Zusammentragens einzelner Objekte als performativer Akt zu bezeichnen. Schreibt man dem Performativen im Sinne von Erika Fischer-Lichte weiter einen Aufführungs- bzw. Ereignischarakter zu, können spezifische künstlerische Akkumulationen als performative Sammlungsverfahren beschrieben werden, wenn sie erst im Sammelvorgang selbst ihre Sammlungsobjekte generieren: indem sie performativ sammeln. Ein erstes Beispiel hierfür ist das Fotoprojekt Shoot (2011) von Çidem Üçüncü. In diesem Projekt läuft die Künstlerin mit ihrer analogen Fotokamera durch die Straßen Braunschweigs, um dort mehr oder minder zufällig Passant_innen auszuwählen, denen sie sich plötzlich ungefragt in den Weg stellt und

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Mir ist der Diskurs darüber bekannt, dass sich eine Performance nicht mehr nur über ihren flüchtigen Aufführungscharakter, über ihre Nichtwiederholbarkeit und ihre Nichtdokumentierbarkeit auszeichnet, sondern ebenso als Dokument gelesen werden muss, das kulturelle Codes überliefert und festhält. Diese Diskussion ist sicherlich maßgeblich für ein neues Verständnis des Begriffs ›Dokumentation‹ im Allgemeinen, der Dokumentierbarkeit von Performances sowie der künstlerischen Form des reenactments. (Vgl. Schneider 2011) Im Rahmen meiner Abgrenzung vom musealen Bewahren einer klassischen Sammlung und ihrer materiellen Objekthaftigkeit allerdings möchte ich am Begriff des ›Flüchtigen‹ festhalten, ohne dabei den Nachhaltigkeitsaspekt zu negieren.

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Ein Beispiel hierfür ist das Projekt Retrospektive von Xavier Le Roy, eine Arbeit, die bezeichnenderweise in einem Museumsraum präsentiert wird und in der Le Roy Fragmente seiner bisherigen Produktionen Revue passieren lässt, indem er kurze Bewegungsabfolgen einzelner Choreografien von wechselnden Performer_innen nachtanzen lässt, die diese zu eigenen tänzerisch-biografischen Fragmenten in Bezug setzen.

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die sie dann frontal fotografiert. Die Porträtaufnahmen spiegeln dabei eine Fülle von spontanen Reaktionen wie Verblüffung, Bestürzung, Erschrecken und Erstaunen wider. Die dem Fotografieren folgenden Diskussionen über den fotografischen Übergriff bezüglich Bildrechten, möglichen Veröffentlichungen sowie wüste Beschimpfungen hat Üçüncü ebenfalls dokumentiert und in die Präsentation der Arbeit mit aufgenommen. Ein anderes Beispiel ist die Installation Augenblicke (2013)6, für die ich Senior_innen in Hamburg gebeten habe, mir aus der Fülle ihres Lebens einen einzigen Augenblick zu beschreiben, der für sie von besonderer Bedeutung ist. Ich habe diese Erzählungen aufgenommen und gleichzeitig Videoporträtaufnahmen der Teilnehmenden erstellt, in denen sie still in die Kamera blicken und sich ihren erzählten Augenblick noch einmal innerlich vor Augen führen. Beide Beispiele generieren ihre Sammlungsobjekte im Moment des Sammelns, im Gegensatz zu Sammlungen, die schon bestehendes Material unter einem bestimmten Fokus zusammentragen: Bei Shoot sind es die spontan geschossenen Porträtaufnahmen mit ihren unterschiedlichen affektiven Reaktionen, in der Arbeit Augenblicke die erzählten Momente, die gebannt auf Tonband und Video materialisiert werden. Shoot inszeniert den Sammlungsvorgang zusätzlich als performatives Ereignis im Sinne einer öffentlichen Aufführung, als Stadtraumintervention. Allerdings bleiben im Beispiel von Shoot die performativen Merkmale allein im Vorgang des Sammelns selbst verortet. Die spätere Präsentation der Arbeit wurde realisiert als eine Sammlung von Fotoporträts, die in einem Ausstellungsraum im klassischen Sinne nebeneinander präsentiert wurden, wobei die einzelnen Dialoge zwischen Künstlerin und Porträtierten dem jeweiligen Bild in Form einer Bildunterschrift zugeordnet waren. Bei der Arbeit Augenblicke andererseits hält das Performative in Hinblick auf seine Rezeption Einzug in die Präsentation, wie ich im Folgenden erläutern werde.

R EZEPTIONALE T EILHABE

ALS PERFORMATIVE

D IMENSION

Zunächst jedoch lässt sich an dieser Stelle anführen, dass natürlich jegliches Betrachten eines Kunstwerks einen performativen Vorgang beschreibt, da sich die Betrachtenden zum Betrachteten immer ins Verhältnis setzen und damit in ihrer subjektiven Erfahrung zum Kunstwerk neue Wirklichkeiten konstituieren. In diesem Sinne formuliert Dorothea von Hantelmann die »performative Dimension«

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Diese Arbeit wurde als erste Präsentation meines künstlerischen Forschungsprozesses im Zusammenhang mit meinem Dissertationsvorhaben auf Kampnagel, im K3 – Zentrum für Choreographie, realisiert.

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eines Kunstwerks als »Teilhabe des Kunstwerks an der Konstruktion in der Realität [...] [,] das Eingebundensein der Kunst in die Realität, die jedes einzelne Werk immer auch mit hervorbringt.« (Hantelmann 2007: 12) Diese performative Dimension kann jedoch verstärkt oder erweitert werden und es wird sich zeigen, dass gerade performative Sammlungsformate in ihrer ereignishaften, augenblicklichen Erfahrbarkeit unterschiedlichste Formen – wie ich es nennen möchte – rezeptionaler Teilhabe evozieren und die Betrachter_innen zu einer aktiv teilnehmenden ästhetischen Erfahrung auffordern. So wurden bspw. in der Arbeit Augenblicke »Bild- und Videoaufnahmen« als zwei getrennte eigenständige Sammlungen gemeinsam präsentiert: In einem festgelegten Zeitabstand schoben sich die Videoporträtaufnahmen über vier Monitore, während unabhängig von den gezeigten Aufnahmen – und in anderer zeitlicher Abfolge – die erzählten Augenblicke über Kopfhörer zu hören waren. Als verbindendes Element zwischen beiden Sammlungen wurden die Körper- und Atemgeräusche der Porträtierten, die während der Videoporträtaufnahmen aufgenommen wurden, synchron zu den aufscheinenden Porträts auf den Monitoren ebenfalls über Kopfhörer wiedergegeben. In diesem gemeinsamen akustischen Bild- und Tonraum verlief die Rezeption über den Versuch einer Zuordnung der betrachteten Porträts zu den erzählten Augenblicken, einem detektivischen Spiel, das darauf zielte, die jeweilige Stimme einem bestimmten Körper zuordnen zu können und damit beide Sammlungen wieder zu einer Sammlung zusammenzuführen: Durch die Leerstelle zwischen gesprochenem Wort und stummem Videoporträt wurden die Betrachterinnen und Betrachter angehalten, die Lücke mit ihrer eigenen Imagination zu schließen. Dieses Beispiel zeigt eine Form teilhabender aktiver Rezeption und kann als spezifisches Merkmal der Installation gelesen werden. Eine andere Form rezeptionaler Teilhabe scheint mir jedoch grundsätzlich im Wesen einer Sammlung angelegt zu sein. Denn Sammlungen verweisen immer auch auf das noch nicht Gesammelte, sie bewegen sich im Spannungsfeld von Abgeschlossenheit und Mangel. Sammlungen sind damit als ein in sich geschlossenes und gleichzeitig offenes System zu verstehen, dessen fehlende Objekte, dessen Lücken einen Raum erschaffen, zu dem sich die Betrachtenden in Beziehung setzen können. Oder anders gesagt: Sammlungen fordern ihre Rezipientinnen und Rezipienten zum (gedanklichen) Mitsammeln heraus und bewirken so eine aktive Teilhabe am künstlerischen Prozess. Dieses ›Mitsammeln‹ ist jedoch nichts, was sich zwangsläufig beim Betrachten jeder performativen Sammlung einstellt. Vielmehr scheinen auf der einen Seite der fragmentarische Charakter der gesammelten Objekte und auf der anderen Seite das offene Vollzugsereignis innerhalb der Sammlungspräsentation aus-

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schlaggebende Parameter für das Einbeziehen der Rezipient_innen zu sein, wie bspw. in der Arbeit While we are holding it together (2006) von Ivana Müller deutlich wird. In dieser Arbeit stehen, sitzen und liegen fünf Performerinnen und Performer gleich einem tableau vivant in bewegungslosen Posen auf der Bühne. Der Aufführungstext generiert sich aus unzähligen möglichen Bildbeschreibungen, die sich unter die immer gleiche Aufstellung der Körper mit ihren eingefrorenen Gesten legen und die jeweils – gesprochen von einer, einem oder mehreren Performer_innen – mit der Replik »I imagine ...« beginnen. Dabei fungieren die Schilderungen, unter ein einziges visuelles Setting gelegt, als ein Variationsspiel unterschiedlichster Darstellungen von Konstellationen und Momenten, als eine Sammlung von Situationsbeschreibungen. Verstärkt durch das Element des sich wiederholenden Anfangs der Repliken, das sich durch das gesamte Stück zieht, wird in der Rezeption ein Raum eröffnet, der die Zuschauerinnen und Zuschauer animiert, selbst eigene mögliche Bildzuschreibungen zu entwerfen und diese der Sammlung hinzuzufügen. Zugleich befördert der fragmentarische Charakter der Bildzuschreibungen das eigene Kontextualisieren und Weiterfabulieren der erzählten Momentaufnahmen.

P ERFORMATIVE S AMMLUNGEN In diesem Beispiel zeigt sich ein entscheidendes Merkmal der performativen Sammlung: Eine künstlerische Akkumulation ist dann als performativ zu bezeichnen, wenn sie in ihrer Rezeption als Vollzugsereignis erfahrbar wird. Die augenblickliche Erfahrbarkeit des Zusammentragens zeichnet sie aus und spielt darüber hinaus mit der Reflexion über den Sammelvorgang selbst. Performative Sammlungen sind demnach Sammlungen, die sich erst im Augenblick des Betrachtetwerdens materialisieren. Dass diese Sammlungsformen – im Gegensatz zu klassischen Sammlungsformaten – nie in ihrer Gesamtgestalt überblickt werden können, sondern partiell durch ihre prozesshafte Zeitlichkeit visualisiert werden, während sich das Davor nur in der Erinnerung materialisiert, ist ihrem Wesen inhärent; wie in den sich immer wieder neu konstituierenden Bildbeschreibungen in While we are holding it together, die sich gleich einer unendlichen Liste auch in die Zukunft hinein fortschreiben lassen.7

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Ähnlich verhält es sich in der Arbeit Tomorrow’s Parties (2011) von Forced Entertainment, in der zwei Performer_innen während des gesamten Stücks auf einem kleinen Podest am vorderen Bühnenrand stehen und abwechselnd und ausschließlich kurze fragmentarische Zukunftsentwürfe formulieren, die alle mit der Replik »In the future will be ...« beginnen. Oder aber in dem Projekt Bouncing in Bavaria (2012) von

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Als letztes Beispiel möchte ich eine Arbeit anführen, die wiederum in keinem klassischen Bühnenformat präsentiert wurde: Das Projekt 50 Aktenkilometer (2011) von Rimini Protokoll, ein begehbares Hörspiel, wie das Regiekollektiv es betitelt, das den Vorgang des Sammelns auf eine andere Art erfahrbar werden lässt und die Betrachtenden als aktive Mitsammlerinnen und Mitsammler fordert. Ferner zeigt dieses Projekt, wie künstlerische Sammlungsformate, die einen archivarischen Charakter aufweisen, aufgrund ihrer spezifischen Präsentation dennoch als performative Sammlungen beschrieben werden können. Ausgangmaterial von 50 Aktenkilometer sind zum einen Schilderungen Berliner Bürger_innen, die von der Einsicht in ihre Stasiakten berichten, zum anderen Mitschnitte der Telefonzentrale des zentralen Operativstabs des Ministeriums für Staatsicherheit. Die Zuschauerinnen und Zuschauer bewegen sich hier einzeln und in nicht festgeschriebenen Wegen durch die Stadt Berlin, ausgestattet mit einem Smartphone, einem Kopfhörer und einem Stadtplan, auf dem diverse Ortungspunkte markiert sind. Das Smartphone gibt den individuellen Standort wieder und fungiert als Ortungs- und Empfangsgerät, das die Teilnehmenden lokalisiert, um an den jeweiligen Orten die dazugehörigen Tonspuren abspielen zu können. Laufend hören die Zuschauenden auf ihren Wegen Berichte von Zeitzeug_innen sowie archivarisches Material in Form der Gesprächsmitschnitte und generieren so ihr ganz eigenes Ordnungssystem. Damit einhergehend werden sie in ihrer individuellen Bewegung durch die Stadt zu aktiven Mitsammlerinnen und -sammlern von geschichtlichem Material, persönlichen Erfahrungsberichten und spezifischen Orten. Auch hier ist der Gesamtüberblick über die Sammlung verwehrt, vielmehr präsentiert sich das gesammelte Tonmaterial singulär an einer Vielzahl einzelner städtischer Orte. Das verwendete Archivmaterial wiederum, das aus der Verwahrung herausgelöst wurde, wird in seiner selektiven Präsentation Teil einer Sammlung. Wie sich gezeigt hat, muss bei der Zuschreibung des Performativen als Attribut künstlerischer Sammlungsformate unterschieden werden zwischen dem gesammelten Material, seiner Rezeption sowie der besonderen Charakteristik der Sammlungspräsentation: Hinsichtlich eines performativen Sammelprozesses also, der sein ephemeres Material wie Affekte, Augenblicke oder Gedanken im Moment des Sammelvorgangs selbst generiert, ohne dabei notwendigerweise zur Präsentation einer performativen Sammlung zu führen, während im Gegenzug performative Sammlungen immer performativ generiertes Material beinhalten.

Auftrag : Lorey, bei dem Traute Hoess und Felix von Manteuffel in abwechselnden kurzen Repliken individuelle, gemeinsame und kollektive Erinnerungen heraufbeschwören.

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Weiterhin bezüglich einer rezeptionalen Teilhabe als performative Dimension, die – angelegt im Wesen einer jeden Sammlung – in einer performativen Sammlung explizit in den Vordergrund treten kann. Und letztendlich in Bezug auf die Definition einer performativen Sammlung, deren wesentliches Merkmal im Vollzugsereignis des Sammelvorgangs selbst innerhalb der Präsentation liegt. Als erweiterte Begrifflichkeit zu klassischen Sammlungsformaten der bildenden Kunst zeichnen sich performative Sammlungen demnach dadurch aus, dass ihre Sammlungsobjekte erst im Moment des Sammelns generiert werden, während die Material- und Spurensucher_innen auf vorhandene Objekte zurückgreifen, die sie im Zusammentragen neu zueinander in Beziehung setzen. Da performative Sammlungen ihr Sammlungsmaterial im Vollzugsereignis als zeitliche Abfolge präsentieren, entziehen sie das akkumulierte Material darüber hinaus einer Gesamtbetrachtung. Im performativen Sammlungsprozess und dem Aktcharakter seiner Präsentation erschaffen performative Sammlungen damit eine neue performative Dimension, einen Raum, in dem sich die Rezipientinnen und Rezipienten selbst verorten, indem sie die Sammlung mit Persönlichem anreichern und so im Betrachten derselben zu einer ganz eigenen Form des Mitsammelns aufgefordert werden.

L ITERATUR -

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Q UELLENVERZEICHNIS

Assmann, Aleida (2009): Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin, S. 165-175. Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (2009): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. Grasskamp, Walter (1979): Dokumentation: Künstler und andere Sammler, in: Kunstforum International 32, S. 31-80. Hantelmann, Dorothea von (2007): How to do things with art, Zürich/Berlin. Heesen, Anke te/Spary, E.C. (2002): Sammeln als Wissen, Göttingen. Kittner, Alma-Elisa (2009): Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld. Pomian, Krzysztof (1998): Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin. Rieger, Monika (2009): Anarchie im Archiv. Vom Künstler zum Sammler, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin, S. 253-269. Rusterholz, Sabine (2008): Speicher fast voll, Kunstmuseum Solothurn.

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Schneider, Rebecca (2011): Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment: On Performing Remains, New York. Vitali, Christoph/Schuster, Peter-Klaus/Wiese, Stephan von (1997): Vorwort, in: Ingrid Schaffner/Matthias Winzen (Hg.), Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München/New York, S. 7-9. Winzen, Matthias (1997): Sammeln – so selbstverständlich, so paradox, in: Ingrid Schaffner/Matthias Winzen (Hg.), Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München/New York, S. 10-19. Wuggenig, Ulf/Holder, Partricia (2002): Die Liebe zu Kunst. Zur Sozio-Logik des Sammelns, in: Beatrice von Bismarck/Hans-Peter Feldmann/Hans-Ulrich Obrist/Diethelm Stoller/Ulf Wuggenig (Hg.), interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Lüneburg/ Köln, S. 205-223.

Der besetzte Syntagma-Platz 2011: Körper und Performativität im politischen Alphabet der ›Empörten‹ M ARGARITA T SOMOU

Intro: Anmoderation Athen, Mai 2011. Es ist nun einige Zeit her, seit das überschuldete Griechenland das erste Kreditpaket der Troika (aus Internationalem Währungsfonds [IWF], Kommission der Europäischen Union [EU-Kommission] und Europäischer Zentralbank [EZB]) erhalten hat. Das geliehene Geld ist an strenge und für europäische Verhältnisse besonders harte Austeritäts- und Umstrukturierungsmaßnahmen gebunden. Für die griechische Bevölkerung beginnt eine neue Zeitrechnung: Abbau sozialer Sicherungssysteme, Schließung öffentlicher Medien-, Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen, flächendeckende Privatisierungen, Abbau von gewerkschaftlichen Rechten, Anhebung der Konsumsteuern, Explosion der Massenarbeitslosigkeit – all dies hat das Leben verändert, die Perspektive auf die Zukunft verschoben. Als Reaktion überschlugen sich die Generalstreiks, eine Großdemonstration folgt auf die andere. Doch seit einigen Tagen versammeln sich wütende Bürgerinnen und Bürger auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament – das, was Sie auf dem Parlamentsplatz sehen, ist keine herkömmliche Demonstration.

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Offtext Bild: Kameraperspektive von oben, aus dem Balkon eines Hotels beim Syntagma-Platz Der Blick auf den besetzten Syntagma-Platz ist ungewöhnlich: Auf der Amaliasstraße, genau vor dem griechischen Parlament, haben sich Zehntausende versammelt. Der Lärm tobt – Hupen, große Trommeln, Trillerpfeifen, Buhrufe, Kochtöpfe, traditionelle Musik dröhnt aus schlechten Lautsprechern. Die Menschen strecken alle gleichzeitig ihre beiden Arme in die Luft und zittern mit den Handflächen. Weiter unten bilden sie einen großen Kreis, ein Bürger_innenmikro wird in ihre Mitte gestellt und die tägliche Versammlung wird abgehalten. Währenddessen wird im Gartenareal des Platzes – in den rund 150 Zelten auf dem Platz – Essen ausgegeben, es werden Sitzungen abgehalten, Bücher und Kleider ausgetauscht, es wird diskutiert, gelesen, musiziert und sich verliebt und sich gestritten. Bei Konfrontationen mit der Polizei fasst man sich an den Händen und fängt an im Kreis zu tanzen, lächelt sich erfreut unter der Gasmaske zu. Der ganze Platz ist seit Tagen besetzt, die Straße vor dem Parlament ist mit selbst gemachten Transparenten mit poetischen oder humoristischen Sprüchen geschmückt. Keine Organisation zeichnet sich verantwortlich für diesen Auflauf der Menschen. Auf einem Schild steht ›Niemand‹. Sporadisch sind griechische, tunesische, ägyptische und spanische Fahnen zu sehen. Unsere Suche nach der oder dem Presseverantwortlichen ist erfolglos, es gibt hier so etwas nicht und auch O-Töne sind schwer zu bekommen. Von hier oben, aus unserer Kameraperspektive von dem Hotelbalkon, können wir allenfalls sagen, dass dieser Protest stark an die jüngeren Platzbesetzungen auf der Puerta del Sol oder dem Tahrir-Platz erinnert.1

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Anfang 2011 wurde in Ägypten der zentrale Kairoer Tahrir-Platz von Demonstrant_innen gegen das Mubarakregime besetzt, was die meist als ›Arabischer Frühling‹ benannte Reihe von revolutionären Bewegungen in Ägypten und der weiteren arabischen Welt angestoßen hat. Im Mai 2011 adaptierten die spanischen ›Empörten‹ das Format der Platzbesetzung in Madrid und besetzten den zentralen Platz Puerta del Sol.

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D AS POLITISCHE A LPHABET DER P LÄTZE ODER : P ROBLEMATIK UND METHODISCHE Ü BERLEGUNGEN Meine erste Livereportage über den besetzten Syntagma-Platz fiel beschreibend aus. Ich hatte Skrupel, die Menschen auf dem Platz zu bezeichnen oder zu benennen – etwa mit dem gängigen Vokabular als ›Protestler_innen‹ oder ›Demonstrant_innen‹ –, Skrupel zu sagen, wer sie sind und was sie genau wollen. Denn zu viel schien in der Szenerie der Platzbesetzung neu bzw. in Begriff zu sein, sich zu entwickeln, zu viel überraschte und befremdete mich, zwang mich, genauer, aber v.a. ›anders‹, draufzuschauen. Denn die Besetzung des Syntagma-Platzes sowie die Reihe der weiteren Platzbesetzungen in 2011 – von der tagelangen Besetzung des zentralen Platzes Kasbah in Tunis über den Tahrir-Platz in Kairo und die spanische Besetzung des Puerta del Sol-Platzes bis zu Occupy Wall Street – weisen neuartige Charakteristika auf. Auch wenn Elemente sozialer Bewegungen darin Einzug fanden – wie z.B. das basisdemokratische Plenum für die Entscheidungsfindung unter den Beteiligten –, ergibt die Kombination von Praktiken ein charakteristisches ›Protestformat‹, das als Kennzeichen einer neuartigen Bewegung erkennbar und, als solches, von Ort zu Ort weltweit adaptiert wurde. Zu seinen Elementen gehören die permanente Besetzung zentraler Plätze, die Installation von Zeltstädten, die Etablierung einer selbst organisierten Infrastruktur zur Deckung von Alltagsbedürfnissen auf dem Platz, die Erfindung und Erprobung demokratischer Basisversammlungen sowie eine Verweigerung gegenüber organisierten politischen Kräften wie Gewerkschaften, Parteien, NGOs etc. Dazu kommt, dass sich die Aktivist_innen eigensinnige Bezeichnungen gaben – ›Indignados‹ in Spanien, ›Aganaktismenoi‹ in Griechenland, ›Empörte‹ in Deutschland, oder ›99 %‹ in den USA –, was zumindest auf die Absicht verweist, sich als neues Protestsubjekt zu erkennen zu geben. Schließlich ist auffällig, dass die Plätze keine einheitlichen Forderungsprogrammatiken formulierten, um damit, wie in sozialen Bewegungen traditionell üblich, Druck und Einfluss auf die Entscheidungszentren der Macht auszuüben. (Vgl. Brinkmann/Nachtwey/Décieux 2013:1) Christos Giovanopoulos, Sozialwissenschaftler und Herausgeber von Demokratie Under Construction, einem der bisher wichtigsten Bücher über die griechische Platzbewegung auf dem Syntagma-Platz, beginnt seine Anthologie mit einem charakteristischen Zitat der Platzaktivist_innen: »[W]eil wir sie alle überrascht haben und sie das neue Alphabet des Lebens noch nicht kannten.« (Giovanopoulos/ Mitropoulos 2011: 12). Ein neues Alphabet, »das sich kollektiv über die Geburt von neuartigen, originellen und gemeinsamen Erfahrungen langsam artikuliert« (ebd.).

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Wie liest man nun dieses neue Alphabet der Bewegung der Plätze? Welche Sprachen, welche Codes mögen zu seiner Dechiffrierung nutzen? Welche Fragen bringen Antworten? Die klassischen Fragen der Protest- und Bewegungsforschung nach dem »Wer sind die Protestler?« und dem »Was fordern sie?« (vgl. Heßdörfer/Pabst/Ullrich 2010:11) sollen hier nachgelagert werden zugunsten einer Analyse entlang der Frage nach der Rolle der Körper und ihrer Performativität – der Akte, Gesten, Rituale, performativen Protokolle, Erfahrungen und »Sozialen Choreographien« (Hewitt 2005) der Platzbesetzer_innen. Dieser Ansatz birgt zuallererst den Vorteil, dass durch eine Perspektive auf die Akte der Körper neue politische Subjekte, Identifizierungen und Gemeinschaften beschreibbar werden, die durch die sozialen Kategorien wie Klasse, Rasse, Ethnie, Demografie, Milieu- oder Organisationszugehörigkeit schwer zu erfassen sind. (Vgl. Fuentes 2013) Letzteres ist für den vorliegenden Zusammenhang zentral, da, wie oben erwähnt wurde, wir es mit einer protestierenden Menge zu tun haben, die sich mit ihren Selbstbezeichnungen und Handlungen als neue Akteurinnen und Akteure auf der Straße zu entwerfen suchen.2 So möchte ich nicht möglichst viele verschiedene Interessengruppen wie ›Student_innen, Arbeiter_innen, Frauen, Arbeitslose, Umweltgruppen, Friedensinitiativen, Gewerkschafter_innen etc.‹ (vgl. etwa Brinkmann/Nachtwey/Décieux 2013; Kraushaar 2012) definieren und aufzählen, sondern davon ausgehen, dass die Gemeinschaft des ›Wir‹, der ›99 %‹ oder der ›Empörten‹ nicht über Herkunft, Gruppenzugehörigkeit oder Mitgliedschaft konstituiert wurde – ihre Besonderheit ist, dass sie vor allem durch die Präsenz der Einzelnen sowie durch

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Hier treten uns Neologismen als Selbstbezeichnungen entgegen: Die Bezeichnungen ›Indignados‹, ›Empörte‹ oder ›Aganaktismenoi‹ beziehen sich auf den Titel der kämpferischen Schrift Stéphane Hessels Indignez-vous!, auf Deutsch: Empört Euch! (Hessel 2011), die sich mit Defiziten zeitgenössischer Demokratien im Zuge der jüngsten Finanzkrise befasst. Die Selbstbezeichnungen verweisen auf eine Affinität zu diesen Inhalten, nicht aber auf ein bereits bestehendes politisches Lager. In Bezug auf die Frage des ›Wer?‹ spricht man in der einschlägigen Literatur über die Plätze von einer sehr heterogenen Menge (vgl. Infogruppe Bankrott 2012), von unterschiedlichsten Leuten aus unterschiedlichsten Milieus, von keiner Ganzheit, keiner identifizierbaren Klasse (vgl. Raunig 2012), schlichtweg von ›allen‹ oder, wie auf einem Plakat auf dem Syntagma-Platz stand, von ›niemandem‹. Die Frage nach institutionellen Trägern, also nach der Zugehörigkeit zu politischen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften, Verbänden oder NGOs bringt uns ebenfalls nicht weiter: Gemäß dem Ethos, ›sich nicht repräsentieren lassen zu wollen‹, bewegen sich die Besetzenden unabhängig von Bindungen mit entsprechenden Institutionen.

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ihre Praktiken auf den Plätzen operativ hervortritt. Die ›Empörten‹ sind zuallererst die auf dem Platz Präsenten – eine operative Gemeinschaft, die nicht außerhalb dieser Raum-Zeit-Konstellation existiert. So wird im Folgenden die These herausgearbeitet, dass die ›Empörten‹ als ›Multitude der Differenten‹ sich von alten Protestritualen und damit assoziierten Identifizierungen entfernten, stattdessen neue eigensinnige Gesten und Protestperformativitäten entwarfen und sich damit als Gemeinschaft neu konstituierten – unabhängig von ihren vorherigen sozialen oder politischen Herkünften. Des Weiteren wird die These aufgestellt, dass die verschiedenen Arten der körperlichen Akte und Performativitäten auch andere Arten von Vergemeinschaftung und Identifizierung nach sich ziehen. Eine Analyse der Körperlichkeiten auf dem Platz soll darüber hinaus dem Umstand gerecht werden, dass inhaltliche Fragen nach der politischen Programmatik, nach Messages oder Forderungen der Platzbesetzer_innen weitestgehend ins Leere laufen: Inhalte wurden auf den Plätzen zwar permanent in Arbeitsgruppen diskutiert, doch wurden sie nicht in einer klassischen Form, als einheitliche Adressierung oder als Verhandlungspapier an die Herrschenden, formuliert. (Vgl. Mörtenböck/Mooshammer 2012: 7ff.) Judith Butler bemerkt hierzu, dass die verschiedenen Platzbesetzungen um den Globus sogar politisch durchaus unterschiedliche Agenden hatten (siehe z.B. den Unterschied zwischen den Besetzungen in der arabischen Welt im Vergleich zu Occupy Wall Street), sie aber dennoch von einer gemeinsamen Chiffre zusammengehalten wurden, die nicht in einer politischer Aussage aufgeht: »[E]s waren die Körper, die sich versammelten, die sich zusammen bewegten und miteinander sprachen und die einen Raum als öffentlichen Raum beanspruchten.« (Butler 2011) So würde der Vorwurf der Inhaltslosigkeit ins Leere laufen, denn das Erkämpfen und Aufspannen des öffentlichen Raums durch die Präsenz der Kollektivkörper auf den Plätzen ist bereits eine – vielleicht sogar die zentrale – Aussage der Platzbewegungen 2011. Eine Aktivistin aus New York formuliert charakteristisch: »Occupy Wallstreet’s ›message‹ is entangled with its form« (Demby 2011), während die linke Monatszeitung ANALYSE & KRITIK in ihrer Spezialausgabe über die Platzbesetzungen kennzeichnend titelt: »The Form is the Message.« (Arps 2011) Inhalte also korrespondieren in diesen Protesten mit der Form ihrer Artikulation, mit Praktiken, Präsenzen, Aktionen, Performanzen. Für den Protestforscher Simon Teune entwickelt sich die Demokratie der Plätze »im Konflikt mit der repräsentativen Demokratie zu einer präfigurativen Politik, also einer Politik, die die angestrebte Gesellschaft im eigenen Handeln vorwegnimmt.« (Teune 2013) Und dieses Handeln ist für Butler vor allem eines, das sich über Präsenz, über Performativität und Körperpraktiken artikuliert: »they pose the challenge on cor-

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poreal terms, which means that when the body speaks politically, it is not only in vocal or written language.«3 Die Platzbesetzerinnen und Platzbesetzer also praktizieren, ja verkörpern das, worauf sie verweisen: Ihr Handeln ist somit präfigurativ, oder anders: performativ. So scheint es sinnvoll zu fragen: Was performen diese Körper eigentlich? Was ist die ›Form‹ dieses körperlich performativen Protests, die uns Auskunft über dessen Message zu geben verspricht? So soll in diesem Aufsatz ebenfalls den Fragen nach den Messages, Inhalten und Programmatiken der ›Empörten‹ durch eine Analyse ihrer verkörpertperformativen Praktiken und der Bedeutung dieser Praktiken nachgegangen werden. Dies beinhaltet die Annahme, dass nicht sprachliche, verkörperte Akte genauso Träger von Bedeutung sind wie sprachlich unterstützte Formate. Die US-amerikanische Tanzwissenschaftlerin Susan Foster spricht in einem programmatischen Aufsatz zum Thema Performativität, Körper und Protestbewegungen mit dem Titel Choreographies of Protest von »articulate matter«, also dem Körper als artikulierendes Material, das nicht nur »das Fleisch ist, das das artikulierende Subjekt umherträgt«, sondern selbst Agent für Bedeutungsherstellung ist. (Foster 2003: 412) Der Körper verweist auf einen Sinn, indem er diesen immer schon gleichsam vollzieht – er stellt somit Bedeutung performativ her. Auf dieser Basis werde ich versuchen, mich über die Körper und ihre Performativitäten den Identifizierungen sowie den Bedeutungen der Artikulationen und damit dem politischen Alphabet der ›Aganaktismenoi‹ zu nähern. Die Recherche basiert auf eigenen Beobachtungen vor Ort, Gesprächen mit Aktivist_innen, auf Zeitungsartikeln und Aufsätzen aus griechischen Online- und Printmedien. Der Text folgt selbst einer performativen Form. Die Beschreibungen der Körperpraktiken von dem Platz sind, als vier Szenen, zwischen den Analysen ›montiert‹, sind an die Ästhetik der Reportage angelehnt und fungieren als dokumentarische Fragmente im Sinne einer dichten Beschreibung.4

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Denn das Kennzeichen von ›performativen Akten‹ ist gerade, dass sie Weltzustände nicht nur darstellen, im Sinne von Repräsentationen von symbolischen Bedeutungssystemen mit einem referenziellen Bezug, sondern v.a. selbst vollziehen: »Der Begriff der Performativität beschreibt bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken und repräsentieren, sondern die Wirklichkeit auf die sie verweisen, erst hervorbringen.« (Fischer-Lichte 2013: 44)

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Diese Schreibweise verhält sich äquivalent zum künstlerischen Teil meiner Forschung, der in Auseinandersetzung mit journalistischen Praktiken sowie in der Tradition des künstlerischen Dokumentarismus das Prinzip der Montage anwendet. Die Er-

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Panoramabild von dem Balkon eines Hotels: Der Syntagma-Platz Das griechische Parlament liegt am zentralen Athener Syntagma-Platz, dessen Name paradigmatisch ›Grundgesetz‹ heißt. Der Platz ist ein rechteckiges Marmorareal, durchzogen von mehreren Gartenbeten. An jeder seiner Seiten ist er von befahrenen Straßen und hohen Gebäuden flankiert. Die Besetzer_innen halten sich auch mitten auf den Straßen auf und blockieren den Verkehr, während auf dem Marmorareal die Zelte stehen. Zwischen dem Parlament und dem Platz liegt die sechsspurige und dicht befahrene Straße Amalias. Von ihr geht eine breite Marmortreppe ab, die zum Marmorgarten führt, d.h. dem architektonischen Areal im engeren Sinne, mit dem Marmorboden und den Blumenbeten. Dieser ist folglich im Vergleich zum Parlamentsgebäude und zur Amaliasstraße etwas untersetzt. Dieser Ebenenunterschied hat dazu geführt, dass die Besetzerinnen und Besetzer von ›oberem Platz‹ (Amalias und Parlamentsgebäude) und ›unterem Platz‹ (Marmorgarten) sprechen. Szene 1: der obere Platz Es ist der 05.06.2011. Der Syntagma-Platz ist seit einer Woche besetzt. Wie jeden Tag versammeln sich die ›Empörten‹ gegen 18 Uhr an der Amaliasstraße, wenden sich zu Zehntausenden dem Parlamentsgebäude zu und beginnen, ihre alltäglich-etablierte, ganz eigene Performance. Die Menge steht dicht, Schulter an Schulter zusammen, hebt die Arme und zittert mit den Handflächen – dabei wird Lärm gemacht, Trillerpfeifen, Buhrufe, Schreie überbieten sich gegenseitig. Die Bewegung der zitternden Hände könnte man mit der Tanzvokabel ›Jazzhands‹ beschreiben; es sind aus dem Handgelenk heraus vollzogene kurze Hinund Herschwenks der Handflächen. Nach einigen Sekunden synchronisieren sich die Bewegungen der Menschen, sie beginnen, gemeinsam die Handflächen rhythmisch dem Parlament entgegenzustrecken und »Diebe, Diebe« zu rufen. Zwischendurch reimt die Menge immer wieder neue Sprechchöre, die die Parlamentarier_innen entweder bedrohen (»Bald kommen die Galgen«) oder beschimpfen (»Lügner, Deppen, Diebe«) oder beides (»Das Parlament, das Bordell soll brennen«). Diese Slogans werden von Musik mit traditionellen Trom-

zählungen über die verschiedenen Szenen des Platzes sind konzipiert als Blicke durch die Videokamera einer Journalistin.

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meln oder von Topfschlagen begleitet, was in manchen Momenten den Charakter eines Volksfests annimmt. Zitternde Handflächen statt geballte Fäuste Die zitternden Handflächen sind eine Geste im Rahmen des täglichen Protestrituals auf dem oberen Platz. Gesten sind symbolische und körperliche Handlungen, Trägerinnen von Ritualen sowie Mittel der Sinngebung und sie artikulieren Stimmungen und Gefühle. Sie werden mimetisch erlernt und stellen einen Bezug zu einer anderen Welt her, häufig über einen Ähnlichkeitsbezug im Sinne einer Ähnlichkeit der Anlässe, der handelnden Personen und sozialen Situationen. Über den mimetischen Vollzug von Gesten wird Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit hergestellt. (Vgl. Wulf 2010: 11) Doch was zeigt sich in den Gesten und was für ein Bezug zu welcher Welt wird über sie hergestellt? Die gestische Form der zitternden Handflächen wurde in Griechenland zum ersten Mal 2011 gesehen, war jedoch ein paar Monate zuvor bereits bei der Besetzung des tunesischen Kasbah-Platzes oder auch in Frankreich bei den Protesten der ›Indignés‹ praktiziert worden. Die Menge auf der Amaliasstraße könnte sich mit dieser Geste also auf die internationale Bewegung der Platzbesetzer_innen bezogen und die Zugehörigkeit zu ihr zum Ausdruck gebracht haben. Die Platzbesetzenden benutzten eben nicht die symbolischen Träger bisheriger Protestbewegungen, wie die in die Höhe gestreckte Faust als Geste der Arbeiter_innenbewegung, sondern eine neue Geste, die die Ähnlichkeit der Bewegung mit der Reihe von internationalen Platzbesetzungen in 2011 signalisierte. Interessant ist allerdings, dass nicht zu rekonstruieren ist, auf was die zitternden Handflächen genau verweisen. Denn der Gebrauch dieser Geste war kein erklärter, offiziell ausgesprochener und höchstwahrscheinlich nicht einmal ein bewusster Prozess: Keine der Personen, mit denen ich sprach, konnte wirklich rekonstruieren, woher diese Geste kam und wie sie gemeint war. Es scheint, als hätten die ›Empörten‹ die Geste über die Rezeption von Youtubevideos von anderen Plätzen ›aufgeschnappt‹ und dann in einem nicht intentionalen Prozess mimetisch wiederholt, bis die Geste zu einem Teil des alltäglichen Protestrituals wurde. Es ist auch denkbar, dass die Geste von den Antiglobalisierungsprotesten herrührt, also aus einem Kontext von Aktionen stammt, bei denen sich die Beteiligten die Handflächen weiß anmalen und hochstrecken, um ihr Unbewaffnetsein, ihre friedlichen Intentionen oder die Verletzlichkeit des eigenen Körpers zu signalisieren.

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Plausibel ist eine dritte Erklärungsvariante, nämlich die, dass die Geste aus dem Fußballstadium kommt: Um Spannung zu erzeugen, bedienen sich Fußballfans einer ähnlichen Geste, die darin besteht, mit den Handflächen zu zittern, sich irgendwann zu synchronisieren, um diese Haltung schließlich dann im gemeinsamen Gebrüll eines Fußballslogans aufgehen zu lassen. Für diese Lesart spricht auch die Tatsache, dass die Slogans auf dem oberen Platz stets auf Melodien von Fußballslogans zurechtgereimt wurden. Doch egal, ob vorbewusst, unintentional und ohne klare Herkunft – Tatsache ist, dass sich diese Geste durchgesetzt hat. Denkbar ist, dass sie erfolgreich war, gerade weil sie nicht klar erkennbar aus einem politischen Kontext kam, sondern vielmehr andere, polisemische Assoziationen weckt, mit denen man sich auf eine neue Referenz als den kleinsten gemeinsamen Nenner einig werden konnte. Die ›Empörten‹ bedienten sich einer polisemischen Geste – einer Mischung zwischen neuer Protestkultur und der alten Populärkultur des Fußballstadiums –, weil sie als Menge so heterogen sind, dass sie politisch neutrale Performativitäten brauchen, um in ihrer dispersen Vielheit, für den Moment des Protests, Gemeinsamkeit herzustellen – als Geste der »radikalen Inklusion« (Raunig 2012: 115). In diesem Sinne wären die zitternden Handflächen eine performative Ressource gewesen, die das Vermögen in sich barg, u.a. durch ihre populäre und unklare Herkunft die Zusammengekommenen mittels eines körperlich-mimetischen Vollzugs als Gemeinschaft neu zu konstituieren. Affekte: die Moutza Eine weitere Geste erlangte Bedeutung: die Moutza, einer althergebrachten Geste der Beschimpfung im griechischen Alltag. Die Moutzageste besteht darin, jemandem die offene Handfläche entgegenzustrecken. Die Geste wird an eine oder einen Dritten adressiert, um Herablassung zu signalisieren. Die Platzbesetzer_innen auf dem oberen Platz praktizierten über eineinhalb Monate hinweg, täglich das Parlamentsgebäude und damit auch die darin arbeitenden Parlamentarier_innen mit der Moutza gestisch zu beschimpfen. Hier handelt es sich um eine allen bekannte und von allen genutzte Handbewegung aus der Populär- und Alltagskultur, die wegen ihrer von der Politik unabhängigen Herkunft ›radikale Inklusion‹ ermöglicht. Dabei ist auch in der griechischen Kulturgeschichte nicht wirklich bekannt, was die Moutza genau meint; sie ist quasi als überlieferter Signifikant lediglich als gestische Artikulation von Affekten in Verwendung – von Verachtung, Wut und v.a. von Empörung. Gesten sind motorisches, physisches Geschehen und Ausdruck eines Inneren zugleich. (Vgl. Wulf/Fischer-Lichte 2010: 9) Das lässt auch Schlüsse hinsicht-

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lich der Selbstbezeichnung ›Empörte‹ zu. Die einzige Bezeichnung, die sich die Platzbesetzenden geben konnten, um sich zu einer Gemeinschaft zu formieren, bezieht sich auf die Erfahrung eines Affekts: einer traditionell nicht zur Sphäre der Politik gezählten Erfahrung, die eine Kategorisierung in traditionelle politische Zugehörigkeiten verunmöglicht und genau deswegen einen Schirm darstellen kann, der heterogene politische Herkünfte unter sich zu vereinigen in der Lage ist. Kulturelle Aufführungen und Rituale der Inklusion einer Multitude der Differenten Mit den zitternden Handflächen und der Moutza verwendeten die Menschen auf dem oberen Platz Gesten, die es ihnen als polisemische und deswegen vage, ja quasi bedeutungsleere Signifikanten ermöglichten, sich leicht, unverbindlich und lediglich im Vollzug einer körperlichen Handlung oder im Ausdruck eines Affekts als Gemeinschaft zu konstituieren. Vor dem Hintergrund des Mangels an vorheriger, einheitlicher (politischer) Identität hat die Menge diese neue und eigensinnige Performativität entworfen, die operational an die physische Präsenz, körperliche Bewegung und den gemeinsamen Affekt gebunden ist, um die Inklusion der Anwesenden zu bewerkstelligen. In diesem Sinne sind die erwähnten Körperpraktiken auf dem oberen Platz als kulturelle Aufführungen zu denken oder im Begriff des im Performativitätsdiskurs viel zitierten Anthropologen Milton Singer als ›cultural performances‹. Singer verwendete den Begriff, um »particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts« zu beschreiben, durch die sich eine Kultur ihr Selbstverständnis und Selbstbild sowohl dynamisch her- als auch darstellt. (Singer 1959: XIIf.) Gesellschaftliche Rollen, Zusammenhalt, Intimität, Solidarität und Integration werden in Ritualen und performativen Akten inszeniert, die das geteilte symbolische und praktische Wissen dar- bzw. ausstellen und als soziale Ordnung hervorbringen und reproduzieren. Die Praktiken der ›Empörten‹ als cultural performances zu begreifen, heißt, sie als gesellschaftliche und damit als politische Prozesse ernst zu nehmen, die sowohl Sinn als auch Gemeinschaft konstituieren. Die cultural performance der Anwesenden des oberen Platzes brachte eine »performativ erzeugte, episodenhafte, körperliche Gemeinschaftlichkeit« (vgl. Alkemeyer 2010:84) hervor, wie sie z.B. auch bei Festen, Paraden oder in Fußballstadien entsteht, und vermochte damit, die Rolle eines Vehikels für die Inklusion einzunehmen: die politisch und sozial disperse und stark heterogene

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Menge der ›Empörten‹ suchte in der performativ aufgeführten Gemeinschaft der Heterogenen einen möglichst alle einschließenden Zusammenhang. In diesem nicht identitären, heterogenen Zusammenhang sind die Platzbesetzer_innen eine Vielheit Singularitäten und lassen sich gut mit dem Begriff ›Multitude‹ beschreiben. (Vgl. Negri/Hardt 2002; 2004; 2009) Dieser Begriff beschreibt eine Menge, die sich nicht identitär konstituiert, sondern in der Praxis zusammenkommt. Als Vielheit der Vielen ist ihnen, nach Paolo Virno, ›das Unzuhause‹ die zentrale gemeinsame Erfahrung. (Virno 2005: 42) Mit dem ›Unzuhause‹ gehen sie um, indem sie neue Formen von Gemeinschaft entwickeln, die weder auf einer vorgängig gemeinsamen Sprache noch einer ähnlichen Herkunft aufbauen. (Kusser 2011: 263ff.) Die ›Aganaktismenoi‹ teilen dieses ›Unzuhause‹ im politischen Sinne – etwa als Nichtmitglieder einer Partei – und wählen Formen des gemeinsamen Ausdrucks, wie z.B. die vorgestellten Gesten und cultural performances, die radikal inklusiv und damit gemeinschaftsbildend wirken, ohne dass eine einheitliche Identität ausgesprochen werden müsste. Dass dieser Wechsel von einem gängigen Gestenrepertoire auf linken Demonstrationen (z.B. geballte Faust) zu einem anderen und neuen (z.B. zitternde Handflächen) überführt wurde, offenbart, dass sich die Platzbesetzer_innen als neue Kollektivitäten zusammengefunden haben. Multitude im Schwellenzustand In der Performativitätstheorie wird davon ausgegangen, dass cultural performances nicht nur Spiegel des gesellschaftlichen Konsenses sind und diesen stetig durch Wiederholung affirmieren, sondern auch abweichend wirken, in dem Sinne, dass sich die an ihnen beteiligten Individuen und Gemeinschaften durch die Performances transformieren und neu konstituieren. In diesem Sinne, so Erika Fischer-Lichte, »sind performative Prozesse per definitionem auf die Zukunft bezogen« (Fischer-Lichte 2013: 84ff). Schließlich ist ein Körper, der in Erscheinung tritt, immer ein flüchtiger und prozessual zu denkender, ein lebendiger Organismus, der sich im Prozess einer permanenten Transformation, im ständigen Werden befindet. (Vgl. Wulf 2005: 7ff.) In diesem Zusammenhang ist der von dem Kulturanthropologen Victor Turner geprägte Begriff ›Liminalität‹ fruchtbar. Bei der Untersuchung von Ritualen stellte Turner fest, dass kulturelle Aufführungen Mittel zur Erneuerung und Etablierung von Gruppen als Gemeinschaften sind. Sie erzeugen Momente der communitas, die er als Momente von gesteigertem Gemeinschaftsgefühl beschreibt, das die Grenzen aufhebt, welche die einzelnen Individuen voneinander trennen. In diesem Sinne sind Rituale Zeiträume des Übergangs von einem Status zum anderen. (Vgl. Turner 1977: 36-57) Diese

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Schwellenphase wäre dabei das Moment der Liminalität – ein Zustand der labilen Zwischenexistenz, »betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial« (Turner 1977: 95). Der Zustand des Liminalen ist der des ›Dazwischen‹, der Potenzialität sowohl für das individuelle Selbstverständnis der Beteiligten als auch für das der Gemeinschaft. Die täglichen Protestrituale oder cultural performances auf dem SyntagmaPlatz sind Mittel der Erneuerung und Etablierung der dort versammelten Gemeinschaften geworden und artikulieren diesen Übergang ihrer Identifizierung und des Selbstbezugs – man verhält sich nicht mehr wie die herkömmlichen Protestler_innen, angedockt an herkömmliche Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften, sondern es geht darum, sich neu als communitas zu erfinden. »In liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted«, (ebd.: 40) so Turner über den Erfindungsreichtum von Gemeinschaften im Schwellenzustand, im Augenblick ihrer Liminalität. Insofern wären die ›Empörten‹ wie oben gezeigt eine Multitude im Schwellenzustand, die ihre operativ-körperliche Gemeinschaft in enactments neuer Protestgesten und -rituale konstituiert. Zwischen Mob und Multitude Die weitergehende Frage wäre nun, als welche Art von Gemeinschaft sich die Multitude im Vollzug von jeweils welcher Geste konstituiert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der verkörperten Performativität und der Art von Gemeinschaft, die entsteht? Die Performativität des oberen Platzes wurde in Griechenland seitens der Presse, aber v.a. seitens der etablierten organisierten Kräfte der Linken, vielfach abwertend kommentiert. (Vgl. Giovanopoulos/Mitropoulos 2011: 12ff.) Die Menge wurde mit negativ besetzten Begriffen bezeichnet, wie ›Masse‹, ›Mob‹ oder ›Horde‹. Gewiss spiegelt sich darin die reflexartige Angst der Macht gegenüber der Menge wider, die bis zu Denkern wie Hobbes oder Le Bon zurückreicht. Die Masse denkt, so Le Bon, »in Bildern, nicht in der Rede, mit dem Körper statt mit der Logik« (Le Bon 1895: 22) und ist extremistisch und gewaltbereit. Tatsächlich war die Menge des oberen Platzes durchaus in Momenten angsteinflößend: Die lauten, teils obszönen Beschimpfungen des Parlaments hatten nichts ›zivilisiertes‹ an sich und erinnerten an die Kultur des Hooliganismus. Gleichzeitig beunruhigten die vielen griechischen Fahnen und das sporadische Singen der Nationalhymne, da dies zeigte, dass sich unter die Menge des oberen Platzes patriotische Gruppen mischten, potenzielle Anhängerinnen und An-

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hänger der rechtspopulistischen und faschistischen Kräfte in Griechenland – Menschen, die in Teilen eine gewalttätige, hooliganistische Kultur pflegen. Nehmen wir an, dass es sich beim oberen Platz um eine Multitude im Schwellenzustand handelt, die sich neu entwirft, dann können wir für den Moment ihres operativen Zusammenkommens davon ausgehen, dass sie sich in einem liminalen Zustand der Potenzialität, im ›Dazwischen‹ befand –zwischen Multitude und Mob–, in dem jedoch unklar war, als was sich die Menge konstituieren würde. Auf der einen Seite können das Singen der Nationalhymne und die griechischen Fahnen als allgegenwärtiges, populärkulturelles Zeichen, etwa vergleichbar mit der Moutza, gelesen werden, mit dem die Menge als ›Gemeinschaft von Griechen‹ gegen den neokolonialen Angriff aus dem europäischen Ausland protestieren wollte. Auf der anderen Seite wurde die Menge auf dem oberen Platz durch die hooliganistisch-aggressive Performativität durchlässig für regressive Kräfte und kompatibel mit ihnen, die die Affekte der Wut und der Empörung in eine nationalistische und faschistoide Richtung zu lenken suchten. Eindeutiger ist im Gegenzug hierzu das Bild des unteren Platzes – des Orts der Vollversammlung. Szene 2: der untere Platz In der Mitte des aus Marmor bestehenden Areals auf dem unteren Teil des Platzes, umgeben von den Gartenflächen, wird nachmittags das Bürger_innenmikro aufgestellt. Um dieses herum bildet sich ein weiter Halbkreis. Auf der Fläche von einigen Quadratmetern sitzen die Versammelten auf dem Boden, weiter hinten wird gestanden – einige Tausend finden in einer kreisförmigen Formation Platz, sodass alle freie Sicht auf das Mikro haben. Es werden Lose mit Nummern ausgeteilt, die während der Versammlung von einem Orgateam wieder eingesammelt werden, um die Redner_innen des Abends auszulosen. Der Moderator tritt ans Mikro und ruft die ausgelosten Nummern auf: »Nr. 25, Nr. 132, Nr. 553 und die Nr. 6«. Nacheinander stellen sich diejenigen mit den aufgerufenen Losnummern in einer Reihe auf und warten, bis sie ans Mikro treten können, um in der ausgemachten Redezeit zur Versammlung zu sprechen. In der Versammlung herrscht weitestgehend Ruhe, damit die Redner_innen hörbar bleiben. Hin und wieder gibt es Momente der Abstimmung – in einem offenen, sichtbaren Prozess werden Arme gehoben, und die Stimmen werden ausgezählt.

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K ÖRPERFORMATION

DER

D EMOKRATIE

Die kreisförmige Formation versammelter Körper steht in der abendländischen Tradition für das choreografische Bild, das wir mit der noch aus der Antike herrührenden Vorstellung von Demokratie verbinden: Alle freien Bürger einer Stadt – der sogenannte Demos – versammeln sich auf einem Platz, debattieren und entscheiden über ihre Angelegenheiten. (Vgl. Lorey 2012: 16) Die griechischen Platzbesetzer_innen kennen dieses Bild aus dem Geschichtsunterricht in der Schule und wendeten die Bilder und das Know-how, das aus den Versammlungen in Spanien ›herüberschwappte‹, zügig auf ihren Kontext an, ohne zu zögern, den ihnen dafür geläufigen Begriff ›Agora‹ zu benutzen.5 In dieser Formation nach dem Vorbild der Polis entsteht für Hannah Arendt ein politischer Raum als Erscheinungsraum zwischen Menschen, die frei miteinander sprechen und so das Öffentliche herstellen. Politisches Handeln braucht diesen Raum, wo Menschen sich gegenseitig erscheinen, um sich zu organisieren, um miteinander zu sprechen und zu agieren. (Vgl. Arendt 1959) Während Arendt diesen Raum in einer abstrakten Form überall denken kann, wo sich Sprache ereignet, betont Judith Butler in ihrem Text zu den Platzbesetzungen 2011 (Butler 2011) wie bereits angedeutet die Notwendigkeit der körperlichen Präsenz zur Aufspannung des Öffentlichen. Im hier betrachteten Fall der Vollversammlungen wird dieser Raum des Öffentlichen als Halbkreis aufgespannt, der amphitheaterähnlich auf das Podium für die Redner_innen, hier Ort des Bürger_innenmikros, gerichtet ist. Selbst wenn der Platz architektonisch nicht kreisförmig, sondern als langes Rechteck strukturiert ist, sind es hier die Körper, die sich in einen Halbkreis eingliedern und die Architekturen von Parlamenten oder antiken Theatern körperlich aufrichten und mimetisch vollziehen. Der Moment der Abstimmung wird ebenfalls körperlich vollzogen, und zwar durch das Heben der Arme, die ausgezählt werden. Das Heben der Arme führt zu den Entscheidungen der Versammlung, wobei sich in dem Moment die Menge als Summe der Einzelnen artikuliert. Darin verwirklicht sich eine wichtige Lo-

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Die Agora wird bereits im Geschichtsunterricht der griechischen Grundschulen als kulturelles Erbe Griechenlands gelehrt und ist somit Teil der Allgemeinbildung – wie etwa das Wissen um und über den Holocaust in Deutschland. Die griechischen ›Empörten‹ übernahmen von den Spanier_innen die Idee der Versammlung, nannten sie aber von vornherein ›Agora‹ und übernahmen von letzterem Konzept auch die Regeln, z.B. die Auslosung des Rederechts, etwas, was in Spanien nicht praktiziert worden war.

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sung des Platzes – »Jede_r spricht für sich selbst« –, und zwar als körperlicher Akt. Dabei ist das Heben der Arme zur Abstimmung eine Geste, die weit davon entfernt ist, eine neue Erfindung der ›Empörten‹ sein. Sie signalisiert vielmehr einen Ähnlichkeitsbezug zur ersten direkten Demokratie der Geschichte, der antiken Agora in der Polis von Athen. Sie verweist darauf, dass die ›Empörten‹ die Identität des Bürgers im Demos beanspruchen, der über die Belange der Polis direkt entscheiden darf, lediglich durch den Vollzug eines Handzeichens. Damit ›enacten‹ sie eine cultural performance, ein archaisches Ritual basisdemokratischer Praxis. Mit dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Andrew Hewitt können wir hier von einem rehearsal, einer Probe, oder einer social choreography sprechen, die ihr Potenzial beständig auslotet. Im Zuge seiner Ausführungen zur Konzeption von sozialer Ordnung als ›soziale Choreografie‹ argumentiert Hewitt, dass die sozialen Konfigurationen, die im enactment eines bewegenden Körpers aufgeführt und verkörpert werden, immer wieder von Neuem erprobt und ›hervorgebracht‹ werden. Er führt den Begriff rehearsal, Probe, ein und meint damit einen Raum, in welchem alternative Formationen, Erfahrungen und Möglichkeiten zum Bestehenden wiederholt und erprobt werden. (Vgl. Hewitt 2005) Auch wenn die Vollversammlungen nicht die großen politischen Fragen, sondern eher die eigene Organisierung auf dem Platz zum Gegenstand hatten, übten, ja probten die Versammelten in Hewitts Sinne täglich demokratisches Sprechen als kulturelle Aufführung der Körper im Halbkreis, der Urform der Demokratie. Direkte Demokratie als Präsenzdemokratie der Körper In der Abstimmungsgeste jeder und jedes Einzelnen verwirklicht sich nicht nur die Losung der Platzbesetzer_innen – ›Jede_r spricht für sich selbst‹ –, sondern auch die der »direkten Demokratie« (Giovanopoulos/Mitropoulos 2011: Anhang), wie sie in der ersten Selbsterklärung der Syntagma-Platz-Besetzer_innen formuliert wurde. Angelehnt an die spanische ›Empörten‹-Bewegung operierten die Athenerinnen und Athener mit dem Slogan: »Reale Demokratie Jetzt!« , was teilweise und keinesfalls immer definitorisch klar abgegrenzt auch als »Direkte Demokratie Jetzt!« verstanden oder paraphrasiert wurde. Wie die Spanier_innen, so brachten damit die Griechinnen und Griechen ihr Unwohlsein mit den zeitgenössischen Demokratien zur Sprache, die für sie in Sachen Beteiligung der Bürger_innen an den Entscheidungsprozessen Mängel aufweisen – dies in Anlehnung an zeitgenössische Kritiken repräsentativer Demokratien, die Begriffe wie

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»Postdemokratie« (Crouch 2013) oder ›Krise der Repräsentation‹ verwenden. Zentral für unsere Fragestellung ist, dass diese Kritik nicht nur durch Sprache formuliert, sondern als tägliche Praxis ›direkter Demokratie‹ performativ vollzogen wurde, die an die körperliche Präsenz jeder und jedes Einzelnen gebunden war. Isabell Lorey liest diesen Aspekt als praktische Anwendung der Kritik der ›Empörten‹ gegenüber repräsentativen Organisationen und zitiert Rousseau, der als Kritiker der repräsentativen Demokratie allein in der physischen Präsenz der gesamten Bürgerschaft die Grundlage für demokratische Souveränität sah: »[D]er Souverän [kann] nur dann handeln, wenn das Volk versammelt ist« (Rousseau 2011: 100) und »[d]er Souverän [hier also das Volk] […] kann nicht vertreten werden (ebd.: 106).« In der Versammlungspraxis der Agora auf den Plätzen sieht Lorey das praktisch angewandte Gegenteil der repräsentativen Demokratie, die behauptet, die Nichtpräsenten, die Abwesenden zu vertreten. Lorey spricht hier von »präsentischer« (Lorey 2012: 43) statt repräsentativer Demokratie, die bereits im Ausruf »Reale Demokratie Jetzt!« zum Ausdruck komme. Das ›Reale‹ an dieser Demokratiepraxis sei nicht, dass sie die einzig richtige Demokratieform sei, sondern der Ausruf ›Jetzt!‹. Eine Demokratieform, die gerade, jetzt, im Moment stattfindet. Eine Praxis, die nicht bereits schon festgeschrieben, sondern sich vielmehr in actu und somit im körperlichen enactment vollzieht. (Vgl. Lorey 2011) Die kreisförmig sitzende Gemeinschaft des Demos artikuliert also performativ und körperlich ihre Kritik an der repräsentativen Demokratie. Zwischen Multitude und Demos Was für eine Gemeinschaft entsteht nun in diesen beständig ausgeführten demokratischen Performances? Inwiefern spielt – analog zur Analyse des oberen Platzes – die Art der Bewegung und Performativität für die Herstellung einer bestimmten Art der kollektiven Identifizierung eine Rolle? Der griechische politische Philosoph und Kommentator Kostas Douzinas sieht in der Multitude der Vollversammlung des unteren Platzes die Gemeinschaft des Demos entstehen. Douzinas führt aus, dass der Demos eine abstrakte und ebenfalls operative politische Kategorie ist: Der Demos ist die Gemeinschaft der Bürger im Moment des Vollzugs einer demokratischen Diskussion im öffentlichen Raum der Agora. (Douzinas 2011: 216ff.) Folglich können wir für unsere Frage sagen, dass die Multitude im Moment des Versammelns um das Bürger_innenmikro, im Zuge der Dislokation vom oberen in das untere Platzareal, einen liminalen Moment durchläuft, wo sie sich

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im enactment der demokratischen Performativität zur Gemeinschaft des Demos transformiert und konstituiert. Durch die Performativität der Agora konstituiert sich die Multitude im Schwellenzustand zu etwas Neuem – auch wenn es die gleichen Menschen sind, die sich zuvor auf dem oberen Platz als potenzieller Mob artikuliert haben, werden sie auf dem unteren Platz zur Gemeinschaft der zur Abstimmung und kollektiven Diskussion versammelten Zivilbürger_innen. Diese Gemeinschaft des unteren Platzes der Versammlung unterscheidet sich von der des oberen Platzes, der protestierenden und gestikulierenden Menge. Wir haben weiter oben gesehen, dass die ›Empörten‹ in ihren Choreografien auf dem oberen Platz affektgeladene, populäre, patriotische und teilweise unverständliche Performances vollzogen, die sich in einem potenziellen Zwischenraum zwischen Multitude und Mob verorten lassen. Im Falle des unteren Platzes ist die Gemeinschaft klarer. Die Gemeinschaft des Demos vermochte es, im enactment des demokratischen Rituals, in der Ruhe der kreisförmigen Formation der Körper, eine Politik anderer Affekte, eines anderen Werdens herzustellen – der Aufmerksamkeit, des Zuhörens und des Respekts gegenüber der Abstimmung jeder und jedes Einzelnen. Die Performativität und die Gesten der Versammlung des unteren Platzes verwiesen auf die Urform einer friedlichen Diskussion unter gleichberechtigten Bürgern6 und verpflichteten sich damit der Kultur der Demokratie. Durch genau diese Performativität, in der jede und jeder einzeln hervortreten und sich verständigen muss, wurde die Multitude immun gegen regressive Kräfte, die den Affekt der Wut in xenophobe und rechtspopulistische Projektionen zu kanalisieren suchten: Die Rhetorik der Obszönität und der Gewalt der Slogans vom oberen Platz wiederholte sich nicht in den Redebeiträgen der Versammlung, die sich von Nationalismus und Xenophobie distanzierte und diese Aspekte nicht als Teil einer gemeinsamen Kultur verhandelte. So wurde der potenzielle Mob im Moment des Vollzugs der cultural performance der Agoraversammlung zur Gemeinschaft der Basisdemokrat_innen. Szene 3: schlafen, essen, feiern – Reproduktion der Körper Es ist morgens auf dem Syntagma-Platz. Langsam kriechen verschlafene Menschen aus den rund 150 Zelten des Platzes. In der selbstverwalteten Küche wird Kaffee gekocht. Dort treffen auch die Lebensmittel für den Tag ein: Geschäfte aus der Nachbarschaft und Privatpersonen statten die Gruppe ›Ernährung‹ mit dem Nötigen aus, das gebraucht wird, um später das kostenlose Essen zuzuberei-

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Hier verwende ich ausschließlich die männliche Form, weil tatsächlich zu dieser Zeit nur die Männer als Bürger zueinander in gleichberechtigtem Verhältnis standen.

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ten. Einige aus der Arbeitsgruppe ›Sauberkeit‹ sammeln den herumliegenden Müll auf, während andere mit Restplanen einen Kiosk für die Arbeitsgruppe ›Jura‹ improvisieren. Ein Aktivist aus der Gruppe ›Technische Unterstützung‹ kämpft mit der Etablierung des WLANs auf dem Platz, das immer wieder zusammenbricht. Am Erste-Hilfe-Zelt ist die erste hitzige politische Diskussion entfacht: Abschreibung der Schulden ja, aber für oder gegen die Eurozone? Die Gruppe der ›Künstler_innen‹ macht jetzt schon Musik und probt ein Stück mit der ›Anonymous‹-Maske. Manche, die nicht einzuordnen sind, malen an einem Transparent, auf welchem steht: »Wir nehmen unsere Leben in die eigenen Hände«. Auf dem Treffen der Arbeitsgruppe ›Versammlung‹ ist ein Streit ausgebrochen darüber, über welche Themen in der Versammlung abgestimmt werden soll. Bevor es Nachmittag wird und der Platz sich mit ›Empörten‹ füllt, werden alle Gruppen tagen müssen, um die Themen der Vollversammlung vorzuschlagen. Denn gegen 18 Uhr kommen die Menschen aus ihren Jobs und verbringen ihre Zeit als Protestler_innen vor dem Parlament – manche sind Teil der Arbeitsgruppen und packen selbst an –, kochen, organisieren, vernetzen, manche kommen vorbei, um Politiker_innen zu beschimpfen, manche kommen zum Spazierengehen, weil man hier alle trifft. An verschiedenen Tagen gibt es verschiedene kulturelle Aktivitäten, thematische Feste, Konzerte, Mal- oder Tanzkurse; heute steht ein ›Open Mic‹ für Hobbypoetinnen und -poeten auf der Tagesordnung. Prekäre Körperlichkeit Die Installation der Zeltstadt auf dem Platz entwickelte sich über einen permanenten Besetzungsprozess von ein bis zwei Monaten. Die tägliche Präsenz und permanente Aneignung des zentralen Parlamentsplatzes durch die ›Aganaktismenoi‹ ist an sich ein körperlicher Einsatz, der spricht. Ähnlich wie bei den bis heute andauernden Platzbesetzungen am Tahrir-Platz, signalisiert die tägliche Präsenz die Dringlichkeit der Anliegen aufseiten der Protestler_innen, die Inanspruchnahme des Rechts auf öffentlichen Raum und die Bereitschaft, sich über die Dauer des Protests hinweg den Schwierigkeiten des Lebens auf der Straße auszusetzen. Die griechischen ›Empörten‹ begründeten in ihrer ersten Selbsterklärung: »Wir gehen nicht, bevor sie [die Parlamentarier_innen] gegangen sind« (Giovanopoulos/Mitropoulos 2011: 15) – und sie artikulierten ihre Losung auch körperlich durch die Hartnäckigkeit ihrer Präsenz. Zusätzlich füllten sie die Zeit ihres Aufenthalts mit der Gestaltung alternativer Formen des Zusammenlebens und bedienten die grundlegenden Bedürfnisse des Alltags durch unentgeltliche Selbstorganisation. Denn in den verschiedenen

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Arbeitsgruppen geht es um nichts weniger als die Konditionen des Lebens in der jüngsten Krise des Kapitalismus – um Lebensmittel und Ernährung, um Wohnraum, Arbeit, ärztliche Versorgung, Bildung, Sozialleistungen für das Alter, Solidarität, Mobilität, ökonomische Ungleichheit etc. Es geht um die Aufrechterhaltung des Lebens im Kontext der geteilten Erfahrung von Prekarisierung im Neoliberalismus. Und diese Debatten blieben nicht bei Bekenntnissen oder Forderungskatalogen stehen, sondern übersetzten sich gleichsam in Praktiken zur Aufrechterhaltung des gemeinsamen Lebens auf dem Platz. Hier fungiert der Einsatz des Physischen, des verletzlichen Körpers samt seiner reproduktiven Bedürfnisse nach Nahrung, Behausung, Pflege und Schutz vor Witterung und Gewalt als Mittel des politischen Alphabets der ›Empörten‹. (Vgl. Foster 2003) Der Körper wird hier also »Objekt und Subjekt des politischen Kampfes« (Pabst 2007: 95), während gleichsam wegen und für ihn gehandelt wird. Diese Tätigkeiten der Aufrechterhaltung der Körper wurden kennzeichnend für die kollektive Identität der Gemeinschaft der ›Aganaktismenoi‹; auf die Frage ›Wer sind wir?‹ formulierten sie: ›Wir sind diejenigen, die ihre Leben in die eigenen Hände nehmen wollen‹. (Giovanopoulos/Mitropoulos 2011: 326) Das, was die ›Empörten‹ zu einer Gemeinschaft zusammenführte, war also u.a. die Organisierung des eigenen Lebens für den Schutz und die Pflege der Körper vor dem Ausgeliefertsein auf der Straße während der Dauer der Besetzung. Auch hier bildete sich die Gemeinschaft um eine Sphäre, die traditionell keine politisch-strategische ist und auf die sich die heterogene Menge der ›Empörten‹ als gemeinsame positive Referenz einigen konnte. Für Butler ist es eben die gemeinsame Verletzlichkeit, die Schutzlosigkeit, die dispossession (das Enteignetsein), die Ausgangspunkt von Politik sein muss, die entsprechend und naturgemäß selbst eine sorgende Praxis – als körperliche, affektive und physische Akte – nach sich zieht, denn reproduktive Akte und Strategien oder Politiken sind immer an den Körper als Material der Politik gekoppelt. (Vgl. Butler 2011) Reproduktion der Körper Die feministische Theoretikerin Silvia Federici benutzt zur Bezeichnung dieser Praktiken den aus der feministischen Kritik herrührenden Begriff ›Reproduktion‹. Als Sphäre der Reproduktion wird in der fordistischen Ära die weibliche Arbeit bezeichnet, die nötig ist, um den Arbeiter für die Produktionssphäre zu erhalten. Das beinhaltet nicht nur Kochen, Haushalten und Pflegen, sondern auch Gebären, sexuelle und affektiv-emotionale Arbeit. Während reproduktive Arbeit im Privaten verortet wurde, versuchen feministische Bewegungen seit den

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1970er-Jahren, Reproduktionsarbeit als Arbeit zurück in die politische Sphäre zu bringen und zu repolitisieren. Federici sieht in den Infrastrukturen der Zeltstädte der Occupy-Bewegungen Anleihen aus dem Feminismus.7 Aus dieser Perspektive, die Reproduktionsarbeit ins Zentrum politischer Arbeit stellt, argumentiert auch die feministische Gruppe Precarias a la Deriva. Das Miteinander, die Herstellung des Gemeinsamen ins Zentrum von politischer Handlung zu stellen, das wäre für sie die Strategie, um im Kontext der gegenwärtigen ›Sorgekrise‹ neue Allianzen zu bauen. (Vgl. Precarias a la Deriva 2004) Diese Allianz ist für Judith Butler eine »alliance, that enacts the social order it seeks to bring about« (Butler 2011). Die Gemeinschaft der ›Empörten‹ ist also eine neue Allianz, die ihre Politiken als Praktiken der Selbstsorge um ihre Körper in der Krise alltäglich vollzieht und damit eine Reproduktionsgemeinschaft der prekären Körper bildet. Klar wird dabei auch, dass die Aversion gegen politische Organisationen auf dem Platz, z.B. gegen Parteien oder Gewerkschaften, nicht bedeutet, dass die ›Empörten‹ gegen Organisierung sind: Der SyntagmaPlatz war eines der beeindruckendsten Beispiele massenhafter Selbstorganisation in der griechischen Geschichte nach den Partisan_innenkämpfen gegen die Besatzung durch die Nazis. Nur betrifft diese Selbstorganisation die Belange und Bedürfnisse auf dem Platz und nicht jene, die aus der Organisierung als Mitglied in politischen Trägern institutioneller Politik hervorgehen. Reproduktive Aktivitäten betreffen aber nicht nur das Überleben, sondern auch das Erleben: Die Atmosphäre auf dem Platz hatte Momente volksfestlichen Charakters und wurde oft mit einem Festival oder Happening verglichen. Auf dem Platz spielte man Musik und Brettspiele, trank Kaffee und wurde Zuschauer_in oder Akteur_in zahlreicher kultureller Darbietungen, von Konzerten bis Theaterstücken. Seitens etablierter politischer Parteien und Organisationen wurde oft kritisiert, dass die Proteste auf dem Syntagma-Platz ›nur‹ Fest- oder Happeningcharakter hätten. Doch aus den obigen Ausführungen über die politische Bedeutung reproduktiver Tätigkeiten folgt, dass eben in diesem Happening der alltäglichen Reproduktion genau das Politikum der Platzbesetzung bestand. Sie war, wenn man so will, ein Fest der gemeinschaftlichen und selbst organisierten Reproduktion der Beteiligten.

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»The lesson of feminist movement – which is that you cannot separate political militancy from the reproduction of your everyday life […] – is now being applied on a broad scale, including the creation of ongoing free food distribution, the organization of cleaning and medial teams, and the activities of working groups that are daily discussing not only general principles and campaigns but all the issues concerning coexistence.« (Federici o.J.)

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Insofern können wir auch von der klassischen cultural performance des Fests sprechen, das zum einen als Ereignis den normierten Alltag aussetzt und ihn jedoch gleichzeitig als Teil eines neuen, liminimalen Alltags gemeinschaftlicher Reproduktion etabliert. (Vgl. Fischer-Lichte 2013: 114f.) Das Fest ist immer Übergang und liminaler Moment der Transformation, das Werdensprozesse seiner Beteiligten freisetzt – in unserem Beispiel hinsichtlich der Fragen um die gemeinschaftliche Reproduktion des Selbst. Szene 4: Tanz im Tränengas Heute sind alle aufgewühlt. Nach eineinhalb Monaten Besetzung wird nun über das neue Kürzungspaket im Parlament abgestimmt, woraufhin eine Parlamentsumzingelung stattfindet, um die Parlamentarier_innen am Betreten des Gebäudes zu hindern. Die ›Empörten‹ haben zu ›48 Stunden auf der Straße‹ aufgerufen und sich mit dem 48-stündigen Generalstreik der Gewerkschaften koordiniert. Bereits gegen Mittag des ersten Tages kommt es zum ersten Versuch der Polizei, den Platz zu räumen. Die Taktik der Polizei ist es, die Menge mit Tränengas anzugreifen und dann unter Einsatz von Schlagstöcken vom Platz zu verdrängen. Die ›Empörten‹ haben sich für den Kampf um den Platz – der 48 Stunden dauern wird – mit Tränengasmasken, Taucherbrillen und Maaloxflaschen ausgestattet. Sie sind entschlossen, »nicht zu gehen, bevor sie (die Parlamentarier_innen) gegangen sind«, und möchten durchhalten, komme, was wolle. Aus den Lautsprechern der Zeltstadt dröhnt permanent Musik – manchmal ist es aufgenommener Sound der vielen Bands, die umsonst auf dem Platz spielen, meistens jedoch wird traditionelle griechische Folklore aufgelegt. Es handelt sich dabei um alte Partisan_innenlieder, kretisches oder pontisches Liedgut, das jeder in Griechenland geborenen Person durch Familienfeste, Schulfeiern, Tavernenbesuche u.a. von Kindesalter an als populäres Kulturgut bekannt ist. Das Ringen mit dem Tränengas ist erschöpfend, trotz Tränengasmaske brennen Gesicht, Augen, Rachen und Atemwege. Eine Durchhaltestrategie auf dem Platz wird das Tanzen. Spontan und an jeder Ecke fassen sich die Menschen an den Händen und fangen an, traditionelle griechische Kreistänze zu tanzen. Die Schritte sind sehr einfach und bekannt; je mehr Menschen, desto größer der Kreis, der sich schneckenähnlich in sich selbst verdreht und für immer mehr Menschen an der Kette von Tänzer_innen Platz macht. Und je mehr Tränengas sich ausbreitet, je lauter die Tränengasgranaten über den Köpfen der Menschen platzen, desto lebendiger, kräftiger und entschiedener scheint der Tanz zu werden. Die Tänzer_innen lächeln sich unter ihren Gasmasken zu und scheinen, wie

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trunken, großen Spaß an diesem wahnsinnigen Setting zu haben, wo heulen und lachen, apokalyptische Repression und Party sich gefährlich nah sind. Tanz: Körper im Konflikt Die Kreistänze auf dem Syntagma-Platz hatten eine doppelte Qualität: sie sind zum einen taktisch aus einer Situation des Konflikts mit der Polizei heraus entstanden, sind aber gleichzeitig keine geplante Konfrontationsstrategie, sondern eher Selbstzweck im Sinne des Erlebens von gemeinsamem Glück gewesen. Hier wurde der Spaß, die Freude und die Virtuosität in der Bewegung der Gefahr, der Angst, der Gewalt und der Repression entgegengesetzt – jedoch viel weniger strategisch, als wir es von erklärten Tanzprotestgruppen, wie der Rebel Clown Army oder dem Pink Block, kennen. Anders als jene, die Tanzen als geplante Konfrontationsstrategie mit der Polizei einsetzten, sind die Kreistänze auf dem Syntagma-Platz eher Teil einer Selbstsorge, ein selbstbezügliches Ritual einer Durchhaltestrategie gewesen, um den Platz nicht so leicht zu räumen: Das Auf- und Abspringen im Kreis vermochte vom Brennen in den Augen abzulenken und setzte ungeahnte Energiereserven frei, wie in einer Trance. Kreistanz Die Kreisbewegung bewerkstelligt die Selbstvergewisserung des kollektiven Widerstehens und die gegenseitige Aufführung von Solidarität. Die israelische Künstlerinnengruppe Public Movement hat das israelische Pendant solcher im Mittelmeerraum verbreiteten Tänze 2011 gezielt in den Protesten in Tel Aviv eingesetzt und bemerkt charakteristisch: »And it creates some automatic solidarity between people. Just standing in a circle, holding hands, is the basic gesture of solidarity.« (zit. nach Marchart 2013: S. 57) Allerdings sind die Kreistänze des Syntagma-Platzes keine instrumentell gesetzte ästhetische Strategie, sondern wieder aus dem politischen ›Unzuhausesein‹ der ›Empörten‹ entsprungen, die für sich neue Formen, neue Performances des Protests erfinden mussten. Dabei handelt es sich um eine Anleihe aus einer tief in der Bevölkerung verwurzelten Populärkultur eines Gesellschaftstanzes, den alle mittanzen können, d.h., mit dem die heterogenen Singularitäten der Besetzer_innen zu einer Gemeinschaft in Aktion, zu einer Gemeinschaft beim Tanz werden können. Will man ein weiter oben angeführtes Argument wiederverwenden, könnte man auch sagen, dass es sich auch hier um einen zwar allbekannten Signifikanten handelt, dass dieser aber als bedeutungsleerer Signifikant angeeignet wurde: Denn in jedem dieser Tänze auf dem Platz löst sich die für den Tanz

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vorgesehene Schrittfolge auf. Was genau getanzt wird, ist unwichtig, solange man gemeinsam an den Händen verbunden ist, rhythmisch auf- und abspringen und sich dabei angrinsen kann. Im Tränengasnebel wurden die ›Empörten‹ zu einer tanzenden Gemeinschaft, die vor dem Hintergrund der Konfrontation mit der Polizei die Performance eines populären Folkloretanzes weniger als Konflikt- denn als gemeinsame Durchhaltestrategie wählten. Dabei ging es weniger um eine Adressierung für einen Dritten, sondern um die körperliche Konstituierung des kollektiven Selbst in der zur Kreismitte und damit auf sich selbst ausgerichteten Formation der Körper. Die dabei entstehende, durchaus sozialromantische Anrufung: ›Fassen wir uns alle an den Händen!‹ ist, tatsächlich, die so bescheidene wie komplexe Message dieser tanzenden Körper.

D AS DER

POLITISCHE A LPHABET S YNTAGMA -P LATZ -B ESETZUNG

Zitternde Handflächen und die Moutza, Kreisversammlungen, Abstimmungen durch Handzeichen, Schlafen, Essen und Putzen, Feste, Happenings und Kreistänze – durch eine Analyse jener körperlichen Artikulationen habe ich versucht, die entstehenden Gemeinschaften, die Bedeutung der Praktiken und damit des politischen Alphabets der Besetzer_innen des Syntagma-Platzes aufzuschlüsseln. Dabei hat sich gezeigt, dass die griechischen ›Empörten‹ neue, eigensinnige Gesten und Protestperformanzen erfunden haben, die sie als operative Gemeinschaft konstituieren. Denn als Multitude von Differenten, mit der geteilten Erfahrung des politisch ›Unzuhauseseins‹, mussten sie sich von den alten Protestritualen samt ihrer symbolischen Referenz der politischen Identifizierung distanzieren und sich körperlich auf neue Gesten einigen, die die Inklusion aller ermöglichten – unabhängig von ihren sozialen oder politischen Herkünften. Ihr »Denken durch den Körper« (Pabst 2007: 97) generierte Bewegungen, die diese Inklusion durch Anleihen aus der Populärkultur und dem griechischen Alltag bewerkstelligten – etwa die zitternden Hände aus dem Fußballstadium, die Moutzageste oder die traditionellen Kreistänze im Tränengasnebel. Doch Inklusion bedeutet nicht automatisch die Einigung auf eine abgeschlossene Identität – prozessual und beweglich lösen sich hier unterschiedliche und teilweise zueinander widersprüchliche Performativitäten gegenseitig ab und spiegeln die Werdensprozesse einer heterogenen Menge wider, die sich, so meine These, je nach Art der Bewegung auch anders konstituiert. Die Menge befindet sich so in einem immer wiederkehrenden Übergang von einem liminalen Zustand zum an-

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deren: mit unterschiedlichen Performativitäten, Gesten und körperlichen Ritualen gehen auch andere Arten von Vergemeinschaftung einher – auf dem oberen Platz etwa befindet sich die Gemeinschaft am liminalen Übergang zwischen Multitude und aggressivem Mob, auf dem unteren Platz hingegen transformiert sie sich durch die Performativität der Kreisversammlung zum Demos oder zur Reproduktionsgemeinschaft der prekären Körper. Als Agenten der Bedeutungsherstellung eines »articulate matter« (Foster 2013: 412) verweisen die Körper in den Kreisversammlungen auf die allen bekannte Form der demokratischen Diskussion der griechischen Polis in der Agora und artikulieren das politische Begehren der Besetzerinnen und Besetzer nach realer oder direkter Demokratie jenseits der Logik der Repräsentation. Sie reflektieren auf praktisch-performative Weise einen politischen Kontext, in dem die Bedeutung der Stichworte ›Postdemokratie‹ oder ›Krise der Repräsentation‹ auf so eindringliche wie paradigmatische Weise vorgeführt wird: In Griechenland ist es das nicht gewählte Gremium der Troika (aus IWF, EU-Kommission und EZB), das die soziale und ökonomische Politik des Landes vorgibt, unabhängig von der Ausrichtung der jeweiligen Regierung; die Kriterien für diese Politik entstehen nicht durch einen politischen Diskurs im Land, sondern auf der Basis der Zahlen von Zentralbanken, Privatbanken und Ratingagenturen. Die ›Empörten‹ fungieren als symptomatische Reaktion auf diese sich vom Souverän immer weiter ablösende Regierungsart – ein gesellschaftlicher Reflex als praktische Kritik: Gegen ihre Repräsentant_innen führen sie auf dem Platz direkt vor dem Parlamentsgebäude neue demokratische Umgangsformen auf, als ein rehearsal für eine direkte Art der politischen Beteiligung, angewendet zunächst an den eigenen und unmittelbaren reproduktiven Bedürfnissen zur Organisierung des Gemeinsamen auf dem Platz. Die Bedeutung der Praktiken der Reproduktion der Körper ist ebenfalls symptomatisch für den gesellschaftlichen Kontext der Platzbesetzung: Die seit 2010 andauernde Schuldenkrise hat in Griechenland zu Teilen Versorgungsnot produziert. In dieser ›Sorgekrise‹ erwachsen Praktiken, die das eigene Leben kollektiv und unentgeltlich in die Hand nehmen – nicht nur aus politischer Überzeugung, sondern v.a. aus der um sich greifenden Erfahrung von Not. Die kollektive Aus- und Aufführung der Sorgepraktiken auf dem Platz wiederum wurde zum alltäglichen Bestandteil politischer Praxis. Körperlichkeiten und Performativitäten der vier vorgestellten Szenen werfen Licht auf einen besonderen Moment in der Geschichte griechischer Widerstandsbewegungen, in welchem Widerstand zu einer selbstreferenziell-autonomen Praxis wurde – um zu sich selbst zu finden, sich selbst neu zu entwerfen, sich gegenseitig zu helfen und/oder sich gegenseitig zu bilden. Dieses politische Alphabet der Syntagma-Platz-Besetzung

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artikuliert erste stotternde Versuche der Selbstkonstituierung jenseits der Adressierung an die Macht (und wenn doch, dann nur mit beschimpfenden Gesten). Mit dem hier gewählten Blick auf die Affekte, Performanzen und die Sprache der Körper kristallisiert sich das Bild einer permanenten Bewegung des Zusammenkommens in der kreisförmigen Formation der Platzbesetzung für ein prozessuales, gemeinsames Agieren – oder anders: um die Konstituierung eines Gemeinsamen in einem permanenten Werdensprozess zu ›rehearsen‹. Das Vokabular dieses Alphabets bzw. das Material dieser Politik sind Körper, Tänze, reproduktive Arbeit, Gesten, Alltagsgewohnheiten, Populärkultur – das Leben selbst. Als typische Subjekte im Postfordismus, die dazu angehalten sind, ›sich selbst zu regieren‹ und das Leben durch Selbstregulierung und -optimierung als produktive Ressource anzuzapfen, widmen die Platzbesetzer_innen diese Anrufung um und setzen das Leben für alternative und eigensinnige Formen der Selbstregierung ein. Damit haben sie die Sichtweise auf die Definition ›des Politischen‹ verschoben (Giovanopoulos/Mitropoulos 2011: 19) und so, Lorey zufolge, Dimensionen des Politischen auf die Tagesordnung gebracht, die die politische Theorie sonst gemeinhin unberücksichtigt lässt: die widerständige gesellschaftsverändernde Macht von Alltagshandeln, von sozialen Beziehungen, von Weisen des Zusammenlebens, von Affekten, Performanzen und Tänzen – Dimensionen, die aus der Sphäre des Privaten und des Sozialen zurück ins Politische katapultiert worden sind, (Lorey 2012: 31ff.) bzw. Dimensionen, die als ästhetische Kategorien das Vermögen haben, auf Menschen, Körper und Gewohnheiten zurückzuwirken und sie zu verändern. Dieses transformatorische Moment gilt, wie in diesem Aufsatz argumentiert, für den Moment der Herstellung neuer und verschiedenartiger Gemeinschaften der Differenten zur Zeit der Besetzung, hat aber weiterhin, in einem Ausblick, bis heute Spuren hinterlassen, in denen die Adaption des Alphabets der Syntagma-Platz-Besetzung erkennbar ist: Die Erfahrung der Aktivist_innen vom Syntagma-Platz diffundiert bis heute in den griechischen Alltag. Diese Formen gemeinschaftlicher und unentgeltlicher (Re-)Produktion sind nach dem Sommer 2011 im Land explodiert, wobei nun nicht nur eine Handvoll ›alternativer Weltverbesser_innen‹ daran beteiligt ist. Es sind inoffizielle, populäre, oft kaum skandierte Praktiken, die begonnen haben, sich in Familien, Freundeskreisen, Nachbarschaften, sozialen und lokalen Milieus als Teil der Populärkultur im Alltag einzuschreiben. So verwundert nicht, dass die Mehrheit der Platzbesetzenden, mit denen ich sprach, heute in der Organisierung von solidarischen Formen der Selbstsorge aktiv sind – ob in Tauschnetzwerken, den alternativ-organisierten Märkten ohne Zwischenhandel, Lehrer_innennetzwerken für kostenlose Bildung oder sozialen Supermärkten für die Armen. Das Ethos der reproduktiven

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Sorge ist in die Gesellschaft jenseits des Platzes diffundiert und zur neuen Umgangsform des Alltags geworden. Ähnlich verhält es sich mit der Form der basisdemokratischen Versammlung, die sich als Entscheidungstool für diese reproduktiven Tätigkeiten etabliert hat. Die Erfahrungen mit demokratischen Versammlungs- und Abstimmungsformen während der Platzbesetzung haben in der Folge transformatorisch auf die Praktiken politischer Organisierung zurückgewirkt. Die Kreisversammlungen waren somit ein rehearsal, in dem ein demokratischer Habitus eingeübt wurde: Meine Gespräche mit Aktivistinnen und Aktivisten des Platzes ein Jahr nach der Besetzung ergaben, dass sich das Format der Versammlung in mehreren politischen Bereichen etabliert hat, so bspw. in Kollektivitäten wie Nachbarschaften oder anderen selbst organisierten Netzwerken, aber auch in bereits bestehenden Gremien wie Schüler_innen- und Studierendenvertretungen, die zuvor repräsentativdemokratische Abstimmungsprozedere praktiziert hatten und nun basisdemokratische Versammlungen für ihre Entscheidungsfindung einführten. (Vgl. auch Giovanopoulos / Mitropoulos 2011: 14ff.) Syntagma 2011 hat in diesem Sinne eine neue politische Kultur ins Leben gerufen, eine Kultur des Liminalen, die als permanente Transformation der Beteiligten auf sie zurückwirkt und ein gemeinsames Werden nach sich zieht. Die Platzbesetzung hat das angestoßen, was der Theoretiker der argentinischen Widerstandsbewegungen, Raul Zibechi, »Gesellschaften in Bewegung« nennt (Zibechi 2011: 30): Prozesse der Selbstorganisation und Reproduktion, die neue soziale Beziehungen im Alltag etablieren, unter Menschen, die nicht traditionellerweise zu den Subjekten der politischen Sphäre gehören. In diesem Sinne und mit der für diesen Aufsatz gewählten Sprache zur Dechiffrierung des neuen Alphabets kann die Besetzung des Syntagma-Platzes als ein Fest, als ein verdichtetes Happening von Körpererfahrungen, Akten, Praktiken und Performativitäten im Schwellenzustand gelesen werden, welches durch seine Aufführung ›Gesellschaften in Bewegung‹ angestoßen hat, die nun im Kommen begriffen sind – als eine liminale cultural performance, die soziale Beziehungen zu transformieren vermochte, die sich, auf die Zukunft gerichtet, beständig aktualisieren.

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L ITERATUR -

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Q UELLENVERZEICHNIS

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D ER BESETZTE S YNTAGMA -P LATZ 2011

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VERSTÄRKUNG – Public Address Systems als Choreografien politischer Versammlungen S YLVI K RETZSCHMAR

Bei meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Verstärkungssystemen für die Stimme, die in politischen Versammlungen zum Einsatz kommen, handelt es sich im Grundsatz um Unbehagenforschung. Woher kommt die eigene innere Abwehr gegen ritualisierte politische Gesten und Klänge der Ansprache? Wie choreografieren Beschallungsanlagen die Körper der Rednerinnen und Redner? Welche Rollen schreiben sie den Adressierten zu? Auf welche Weise wird durch Stimmverstärkung akustisch Raum hergestellt, werden temporäre Kollektive erzeugt? Welche Imaginationen von politischer Gemeinschaft sind durch Techniken und Technik hervorgerufen? Und schließlich: Wer wird hier verstärkt, wer gleichsam apparativ aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen? Der Forschungsaspekt in der Erarbeitung der Performance VERSTÄRKUNG! – Eine kollektive Anrufung1 bestand auch darin, sich dem Druck der Bedeutungen auszusetzen, die Klang und Ikonografie eines Megafons auf mich als Verwenderin wie als Adressierte ausüben. In der Megafonstimme, die hochfrequent und leicht verzerrt klingt, schwingt etwas mit. Von hier aus folge ich meinem

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VERSTÄRKUNG! – Eine kollektive Anrufung ist der Titel eines hybriden Formats zwischen Performance und Demonstration. Es entstand 2013 im Rahmen des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste. Der Megafonchor als Verstärkungssystem für politische Reden kam außerdem auf Demonstrationen für den Erhalt der sogenannten ESSO-Häuser auf St. Pauli sowie beim Euromayday Hamburg 2013 zum Einsatz. Der Megafonchor und seine Funktionsweise werden nachfolgend genauer beschrieben.

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Verdacht, dass Stimmverstärkungssysteme keine formalen, rein technischen Elemente sind, sondern eine politische Vorgabe. Sie legen fest, wer verstärkt wird, und sie ›be-stimmen‹, was überhaupt als politischer Diskurs gilt.

V ERSTÄRKUNG Amplifikation, Ausweitung, Anstieg, Intensivierung, Vervielfachung, Eskalation, Aktivierung, Verdichtung, Steigerung, Ausdehnung, Bereicherung, Erweiterung, Zustrom, Zuwachs, Zunahme, Forcierung sind Synonyme des Begriffs ›Verstärkung‹. In der Elektrotechnik versteht man unter ›Verstärkung‹ das Verhältnis von Eingangs- und Ausgangssignal, in der Physik die Vergrößerung der Amplitude einer Schwingung. ›Verstärkung‹ meint zusätzliches Personal, welches für eine bestimmte Aufgabe zur Verfügung gestellt wird, eine Aufstockung der militärischen Truppenstärke oder -ausrüstung, Maßnahmen zur Erhöhung der Statik im Bauwesen. PA – als Abkürzung für public address – ist die soundtechnische Bezeichnung für ein Beschallungssystem aus Verstärkern, Lautsprechern und weiteren Elementen wie Mikrofonen. Eine PA verstärkt, indem sie die einzelne Stimme für eine Menge hörbar macht. Die Stimme der Rednerin oder des Redners wird über die Begrenzung ihrer körperlich-räumlich bestimmten Reichweite hinaus verbreitet, veröffentlicht. Daraus leite ich den Begriff Public Address System (PA-System) ab, der im vorliegenden Text für Technik steht, die eine politische Rede vor Ort verstärkt. Das beinhaltet die beteiligten Apparate zur Erhöhung von Lautstärke und Übertragungsweite der Stimme genauso wie bspw. körperliche Techniken einer öffentlichen, ›erhobenen‹ Stimme oder des Umgangs mit räumlich-architektonischer Verstärkung. Karl Heinz Götterts Geschichte der (öffentlichen) Stimme beginnt mit dem Antiken Theater und endet mit dem Kapitel Am Ende kam der Lautsprecher. (Göttert 1998: 423ff.) Dieser von Göttert gewählte Endpunkt ist ein zentraler Ausgangspunkt für mein Forschungsvorhaben. PA-Systeme werden nachfolgend als Apparate untersucht, die durch Konventionen und Innovationen von Versammlungen hervorgebracht sind. Meiner These nach handelt es sich bei PASystemen um Methoden und Techniken des Versammelns, welche die politischen Diskursen inhärenten Machtkonstellationen nicht nur spiegeln, sondern diese aktiv festlegen. Als nichtmenschliche Entitäten im Sinne der AkteurNetzwerk-Theorie sind PA-Systeme Stabilisatoren sozialer Beziehungen.2 Sie

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Ein PA-System wäre hier wie »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur – oder, wenn es noch keine Figuration

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schaffen politische Arenen als konkrete Auditorien, indem sie Teilhabe und Ausschluss bestimmen. Die Platzbesetzungen der spanischen ›15M‹, die general assemblies auf dem Athener Syntagma-Platz, die Versammlungen der Occupy-Wall-Street-Bewegung haben ungewöhnliche PA-Techniken hervorgebracht, weil sie sonst ungehörte Stimmen in Zirkulation brachten, weil sie neue Formen politischer Positionierung in der und durch die Versammlung produzierten. Der vorliegende Text folgt in seiner Struktur chronologisch dem Prozess meiner bisherigen Auseinandersetzung mit PA-Systemen. Er macht darin die vielfachen Rückkopplungen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung nachvollziehbar. Ausgehend von einer Zusammenfassung des Forschungsstands zur medienhistorischen Entwicklung von Verstärkungssystemen der Stimme analysiere ich die spezielle Rolle der PA-Systeme in den politischen Versammlungsbewegungen der letzten Jahre. Ein wichtiges Element ist hierbei die Beschäftigung mit Youtubevideos als Dokumenten des Einsatzes des sogenannten human bzw. people’s mic in der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Unter Einbeziehung des Faktums, dass es sich um Videodokumente eines Geschehens handelt, bei denen bspw. Ausschnitt, Perspektive und mediale Übersetzung zu berücksichtigen sind, wende ich Instrumentarien der Aufführungsanalyse aus dem Kontext von Theaterwissenschaft und Performancetheorie an. Meine künstlerische Arbeit mit dem Megafonchor und die Performance/ Demonstration Verstärkung! – Eine kollektive Anrufung sind unmittelbar aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem human mic hervorgegangen. Erfahrungswissen aus der künstlerischen Forschung mit chorischer Megafonverstärkung eröffnete mir außerdem umgekehrt eine neue Perspektive auf das human mic als Technik. ›Verstärkung‹ im wörtlichen Doppelsinn bildet die zentrale Kategorie meiner künstlerisch-wissenschaftlichen Erforschung von PA-Systemen als Choreografien3 politischer Versammlungen. Verstärker in Lautsprechersystemen vergrö-

hat, ein Aktant.« (Latour 2007: 123, Herv. i.O.) Latour kritisiert die »Soziologen des Sozialen« (ebd.: 116), welche Gesellschaft über soziale Bindungen definierten, ohne Objekte als Handlungsträger einzubeziehen: »In der Praxis sind es stets Dinge […], die ihre ›stählerne‹ Eigenschaft der fragilen Gesellschaft leihen. So ist das, was Soziologen unter der ›Macht der Gesellschaft‹ verstehen, nicht die Gesellschaft selbst – das wäre tatsächlich Magie –, sondern eine Art von Zusammenfassung aller bereits mobilisierten Entitäten, um Asymmetrien dauerhafter zu machen.« (Ebd.: 117) 3

Wie im vorliegenden Text deutlich wird, weist mein Choreografiebegriff über eine rein künstlerisch-ästhetische Bedeutung hinaus, indem er auf die raum-zeitliche Struk-

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ßern den Pegel eines elektrischen Signals (z.B. der mikrofonverstärkten Stimme). Sie sind Antrieb für den Lautsprecher, der elektrischen Strom schließlich in Klangwellen zurückwandelt. Der Begriff ›Verstärkung‹ greift hier über die soundtechnische Amplifikation (lat. amplificatio: Ausweitung) der Stimme hinaus auf ›Verstärkung‹ als Synonym für Versammlung.

I NSTRUMENTE , I NSTRUMENTALISIEUNGEN Versuche, Stimmen zu verstärken, reichen zurück bis weit vor die Antike. Es handelt sich bei dieser Geschichte nicht um eine lineare Fortentwicklung. Generell ist die medientechnische Entwicklung von Stimmverstärkungssystemen nicht abgrenzbar von den vielfältigen Konzeptionen der Aufzeichnung, des Transports über größere Distanzen, der Übertragung, Synthese und Simulation von Schall und Stimme. Bislang gibt es keine wissenschaftliche Arbeit, die sich konkret mit der historischen Entstehung von Stimmverstärkungstechnik befasst. Anhand von Forschungsliteratur zum Phänomen Stimme aus dem Blickwinkel historischer und zeitgenössischer Medienkopplungen (vgl. Göttert 1998; Kittler/Macho/ Weigel 2002; Epping-Jäger/Linz 2003; Kolesch/Krämer 2006; Meyer-Kalkus 2001) sowie der Vor- und Frühgeschichte des Radios (Gethmann 2006) werde ich die medienhistorische Entwicklung von Techniken zur Verstärkung der Stimme skizzieren, um zu zeigen, dass diese generell als Manifestationen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen lesbar sind. Die von mir analysierte Forschungsliteratur offenbart eine diskontinuierliche Medienentwicklung, deren Grundbedingung die technische Etablierung einer Trennung von Körper und Stimme darstellt, d.h. die zunehmende Ablösung des Schalls von seiner Quelle. In »eine[r] zeitlich inkonsistente[n] Abfolge von Experimente[n] und Erfindungen« (ebd.: 46) wurde die Entfernung des Stimmschalls vom Körper zu vergrößern versucht, die Stimme als »Bewegung in der Luft« (ebd.: 47) effektiv gerichtet und gebündelt. Sir Samuel Morlands Tuba stentoro-phonica (1671) entstand bspw. aus einer Analogisierung von Schall mit der Wellenausbreitung im Wasser. Sie ist wie Athanasius Kirchers Sprachrohre und Sprechtrompeten medienhistorische Vorform des Megafons. Der Magier, Wissenschaftler und Erfinder Kircher betrieb Echoforschung. Er hoffte, das Reflektionsprinzip von Licht auf den Stimmschall übertragen zu können. (Vgl. ebd.: 47f.; Göttert 1998: 357ff.) Es war also gleichsam der Versuch, die mensch-

turierung von Versammlungen angewendet wird. Choreografie steht hier im Zusammenhang mit der Verortung und Verkörperung öffentlicher Rede.

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liche Stimme durch gezielte Schallreflektionen zu verstärken und zu transportieren, eine mächtige, weit strahlende Stimme herzustellen. Auch der Versuch, Luft als Übertragungsmedium durch andere Medien zu ersetzen, welche die Schwingungen des Stimmschalls effektiver weitergeben (vgl. Gethmann 2006: 53-68), strebt letztlich eine zunehmende Entfernung des Stimmklangs von der Präsenz des Körpers an. Sprechmaschinen, die erstmals Stimmen außerhalb des menschlichen Körpers hervorbrachten, ahmten die Mechanik der Anatomie nach oder bildeten Hybride aus Apparat, tierischen und menschlichen Stimmorganen, Musikinstrumenten und anthropomorphen Gebilden. Abbé Micals ›Sprechende Köpfe‹ (etwa 1783) nach dem Prinzip einer Orgel leiten z.B. den Luftstrom in unterschiedliche Schallräume ähnlich denen von Mund und Zunge; die Sprechmaschinen und Zungenpfeifen Wolfgang von Kempelens (1791) und Joseph Fabers ›Euphonia‹ (1835) funktionieren vergleichbar. (Vgl. Gethmann 2006: 23ff) Sie erzeugen und verkörpern eine künstliche Stimme. Micals ›Sprechende Köpfe‹ lobpreisen den französischen König und repräsentieren als Apparat seine Macht.4 Die künstlich erzeugte Stimme verlangt wie die durch Verstärkungstechnik von dem Sprecher oder der Sprecherin abgekoppelte Stimme nach Verkörperung am fernen/vor Ort. Die von Gethmann, Göttert und Macho beschriebenen ›Vorstufen‹ des Lautsprechers, die experimentellen Apparate, die Sprachrohre, Sprechmaschinen, Sprechtrompeten und Megafone sind wie jedes PA-System Repräsentationsmaschinen. Sie verstärken die Stimme nicht nur akustisch, transportieren sie oder verändern ihre Reichweite. PA-Systeme legen v.a. nahe, wofür eine Stimme steht und für wen sie spricht. Ende des 17. Jahrhunderts entstehen Entwürfe der Stimmverstärkung und Stimmübertragung, die nicht nur Körper generieren, erweitern und miteinander verbinden, sondern zugleich neue Körperschaften ermöglichen. Johannes Hassang schlug kommunizierende und kontrollierende Stimmrohrsysteme in Städten vor. Er plante One-to-one- sowie One-to-many-Verbindungen als eine dichte Vernetzung von Wohnungen mit Sprachrohren. (Vgl. Gethmann 2006: 49) Im Zuge dessen formulierte er die so entstehenden Möglichkeiten der Kontrolle, Instruktion, Überwachung, zeitlichen Taktung, simultanen Unterhaltung oder Übertragung von Predigten, Anweisungen und Warnungen in private Haushalte implizit als ein politisches Konzept von Stadt. Seine Idee schließt auch

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»Als theatralische Inszenierung« verwiesen sie auf die älteren Verkörperungstechniken der Stimme […], auf Statuen und auf Texte, die als Schrifttafeln die fehlenden Körper der ›têtes parlantes‹ vertraten.« (Macho 2006: 137)

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Möglichkeiten des Abhörens ein. Die Stimmrohrsysteme dehnen den Körper der sprechenden Person auf den Stadtraum aus und lassen die im privaten Wohnraum erklingende Stimme umgekehrt die Stadt repräsentieren. 1680 entwarf Athanasius Kircher Sende- und Abhöranlagen für öffentliche Plätze: schalltrichterartige Objekte, die gewaltig aus Hauswänden ragen oder in einem Torbogen unsichtbar verborgen sind. (Vgl. Göttert 1998: 357ff.) Diese Erfindungen und medientechnischen Innovationen waren mit detaillierten Ideen unterschiedlicher Adressierungen verbunden: darunter die Verwendung von Geheimsprache für militärische Zwecke, die Nutzung für Bekanntmachungen, Meldungen, Befehle, Ausrufungen als Landesherolde sowie private Verwendungsmöglichkeiten gegen Gebühr. Johann Sigismund Gottfried Huth konzipiert in Über die Anwendung der Sprach-Röhre zur Telegraphie (1763) über das Land verteilte Relaisstationen, die mit Megafonen verbunden sein und Nachrichten weitergeben sollten. Voraussehend nennt er seine Erfindung ›Telefon/Fernsprecher‹. (Vgl. Gethmann 2006: 51f.) Die Erhöhung der Distanz von Körper und Stimme ermöglichte eine Verstärkung des Einflusses der Sprecher_innen, Kommunikation in die Ferne bei technisch reguliertem Aus- und Einschluss in die Versammlung, Taktungs- und Steuerungsmöglichkeiten von Städten, Apparate der Vernetzung, der Ermächtigung, der Kontrolle und der Instruktion. Die Verstärkung durch PA-Systeme geht über eine soundtechnische Erhöhung von Lautstärke und Reichweite der Stimme hinaus, indem Verstärkung immer an Momente der Verkörperung gekoppelt ist. PA-Systeme legen fest, wie die Rede durch die Sprechenden selbst, durch den Raum der Versammlung und durch die Zuhörenden verkörpert wird. ›Verkörperung‹ ist an dieser Stelle zunächst ein Arbeitsbegriff, um den Zusammenhang von Stimmverstärkung mit Fragen der Repräsentation fassbar zu machen. Der Liste an Synonymen für ›Verstärkung‹ füge ich an dieser Stelle den Begriff ›Verkörperung‹ hinzu, weil er exakt das Scharnier zwischen Stimmverstärkung und Choreografie einer Versammlung bildet. Im Dissoziieren von Stimme und Körper (als medientechnische Bedingung für Verstärkung) verschiebt sich, wofür eine Stimme steht und für wen sie spricht. PA-Systeme gestalten diese Verschiebung. Darin manifestieren sich Machtgefüge als apparative Fixierungen von Horchen und Gehorchen. In den Jahren 1886 bis 1889 gelingt Heinrich Hertz der experimentelle Nachweis elektromagnetischer Wellen. (Vgl. Gethmann 2006: 89ff) Dies ermöglicht eine elektrische Verstärkung der Stimme, die Sende- und Empfangstechnik vor Ort vereint und einen konkreten Stimmenraum definiert, dem die Anwesenden ausgesetzt sind. In der Weimarer Republik war man noch skeptisch und zurückhaltend beim Einsatz des Lautsprechers für die politische Rede. Die Politi-

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ker_innengeneration der 1920er-Jahre definierte sich als Rednerinnen- und Rednerpersönlichkeiten. Die Stimme zu erheben, war Teil ihrer Wirkung und ihres Auftretens. Die Nationalsozialist_innen machten den Lautsprecher dann konsequent zur Verkörperungsmaschine, welche die Allmacht des ›Führers‹ audiovisuell inszenierte und im Gemeinschaftsempfang auf öffentlichen Plätzen einen kontrollierten Raum kollektiver Verkörperung schuf: die beschallte Menge als Verstärker. Cornelia Epping-Jäger legt in ihrem Text Stimmgewalt – Die NSDAP als Rednerpartei dar, wie das »Dispositiv Laut/Sprecher« (Epping-Jäger 2006: 153) die Massenveranstaltungen choreografierte, räumlich und zeitlich so strukturierte, dass seine propagandistische Wirkung als Strategie der stimmlichen Überwältigung optimiert wurde: »Während SPD und KP stärker mit Megafonen – aus der Masse heraus also – agierten, setzte die NSDAP den Lautsprecher als unidirektionales, akustisches Herrschaftsinstrument ein.« (Epping-Jäger 2003: 102) Nicht erst mit dem Nationalsozialismus wird die Frage, wie Stimmen von vielen gehört werden könnten, zur Machtfrage. Dennoch lässt sich an diesem Beispiel verdeutlichen, was ich mit der oben eingeführten Kategorie der ›Verstärkung‹ für PASysteme generell fassbar machen möchte. Anhand der Analysen Epping-Jägers lässt Verstärkung sich in der NS-Propaganda nämlich auf zwei unterschiedlichen Ebenen als Verkörperung ausmachen: Zum einen trifft die großräumige »Lautsprecher-Verkabelung von ganzen Städten und Landschaften« (Epping-Jäger 2006: 157) auf die Inszenierung der körperlichen Präsenz des Redner_innenkörpers als embodied voice. Zum anderen werde die »Selbstwahrnehmung des Redners«, so Epping-Jäger, »durch die technisch vermittelte, zeitlich verschobene äußere Resonanz – durch die Stimme, die alle gehört haben – überschrieben« (Epping-Jäger 2003: 112). Die durch Lautsprecheranlagen als Masse adressierte Versammlung wird selbst zum Verstärker. Zu diesem Zweck wurden die Zuhörenden durch SA und SS straff organisiert und im Raum der Beschallung ausgerichtet. In einer großräumigen, gigantischen akustischen Überschreibung und Beherrschung des öffentlichen Raums war die Rede des ›Führers‹ eingebettet in eine klangliche Rückkopplung der Zuhörenden. Hitlers durch die PA armierte, spektakulär räumlich ausgedehnte Stimme repräsentiert dadurch die medial hergestellte Fiktion der ›deutschen Volksgemeinschaft‹. Verstärkung ist Verkörperung. Die Trennung von Körper und Stimme, die jedes PA-System vornimmt und erhöht, macht Sprechende und Zuhörende unweigerlich zu Verkörperungen der Beschallungstechnik im Raum der Versammlung. Die grundsätzliche Verdächtigkeit von PA-Systemen im politischen Kontext liegt darin, dass Stimmverstärkungssysteme Apparate der Verkörperung, dass sie Repräsentationsmaschinen sind, die sich aber zumeist als solche verber-

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gen. Trotz ihrer Allgegenwart, die sie häufig zur Grundbedingung politischer Debatte überhaupt macht, werden diese Wirkungen von Lautsprecheranlage, Mikrofon oder Megafon zumeist ausgeblendet. Sie erscheinen bzw. erklingen dann als reine Notwendigkeit, Mittel zum Zweck oder Gefäß für den eigentlichen Inhalt. Im medienhistorischen Kontext sind Erfindungen von PA-Systemen als apparative Entwicklungen und Innovationen augenfällig. Am Beispiel der zeitgenössischen Versammlungsbewegungen werde ich darlegen, wie PA-Systeme darüber hinaus als Techniken der Verkörperung und als Methoden der Versammlung immer neu erfunden, hergestellt und inszeniert werden. In diesem Sinne wird kein PA-System einfach von einer politischen Versammlung benutzt. Vielmehr bringt jede Versammlung ihr PA-System im Gebrauch neu hervor, erfindet es als Verkörperungen von Stimmen, als Zuschreibungen oder Verweigerungen repräsentativer Macht.

P ROVISORIEN , E RFINDUNGEN In einem Wechselspiel aus mündlicher Verhandlung und schriftlichem Text trifft in den zeitgenössischen Versammlungsbewegungen die digital vernetzte Verbreitung des Worts via Computer, Smartphones, Social Media auf ein radikales Insistieren auf de vive voix (mündlich) als zentralen Baustein direkter Demokratie.5 Die movimiento asambleario und die aus den Platzbesetzungen der ›15M‹Bewegung heraus entwickelten Nachbarschaftsversammlungen in Madrid u.a. spanischen Städten insistierten radikal auf einen Ausschluss aller politischen Agenden, die außerhalb der Versammlung aufgestellt wurden. Der Rekurs auf die Debatte vor Ort – den Raum der Verhandlung, die Versammlungsform als Prinzip von beglaubigter Öffentlichkeit – macht deutlich, wie zentral das gesprochene Wort im Hier und Jetzt einer physischen Versammlung in diesem Zusammenhang ist. Politische Ziele werden demnach kollektiv durch die Versammlung selbst ausgehandelt und hervorgebracht. Alberto Corsìn Jiménez und Adolfo Estalella beschreiben in ihrem Text Assembling Neighbours. The City as Archive, Hardware, Method Konsens als etwas, das durch die Versammlung produziert werde. Die Verstärkung der menschlichen Stimme wird hier zur unmittelbaren praktischen Voraussetzung dieser Produktion. Die Bewegung bringt Lautsprecheranlagen als improvisierte fragile Gebilde hervor, die sich aus den Nachbar-

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Zeug_innen vor Gericht haben de vive voix »mit lebendiger Stimme« (zit. nach Dolar 2007: 147) auszusagen, hieß es in den Französischen Revolutionsverordnungen, in denen Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspraxis festgeschrieben wurde.

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schaften heraus formen und zugleich von diesen Nachbarschaften absorbierbar sind: »Public spaces and plazas are ›wired‹ and inscribed with devices, materials and do-it yourself circuitries that enable a novel, if temporary modality of urban encounter.« (Jiménez/Estalella 2012: 7) Diese Provisorien lassen sich als apparative Choreografien, als Verkörperungen grundsätzlicher Prinzipien dieser Versammlungen lesen. Sie repräsentieren die grundlegende Offenheit der Versammlung im Stadtraum, unter freiem Himmel. Im Text von Jiménez und Estalella wird ein Stadtteilaktivist zitiert: »We do not, we should not have a place that we can go to, that can house us. We need to reassemble and reinvent ourselves at every meeting« (ebd.: 6). Aus demselben Grund, aus dem man sich auch in den Wintermonaten nicht in geschlossene Räume zurückziehen will, sind stetige Installationen von PA-Systemen als permanente, als institutionalisierte Anlagen, verhindert. Das Provisorium geht hier nicht im Prinzip einer Notlösung auf. Es entsteht vielmehr unmittelbar aus der Frage der Verkörperung durch Stimmverstärkungssysteme: Wer spricht wo für wen? Jiménez und Estalella nennen es »the precarious and yet fuzziness of the assembly as an urban form« (ebd.: 7). Das Provisorium wird durchaus im Bewusstsein des Bildes/images erzeugt, das es als »an iconicity of the assembly« (ebd.) verkörpert. Die Idee einer general assembly setzt die Möglichkeit simultaner stimmlicher Adressierung aller Anwesenden voraus. David Graeber schildert die hastigen Versuche, Kommunikation auf der ersten Occupy-Wall-Street-Generalversammlung im New Yorker Zuccotti Park herzustellen. (Graeber 2013: 50) Man steckte mehrere Megafone zusammen, die vom Inneren der kreisförmig Versammelten aus in unterschiedliche Richtungen zeigten. Die von 1.000 Polizistinnen und Polizisten umringten 2.000 Anwesenden (vgl. Graeber 2013: 51) bildeten die Form eines großen runden Auditoriums, was eine gleichmäßige Beschallung besonders schwierig machte. Bereits nach wenigen Minuten kam es zum Rückgriff auf ein PA-System, das ausgehend von kalifornischen Aktivistinnen und Aktivisten, so Graeber, bereits auf den WTO Aktionen in Seattle 1999 regelmäßig zum Einsatz kam: dem human bzw. people’s mic. Wann und wo diese Technik ihren Ursprung hat, lässt sich nicht ausmachen; aber sie diente, bevor sie durch die Occupy-Wall-Street-Bewegung bekannt wurde, bereits der Verständigung unter Demonstrierenden während der Durchführung von Polizeieinsätzen. In der Occupy-Bewegung wurde die Human-mic-Technik als PA-System neu erfunden. Um zu beschreiben, wie das human mic als Technik wirkt, analysiere ich im Folgenden exemplarisch ausgewählte Youtubeclips, die seinen Einsatz dokumentieren. Genau wie die Provisorien der ›15M‹ und der spanischen Nachbar-

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schaftsversammlungen ist das human mic keine reine Notlösung. Es ist kein Techniksubstitut, sondern das PA-System der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Da die Versammlung hier zentrales Instrument politischer Formulierung sowie Besetzung öffentlichen Raums ist, lässt sich am Beispiel des human mic herausarbeiten, was PA-Systeme generell zu Manifestationen von Praxen politischer Versammlungen macht.

V ERSTÄRKUNGSTECHNIK ALS DAS HUMAN MIC

V ERSAMMLUNGSTECHNIK :

Das durch die Occupy-Wall-Street-Bewegung bekannt gewordene human mic ist nicht Mensch, nicht Mikrofon. Es ist ein PA-System, welches den Klang der kollektiven Stimme etabliert. Die Menge selbst wird zur PA, die Stimmen und Körper der Vielen zu Übertragungstechnik und Verstärkung. Als Methode der Versammlung ist das human mic auf spezifische Weise akustische Besetzung öffentlichen Raums. Die Versammlung vollzieht diese Aneignung performativ als PA-System. Im Internet sind auffallend viele Videos gepostet, in denen zu Beginn einer Occupy-Wall-Street-Versammlung die Technik des human mic via Human-micTechnik erklärt wird. In einem dieser Clips (vom 8. Oktober 2011) mit dem Titel The People’s Mic (unamplified amplification) ist zu sehen, wie die Versammelten in die Handhabung einer gezielt wirkenden Technik eingeführt werden: Der Sprecher steht etwas erhöht und formt die Hände zu einem Trichter, als er der Menge »Mic check!« zuruft. Wie ein tontechnisches Checken von Mikrofon und Soundanlage funktioniert »Mic check! « als eine Überprüfung der Technik, bevor die Rede beginnt. Dem chorischen Nachsprechen der in Hörweite Stehenden folgt eine weitere, entfernter und leiser klingende Wiederholung.6 Der Sprecher ist in der Verwendung des human mic offenbar geübt. Er verwendet kurze Phrasen, die sich für das chorische Nachsprechen eignen. Zudem wartet er nicht nur ab, bis beide Wellen der Wiederholung verklungen sind, sondern setzt auch danach eine jeweils etwa gleich lange Zäsur. Sein ganzes Sprechen ist rhythmisch klar gesetzt und strukturiert. Dies erleichtert den Versammelten die Wiedergabe des Gesagten. In jeder Wortfolge betont er Sprachrhythmus

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Je nach Größe der Versammlung gab es sogar drei- bis fünffache Wiederholungswellen, um die Rede bis in die entferntesten Reihen zu übertragen.

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und -melodie. Die Ansprache beginnt (aus technischer Notwendigkeit heraus) zu grooven, erinnert an musikalische Strukturen von call and response7: »We amplify each other’s voices (We amplify each other’s voices … We amplify each other’s voices) No matter what is said (No matter what is said … No matter what is said) So we can hear one another (So we can hear one another … So we can hear one another) But also (But also … But also) We use this human mic (We

use this human mic … We use this human mic) Because the police won’t let us (Because the police won´t let us … Because the police won’t let us) Use any kind of instruments (Use any kind of instruments … Use any kind of instruments)« Bei diesem kollektivem Umgang mit Sprachmelodie und -rhythmik (als Voraussetzung für chorisches Sprechen zur Verstärkung) handelt es sich um Körpertechnik im Sinne der Definition durch Marcel Mauss. Mit seinem Konzept prägte Mauss einen Technikbegriff, der über die Maschinen, Geräte, Werkzeuge und Artefakte hinausweist und den Körper selbst als Instrument, als technisches Objekt und Mittel des Menschen begreift. ›Körpertechniken‹ als wirksame Handlungen werden bestimmt durch sozialen Kontakt, gemeinschaftliches Handeln im geteilten Alltag. (Vgl. Mauss 2010: 205f.) Analog zur elektronischen Schallwandlung des soundtechnischen Mikrofons setzt das human mic eine Gleichzeitigkeit von Empfangen und Senden körperlich um. Das Gesagte wird über die Ohren aufgenommen und durch den Mund weitergegeben. Als PA-System erzeugt das human mic ein Hören mit der eigenen laut sprechenden Stimme, ein Hören über den Chor der versammelten Menge. Der Inhalt der Rede wird im Nachsprechen verstanden und performativ nicht nur verarbeitet, sondern stetig kollektiv simultan kommentiert – ein Multitasking von Hören, Nachsprechen, Verstehen, und gleichzeitiger Entwicklung und Expression der eigenen Haltung zum Gesagten. Zustimmung, Zweifel, Wunsch nach Präzisierung oder Veto werden durch die Handzeichen visuell angezeigt, ohne die redende Person oder sich selbst beim wiederholenden/nachsprechenden Zuhören zu unterbrechen. Schon während der im Video sichtbare Teil der Menge die letzte Phrase (»the police won´t let us«) »use any kind of instruments« wiederholt, zeigt sich der Missmut über das Verbot in simultanen Handzeichen. Beide Arme sind in die Luft gestreckt. Die Handflächen weisen mit wackelnden Fingern nach unten.

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Die kursive Hervorhebung steht hier für die Wiederholung der Rede durch die Anwesenden. Die unterschiedlichen Schriftgrößen deuten zudem die Lautstärke an, die mit der zunehmenden räumlichen Entfernung jeder weiteren Wiederholung abnimmt.

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Das New Yorker Verbot unangemeldeter soundsystems und jeglicher Tonverstärkung (inklusive Megafon) im Zuccotti Park ist hier als Grund für den Rückgriff auf die chorische Verstärkung konkret benannt. PA-Systeme haben das Potenzial, öffentlichen Raum herzustellen. Der Zuccotti Park ist einer der vormals öffentlichen Plätze, die an einen privaten Träger verkauft wurden. Soundequipment ist mit dieser Begründung im Verlauf der Besetzung sofort konfisziert, seine Benutzung mit bis zu 30 Tagen Haft geahndet worden. Öffentlicher Raum und das Recht, sich zu versammeln, sowie die dafür nötigen (sound-) technischen Bedingungen wurden deshalb performativ behauptet und mittels der physischen Versammlung selbst durchgesetzt: als akustisches Platznehmen. Etymologischer Ursprung des Wortes ›Technik‹ und früheste Verwendungen des Begriffs stehen im Zusammenhang mit Baukunst, Siedeln und Wohnen. Technik entsteht, indem ein Ort besetzt und dort ein kollektiver Lebensraum eingerichtet wird.8 Technik (griech. téchn) als Handwerk, Kunstfertigkeit, erlernbare Fähigkeit, als Können und aus Erfahrung gewonnenes Wissen, aber auch als Technik im Sinne von Werkzeugen und Maschinen entsteht, indem ein Ort besetzt und dort ein kollektiver Lebensraum eingerichtet wird. Technische Entwicklungen waren entscheidend durch die Ausdifferenzierung von Wohnstrukturen und Urbanisierung bestimmt. (Vgl. Fischer 1996: 255-335; vgl. Irrgang 2008: 78-120) Im Raum der Besetzung, als physische Versammlung vor Ort manifestiert sich das Occupy-Wall-Street-Camp als bewohnte Stadt in der Stadt. Dabei ist das human mic (wie jedes PA-System) ein territorialer Zugriff. Verstärkungstechnik bestimmt, wo, wie und wie weit der Klang der Stimme(n) durch Körper, Objekte und Architekturen dringt und sie damit zu Körpern, Objekten und Orten einer Versammlung macht. Das human mic definiert, redefiniert, verändert öffentlichen Raum als Auditorium. Es ist kein Techniksubstitut, keine Notlösung, sondern als Technik der Besetzung das PA-System der Occupy-Wall-StreetBewegung. Das akustische Abstecken eines Reviers geschieht hier nicht durch eine Beschallungsanlage, sondern durch die Körper und Stimmen der Versammelten selbst. Die chorische Verstärkung okkupiert akustisch den öffentlichen Platz, auf den die Etymologie des Wortes ›Chor‹ bereits verweist: xopos als griechische Bezeichnung für den öffentlichen Reigentanzplatz meint den Ort ritueller Ver-

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»Griech. téchn (*téksn) ›Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit; Wissenschaft‹ stellt sich zu griech. tékt n ›Zimmermann‹ aind. Tákati ›bearbeitet, verfertigt, zimmert‹, lat. texere (textum) ›flechten, weben, bauen, zimmern, kunstvoll zusammenfügen‹.« (Duden 2007: 840)

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sammlung. Aus dem xopos geht die orchestra als ältester Bestandteil der antiken griechischen Theaterarchitektur hervor. Hans Thies Lehmann betont die Bindung des tragischen Diskurses im antiken Theater an eine spezifische Präsenz der Stimme. (Lehmann1991: 44) Er hebt die enorme Bedeutung von »Sprechen und Hören« für die griechische Theaterpraxis hervor. Der während der Zeit der gesamten Aufführung – auch außerhalb der Chorpassagen – in der orchestra anwesende Chor garantiere, die »Öffentlichkeit des Geschehens. […] Während der Epeisodien zählt seine Präsenz als Zuhörer« (Lehmann 1991: 48). Diese Funktion des Chors im griechischen Theater der Antike lässt sich in gewisser Hinsicht mit der des human mic vergleichen. Denn wer auf den assemblies von Occupy Wall Street ›vor das human mic tritt‹ und z.B. seine persönliche Schuldengeschichte erzählt, enthebt diese dem Bereich des Privaten. Im Echo des human mic geht die Sprecherin bzw. der Sprecher auf in der Konstruktion der ›99 %‹. Ihre oder seine Geschichte verlässt den Bereich persönlichen Scheiterns und bekommt einen politischen Kontext. Die chorische Verstärkung der Reden ist ein Zuhören, das erklingt. Eine Zeug_innenschaft, die sich akustisch repräsentiert, und zwar durchaus als theatrale Inszenierung. Die Erklärung der Funktionsweise des human mic via human mic im zuvor beschriebenen Video war mindestens genauso an die umstehenden Passant_innen, Polizist_innen und Tourist_innen als Publikum gerichtet, an die zeitlich versetzten Zuschauenden der Youtubeclips, wie an die Versammelten untereinander. Die theatrale und mediale Wirksamkeit erklärt die vielfache Adaption des human mic in andere Occupy-Versammlungen und politische Demonstrationen unterschiedlicher Kontexte (d.h. auch an Orte, wo Lautsprecheranlagen potenziell vorhanden sind). Das human mic demonstriert (›Demonstration‹ (von lat.: demonstrare) meint ›verweisen‹, ›hinweisen‹, ›nachweisen‹, ›zeigen‹) die Besetzung, lässt sie erklingen und erscheinen als »Chor-Körper«, dem Hajo Kurzenberger in Bezug auf das Theater „raumgreifende und raumschaffende Funktion« (Kurzenberger 2009: 39) zuschreibt. Erst mit den Occupy-Wall-Street-Protesten wird das human mic medienwirksam, da die Platzbesetzer_innen dessen theatrale und spektakuläre Wirkung bewusst nutzen, um Aufmerksamkeit herzustellen. Das human mic kreiert Material für die auf Dokumentation ausgerichteten digitalen Medien, ist Futter für die Smartphones, perfektes Motiv für die unzähligen Videoclips der Protestierenden und der Tourist_innen. Das human mic ist ein PA-System, das neben der Rede v.a. Affekte ausdrückt und verstärkt. Eine elektrische Lautsprecheranlage würde durch so viel Feedback ihre Funktionsfähigkeit verlieren, eine unerträglich kreischende Rück-

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kopplung erzeugen. Das Feedback des human mic wirkt dagegen oft euphorisierend auf die Person, die spricht: »A few quick reminders (A few quick reminders … A few quick reminders … A few On Saturday (On Saturday … On Saturday … On Saturday) October fifteen (October fifteen … October fifteen … October fifteen) Around the world (Around the world … Around the world … Around the world) Hundreds of thousands of people (Hundreds of thousands of people … Hundreds of thousands of people … Hundreds of thousands of people) Will rise up (Will rise up … Will rise up … Will rise up)« quick reminders)

An dieser Stelle hört man die Stimme des im Video unsichtbaren Redners in der Ferne deutlicher durch die Geräuschkulisse der general assembly hindurch. Sie überschlägt sich vor Begeisterung. Der Clip mit dem Titel Occupy Wall St – Human Microphone vom 14.10.2011 zeigt eine massenhaft besuchte abendliche general assembly. Der von vereinzelten Straßenlaternen und den Lichtern der Kameras und Smartphones beleuchtete Platz ist dicht gefüllt. Den in der Nähe der Kamera nachsprechenden Stimmen ist im Verlauf etwas wie Rührung anzuhören. Klang und Rhythmus der Rede erinnern zunehmend an den religiösrituellen Ursprung der chorischen Form. Sie transformieren die Rede in ein Gebet: »We will defend our own (We will defend our own … We will defend our own … We will defend our own) But we will also (But we will also … But we will also … But we will also) Go on the offensive (Go on the offensive … Go on the offensive … Go on the offensive)« Der Sprecher wird an dieser Stelle vom Jubel des gesamten Platzes unterbrochen und wiederholt noch einmal: »Go on the offensive! (Go on the offensive! … Go on the offensive! … Go on the offensive!) And take the streets (And take the streets … And take the streets … And take the streets)« Unterbrechung durch lang anhaltenden Applaus und Jubel »One more quick reminder (One more quick reminder … One more quick reminder … One more quick reminder) This is all happening (This is all happening … This is all happening … This is all happening) And so much more is possible (And so much more is possible … And so much more is possible … And so much more is possible)« Hände werden begeistert hochgerissen »Because we are winning (Because we are winning … Because we are winning … Because we are winning)«

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Die Menge wiederholt die Worte, ist dadurch vom Geist des Gesagten körperlich besessen und wirft diese Be-Geisterung unmittelbar zurück. Die Personen ›am‹ human mic wirken, so sie in den Youtubevideos zu sehen oder zu hören sind, häufig bewegt. Die Reden geraten inhaltlich enthusiastisch, weil das Sprechen durch die Körper der Vielen das Reden selbst beeinflusst. Ein problematischer Aspekt dieser ›Technik‹ kann in der übermäßigen Simplifizierung komplexer Zusammenhänge liegen sowie in Tendenzen zu moralisierender Sprache und Pathos. Das human mic ist wie jedes PA-System an der Herstellung und Transformation der Bedeutung des Gesprochenen beteiligt. Die chorische Verstärkung lässt Lücken für die Reflexion des Gesagten noch während der Rede. In den Pausen, in denen die Menge nachspricht, kann präzise formuliert werden. Die Sprecherinnen und Sprecher sind nicht nur zum langsamen und bedachten Sprechen gezwungen, sondern auch zu einer Komprimierung und Verknappung der Aussagen. Das kann Beiträge kompakter und weniger weitschweifig werden lassen, aber auch unterkomplexe Rede bewirken. In der Praxis des Bewohnens des Platzes, im Sich-Einrichten, Etablieren eines Alltags im Occupy-Wall-Street-Camp wird nicht nur privatisierter oder verwaister städtischer Raum (wieder) angeeignet. Es handelt sich ebenso um eine (Wieder)-Aneignung von Zeit. Die ausführlichen und geduldigen Diskussionen schlagen zeitliche Breschen, sind Hingabe an die Dauer von Debatten vor Ort. Das human mic befördert diese Verlangsamung des politischen Diskurses, welche den auf Konsensbildung ausgerichteten Versammlungsbewegungen inhärent ist: »Vamos lento porque vamos lejos« (übersetzt: ›Wir kommen langsam voran, weil unser Anspruch groß ist‹), lautete der entsprechende spanische Slogan der ›15M‹. Eine general assembly ist bewusste Entschleunigung, ein gezielter Schritt zurück hinter Kundgebungen, die sich als Demonstrationen bereits formulierter politischer Gewissheiten verstehen. Sie findet ohne vorgedruckte Transparente, ohne bereits festgelegte Slogans und Ziele statt. Das Moment politischer Positionierung ist verzögert, indem es idealerweise erst aufgrund von in der Versammlung geschaffenem Wissen erfolgen soll. Der Videoclip mit dem erklärenden Titel How it works at Occupy Wall Street stammt vom 25. September 2011. In hellem Tageslicht sitzen etwa 150 bis 200 Leute in einer losen, etwa kreisförmigen Anordnung auf dem Boden, auf Bänken und Mauern. Man hört Geräusche der umliegenden Straßen. Der Moderator fragt in die Runde: »How do people feel about that?« Einige antworten mit nach oben gereckten Händen und wackelnden Fingern. Eine Frau steht auf und ruft dem Moderator mit großen Gesten etwas zu. Ein Mann in ihrer Hörweite hat eine Zeitung oder ein Flugblatt zu einer Flüstertüte gerollt und ruft laut in die Versammlung. Die Anwesenden wiederholen gemeinsam seine Worte:

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»What she said (What she said) Was that (Was that) The proposal (The proposal) Should be written on paper (Should be written on paper) So we can see it (So we can see it) When we discuss (When we discuss) Whether or not (Whether or not) To approve it (To approve it)« Der Moderator fragt: »How do we feel about that?« und erhält zustimmende Handzeichen. Er fährt fort: »So with that I´m going to recommend (So with that I´m going to recommend) That we move on to the next agenda point (That we move on to the next agenda point) I´m sorry I forgot (I´m sorry I forgot) There were still people on the stack (There were still people on the stack) For this agenda point (For this agenda point)« Ein Mann tritt in die Mitte neben den Moderator: »Hello I´m very glad to see you all (Hello I´m very glad to see you all) Many good people (Many good people) We need more people (We need more people)« Das human mic produziert Nebengeräusche, Unverständlichkeiten und eine Vielstimmigkeit, die oft gerade nicht unisono übereinstimmt. Häufig wird der Redeinhalt nicht nur verstärkt, sondern in die Körper der Vielen, in ihre Unterschiedlichkeiten akustisch aufgefächert bis hin zur Aufhebung des Redesinns. Diverse Haltungen und Arten des Nachsprechens existieren nebeneinander und stören sich manchmal gegenseitig: euphorisches pastorales Echo neben automatisierter Wiederholung, gleichzeitige Handkommentare, das Nachsprechen mit dem Sprecher bzw. der Sprecherin zugewandtem Rücken (um die eigene stimmliche Verstärkerfunktion in Richtung der hinteren Reihen zu optimieren), unterschiedliche Tempi und Betonungen, welche die eigene Haltung zum Gesagten schon in sich tragen. Es handelt sich um keinen dirigierten, disziplinierten oder gar gleichgeschalteten Chor. Im Video sieht man Einzelne telefonieren, Leute diskutieren untereinander, kommen und gehen. Der Sprecher verliert die Aufmerksamkeit der Anwesenden und wird deshalb nicht mehr verständlich verstärkt. Jemand ruft »Mic check!«, um das human mic neu mit dem Sprecher zu synchronisieren. Dieser sagt »Mic check!« und die Anwesenden wiederholen es. Dennoch ist seine weitere Rede schwer verständlich. Der Redner fasst sich kurz, da durch die Ausfälle des human mic deutlich wird, dass die Versammlung zum nächsten Tagesordnungspunkt weiter gehen möchte. Das human mic als chorische Verstärkung von Redebeiträgen entwickelte sich in der Occupy-Wall-Street-Bewegung zur Versammlungsmethode. Es ist eines der Instrumentarien der Versammlung wie die Trainings in democratic process, der Einsatz von Moderationsteams, welche den Versammlungsprozess

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begleiten und z.B. Redelisten führen, die Bestimmung von Backupmoderator_innen, Nutzung von Probeabstimmungen und ›Temperaturchecks‹ ohne Entscheidungsbindung, die ausgefeilte Kommentarfunktion via Handzeichen, ein System der Protokollierung und Dokumentation oder etwa das Vorgehen der sogenannten vibes watcher (welche die Stimmung in der Versammlung beobachten und überprüfen, ob die Redebeiträge überall gut zu hören sind). (Vgl. Graeber 2013: 41-46) Pragmatisch dient das human mic der Verstärkung der Rede auf dem Platz. Zugleich ist es Choreografie der Versammlung, indem es in seiner Funktionsweise bis hinein in die Dysfunktion seiner Ausfälle zeitliche Abläufe effektiv organisiert. ›Choreografin‹ scheint dabei die Versammlung selbst zu sein. Die Steuerung des Beschallungssystems human mic liegt außerhalb des Zugriffs Einzelner. Auch wenn Prominente einen solidarischen Besuch bei den Besetzerinnen und Besetzern abstatten, erscheint das human mic als eine egalitäre, pluralistische Technik. Die meistgesehenen Youtubevideos verzerren in der medialen Übersetzung diesen Aspekt, indem sie oft in der Hörweite der Stimme die körperliche Präsenz der redenden Person als Redner_in filmen. Die meisten Anwesenden auf dem Platz hören die Rede aber allein im Klang der chorischen Stimmen. Sprecher_in und Publikum sind nicht mehr unterschieden. Die Stimme der redenden Person bleibt nicht mit sich selbst identisch, sondern wird kollektiv aufgelöst, entpersonifiziert und vervielfältigt. Die Stimmen der Versammelten als Verstärker verkörpern die Rede. Diese Stimmen sind nicht mehr Garant für die Authentizität der oder des Einzelnen im politischen Diskurs. Vielmehr demonstrieren sie die Fiktion der Versammlung als überlegenes politisches Instrument – und setzen die Prinzipien dieser Versammlung zugleich als PA-Technik konkret um. Selbst wenn sich jemand als Anführer_in verstanden oder aufgespielt hätte, bemerkt David Graeber im Zuge seines bereits zitierten Berichts über die erste general assembly im Zuccotti Park, hätte er auf Nachfrage der Polizei nichts über die Pläne der Versammlung zu sagen gewusst. (Vgl. Graeber 2013: 51) Das human mic stellt sicher, dass diese Pläne erst in der Versammlung und durch die Versammlung hervorgebracht werden. Occupy Wall Street als eine der großen politischen Bewegungen, die seit Beginn 2011 neue Formen von Versammlung und Zerstreuung auf öffentlichen Plätzen praktizieren, besetzte neben Blockaden, action days und Demonstrationen von September bis November 2011 den Zuccotti Park im New Yorker Bankenviertel. Die Bewegung nahm dezidiert Bezug auf den Arabischen Frühling und damit auf den Tahrir-Platz und verlief zeitlich parallel zu den großen Platz-

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besetzungen in Griechenland und Spanien. Wie diese ist Occupy Wall Street eine repräsentationskritische Bewegung, die bewusst keine Wortführenden der Bewegung zu etablieren sucht. In radikaler Gesichts- und Namenlosigkeit wird die polyzentrische Praxis des Camps einem vereinheitlichenden Formulieren von Forderungen an nationale politische Repräsentant_innen übergeordnet. Ich schlage vor, das human mic in diesem Zusammenhang als Technik und Methode der Versammlung zu definieren. Bis hier wurde gezeigt, dass dieses PA-System • • • • • • • • • • • • •

als kollektive Körpertechnik die Aneignung öffentlichen Raums vollzieht die musikalische Wirkung politischer Sprache chorisch hervorruft als Aufmerksamkeitsmaschine und Affektapparat für ein Gemeinschaftserlebnis sorgt als kollektive Choreografie die theatrale und mediale Außenwirkung der Versammlung verstärkt die Rede entpersonifiziert, in einen Stimmenchor vervielfältigt die Etablierung von Anführer_innen der Bewegung erschwert die Redebeiträge verknappen und präzisieren kann eloquent-agitatorisches Sprechen mittels Zäsur und Wiederholung suspendiert den Ausschluss politischer Parteien, Organisationen und vorformulierter politischer Agenden unterstützt eine bewusste Verlangsamung des politischen Diskurses bewirkt ein verkörperndes Zuhören als aktiv beglaubigende Zeug_innenschaft einfordert in der Verstärkung ein simultanes Kommentieren aller Beteiligten ermöglicht die Rede im Akt der Verstärkung politisiert und darin andere Sprechende zu Wort kommen lässt.

Wenn Menschenmengen zusammenkommen, um öffentlichen Raum einzunehmen, ist die Frage der Verstärkung einzelner Stimmen, damit sie von einer Menge gehört werden, plötzlich zentral. Das Okkupieren, Herstellen oder Wiederherstellen von öffentlichem Raum durch politische Versammlungen ist an die Frage (ton-) technischer Verstärkung gebunden. In den Widerstandsbewegungen, die seit 2011 öffentliche Plätze einnehmen, entsteht unerwartete Technik, die unerwartet wirkt, weil Stimmen und Lautsprecher, physische Versammlung und Soundtechnik, digitale Kommunikation und analoge Welt unerwartete Formen der Verkörperung herstellen. Das human mic ist das PA-System der Occupy-Wall-Street-Bewegung, weil sich in dieser spezifischen Verstärkungstechnik ihr Kollektivgeist manifestiert,

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molekulare Organisation, Pathos und Bekenner_innentum, das Postulat, jeder und jedem zuzuhören, polyzentrische Arbeit in heterogenen Gruppen, Ineffektivität, Egalität und radikale Inklusion. Als kollektive Choreografie verkörpert, vertont und demonstriert es gleichsam die Idee direkter Demokratie.

C HOREOGRAFIE : D ER M EGAFONCHOR

ALS

PA-S YSTEM

Der Megafonchor ist im Zusammenhang mit meiner theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem human mic entstanden. Im Prozess wurde schnell klar, dass ein Wiederholen oder ›Nachplappern‹ dessen, was eine Rednerin oder ein Redner gesagt hat, dass das Sich-selbst-zum-Instrument-Machen auf unüberwindbare innere Widerstände bei den Beteiligten9 stieß. Das human mic lässt sich nicht ohne Weiteres nach Europa transportieren. Es wurde zwar vielerorts adaptiert, zitiert und nachgeahmt, ist als spezifische Versammlungsform aber nicht beliebig (und höchstens mit viel Humor) in andere Kontexte übertragbar. Dieses Unbehagen10 führte zu der Entscheidung, den Megafonchor als PASystem einzusetzen, ohne dass die Redner_innen vor Ort sprechen. Stattdessen benutzte der Chor O-Ton-Aufnahmen von Interviews11 als Grundlage einer festgelegten Partitur (im musikalischen Sinne).

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Ich habe gemeinsam mit ›Alltagsexpert_innen‹ in Sachen Gelingen und Scheitern politischer Ansprache geforscht: mit Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Hamburger Recht-auf-Stadt-Kontext (SOS St. Pauli, ESSO-Häuser-Initiative) sowie in Workshops mit dem Vorbereitungs- und Moderationsteam für den Hamburger Euromayday 2012 und 2013. Außerdem standen mir Mitglieder des aktivistischen Kollektivs Schwabinggrad Ballett, des in Demonstrationen aktiven Buttclub-Chors sowie Performer_innen und Kolleg_innen aus der Probebühne im Gängeviertel für der Erarbeitung der Performance zur Verfügung.

10 Die

historische

Erfahrung

der

NS-Verkörperungsmaschine

als

»Dispositiv

Laut/Sprecher« (Epping-Jäger 2003: 100), welche die versammelte Menge zum Verstärker machte, mag im deutschen Kontext einen Zugang zum gemeinschaftsbildenden Affektapparat Human Mic zusätzlich erschweren. 11 Die Interviews wurden von Irene Bude, Olaf Sobczak und Steffen Jörg in Vorbereitung ihres Dokumentarfilms über den ESSO-Häuser-Konflikt geführt. Es handelt sich um den Nachfolgerfilm zu Empire St. Pauli – von Perlenketten und Platzverweisen – einer Dokumentation über die rasante Gentrifizierung des Stadtteils. Die interviewten Personen haben ihre Aussagen auch für den Megafonchor autorisiert.

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Ein Chor aus zwölf Frauen mit Megafonen wird zur Verstärkung für die Bewohner_innen der sogenannten ESSO-Häuser in Hamburg. In einem Hybrid aus Performance und Demonstration unter dem Titel VERSTÄRKUNG! – Eine kollektive Anrufung spricht, ruft und singt der Megafonchor Statements und Aussagen von Mieterinnen und Mietern der von Abriss bedrohten Häuser am Spielbudenplatz/ Reeperbahn, St. Pauli. Es handelt sich um eine wortwörtliche musikalische Vertonung von Interviewantworten der Bewohner_innen und Gewerbetreibenden. Die besondere PA, die aus den Megafonen, den Stimmen und Körpern der Performerinnen besteht, schwärmt aus und verdichtet sich, erzeugt eine temporäre, bewegliche Lautsprecheranlage, die versammelt. Das Megafon dient als mobiles, meist in der Hand tragbares kegel- oder glockenförmiges PA-System der gerichteten akustischen oder elektrischen Verstärkung der Stimme. Megafon/speaking trumpet/blowhorn/Sprachrohr/loudhailer stellen ein potenziell bewegliches Auditorium her und sind als Verstärkungstechnik dafür ausgelegt, akustisch mit öffentlichen Räumen zu kollidieren; stimmliche Überschreibungen der akustischen Umwelt zu erzeugen (häufig in ihrer Durchschreitung). Eine Megafonstimme muss sich z.B. auf einer Demonstration oder im Stadion klanglich behaupten können. Elektrische Megafone transformieren die Stimme deshalb in eine höhere Frequenz. Sie haben zumeist einen Pistolengriff, mit dem die sprechende Person zielt, die Beschallung und Richtung der Ansprache lenkt. Man hält das Megafon dabei entweder direkt vor den Mund oder mit einem Tragegurt über die Schulter gelegt, während man in ein verkabeltes Mikrofon spricht. Die Rede wird gezielt ›abgefeuert‹. Die Vervielfachung der Megafone zu einem Chor erhöht die Lautstärke und ermöglicht eine variable Auffächerung der Beschallungsrichtungen. Die Choreografie der Stimmen und Körper, die Bewegung der Megafone wurde im Probenprozess zu unserer Performance/Demonstration VERSTÄRKUNG! – Eine kollektive Anrufung abgeleitet von Experimenten mit der extremen Richtcharakteristik der Apparate. Unisonosprechen und Wiederholungen von Textelementen sind eingearbeitet, um diese in unterschiedliche Richtungen zu transportieren bis sie sich nach und nach für alle Umstehenden erschließen. Aus dieser technisch notwendigen Synchronisierung, Rhythmisierung und Wiederholung von Text und Bewegung (als Orientierung für das sprachliche Timing und die gemeinsamen Einsätze) entstanden mehrstimmige Songs, ungewöhnliche Slogans und chorische Bewegungen. Der Megafonchor ruft musikalisierte Rede in für politische Demonstrationen extrem ungewohnter Sprache hervor:

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»Wenn ich da / Fantasieren darf / Würde ich die Häuser / Im Grunde so lassen / Warum soll man das hier nicht so lassen können? Die Wohnungen / Modernisieren / Und dann / Eine Grundsanierung / Warum soll man das hier nicht so lassen können? Und die Tankstelle / Und diese ganze Geschichte könnte hier bleiben / Warum soll man das hier nicht so lassen können? Das müsste dann halt nur ein bisschen / Entspricht ja nicht mehr ganz dem / Äh Stand der Zeit / Warum soll man das hier nicht so lassen können? Also ich würde das hier / Im Grunde lassen / Und die Mieter auch / In den Häusern lassen« An der lauten Reeperbahn mit mehrspuriger Straße und Bars erzeugte erst das Unisonosprechen über mehrere Megafone überhaupt Aufmerksamkeit und akustische Durchsetzungskraft. Eine klare Fixierung von Rhythmik und Sprachmelodie war notwendig, um das chorische Sprechen zu ermöglichen. Die spezifische Klangqualität (erhöhte Frequenz, Klirrfaktor, Verzerrung) der Megafone forderte zusätzlich Präzision, um überhaupt eine Sprachverständlichkeit des Chors herzustellen. Dazu haben wir die individuellen rhythmischen und melodischen Eigenheiten der Sprecherinnen genau analysiert. Orientiert an Originaltonaufnahmen der Interviews mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der ESSO-Häuser wurde die musikalische Vertonung als Verstärkungstechnik erarbeitet. Ohne z.B. Dialekt oder Eigenheiten einzelner Sprechender ›nachzuäffen‹, sorgt die Anlehnung an individuellen Rhythmus, Sprachtempo und Modulationen der jeweiligen Originalstimme dafür, dass diese in der chorischen Adaption als unterschiedliche personae12 wahrnehmbar bleiben. Es wird deutlich, dass andere durch uns als Chor hindurch sprechen, dass wir Verstärkung für die sind, deren Rede wir verkörpern. Stimmverführung und sirenenhafter Klangzauber, die den Megafonchor als kollektive Wunschmaschine ausmachen, resultieren aus künstlerischer Setzung ebenso wie aus technischer Notwendigkeit. Wie das human mic ist der Megafonchor ein PA-System, dessen Funktionieren von einer Verstärkung der musikalischen Eigenschaften von Sprache abhängt. Als wissenschaftlich-künstlerisches Forschungsprojekt stellt der Megafonchor experimentell flüchtige, momentane Räume der Versammlung her, in welchen Gegensätzliches wie Privates und Öffentliches, Körper und Umgebung, Anwesendes und Abwesendes, Präsentation und Repräsentation aufeinanderprallen: Demonstrant_innen und Zuschauer_innen einer Performance, Aktivist_innen der Initiative ESSO-Häuser, Anwohner_innen, Passant_innen, Polizei und Choreutinnen, Stimmen, Architektur und Megafone bilden ein Gewebe. Die

12 ›Personae‹ (lat. per-sonare: hindurchtönen) meinte das Ertönen der Schauspielerstimme durch das Mundstück der Maske im antiken griechischen Theater.

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Performance/Demonstration stellt mittels Stimmverstärkung eine Gemeinschaft her, erzwingt gleichsam in ihrem Verlauf unterschiedliche Formierungen von Gemeinsamkeit als körperliche Verbindung zwischen den Zuhörenden. Der Megafonchor ist ein ungewöhnliches und neues PA-System, das ungewöhnliche und neue Formen politischer Rede auslotet. Die zugrunde liegenden Interviewaussagen der Bewohnerinnen und Bewohner sind ein beinahe privates Sprechen in einem fast intimen Duktus eher des Gesprächs als einer Ansprache. Erst im Vorgang der Verstärkung werden die Aussagen zu politischen Reden.

PA-S YSTEME ALS C HOREOGRAFIEN V ERSTÄRKUNG ALS V ERORTUNG

DER

V ERSAMMLUNG :

Eine Probe mit dem Megafonchor an den Orten der Performance stellte sich als unmöglich heraus. Jedes Ausprobieren, jeder Soundcheck, jeder Test der Megafone im öffentlichen Raum war bereits eine Demonstration/Performance und rief zudem meist unmittelbar die Polizei auf den Plan. Die lautstarke akustische Vereinnahmung eines Raums und die multiplizierte politische Ikonografie der Megafone führten dazu, dass sofort nach einer Einordnung des Vorgangs (juristisch in das Versammlungsrecht, politisch in die Frage ›Kunstaktion oder Demonstration?‹) verlangt wurde. Die Brisanz lag offensichtlich darin, dass Verstärkung der Rede durch den Megafonchor v.a. in der Verortung der Ansprache besteht: Eine PA aus über Megafone verstärkten chorischen Stimmen platziert gezielt die Argumente, Wünsche und Gedanken der Anwohnerinnen und Anwohner. In der Versammlung und durch Versammlung (als Verstärkung) wird das Gesagte vor Ort zur politischen Message. Der Megafonchor läuft singend und sprechend durch die Straßen des Hamburger Stadtteiles St. Pauli. Die Versammlung, die sich gehend dem Chor anschließt, setzt dabei unweigerlich die Choreografie einer Demonstration um. Während des zurückgelegten Wegs vom Park Fiction13, vorbei an den Häusern der Hafenstraße, dem sogenannten Bernhard-Nocht-Quartier über das neu gebaute Brauerei-Quartier zu den ESSO-Häusern wird auch die Geschichte der Gentrifizierung St. Paulis und des Widerstands von Anwohner_innen, Aktivist_innen und Künstler_innen durchschritten. Auf dem Weg verändern sich akustische

13 Der Park am Elbufer wurde Mitte der 1990er-Jahre in einem Prozess ›kollektiver Wunschproduktion‹ entwickelt und von Aktivist_innen, Nachbar_innen, sozialen Einrichtungen, Künstler_innen, dem Golden Pudel Club, Hafenstraßenbewohner_innen u.a. gegen die Bebauungspläne der Stadt Hamburg durchgesetzt.

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Texturen: Resonanzen erzeugende und absorbierende Oberflächen, Soundreflektionen an nahen und fernen Gebäuden modulieren den Klang der Megafonstimmen. Der Megafonchor singt mehrstimmig die Pläne der Bewohnerinnen und Bewohner und verortet sie in den Straßen. Die geometrischen Formen und Glasflächen der Hochhäuser im Brauerei-Quartier reflektieren hohe Frequenzen und lassen die Stimmen schrill klingen. Vor den ESSO-Häusern wird dem chorischen Gesang durch die Architektur Hall hinzugefügt: Das Dach der Tankstelle reflektiert den Gesang und verstärkt ihn. Verstärkung transformiert und moduliert die Stimmen und lässt sie auf die räumlichen Gegebenheiten treffen. PA-Systeme erzeugen in der Trennung von Körper und Stimme potenziell einen multidirektional gestreuten Klang, erschaffen einen akustischen Raum, der die Versammlung definiert und umgibt. Auch das human mic ›leuchtet‹ mittels Stimmklang den Platz und seine Umgebung gleichsam aus, setzt die umgebenden Gebäude und Straßen akustisch in Szene, bringt sie klanglich zur Erscheinung. Es schafft in der politischen Rede nicht zuletzt Klangerlebnisse als Wahrnehmung und Besetzung von Raum. Barry Blesser und Linda Ruth Salter fassen Beschreibungen akustischer Raumwahrnehmung als »Aural Architecture«. Jeder Klang ist demnach von akustischen Eigenschaften des Raums, der Umgebung, der Objekte, auf die er trifft, verändert und moduliert. Er wird durch unterschiedliche Resonanzen, Echoeigenschaften, durch Klangschatten von Objekten geformt. Umgekehrt bringt Klang ›aurale Architekturen‹ zur Erscheinung (analog zum Licht, welches Objekte, Räume, Oberflächen erscheinen lässt): »sound sources illuminate audible properties of space« (Blesser/Salter 2008: 108). Diese Wahrnehmung von Räumen über den Klang passiere oft unbewusst, habe gleichzeitig aber enorme Wirkungen auf Affekte und Verhaltensweisen. PA-Systeme bestimmen, wer spricht und wo von wem gehört wird. Die choreografische Funktion von Verstärkung ist dabei genau der Aspekt von Sound, den Brandon LaBelle als »hinge« (Scharnier) bezeichnet (LaBelle 2010: 1). PASysteme schaffen mittels körperlicher, räumlicher oder elektronischer Verstärkung der Stimme(n) einen akustischen Raum der Versammlung. Die Verbindung wird durch den Sound (als Scharnier) hergestellt. Körper, die einander nicht unbedingt gesucht haben, werden durch die akustische Adressierung physisch verortet und miteinander verbunden.

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PA-S YSTEME ALS C HOREOGRAFIEN ›L IVENESS ‹ DER R EDE

DER

V ERSAMMLUNG :

In seiner Analyse von ›Liveness‹ macht Philip Auslander die scheinbar selbstverständliche Gegensätzlichkeit von medial vermitteltem und live stattfindendem Geschehen obsolet. Er untersucht die gegenseitige Durchdringung von Liveperformance und Medien: »The incursion of mediatization into live events can be understood as a means of making those events respond to the […] expectations shaped by mediatized representations […] Mediatized forms like film and video can be shown to have the same ontological characteristics as live performance.« (Auslander 2008: 184) Ich schlage vor, PA-Systeme als mediale Vermittlungen der Rede im Hier und Jetzt einer Versammlung zu verstehen, welche die ›Liveness‹ der politischen Rede immer in ein Verhältnis zu medialer Repräsentation und zu Dokumentation setzt. ›Liveness‹ meint hier, im Sinne Auslanders, ein historisch gewachsenes Konzept, welches einer stetigen Wandlung unterliegt. Die zugleich sichtbare wie hörbare leibliche Präsenz der sprechenden Person gilt als Wahrheits- und Authentizitätsgarant bspw. in der mündlich abzulegenden Zeug_innenschaft: vor Ort und live für etwas sprechen. Mladen Dolar sieht den Ursprung dieses Mechanismus in den Französischen Revolutionsverordnungen von 1791, die in der Forderung nach Mündlichkeit der Auseinandersetzung ein Gegenmittel zur Korruption des ancien régime sahen und damit das Ziel einer Demokratisierung des Rechtswesens verfolgten. Hier tritt, so Mladen Dolar, die »politische Fiktion« zutage, »Demokratie sei eine Frage der Unmittelbarkeit und damit wiederum der Stimme« (Dolar 2007: 148). Das Besondere an human mic und Megafonchor als PA-Systeme ist aber, dass sie genau dieses Verhältnis von ›Liveness‹ und politischer Rede verschieben. Sie bringen Stimmen zu Gehör, die auf keinen autonomen Sprecher bzw. keine autonome Sprecherin verweisen, verweigern Identifikation und definierte Rollen der Redner_innen wie der Zuhörenden. Beide PA-Systeme transportieren Reden in anderen Stimmen/Körpern, um sie zu verstärken. Megafonchor und human mic arbeiten mit der Einverleibung ›fremder‹ Rede als Technik der Verstärkung (Verkörperung). Megafonchor wie human mic geben demonstrativ Leuten eine vervielfachte Stimme, die sonst in politischen Diskursen nicht vorkommen. Im human mic als PA-System der Occupy-Wall-Street-Bewegung bildet sich ein Paradox ab, das den aktuellen Versammlungsbewegungen inhärent ist. Ein gewisses Präsenzpathos verbindet sich hier mit einem erhöhten Aufkommen von Praktiken der Dokumentation. Das Insistieren auf die physische Versammlung

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im öffentlichen Raum, auf das Hier und Jetzt als Beglaubigung der politischen Formulierung in der Versammlung und durch die Versammlung einerseits muss andererseits stetig in Dokumenten, Protokollen, Bildern und Videoclips fixiert, archiviert sowie (online) veröffentlicht werden. Wie ich bereits herausgearbeitet habe, ist das human mic als Livesetting auf diese Medien der Dokumentation (Websites, Blogs, Social-Media-Foren) optimal ausgerichtet. Es ist ein Affektapparat, der die ›Liveness‹ der Versammlung als Gemeinschaftserlebnis verstärkt und diese zugleich entsprechend den Bedingungen ihrer Medialisierung in Szene setzt. Beim Megafonchor ist das Moment der Dokumentation in die Rede selbst verlagert, welche aus der Wiedergabe von Interviewantworten besteht. Der Livecharakter, von dem jede politische Rede abhängt, besteht beim Megafonchor im Akt der Verstärkung selbst, in der Art der Wiedergabe des Gesagten als Versammlung/in der Versammlung vor Ort. Das so beschaffene PASystem bringt andere Sprechende hervor. Es verstärkt Stimmen von Menschen, die sich z.B. nicht als politische Redner_innen auf dem Podium einer öffentlichen Versammlung exponieren würden. Die Fragen von Dokumentation, Repräsentation und ›Liveness‹ berühren konstituierende Bedingungen des Sich-Versammelns. Die Figur des männlichen oder weiblichen Delegierten/Vertreters/Sprechers/Gesandten mag verdeutlichen, wie zentral die Frage der Repräsentation als ein Sprechen für andere (d.i., Abwesenden oder Abwesendem eine Stimme verleihen) für Versammlungen ist. Als Repräsentationsmaschinen sind PA-Systeme daran beteiligt, abwesenden Personen oder Gegenständen der Auseinandersetzung vor Ort und im Moment der Versammlung eine Form der Aktualisierung zu geben. Stimmverstärkungssysteme wirken choreografisch, indem sie ein System der Verkörperungen und Repräsentationen innerhalb der Versammlung herstellen und zugleich definieren, wofür die Versammlung selbst steht. Die Choreografien, die human mic und Megafonchor produzieren, sind demonstrative Versammlungen im öffentlichen Raum. Als Choreografie schreibt das human mic Prinzipien der spezifischen Versammlungspraktiken von Occupy Wall Street fest (z.B. die Verweigerung, Wortführer_innen der Bewegung zu bestimmen). Das human mic besitzt Handlungskraft, indem es zeitliche Abläufe, Fragen der Verkörperung und Repräsentation in der Versammlung regelt, die politische Rede verortet und performativer Vollzug der Besetzung öffentlichen Raums ist. Der Begriff ›Choreografie‹ (altgriech.  : Tanz und  : Schreiben), verstanden als Notation oder Aufzeichnung von Tanzbewegungen, impliziert ein Verhältnis von Dokumentation und ›Liveness‹. ›Choreografie‹ meint demnach nicht nur das Erfinden und Komponieren von Bewegungen im Ablauf, sondern

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auch ihr Einstudieren und damit ein dokumentierendes Festhalten. Wenn nicht zwingend als schriftliche Notation, bedarf es doch einer Form, um die Überlieferbarkeit zu gewährleisten als etwas, was sich in die Körper einzuschreiben vermag.

F AZIT : PA-S YSTEME V ERSAMMLUNG

ALS

C HOREOGRAFIEN

VON

Human mic und Megafonchor nehmen akustisch Platz. Ich habe beide PASysteme als demonstrative Taktiken der Besetzung analysiert. Sie reden oder singen öffentlichen Raum herbei. Um Argumente gezielt zu platzieren, verstärken sie die musikalischen Eigenschaften von Sprache. Chorische Verstärkung ist als Wiedergabe und Weitergabe der Rede darüber hinaus ein akustisches Bezeugen von etwas, ein Zuhören, das erklingt. Indem das human mic vornehmlich die Rede von Sprecherinnen und Sprechern vervielfacht, die über ein anderes PA-System nicht das Wort ergriffen hätten, wird die Versammlung selbst zur Verstärkung. Bewusst gerät die wahrnehmbare leibliche Präsenz der redenden Person, die im politischen Kontext als Wahrheits- und Authentizitätsgarant gilt, ins Flirren. Die Verweigerung, Wortführende zu ernennen, ist ein Prinzip der Occupy-Wall-Street-Bewegung, welches durch das human mic demonstriert und konkret umgesetzt wird. Das PA-System ist hier nicht nur Choreografie im Sinne einer theatralen und medialen Inszenierung nach Außen. Es reguliert konkret raum-zeitliche Parameter und Abläufe der Versammlung. ›Choreografie‹ bezeichnet hier die Relationen zwischen Einzelner bzw. Einzelnem und Versammlung, Sprechenden und Zuhörenden, Verkörperung und Verortung der Rede und lässt sich darin auch auf andere Medien der Stimmverstärkung übertragen. PA-Systeme sind auch außerhalb der hier betrachteten Beispiele nie als isolierte technische Objekte zu sehen. Auch PAs aus Verstärker und Lautsprecher, Megafon und Mikrofon bilden Assemblagen aus versammelten Körpern und Technik. Weiterführend gilt es, die Beziehungen zwischen Identitätskonzepten, Stimmklang, Repräsentation und Performativität von Versammlungen im Zusammenhang mit Apparaten und Techniken zu betrachten, welche Reden für eine Menge hörbar machen.

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L ITERATUR -

UND

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Kollektive Entscheidungen und ihre performative Dimension H ANNAH K OWALSKI

»In that sense, meetings also constitute a resource – possibly the most important resource to make collective action possible.« (Haug 2010: 75)

Mittwoch, 19.00 Uhr, im Gängeviertel, Hamburg. Wöchentliche Vollversammlung im größten Raum des Viertels. Es riecht wie immer ein wenig nach Bier und Zigaretten. Man spürt noch das Konzert, das am vorherigen Abend hier stattgefunden hat. Vier Personen bereiten die Versammlung vor. Sie ordnen Sofas und Stühle im Halbkreis an, bauen den Beamer auf und haben einen Moderationskasten dabei. Es wird telefoniert, hektisch hin und her geräumt, der Kühlschrank aufgefüllt und ein Whiteboard besorgt. – 19.15 Uhr – Immer noch sind nicht genügend Personen anwesend, um den Halbkreis zu füllen, dafür sind zwei Hunde da und ein Kleinkind. Die Moderatorin wird ungeduldig. Sie beginnt trotz geringer Teilnehmendenzahl. Es gibt eine formelle Begrüßung. Eine Blitzlichtrunde. Neue Personen stellen sich vor. Die Ankündigungen für die nächste Woche starten. Dann werden zusätzliche Tagesordnungspunkte gesammelt. Es gibt einen Protokollanten. Mittlerweile sind etwa 35 Personen eingetrudelt. – 19.45 Uhr – Einzelne Tagesordnungspunkte werden diskutiert. Nicht alle sitzen im Kreis, einige hocken oben auf den Treppen, weil man dort an der offenen Tür rauchen kann. Die Moderatorin versucht, mehr Ruhe und Konzentration einzufordern. – 20.30 Uhr – Wir diskutieren, ob wir einen weiteren Nutzungsvertrag mit der Stadt unterschreiben sollen. Ein Handy klingelt. Der Vertrag soll über den Beamer projiziert werden, sodass ihn alle gleichzeitig lesen können. Doch es gibt technische Probleme. Die Arbeitsgruppe ›Kommunikation‹ trägt ihre Vorschläge und Argumente vor. Vehemente Diskussionen, lautstarke Pros und Kontras.

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Kleingruppen zum Diskutieren bilden sich. Auf dem Whiteboard werden Pros und Kontras gesammelt. – 21.00 Uhr – Es soll zur Abstimmung kommen, das Plenum ist eigentlich in einer Viertelstunde offiziell zu Ende. Die Moderatorin wird unruhig. Jemand versucht, einen Satz zu formulieren, über den sich abstimmen lässt. Die Abstimmung beginnt. Doch sofort gibt es Widerspruch. Die Formulierung sei unklar. Die Moderatorin startet die Abstimmung von Neuem. Eine Person versucht, die Hände zu zählen: 15 dagegen. 4 enthalten sich. Aber hat jener dort sich nicht zweimal gemeldet? Die Arbeitsgruppe ist enttäuscht. Die Versammlung wird beendet und es wird weiter diskutiert. Im Hamburger Gängeviertel1 haben in den vergangenen vier Jahren ca. 200 Plenen stattgefunden. Diese Versammlungen und die währenddessen stattfindenden Entscheidungsprozesse sind meist notwendig, langweilig und extrem anstrengend. Bei mir hat sich über die Zeit eine Versammlungsmüdigkeit eingestellt. Ungeachtet dessen sind die Vollversammlungen ein elementarer Bestandteil unserer kollektiven Selbstverwaltung.2 Kollektive Entscheidungsprozesse können als effektiv und motivierend oder als enttäuschend und ausschließend wahrgenommen werden. In diesem Beitrag soll die Frage erörtert werden, welche Rolle die performative Dimension von Entscheidungsverfahren für das Gelingen von kollektiven Entscheidungsprozessen spielt. Explizit soll es dabei um die Abstimmungssituation und die für diesen Kontext notwendigen Gesten, Bewegungen und Gegenstände gehen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Annahme, dass die Architektur des Raums sowie die Objekte darin die Entscheidungsprozesse dahingehend beeinflussen,

1

Das Gängeviertel wurde am 22. August 2009 von 200 Menschen mit künstlerischen Mitteln besetzt. Seitdem sind Besetzerinnen und Besetzer in den Häusern aktiv und haben durch Verhandlungen mit der Stadt und viel öffentlichen Rückhalt erreicht, dass das selbstverwaltete Quartier, in welchem Wohnen, Leben und Arbeiten stattfinden soll, eine Zukunft haben wird. Meine eigenen Aufgaben im Gängeviertel umfassen Vernetzungsaktivität, Presse- und Vorstandsarbeit. Mehr Informationen finden sich auf der Seite: http://www.das-gaengeviertel.info.

2

Im Gängeviertel wird seit vier Jahren daran gearbeitet, das Plenum interessanter und erträglicher zu gestalten. Teile dieser Bemühungen sind in der ›VV-Arbeitsgruppe‹ (›VV-AG‹) angesiedelt, in der die Moderation und Materialien vorbereitet werden. Auch DJ-Auftritte und interne Werbung mit dem Slogan ›Komm in die VV‹ gehören zu den Versuchen, die Vollversammlungen anders zu gestalten.

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dass sie sich als Infrastruktur entscheidend auf das Agieren, Rezipieren und die Bewegung der Teilnehmenden auswirken. Macht es einen Unterschied, ob man per Stimmkarte abstimmt oder indem man durch eine bestimmte Tür geht? Inwiefern kann Bewegung oder ein anderer Umgang mit Objekten relevant für einen Abstimmungsvorgang sein? Wie beeinflusst die Gestaltung von Entscheidungsverfahren die Entscheidungsfähigkeit und die Motivation zu gemeinsamem Entscheiden? »Furthermore, meetings often include non-human objects, like a flip-chart of a projector, whose functioning is essential for the progress of the meeting. But does the presence of a flip-chart obligate participants to use it? Does the specific arrangement of the furniture in the meeting room matter? And if the meeting notes that someone takes during the meeting are simultaneously projected to the wall for public visibility, should participants relate to what is projected? Should it even become the central focus of attention, the joint product on which the participants work? While masking of the physical environment is inevitable to sustain the meeting, the way and degree in which this is done varies between different environmental regimes«. (Haug 2012: 29)

In den Beschreibungen und Analysen kollektiven Entscheidens werden – abgesehen von Versammlungs- bzw. Meetingmanuals3 – der Raum als solches sowie Materialien, Objekte, Gestiken und Bewegungen, die bei Versammlungen genutzt werden, meist vernachlässigt. Was wäre, wenn man im Sinne von Bruno Latour nicht nur diskutieren würde, welche Personen sich versammeln, sondern auch, welche Gegenstände bzw. Aktanten4 in einer politischen Versammlung zusammenkommen und welche Beziehungen und Bewegungen sich daraus ergeben?5 Latour stellt die Frage, ob sich durch die An- bzw. Abwesenheit bestimm-

3

Solche ›How to‹-Anleitungen finden sich zum einen in der Managementliteratur, in welcher es um die Gestaltung von effektiven Meetings geht, und zum anderen in Publikationen von linken aktivistischen Zusammenhängen, wie z.B. den Anti-Globalisierungscamps. Innerhalb dieser Texte findet sich meist ein kleiner Abschnitt, in dem die räumlichen Gegebenheiten und die Materialien, die für Versammlungen nötig sind, angeführt werden. (Vgl. Laufer 2009; Projektgruppe HierarchNIE 2003)

4

Da das Wort ›Akteur‹ meist nur für Menschen benutzt wird, gebraucht Latour häufig den aus der Semiotik entlehnten Ausdruck ›Aktant‹, um dadurch die nicht menschlichen Wesen in die Definition von Handlungsträgern miteinzubeziehen. (Vgl. Ruffing 2009: 29)

5

Die Betrachtung von Gebäuden und Architekturen als konstituierende Elemente sozialer Ordnungen ist natürlich nicht neu. Spätestens seitdem Foucault die Beschreibung

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ter Gegenstände etwas Wesentliches verändert. Ist dies der Fall, sind die entsprechenden Aktanten Teil des Geschehens. Er selbst führt das Beispiel einer Raumordnung in einem Hörsaal an, in dem der Dozent auf einem Stuhl sitzt, von den Studierenden umgeben wie in einem antiken Amphitheater. (Latour 2007: 335) Doch nicht nur die architektonischen Gegebenheiten, sondern viele verschiedene Mittler beeinflussen die Situation. Es ist daher verwunderlich, dass noch keine umfassende Genealogie von Versammlungsräumen sowie ihren Materialien und Gegenständen existiert, sind doch Versammeln und gemeinsames Entscheiden grundlegende Handlungen und Praktiken einer Demokratie. Oder wie der Soziologe Christoph Haug schreibt: »In that sense, meetings also constitute a resource – possibly the most important resource to make collective action possible.« (Haug 2010: 75) Dieses Zitat bringt auf den Punkt, worin mein Interesse an Versammlungen und Entscheidungen besteht: Versammlungen sind eine notwendige Vorrausetzung für kollektives Handeln. Um als Kollektiv zu handeln, muss man sich entscheiden. Strebt man politische Aktionen an, die gesellschaftliche Verhältnisse verändern sollen, sind Versammlungen und kollektive Entscheidungen unabdingbar. Meist werden Entscheidungsvorgänge lediglich als Vorbereitung einer gemeinsamen Handlung betrachtet und nicht singulär als kollektive Handlung gesehen.6 Ein Grund, warum kollektives Entscheiden selbst bislang so selten als

von Benthams Panoptikum nutzte, (Foucault 1976) um die subtilen, unsichtbar erscheinenden Mechanismen von disziplinärer Macht aufzuzeigen und zu erörtern, wurden von Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen Laboratorien, Krankenhäuser, Shoppingmalls und Museen dahingehend untersucht. Die Gebäude des konkreten demokratischen Geschehens sind jedoch sehr viel seltener aus poststrukturalistischer oder architektursoziologischer Sicht analysiert worden. (Dany 2010: 4f.) 6

Es sind kaum Versammlungen denkbar, in denen nicht in irgendeiner Form gemeinsam entschieden wird. Mindestens entscheiden die Versammelten über situationsbezogene Faktoren, die ihre eigene Versammlung betreffen, etwa ob sie eine Pause einlegen wollen. Informelle gemeinsame Entscheidungen werden aber auch auf reinen Informationsveranstaltungen, bei Konzerten oder einer Versammlung von Jugendlichen an einer Straßenecke getroffen. Die Abstimmung mit den Füßen, Gähnen, Beifall oder schlicht die Überlegung, wohin man gemeinsam als nächstes gehen wird, zeigen einen Meinungsbildungsprozess. Der Begriff ›Entscheidung‹ wird üblicherweise in einem doppelten Sinne verwendet: Er bezeichnet einerseits das Entscheidungshandeln und andererseits das Entscheidungsergebnis. (Pritzlaff 2006: 7) Das Entscheidungsergebnis ist relevant für die daraus resultierende Handlung. Meist werden Entschei-

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Handlung auf performative Kriterien hin untersucht worden ist, könnte darin bestehen, dass es nicht als Teil des gemeinsamen Handelns ausgewiesen ist. Dabei hängt der Charakter von Versammlungen auch davon ab, wie sie das Verhältnis zwischen Entscheidung und gemeinsamer Handlung sehen und einrichten. Zu Beginn der Besetzung des Gängeviertels wurde unter den Beteiligten viel darüber diskutiert, nach welchen Regeln und Verfahren wir entscheiden wollen: Entscheidet der Deligiertenrat, der Vorstand oder die Vollversammlung? Und wie soll entschieden werden: per Mehrheit oder nach dem Konsensprinzip? In diesem Beitrag geht es um den formalen Höhepunkt7 in Versammlungen, die ein formelles Abstimmungsverfahren nutzen, um zu gemeinsamen Entscheidungen zu gelangen, wie Gremien, Konferenzen, Parlamente oder Plenen. Entscheidungsstrukturen und -prozesse sind dabei oftmals vorgegeben oder folgen bewährten Mustern. Auch wenn kollektive Entscheidungen und die dazugehörigen Versammlungsformen und Abstimmungsmodi sehr unterschiedlich sein können, zeichnen sich die meisten durch ein einfaches Input- und Abstimmungsverfahren z.B. mit Wahlzetteln oder durch Handheben aus. Die performativen Elemente dieser Prozesse sind überschaubar und wiederholen sich. So hat sich z.B. das Handheben, die Kreisrunde bzw. eine amphitheaterähnliche Anordnung von Stühlen als gängige und gut umsetzbare Praxis durchgesetzt. Eine Ausnahme vom gängigen Abstimmungsprozedere stellt der ›Hammelsprung‹8, ein spezielles Abstimmungsverfahren im Deutschen Bundestag dar.

dungsvorgänge lediglich als Vorbereitung für eine gemeinsame Handlung betrachtet und nicht selbst als kollektive Handlungen gesehen. 7

Schon bevor die Versammlung tagt, sind entscheidende Weichen gestellt worden, haben informelle Gespräche stattgefunden, wurde Pressearbeit geleistet, recherchiert und es wurden Studien zu gewissen Themen angefertigt oder die Präsentation von Inhalten vorbereitet. Die Versammlung, in der über einen konkreten Entwurf abgestimmt wird, stellt daher lediglich den formalen Höhepunkt eines Entscheidungsprozesses dar.

8

Ursprünglich gab es im Reichstag und dem Preußischen Abgeordnetenhaus nur zwei Arten der Abstimmung: Aufstehen bzw. Sitzenbleiben und der Namensaufruf. Erst durch die Frankfurter Nationalversammlung kam die Abstimmung durch Zählung dazu, der sogenannte Hammelsprung. Vorbild für den Hammelsprung waren Entscheidungsverfahren in England. Im Mittelalter gab es im englischen Long Parliament einen Abstimmungsvorgang, bei dem die mit ›Nein‹ Stimmenden den Saal verließen, während die mit ›Ja‹ Stimmenden im Saal blieben. Da oft Druck auf die Abgeordneten ausgeübt wurde, fürchteten sich viele, den Saal zu verlassen und damit ihren Sitz zu verlieren. Mit der Errichtung des Parlamentsgebäudes im 19. Jahrhundert wurde dieses Verfahren aufgegeben. Von nun an mussten bei einer Abstimmung durch Zäh-

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Steht keine namentliche Abstimmung auf dem Programm, wird per Handzeichen oder über das Prinzip ›Aufstehen versus Sitzenbleiben‹ abgestimmt. Die Abgeordneten werden in diesen Fällen nicht einzeln gezählt, um die Mehrheit festzustellen. Diese wird vom Sitzungsvorstand – dem Sitzungspräsidium und zwei Schriftführenden – festgestellt, denn oft ist auch ohne Auszählung deutlich erkennbar, wie die Mehrheit gestimmt hat. Wenn allerdings der Sitzungsvorstand Zweifel hat und sich auch nach Gegenprobe durch Handzeichen nicht einig ist, kommt es zum Hammelsprung, einer Abstimmung durch Zählung. Der Hammelsprung läuft folgendermaßen ab: Eine Glocke klingelt. Alle Abgeordneten verlassen den Plenarsaal. Dann klingelt wieder die Glocke und die Abgeordneten betreten den Saal durch drei verschiedene Türen. Über den drei Türen steht ›Enthaltung‹, ›Ja‹ oder ›Nein‹.9 Wie viele Abgeordnete durch die jeweilige Tür kommen, zählen jeweils zwei Schriftführende an jeder Tür. Das Ergebnis wird durch das Sitzungspräsidium verkündet. Dieses Verfahren wird im Durchschnitt zweimal im Jahr angewandt. Mit Klingeln, Türen, Schildern und Schriftführen wird eine Bewegung der Abgeordneten choreografiert. Durch die Klingel, die im gesamten Gebäude zu hören ist, können die Fraktionszugehörigen, die noch nicht im Plenarsaal anwesend waren, zu der Abstimmung hinzukommen. Der Hammelsprung ist eine Art immanente Unterbrechung des Plenums, in welchem die Körper, die sonst lange Zeit auf ihren Stühlen sitzen, in Bewegung geraten. Es ist allgemein bekannt, wie wichtig Pausen und ein ›Umden-Block-Gehen‹ sein können, wenn wichtige Entscheidungen zu treffen sind. Nur ist hier die Bewegung nicht innerhalb einer Pause situiert, sondern gehört zum Entscheidungsprozedere dazu. Alexandra Grauvogl schreibt in einem Artikel in der Tageszeitung ›Die Welt‹: »Nach gut acht Stunden Sitzungsmarathon, um 17.22 Uhr, kam es dann zu einer vom Präsidium verordneten gymnastischen Übung im Plenum. Um den Kreislauf wieder etwas anzukurbeln und die Sauerstoffzufuhr der strapazierten Gehirne zu fördern, wurde die vollständig versammelte Mannschaft vor die Tür gebeten. Es ist der neue Trendsport im Bundestag – der Hammelsprung.« (Grauvogl 2013)

len alle Abgeordneten den Saal verlassen und diesen durch zwei Türen wieder betreten. (Thiele 2008: 502) 9

Das Verfahren des Hammelsprungs beruht auf dem Entscheidungsverfahren in England, es wurde jedoch dahingehend variiert, dass eine Abstimmungsoption, die Enthaltung, hinzugefügt wurde.

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Der Hammelsprung wird hier genutzt, um die Abgeordneten ihre Marathonsitzung überstehen zu lassen, um sie zu aktivieren und zu motivieren. Den wenigsten wird das bewusst sein. Denn in der Regel kommt dem Entscheidungsmoment und dem Entscheidungsverfahren wenig Beachtung zu. Abstimmungsverfahren sind meistens so etabliert und gängig, dass sie selten hinterfragt werden, und noch seltener werden neue entwickelt und praktiziert. Der Entscheidungsmoment als solcher wird meist auf sein numerisches Ergebnis reduziert. Oftmals werden Wahlverfahren und ihre Implikationen nur sichtbar, wenn es eine Störung gibt und eine Abstimmung nicht reibungslos vonstatten gehen kann.10 Prominent diskutiert wurden dagegen in letzter Zeit die Möglichkeiten der digitalen Abstimmungspraxis liquid democracy. Mithilfe entsprechender webbasierter Programme könnten die Wahlberechtigten nach Belieben direkt über Gesetze abstimmen oder auch ihre Stimme delegieren. Die Diskussion um liquid democracy zeigt auf, dass Entscheidungsverfahren demokratische Teilhabe strukturieren. Deshalb scheint es notwendig, die gegebenen Verfahren zu reflektieren und mit neuen Verfahren zu experimentieren, um neuen medialen und technischen Möglichkeiten ebenso gerecht zu werden wie Veränderungen unseres demokratischen Grundverständnisses. Da es in den performativen Künsten einige Beispiele gibt, in welchen andere Formen der Abstimmungen kreiert werden, stellt sich die Frage, inwiefern man künstlerische Anordnungen nutzen kann, um die Entscheidungsmomente innerhalb einer Versammlung anders zu organisieren. Welche Rolle können Dinge, Medien, Bewegungen und Gesten in der Restrukturierung von Entscheidungsprozessen spielen? Kann man den Entscheidungsmoment reritualisieren, rechoreografieren und neu zu den Dingen in Beziehung setzen? Wäre es dadurch möglich, die Motivation zur Teilnahme an kollektiven Entscheidungen zu erhöhen? Mein Projekt JA NEIN VIELLEICHT, das in diesem Beitrag vorgestellt wird, ist ein Versuch, die Entscheidungsprozesse im Rahmen einer baulichen Planungssitzung neu zu choreografieren. Um die Frage zu erörtern, inwiefern die Dinge als Teil der Versammlung die Bewegung der Menschen und ihren kollektiven Entscheidungsprozess strukturieren, soll jedoch zunächst ein kurzer Überblick über den Forschungsstand zum kollektiven Entscheiden in den Poli-

10 Dies geschah z.B. 2002 bei der Abstimmung zu einer Reform des Justizsystems im italienischen Parlament, in welcher eine hohe Anzahl von Abgeordneten dabei gefilmt wurde, wie sie die elektronischen Abstimmungsknöpfe von abwesenden Kolleg_innen bedienten. Die Videoaufzeichnungen zeigen, wie die Abgeordneten bei der Abstimmung ›Piano spielen‹, also die Tasten rund um sich herum bedienen, weshalb dieses Phänomen als ›Pianistenproblem‹ bezeichnet wurde. (Vgl. Barber 2002)

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tikwissenschaften unternommen und es sollen praxisbezogene Versammlungsmanuals vorgestellt werden.

K OLLEKTIVES E NTSCHEIDEN Kollektives Entscheiden ist ein Begriff, der wissenschaftliche, politische, ökonomische, juristische, aber auch alltägliche Verwendungstraditionen hat. Da es mir um formalisierte kollektive Entscheidungsprozesse geht, wird der Begriff in seiner umgangssprachlichen Bedeutung11 als Synonym für Abstimmungen, Konsens- oder Kompromissfindung verwendet. Definiert werden Entscheidungen in den Politikwissenschaften meist als Auswahl von Alternativen aus einer insgesamt zur Verfügung stehenden Alternativmenge. (Bossert/Stehling 1990: 1) Eine kollektive Entscheidungssituation liegt dann vor, wenn n>2 Personen gemeinsam aus einer Alternativmenge 0 eine oder mehrere Alternativen für diese Personengruppe auszuwählen haben. (Ebd.: 74) Die Politikwissenschaftlerin Tanja Pritzlaff hat eine Klärung des Begriffs ›Entscheiden‹ unternommen, die auch auf die Art von kollektiven Entscheidungen Anwendung finden kann, um die es im vorliegenden Beitrag geht. In ihrem Buch Entscheiden als Handeln kritisiert sie, dass alle existierenden Definitionen des kollektiven Entscheidungsbegriffs vom individuellen Entscheiden ausgehen. Aus den Annahmen über individuelles Entscheiden wurden demnach bislang auch die Definitionen oder Modelle kollektiven Entscheidens abgeleitet. Pritzlaff differenziert dagegen vier unterschiedliche Formen des kollektiven Entscheidens. (Pritzlaff 2006: 131) Bei der ersten Kategorie wird der Entscheidungsbegriff als Oberbegriff zur Bezeichnung von Verbindlichkeitsherstellungen verwendet, wie z.B. Konsens oder Abstimmung. Bei der zweiten Begriffsverwendung, die Pritzlaff anführt, wird ein Kollektiv analog zu einer individuellen Entscheidungsinstanz gesetzt.12 Die dritte Verwendungstradition fasst kollektives Entscheiden als Ergebnis der Addition von individuellem, unkoordiniertem Han-

11 Dass die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs für die hier zugrunde liegende Fragestellung bedeutsam ist, ist im transdisziplinären Ansatz des Forschungsvorhabens begründet. 12 Formulierungen wie ›das Gremium entscheidet heute‹ transportieren die Vorstellung, ein Kollektiv sei ein homogener ›Entscheidungskörper‹. Zwischen formalisierten und nicht formalisierten Verfahren des Entscheidungshandelns wird dabei nicht unterschieden, denn in dieser Verwendungsweise des Begriffs verbleibt das Handeln der einzelnen Mitglieder des Kollektivs in einer Art Blackbox.

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deln bzw. Wählen auf. Diese Verwendungstradition des Entscheidungsbegriffs liegt den Rational-choice- bzw. Social-choice-Ansätzen zugrunde. Die vierte Kategorie versteht kollektives Entscheiden als Effekt, der als Produkt aus der Interaktion individuell strategisch agierender Mitglieder eines Kollektivs hervorgeht. Prominente Beispiele hierfür sind spieltheoretische Konzeptionen wie das Gefangenendilemma (vgl. Pritzlaff 2006: 132-136). Während die ersten zwei Kategorien eher alltagssprachliche Verwendungstraditionen bezeichnen, umschreiben die Kategorien drei und vier jeweils eine begriffliche Konzeption, die in prominenten theoretischen Denkrichtungen der Politikwissenschaften, den Rationalchoice-Ansätzen, von Bedeutung ist.13 Die politikwissenschaftliche Forschung zu kollektiven, demokratischen Entscheidungsprozessen konzentriert sich in der Regel auf bestimmte Formate kollektiver Entscheidungsprozesse und untersucht deren soziale Logik, (Gaertner 2008: 1248) denn Rational- und Social-choice-Ansätze wurden entwickelt, um zu erklären, warum unter bestimmten Prämissen ein bestimmtes Ergebnis erzielt worden ist. Untersucht werden die individuellen Präferenzen und Strategien vor dem Entscheidungszeitpunkt und die retrospektive Erklärung nach der Entscheidung. (Pritzlaff 2006: 133f.) Diese Analysen setzen sich zwar detailliert mit den einer Entscheidung vorausgegangenen Abläufen und den aus der Entscheidung folgenden Konsequenzen auseinander, die Entscheidung selbst als das eigentlich zentrale Ereignis innerhalb der Prozesse bleibt jedoch ein ›blinder Fleck‹ (ebd.: 9), der Akt des Entscheidens und dessen Auswirkung auf das Entscheidungsergebnis wird sehr selten beleuchtet.14 Es existieren auch angewandte Beschreibungen und Erörterungen zur Organisation und Struktur von Versammlungen und ihren Entscheidungsprozessen. Diese Versammlungsmanuals und die darin stattfindende Reflexion über Ver-

13 Vertreter des Rationalismus sind sich einig bezüglich der zentralen Rolle der Nutzenmaximierung, der Präferenzenstruktur, der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit und über die entscheidende Rolle von Individuen bei der Erklärung kollektiver Ergebnisse. (Grenn/Sharpio 1999: 24; Fearon/Wendt 2003: 55) 14 Die Juristin Carmen Thiele hat in ihrer Habilitationsschrift Abstimmungsverfahren untersucht und eine Typisierung von Entscheidungsregeln und Verfahren unternommen, mit dem Ziel, eine Optimierung von Entscheidungsprozessen in Kollegialorganen zu ermöglichen. (Thiele 2008: 3) Ihre sehr umfassende Arbeit befasst sich konkret mit den Entscheidungsverfahren aus juristischer Sicht. Die performativen Aspekte, der Raum, die Zeit und die Dinge, die bei diesen Prozessen eine Rolle spielen, sind nicht Gegenstand ihrer Untersuchungen.

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sammlungen und Entscheidungen stellen keine Theorieansätze dar, sondern zeichnen sich durch eine sehr starke Praxisorientierung aus.

H IERARCH NIE! Beschreibungen, Anleitungen und Erörterungen zu horizontal organisierten Plenen gibt es z.B. bei Grenzcamps, Antiglobalisierungstreffen oder in alternativen Wohnprojekten. Innerhalb der linken Szene wird sehr viel darüber diskutiert, wie man Plenen oder Arbeitsgruppen organisieren kann, um sie möglichst egalitär, fair, transparent und effektiv zu gestalten. Hier geht es darum, die formellen und informellen Hierarchien möglichst flach zu halten und allen die Möglichkeit zu geben, mit ihrer Argumentation Beachtung zu finden. Eine in diesem Zusammenhang viel verwendete Broschüre ist der HierarchNIE!-Reader. Darin wird versucht, unterschiedliche Methoden und Reflexionen über eine Entscheidungsfindung von unten zusammenzufassen (Projektgruppe HierarchNIE 2003).15 Die Rolle der Moderation, der gleichberechtigte Zugang zu Wissen, Ressourcen oder Arbeitsgruppen sowie quotierte Redelisten, das Achten auf Redeverhalten und Zeitbegrenzungen sind zentral in dieser Debatte. Zudem werden eine Reihe unterschiedlicher Methoden vorgestellt, wie man Versammlungen organisieren kann, wie z.B. ›Fishbowl‹ oder ›Open Space‹. (Vgl. Thiele 2008: 287) Eine entscheidende Frage bei horizontal organisierten Versammlungen ist, ob man per Mehrheitsbeschluss oder konsensual entscheidet. Bei Mehrheitsabstimmungen wird eine Entscheidung herbeigeführt, indem über verschiedene Alternativen abgestimmt wird und der Entschluss entsprechend der Mehrheitsmeinung getroffen wird. Beim Konsensprinzip wird eine Entscheidung erst getroffen, wenn alle Beteiligten diese tragen. Es wird gemeinsam so lange diskutiert, bis ein Konsens gefunden ist. Oppositionelle Haltungen werden so lange besprochen, bis ein Kompromiss gefunden werden kann. Ist dies nicht möglich können die Opponenten ein Veto einlegen und dadurch einen Beschluss verhindern. (Vgl. ebd.: 48) Das Konsensprinzip stellt also nicht nur ein Ergebnis, sondern auch ein Verfahren dar. (Vgl. ebd.: 287) Relevant für den hier behandelten Gegenstand ist, dass es in Plenen, die per Konsens zu Entscheidungen kommen, gar nicht erst zu einer Abstimmung kommt. Bedeutsam sind nur die Debatten und die Diskussionskultur, die zur Entscheidung führen.

15 Die Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass jede Entscheidung Herrschaft repräsentiert und ausübt, weshalb es unmöglich sei, eine Entscheidungsfindung ohne Hierarchien zu organisieren. (HierarchNIE 2003: 48)

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»Even the often debated question of whether or not the process of considering a proposal ends in a vote through some sort of formal show of hands, or other affirmation of consensus, is secondary: what’s crucial is the process that leads to decision. Ending with a vote tends to be problematic not because there is anything intrinsically wrong with showing hands, but because it makes it less likely that all perspectives will be fully taken into account. But if a process is created that ends in a vote yet also allows all perspectives to be satisfactorily addressed, there´s really nothing wrong with it.« (Graeber 2013: 211-212)

David Graeber beschreibt hier eine unter Konsensbefürworterinnen und -befürwortern weitverbreitete Haltung: Es sei nicht entscheidend, sich über das Wie des Abstimmens Gedanken zu machen, es gehe vielmehr darum, den vorgeschalteten Prozess so zu gestalten, dass sich ein Konsens herausbildet und ein Händeheben überflüssig wird. Im Diskurs über horizontal organisierte kollektive Entscheidungsprozesse werden unterschiedliche Formen der Verbindlichkeitsherstellung erörtert und reflektiert; der Akt des Entscheidens wird jedoch vernachlässigt. Das Entscheiden selbst bleibt auch aus dieser Perspektive ein ›blinder Fleck‹. Im Folgenden möchte ich eben diesen ›blinden Fleck‹ anschauen und den Moment des Entscheidens wie beim Blick durch eine Lupe vergrößern, um in diesem Vergrößerungsmoment die Bewegungen und Gegenstände der Abstimmung zu beschreiben und zu analysieren – um dann mit ihnen zu spielen. Hände hoch. Hände runter. Aufstehen. Nicht aufstehen. Durch eine Tür gehen. Eine Stimmkarte heben. Im Verborgenen ein Kreuz machen. Geheim abstimmen. Eine Taste drücken, eine andere Taste drücken. Mit den Händen wedeln, klatschen, rufen, still bleiben, den Raum verlassen, einen Stuhl umwerfen, zu einer Wand gehen, eine Kabine betreten. Mit den Füßen abstimmen. Mit seinem Namen abstimmen. Stimmzettel abgeben. Gegenstand der Erörterung sind explizit der formelle Höhepunkt des Entscheidungsvorgangs – die Abstimmung – und seine körperlichen und materiellen, szenischen und choreografischen Aspekte. Als Performerin interessieren mich die performativen Aspekte einer Abstimmung: Wie verbindet sich der Körper mit den ihn umgebenden Dingen und Objekten und wie interagiert er mit diesen? Welche Bewegungen finden dabei statt? Erika Fischer-Lichte nennt in ihrer Studie Das Semiotische und das Performative vier Aspekte, die im Hinblick auf die Performativität einer Aufführung untersucht werden sollten: Materialität, Medialität, Semiotizität und Ästhetizität. Grundlegend sei dabei die Untersuchung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, der Raum-Zeit-Erfahrung, der Beziehung von Signifikant und Signifikat sowie von Präsenz und Repräsentation. (Fischer-Lichte 2001: 144) Wenn man

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den Versammlungsraum und die Entscheidungsversammlung als Bühnensetting und szenische Anordnung versteht, ergibt sich also eine Vielzahl von Fragen: Wie ist die Beleuchtung? Welche Rolle spielt das Licht? Wie ist das Verhältnis von Akteur_innen und Publikum? Gibt es überhaupt ein Publikum? Wie werden Gegenstände und Objekte genutzt? Welche Medien werden eingesetzt und wozu? Wie ist die Akustik des Raums? Werden die Stimmen der Beteiligten durch Mikrofone verstärkt? Welche Ästhetik herrscht vor? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Sprache und Bewegung? Welche Rollen und Rollenverhältnisse sind identifizierbar? Ist die Aufmerksamkeitsstruktur zentral oder diffus? Ist die Kopräsenz der Beteiligten notwendig? Meine Forschung im Rahmen des Kollegs Versammlung und Teilhabe ermöglicht mir, den ›blinden Fleck‹, den Akt des Entscheidens, ebenso theoretisch wie praktisch-künstlerisch zu erörtern. In einer experimentellen Anordnung habe ich einen Plenumsraum konstruiert, in dem alternative Entscheidungspraktiken ausprobiert und erprobt werden können:

K OLLEKTIVES E NTSCHEIDEN : JA NEIN VIELLEICHT – K INDER BESTIMMEN MIT BEIM H AMBURGER G ÄNGEVIERTEL . E INE HALB INSZENIERTE V ERSAMMLUNG IM F ORSCHUNGSTHEATER Freitag, der 17. Mai 2013, 16 Uhr: Eine besondere Sitzung tagt im Forschungstheater. Versammelt haben sich Kinder, Stadtplaner_innen, Architekt_innen, Aktivist_innen aus dem Gängeviertel, Wissenschaftler_innen, Eltern und Künstler_innen. Auf der Tagesordnung des Plenums steht die Freiflächenplanung für Kinder im Gängeviertel. Die dritte Klasse der Rudolf-Roß-Grundschule16 hatte gemeinsam mit mir ihre Nachbarschaft und das Gängeviertel erkundet und Vorschläge dazu entwickelt, was im Gängeviertel gebaut werden sollte, damit es auch für Kinder ein schöner Ort wird. Wichtig für diesen Prozess war nicht nur die Feldforschung, sondern auch die Arbeit an Modellen des Gängeviertels, in denen Ideen geklebt, gebastelt und gemalt werden konnten. Diese Vorschläge wurden fotografiert, um sie dem Plenum vorzustellen. Fünf Delegierte stimmen jetzt über die Vorschläge ab und legen dadurch fest, welche Ideen der Kinder

16 Die Rudolf-Roß-Grundschule ist nur sieben Gehminuten vom Gängeviertel entfernt. Aufgrund dieser unmittelbaren Nachbarschaft schien es sinnvoll, die Schülerinnen und Schüler an der Planung des Gängeviertels zu beteiligen.

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baulich realisiert werden. Als Delegierte anwesend ist eine Vertreterin der steg17 als Sanierungs- und Budgetbeauftragte, eine Vertreterin des Architekturbüros PLAN R, ein Vertreter der Baukommission des Gängeviertels und eine Delegierte der Vollversammlung des Gängeviertels sowie ein Klassensprecher der Klasse 3c. Abgestimmt wird nicht mithilfe gewöhnlicher Verfahren, sondern mit experimentell gestalteten Entscheidungsformaten.

A LTERNATIVE A BSTIMMUNGSFORMATE Bei dem Projekt JA NEIN VIELLEICHT geht es um Entscheidungsverfahren innerhalb eines städtischen Planungsprozesses. Dabei kommen alternative Entscheidungsverfahren zum Einsatz, die von mir in Zusammenarbeit mit fünf Künstler_innen18 und den beteiligten Kindern entwickelt, gebaut und getestet wurden. Entscheiden kann man in dieser Versammlung erstens, indem man sich mit einem goldenen Bürostuhl auf Bodenfeldern positioniert. Die Felder werden durch Leuchtschrift markiert. Man kann mithilfe der Bürostühle auf ›Ja‹, ›Nein‹ oder ›Vielleicht‹ rollen.19 Mit seinem Körper positionieren kann man sich – zweitens – auf der Entscheidungsebene. Diese Ebene ist eine kreisrunde Holzplatte mit zwei Metern Durchmesser, die auf einer Luftkissenkonstruktion aufsitzt und dadurch wie eine Wippe funktioniert. Die Ebene ist in drei Felder unterteilt, die mit ›Ja‹, ›Nein‹ und ›Vielleicht‹ beschriftet sind. Eine weitere Möglichkeit ist das Abstimmen durch Gesten. Dieses Entscheidungsverfahren wurde von den Kinder vorgeschlagen: Jemand gibt dabei spontan eine Bewegung für ›Ja‹, eine Bewegung für ›Nein‹ und eine für ›Vielleicht‹ vor, die von allen anderen übernommen werden. Die vierte Möglichkeit – für Stimmungsbilder und auch für Abstimmungen – stellen 40 Neonröhren dar, die senkrecht hinter den im Kreis angeordneten Plenumsstühlen angebracht sind. Jede zweite Person, die im Plenum sitzt, kann diese Leuchtstoffröhren mit einem Schalter anschalten (›Ja‹), ausschalten (›Nein‹) oder dimmen (›Vielleicht‹). In einer fünften Variation können die Delegierten mit Laserpointern auf das projizierte Logo der Veranstaltung

17 Die steg ist eine Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft in Hamburg. Sie ist von der Stadt Hamburg mit der Sanierung des Gängeviertels beauftragt worden. Das Verhältnis zwischen Gängeviertel und steg ist äußerst angespannt und schwierig. 18 Dies sind Christine Ebeling, Marc Einsiedel, Felix Jung, Daniel Caleb Thompson und Till Wolfer (alle aktiv im Gängeviertel). 19 Dies ist ein Abstimmungsverfahren, dass bei der kollektiven Performancegruppe geheimagentur entwickelt und erprobt wurde, z.B beim Casino of Tricks (2007).

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zeigen, welches die drei Wahlmöglichkeiten zeigt, und auf diesem Wege ihr Votum platzieren. Nicht nur die Abstimmungsmomente werden bei der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT künstlerisch gestaltet, sondern die gesamte Situation, in der diese Momente stattfinden: die Raumanordnung, die Informations- und Vorstellungsmomente, das Protokoll und vieles mehr. Indem man einen Prozess, der normalerweise in Planungsbüros stattfindet, im Theater zur Aufführung bringt, verändert man dessen Kontext und ermöglicht eine andere Perspektive auf den Prozess. Das Theater ist aufgrund seiner räumlichen Beschaffenheit ein gut geeigneter Versammlungsort. (Vgl. Peters 2012: 156) Zudem bestehen im Theater andere Gestaltungselemente und Rezeptionsgewohnheiten, als bei formalen Abstimmungsverfahren in Versammlungen. Abstimmungsverfahren müssen deutlich, fälschungssicher, zum Teil anonym und einfach durchführbar sein. Im Gegensatz hierzu herrschen im Theater andere Bedingungen. Die Gestaltung des Raums, das Bühnenbild, die Anordnung der Sitze und Rednerplätze, der Gebrauch von Requisiten sowie der Faktor Zeit haben per se eine wichtige Bedeutung. Gegenstände, die ansonsten selbstverständlich sind – wie Rednerpulte oder Whiteboards – können im Theaterraum in Szene gesetzt werden. Die Performanceperspektive kann neue Erkenntnisse über den Entscheidungsvorgang als solchen liefern, gerade weil innerhalb dieser Perspektive andere Kriterien bestehen. Wenn man die Objekte und die Bewegungen in Entscheidungsverfahren untersuchen will, erleichtert es, die Verortung im Theater, Entscheidungsvorgänge als szenische Anordnung zu verstehen und zu gestalten. Der Bühnenraum ist eine Lupe, unter der man Entscheidungsverfahren betrachten, erproben und erörtern kann. Einzelne Aspekte dieses Versuches sollen im Folgenden beschrieben werden.

R AUM

UND

P UBLIKUMSBEZUG

Räume strukturieren Möglichkeiten. Sie bestimmen, wie man sich bewegen kann, welche Optionen der Wahrnehmung bestehen und wie das Verhältnis zwischen Akteur_innen und Publikum angelegt ist. (Vgl. Fischer-Lichte 2004: 188) Aufmerksamkeitsstrukturen, der Einsatz und die Notwendigkeit von Objekten (Requisiten), die Anordnung des Bühnen- und Zuschauer_innenraums sowie der Umgang mit der Umgebung sind wichtige und viel diskutierte Aspekte innerhalb der Theaterwissenschaften. Konstitutiv für die Raumanordnung und das Verhältnis zwischen Akteur_innen und Zuschauenden ist die Verortung des Publikums. Dies gilt für Performanceaufführungen wie für Entscheidungsversammlungen gleichermaßen.

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Bei der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT im März 2013 gab es keine Aufteilung in Bühne und Zuschauer_innenraum. Stattdessen war fast der gesamte Theaterraum mit einem ovalen roten Teppich ausgelegt, um den die Zuschauer_innen auf Stühlen und Kissen Platz nehmen konnten.20 An den beiden Stirnseiten des Ovals wurden auf der einen Seite die Entscheidungsebene und fünf goldene Bürostühle und auf der anderen Seite ein Baugerüst platziert, an welchem die Projektionsfläche aus Nesselstoff befestigt und auf dem der Protokollplatz samt Livekameraaufbau errichtet worden war. Demnach war das Bühnensetting eine Mischung aus Elementen, wie man sie aus dem Plenum und dem Theater kennt. Die Anordnung der Stühle, das Redepult und die Projektionsfläche stellten Elemente eines Versammlungsraums dar – der rote Teppich, die goldenen Stühle, die Scheinwerfer und Leuchtstoffröhren wiederum verwiesen auf den theatralen Zusammenhang. Zudem wurden die technischen Möglichkeiten des Theaters wie z.B. Licht, Videoprojektionen und Sound verwendet. Beim Einlass wurde versucht, eine Plenumssituation zu etablieren, indem ein sehr langer und langsamer Einlass realisiert wurde. Es gab keine Eintrittskartenkontrolle und eine Tonspur war zu hören, die den Sound vor und zu Beginn eines Plenums im Gängeviertel wiedergab. Doch sobald die Versammlung begann, wurde allen deutlich, dass man sich in einem Theaterkontext befand, in welchem gewisse Theaterverabredungen eingehalten werden, wie z.B. ruhig zu bleiben und zuzuhören. Ganz anders als in dem Plenarraum im Gängeviertel, der eingangs beschrieben wurde, herrschte in diesem Versammlungsraum eine konzentrierte Stimmung. Wie eingangs erwähnt ist das Verhältnis zwischen Akteur_innen und Zuschauenden ein sehr wichtiger Aspekt bei der Analyse von Performances. Denkt man an Entscheidungsversammlungen, könnte man zunächst annehmen, dass es in diesen eine solche Aufteilung nicht gibt. Wer jedoch an einer Sanierungsbeiratsversammlung, einer Bauausschusssitzung oder an einem runden Tisch zu stadtentwicklungspolitischen Aspekten teilgenommen hat, weiß, dass es auch in diesen Zusammenhängen Aktive und Zuschauende gibt. Und ähnlich wie in der Performanceszene gibt es Versammlungen, in welchen die Interaktion, das Einbeziehen aller Anwesenden funktioniert – und solche, in denen das nicht der Fall ist. Dass es Versammlungen gibt, die behaupten, sie würden Partizipation ermöglichen, und die sich dann als ›scheinpartizipativ‹ herausstellen, gehört zu

20 Diese Raumsituation hatte das Forschungstheater bei dem Projekt Kinderbank zum ersten Mal ausprobiert und festgestellt, dass diese recht klassische Versammlungsformation sehr geeignet ist, um eine Versammlung der Aktionärinnen und Aktionäre der Kinderbank abzuhalten und eine interaktive Präsentation durchzuführen.

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den Erfahrungen vieler Hamburger Recht-auf-Stadt-Aktivist_innen bei Zusammenkünften mit Akteurinnen und Akteuren der Stadt.21 Ebenso gibt es Performances, in denen Partizipation behauptet wird, jedoch keine wirkliche Teilhabe stattfindet. (Vgl. Miessen 2010: 14f.) Bei der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT gab es im engeren Sinne keine Zuschauer_innen und Aktive, sondern Sanierungsbeteiligte, Delegierte und Besucher_innen. Die Sanierungsbeteiligten waren über den Gegenstand der Versammlung, eine für Kinder attraktive Freiflächengestaltung, informiert. Die Gruppen, aus welchen im Vorfelde entscheidungsbefugte Delegierte bestimmt worden waren, umfassten die Klasse 3c22, Aktivist_innen aus dem Gängeviertel sowie Fachleute aus Architektur und Stadtplanung der steg und des Architekturbüros PLAN R. Das Delegiertenprinzip wurde gewählt, da sich die Entscheidungen auf ein reales Bauvorhaben bezogen, in welchem die unterschiedlichen Interessen der Anwohnenden, der Nutzer_innen (der Kinder), der Architektinnen und Architekten sowie der Investierenden berücksichtigt werden mussten. Die zu treffenden Entscheidungen unterlagen zahlreichen Bedingungen, die auch im Entscheidungsverfahren repräsentiert werden sollten. Die Versammlungsbesucher_innen waren Eltern, Kolleginnen und Kollegen, Interessierte, Architekt_innen, Wissenschaftler_innen und Freund_innen. Die Besuchenden und die Sanierungsbeteiligten saßen alle gemeinsam im Plenumskreis und waren demnach nicht voneinander zu unterscheiden. Die Delegierten hingegen waren auf den goldenen Bürostühlen deutlich als entscheidende Akteurinnen und Akteure markiert. Das Plenum an sich konnte nicht an den Entscheidungsprozessen teilhaben, diese jedoch durch Kommentare und Stimmungsbilder beeinflussen. Auch im Falle einer Pattsituation unter den Delegierten wurde das Plenum befragt. Um Meinungsbilder zu erstellen, konnte man sich auf den Bodenfeldern platzieren oder die Leuchtstoffröhren bedienen. Meinungsbilder sind wichtige Elemente innerhalb eines Entscheidungsprozesses. Bei der Konzeption der Entscheidungsformen erschien es daher notwendig, eine ästhetisch wirksame Form hierfür zu finden. Das Licht der Leuchtstoffröhren hatte eine ästhetische Wirkung auf den Gesamtraum und erschien deshalb als geeignetes Mittel. Die Bodenfelder wurden zum einen für Stimmungsbilder des Plenums verwendet, zum

21 Die Frage der Teilhabe und Partizipation, welche in meinem Forschungsprojekt auch eine wichtige Rolle spielt, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Geplant ist, diesen Aspekt in einer folgenden Publikation zu behandeln. 22 Durch das Projekt JA NEIN VIELLEICHT beteiligten sich die Kinder an der Sanierungsplanung. Zudem repräsentierten sie die Nutzerinnen und Nutzer.

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anderen von den Delegierten benutzt, um über die Vorschläge der Kinder abzustimmen. Während die Delegierten mit ihren goldenen Bürostühlen auf die jeweiligen Felder rollen mussten, konnten die anderen Mitglieder des Plenums ›zu Fuß‹ abstimmen. Beide Gruppen positionierten ihre Körper und Meinungen im Raum. Sie betraten mit ihren Entscheidungen eine Bühne. Und während im Moment des Handhebens kaum merkbar ist, ob sich andere gleichzeitig meldeten oder ob man die einzige Person war, die für oder gegen eine Option stimmte, war beim Bewegen zwischen den Bodenfeldern deutlich spürbar, wie die anderen votierten.

Z EIT »Zwar läßt sich Zeitlichkeit nicht – wie Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit – unter die Materialität der Aufführung subsumieren. Sie stellt jedoch die Bedingung der Möglichkeit für deren Erscheinen im Raum dar«. (Fischer-Lichte 2004: 227)

Zeit und Rhythmus strukturieren das Geschehen und die Dramaturgie einer Aufführung maßgeblich mit. (Vgl. ebd.: 233) Auch bei der Sitzung eines Plenums spielt die Zeit eine entscheidende Rolle – »[j]edenfalls limitiert mehr und mehr die Zeit das, was noch möglich ist. Die Zeit wird knapp« (Luhmann 1978: 24). Lange Debatten und nicht enden wollende Plenen lassen die kollektive Entscheidungsfindung oft zur Qual werden. Zeit strukturiert und beeinflusst zudem die Entscheidungsabläufe, weg vom »Sachlich-Richtigen« (ebd.: 57). Bei der inszenierten Entscheidungsversammlung JA NEIN VIELLEICHT wurde eine sehr konzentrierte Form einer kollektiven Entscheidung konstruiert. Viele inhaltliche Diskussionen wurden vor der Sitzung im Forschungstheater geführt. In der Sitzung selbst fanden, abgesehen von kurzen inhaltlichen Inputs und kleineren Diskussionen, hauptsächlich kollektive Abstimmungsprozesse statt. Die Versammlung im Forschungstheater tagte nur etwas länger als eine Stunde, während ein reguläres Plenum im Gängeviertel zwei bis vier Stunden gehen kann. Wenn man eine Versammlung plant, an der 20 Neunjährige maßgeblich mitwirken, ist die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder ein entscheidendes Kriterium. Der Kunstkontext ermöglichte zudem eine Zeitveränderung, welche in real stattfindenden Versammlungen meist nicht möglich ist: Während die Zeit für Diskussionen und Informationen extrem verkürzt wurde, wurde der Moment des Entscheidens vergrößert und verlängert. Die zeitliche Verschiebung ermöglichte es, den Entscheidungsakt als solchen, den ›blinden Fleck‹, unter die Lupe zu nehmen.

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Die Dramaturgie der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT orientierte sich an dem üblichen Verlauf eines Plenums im Gängeviertel. Die Sammlung von Tagesordnungspunkten, Neuvorstellungen, Blitzlichtrunde23 und viele weitere Aspekt bilden eine immer wiederkehrende Struktur. Innerhalb dieser bestehenden dramaturgischen Grundrisse wurde versucht, durch Verkürzung und durch szenische bzw. ästhetische Erlebnisse eine Dramaturgie zu entwerfen, die Besucherinnen und Besucher wie Beteiligte über eine Stunde hinweg interessiert und motiviert. Man fragt sich in den szenischen Künsten häufig, wie lange eine Situation, eine Handlung, ein Monolog, ein Dialog oder ein Videobeitrag ›trägt‹, d.h. u.a., wie lange das Gebotene interessiert oder wirkt. Es wird diskutiert, wie dramaturgische Zeitabläufe zu entwickeln sind, die das Publikum einnehmen und interessieren. Bei der klassischen Regiearbeit im Theater besteht ein Zugang darin, das dramatische Potenzial – die Interessenkonflikte und Spannungen eines Texts – ausfindig zu machen, um dieses dann geschickt zu inszenieren. Bei Versammlungen, in welchen relevante Entscheidungen getroffen werden, ist eine Lage mit konfligierenden Interessen häufig gegeben. Wer kann welche Interessen durchsetzen, ist eine der entscheidenden Fragen. Bei diesem Vergleich ist der Widerspruch augenfällig, dass Entscheidungsversammlungen eigentlich sehr spannend und unterhaltsam sein müssten, dies in der Realität jedoch meist nicht der Fall ist. Unter diesem dramaturgischen Gesichtspunkt betrachtet hat die Abstimmung per Laserpointer besonders gut funktioniert. Diese Form stellte die letzte der vier Abstimmungsvarianten dar und sollte demnach auch eine Art Höhepunkt sein. Sie kam einer geheimen Abstimmung recht nahe, denn aufgrund des Abstands zwischen den goldenen Bürostühlen und der Projektionsfläche war es für die Delegierten zum einen nicht so leicht, das richtige Kästchen zu treffen, zum anderen wussten die Betrachtenden im Plenum nicht, welche_r Delegierte welchen Laserpunkt geworfen hatte. Der Entscheidungsmoment wurde – wie immer an diesem Abend – von Musik begleitet. Als diese ausklang, musste die Entscheidung getroffen sein. Einer der Delegierten begann, die Spannung zu steigern, indem er mit seinem Laserpointer lange Zeit um die Kästchen herum steuerte und erst in allerletzter Sekunde sein Votum abgab. Erwachsene und Kinder waren mitgerissen und verfolgten die Abstimmung mit größter Spannung und Aufmerksamkeit. Es wurde angefeuert und lautstark kommentiert.

23 In der Blitzlichtrunde besteht für alle Beteiligten die Möglichkeit, in einem kurzen Satz das aktuelle Befinden zu formulieren, ohne dass dies kommentiert werden darf.

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F AZIT Bei der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT wurden übliche Abstimmungsrituale neu inszeniert. Es wurde eine Versammlung kreiert, bei der die Faktoren Zeit und Raum und der Umgang mit Dingen anders gestaltet wurden, als dies üblicherweise der Fall ist. Dadurch wurde ein experimentelles Setting geschaffen, in welchem man erleben konnte, wie alternative Abstimmungsverfahren eine lustvolle Form des Versammelns und der Beteiligung ermöglichen. Betrachtet man die experimentelle Anordnung bei der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT genauer, wird deutlich, dass hier letztlich eigentlich nur ein Abstimmungsverfahren ausprobiert und variiert wurde. Bei der halb inszenierten Versammlung im Forschungstheater gab es die Möglichkeit, sich zwischen bestehenden Vorschlägen zu entscheiden, in dem man für ›Ja‹, ›Nein‹ oder ›Vielleicht‹ stimmte. Es gab nur offene Abstimmungen und das Ergebnis der jeweiligen Entscheidung wurde durch die Mehrheitsregelung ermittelt.24 Die Juristin Carmen Thiele hat Entscheidungsverfahren und ihre rechtlichen Implikationen untersucht und festgestellt, dass Abstimmungsarten allgemein nach Offenkundigkeit und Form unterschieden werden. Im Hinblick auf ihre Offenkundigkeit lassen sich Abstimmungen in offene und geheime, im Hinblick auf ihre Form in mündliche, schriftliche sowie zeichennutzende Abstimmungen unterscheiden. (Vgl. Thiele 2008: 478) Bei der Versammlung JA NEIN VIELLEICHT wurde die Formebene der Abstimmung variiert, während der Aspekt der Offenkundigkeit vernachlässigt wurde. Es wurden weder schriftliche (z.B. Stimmkarten) noch verbale Verfahren (Abstimmung per Zuruf, namentliche Abstimmung) verwendet, stattdessen wurde die Kategorie der Zeichen um viele Bewegungs- und Gestenelemente erweitert. Statt den üblichen Zeichen wie ›Hand heben oder nicht heben‹, ›Sitzenbleiben versus Aufstehen‹ wurden ungewöhnlichere Varianten ausprobiert. Diese alternativen Gesten und Bewegungen entstanden durch die Verwendung von unterschiedlichen Materialen, Medien und Dingen. Für das weitere Vorgehen scheint es sinnvoll, auch mit dem Aspekt der Offenkundigkeit zu experimentieren und Versuche mit geheimen, digitalen und elektronischen Abstimmungsverfahren zu unternehmen.

24 Das Verfahren, das hier gewählt wurde, war auf die Notwendigkeiten des real zugrunde liegenden stadtplanerischen Entscheidungsvorhabens abgestimmt. Es stellt eines der am meisten verwendeten Entscheidungsverfahren dar. (Vgl. Thiele 2008: 267)

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Hierbei wäre es theoretisch und praktisch interessant, die Parallele zur Diskussion um körperliche Kopräsenz zu ziehen, wie sie in der Theatertheorie geführt wird. Die gemeinsame Anwesenheit von Akteur_innen und Publikum sowie das gemeinsame Verbringen von Zeit wird von prominenten Vertreterinnen und Vertretern der Theaterwissenschaften wie Erika Fischer-Lichte als konstitutive Voraussetzung von Theater betrachtet. (Fischer-Lichte 2004: 47) Zu fragen bliebe, ob die Kopräsenz, wie sie im Theater häufig vorausgesetzt und postuliert wird, auch eine notwendige Bedingung für kollektive Entscheidungsversammlungen ist oder ob man viel effektiver und motivierender digital abstimmen könnte, wie dies im Konzept der liquid democracy angedacht ist? Wie wichtig ist die Kopräsenz bei Versammlungen und kollektiven Entscheidungen für unser demokratisches System? Gerade im Hinblick darauf, wie zukünftig entschieden werden könnte, ist es wichtig, die Kombination von verschiedenen analogen und digitalen Entscheidungsverfahren zu reflektieren und mit ihnen zu experimentieren. Dabei geht es natürlich auch um die Frage, wer über was entscheidet und wo Entscheidungen überhaupt nötig sind. Die Autorinnen und Autoren des HierarchNIE!-Readers meinen, es sei wichtig, immer genau zu prüfen, ob eine Abstimmung durch alle überhaupt notwendig sei oder ob ein prinzipiell anderes Organisationsprinzip her müsse. (Projektgruppe HierarchNIE 2003: 48) Eine weitere Fortentwicklung des Experiments könnte darin bestehen, die Optionen (›Ja‹, ›Nein‹ und ›Vielleicht‹), zwischen denen man entscheiden kann, zu verändern, um andere Differenzierungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Üblich ist die Wahlmöglichkeit zwischen ›Ja‹, ›Nein‹ und ›Enthaltung‹. Diese sehr klaren Optionen werden pragmatisch gewählt, um gültige Entscheidungen zu fällen. Bei der Versammlung im Forschungstheater zeigte sich, dass die Übersetzung der Enthaltung in das Wort ›Vielleicht‹ einen Graubereich produzierte. Wie das ›Vielleicht‹ bewertet wurde, war in den Abstimmungen nicht immer ganz klar. Dies ergab interessante Diskussionen und szenische Momente. Das Unklare und Unsichere ist eigentlich nicht Teil von Entscheidungsverfahren, da diese das Ziel verfolgen, bindende und eindeutige Beschlüsse hervorzubringen. Und doch scheint es künstlerisch interessant, das Zögerliche und Unsichere als immanenten Teil eines Verfahrens zu betrachten und zu untersuchen.

G EMEINSAMES E NTSCHEIDEN

MIT

K INDERN

Wenn man einen kollektiven Entscheidungsprozess gestaltet, an welchem auch Kinder beteiligt sind, ist es besonders wichtig, dass das Entscheiden selbst – also die Handlung des Entscheidens – Spaß macht, interessant und motivierend gestaltet ist.

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Kinder nehmen selten an stadtentwicklungsrelevanten Entscheidungsvorgängen teil – obwohl diese sie häufig unmittelbar betreffen. Will man Kinder ermächtigen und an wichtigen gesellschaftlichen Fragen beteiligen, sollte man auch entsprechende Beteiligungsverfahren entwickeln. Doch nicht nur Kindern sollte eine Beteiligung durch alternative Verfahren ermöglicht werden, sondern auch ›politikverdrossenen‹ Erwachsenen. Im Zuge der Entwicklung der einzelnen Abstimmungsverfahren konnte ich diese neuen Ansätze immer wieder gemeinsam mit den Kindern testen und erproben. Und wenn diese Verfahren für die Kinder sinnvoll erschienen und ihnen Freude bereiteten, konnte ich davon ausgehen, dass dieses Format meist auch reizvoll für versammlungsmüde Erwachse sein würde. Die Zusammenarbeit mit den Kindern war entsprechend produktiv und wichtig für das Forschungsexperiment. Von der Ergebnisperspektive aus betrachtet war die Sitzung insofern erfolgreich, da am Ende Abstimmungsergebnisse zu Aspekten vorlagen, die in der bevorstehenden Sanierung des Gängeviertels umgesetzt werden sollen. Diese Ergebnisse wurden durch eine gleichberechtigte Beteiligung von Kindern, Architekt_innen, Fachleuten aus der Stadtplanung und Aktivist_innen erzielt. Die Stimmung während der Versammlung, die Reaktion der Beteiligten und der Besucher_innen sowie das am nächsten Tag abgehaltene Nachgespräch25 haben gezeigt, dass die Versammlung als interessant, unterhaltsam und inspirierend empfunden wurde. Dabei wurden die einzelnen Abstimmungsverfahren unterschiedlich bewertet. Während das Abstimmen mit Bodenfeldern und Laserpointern als sehr dynamisch erlebt wurde, zeigte sich, dass die Entscheidungsebene wie auch das Abstimmen per Licht weiterentwickelt werden müssen. Die Kinder waren begeistert von der Entscheidungsebene, die wie eine runde Wippe funktionierte. Die Entscheidungsebene war jedoch nicht ideal für die Darstellung der Entscheidungsergebnisse, da man von der Seite nicht sehen konnte, wer sich auf welchem Votum positionierte. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn gezeigt hat sich zugleich, dass das Beobachten des Entscheidungsprozesses für alle sehr interessant war, wobei es nicht nur um die Darstellung des Ergebnisses ging, sondern auch um die Möglichkeit, den Beteiligten beim Zögern oder Entscheiden zuzuschauen.

25 Für jedes Promotionsprojekt fand am auf die Präsentation folgenden Tag ein Tischgespräch statt, in welchem interessierte Künstler_innen, Wissenschaftler_innen und Professor_innen das Projekt diskutierten.

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Durch das gemeinsame Agieren, die gemeinsame Bewegung im Raum, die Bedienung der Leuchtstoffröhren etc. war die Anteilnahme, die Involviertheit und die Beteiligung des Plenums sehr hoch. Indem das Entscheiden als gemeinsame Handlung inszeniert wurde, entstand eine Situation, die zum Mitmachen motivierte. Anhand dieses einmaligen Experiments kann nicht gezeigt werden, ob sich die Abstimmungspraktiken auch über die Zeit bewähren würden. Wenn jede Woche per Laserpointer und über Bodenfelder abgestimmt würde, bestünde die Gefahr, dass auch diese Verfahren ihren spielerischen Reiz verlieren und als nervig oder langweilig empfunden würden. Während der Entwicklung der diversen Abstimmungsvorgänge und Objekte hat sich herausgestellt, dass es nicht leicht ist, neue Entscheidungsverfahren zu entwickeln, die nicht nur ihrem Sinn nach ähnlich zu den gängigen Verfahren funktionieren. Gesucht wurde nach Verfahren, Bewegungen und Zeichen, die im Vergleich zum einfachen Handheben einen Vorteil mit sich bringen. Die Kinder hatten vorgeschlagen, dass man anhand von Gesten bzw. Bewegungen abstimmen sollte, bspw. mit Sich-auf-den-Boden-Legen für ›Ja‹. Den Delegierten beim Ausführen der unterschiedlichen Bewegungen zuzusehen, war szenisch sehr interessant. Doch eigentlich wurden einfach nur Gesten ausgetauscht: Statt wie üblich die Hand zu heben, legte man sich auf den Boden. Im Gegensatz zu diesem Verfahren hatten die anderen Entscheidungsvorgänge noch einen anderen Effekt. Die Entscheidungsebene z.B. war nicht nur reizvoll, weil sie Spaß machte, sondern auch, weil sich hier das Gewicht der einzelnen Stimmen zeigte. Obwohl alle formal das gleiche Stimmgewicht hatten, nämlich jeder eine Stimme, konnte ein Kind alleine nicht bewirken, dass die Wippe sich auf die von ihm gewählte Seite (Ja, Nein oder Vielleicht) neigte, weil ein Kind nicht genug Körpergewicht hat. Die Mehrheit wurde körperlich sichtbar. Zudem waren alle Delegierten auf der Entscheidungsebene aufeinander angewiesen. Wenn eine oder einer von ihnen ruckartig die (Entscheidungs-)Ebene verlassen hätte, wären die anderen stark ins Schwanken gebracht worden. Das Reflektieren und Experimentieren mit neuen Entscheidungsformaten könnte zu einer größeren Auswahl an Verfahren führen. Dabei geht es nicht darum, funktionierende Abstimmungsverfahren zu ersetzen. Stattdessen sollte es eine größere Varianz an Verfahren geben, sodass immer das Verfahren gewählt werden kann, welches für den Gegenstand, über den entschieden wird, angemessen erscheint. Die Verfahren sollten dabei – ein wichtiger Punkt – dahingehend gestaltet und modifiziert werden, dass sie zur Teilhabe motivieren. Carmen Thiele betont die Bedeutung von Entscheidungsverfahren, obwohl diese langweilig seien: »Regeln und Verfahren zur Entscheidungsfindung er-

K OLLEKTIVE E NTSCHEIDUNGEN UND IHRE PERFORMATIVE D IMENSION

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scheinen zunächst wenig dramatisch, wegen ihres tatsächlichen Einflusses auf Entscheidungen leugnet jedoch kein Jurist ihre Bedeutung« (Thiele 2006: 605). Die Forschung über alternative Entscheidungsformate und das Projekt JA NEIN VIELLEICHT haben gezeigt: Entscheidungsverfahren müssen nicht unbedingt langweilig sein und können dramatisches Potenzial entfalten. Deshalb sollte die Gestaltung von Entscheidungsverfahren größere Bedeutung erhalten.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

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Wer versammelt wen? Die Forschungsversammlung als ethnografisches Experiment

I NGA R EIMERS

E INFÜHRUNG : D IE S INNE

VERSAMMELN

Es ist eine Situation, die jede und jeder schon einmal erlebt hat: Wir betreten einen Raum, in dem sich bereits einige Personen versammelt haben, und bekommen sofort einen wenn auch diffusen Eindruck von der Stimmung der Situation, positiv oder negativ. Wir sind in diesem Moment in eine Atmosphäre hineingeraten. Dabei ist diese weder uns noch den anderen Anwesenden oder dem Raum eindeutig zuzuschreiben, sie befindet sich dazwischen. Über die Faktoren, die Atmosphären entstehen lassen, ist in den letzten Jahren viel geschrieben und diskutiert worden.1 Da Forschung über Atmosphären immer auf das sie wahrnehmende Subjekt angewiesen ist, wird meist die Rolle der Sinne und des sinnlichen Wissens hervorgehoben. Insbesondere dort, wo Atmosphären gezielt erzeugt werden, z.B. um Menschen zu Kaufentscheidungen anzuregen, wird häufig mit auditiven oder olfaktorischen Reizen gearbeitet. In der kulturwissenschaftlichen Forschung bleibt die Beschreibung dieses Zusammenhangs zwischen subjektiver Wahrnehmung, intersubjektivem Erleben und dem Raum jedoch vage. In meiner Forschung geht es deshalb um die Frage, wie ein solches ›atmosphärisches Dazwischen‹ sinnlich erzeugt wird und welche Dynamiken dadurch in Versammlungssituationen entstehen. Wie können hierbei die nicht sichtbaren, leisen, an körperliche Wahrnehmung geknüpften Verbindungen greifbar gemacht werden? (Vgl. Guggenheim 2011) Die Anwesenheit mehrerer Personen

1

Zum Begriff der Atmosphäre vgl. u.a. Böhme 1995; Katschnig-Fasch 2011; Heibach 2012.

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ist hierbei existenziell, weshalb der Aspekt der Versammlung in den Vordergrund tritt. Dabei können bspw. ein Workshop oder ein Abendessen solche Situationen sein, in denen sich verschiedene (in der Regel mehr als zwei) Personen für eine bestimmte Zeit aus einem bestimmten Grund versammeln. Die im Folgenden beschriebenen Versammlungen sind immer temporär. Zudem hat jede Versammlung einen Ort, der entweder vorher festgelegt ist und dabei mit bestimmten Anforderungen verbunden sein kann (Licht, Möblierung etc.) oder sich erst durch die Versammlung und die körperliche Präsenz der Teilnehmenden konstituiert. Der Versammlungsraum mit den dort enthaltenen und eingebrachten Dingen bestimmt das Wissen, das in einer Versammlung angeregt, produziert und zirkuliert wird. Bei Versammlungsorten, die erst durch die Versammlungen selbst konstituiert werden, spielen die anwesenden Körper für die Raumanordnung die zentrale Rolle.2 Meine These ist, dass Forschung zur Rolle der Sinne in Versammlungen einen multisensorischen Ansatz benötigt. (Vgl. Diaconu 2012) Was sind also die Praxisformen in den Forschungsversammlungen, in denen sich sinnliches Wissen äußert, und welche Wechselwirkungen gibt es dabei zwischen den einzelnen Sinnen? Erzeugt z.B. der Vortrag einer blinden Person andere Formen von Aufmerksamkeit oder auch Körperhaltungen bei den Zuhörenden als der einer sehenden Person? Sinnliche Wahrnehmung spielt dabei in doppelter Hinsicht eine Rolle: sowohl beim Erfassen der Situation durch die Beteiligten als auch durch den sinnlichen Output, den ein starrender Blick, eine zufällige Berührung oder hörbare Essgeräusche der Sitznachbar_innen hervorbringen. Es bedarf also beim Umgang mit diesem sinnlichen Wissen einer Methodologie, die das vielfach implizite und verkörperte Wissen greif- und subjektivierbar macht. Hierbei können u.a. experimentelle Verfahren, die durch die Veränderung z.B. von Raumparametern implizite Wahrnehmungen im gemeinsamen Handeln explizit machen, hilfreich sein. Sie schaffen Möglichkeitsräume, in denen sich Wissen ereignen kann. (Vgl. Ziemer/Reimers 2013; Rheinberger 1992) In einer Methodologie, die mit sinnlichem Wissen umgeht, spielt die Verbalisierung von Sinneswahrnehmungen eine zentrale Rolle. Insbesondere im Dialog zwischen Wissenschaftler_innen und Nichtwissenschaftler_innen stellt allein das

2

Diese Definition der Versammlung ist nicht abschließend, sondern basiert auf den Diskussionen im Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe sowie auf dem Artikel Versammeln im A-Z der transdisziplinären Forschung, in dem erste Überlegungen zu einer Bestimmung des Versammelns als Forschungsverfahren festgehalten wurden. (Vgl. A-Z der transdisziplinären Forschung 2014: Versammeln)

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Finden einer gemeinsamen, für alle verständlichen Sprache über sinnliche Wahrnehmung eine große Herausforderung dar. Konzepte, die übergreifend Begriffe und Beschreibungen vorgeben, z.B. Erfahrungsnähe und -ferne bei Geertz (Geertz 1983), stoßen hierbei an Grenzen, wie Susanne B. Schmitt in ihrer sensorischen Ethnografie des Deutschen Hygiene Museums in Dresden beschreibt. Schmitt fokussiert stattdessen die lokalen, situativen und situierten Bedingungen, die wiederum an die Wahrnehmung der einzelnen Akteurinnen und Akteure im Feld gebunden sind und dann im Moment der gemeinsamen Forschung Bezeichnungen und Begriffe hervorbringen. Für Schmitt ist es »eine Frage der Positionierung der Akteure um diesen Begriff, die Art und Weise wie sie ihn entstehen lassen und sich aneignen, weil er bestimmte Erfahrungen zu deuten hilft und verstehbar macht.« (Schmitt 2012: 42) Zwar stellt auch sie fest, dass die Versprachlichung leiblich-sinnlicher Erfahrung in der Forschung notwendig ist, um Zugang zur Lebens- und Erfahrungswelt der Akteurinnen und Akteure zu bekommen. Um Rückschlüsse aus den ›sinnlichen Daten‹ ziehen zu können, ist aber darüber hinaus die Einbettung dieser in einen raum-zeitliche Rahmen notwendig. Erst so kann beschrieben werden, wie das Zusammenspiel aus gebauter Umwelt, situativen Elementen und subjektiver Wahrnehmung einen Raum oder eben auch eine Versammlung konstituieren kann. (Vgl. ebd.: 40) Eine Forschung zu sinnlicher Wahrnehmung und sinnlichem Wissen macht also den Austausch unter den Beteiligten und die Teilhabe dieser an der Forschung zu einer Bedingung für das Gelingen der Forschung(-sversammlung). Diese Fokussierung aller beteiligten (menschlichen und nicht menschlichen) Akteur_innen geht mit dem Hinterfragen des Forschungsbegriffs einher und wirft dabei die Frage auf, wer und was an Versammlungen in der Forschung teilhat bzw. teilhaben kann und welche Rollen hierbei den Forschenden, den an der Forschung Beteiligten und auch den Dingen und dem Raum zukommen. Diese Aspekte werden in meiner ethnografisch-kulturwissenschaftlichen Arbeit anhand von Feldforschung in der Praxis erkundet und erprobt. Ziel ist es dabei, weniger epistemologische als vielmehr methodologische Probleme und Lösungen für weitere ethnografische und auch künstlerische Forschungen aufzuzeigen. Ethnografische Forschung als konsequent kollektiven Prozess anzusehen, konterkariert das vielfach verwendete Vokabular für das Gegenüber in Feldforschungen und Texten. Hier werden häufig Bezeichnungen wie ›Beforschte‹, ›Informant_innen‹ oder ›(Alltags-)Expert_innen‹ verwendet. Diese implizieren eine scharfe Trennung zwischen den Forschenden und ihrem Feld und somit auch eine Zuschreibung, wem die Autorinnen- und Autorenschaft ethnografischen Wissens zugeordnet wird. Deshalb wir in diesem Text für die an der Forschung Beteiligten der Begriff ›Akteure‹ in Anlehnung an Bruno Latour gewählt, wel-

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cher sowohl Forschende als auch Beforschte bezeichnet. Letztlich lässt sich diese Trennung in der Forschungspraxis und im Sprechen über Forschungssituationen nie vollkommen auflösen. Die Frage nach der Grenze zwischen Forscher_innen und Beforschten kann im Hinblick auf die Frage, wie Raum und Hierarchien in einer Versammlung durch das gemeinsame Handeln erzeugt werden, eine Rolle spielen. Mir geht es aber vielmehr um die Ausweitung dieser Begrenzung zu einer fließenden Grenze und somit um das Dazwischen. Im Folgenden sollen nun zuerst die Bedingungen und Möglichkeiten ethnografischer Forschung für ein solches Vorhaben skizziert werden: Inwiefern ist (ethnografische) Forschung eine Form der Versammlung und was verändert diese Sichtweise am Beziehungsgeflecht der forschenden/teilnehmenden Personen? Welchen Gewinn kann eine solche Betrachtung von Forschung als Versammlung bringen? Welchen Voraussetzungen unterliegt eine solche Forschungsversammlung und wer nimmt mit welchen Intentionen an diesen Versammlungen teil? Das Feld meiner Forschung, in welchem ich diese Fragen in der Praxis erprobe und zu beantworten versuche, ist das des ethnografischen Experiments. Ein kurzer Exkurs zum Experiment in der Wissenschaft und den Künsten soll die Bedingungen für das experimentelle Arbeiten als ethnografisches Verfahren klären. Anhand zweier Beispiele wird schließlich ein Ausblick für die Praxis gegeben. Neben einem ethnografischen Experiment, das sowohl methodische Fragen als auch den Aspekt einer kollektiven sinnlichen Erfahrung thematisiert, soll hier ein von mir veranstaltetes Forschungsdinner vorgestellt werden. Das Forschungsdinner nutzt die Situation und Choreografie eines gemeinsamen Abendessens für kollektive Wissensproduktion und schließt hierbei an bestehende Formate in Kunst, Wissenschaft und Stadtentwicklung an.3 In Rahmen des im Folgenden dargestellten Forschungsdinners wurde gemeinsam die Frage diskutiert, was ›das Nichtvisuelle‹ ist bzw. sein kann. An diesem Beispiel sollen schließlich die Aspekte Versammlung und Teilhabe im Rahmen von ethnografischer Forschung noch einmal zueinander in Beziehung gesetzt werden: Welche Formen der Teilhabe fördern und fordern (Forschungs-)versammlungen und wie verändern unterschiedliche Formen der Teilhabe eine (Forschungs-)versammlung?

3

Weitere Beispiele für Settings, die die Situation des Essens und oder Kochens als Rahmen nutzen, um ein übergeordnetes Ziel – meist das Versammeln von Menschen – zu verfolgen, wären z.B. das Format ›Permanent Breakfast‹ von Friedemann Derschmidt (http://www.permanentbreakfast.org/), die ›Cooked Sociology‹ von Michel Guggenheim (http://www.migug.net/?page_id=22) oder Arbeiten des Künstlers Rirkrit Tiravanija zu nennen.

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E THNOGRAFISCHES A RBEITEN : F ORSCHUNGSFELDER UND IHRE A KTEUR _ INNEN Für meine Forschung lässt sich kein klassisches Feld, wie es in der Ethnologie/ Kulturanthropologie üblich ist, beschreiben. Das liegt zum einen an der Universalität der Forschungsgegenstände: der sinnlichen Wahrnehmung auf der einen und der Dynamik von Versammlungen auf der anderen Seite. Es handelt sich hierbei nicht um die ›authentisch‹ sozialräumliche Einbettung eines Phänomens, die ich vor Ort untersuchen könnte. Sondern es geht um das experimentelle Erproben von Forschungsversammlungen, im Rahmen derer Settings geschaffen und somit Versammlungen kuratiert werden. Zur ethnografischen Erhebungsphase gehört aber auch, als Forscherin an bestehenden Versammlungen wie z.B. öffentlichen Picknicks teilzunehmen und diese zu beobachten. Die Ethnografie bietet hier ein breites methodisches Spektrum aus Befragungs-, Beobachtungs- und Aufzeichnungstechniken, über deren Anwendung im Einzelfall und gegenstandsangemessen entschieden wird. Die teilnehmende Beobachtung, also der Erkenntnisgewinn durch das eigene Erleben von Situationen, wird vielfach als der Königsweg der Ethnografie bezeichnet. Ethnografisch zu forschen setzt darüber hinaus eine große Offenheit beim Eintritt in das Feld voraus, was die Fragestellungen und Hypothesen betrifft. »In diesem Sinne [ist] die Ethnographie keine ›kanonisierbare und anwendbare Methode‹, sondern eine ›opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie‹.« (Lemke 2011: 34) Im Entstehungskontext des ethnografischen Ansatzes in der Ethnologie/Völkerkunde wurde insbesondere wiederholt die Idee kritisiert, es könne ein ›Verstehen‹ des jeweils anderen geben. Diese Kritik der Repräsentation gipfelte in den 1970er-Jahren in der Writing-Culture-Debatte und wiederum in den Jahren danach in einer Kritik dieser Debatte. (Vgl. Clifford/Marcus 1986) Im Zuge dieser Diskussionen wurden grundlegende Probleme ethnografischer Arbeit diskutiert, mit denen sich auch eine experimentelle Ethnografie beschäftigen muss. Als ein Problem sei hier die Eingrenzung und Auswahl des Untersuchungsfelds genannt. So untersuchten viele Ethnolog_innen und Anthropolog_innen fortan nicht mehr nur die ›beschützenswerten Wilden‹, sondern sahen sich mit multilokalen Akteurinnen und Akteuren konfrontiert. Hierbei wurden die Untersuchungsfelder mit den enthaltenen Orten und Kulturen nicht mehr als autonome Entitäten begriffen, sondern als »gemeinsam geteilter, ungeteilter ›mutually referenced‹ Raum« betrachtet. (Vgl. Lemke 2011: 62) In dieser Konstellation des Felds konstruieren alle an der Forschung beteiligten Akteur_innen das Feld, welches in der ethnografischen Feldforschung häufig als alltäglicher, authentischer Ort imaginiert wurde und wird. (Greverus 2003: 2) Dieser Ort wurde in der

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textlichen Repräsentation oft zu einem auktorialen, ›authentischen‹ Narrativ stilisiert, in dem die Stimmen Einzelner verschwanden. (Vgl. Lemke 2011: 46f.) Diskussionen um die unvermeidbare Subjektivität der Erkenntnisse sowie um die Rolle und den Einfluss der Forschenden im Feld ließen die Idee des ›authentischen Forschungsorts‹ und der ›objektiven Repräsentation von Erkenntnis‹ in den Hintergrund treten. (Vgl. Schmidt-Lauber 2007: 232f.) Im Zuge dessen veränderte sich auch der Blick auf Störungen und Irritationen im Feld: von Forschungsproblemen hin zu möglichen Erkenntnisquellen. In diesem Sinne arbeitet die Ethnografie nicht als Labor-, sondern als Feldwissenschaft. Inszenierte, interventionistische oder experimentelle Settings gibt es demnach kaum. Neben der räumlichen Frage stellte sich in der Writing-Culture-Debatte und ihrer Kritik die Frage danach, welches Interesse Forscherinnen und Forscher verfolgen, wenn sie ›ins Feld gehen‹, und insbesondere, welche Interessen die Beforschten haben, Forscher_innen einen Einblick in ihren Alltag zu gewähren. Claudia Lemke schreibt mit Bezug auf George Marcus, dass »ethnographische Wissensproduktion nach der Krise der Repräsentation […] kollaborativ [sei]« und im Zuge dessen Forschende auch »zum Subjekt der Pläne anderer« (Lemke 2011: 15, Herv. i.O.) werden. Ina-Maria Greverus folgert, dass sich mit der Erweiterung der Themen und Felder in der (Europäischen) Ethnologie/Kulturanthropologie auch das Publikum und die Geldgebenden ethnografischer Forschungen ändern und zunehmend auch aus dem nicht wissenschaftlichen Bereich kommen werden. Die sich dadurch verschiebenden Erwartungen, was Ethnografien leisten können und sollen, bezeichnet George E. Marcus als »Krise der Rezeption«, (vgl. Marcus 2003: 192f.) welche auch eine Krise der wissenschaftlichen Autorität ist. So sollten Ethnografinnen und Ethnografen verstärkt in Settings arbeiten, in denen die Rezeptionsebene zu ihren Texten und Handlungen von Beginn an mitgedacht wird und dabei auch nicht akademische Öffentlichkeiten anspricht. Will man jedoch den Blick nicht nur auf die Krisen der Ethnografie lenken, steckt in dieser Entwicklung, z.B. was den Aspekt der Teilhabe von Nichtwissenschaftler_innen an Forschungsprozessen betrifft, auch die Möglichkeit neuer Kollaborationen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft, die anderes Wissen mit sich bringen können. Greverus sieht hier eine Verschiebung der Autor_innenschaft und der Produktion von Wissen in der ethnografischen Arbeit, wenn die ›Beforschten‹ an Texten mitschreiben oder auch mit ihrer eigenen Expertise Texte über die Forschenden verfassen. Aus diesen Entwicklungen resultiert wiederum die eingangs gestellte Frage nach der Bezeichnung des ›Gegenübers‹ in der Forschung und danach, wer aus welchem Grund zum Forschen autorisiert ist:

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»This raises questions over whether terms such as ›native‹, ›expert‹, ›informant‹ and ›ethnographic subject‹ are still of any use, and whether ethnographers still have any ›special‹ or distinctive expertise, and of the kinds of relationships that ethnographers can, or should, develop with those from whom they seek to learn.« (Greverus 2003: 6)

Wie bereits erwähnt soll hier der Begriff ›Akteurin/Akteur‹ gewählt werden. Im Folgenden wird sich zeigen, dass dieser besonders dann hilfreich ist, wenn der Aspekt des Experimentellen im Forschungssetting eine Rolle spielt. Dabei kann grundsätzlich jede ethnografische Forschung auch als Versammlung von Menschen und/oder Dingen angesehen werden. In diesem Fall ist die Versammlung nicht Forschungsverfahren, sondern Forschungsgegenstand oder Forschungsbedingung. Wenn nun die Resultate dieser teilnehmenden Beobachtung in der Praxis erprobt werden und dabei Variablen verändert werden sollen, bietet sich ein experimentelles Setting an, in dem die Forschenden auch Initiatorinnen und Initiatoren von Versammlungssituationen sind. In diesem Moment wird das Verfahren des Versammelns zu einem Forschungsverfahren, das u.a. mit kuratorischer Praxis vergleichbar ist. Der Begriff des Kuratierens ergibt insbesondere. im Hinblick auf eine erweiterte Öffentlichkeit für (ethnografische) Experimente Sinn. Diese können sich auf eine frühere Form des Experiments beziehen, welche vor allem im 17. Jahrhundert einen weniger streng kontrollierten Versuchsaufbau und vielmehr einen Duktus des Zeigens aufwiesen. Sharon Macdonald und Paul Basu erwähnen mit Blick auf die experimentelle Konzeption von Ausstellungen den Naturphilosophen Robert Hooke als ersten »curator of experiments«. (Basu/Macdonald 2007: 2) Der Ausschluss der Öffentlichkeit aus den Laboren mag für molekularbiologische Versuche durchaus eine Berechtigung haben. Das ethnografische oder auch künstlerische Experiment weicht jedoch von diesem Experimentverständnis ab, was im Folgenden näher erläutert werden soll.

D AS ( ETHNOGRAFISCHE ) E XPERIMENT In den vielfältigen Einführungen zum Experiment als Methode in den Natur- und Geisteswissenschaften wird häufig für das 17. Jahrhundert ein Wandel in den (Natur-)wissenschaften beschrieben, der mit dem Wandel des Experimentverständnisses einherging. So wurde dem (naturwissenschaftlichen) Experiment zu dieser Zeit eine theorieerzeugende Funktion und damit eine eher unabhängige, schöpferische Fähigkeit zugesprochen. Im 20. Jahrhundert wurde hingegen u.a. von Karl Popper eher die theorieprüfende Rolle des Experiments betont, was mit einer verstärkten Kontrolle der Variablen einherging und im Zuge dessen das

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Labor wie bereits erwähnt zu einem hermetischen, nicht (mehr) öffentlichen Raum wurde. (Vgl. Hoffmann 2009: 93) Die Literaturwissenschaftlerin Gunhild Berg stellt für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert eine verstärkte Verwendung des Experimentsbegriffs in verschiedenen Disziplinen im Sinne des naturwissenschaftlichen Experiments fest, ohne dass dabei jedoch alle Kriterien dieses Experimentkonzepts (Wiederholbarkeit etc.) übernommen würden. Mit Ende des 20. Jahrhunderts wird der Experimentbegriff in den Geisteswissenschaften verstärkt als Instrument verwendet, um u.a. Empirie als Gradmesser für Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen. (Vgl. Berg 2009: 16) Heute gilt ein Experiment gemeinhin als ein Aufbau oder Verfahren, mit dem Informationen, Daten und Erkenntnis empirisch gewonnen werden können. Es wird den Natur- und Ingenieurwissenschaften zugeordnet. In diesen Disziplinen kommt dem Experiment die Funktion des Überprüfens, Testens, Messens und Beobachtens unter kontrollierten Bedingungen zu. Um den Ablauf und die Einflüsse in den Ablauf des Experiments so gut wie möglich erkennen und eingrenzen zu können, finden die Experimente meist in Laboren statt. Die spezifischen Bedingungen und ihre Protokollierung sind für diese Art von Experimenten wichtig, weil die Experimente unter identischen Bedingungen reproduzierbar sein müssen und die Erkenntnisse nur so als valide und aussagekräftig gelten. In Anlehnung daran existiert in der Psychologie das ›Feldexperiment‹. Wichtig für dieses Verfahren ist die Kontrolle und somit die Vergleichbarkeit des Vorgehens und der gewonnenen Ergebnisse. Da hierbei nicht mit Dingen, sondern mit Menschen und ihrem Verhalten gearbeitet wird, sind neben der Aussagekraft von Untersuchungen zu menschlichem Verhalten unter Laborbedingungen v.a. auch ethische Aspekte zu bedenken. Künstlerische oder auch geistes- und kulturwissenschaftliche Experimente zielen darauf ab, bestehende (soziale, kulturelle, ästhetische etc.) Grenzen auszuloten oder auch zu erweitern. (Vgl. Kreuzer 2012: 7) Diese Experimente unterscheiden sich in Teilen grundlegend vom naturwissenschaftlichen Experiment, da sie oft gerade dann nicht mehr als experimentell gelten, wenn sie wiederholbar sind/wiederholt werden. Vielmehr spielen künstlerische/kulturwissenschaftliche Experimente mit der Ungewissheit ihres Ausgangs. So ist ein naturwissenschaftlicher Versuch, der keine Erkenntnisse im Hinblick auf das vorher definierte Ziel hervorbringt, ein Fehlversuch. Beim ergebnisoffenen künstlerischen Experiment wiederum kann nur durch das Unerwartete überhaupt Neues entstehen. Diese Idee vom Experiment als Anordnung zum Ermöglichen von Erkenntnis hat u.a. der Molekularbiologe und Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rhein-

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berger geprägt. Zwar bezieht er diese Vorstellung in seinen Texten auf biochemische Experimente, die in diesem Kontext entstandene Idee des Experimentalsystems lässt sich aber durchaus auf andere Wissenschaftsfelder übertragen. Für Rheinberger ist (wissenschaftliche) Innovation zwangsläufig mit einem experimentellen Vorgehen verbunden, da das, was wirklich neu sein soll, auch noch nicht vorstellbar ist und sich somit erst im Experimentalsystem ereignen muss. Mit dem Experiment schafft sich die oder der Forschende eine empirische Struktur, die es erlaubt, in einem solchen Zustand des Nichtwissens um das Nichtwissen handlungsfähig zu werden. (Vgl. Rheinberger 2007) Den Experimentator_innen schreibt Rheinberger dabei eine ambivalente Rolle zu: Zwar können sie (neue) Erkenntnisse vor allem aufgrund ihrer Intuition und Erfahrung besser erkennen als Außenstehende. (Vgl. Rheinberger 1992: 27) Allerdings ereignen sich diese Erkenntnisse nicht ausschließlich in Kopf oder Körper des wissenschaftlichen Genies, sondern im Experimentalsystem selbst. (Vgl. Rheinberger 2007) In diesem System sind laut Rheinberger sowohl die Experimentator_innen als auch die epistemischen (Fragestellung, Wissen etc.) und technologischen Dinge (Apparate, Raum etc.) untrennbar miteinander verbunden. In der neueren Wissenschaftstheorie teilen u.a. Pierre Duhem oder Karl Popper die ›Sichtbarkeit‹ wissenschaftlicher Erkenntnis im Experiment in zwei Elemente ein: zum einen in das offensichtlich Beobachtbare, welches auch für Laiinnen und Laien sichtbar ist. Die Interpretation, das Verstehen des Gesehenen und damit das zweite Element ist aber nur wissenschaftliche geschulten Menschen möglich. (Vgl. Hoffmann 2009) Nach dieser Auffassung schwingt im Experiment immer auch der Vorgang des Sichtbarmachens mit, der sich in dieser Form nicht nur auf das physisch-körperliche Wahrnehmen bezieht, sondern vielmehr eine Frage die sich in dieser Form nicht nur auf das physisch-körperliche Wahrnehmen bezieht, sondern auch eine spezifische Form des Wissens voraussetzt. Sharon Macdonald und Paul Basu erweitern diesen Vorgang des Sichtbarmachens um den Vorgang des Greifbarmachens in ihrem Einführungstext zu Ausstellungsexperimenten. Sie beschreiben den Zweck dieser Experimente wie folgt: »To make visible that which is otherwise invisible, to make tangible something intangible.« (Basu/Macdonald 2007: 9) Die Idee des Experimentalsystems bei Rheinberger ist in diesem Zusammenhang anschlussfähig an das Parlament der Dinge von Bruno Latour (Latour 2001), insbesondere dann, wenn nun der Fokus wieder auf experimentelle Forschungsversammlungen gerichtet werden soll. Auch hier sind Experimentator_innen, epistemische und technologische Dinge – die im Falle von ethnografischen Experimenten eher dem Versammlungsraum, seiner Ausstattung und den anwesenden Personen entsprechen – untrennbar miteinander verbunden. Auch

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wenn Latour seinen Versammlungsbegriff auf die Zusammenführung von Politik/Ökologie und Wissenschaft zu einem Kollektiv hin entwickelt, ist sein Begriff dennoch hilfreich bei der Konzeption einer Forschungsversammlung im ethnografischen Experiment. Latour strebt dabei eine Auflösung der Trennung von Subjekten und Objekten an, die sich im Gegensatz zu Menschen und nicht menschlichen Wesen nie im Kollektiv bzw. in der Versammlung gleichberechtigt wiederfinden können. Im folgenden Kapitel sollen nun – mit dem Konzept des Experimentalsystems und dem Versammlungsbegriff Latours im Hinterkopf – zwei ausgewählte ethnografische Experimente vorgestellt werden. Das explizit ethnografische Experiment ist insbesondere in der deutschsprachigen Ethnografie weitestgehend unbekannt. In der ethnografischen Theorie und Praxis wurden in den letzten Jahren insbesondere im angloamerikanischen Raum vielmehr verstärkt Diskussionen um die Grenzen ethnografischer Arbeit und auch um die Schnittmengen z.B. mit künstlerischer Praxis geführt.4 Im Zuge dessen gab es interessante Entwicklungen, die Grenzen ethnografischer Arbeit zu erweitern – u.a. mit experimentellen Verfahren. Eine systematische Betrachtung experimenteller ethnografischer Ansätze, die über die bloße Forderung nach neuen bzw. anderen Verfahren und Settings hinausgehen, steht jedoch aus. Mit der Ausnahme von Experimenten im Bereich der Repräsentation und Darstellung als Folge der Writing-Culture-Debatte und ihrer Kritik gibt es kaum praktische Beispiele für experimentelle Ethnografien.5 Claudia Lemke stellt zudem fest, dass viele Vertreterinnen und Vertreter der Writing-Culture-Critique zwar alternative Verfahren und Repräsentationen gefordert, diese aber oftmals selbst nicht umgesetzt hätten. Somit sei das Problem der Repräsentation nach wie vor nicht gelöst. (Vgl. Lemke 2011) Im Hinblick auf experimentelle Forschung führt eher eine Vorstellung von prozessualem, praktischem Wissen weiter. Hans-Jörg Rheinberger spricht nicht von Repräsentation, da dies seiner Ansicht nach bedeuten würde, dass es eine Wirklichkeit neben dem Experiment geben würde. Vielmehr werden durch das Experiment Dinge zu Wissenschaftsobjekten und können dann wieder als Werkzeuge in anderen Situationen eingesetzt werden. Das Wissen des Experiments materialisiert sich somit in den Dingen. (Vgl. Rheinberger 1992: 29)

4

Zur Debatte um alternative ethnografische Forschung vgl. Geimer 2011.

5

Ausnahmen sind z.B. Formate wie polyvokale Texte, Collagen, Ausstellungen oder ethnografische Filme.

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B EISPIEL 1: M IXING

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METHODS , TASTING FINGERS

Als eines der seltenen Beispiele für experimentelle ethnografische Forschung soll hier das Experiment Mixing methods, tasting fingers von Anna Mann, Annemarie Mol u.a. vorgestellt werden. In diesem fanden sich sechs Wissenschaftlerinnen zusammen, um an einem Abend selbst zubereitete Speisen aus verschiednen Esskulturen (Reis- und Gemüsegerichte, Pfannkuchen etc.) gemeinsam mit den Händen zu essen. Die Leitfrage des Experiments war, ob eine Speise anders oder besser schmeckt, wenn sie mit den Händen gegessen wird. Im Sinne der doppelten Bedeutung des englischen to taste fragten sie: Können Hände schmecken? Und wo fängt die sinnliche Wahrnehmung des Schmeckens an? In der Gruppe waren einige Wissenschaftlerinnen, die von klein auf mit den Händen gegessen hatten, und einige, für die das Essen mit den Händen – abseits von Fast- und Fingerfood – eine neue Praktik und Erfahrung bedeutete. Die ›Expertinnen‹ standen hier vor der Herausforderung, eine für sie alltägliche, implizite Praktik explizit zu machen und zu verbalisieren; die Laiinnen waren hauptsächlich damit beschäftigt, Reis und Soßen auf dem Teller zu formen und dann in den Mund zu führen. Dabei kamen während des Essens mit den Händen auch Fragen nach westlicher und nicht westlicher Esskultur, Hygiene und nach dem Essen mit Besteck als ›zivilisatorische Errungenschaft‹ auf. Ihre Wahrnehmungen tauschten die Beteiligten während des Essens aus und notierten im Anschluss Feldnotizen. Der anschließend kollektiv verfasste Text zu diesem Experiment im Journal of Ethnographic Theory behandelt sowohl die Frage nach dem Essen mit den Händen als auch den angewendeten Methodenmix, der u.a. die eigene Rolle als Forschende und Beforschte thematisiert: »We were inspired by laboratory experiments, but did not comply with all of their rules. We did anthropological fieldwork, but not of the traditional kind. Both methods changed as we mixed the experimental organization of an event with the open attentiveness of fieldwork. And the mixing went on. We mixed being a researcher-subject with being an object of research.« (Mann et al. 2011: 224)

Während des Experiments übernahmen die Forscherinnen unterschiedliche Aufgaben und Rollen, sodass ihr Text, der einen umfassenden Eindruck des Experiments vermittelt, wie es scheint nur kollektiv geschrieben werden konnte. Zumal jede Teilnehmerin ihre subjektive Wahrnehmung und ihren persönlichen Hintergrund in das Experiment eingebracht hatte.

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Um diese Form zu beschreiben, wählten die Beteiligten den Begriff der ›Assemblage‹. In einer Assemblage bleiben zwar die einzelnen Beiträge erkennbar, es entsteht jedoch mehr als eine einfache Addition – etwa so wie bei einem Gericht, das verschiedene Zutaten enthält. Bei ihrem Experiment gingen die Beteiligten in der Planung eklektizistisch vor, indem sie zwar das Setting sorgfältig auswählten und vorbereiteten, der Ausgang wiederum aber völlig offen gehalten wurde. (Vgl. ebd.: 226) Dieses Beispiel für ein sinnlich-ethnografisches Experiment ist im Zusammenhang meines Textes deshalb interessant, weil es hier nicht eine forschende Person gibt, die ein Forschungsinteresse hat und aufgrund dessen ein Experiment plant und durchführt. Stattdessen wurde dieses Setting kollektiv geplant und gestaltet und es weist somit eine alternative Konstellation der forschenden Akteurinnen und Akteure und ihrer Interessen auf. Meine These ist, dass das Setting des Experiments einen maßgeblichen Einfluss darauf hat, ob sich Nichtwissenschaftler_innen an (ethnografischer) Forschung beteiligen. Und sei es nur die Aussicht auf ein gutes Essen. Bezogen auf das beschriebene Experiment erzeugt die Alltagsnähe des gemeinsamen Essens die Möglichkeit einer einfacheren Beteiligung, auch wenn in diesem Fall – bis auf den Gast einer Teilnehmerin – nur Wissenschaftlerinnen beteiligt waren. Eine zu starke Nähe zu alltäglichen Situationen kann wiederum den Erkenntniswert eines solchen experimentellen Settings auch schmälern, was sich am folgenden Beispiel zeigen lässt.

B EISPIEL 2: T AKTSINN . E IN EXPERIMENTELLER A BEND

ZUM

N ICHTVISUELLEN 6

Das im Folgenden beschriebene Setting habe ich unter dem oben stehenden Titel im Mai 2013 im Rahmen der Präsentationswoche des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe in der Universität der Nachbarschaften7 in HamburgWilhelmsburg initiiert. Wie auch im bereits genannten Beispiel taucht hier Essen als Praxis und Setting wieder auf. Das Taktsinnforschungsdinner stellt im Rah-

6

Eine Dokumentation des Taktsinnforschungsdinners ist online einsehbar unter:

7

Bei der Universität der Nachbarschaften handelt es sich um ein Projekt der HafenCity

http://www.taktsinn.org. Universität Hamburg. Hier wird im Gebäude des ehemaligen Gesundheitsamts über einen Zeitraum von fünf Jahren das forschende Erarbeiten und Erproben zeitgemäßer Bildungsformen an der Schnittstelle von Kultur, Wissen und Stadtentwicklung verhandelt. (http://udn.hcu-hamburg.de/de/)

W ER VERSAMMELT WEN ?

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men meiner Forschung eine Art pretest für das Versammeln als Forschungsverfahren dar und sollte vor allem Fragen zu sinnlicher Forschung und experimentellen Settings aufwerfen. In der folgenden Beschreibung des Formats soll der Fokus weniger auf dem Thema des Sinnlichen und Nichtvisuellen liegen. Vielmehr soll die Verbindung zwischen dem Aspekt des Versammelns und dem des Experimentellen herausgestellt werden. 25 Wissenschaftler_innen und wissenschaftliche Lai_innen versammelten sich beim Taktsinndinner für die Diskussion der Leitfrage, was das Nichtvisuelle sein kann, an einer großen Tafel zum gemeinsamen Essen, Denken und Diskutieren. Das Essen war dabei einerseits choreografischer und performativer Rahmen und andererseits auch ein Handlungsfeld dafür, die eigenen Sinneswahrnehmungen zu testen, zu thematisieren und zu hinterfragen. Zwischen den drei Gängen, die am Tisch serviert wurden, referierten drei Fachleute ihren Zugang zum Nichtvisuellen: Der blinde Soziologe Siegfried Saerberg den Zugang zur persönlichen soundscape, der Klangforscher Johannes Müske den Zugang zum Umgang mit archivalischen Klangquellen und die Reikimeisterin Angelika Leisering ihren Umgang mit dem Nichtsichtbaren in Form von Energien. In einer kurzen Begrüßungsrede ermunterte ich meine Gäste dazu, das Essen bewusst zu schmecken, zu riechen und auch zu hören, was für viele Gäste eine Herausforderung darstellte, da sie immer wieder in den Modus des alltäglichen, nicht bewussten Essens zurückfielen oder sich in Gespräche mit den meist nicht bekannten Tischnachbarinnen und -nachbarn vertieften. Aus der Bezeichnung der Anwesenden als ›Gäste‹ wird deutlich, welche Rollenverteilung sich für diesen Abend entwickelte. So kam mir vor allem die Rolle der Gastgeberin und/oder Moderatorin zu, die ihre Gäste durch den Abend begleitet. Eine tiefer gehende inhaltliche Arbeit war aus dieser Position im Wechsel zwischen ausgelassenem Essen und gespanntem Zuhören für mich kaum möglich. Diese Frage nach der eigenen Rolle wirft in einer bewusst kollektiv angelegten Forschung mit und über Versammlungen weitere Fragen auf. So werden Forschungen immer von einer Person (oder auch von mehreren) initiiert und konkretisiert und erst dann für eine größere Öffentlichkeit geöffnet. Somit ist ein symmetrisches Verhältnis zwischen Forschenden und Akteur_innen über den gesamten Forschungsprozess schwer realisierbar. Trotzdem sollte den Veränderungen und Vervielfältigungen des Forschungsinteresses durch die einzelnen Akteurinnen und Akteure im kollektiven Forschungsprozess Beachtung geschenkt und dabei auch eine Veränderung der Rollen mitgedacht werden. Möglicherweise kann gerade diese Multiplikation der Interessen neue Erkenntnisse bringen. Den Wechsel zwischen dem Essen und dem Zuhören bei den Tischreden empfanden viele der Gäste als sehr abrupt. Die Reden wurden hierbei als for-

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mellere und passivere Elemente beschrieben und die Essens- ›Pausen‹ als aktivere und informellere Elemente. Aus dieser Beobachtung lässt sich folgern, dass Forschungsversammlungen insbesondere dann als produktiv gelten können, wenn gemeinsames, aktives Handeln in einem als weniger hierarchisch und formell empfundenen Rahmen möglich wird. Dies zeigt sich am Beispiel des ›Bargesprächs‹, das als Alternative für ein schriftliches Feedback zum Abend angeboten wurde. Dies zeigt sich am Beispiel des ›Bargesprächs‹, das als Alternative für ein schriftliches Feedback zum Abend angeboten wurde. Hierbei entwickelten sich auf Impulsfragen der Barkeeperin hin eher informelle Gespräche an der Bar der Universität der Nachbarschaften, die sehr informativ in Bezug auf das Thema des Nichtvisuellen, aber auch im Hinblick auf das Setting des Abends waren. Die Audioaufzeichnung dieser Diskussionen lieferte wichtiges Material für die Analyse des Abends. Die Aufzeichnung der Diskussion zu Dokumentations- und Analysezwecken ist ein wichtiger Aspekt, um von einer Forschungsversammlung sprechen zu können. Das experimentelle Moment des Abends lag dabei u.a. in der Offenheit der Fragestellung und auch in der Offenheit der Gäste, die sich versammelten, ohne genau zu wissen, was sie erwarten würde. Zudem gab es Ereignisse, die ungeplant waren und dadurch fruchtbare Situationen hervorbrachten. Eines dieser Ereignisse war die langsame Veränderung der Lichtverhältnisse im Verlauf des Abends. So war das Licht, das durch die großen Fenster des Raums einfiel, zu Beginn des Dinners noch hell und freundlich und wurde mit dem Untergang der Sonne nach und nach dunkler, sodass entgegen meiner Planung eine Art ›Dinner im Dunkeln‹ entstand. Angelika Leisering bezeichnete die Stimmung zu Beginn ihres meditativen Beitrags als »leises Licht« und reagierte somit direkt auf das Ungeplante. Darüber hinaus war mein Anspruch an den Abend, Wissensproduktion und -austausch über das Nichtvisuelle zu ermöglichen. Insofern können die Planung, der Aufbau, die Choreografie des Essens, das Essen selbst und die Gäste als ein Experimentalsystem, als Aufbau zum Ermöglichen von Erkenntnis bezeichnet werden. So nutzen Sharon Macdonald und Paul Basu in ihrer Einführung zu Exhibition Experiments auch den Begriff ›Assemblage‹ und beschreiben den experimentellen (Ausstellungs-)Raum weniger als Ort der Repräsentation als vielmehr der Begegnung. (Vgl. Basu/Macdonald 2007: 9, 14) Mit diesem Blick auf die Versammlung ist nicht nur die Teilhabe, sondern vielmehr die Teilnahme als das aktive Einbringen der eigenen Wahrnehmung und Körperlichkeit aller Akteurinnen und Akteure die Grundlage für die Wissensproduktion. Dabei treffen sich alle Beteiligten – ob menschlich oder nicht menschlich – mit ihrem situativen Wissen in einer »arena of shared incompetence« (ebd.: 16). Die These von

W ER VERSAMMELT WEN ?

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Macdonald und Basu ist hier, dass Wissensunterschiede am besten in einem für alle unbekannten Setting verringert werden können.

F AZIT : V ERSAMMLUNG UND T EILHABE IM ETHNOGRAFISCHEN E XPERIMENT In den beschriebenen experimentellen Forschungsversammlungen wurde eine Vielzahl von Expert_innen hervorgebracht. So erlangt auch die Person, die das Experiment anordnet, selbst laut Bruno Latour erst im Transformationsprozess des Experiments ihre Expertise. (Vgl. Latour 2000: 152f.) Doch auch wenn sich bestimmte Wissensstände während des Experiments angleichen, wird eine Versammlung von Wissenschaftler_innen und Nichtwissenschaftler_innen immer heterogen bleiben und der Wechsel von Teilnehmenden wird immer wieder neue Dynamiken und Hierarchien erzeugen. Versammeln als Forschungsverfahren zu begreifen, bedeutet also in den meisten Fällen, Akteurinnen und Akteure zu verbinden, die sonst nicht zusammenkommen und somit neue Öffentlichkeiten (für ethnografische Forschung) zu schaffen. So wird auch der didaktische Aspekt des ursprünglichen Experimentverständnisses wieder aufgegriffen, bei dem zum Experimentieren auch immer das Zeigen und Verständlichmachen gehörte. In diesem Sinne können experimentelle Forschungsversammlungen auch eine Antwort auf die beschriebene ›Krise der Rezeption‹ sein. Das Forschungsdinner hat sich dabei als erfolgreiches Format herausgestellt, um eine Versammlungssituation für ethnografische und künstlerische Forschung herzustellen, die nicht als konstruiert, aber dennoch als fremd genug im Sinne einer »arena of shared incompetence« empfunden wird. Die alltägliche Situation des (gemeinsamen) Essens dient sowohl als Versammlungsgrund als auch als produktiver Rahmen für kollektive Wissensproduktion. Folgende Forschungsdinner sollen außerdem die Dimension des Sinnlichen beim gemeinsamen Handeln noch einmal stärker fokussieren und dabei weiter experimentell vorgehen, indem einzelne Variablen wie z.B. die Lichtsituation oder die Anordnung der Personen im Raum verändert werden. Hierbei fließen auch Beobachtungen aus aktuellen und vergangenen öffentlichen Versammlungen, in denen gegessen wurde und wird, ein – wie z.B. aus öffentlichen Picknicks8.

8

So fanden z.B. im Sommer 2013 Picknicks im Hamburger Park Fiction statt, um sich der Haltung des Hamburger Senats im Umgang mit 70 in der St. Pauli Kirche Hamburg untergebrachten Flüchtlingen entgegenzustellen. (http://park-fiction.net/lass-unsmal-wieder-zusammen-was-essen/)

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Zum Ende möchte ich noch einmal auf die Frage, wer wen im ethnografischen Experiment versammelt, zurückkommen. Wie eingangs beschrieben ist es mein Anliegen, Versammeln als Forschungsverfahren einzusetzen, um die Rolle sinnlicher Wahrnehmung und sinnlichen Wissens in der Erzeugung von Versammlungsdynamiken zu erforschen. Dabei weiche ich von der bestehenden ethnografischen Praxis ab, indem ich selber Untersuchungsfelder schaffe und diese experimentell anlege und erprobe. Mit Blick auf die Rollen der beteiligten Akteurinnen und Akteure solcher Settings lässt sich u.a. mit Latour und Rheinberger sowie am Beispiel des Taktsinnforschungsdinners feststellen, dass eine solche Forschung immer Menschen braucht, die initiieren, organisieren (und Experimente anordnen), dabei aber nicht ohne die beteiligten Akteur_innen stattfinden kann. Das Verhältnis zwischen Initiator_innen und Akteur_innen ist somit ein symbiotisches. Zudem kann die Bestimmung von verantwortlichen Personen als Autor_innen aus wissenschaftspolitischen Gründen notwendig werden. Im Forschungsprozess selbst ist es hingegen ohne Weiteres denkbar, dass die Rollen- und Aufgabenverteilung aller Akteur_innen stets flexibel bleibt. Für eine solche Forschungskonstellation wäre dann aber eher die Frage ›Wer/was handelt (mit wem)?‹ zielführender.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

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W ER VERSAMMELT WEN ?

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Das Wissen der Versammlung Versammeln als Forschungsverfahren einer beteiligten Wissenschaft

S IBYLLE P ETERS

V ON

DEN

M ETHODEN

ZU DEN

V ERFAHREN

Das Kolleg Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste umfasst ein gutes Dutzend Forschungsprojekte, in denen jeweils unterschiedliche Formen des Forschens zueinander in Beziehung gesetzt werden: kulturwissenschaftliche Analysen und künstlerische Experimente, in denen nicht nur die Kollegmitglieder selbst etwas erproben, sondern auch bspw. Kinder, Tänzerinnen und Tänzer oder Aktivist_innen an der Forschung beteiligt werden. Diese Teilhabe an der Forschung ist idealerweise als eine Situation des wechselseitigen Gewinnens verfasst: Alle Mitwirkenden sollten – ausgehend von ihren unterschiedlichen Zugängen und Interessen – von der gemeinsamen Forschung profitieren. Um solche Konstellationen reflektierend gestalten zu können, hat sich das Kolleg in einem zweiwöchentlich abgehaltenen Kolloquium über einen Zeitraum von zwei Semestern damit beschäftigt, Verfahren zu identifizieren und zu beschreiben, die in transdisziplinären Forschungsprojekten zwischen Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft Anwendung finden können. In diesem Prozess ging es weniger darum, künstlerische Forschung methodisch einzugrenzen. Ausgangspunkt für unsere Reflexion war vielmehr die Beobachtung, dass in Projekten dieser Art neben klassischen wissenschaftlichen Verfahrensweisen auch zahlreiche alltägliche Praktiken eine Rolle spielen wie bspw. Reisen, Sammeln oder Spielen. Ohne ausgesprochene Forschungsverfahren zu sein, haben diese Praktiken doch das Potenzial, Wissen zu produzieren und infrage zu stellen. Zudem sind es Praktiken, die unter Umständen methodisch betrieben werden können – d.h. Wiederholbarkeit, Serialität, Vergleich-

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barkeit erlauben. Keineswegs gehören diese Praktiken genuin einem künstlerischen Feld an, vielmehr sind es Handlungsmodule, die erst auf spezifische Weise kombiniert einem bestimmten Diskurs zuzuordnen sind. So spielen das Reisen oder das Sammeln selbstverständlich auch in der wissenschaftlichen Forschungspraxis eine Rolle. Vor diesem Hintergrund machten wir im Kolloquium den Versuch, unsere Beobachtung von der Ebene der Methode gewissermaßen auf die Mikroebene der Verfahren zu verschieben, aus welchen Methoden zusammengesetzt sind oder werden können. Um das zu erreichen, stellten wir unsere Auseinandersetzung mit diesen Praktiken unter eine Spielregel: Aufgabe war es, die Performanz der entsprechenden Praxis ›als‹ Forschung zu beschreiben, um im Zuge dieser Übertragung und Übersetzung ihre Konnektivität im Hinblick auf ein methodisches transdisziplinäres Vorgehen zu prüfen.

V ERSAMMELN

ALS

F ORSCHEN

Die Ergebnisse dieser Forschungskolloquien sind auf der Website des Kollegs im A-Z der transdisziplinären Forschung nachzulesen. (Vgl. A-Z der transdisziplinären Forschung 2014: Home) Die Überlegungen des vorliegenden Texts haben in einer dieser Sitzungen ihren Ausgangspunkt und konzentrieren sich auf den Begriff des ›(Sich-)Versammelns‹. Dieser Begriff spielt insofern eine besondere Rolle, als die Versammlung zugleich der gemeinsame Forschungsgegenstand des Kollegs ist. Zu erörtern, inwiefern die Praxis des (Sich-)Versammelns als Forschung begriffen werden kann, kommt also potenziell einem Kurzschluss von Forschungsgegenstand und Forschungsverfahren gleich. Solche Kurzschlüsse sind verführerisch: Sie rufen ein ästhetisches Prinzip auf, demzufolge Form und Inhalt eines Werks sich entsprechen sollten, ein Prinzip, dem Forschung im Unterschied zu Kunst traditionell gerade nicht zu entsprechen hat. Es gilt daher zunächst festzuhalten: Die Tatsache, dass alle künstlerischen Projekte des Kollegs mit der Praxis des Versammelns arbeiten, ist durch den Gegenstand des Kollegs begründet und entspricht in erster Linie dem Versuch, Versammlungen mittels der experimentellen Herstellung von Versammlungen zu erforschen. Die Diskussion im Kolloquium machte dann auch zunächst die Grenzen einer solchen Herangehensweise deutlich: Die von den Kollegmitgliedern im Zuge ihrer Forschungsprojekte experimentell hergestellten Versammlungen sind nicht zwangsläufig repräsentativ für Versammlungen an sich und sie stellen zudem die Person, die sie jeweils initiiert, an einen Platz, der nicht von vornherein für die Forschung prädestiniert ist.

D AS W ISSEN DER V ERSAMMLUNG

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Sehen wir also zunächst von der spezifischen Überschneidung von Thema/ Gegenstand und Verfahren ab und konzentrieren uns auf die zentrale Frage des Kolloquiums: Inwiefern lässt sich die Praxis des Versammelns als Forschen beschreiben? Auf den folgenden Seiten möchte ich verschiedenen Ansätzen folgen, um diese Frage zu beantworten, und die Argumentationsstränge schließlich in einer Diskussion ihrer wissenspolitischen Konsequenzen zusammenführen.

A SSEMBLING

IN DER

A KTEUR -N ETZWERK -T HEORIE

Tatsächlich findet sich in der neueren Methodendiskussion der Sozial- und Kulturwissenschaften eine Engführung von Versammlung und Forschung, und zwar in Bruno Latours entsprechend betiteltem Buch Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. In dem im Folgenden zitierten Abschnitt geht es Latour um die Frage, was eine sozialwissenschaftliche Untersuchung leisten soll: »[T]hrough the report concluding the enquiry the number of actors might be increased; the range of agencies making the actors act might be expanded; the number of objects active in stabilizing groups and agencies might be multiplied; and the controversies about matters of concern might be mapped. […] a good account will perform the social in the precise sense that some of the participants in the action – through the controversial agency of the author – will be assembled in such a way that they can be collected together.« (Latour 2005: 138, Herv. i.O.)

Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung ist diesem Verständnis zufolge nicht in erster Linie darauf angelegt, auf einer gänzlich vom Gegenstand der Untersuchung unterschiedenen Ebene Erkenntnisse zu produzieren und festzuhalten. Es geht vielmehr darum, im Untersuchungsfeld, dem Sozialen selbst, mittels der Untersuchung zu wirken. Wer ein Akteur-Netzwerk beschreibt, wird tendenziell zu einem Teil des beschriebenen Netzwerks. Das kann das Netzwerk verändern, kann die Zahl der Akteurinnen und Akteure im Netzwerk erhöhen und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Latour schreibt, der Report – oder auch account1 – performe das Soziale, indem er die an der Aktion Beteiligten so versammelt, dass sie gesammelt werden können. Um dies zu verstehen, gilt es den spezifischen Handlungsbegriff Latours mitzudenken, demzufolge nicht Menschen handeln, sondern Netzwerke oder Ensembles, in denen Menschen und

1

Zu Unübersetzbarkeit und Potenzial des Begriffs ›account‹ vgl. Die Kunst des Nichtda-Seins (Ladnar/Pilkington 2013).

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Nichtmenschen – also Maschinen, Dinge, Materialien, andere Lebewesen – miteinander in Verbindung stehen. Erst die Verbindung zwischen beiden Arten von Akteur_innen macht Handlung möglich. Und was für das Handeln im Allgemeinen gilt, gilt auch für das Wissen: Nicht Menschen wissen, sondern Netzwerke von Menschen und Dingen, Medien, Institutionen, Materialien, Werkzeugen. Reassembling meint vor diesem Hintergrund auch, im Unterschied zur traditionellen Auszeichnung des Menschen als eigentlich handelndes und wissendes Subjekt, die Mitwirkung der Dinge in Erinnerung zu rufen und zu würdigen. Reassembling kann dies insofern genannt werden, als die Beschreibung eines Akteur-Netzwerks das Netzwerk als Versammlung zur Erscheinung bringt. Der gute account ordnet das Netzwerk als Versammlung an und performt damit das Soziale, insofern das Netzwerk als Versammlung seine Mitglieder zählen und vor sich selbst Rechenschaft ablegen und weitere Handlungen abstimmen kann. Oder im Hinblick auf das Wissen als Handeln, das Forschen, formuliert: Es ist das Netzwerk, das weiß, doch es ist das Netzwerk als Versammlung, das weiß, dass es weiß, und das vielleicht auch weiß, was es nicht weiß, aber herausfinden könnte.

E PISTEMISCHE V ERSAMMLUNGEN In der fraglichen Sitzung des Kolloquiums nahm die Diskussion ihren Ausgang zunächst jedoch nicht von der Akteur-Netzwerk-Theorie, sondern von der wissenschaftlichen und künstlerischen Praxis der Kollegmitglieder. Aus dieser Perspektive war zunächst festzustellen, dass Versammlungen wie etwa Konferenzen oder Kolloquien unabdingbar Teil jeder Forschungspraxis sind. Dabei ist offenkundig: Wenn Wissenschaftler_innen sich versammeln, um sich – etwa im Rahmen eines Kolloquiums – über ein bestimmtes Thema auszutauschen, entsteht im Zuge des Austauschs, der Kombination und Diskussion gegebener Wissensstände immer auch neues Wissen, und zwar nicht nur auf faktischer Ebene, sondern auch in einer diskursiven Dimension, in der verhandelt wird, was wie gesagt werden kann, was wie gezeigt werden muss, was vorausgesetzt wird, ob und wie Aussagen einander ergänzen oder einander widersprechen etc. Dennoch werden solche Versammlungen im Zeichen des Wissens, solche epistemischen Versammlungen, meist nicht im engeren Sinne als Teil eines Forschungsverfahrens betrachtet, sondern als Momente der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen begriffen, die auf andere Weise und an anderer Stelle gewonnen werden. Dabei spielen Praktiken wie das Vermitteln oder das Präsentieren von Wissen eine wichtige Rolle.

D AS W ISSEN DER V ERSAMMLUNG

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Da wir uns bereits damit beschäftigt hatten, wir sich das Präsentieren von Wissen als Forschungsvorhaben beschreiben lässt, (vgl. A-Z der transdisziplinären Forschung 2014: Präsentieren) bot uns dies einen ersten Ansatzpunkt, um auch das Versammeln als Forschen in den Blick zu nehmen: Aus performativer Perspektive ist die Präsentation von Wissen ein Prozess der Vergegenwärtigung und der Verkörperung, der nicht ohne Transformationen vonstatten geht. In der Dimension des Performativen verschwimmt daher die Grenze zwischen Lernen und Forschen, denn Wissen in neuer Weise zu verkörpern, birgt immer das Potenzial, nicht nur gegebenes Wissen zu reproduzieren, sondern auch neues Wissen zu generieren. (Vgl. Gergen/Gergen 2010) Dieser wissenspoietische Charakter der Präsentation lässt sich sowohl in experimenteller als auch in historischer Perspektive fokussieren. (Vgl. Peters 2011) Lecture performances, also Wissenspräsentationen, die mit ihrem performativen Charakter arbeiten, können ein Vortragsszenario gezielt als Forschungsszenario gestalten und auswerten. Dazu gehört auch die Versammlung eines bestimmten Publikums, die Praxis des Versammelns also – qua Einladung, Adressierung und Beteiligung. Parallel dazu lässt sich in wissenshistorischer Dimension zeigen, dass die Entwicklung einer neuen Episteme, wie bspw. die Entwicklung des naturwissenschaftlich-experimentellen Wissens, immer auch mit der Entstehung einer neuen Art von Öffentlichkeit und damit zugleich mit neuartigen Formen des Versammelns in Verbindung steht, etwa indem man die Zuschauerinnen und Zuschauer erstmals als Augenzeug_innen eines gezielt hervorgebrachten Geschehens adressiert und einbezieht. (Vgl. Shapin/Schaffer 1985)

»E IN Z USTAND

UNSERER , WELCHER WEISS .«

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive kann Kleists Text Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden als einer der wichtigsten Quellentexte gelten, wenn es darum geht, die Vergegenwärtigung von Wissen als Forschung zu beschreiben. (Vgl. Kleist 1966: 810ff.) Dabei handelt dieser Text, wie der Titel schon sagt, von dem vertrauten Phänomen, dass uns die Dinge, die wir wissen, ohne es zu wissen, erst einfallen, wenn wir versuchen, sie darzustellen. Auf den zweiten Blick erzählen die zahlreichen anekdotischen Beispiele, die Kleists Argumentation strukturieren, jedoch auch davon, dass dieser Prozess der allmählichen Verfertigung von Gedanken unmittelbar von der Konstellation der Anwesenden abhängig ist, davon also, wer jeweils redet und wer zuhört. Diese Konstellationen bringen bestimmte Rollen mit sich: Eine Prüfungskommission bspw. sieht den Prüfling potenziell als jemanden, die oder der nicht (genug)

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weiß, und ist daher dazu geeignet, den Prüfling in Verwirrung zu stürzen und schließlich zum Schweigen zu bringen. (Vgl. ebd.: 813) Demgegenüber erscheint eine vertraute Person, wie die Schwester oder auch die Magd, in Kleists Darstellung als ein Gegenüber, das die allmähliche Verfertigung von Gedanken beim Reden begünstigt. (Vgl. ebd.: 810f.) Dies hat, wie es scheint, wesentlich damit zu tun, welchen Platz die redende Person in der jeweiligen, unter Umständen sehr kleinen Versammlung einnimmt: Offenbar sind Schwester oder Magd auf die eine oder andere Weise eher dazu prädestiniert, den kleistschen Redner durch ihr Zuhören an den Platz der Person zu stellen, die weiß. Dass die Versammlung als solche dabei in der Tat eine wichtige Rolle spielt, zeigt der Gedankengang, den Kleist seinerseits im Zuge des Schreibens des Texts über die allmähliche Verfertigung verfertigt, denn im folgenden Absatz heißt es: »Mir fällt jener ›Donnerkeil‹ des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen auseinander zu gehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? ›Ja‹, antwortete Mirabeau, ›wir haben des Königs Befehl vernommen‹ – ich bin gewiß, daß er bei diesem Anfang noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloss: ›ja mein Herr‹, wiederholte er, ›wir haben ihn vernommen‹ – man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, was er will. ›Doch was berechtigt Sie‹ – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – ›uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.‹ – Das war es, was er brauchte! ›Die Nation gibt Befehle und empfängt keine‹.« (Ebd.: 811)

Als Modellbeispiel für die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden wird hier eine der wohl wichtigsten Szenen moderner Versammlungsgeschichte geschildert und gedeutet. Interessant ist, dass hier die Konstellation der Anwesenden zwar einerseits die Verfertigung der Gedanken ermöglicht, dass sie durch den entsprechenden Sprechakt aber auch verändert wird. Mirabeau geht eine Quelle ungeheurer Vorstellungen in dem Moment auf, in dem er die Versammlung, in der und aus der heraus er spricht, umdefiniert: Was zunächst eine über das Ende der monarchischen Versammlung hinaus im Sitzungssaal verweilende Ansammlung von Leuten ist, wird im Sprechakt des Mirabeau zur ersten Nationalversammlung der französischen Republik. Beides bedingt einander: Es ist nicht allein der Sprechakt des Mirabeau, der die Versammlung konstituiert, die Versammlung ist es zugleich, die Mirabeau zu diesem Sprechakt autorisiert, ihn zum Sprecher, zum Stellvertreter macht, ihn an den Platz der Person stellt, die

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die neue Wahrheit spricht. Kleist folgert: »Nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unserer, welcher weiß.« (Ebd.: 813) Für das Erreichen dieses signifikanterweise nicht allein ›mich‹, sondern immer schon ›uns‹ erfassenden Zustands ist – zumindest in der Anekdote vom »Donnerkeil des Mirabeau« (ebd.: 811) – die Dimension des Performativen in doppelter Hinsicht von Bedeutung; einmal im Sinne des performativen Sprechakts, der die Versammlung konstituiert, und einmal im Sinne der Versammlung als Verkörperung, die es als solche erst ermöglicht, sie als eine gewisse Körperschaft zu begreifen. In der zwischen beiden Zusammenhängen aufgespannten performativen Dimension des Versammelns werden die Beteiligten einer Versammlung allererst zum Wissen und Sprechen autorisiert. Für unsere Ausgangsfrage, ob und wie sich Versammeln als Forschen beschreiben lässt, lässt sich aus dieser Darstellung eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung ableiten: Damit das Versammeln als Forschen zu begreifen ist, muss es mit dem Ziel geschehen, sich und andere in jenen spezifischen Zustand zu bringen, in welchem wir wissen. Während nach gängiger Auffassung die an einer epistemischen Versammlung Beteiligten ihre unterschiedlichen Wissensstände in die Versammlung mitbringen, um sie hier miteinander auszutauschen und zu verknüpfen, ist es aus performativer Perspektive eine wechselseitige Beziehung zwischen Sprechakt und verkörperter Versammlung, die ausmacht, was hier jeweils als gewusst erscheinen und damit erkannt werden kann.

F ORSCHENDE

VERSAMMELN

Für die transdisziplinäre Forschung zwischen Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, also für Forschungsprojekte, an denen, je nach Forschungsfeld und -gegenstand, jeweils spezifische sogenannte Alltagsexpert_innen beteiligt sind, ist ein solches Verständnis von Wissen in der Tat von zentraler Bedeutung. Hinsichtlich der im Theater der Gegenwart weitverbreiteten Arbeit mit sogenannten Alltagsexpert_innen wird selten wahrgenommen, dass der Begriff ›Alltagsexpert_in‹ zunächst eine Art Oxymoron ist: Der Alltag kennt keine oder aber ausschließlich Expert_innen. Entscheidend für die Arbeit mit Alltagsexpertinnen und -experten ist daher, die entsprechenden Personen mit ihren Erfahrungen zunächst als Expert_innen für etwas Bestimmtes zu begreifen und sie in dieser Rolle anzusprechen. Die sogenannten Alltagsexpert_innen sind keineswegs von vornherein Expertinnen und Experten für ein bestimmtes Feld, sie werden vielmehr so bezeichnet, weil ihre Expertise eben nicht bereits durch gegebene gesellschaftliche und diskursive Rahmungen als Expertise erscheint oder gar be-

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glaubigt ist. Stattdessen ist es der Rahmen des Forschungsprojekts selbst, der sie als Expertinnen oder Experten für eine spezifische Forschungsfrage adressiert und einsetzt. Versammlungen mit solchen Expert_innen werden im Rahmen von transdisziplinären Forschungsprojekten also nicht einfach einberufen, um von einer gegebenen Expertise zu profitieren, sie müssen diese Expertise in der Art des Versammelns vielmehr erst als solche figurieren, müssen Rollen und Protokolle vorgeben, die es den Versammelten erlauben, in jenen ›Zustand unserer‹ zu kommen, ›der weiß‹. Dies umreißt in der Tat genau jene Praxis des Versammelns, die entsteht, wenn die performativen Künste sich mit epistemischen Versammlungen zu befassen beginnen. Ein prominentes Beispiel, an dem dies anschaulich werden kann, sind die Arbeiten Hannah Hurtzigs und der Mobilen Akademie, die mit ihrem Schwarzmarkt des Wissens ein Szenario erfunden und gestaltet haben, in dem bis zu 100 Personen aus Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft entlang eines gemeinsamen Themas zu Expert_innen ernannt werden. (Vgl. Mobile Akademie: 2005) Die performative Geste, die in dieser Anordnung steckt, ist zunächst die der Gleichstellung sehr unterschiedlicher Expertisen. Dabei sitzen die Expertinnen und Experten an jeweils einem kleinen Tisch und stehen hier für kurze Beratungsgespräche zur Verfügung. Auf diese Weise werden die versammelten, sehr heterogenen Expertisen im Protokoll der Beratung einheitlich formatiert. Dies ist gerade deshalb interessant, weil unter Umständen gerade die Expert_innen, deren Expertise gesellschaftlich bereits eindeutig beglaubigt ist, nämlich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, eine Übertragungsleistung erbringen müssen. Eignet sich ihr Wissen doch unter Umständen weniger zur persönlichen Beratung als das ihrer ›praktisch‹ tätigen Mitexpertinnen und -experten. In den Forschungsprojekten des Kollegs Versammlung und Teilhabe finden sich vergleichbare Beispiele, etwa ein von Inga Reimers veranstaltetes Dinner, das Expert_innen und Gäste zum Thema der nicht visuellen Wahrnehmung zusammenführt.2 Blinde, Volkskundler_innen, Reikilehrende geben dabei einander formal gleichgestellte Inputs – einheitlich formatiert im Genre der Tischrede. Versammeln als Forschen kann in diesem Kontext auch bedeuten, einen spezifischen Personenkreis in neuer Weise zu versammeln und damit zum Sprechen, Wissen, Urteilen zu autorisieren. So hat Elise v. Bernstorff unter dem Titel Das jüngste Gericht Jugendliche an der Schwelle zur Strafmündigkeit probeweise als eine Art Prüfungskommission im Amtsgericht versammelt, da die Schwellensi-

2

Vgl. dazu den Beitrag von Inga Reimers in diesem Band.

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tuation der Jugendlichen im Verhältnis zum Recht sie in gewissem Sinne zu idealen Prüferinnen und Prüfern unseres Rechtswesens macht.3 Damit eine Versammlung ihren Teilnehmenden aber so grundlegend andere, gesellschaftlich nicht vorformatierte Rollen und Protokolle eröffnen kann, mehr noch: Damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diese Rollen tatsächlich performen können, ist eine intensive Vorarbeit zu leisten. Zahlreiche Aspekte sind in dieser Praxis forschenden Versammelns zu bedenken, denn was am Ende als das Wissen der Versammlung zur Erscheinung kommt, hängt wesentlich davon ab, wer wie zum Wissen eingeladen, autorisiert und ermutigt wird, wie Wissen aufgerufen und bestätigt, missverstanden, verkörpert und reenacted wird, und zwar im Gebrauch von Schnittstellen zu anderen Versammlungen, im Gebrauch medialer Anordnungen der Aktualisierung und der Aufzeichnung, in der Performanz mehr oder weniger geteilter Rollenverständnisse, mehr oder weniger konfliktiver Strukturen der Stellvertretung und der Fürsprache und ganz unterschiedlicher diskursiver und imaginärer Rahmungen.4 Deshalb sind in Vorbereitung der Versammlung, Adressierungen, Medieneinsätze, Raumordnungen, Zeitordnungen, Requisiten/Dinge/Werkzeuge, Kleiderordnungen, Choreografien und dramaturgische Protokolle mit Bedacht zu entwickeln und aufeinander zu beziehen. (Vgl. Peters 2013) Hier lässt sich schließlich der Bogen zurück zur Akteur-Netzwerk-Theorie spannen. Denn in der Tat umfasst die performative Aufmerksamkeit, die aufgebracht werden muss, um eine Versammlung in dieser Weise als Forschung zu betreiben, ungefähr jenes Spektrum von Akteur_innen, menschlichen und nicht menschlichen, das auch in Akteur-Netzwerken verzeichnet wird. In der performativen Praxis des Versammeln gilt es, an bestehende Akteur-Netzwerke anzuschließen, sie aufzufinden, zu aktivieren und sichtbar zu machen; zugleich gilt es aber auch, das daraus sich ergebende Potenzial zu einer neuen, noch nicht dagewesenen Art der Versammlung zu nutzen. Ein Unterschied zwischen dieser Praxis forschenden Versammelns und dem von Latour geschilderten Zusammenhang zwischen Netzwerk, account und Versammlung lässt sich vor diesem Hintergrund ebenfalls fassen. Er findet sich auf der Ebene der prozessualen Anordnung, der zeitlichen Abfolge. Denn während es bei Latour der account, der Bericht, die Aufzählung des Gesammelten und darin Versammelten sind, die das Netzwerk zur Versammlung machen, ist es im Falle performativer Forschung

3

Vgl. dazu den Beitrag von Elise v. Bernstorff in diesem Band.

4

Zentral ist hier das von Jacques Rancière in seinem Buch Der unwissende Lehrmeister anhand der Praxis des Pädagogen Jacotot entwickelte Prinzip der Gleichheit der Intelligenzen. (Vgl. Rancière 2007)

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umgekehrt das Versammeln als solches, das den account als vielstimmige Rede und jeweils neue epistemische Praxis erst hervorbringt. Forschung zeigt sich dabei als eine Arbeit an den Voreinstellungen, die bedingen, was im Zuge einer Versammlung als Wissen zur Erscheinung kommen kann. Sie bringt neues Wissen nicht in erster Linie im Zuge der Erweiterung gegebenen Wissens, also der Ausweitung des Wissens, hervor, sondern indem sie Wissen anders als bisher kenntlich werden lässt. Während der account bei Latour – trotz aller Vernetzung – an ein klassisches Rollenverständnis anschließt und denjenigen als den eigentlichen Forscher auszeichnet, der den Bericht gibt, lässt sich das, was durch die Arbeit an den performativen Voreinstellungen als Wissen der Versammlung hervorgebracht wird, nicht mehr ohne Weiteres der Initiatorin oder dem Initiator der Versammlung als Autor_in zurechnen. Zugleich liegt es gewissermaßen in der Versuchsanordnung begründet, dass sich die Versammlungen, die auf diese Weise hervorgebracht werden, deutlich von den gängigen epistemischen Versammlungen im Namen der Wissenschaft unterscheiden. Interessanterweise lässt sich Versammeln also gerade dann als Forschen evident machen, wenn es Szenarien hervorbringt, die nicht dem Diskurs akademischer Forschung entsprechen, und damit gesellschaftlich als Vermittlung, Popularisierung, Bildung, Selbsterfahrung, bürgerschaftliches Engagement oder Freizeitvergnügen gelten. Versammeln als Forschen zu betrachten, ist vor diesem Hintergrund ganz wesentlich mit der Frage nach der Beziehung von Forschung und Teilhabe verknüpft. Obwohl immer öfter auch alltagssprachlich vom Forschen die Rede ist, wird die Forschung im Sinne der damit bezeichneten wissenschaftlichen Praxis diskursiv möglichst eindeutig abgegrenzt. Forschung distinguiert sich unablässig von Bildung, Politik, Kunst und v.a.: Anwendung. Ist diese starke und im Falle der Zuwiderhandlung auch sanktionierte Abgrenzung der Forschung eigentlich notwendig? Welchem Zweck dient sie, welche Motive treiben sie an? Und wann wird sie womöglich zum Forschungshindernis? Diese Fragen werden auch im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie intensiv diskutiert. Sie sollen daher im Folgenden erörtert werden, um die verschiedenen hier verfolgten Ansätze, Versammeln als Forschen zu begreifen, abschließend in einer wissenspolitischen Dimension zusammenzuführen.

V ERSAMMELN ALS P RAXIS W ISSENSCHAFT

EINER BETEILIGTEN

In seinem programmatischen Text From a World of Science to a World of Research argumentiert Bruno Latour, dass in dem Maße, in dem der Glaube an eine Wissenschaft schwindet, die gerade mittels ihrer Distanz zur gesellschaftlichen

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Praxis funktioniert und mittels Abstraktion übergeordnete Lösungsansätze für unterschiedlichste Probleme erarbeiten kann, die Bedeutung des Erfahrungswissens wächst. (Latour 1998) Um den gegenwärtigen Herausforderungen in puncto Technikfolgen oder Nachhaltigkeit, Medizin oder auch Stadtplanung wirksam zu begegnen, müssen, so Latour, wissenschaftliche Verfahren und die Expertise derjenigen, die im fraglichen gesellschaftlichen Feld tätig sind, eng ineinandergreifen. Die kategoriale und institutionelle Trennung zwischen Forschung einerseits und Anwendung andererseits erweist sich demzufolge immer mehr als ein Hindernis, das die Forschung in ganz unterschiedlichen Bereichen erschwert. Warum also an ihr festhalten? Bei näherer Betrachtung erweist es sich als hochambivalent, die Grenze zwischen universitärer Forschung und gesellschaftlicher Anwendung infrage zu stellen. Denn Bedenken erwachsen nicht zuletzt aus einer historischen Perspektive: In Reaktion auf die Unterwerfung der deutschen Wissenschaften unter die nationalsozialistische Herrschaft schrieb Robert Merton 1942 seine berühmte Note on Science and Democracy (Merton 1942). In diesem Text, der auch als United Nations Charter for Freedom in Science bezeichnet wird, formuliert Merton Imperative für die Freiheit der Wissenschaften und damit zugleich Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis: Universalismus und Unparteilichkeit – wissenschaftliche Thesen sind unabhängig von Rasse, Klasse, Nation, Religion, Geschlecht etc. zu beurteilen; Kommunismus – gemeint ist damit, dass wissenschaftliche Erkenntnis prinzipiell allen zugänglich zu machen und mit diesem ziel maximal transparent zu halten ist; und Skeptizismus – in seiner systematischen, organisierten und körperschaftlich sanktionierenden Form. Zu Mertons Zeit schien es, als könnten diese entscheidenden Merkmale wissenschaftlicher Praxis nur garantiert werden, indem die Forschung in wesentlichen Punkten von der Gesellschaft losgelöst und isoliert, also gezielt unabhängig gemacht würde. In der Einführung zu dem kürzlich erschienenen Sammelband Wissenschaft und Demokratie erläutert Michel Hagner das folgendermaßen: »Sobald sie [die Wissenschaftler] zu sehr mit der Gesellschaft in Berührung kommen – sei es mit Politikern, Journalisten oder interessierten Bürgern, droht Gefahr, weil mit der Aufwertung der Laien andere als rein wissenschaftliche Werte ins Spiel kommen, die zum ›Missbrauch von Fachautorität und der Schaffung von Pseudowissenschaft‹ führen«. (Hagner 2012: S. 50)

Nicht nur während des Zweiten Weltkriegs, auch in den 1960er-Jahren ist diese Auffassung weiterhin wirksam; wichtige Wissenschaftstheoretiker wie Thomas Kuhn und Karl Popper betrachten es als eine ihrer zentralen Aufgaben, Unter-

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scheidungskriterien zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft zu entwickeln. (Vgl. ebd.) Und selbst die Demokratiebewegungen innerhalb der Universität, die Universitätsreformen der 70er-Jahre, halten in kämpferischem Gestus an der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, an der Universität als einer Heterotopie fest, die zur Gesellschaft kritische Distanz halten muss. Dabei ist all diesen wohlbegründeten und ganz unterschiedlichen Abgrenzungsbemühungen der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts, wie mir scheint, eine gemeinsame Vorannahme inhärent, der zufolge die wissenschaftliche Praxis durch ihre Prinzipien, man könnte vielleicht auch sagen: durch die Regeln ihres Versammelns und ihrer Versammlungen, der umgebenden Gesellschaft tendenziell überlegen ist – und zwar nicht erst in Hinsicht auf das von ihr produzierte Wissen, sondern schon in Hinsicht auf die Merkmale ihres Versammelns – universalistisch, unparteilich, kommunistisch/teilbar/transparent und skeptizistisch – die das Wissen als solches qua Verfahren erst fundieren. Wissenschaftliche Praxis scheint sich damit ihrer Beziehung zur Demokratie zugleich zu versichern und zu entziehen, denn sie begründet ihre Isolation, ihr Sich-Unterscheiden von der Gesellschaft gerade mit ihren demokratischen Tugenden und verspricht, diese Tugenden – quasi in Stellvertretung, um nicht zu sagen Vormundschaft der Gesellschaft – der Wissensproduktion zugrunde zu legen. Dies ist in der Tat eine vergleichsweise gute und erfolgreiche Strategie, solange die Gesellschaft im Hinblick auf ihren demokratischen Charakter als defizitär angesehen werden muss. Das mag auch heute noch der Fall sein, zumal wenn der Kampf um die Ressourcen von Forschung in Auseinandersetzung mit neoliberaler Ideologie geführt werden muss. Dennoch gilt es, sich der entscheidenden Frage zu stellen: Was wäre denn – im Unterschied zu dieser Tradition – eine demokratische Wissenschaft inmitten einer demokratischen Gesellschaft? Gabriel de Tarde, ein Wissenschaftler der vorvergangenen Jahrhundertwende, versuchte, die Wissenschaft der Ökonomie als eine Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen zu reformulieren – im Widerspruch zu Adam Smiths invisible hand (vgl. Latour/Lépinay 2010). Interessanterweise argumentiert Tarde in diesem Zusammenhang strategisch. Er sagt, in der Abfassung seiner den Diskurs der ökonomischen Wissenschaft begründenden Schrift über den Wohlstand der Nationen hätte Adam Smith politisch keine andere Wahl gehabt. Er hätte die Ökonomie als ein objektives System, d.h. als unbeteiligte Wissenschaft objektiv gegebener Gesetzmäßigkeiten entwerfen müssen, weil ihn nur dies an einen Platz stellte, von dem aus er die Herrschenden seiner Zeit adressieren und ihnen zurufen konnte: ›Setzt auf die Wissenschaft, statt auf die Autokratie!‹ So gesehen erscheint die unbeteiligte Wissenschaft als eine politische Notlösung, die

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nachvollziehbar ist, aber zugleich auch die Ergebnisse der Forschung deutlich verfälscht und bspw. zu postsakralen Figurationen wie der invisible hand verführt. Nehmen wir also an, eine demokratische Wissenschaft sei im Unterschied dazu eine Wissenschaft, die sich nicht mehr als unbeteiligt und selbstgesetzmäßig stilisieren muss; sie wäre stattdessen eine offensiv beteiligte Wissenschaft. In der Tat ist die beteiligte Wissenschaft heute längst alltäglich geworden – im Guten wie im Schlechten. Längst geht es nicht mehr darum, das Ob dieser Beteiligung zu diskutieren, sondern darum, ihr Wie differenziert zu erstreiten, zu bedenken und neu zu profilieren. In dem Versuch, eine prinzipiell unbeteiligte Wissenschaft in eine real beteiligte Wissenschaft zu transformieren, ist häufig von Wissenstransfer die Rede. Scheint es doch darum zu gehen, das unbeteiligt gewonnene Wissen in einem zweiten Schritt wieder an den Kontexten, auf die es referiert, zu beteiligen. (Vgl. Mayntz et al. 2008) Doch was, wenn sich die Wissenschaften am Ende nur bedingt als Wissensdienstleisterinnen für andere gesellschaftliche Zusammenhänge eignen? Was, wenn Wissen als beteiligtes Wissen weniger transferiert, als geteilt werden müsste? Dann sollten die beteiligten Wissenschaften mit der Beteiligung beginnen und nicht erst ihre Produkte, sondern bereits ihren Forschungsauftrag mit anderen teilen. Die Versammlung der Universitätsangehörigen wäre dabei dafür zuständig, den anderen Forschungsbeauftragten die Annahme ihres Forschungsauftrags allererst zu ermöglichen. Dafür müssten neue Arten von Versammlungen einberufen werden, dafür wären Verfahren zur Verfügung stellen, Forschungs-Set-ups zu designen, Räume, Zeiten, Menschen und Medien wären aufzubieten, Moderationen, Deutungen, Aufzeichnungen und Visionen wären gefragt, um auf diese Weise das Wissen der Versammlungen allmählich zu mehren. Wahrheit, so liest man in Texten über Wissenschaft und Demokratie immer wieder, sei nun einmal keine Mehrheitsentscheidung. Dennoch erleben wir zurzeit gerade dies – das Verblassen dieser Evidenz. Vielleicht nicht im Namen der Mehrheit, vielleicht eher im Namen der Vielen, demgegenüber das ›im Namen von‹ der alten Allianz von Staat und Wissenschaft an Kraft verliert. Denn die Wahrheit sprechen heute in der Tat gerade diejenigen, denen es gelingt, Teil eines komplexen und wirksamen Gefüges aus Menschen, Dingen, Institutionen und Diskursen zu werden und als Teil dieses Gefüges so zu sprechen, dass die Versammelten ihren Worten Evidenz verleihen, sie mitverkörpern und mitperformen. Die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts bleibt dabei Warnzeichen und lehrt, dass es dabei niemals ums Ganze gehen kann, und sicher nicht ums Ganze der Forschung, sondern immer en détail um das Wie, das Was, das

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Wer, Wann, Wo, Wohin forschenden Versammelns, und darum, der Vorstellung zu widerstehen, man hätte hier jemals den Überblick oder das Sagen über die Multituden des Wissens.

L ITERATUR -

UND QUELLENVERZEICHNIS

A-Z der transdisziplinären Forschung/Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe (2014): Präsentieren, online auf: http://www.versammlung-undteilhabe.de/az/index.php?title=Präsentieren (letzter Zugriff am 01.02.2014). A-Z der transdisziplinären Forschung/Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe (2014): Home, online auf: http://www.versammlung-und-teil habe.de/az/index.php?title=Hauptseite (letzter Zugriff am 01.02.2014). Gergen, Mary M./Gergen, Kenneth J. (2010): Performative Sozialwissenschaft, in: Günter Mey/Katja Mruck (Hg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Heidelberg, S. 358-366. Hagner, Michael (Hg.) (2012): Wissenschaft und Demokratie, Frankfurt a.M. Kleist, Heinrich von (1966): Werke in einem Band, hg. v. Helmut Sembdner, München. Ladnar, Daniel/Pilkington, Esther (2013): Die Kunst des Nicht-da-Seins, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld, S. 187-223. Latour, Bruno (1998): From the World of Science to the World of Research?, in: Science 280, S. 208-209. Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, New York. Latour, Bruno/Lépinay, Vincent (2010): Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen: Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes, Berlin. Mayntz, Renate/Neidhardt, Friedhelm/Weingart, Peter/Wengenroth, Ulrich (Hg.) (2008): Wissensproduktion und Wissenstransfer: Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld. Merton, Robert K. (1942): A Note on Science and Democracy, in: Journal of Legal and Political Sociology 1, S. 115-126. Mobile Akademie (2005): Ohne Titel, online auf: http://www.mobileacademyberlin.com/deutsch/2005/schwar zm.html (letzter Zugriff am 01.02.2014). Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance, Bielefeld.

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Peters, Sibylle (2013): THE ART OF BEING MANY. Zur Entstehung einer Kunst der Versammlung im Theater der Gegenwart, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld, S. 167-187. Rancière, Jacques (2007): Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien. Schaffer, Simon/Shapin, Steven (1985): Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton.

»Die kennen das doch gar nicht.« – Öffentlichkeitskonzepte im Spiegel eines lokalen Onlinevideowettbewerbs D OROTHEA G RIESSBACH

›Dreht euer Ding – über Billstedt-Horn‹, so lautete die Losung eines lokalen Videowettbewerbs in Hamburg, der sich v.a. an Jugendliche einer marginalisierten Stadtregion richtete. Der Wettbewerb lief nur schleppend an, worauf mit einer Verlängerung des Einsendeschlusses reagiert wurde. ›Poste das Video auf Youtube und schicke den Link bis zum 17.03.2013 an uns‹, war schließlich in dem letzten Aufruf zu lesen. Der Wettbewerb Best of Billstedt-Horn, so der offizielle Titel, war als Onlinewettbewerb konzipiert, d.h., wer daran teilnehmen wollte, musste seinen Beitrag auf der Videointernetplattform veröffentlichen. Die Öffentlichkeit im Sinne eines Publikums war somit von Anfang miteinbezogen, genauso wie die Öffentlichkeit als ein Raum, als eine Sphäre, in der eine Veröffentlichung – hier die Videos – Wirkung zeigen sollte. Doch welche Konzepte von Öffentlichkeit lagen dem Wettbewerb zugrunde bzw. welche Erwartungen und Interessen im Hinblick darauf, Öffentlichkeit zu erreichen, trafen hier aufeinander? An dem Wettbewerb waren Akteurinnen und Akteure beteiligt, die sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen heraus mit entsprechend unterschiedlichen Erwartungen und Interessen engagierten. Initiiert und durchgeführt wurde der Wettbewerb vom Bezirksamt Hamburg-Mitte, das dafür von einer Hamburger PR-Agentur unterstützt wurde. In einer Mittlerfunktion waren Personen aktiv, die in den Stadtteilen als Multiplikator_innen eingebunden sind, weil sie bspw. in Schulen oder Vereinen tätig sind. Und schließlich gab es auch noch die beteiligten Videomacher und -macherinnen selbst. Im Rahmen meines Forschungsprojekts über Internetvideos aus den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn erfuhr ich von dem Wettbewerb. Im Sinne

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eines studying up, down and sideways1 nahm ich Kontakt zu den am Wettbewerb Beteiligten auf. Konkret waren dies Personen aus dem Fachamt Stadt- und Landschaftsplanung des Bezirksamts Hamburg-Mitte, Personen aus einem Verein, der stadtteilbezogene Arbeit in Billstedt leistet, und Jugendliche, die einer dort eingebundenen Mediengruppe angehören. Ab September 2012 besuchte ich, ausgerüstet mit einer kleinen Videokamera, regelmäßig die Treffen der Mediengruppe und lernte durch teilnehmende Beobachtung die Perspektive der Jugendlichen sowie den stadtteilbezogenen Kontext kennen. Parallel zu den Begegnungen mit den Jugendlichen führte ich Interviews mit Verantwortlichen in mehreren Billstedter Vereinen und Kultureinrichtungen, mit Videomacherinnen und -machern, die nicht der Mediengruppe angehören, sowie mit Personen, die in einer Hamburger PR-Agentur arbeiten und von der Behörde beauftragt waren, die Werbekampagne für den Wettbewerb und seine Durchführung zu übernehmen.

A SPEKTE

VON

Ö FFENTLICHKEIT

In modernen Gesellschaften sind ›Öffentlichkeit‹ und ›öffentliche Meinung‹ zentrale Begriffe, da sie für Demokratien konstituierende Größen darstellen.2 Mit seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit entwarf Jürgen Habermas 1962 ein wirkmächtiges, aber auch vielfach kritisiertes Konzept einer ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹, das normative Gültigkeit beansprucht. Demnach lässt sich die ›bürgerliche Öffentlichkeit‹ »vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen«, die historisch über den Weg der »Publizität« schließlich Herrschaft infrage stellen und unterlaufen kann. Eine wesentliche Rolle nimmt dabei »das öffentliche Räsonnement« (Habermas 1990: 86) ein, das sich im vernunftgeleiteten Argumentieren und Diskutieren politisch und gesell-

1

Dieser transformatorisch-dialogische Forschungsansatz wurde in der kritischen feministischen Ethnologie von Joke Shrijvers entwickelt. (Schönhuth 2002:XVI) Gemeint ist damit ein Blick, so Michael Schönhuth, der über den engen zu erforschenden Zusammenhang hinausgeht (der meist einem studying down entspricht) und auch die gesellschaftlichen Schnittstellen (studying sideways) sowie die den Zusammenhang dominierenden Machtinstanzen und ihre Akteurinnen und Akteure (studying up) mit einbezieht.

2

Zur Unschärfe des Begriffs ›Öffentlichkeit‹ vgl. u.a. Habermas 1990: 54; Gerhards/ Neidhardt 1990: 3. Bei Hans Jörg Sandkühler ist darüber hinaus nachzulesen: »Das Wort Öffentlichkeit hat weder eine eindeutige Bestimmung noch sind die verschiedenen Bedeutungen miteinander zusammenhängend. Allgemein gesprochen bezieht es sich auf die ›öffentliche Dimension‹«. (Sandkühler 2010: 1838)

»D IE KENNEN DAS DOCH GAR NICHT .«

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schaftlich relevanter Themen in der öffentlichen Sphäre einstellt und schließlich eine ›öffentliche Meinung‹ herausbildet. (Ebd.: 323) Zur Sphäre der ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ als Errungenschaft der Aufklärung haben zumindest theoretisch alle Zugang und können dort die Stimme erheben. Ein zu idealisiertes Bild von einer bürgerlichen Öffentlichkeit entworfen zu haben, das wenig Raum für Heterogenität lasse bzw. verkenne, dass mit diesem Konzept längst nicht alle gesellschaftlichen Bereiche und Personen eingeschlossen seien, so lauteten entscheidende Einwände, denen Habermas im Vorwort der Neuauflage seiner Studie kritisch begegnete.3 Zugleich gesteht er seinem Konzept genügend integrative Kraft zu, um die Einwände zu entkräften. Der ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ spricht Habermas »ein Potential der Selbsttransformation« zu, denn sie artikuliere sich »in Diskursen, an die sich nicht nur die Arbeiterbewegung, sondern auch das von ihr ausgeschlossene ›Andere‹, also die feministische Bewegung anschließen konnte, um sie – und die Strukturen der Öffentlichkeit selbst – von innen zu transformieren.« (Habermas 1990: 20) Die Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt beschreiben ›Öffentlichkeit‹ als ein »offenes Kommunikationssystem«, das sich nicht wie eine scheinbar homogene Größe wie die ›bürgerliche Öffentlichkeit‹ gestaltet, sondern das sich als eine »weitgespannte und diffuse Größe« und »eine Vielzahl kleiner und großer Foren, die nur teilweise miteinander vernetzt sind«, auszeichnet. (Gerhards/Neidhard 1990: 19) Den Massenmedien als Akteuren wird dabei eine gewichtige Rolle beigemessen. Dass »die Zugangschancen zur öffentlichen Kommunikation immer stärkerem Selektionsdruck ausgesetzt« seien und die »durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte und beherrschte Öffentlichkeit […] sich zu einer vermachteten Arena« ausgewachsen habe, unterstreicht auch Habermas. (Habermas 1990: 28) Mit dem Aufkommen von allgemein zugänglichen Internetplattformen wie bspw. Youtube, auf welchen alle mit Zugang zu

3

Ein Konzept der »Gegenöffentlichkeiten« entwarfen zehn Jahre nach Erscheinen von Strukturwandel der Öffentlichkeit Alexander Kluge und Oskar Negt in ihrer Publikation Öffentlichkeit und Erfahrung (Kluge/Negt 1972). 1990 forderte Nancy Fraser in ihrem viel beachteten Aufsatz Rethinking the Public Sphere nicht von Öffentlichkeit, sondern von Öffentlichkeiten zu sprechen und erläuterte, dass Habermas’ Trennung von privat und öffentlich zu kurz greife und ausschließende Tendenzen verstärke. Im Vorwort der Neuauflage räumt Habermas ein, dass »die wachsende feministische Literatur unsere Wahrnehmung für den patriarchalischen Charakter der Öffentlichkeit selbst geschärft« hat und der Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit, »anders als der Ausschluß der unterprivilegierten Männer […] eine strukturbildende Kraft« habe. (Habermas 1990: 17ff.)

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Computer und Internet veröffentlichen und Botschaften senden können, wird ›Öffentlichkeit‹ erweitert.4 »Vollzieht sich in unserer Mediengesellschaft erneut ein Strukturwandel der Öffentlichkeit […]?«, wirft Jürgen Habermas in seiner Rede anlässlich einer Preisverleihung (Habermas 2006) als Frage auf und er sieht Gefahren in der von Medien und Internet gestalteten Öffentlichkeit, die die plakative Selbstdarstellung von Akteurinnen und Akteuren stärkt und den Raum für einen kritischen Diskurs, der gesellschaftsrelevante Themen behandelt und in welchem Argumente zählen, verengt. Obwohl Habermas schätzt, dass »Öffentlichkeit […] inklusiver, der Austausch intensiver geworden« ist »denn je zuvor« (ebd.), zeigt er sich zugleich als Warner vor einer daraus folgenden Schwächung von Öffentlichkeit. Die neuen Zugangsmöglichkeiten zur Öffentlichkeit, die das Internet bietet, können »je nach Perspektive als Pluralisierung oder aber als Fragmentierung und Zersplitterung« (Schmidt 2011: 98) gedeutet werden. Verfechter_innen der Pluralisierung erkennen in dieser Entwicklung eine Chance, auch Stimmen und Themen Öffentlichkeit zu verschaffen, die bislang kaum oder keinen Zugang dazu hatten, während jene, die die Fragmentierungsthese vertreten, vor den Gefahren einer Zersplitterung der Themen und Diskurse und damit vor dem Verlust allgemeiner Relevanz und eines allgemein geteilten Wissens warnen. (Ebd.) Aus der Perspektive der Pluralisierungsthese zeigt sich die Erweiterung der Öffentlichkeit, zu welcher entscheidend Digitalisierung, Demokratisierung der Produktionsmittel und die Entwicklung von Internetplattformen wie Youtube beigetragen haben, vielgestaltig. Die Erweiterung lässt die Trennlinie zwischen öffentlich und privat durchlässig werden bzw. verschiebt diese Linie. Von privatisierter »Öffentlichkeit«5 oder vom »semi-public space of the Internet« (Pauwels 2008, zitiert nach Wahlberg 2009: 225)6 ist die Rede. Im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken bezeichnet der Ethnologe Daniel Miller ›Öffentlichkeit‹, die Facebook repräsentiert, eher […] »[als] eine Zusammenballung zahlloser Privatsphären« (Miller 2012: 153) und am Beispiel globaler Protestbewegungen beschreibt Marion Hamm das Entstehen eines neuen Kommunikationsraums, der sich aus Websites und -foren sowie lokal verorteter Treffen gestaltet

4

Öffentlichkeits- und Partizipationsaspekte der Onlineplattform Youtube werden von

5

Am Beispiel der Medienwirklichkeit Italiens während der Regierungszeit von Silvio

Jean Burgess und Joshua Green (Green/Burgess 2009) facettenreich dargestellt. Berlusconi beschreibt Klaus Neundlinger die »privatisierte Öffentlichkeit« (Neundlinger 2005: 157) als ein Phänomen, das keinen Raum für politischen Diskurs lasse. 6

Luc Pauwels bezeichnet damit eine halb öffentliche Sphäre, in welcher bspw. Familienfotos via Internet zirkulieren.

»D IE KENNEN DAS DOCH GAR NICHT .«

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und in dem »permanent Öffentlichkeiten produziert« werden, »die nicht mehr trennen zwischen ›wirklich‹ und ›virtuell‹« (Hamm 2005: 176). Für den Videowettbewerb Best of Billstedt-Horn ist neben dem Konzept der habermasschen bürgerlichen Öffentlichkeit, v.a. das Konzept der ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ von Interesse, das Jan Schmidt in seiner deskriptiven Analyse des ›Social Web‹ ausarbeitet. (Schmidt 2011) Mit persönlichen Öffentlichkeiten bezeichnet Schmidt »das Geflecht von online zugänglichen kommunikativen Äußerungen zu Themen von vorwiegend persönlicher Relevanz« und sieht das Entstehen persönlicher Öffentlichkeiten »an denjenigen Stellen im Netz, an denen Nutzer sich mit eigenen Interessen, Erlebnissen, kulturellen Werken oder Meinungen für ein Publikum präsentieren, ohne notwendigerweise gesellschaftliche Relevanz zu beanspruchen.« (Ebd.: 107)

D ER O NLINEVIDEOWETTBEWERB B EST OF B ILLSTEDT -H ORN Im Herbst 2012 rief das Bezirksamt Hamburg-Mitte zum Videowettbewerb Best of Billstedt-Horn auf, der sich v.a. an Jugendliche aus den Stadtteilen Billstedt und Horn im Hamburger Osten richtete. ›Was ist smart an Billstedt und Horn? Dreht Euer Video über Billstedt-Horn: Die besten Orte, die tollsten Typen und besondere Geheimtipps‹, forderte der auf Plakaten, Flyern und mittels Social Media verbreitete Slogan auf. Der Wettbewerb war als Onlinecontest konzipiert und die Teilnahme unter Einbezug der Internetplattform Youtube einfach. Des Weiteren war in dem Wettbewerbsaufruf zu lesen: »Filme mit Deiner Handyoder Digitalkamera. Dein Film sollte maximal 1,5 Minuten lang sein.«7 Als Hauptgewinn sollte ein Smartphone zum Mitmachen anregen, für den zweiten bis achten Preis waren Kinogutscheine vorgesehen. In den Stadtteilen Billstedt und Horn führte kaum ein Weg an dem Wettbewerb vorbei, denn die Flyer und Plakate warben an Schulen, in Häusern der Jugend, in sozialen und kulturellen Einrichtungen. Online wurde der Aufruf über Websites, Internetverteiler und Social Media vertrieben. Trotz der umfangreichen Werbekampagne musste der Abgabetermin jedoch zweimal verschoben werden, weil zu wenige Videos eingereicht worden waren. Teilnehmen konnten jeder und jede, wenngleich die Formulierungen im Ausschreibungstext sich v.a. an ein jugendliches Zielpublikum richteten. Ein Video

7

In der Onlineversion des Flyers ist zusätzlich der Hinweis »Jeder kann mitmachen von jung bis alt« vermerkt. (Vgl. http://billstedt-horn.hamburg.de/bestofbillstedthorn/ (letzter Zugriff 13.11.2013)

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galt als eingereicht, wenn es vorher auf Youtube veröffentlicht und der Link dem Wettbewerbskomitee mitgeteilt worden war. Auf dem eigens für den Wettbewerb eingerichteten Youtubekanal ›bestofbillstedthorn‹ waren nach Ablauf der letzten Frist 15 Videos verlinkt – zwei waren von den Wettbewerbsinitiatorinnen als Werbeclip und Beispielsvideo selbst initiiert bzw. produziert und 13 Videos waren als Wettbewerbsbeiträge eingereicht worden.8 Hinter drei der eingereichten Videos standen Vereine, die sich für Jugend- und Sozialarbeit im Stadtteil Billstedt engagieren und den Videowettbewerb als Forum dafür wahrnahmen, ihre Einrichtung bzw. ihre Arbeit mit Jugendlichen der Öffentlichkeit vorzustellen. Weitere drei Videos thematisierten Straßenszenen und Fahrten durch die Stadtteile und wurden von Privatpersonen realisiert. Fünf Videos – allesamt eingereicht von einer Teilnehmerin – verwiesen auf Kulturevents im Stadtteil Horn. Ein Video eines jugendlichen Rappers kommentierte das negative Image Billstedts, indem es die positiven Seiten betonte. Ein weiteres Video ließ die Öffentlichkeit atmosphärisch an einer familiären Unternehmung, nämlich Schlittenfahren im Park, teilhaben. Die meisten Videos setzten auf die Kraft des Bildes und verwendeten die Tonebene illustrierend. Auf Argumente und sprachliche Informationen – sei es durch das gesprochene Wort oder Schrift – wurde bis auf wenige Ausnahmen verzichtet. Hinter einem großen Teil der eingereichten Videos standen erwachsene und keine jugendlichen Videomacherinnen und -macher. Die von den Initiatorinnen erhofften ›besten Orte, tollsten Typen und besondere Geheimtipps‹ fanden sich in den Einsendungen kaum.

D IE A KTEUR _ INNEN UND IHRE W AHRNEHMUNG VON DEN S TADTTEILEN : DIE B EHÖRDE Der Wettbewerb Best of Billstedt-Horn wurde vom Fachamt Stadt- und Landschaftsplanung, das dem Bezirksamt Hamburg-Mitte angegliedert ist, veranstaltet. Der Sitz des Fachamts befindet sich in der Hamburger Innenstadt. Von dort werden stadtplanerische Belange u.a. der Stadtteile Billstedt und Horn, die im Osten der Stadt – bzw. im Fall von Billstedt am Stadtrand – liegen, geregelt. Die Hamburger Stadtteile Billstedt und Horn entsprechen zusammen mit ca. 105.000 Einwohner_innen der Größe einer Kleinstadt. Die beiden Stadtteile gelten als Regionen mit erheblichem Entwicklungsbedarf und zeichnen sich durch Heterogenität der hier wohnenden Menschen und der Bebauung aus. Die sozioökonomischen Daten der Stadtteile verweisen auf eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit und eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Sozialleistungsemp-

8

http://www.youtube.com/bestofbillstedthorn (letzter Zugriff am 18.03.2013).

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fänger_innen.9 Um die Situation in Billstedt und Horn zu verbessern, wurden nach einem Beschluss des Hamburger Senats im Dezember 2005 die Stadtteile als »Entwicklungsraum Billstedt/Horn« in das Programm Aktive Stadtteilentwicklung aufgenommen.10 Seit 2008 liegt ein Entwicklungskonzept vor, das für die Bereiche Soziales, Bildung, Wohnqualität, Kultur etc. Verbesserungen in den Stadtteilen vorsieht und das vom Bezirksamt Hamburg-Mitte verantwortet wird.11 Das Straßenbild des Stadtteils Billstedt, in dem sowohl der Verein und die Mediengruppe als auch die Videoakteurinnen und -akteure beheimatet sind, die in diesem Artikel vorgestellt werden, ist durch Siedlungen mit Einzelhäusern, Doppel- und Reihenhausanlagen sowie durch Großsiedlungen mit Sozialwohnungen aus den 1960er- und 1970er-Jahren geprägt. Für die Großsiedlungen wurden im Volksmund bald Namen wie ›Mau-Mau‹-Siedlung, ›Sing Sing‹ oder ›Tal der Gesetzlosen‹ erfunden. Stereotype Vorstellungen von der Gefährlichkeit der Stadtteile, die jedoch keiner Überprüfung standhalten, kursieren.12 Der Eindruck drängt sich auf, dass die Stadtteile Billstedt und Horn als ›das andere‹13 gelten, zumal einzelne Straßenzüge in Billstedt in der lokalen Presse wiederholt zu den ›gefährlichsten Straßen Hamburgs‹ erklärt wurden.14 Im März 2012 lief

9

Die entsprechenden Zahlen sind nachzulesen auf: http://www.hwf-hamburg.de/contentblob/2633578/data/stadtteil-profile.pdf (letzter Zugriff am 27.12.2012).

10 Basisinformationen mit Stand vom Mai 2006 sind im Hamburgischen Stadtteilentwicklungsprogramm Aktive Stadtteilentwicklung nachzulesen. Dieses findet man online auf der Seite: http://www.infoente.de/download/Info-Entwicklungsraum-BillstedtHorn.pdf (letzter Zugriff am 06.11.2013). 11 Das Konzept ist online einsehbar: http://www.billstedt-horn.hamburg.de/bestofbill stedthorn/Entwicklungskonzept/ (letzter Zugriff am 27.12.2012). 12 Der Stadtteilatlas der Hamburger Polizei verzeichnet für 2011 einen leichten Rückgang der Straftaten in den Stadtteilen Billstedt und Horn, aber eine Zunahme bspw. in den Stadtteilen St. Pauli und St. Georg, die im Innenstadtbereich liegen: http://www. hamburg.de/contentblob/3315308/data/stadtteilatlas-pks-2011-do.pdf (letzter Zugriff am 27.12.2012). 13 In der Einleitung zu Soziale Brennpunkte sehen? macht Peter Niedermüller auf die Problematik der Stigmatisierung von Stadtteilen und der dort wohnenden Menschen aufmerksam. (Niedermüller 2004: 6ff.) 14 Am 28.10.2012 bspw. listete die Hamburger Morgenpost »Hamburgs gefährlichste Straßen«, u.a. in Billstedt, auf: http://www.mopo.de/polizei/-ueberfaelle--schlae gereien--messer-attacken-das-sind-hamburgs-gefaehrlichste-strassen,7730198,20730 212.html (letzter Zugriff am 15.08.2013).

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die ARD-Reportage kiffen, klauen, zustechen, die die Hamburger Zivilfahndung bei ihrer Arbeit im Stadtteil Billstedt begleitete.15 Ebenfalls im Frühjahr 2012 warb eine Hamburger Tageszeitung mit der Wortkreation »Killstedt« für eine Stadtteilserie.16 Dies zog den Unmut zahlreicher Billstedter_innen auf sich, die sich persönlich von der implizierten negativen Zuschreibung wie ›Killstedt‹ angegriffen fühlten.17 Treffend beschreibt der Soziologe und Ethnologe Pierre Bourdieu den Außenblick auf marginalisierte Stadtteile anhand von Paris: »Wenn heutzutage von ›problematischen Banlieues‹ oder ›Ghettos‹ die Rede ist, so wird hierbei fast automatisch nicht etwa auf Wirklichkeiten Bezug genommen, die ja ohnehin jenen, die am eilfertigsten hierüber das Wort ergreifen, weitgehendst unbekannt sind. Vielmehr sind hier Phantasmen angesprochen, die seitens Sensationspresse, Propaganda oder politischer Gerüchte mit emotionalen Eindrücken genährt werden, die mit mehr oder weniger unkontrollierten Begriffen und Bildern aufgeladen sind.« (Bourdieu et al. 2008: 159)

Den von Bourdieu bezeichneten »unkontrollierten Begriffen und Bildern« wollte auch der Videowettbewerb, der im Kontext des Stadtteilentwicklungsprogramms angesiedelt war, begegnen. Eine der Initiatorinnen des Wettbewerbs war eine Gebietskoordinatorin des Entwicklungsraums Billstedt-Horn.18 Die Idee zu einem Videowettbewerb, so die Koordinatorin, gab es schon länger. Anlass seien die negativen Bilder gewesen, die in der Öffentlichkeit zu Billstedt und Horn

15 http://www.ndr.de/regional/hamburg/billstedt129.html (letzter

Zugriff am 27.12.

2012). 16 Hintergrund des viel zitierten ›Killstedt‹ ist eine Werbung des Hamburger Abendblatts, die sich hintersinnig zeigen wollte, denn auf das schlagzeilengroße »Killstedt?« folgte als in kleinerer Type gesetzte Unterzeile: »Was Billstedt wirklich ausmacht.«: http://www.geschichtswerkstatt-billstedt.de/pages/killstedt.php (letzter Zugriff am 07.11.2013). 17 Als ein Beispiel für den Protest der Billstedter Bürgerinnen und Bürger sei ein Offener Brief an den Intendanten des NDR, unterzeichnet von Vertreterinnen und Vertretern der CDU Billstedt, SPD Billstedt, der GRÜNEN, der FDP und des Billstedter Bürgervereins, vom 27.07.2012, genannt. Er ist hier nachzulesen: http://www.gruenemitte. com/2012/07/27/offener-brief-an-den-intendanten-des-ndr-lutz-mormor/ (letzter Zugriff am 10.05.2013). 18 In dem Artikel verzichte ich auf die Nennung der Namen, da es sich hier um eine noch nicht abgeschlossene Feldforschung handelt.

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kursierten und durch Presse und Internet verstärkt würden. Wenn man auf Youtube das Stichwort ›Billstedt‹ eingebe, dann kämen »eigentlich immer nur so Schlägervideos […]. Also richtig fiese Sachen«. Sie erinnert an einen Fernsehfilm über eine Schule in Billstedt, »wo Jugendliche dafür bezahlt worden sind, dass sie sich prügeln, damit das im Fernsehen ›gut‹ dargestellt« werden konnte. Lange Zeit habe die Presse kaum über Billstedt berichtet, konstatiert sie, und wenn es Berichte gab, seien diese meist negativ ausgefallen. Mit einem fünfminütigen Film, mit dessen Realisierung ein Berliner Filmemacher beauftragt wurde, reagierte die Behörde parallel zum Videowettbewerb auf die im Internet kursierenden negativen Bilder. So ist auf der Behördenwebsite seit November 2012 das Video Billstedt-Horn in fünf Minuten zu sehen, das den Entwicklungsraum Billstedt-Horn vorstellt und Schlaglichter auf Aktivitäten der Stadtteilentwicklung während der letzten fünf Jahre wirft.19 Zu Wort kommen in dem Film Behördenvertreterinnen und -vertreter, aber auch Anwohnende. Dass der Blick der Behörde auf die Stadtteile ein anderer ist als der derjenigen, die in ihnen wohnen, nimmt die Gebietskoordinatorin an: »Und deswegen haben wir uns gewünscht und erhofft, dass Leute – Jugendliche – aus Billstedt und Horn einfach ihre Wohnumgebung oder Menschen, mit denen sie viel zu tun haben, oder die Einrichtungen, in die sie gerne gehen, zeigen. Denn das sind alles ganz normale Dinge.« Billstedt und Horn seien nicht anders als andere Stadtteile Hamburgs auch, »aber von außen sieht man das nicht.« Sie vertraue dabei dem Blick und dem persönlichen Stadtteilwissen der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Themen der Wettbewerbsvideos sollten sich eben nicht an den Highlights der Stadtteile orientieren, denn »mit ganz normalen Bildern kann man da relativ viel erreichen. Man kann natürlich auch schön den Öjendorfer See und den Park zeigen – das machen wir dann als Fachamt Stadt- und Landschaftsplanung. Wir zeigen das dann auf Image-Postkarten.« Dass v.a. Jugendliche dafür prädestiniert sind, an einem Onlinevideowettbewerb teilzunehmen, ist für die Koordinatorin naheliegend, denn »wenn man sieht, was in Youtube so alles veröffentlicht ist, dann denkt man schon, dass das doch eine Menge Leute sein müssen, die das eben mal so machen, […] dass das sozusagen nebenbei läuft, weil die Jugendlichen das sowieso jeden Tag tun.«

19 Für die Behörde stand hierbei im Zentrum, den Stadtteilentwicklungsprozess darzustellen. So wird das Video auf der Website inhaltlich wie folgt beschrieben: »Der Kurzfilm gibt einen Überblick über den Entwicklungsraum Billstedt-Horn. Er zeigt, was die Integrierte Stadtteilentwicklung hier bisher geleistet hat – und was bis 2020 noch erreicht werden soll.« http://www.billstedt-horn.hamburg.de (letzter Zugriff am 13.11.2013).

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D IE A KTEUR _ INNEN UND IHRE W AHRNEHMUNG VON DEN S TADTTEILEN : M EDIENGRUPPE UND J UGENDLICHE Die Mediengruppe ist ein Angebot eines Billstedter Vereins an Jugendliche und existiert, mit Phasen unterschiedlicher Intensität, seit 2011. Den Kern der Gruppe, die sich einmal in der Woche trifft, machten zum Zeitpunkt des Videowettbewerbs vier männliche Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren aus. Aus Gründen der Anonymisierung nenne ich sie A., B., C. und D. Zwei der Jugendlichen waren zum betrachteten Zeitpunkt in einer ausbildungsfördernden Maßnahme eingebunden, die Schule und ein Berufspraktikum umfasst. Einer der Jugendlichen holte seinen Realschulabschluss nach und ein weiterer hatte zu diesem Zeitpunkt weder Schulanbindung noch einen Ausbildungsplatz. Alle vier Jugendlichen betrieben mit unterschiedlichem Eifer und verschiedenen Anliegen ihren eigenen Youtubekanal, was auch für den damaligen Leiter der Gruppe, einem Studenten der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), zutrifft. Zugleich sind alle passionierte Nutzer der Social-MediaPlattform Facebook. Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs wurde die Mediengruppe zusätzlich von einem Filmemacher unterstützt. Der gemeinnützige Verein, in dessen Räumen sich die Jugendlichen der Mediengruppe treffen, leistet seit den 1970er-Jahren sozial engagierte Arbeit in einer der Großsiedlungen. Hochhäuser, aber auch Maisonettewohnungen in Plattenbauweise mit kleinen Gärten reihen sich hier aneinander. Das Quartier bietet ca. 4.000 Menschen Wohnraum und wird von vielen, die hier wohnen, »wie ein Dorf«20 erlebt. Das Gruppenangebot des Vereins, das sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene richtet, wird von Bewohnerinnen und Bewohnern der Siedlung sowie von studentischen Honorarkräften ausgestaltet. Neben Kinderbetreuung, Hausaufgabenhilfe, Jugendbereich, Frauengruppe etc. leistet der Verein auch Sozialberatung und bietet zweimal in der Woche eine kostenlose Lebensmittelausgabe an, die stark nachgefragt wird. Der Verein finanziert sich über eine städtische Unterstützung, die aber jedes Jahr neu ausgehandelt werden muss, was kontinuierliche und professionelle Arbeit erschwert. Einen zusätzlichen Beitrag leisten Spenden und viel ehrenamtliches Engagement, das zum größten Teil von derzeitigen und ehemaligen Bewohner_innen der Großsiedlung aufgebracht wird.

20 Die Aussagen basieren auf meiner teilnehmenden Beobachtung der wöchentlichen Gruppentreffen sowie unterschiedlicher Aktivitäten des Vereins seit Ende September 2012.

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Den Mitgliedern der Mediengruppe war der Videowettbewerb von Anfang an bekannt, auch weil der damalige Vereinsvorstand ein Interesse an einer Teilnahme und Präsentation des Vereins mittels Internetvideos hatte. Der Videowettbewerb verschaffte auch der Mediengruppe neuen Aufschwung. Ideen wurden gesammelt und nicht nur Jugendliche, auch Erwachsene beteiligten sich am Brainstorming. Die im Werbetext des Wettbewerbs als Anregung gedachten »besten Orte, tollsten Typen und besondere[n] Geheimtipps« veranlassten die Jugendlichen dazu, eher über Altbekanntes zu sinnieren: »Geheimtipps – ja, eigentlich weiß ich nicht, Badeseen, oder den Rodelberg, oder besondere Veranstaltungen, über die man eigentlich nicht im Wochenblatt liest, sondern auf der Homepage oder so.« Einige der Jugendlichen interessierten sich weniger für ›normale‹ Bilder von Billstedt und Horn, sondern begeisterten sich eher für Übertreibungen, Parodien, für Action oder das Aufsuchen von Orten, an denen »etwas passiert ist«. Die Erwachsenen wiederum unterbreiteten Filmideen, die Stadtteilpersönlichkeiten porträtieren oder die kulturelle Heterogenität der dort lebenden Menschen zum Thema haben sollten. Die Jugendlichen wissen um das negative Image ihres Stadtteils. Bei den ersten gemeinsamen Dreharbeiten zu einem Videovorhaben über einen Parkourlauf auf dem Schulhof fielen selbstironische Sprüche wie »Wir drehen einen Ghettofilm« bzw. »Jetzt fehlt noch die brennende Mülltonne« oder »Hollywood für Arme«. Wenngleich bei einigen auch etwas Stolz mitschwingen mag, aus diesem Kontext zu stammen, kommentiert B. das Bild mit ironischen Relativierungen: »ja klar, vom Ruf her die gefährlichste Straße der Welt – ja – dagegen ist Kapstadt nichts«. Dass die Presse wesentlich zum schlechten Image des Stadtteils beiträgt, denn »die Medien schreiben immer das, was sie wollen … und nicht das, was sie sehen.«, bestätigt sein Freund A., der wie B. seit vielen Jahren die Kinder- und Jugendangebote des Vereins nutzt. Bei den Jugendlichen der Mediengruppe hat sich der Begriff ›Killstedt‹ festgesetzt. Der Rapper C. hat sich mit einem Videobeitrag, der die positiven Seiten Billstedts betont, beim Wettbewerb beworben. Er reagiert sensibel auf die negativen ›Bilder und Begriffe‹, die über Billstedt kursieren und erzählt: »Da war so ein Plakat – da stand nicht Billstedt sondern Killstedt. Ja und dann hab’ ich mir so gedacht: Warum? ›Die‹ kennen das doch gar nicht. Warum?« Mit ›Die‹ bezeichnet C. hier all jene, die nicht in Billstedt leben und von außen auf den Stadtteil blicken bzw. darüber urteilen oder gar – z.B. städtebaulich – über Entscheidungsgewalt verfügen. Gleichzeitig verdeutlicht C.s Bezeichnung die Distanz, die er zwischen sich als Billstedter und den Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Hamburger Stadtteile spürt. Für C. stehen die Hamburger Stadtteile in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Er erklärt, dass es in Billstedt viele

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Häuser der Jugend und soziale Einrichtungen gebe, die sich für den Stadtteil einsetzen würden, und folgert, dass Menschen aus anderen Hamburger Stadtteilen missgünstig seien, denn »ich glaub’, die sind nur neidisch oder so …, die wollen uns einfach nur runterkriegen, dass sie das alles abschaffen oder so. Dass die das bekommen. Ja …«

»B ILLSTEDT IST NICHT SO WIE IHR DENKT « – D AS W ETTBEWERBSVIDEO EINES J UGENDLICHEN In seinem Wettbewerbsbeitrag Billstedt ist nicht so, wie ihr denkt21 rückt C. Billstedt in ein positives Licht. Als eines von wenigen eingereichten Videos vertraut sein Videobeitrag nicht nur den Bildern, sondern setzt auch auf Worte, auf die er als Rapper schließlich nicht verzichten kann. Sein Video beginnt mit einer kurzen Spielszene. Zwei junge Männer lehnen lässig an einem Metallzaun; sie stehen frontal zur Kamera und unterhalten sich: »Hey!« – »Ja, Bruder.« – »Hast du gerade die asozialen Leute gesehen?« – »Welche Leute denn?« – »Die vorm Billstedt Center.« – »Sind die alle so?« – »Ja Mann, voll die Hartzer.« In diesem Moment setzt ein Beat ein, der kurz darauf von C., der ins Bild tritt, übersprochen wird: »Hey stopp, hört mir mal zu, ich möchte euch was erzählen …« – Die jungen Männer im Chor: »Schieß los.« – C.: »Billstedt ist nicht so, wie ihr denkt, Leute werden sogar zum Geburtstag beschenkt, mit vielen tollen Sachen […].« Mit diesen Zeilen setzt ein rhythmisch gesprochener Rap ein, der mit den Worten schließt: »Billstedt-Horn, gemeinsam vorn, das ist unser Motto, komm mit mir, ich zeig dir die Straße und du kannst dich auf andere verlassen.«22 Viel Überlegung und Arbeit stecken in dem Video. Die kurze Spielsequenz wurde untersichtig vor dem Legiencenter gedreht, das von den Billstedtern aufgrund der wuchtigen Architektur und der prägnanten Lage ›Bunker‹ genannt wird. Dem Legiencenter hängt ein besonders schlechter Ruf an und es fehlt in der Regel in keinem Film oder Fernsehbericht über Billstedt.23 Auch C. verzichtet nicht auf diesen Drehort, denn »Bunker ist ja richtiges Ghetto, so. Da hab ich

21 Der Beitrag ist online einsehbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=3RukRy3 GqQ0 (letzter Zugriff am 18.07.2013). 22 Mit ›Billstedt-Horn, gemeinsam vorn‹ greift C. einen Slogan auf, mit dem im Rahmen der städtisch organisierten Stadtteilentwicklung geworben wird. 23 Hier sei auf einen Dokumentarfilm verwiesen, der dem Legiencenter differenziert und aus anderer Perspektive begegnet: Das Leben ist wie ein Schwert von Caroline Picker. Der Trailer zum Film ist auf Youtube zu finden: http://www.youtube.com/watch?v=aY8xbYywIQ (letzter Zugriff am 18.07.2013).

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das extra im Bunker gemacht, damit ›die‹ das auch so ein bisschen sehen.« Jedoch mildert er durch die Wahl eines engen Bildausschnitts, der seiner Meinung zwar einen Wiedererkennungseffekt hat, aber nicht die ganze Hässlichkeit des Gebäudes zeigt, die abschreckende Größe des Centers ab, denn dadurch »kann man ja nicht alles sehen, nur so ein bisschen … dann denken ›die‹ sich so: Ja, das ist der Bunker, das sieht ja nicht so heftig aus, ne. Wir können ja auch nichts dafür, dass es so ein Bunker ist.« Überlegungen dazu, dass solche Wohnanlagen von außen aufoktroyiert werden, schließen sich an: »Also wir machen das nicht zum Ghetto. Wenn dann ›die‹ … die das alles bauen und so. Wir entscheiden uns ja nicht, Hochhäuser zu machen. […] Mann … ›die‹ verstehen das nicht und werden’s nie verstehen.« Das Video von Rapper C. entspricht von den eingereichten Videos am ehesten den Erwartungen der Wettbewerbsinitiatorinnen nach einer Binnenperspektive. Sie zeigt sich in C.s Video in den visuellen Anspielungen, die für Außenstehende nicht sofort dechiffrierbar sind; in dem bewusst gewählten Bildausschnitt mit dem Legiencenter oder im Plakat des Films Chiko von Özgür Yildirim, das als Ausstattungsgegenstand in C.s Video nicht fehlen darf.24 Auch das Thematisieren der Wettbüros bzw. Casinos im Stadtteil, die C. als Orte nennt, die den Stadtteil für Erwachsene attraktiv machen, verdeutlicht seine Binnenperspektive. Dass kürzlich die Zunahme von Spielhallen im Hamburger Osten zu vehementen Protesten vieler Billstedter Bürgerinnen und Bürger führte, lässt er außer Acht oder es ist ihm vielleicht gar nicht bekannt. Indem C. seinen Rap mit dem im Rahmen der Stadtteilentwicklung entstandenen Slogan ›Billstedt-Horn, gemeinsam vorn‹ enden lässt, zeigt er sich einverstanden mit den Zielen der Behörde.

24 Der Spielfilm Chiko erzählt die Geschichte eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund, der sich in Hamburgs Drogenszene einen Namen machen will, um Respekt und Reichtum zu erlangen. Der Film wurde in Mümmelmannsberg/Billstedt gedreht und ist für viele Jugendliche aus marginalisierten Stadtteilen Hamburgs bedeutsam. Um an das Plakat zu gelangen, hatte C. einige Mühen auf sich genommen; so hatte er dafür die verantwortliche Hamburger Produktionsfirma recherchiert und aufgesucht.

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V IDEOS

VERÖFFENTLICHEN IM I NTERNET

UNTERSCHIEDLICHE I NTERESSEN UND WERDEN DEUTLICH



E RWARTUNGEN

Die am Wettbewerb Beteiligten eint das Interesse an der Aufwertung des Images der Stadtteile Billstedt und Horn sowie an einer Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Das Bild des Hamburger Ostens in der Öffentlichkeit zu verbessern, ist das Hauptanliegen der Wettbewerbsinitiatorinnen. Sie nehmen sich selbst als relativ machtlos gegenüber den Presseberichten wahr, die die negativen Stereotype der Stadtteile reproduzieren. Also sollte mit dem Wettbewerb auf das ›Grassroots-Potenzial‹ des Internets gesetzt werden, in dem auch Stimmen und Positionen jenseits der professionellen und den Mehrheitsdiskurs bestimmenden Berichterstattung Raum finden. Zusätzlich sollte auf diesem Wege eine Öffentlichkeit erreicht werden, auf deren Meinung zwar nicht diskursiv mittels Argumenten, sondern mittels audiovisueller Bilder eingewirkt werden soll. Dabei wurde auf das persönliche Wissen der Bewohnerinnen und Bewohner über ihre Stadtteile gesetzt, damit entsprechende audiovisuelle Bilder öffentlich und sichtbar werden konnten, die nicht den von den Akteur_innen vielfach beklagten Zuschreibungen entsprachen. Auch nach dem Wettbewerb sollten Internetvideos zukünftig im Entwicklungsraum Billstedt-Horn eine größere Rolle spielen, kündigte die Gebietskoordinatorin auf einer öffentlichen Sitzung des Beirats Billstedt-Horn an, »weil wir der Meinung sind, dass das ankommt und bei Internet-Recherchen man auch mal schneller auf einen Film klickt.«25 Das Interesse der Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie bspw. der Vereine, sich mit einem Videobeitrag am Wettbewerb zu beteiligen, erläutert eine Gruppenleiterin eines anderen Billstedter Vereins. Sie wollte mit ihrem Videobeitrag bewirken, »einfach gesehen zu werden, einfach gehört zu werden«, und verknüpft damit die politische Botschaft »dass Leute wirklich merken: wir sind da und wir wollen bleiben.« Damit formuliert sie ein wesentliches Interesse, das von den Vereinen, die sich am Wettbewerb beteiligten, geteilt wird, so auch vom Vereinsvorstand und dem Leiter der in diesem Artikel vorgestellten Mediengruppe. Neben einem Interesse an einer positiven Außendarstellung des Stadtteils nannten sie als Ziel das Sichtbarmachen der Vereinsarbeit – und sei es nur durch die Nennung bspw. im Abspann eines Videos. Angewiesen auf finanzielle

25 Der Hinweis erfolgte auf der öffentlichen Präsentation des ersten Webreportervideos, das die Jugendlichen C. und D. im Auftrag der Behörde realisiert hatten, am 29.08.2013 im Rahmen der Beiratssitzung Billstedt-Horn.

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und politische Unterstützung sind für den Verein Internetvideos, die noch dazu in ein behördlich gefördertes Projekt eingebunden sind, willkommene Botschafter der eigenen Arbeit, zumal sich soziale Arbeit eher subtil auswirkt und sich weniger in sichtbaren und messbaren Ergebnissen darstellt. Mindestens ebenso wichtig für die Motivation, sich am Wettbewerb zu beteiligen, waren identifikatorische Aspekte, d.h., die Jugendlichen für den eigenen Stadtteil und die Nachbarschaft zu interessieren, aber auch an den Verein zu binden. Darüber hinaus sollte die Realisierung der Videos die Teamarbeit fördern, wofür sich v.a. der Leiter der Mediengruppe stark machte, indem er die Jugendlichen ermutigte, sich gegenseitig bei den Dreharbeiten zu helfen und die individuellen Stärken einzubringen. Er formulierte den Wunsch an die Jugendlichen, »dass wir alle zusammenarbeiten. Das ist zwar dann dein Projekt aber du unterstützt L. vielleicht bei seinem Vorhaben und er unterstützt dich mit Musik über Billstedt, vielleicht mit Hintergrundmusik.« Die Aussicht auf Veröffentlichung ihrer Videoarbeit sollte darüber hinaus den Jugendlichen Erfolgserlebnisse verschaffen.26 Die Interessen der Jugendlichen, eine Öffentlichkeit zu erreichen, oszillieren zwischen dem Wunsch nach größtmöglicher persönlicher Bekanntheit, dem Bedürfnis, möglichst anonym zu bleiben und trotzdem eine große Zahl von Personen ansprechen zu können, und dem Wunsch danach, eigentlich nur für Freundinnen, Freunde und Bekannte zu veröffentlichen. Dass durchaus Mut dazu gehört, sich im Internet mit eigenen Videos darzustellen, und längst nicht jeder oder jede dazu bereit ist, wurde anerkannt. »Ich find’s gut, dass er sich traut, es über Youtube zu machen. […] dass er sich traut, jetzt zu singen«, kommentierte einer der Jugendlichen die Internetaktivitäten eines anderen. Diejenigen der Jugendlichen, die sich entschieden haben, ihre Videos auf Youtube zu veröffentlichen, betreten mit entwaffnender Selbstverständlichkeit den (internet-)öffentlichen Raum, der sich ihnen mit all seinen Potenzialitäten wie Ruhm und finanzielles Auskommen, die dieser Raum zu bieten hat, präsentiert. Und tatsächlich

26 Der Leiter der Mediengruppe sowie andere im Verein aktive Erwachsene hatten darüber hinaus auch ›erzieherische‹ Erwartungen an die Erstellung der Filme. Die Jugendlichen könnten sich in Teamarbeit üben, Durchhaltevermögen entwickeln und ein ›eigenes Produkt‹, den Film, von Anfang bis Ende gestalten. Darüber hinaus erhielten sie Medienkompetenz, die immer wichtiger würde, denn »Medien als moderne Werteinstanz der Gesellschaft spielen bei der Entwicklung des Selbst, bei der Selbstdarstellung und bei der Auseinandersetzung mit Fremdbildern eine zentrale Rolle, da die Bedeutung traditioneller Instanzen wie Familie oder Schule zur Vermittlung gesellschaftlicher Normen und Werte zu sinken scheint» (Witzke 2004: 57).

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ermöglichen Internetplattformen wie Youtube eine scheinbar schrankenlos öffentliche Sichtbarkeit. »Da sehen Sie’s, da sehen Sie’s«, meint Rapper C., während er auf der Computertastatur den Titel eines seiner Videos eingibt. Prompt erscheint auf Youtube die gewünschte Seite, ebenso prompt, wie sie bei einem weltbekannten Star erschienen wäre. Für C. ist dies Anlass zu dem augenzwinkernden Kommentar: »Ich bin ein bekannter Rapper.« Auch Klickzahlen und likes, die auf Internetplattformen wie Youtube sofort einsehbar sind, sind Referenzen auf die Wahrnehmung der eigenen Arbeit durch die Öffentlichkeit und werden mit großem Interesse verfolgt. »Wir haben von gestern auf heute zwanzig Klicks gekriegt oder dreißig – wir waren auf 94«, freut sich der Mediengruppenleiter, um kurz darauf hinzuzufügen »irgendjemand hat uns ein ›Dislike‹ gegeben, das fand ich scheiße.«

R ESONANZ DER A KTEUR _ INNEN DES V IDEOWETTBEWERBS

AUF DEN

V ERLAUF

Nachdem der Wettbewerb drei Monate lief und sich die zahlreichen Videos, die erwartet wurden, nicht einstellten, vermutete die Gebietskoordinatorin, dass »die Schwelle, das dann zu einem Film zu schneiden, den man auch sehen kann«, zu hoch und das Hochladen auf Youtube »und sich zu trauen, sich da auch zu präsentieren, […] doch nicht so leicht« sei. Sie fügte hinzu, dass der Hauptpreis, ein Smartphone, wohl kein großer Anreiz gewesen war, da Film oft Gruppenarbeit bedeute und sich dann die Frage stelle: »Wer kriegt denn dann den Preis? Also da müssen wir auch noch mal richtig nacharbeiten, sollten wir so was noch mal machen.« Der Kreis derjenigen, die ein Video einreichen, wäre größer geworden, »wenn man gesagt hätte: Diese Filme werden in einem begrenzten Rahmen im Stadtteil gezeigt«, vermutet der Vorsitzende des Vereins, in welchem die Mediengruppe aktiv ist. Er äußert sich skeptisch hinsichtlich urheber- und datenschutzrechtlicher Aspekte bei einer Veröffentlichung auf Youtube und gibt zu bedenken, dass dies Videomacherinnen und -macher von einer Teilnahme abgehalten haben könnte. In Gesprächen mit den Jugendlichen stellte sich auch heraus, dass die Werbekampagne für viele unverständlich gewesen war. Bspw. sprachen weder Werbetext noch Videoclip die Jugendlichen an oder waren schwer zu verstehen. Die Aufforderung zu zeigen, »was ist smart an eurem Stadtteil« veranlasste die Jugendlichen zu Spekulationen wie »smart ist für mich [...] klein [...] also [...] weiß ich nicht [...]«. Als Identifikationsfigur war auf dem Flyer ein junger, aber im

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Vergleich zu den Jugendlichen um einige Jahre älterer bärtiger Mann, abgebildet. Er hält freundlich lachend eine HD-Handycam in der Hand und trägt ein dunkles T-Shirt, darüber ein offenes Karohemd und legere Jeans. »Typ Student«, urteilt B. und markiert so die Distanz, die er zwischen sich und dem abgebildeten Mann verspürt. »Ich hätt’ eine etwas jüngere Person reingesetzt, die dann mehr dazu passt«, kommentiert D. den Flyer. Die Abbildung erwecke den Eindruck, dass der Wettbewerb sich an Erwachsene richte, wohingegen das Bild einer jüngeren Person, nach D.s Ansicht, ein anderes Signal gesetzt hätte: »[D]a ist ein Kind oder Jugendlicher drauf, also mein Alter – also ein paar Jahre älter oder jünger, da kann ich doch eigentlich mitmachen.« Die Jugendlichen zeigten kaum Interesse an einer Teilnahme, beobachtete ein Mitarbeiter einer bekannten Billstedter Kulturinstitution, die Anlaufpunkt für Jugendliche aus Billstedt, aber auch aus anderen Hamburger Stadtteilen ist. Er fügte hinzu: »Ich glaub’ einerseits, weil das Projekt doch sehr von außen gesteuert wurde.« Auch beobachtete er, dass den Jugendlichen die Intention des Wettbewerbs nicht klar geworden war. Das zeigte sich in Reaktionen, so der Mitarbeiter, »dass sie meinten: Was ist das denn überhaupt, was soll das? Und viele meinten: Ja gut, so eine Billstedt-Promonummer, da haben wir nix von.« Er vermutet, dass ein Video, das »hinterher auf MTV läuft«, was eher der Praxis der Kulturinstitution sowie der Peergroup der Jugendlichen entsprochen hätte, für die Jugendlichen motivierender gewesen sei. Der Videowettbewerb ließ aber auch an Attraktivität vermissen, »weil das halt einen sehr sozialpädagogischen Charakter hatte. […] Ein Jugendlicher meinte: Ah, das ist wieder so ein Projekt, die versuchen Billstedt schön zu reden.« Und in der Billstedter Mediengruppe? Längst nicht alle der dort aktiven Jugendlichen haben einen eigenen Beitrag eingereicht. Zum einen, weil sie keine Idee hatten, die für sie so tragfähig war, dass sie die nötige Energie für eine Realisierung aufgebracht hätten. Schließlich wird viel Zeit benötigt, ein Video neben den schulischen Verpflichtungen, soweit sie bestehen, fertigzustellen. Oder es war organisatorisch einfach zu aufwendig. Als ein weiterer Grund wurde von einem der vier Jugendlichen lapidar festgestellt: »Ich bin kein Wettbewerbstyp«.

U NTERSCHIEDLICHE Ö FFENTLICHKEITSKONZEPTE IM S PANNUNGSVERHÄLTNIS Dass Onlinevideowettbewerbe funktionieren können, wenn sich nur die richtige Gruppe oder Community angesprochen fühlt, zeigen bspw. Videowettbewerbe der HipHop-Szene, die sich ebenfalls auf Internetplattformen wie Youtube ab-

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spielen. Während eines battles kann ein Video innerhalb eines Tages über 20.000 Klicks erhalten.27 Eine vergleichbare Dynamik haben die Initiatorinnen des Wettbewerbs Best of Billstedt-Horn sicherlich nicht erwartet. Trotzdem stellt sich die Frage, warum die Aufforderung »Dreht euer Ding – über Billstedt-Horn« lediglich mit 13 Videoeinreichungen beantwortet und kurz nach Ablauf der Einreichfrist nur 1.800 Klicks aufweisen konnte. Ein Blick auf die Konzeption des Wettbewerbs bringt Asymmetrien auf mehreren Ebenen zutage. Die im vorigen Abschnitt erwähnten Schwierigkeiten der Jugendlichen, bspw. mit der Sprache der Werbekampagne, unterstreichen die Distanz zwischen Wettbewerbsinitiatorinnen und Jugendlichen bzw. Akteurinnen und Akteuren in den Stadtteilen. Die Distanz bildet sich nicht nur räumlich, sondern auch in der Konzeption des Wettbewerbs ab, die den Aktiven aus den Stadtteilen ausschließlich Raum zum Mitmachen, aber nicht zur Mitgestaltung ließ. Dies würde, so die Initiatorinnen, modifiziert werden, falls in Zukunft ein neuer Videowettbewerb durchgeführt werden sollte.28 Eine weitere Asymmetrie lässt sich in den unterschiedlichen Öffentlichkeitskonzepten, die sich an Erwartungen bzw. Praxen der Beteiligten knüpfen, beobachten. Mit der Aufforderung, »die besten Orte, die tollsten Typen und besondere Geheimtipps« zu zeigen, erwarteten die Initiatorinnen des Wettbewerbs, dass die Bewohnerinnen und Bewohner sie an ihrem persönlichen Wissen aus den Stadtteilen teilhaben lassen würden. Und tatsächlich ist auf Internetplattformen wie Youtube eine Vielzahl von Videos zu finden, die auf ein persönliches Wissen und persönliche Bilder zurückgreifen und von Privatpersonen hochgeladen wurden. Die Wettbewerbsinitiatorinnen orientierten sich damit am Konzept der ›persönlichen Öffentlichkeiten‹, in welchen Wissen und Themen von persönlicher Relevanz, die nicht notwendigerweise auch gesellschaftliche Relevanz beanspruchen, mitgeteilt werden. (Vgl. Schmidt 2011: 107) Unterschätzt wurde dabei eine möglicherweise notwendige Adressierung eines überschaubaren und vermeintlich kontrollierbaren Publikums, wie es im Rahmen ›persönlicher Öffentlichkeiten‹ gepflegt wird, bzw. einer Gemeinschaft oder Community, zu welcher die Filmenden identifikatorische Bezüge besitzen.29

27 Ein erfolgreicher Onlinewettbewerb ist bspw. das Videobattleturnier VBT. Im Internet zu finden auf http://www.youtube.com/user/wwwrappersin?feature=watch (letzter Zugriff am 05.11.2013). 28 In Gesprächen mit den Initiatorinnen wurde mir dies von verschiedener Seite mitgeteilt. 29 Im Zusammenhang mit ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ verweist Schmidt auf einen differenzierten Publikumsbegriff. (Vgl. Schmidt 2011: 118ff.) Bspw. »spricht viel-

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Parallel zum Konzept der ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ rekurrierten die Wettbewerbsinitiatorinnen auf eine ›Öffentlichkeit‹ nach habermasschem Verständnis, das Öffentlichkeit als eine allgemein zugängliche Sphäre des Diskurses versteht, die von Akteur_innen gleichberechtigt betreten werden kann und deren darin behandelte Themen gesellschaftliche Relevanz beanspruchen. Als Internetaktive, die auf Internetplattformen wie bspw. Youtube oder Facebook selbstverständlich unterwegs sind, bewegen sich die meisten der Jugendlichen, die als Zielgruppe für die Wettbewerbsteilnahme infrage kamen, in ihren ›persönlichen Öffentlichkeiten‹. Am Wettbewerb jedoch beteiligten sie sich, wenn sie sich überhaupt zu einer Teilnahme entschieden, nicht mit persönlichen Themen. Sie sahen es als geboten, für den Wettbewerb die Sphäre ihrer ›persönlichen Öffentlichkeiten‹ zu verlassen, ohne notwendigerweise die dort behandelten Themen mitzunehmen. Indem sie ihr Interesse bekundeten, an einer Verbesserung ihres Stadtteils mitzuwirken, zeigten sie sich bereit, sich an eine allgemein zugängliche, generelle Öffentlichkeit zu wenden. Gleichwohl ließen sie, ebenso wie die erwachsenen Teilnehmenden, diese Öffentlichkeit kaum an ihrem persönlichen Wissen aus den Stadtteilen teilhaben. Die eingereichten Videos zeigen sich, mit wenigen Ausnahmen, diesbezüglich eher verhalten oder fast schon widerständig. Wenn bspw. der (Kamera-)Blick eine betont subjektiver ist, dann ist das gewählte Motiv meist ein besonders öffentliches, banales und zugleich anonymes. Besonders deutlich wird dies an einem Video, das einen Straßenumzug auf einem Stadtteilfest zeigt, oder an der Fahrradfahrt, die eine unspektakuläre Straße entlangführt und die mit einer Helmkamera gefilmt wurde. Wenn wiederum Einblicke in ›Geheimtipps‹ gewährleistet werden, dann sind das zwar private Orte, die jedoch öffentlich zugänglich sind, wie bspw. ein Friseursalon, in dem eine öffentliche Lesung stattfand. Am ehesten enthalten waren die ›Geheimtipps‹ im Sinne eines persönlichen Lokalwissens in einem Video, das Kinder bei einer Schlittenfahrt im lokalen Park begleitet, oder – im Sinne einer Binnenperspektive – im dargestellten Video des Rappers C. Sowohl bei den Wettbewerbsinitiatorinnen als auch bei den durch den Wettbewerb angesprochenen Jugendlichen zeigten sich unterschiedliche und mehrdeutige sowie kontextgebundene Öffentlichkeitskonzepte. Für den Inhalt der Videos bezogen sich Erstere auf ›persönliche Öffentlichkeiten‹, die in einer generellen Öffentlichkeit wirken sollten. Die Jugendlichen wiederum operieren in

mehr einiges dafür, dass persönliche Öffentlichkeiten einen eigenen Kontext für Kommunikation und Interaktion darstellen, in dem bestimmte Daten einem vorgestellten, wenngleich nicht immer klar identifizier- und abgrenzbaren Publikum zugänglich gemacht werden.« (Ebd.:122)

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ihren Netzwerken mit ›persönlichen Öffentlichkeiten‹, waren aber zu einem Transfer entsprechender Inhalte in eine generelle Öffentlichkeit, die sie im Rahmen des Wettbewerbs durchaus ansprechen wollten, nicht bereit. Vielmehr bewirkte das Spannungsverhältnis, in welchem die unterschiedlichen Adressierungen zueinander stehen, eine Unsicherheit, teilweise sogar eine Verunsicherung bei den jugendlichen Videomacherinnen und -machern, was in der geringen Anzahl eingereichter Videos zum Ausdruck kam. Auch wenn der Videowettbewerb Best of Billstedt-Horn nicht auf die gewünschte Resonanz bei den Jugendlichen in den Stadtteilen gestoßen ist, gibt es durchaus auch Erfolge zu verzeichnen. So war der Wettbewerb eine Möglichkeit, sich auszutesten: Bspw. für die Jugendlichen der Mediengruppe, aber auch für die Behörde, die zum ersten Mal einen solchen Wettbewerb durchführte. Für zwei Jugendliche geht es mit der Videoarbeit in Kooperation mit den Wettbewerbsinitiatorinnen konkret weiter: Sie erhielten im Anschluss an den Wettbewerb und im Zusammenhang mit der Stadtteilentwicklung Billstedt-Horn zwei kleine Aufträge als »Webreporter« und »gehen«, so Auftraggeberinnen und Jugendliche, »jetzt für die Stadt Hamburg filmen.« Und den ersten Preis? Den hat schließlich Rapper C. gewonnen.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

Bourdieu, Pierre et al. (2008): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz. Burgess, Jean/Green, Joshua (2009): YouTube, Cambridge. Fraser, Nancy (1990): Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critic of Actually Existing Democracy, in: Social Text 25/26, S. 56-80. Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, Berlin, auch online auf: http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/1990/iii90-101.pdf (letzter Zugriff am 14.08.2013). Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit – Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (2006): Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Dankesrede bei der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises, abgedruckt in: Der Standard vom 21.03.2006, auch online auf: http://derstandard.at/ 2372764 (letzter Zugriff am 27.08.2013).

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Hamm, Marion (2005): Indymedia. Zur Verkettung von physikalischen und virtuellen Öffentlichkeiten, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien, S. 176-186. Miller, Daniel (2012): Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook, Frankfurt a.M. Neundlinger, Klaus (2005): Ereignis-Öffentlichkeit gegen die strukturelle Demokratie, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien, S. 54-163. Niedermüller, Peter (2004): Soziale Brennpunkte sehen? Einleitung, in: Peter Niedermüller (Hg.), Soziale Brennpunkte sehen? Berliner Blätter – Ethnographische und ethnologische Beiträge, Sonderheft, Münster, S. 6-10. Raunig, Gerald (2005): Nachwort: Jenseits der Öffentlichkeit, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien, S. 225-232. Sandkühler, Hans Jörg (Hg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 2, Hamburg. Schmidt, Jan (2011): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0, Konstanz. Schönhuth, Michael (2002): Entwicklung, Partizipation und Ethnologie. Implikationen der Begegnung von ethnologischen und partizipativen Forschungsansätzen im Entwicklungskontext, Trier, online auf: http://ubt.opus.hbznrw.de/volltexte/2005/300/pdf/habil_schoenhuth.pdf (letzter Zugriff am 30.12.2012). Wahlberg, Malin (2009): YouTube Commemoration: Private Grief and Communal Consolation, in: Pelle Snickars/Patrick Vonderau (Hg.), The YouTube Reader, Stockholm, S. 218-235. Witzke, Margrit (2004): Identität, Selbstausdruck und Jugendkultur. Eigenproduzierte Videos Jugendlicher im Vergleich mit ihren Selbstaussagen. Ein Beitrag zur Jugend(kultur)forschung, München.

Alternatives now Über die (Un-)Möglichkeiten der Erfindung alternativer Zukünfte

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Bei der Auftaktveranstaltung der Hamburger Stadtwerkstatt Zukunftsbild Elbinseln 2013+ hält jemand ein Protestplakat mit der Forderung »Selbstbestimmung statt Beteiligungsshow« hoch und das Hamburger Abendblatt schreibt, dass es bei der Veranstaltung v.a. um das Misstrauen vieler Bürger_innen ging, »das Bezirksamt Mitte wolle mit der Zukunftswerkstatt eine Beteiligungsshow durchziehen, bei der die Einwohner nur dem Schein nach gehört werden« (Tauer 2012:1). Die Methode der Zukunftswerkstatt zur Beteiligung an Zukunftsfragen und -entscheidungen, die sonst Politikerinnen, Fachleuten und professionellen Planern vorbehalten bleiben, stellt Robert Jungk 1981 erstmals in einem Handbuch – mit dem heute überraschenden Untertitel Handbuch für eine breite Wiederbelebung der Demokratie (Jungk/Müllert 1981) vor.1 Angesichts der Resignation gegenüber repräsentativer Demokratie verspricht die Zukunftswerkstatt auch, ein Instrument zur kreativen Weiterentwicklung der Demokratie selbst zu sein. Hoffnungen, die im Jahr 2013 kaum mit »invited spaces« (Miraftab 2004:1) wie behördlich initiierten Partizipationsprozessen, sondern vielmehr mit »invented spaces« (ebd.:1) wie Versammlungsformen verschiedener Protestbewegungen und Real-Democracy-Gruppen verknüpft werden. Nicht das Misstrauen, aber die Enttäuschung über die Resultate der Szenariotechnik wird im Jahr 1988 auf dem zweiten Wissenschaftstag des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) zum Thema ›Szenarien in der

1

Der Titel des erstens Aufsatzes über Zukunftswerkstätten lautet Über das Pläneschmieden von unten (Jungk 1978) und eine spätere Ausgabe des Handbuchs von 1981 hat den Untertitel Mit Phantasie gegen Routine und Resignation (Jungk 1989).

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Stadtentwicklung‹ (Drevermann 1989) in Dortmund artikuliert. Weil Städte und Regionen von Schrumpfungsprozessen betroffenen sind und hohe Planungsunsicherheit herrscht, genießen Szenariotechniken in der Stadt- und Raumplanung Popularität, denn sie versprechen, alternative Entwicklungsmöglichkeiten und Zukünfte der Stadt aufzuzeigen. (Vgl. Fellner/Gestring 1989: 49) Allerdings erfüllen die Praxisbeispiele, so der Befund des Symposiums, dieses Versprechen nur unvollkommen. Die Szenarien schaffen kein alternatives Denken zum Wachstumsparadigma. Ein Teilnehmer wagt daher folgende Prognose: „Ich vermute, daß der 22. Wissenschaftstag des ILS im Jahre 2010 rückblickend feststellen wird, daß Ende der 80er Jahre Szenarios sehr in Mode gekommen sind, und daß diese Mode zu Beginn der 90er Jahre wieder aufgegeben wurde, weil das Schreiben von Szenarios nicht alle Erwartungen erfüllt hat.« (Drevermann 1989: 47) Meine Perspektive ist es, Zukunftswerkstätten und Szenariotechniken als Formate zu begreifen, die das kollektive und kreative Erfinden von alternativen Zukünften ermöglichen sollen – und deren Geschichten zugleich von den Unmöglichkeiten dieses Vorhabens erzählen.2 Seit ihren Ursprüngen im Feld der Zukunftsforschung, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg an außeruniversitären zukunftsorientierten Forschungs- und Beratungsinstituten formiert, (vgl. Steinmüller 2000: 41) werden Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten mittlerweile in unterschiedlichen Feldern und Zusammenhängen eingesetzt.3 Je nach Verwendungszusammenhang variieren die Begrifflichkeiten – ich werde sie daher zunächst im Plural verwenden. Herman Kahn, der oft als Erfinder der Szenariotechniken bezeichnet wird, übernimmt den Begriff ›Szenarium‹ aus der Terminologie des Theaters,4 um mit ihm das Zustandekommen einer hypothetischen Situation in der Zukunft zu beschreiben und darzustellen. Robert Jungk vergleicht Zukunftswerkstätten mit Probebühnen, auf denen die Welt von morgen

2

Mit ›alternativen Zukünften‹ sind hier nicht Utopien im Sinne eines alternativen Weltentwurfs gemeint. Bei Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten geht es immer um wahrscheinliche bis unwahrscheinliche Zukünfte zu einem abgegrenzten, definierten Themen- oder Problemfeld.

3

Im Unternehmensmanagement werden sie als Werkzeuge strategischen Managements und als Moderations- und Kreativitätstechniken eingesetzt (vgl. Albers: 2004); in Partizipationshandbüchern, die von Stadtverwaltungen herausgegeben werden, gelten sie als Verfahren der Bürger_innen- oder Öffentlichkeitsbeteiligung.

4

Ein Szenarium (gr.-lat. scaena: Schauplatz, Bühne) ist eine für die Regie und das technische Personal erstellte Übersicht mit Angaben über Szenenfolge, auftretende Personen etc.

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fantasievoll erfunden und dargestellt werden kann. Es drängt sich daher die Frage auf, welche Rolle das Theater und die performativen Künste in der allgegenwärtigen Produktion von Zukunftsszenarien und Zukünften spielen können und welches Potenzial es hat, Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten tatsächlich als szenische und performative Praxis zu begreifen. Mit dieser Fragestellung geht eine kritische Analyse einher. Als Künstlerin habe ich zu Partizipationsverfahren und methodischen Formaten ein ambivalentes Verhältnis: Sie sind mir nahe, weil ich selbst kollektive Prozesse mit heterogenen Gruppen gestalte, häufig Moderationsfunktionen übernehme und die Prozessgestaltung auf Übertragbarkeiten reflektiere. Gleichzeitig teile ich jenes Misstrauen gegenüber Methodenzwängen, modischen Rezepten zur Partizipation und zur systematischen Produktion von Zukunft. Es sind einerseits die Versprechen und andererseits das Scheitern und die Krisen der Zukunftswerkstätten und Szenariotechniken, die mich an den eingangs genannten Beispielen interessieren und frappieren: Wie kann sich das Versprechen der Zukunftswerkstätten – die Wiederbelebung der Demokratie – in ihr Gegenteil, den Vorwurf der Scheindemokratie, verkehren? Warum möchte heute niemand mehr Teil einer Zukunftswerkstatt sein? Woher kommt der Wunsch, nicht so moderiert werden zu wollen? Wie kommt es, dass Szenariotechniken keine Alternativen aufzeigen, obwohl dies doch gerade ihr Ziel war? Wie lassen sich, um die Prognose des Symposiumteilnehmers von 1988 aufzugreifen, Moden von Methoden beobachten und erklären? Anstatt von Moden könnte man auch von der Nachfrage oder dem Bedarf nach bestimmten Methoden und Formaten reden, um den Blick stärker auf historische Bedingungen und Notwendigkeiten zu lenken. In diesem Text möchte ich eine historische und vergleichenden Perspektive auf Zukunftswerkstätten und Szenariotechniken mit Ergebnissen aus dem eigenen künstlerischen Experiment Junges Institut für Zukunftsforschung kombinieren. Ich möchte damit einen Beitrag zu der übergeordneten Frage leisten,, nach welchen Formen der Versammlung und Teilhabe es zu welcher Zeit erhöhten gesellschaftlich Bedarf gibt und woher Resignationen und Krisen mit vorhandenen und festgeschrieben Protokollen demokratischer Versammlungen kommen können. Zunächst werde ich die Entstehung und Kontextualisierung von Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten anhand von Handbüchern, Studien und Dokumentationen über ihren Gebrauch herausarbeiten. Den Versprechen des Denkens in Alternativen (Szenariotechniken) und der Demokratisierung der Zukunft (Zukunftswerkstätten) liegen jeweils spezifische Konzeptionen von Zukunft und Zukunftsverhältnisse zugrunde, die ich mit Bezugnahme auf die Soziologin Elena Esposito anschließend reflektieren und kritisch analysieren werde. Das eigene künstlerische Experiment Junges Institut für Zukunftsforschung, das im Folgen-

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den Gegenstand der Betrachtung sein wird, zieht einerseits Konsequenzen aus der historischen und theoretischen Analyse: Das Projekt, das am Forschungstheater Hamburg 2012/13 realisiert wurde, setzt bei Schülerinnen und Schülern als Akteur_innen an, weil sich für sie die Zukunftsverhältnisse, die sich in der theoretischen Analyse als Problemlagen zeigen, in besonderer Weise zuspitzen. Im Jungen Institut für Zukunftsforschung beraten Kinder und Jugendliche in und mit den Mitteln des Theaters Personen des öffentlichen Lebens der Stadt in Zukunftsfragen – ähnlich wie bei Zukunftswerkstätten lässt sich das Anliegen des Projekts als Ausrichtung auf eine Demokratisierung der Zukunft beschreiben. Anders als Zukunftswerkstätten behauptet sich das Institut jedoch als eine soziale Erfindung, die sofort zur Praxis wird bzw. in der Praxis hervorgebracht wird, um so das Realisierungsproblem auf den Kopf zu stellen. Andere Erfahrungen im künstlerischen Experiment bestätigen andererseits aber die Unmöglichkeit der Erfindung alternativer Zukünfte, wie sie auch in der Fachliteratur und -diskussion beschrieben werden. Diese Unmöglichkeiten werden durch die beteiligten Schülerinnen und Schüler, die Koforschenden, konkretisiert und erfahrbar gemacht. Die dargelegten Befunde führen mich im letzten Teil des Texts zu einem Blick auf die gegenwärtige Krise der Partizipation, die ich als eine Krise der Partizipationsprotokolle bzw. der Protokollreproduktion und als eine Krise des Protokolls/der Agenda Zukunft bzw. der Zukunftsreproduktion betrachte.

D AS D ENKEN IN A LTERNATIVEN (D IE UNSICHERE Z UKUNFT ) An den Beginn der Geschichte der Szenariotechniken könnte man den Titel des Buchs setzen, das Herman Kahn 1962 veröffentlicht: Thinking about the unthinkable lautet seine Devise für den Kalten Krieg und er stellt in seinem Buch Überlegungen für eine Welt nach einem Atomkrieg an. Kahn gründet nach seiner Karriere als militärstrategischer Berater eine eigene Politikforschungs- und Beratungseinrichtung, das Hudson-Institut, das auch als erstes Zukunftsforschungsinstitut gilt und Herausgeberin des Futurologieklassikers Ihr werdet es erleben5 ist. In diesem Bericht geht es um nichts weniger als um langfristige Studien zur weltpolitischen Lage bis zum Jahr 2000, um »alternative Zukunftsformen« (Kahn 1971: 21), die die Abhängigkeiten von politischen Entscheidungen heute und deren mögliche Konsequenzen in ferner Zukunft aufzeigen sollen.

5

Die englische Ausgabe ist von 1967 und heißt The Year 2000 – A Framework for further Speculation, während die deutsche Ausgabe im Untertitel den prognostischen Charakter betont: Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000.

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Einerseits sollen so Voraussetzungen für langfristiges und zielgerichtetes politisches Handeln geschaffen werden, andererseits wird die Fähigkeit der Flexibilität beschworen: »Wie kann er [der Politiker] in dieser Welt der immer rascher werdenden Veränderungen und globalen politischen Verwicklungen die hierzu notwendigen Fähigkeiten erwerben? Welches sind die entscheidenden Punkte jener Flexibilität, die so einmütig als unentbehrliche Eigenschaft der künftigen Politiker angesehen wird? […] Mit einfachen Voraussagen darf man sich hier nicht zufrieden geben. Man muss eine Reihe von Zukunftsformen in Betracht ziehen.« (Kahn 1971: 19)

Die Diagnose einer unsicheren Zukunft steht am Beginn fast aller Texte und Publikationen zu Szenariotechniken. Die Welt sei zu komplex und unberechenbar geworden, als dass man auf Zukunftsfragen mit herkömmlichen Prognosemethoden antworten könne. Aus der Kritik an herkömmlichen Prognosen und Trendextrapolationen, die eine wahrscheinliche Zukunft vorhersagen, entsteht das Konzept der multiplen Zukünfte. Indem mehrere hypothetische Zukunftsbilder zu einer Zukunftsfrage entworfen werden, sind »die Wechselwirkungen komplexer, ungewisser Faktoren« (ebd.: 21) expliziter Bestandteil der Zukunftsanalysen und -explorationen. Die Formel lautet: »Denken auf Vorrat« (Albers 2001: 17) oder ›Denken in Alternativen‹. Die Methodologie Kahns sieht vor, zunächst auf der Grundlage von statistischen Daten und langfristigen Trends eine Standardwelt zu entwerfen. Alternative Zukunftsformen und -szenarien entstehen dann durch systematische Variationen der unsicheren Elemente dieser Standardwelt. Szenarien geben so Antworten auf die Fragen: »1. Wie mag eine hypothetische Situation Schritt für Schritt zustande kommen? 2. Welche Alternativen gibt es in jedem Stadium für jeden Teilnehmer, den weiteren Prozess zu verhindern oder in eine andere Richtung zu lenken?« (Kahn 1971: 252) Zukunftsforschungsinstitute seien in Mode, schreibt Bell im Nachwort zu Kahns Buch, sie machten sich durch eine neue Methodologie selbstständig, und diese Methodologie verspreche, eine verlässlichere Grundlage für realistische Alternativen und Entscheidungen abzugeben. (Vgl. ebd.: 416) Die Methodologie Kahns grenzt sich zwar von der Prognostik ab, trägt aber Wissensbestände aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen und mutet in ihren systematischen Variationsversuchen und im Vokabular wie eine neue Wissenschaft an. Im Rückblick bleibt auch Kahn ein Kind seiner Zeit, »in der die Futurologen noch glaubten, eine Zukunft zu haben« (Haaf 1998: 1). Seine Ideen sind vom technischen bis technokratischen Fortschrittsglauben und von Machbarkeitsfantasien im Hinblick auf die militärische und wirtschaftliche Stärke der USA geprägt. (Vgl. ebd.: 2) Doch

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Variationen einer Standardwelt scheinen nicht auszureichen, um tatsächliche Krisen und Überraschungen vorherzusehen: Die Ölkrise von 1973, Antiatomproteste und ökologische Bewegungen, eben jene Ereignisse, die bereits wenige Jahre nach Erscheinen des Buchs eintreten, kommen hier nicht vor. Es sind aber gerade jene Energiekrisen und Krisenerfahrungen der Grenzen des Wachstums – wie auch die gleichnamige und einflussreiche Studie des Club of Rome von 1972 heißt6 –, die zur Weiterentwicklung und Verbreitung der Szenariotechniken im strategischen Management von Unternehmen führen. Das Ölunternehmen Royal Dutch/Shell übersteht den Ölpreisschock von 1973 besser vorbereitet als andere Unternehmen, weil seit den frühen 1970er-Jahren in der Abteilung ›Group Planning‹ mit Szenarien experimentiert wird. (Vgl. Schwartz 1996: 7) Im Unternehmenskontext wird die weltpolitische Lage nicht per se, sondern als Unternehmensumfeld in den Blick genommen, um herauszufinden, welche Einflussbereiche (driving forces) und -faktoren (key factors) und damit welche Unsicherheitsfaktoren (critical uncertainties) auf die Zukunft des Unternehmens einwirken könnten. (Vgl. ebd.: 100-117) Analog zu Kahn geht es auch hier darum, die von einer official future abweichenden Zukünfte zu visionieren, nicht aber, um eine der Alternativen auszuwählen, sondern um höchstmögliche Flexibilität zu erzielen: »No matter what future takes place, you are much more likely to be ready for it – and influentual in it – if you have thought seriously about scenarios« (ebd.: XIV). Das Schreiben von Szenarien begreift der Shellmitarbeiter Schwartz in seinem Buch The Art of the Long View – Planning for the Future in an Uncertain World nicht wie Kahn als Methodologie: »This approach is more a discplined way of thinking than a formal methodology« (ebd.: 4). Es handelt sich nach Schwartz um einen argumentativen Gruppenprozess, der sowohl analytische als auch kreative Momente enthält. Erfahrungswissen, subjektive Einschätzungen und Fantasie spielen eine wichtige Rolle, um gegenwärtige Entwicklungen fiktiv fortzuschreiben. Statt um Datenerhebung geht es um »information hunting« und zu den »research tactics« gehört es auch, Überraschungen wahrzunehmen, Reisen zu machen oder mit Taxifahrern zu reden (ebd.: 61). »Scenario thinking is an art, not a science« (ebd.: 27) – und so wird für Szenarien vorzugsweise die Darstellungsweise der Erzählung gewählt:

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Methodisch basiert die Studie Grenzen des Wachstums auf dem sogenannten global modelling, einem computergestützten Berechnungs- und Simulationsverfahren, das zwar szenariobasiert ist, sprich verschiedene Simulationsläufe unternimmt, aber einen eigenen Zweig darstellt. (Vgl. Steinmüller 2000: 45)

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»It is a common belief that serious information should appear in tables, graphs, numbers or at least sober scholarly language. But important questions about the future are usually too complex or imprecise for the conventional language of business and science. Instead we use the language of stories and myths. Stories have a psychological impact that graphs and equalations lack.« (Schwartz 1996: 37f.)

Zu beobachten ist eine Narrativierung von Zukunft, die v.a. wegen ihrer Wirkung vorgenommen wird: Szenarien sollen die Vorstellungswelten (mental models) von Personen erreichen und verändern. (Vgl. ebd.: XV) Eine weitere Begründung für die Modifikation in Richtung Kunst ist der Unternehmenskontext selbst. Es geht hier nicht um politische Entscheidungen oder wissenschaftliche Aussagen, die öffentlich gerechtfertigt und methodisch legitimiert werden müssen, sondern um Unternehmensentscheidungen. Szenarien implizieren hier ein Innovationsversprechen. In dem Maße, in dem Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation zu den Grundpostulaten unternehmerischen Handelns zählen, werden Szenarien Teil von Innovationsstrategien. Dies legen auch die Handbücher und Moderationsfibeln nahe, die ab den 1990er-Jahren in der Managementliteratur erscheinen und Szenarioprojekte als Kreativitätstechnik der Organisationsentwicklung präsentieren, die Führungskräften hilft, die Unternehmenszukunft mithilfe der Mitarbeitendenpotenziale innovativ zu gestalten. (Vgl. Albers 2001: 8) Während sich Schwartz’ Buch eher wie ein Erfahrungsbericht liest, verfestigt sich der Szenarioprozess erst in und durch die Handbücher zu einem vorgegebenen Protokoll, wird quasi als Erfolgsrezept handhabbar gemacht.7 Aufschlussreiche und kritische Reflexionen über das Schreiben von Szenarien stellen die Dokumentation des Symposiums Szenarien in der Stadtentwicklung von 1989 sowie die Studie Zukünfte der Stadt dar, in der Szenarien von elf westdeutschen Städten untersucht werden, die teils von Ämtern, teils von professionellen Instituten geschrieben wurden. (Vgl. Fellner/Gestring 1991) Auch hier führt eine Krise, ein Trendbruch zur Abkehr von Prognosen. Städte und Regionen sind seit der Krise des Fordismus erstmals mit Schrumpfungsprozessen konfrontiert. (Vgl. ebd.: 7) Instrumente der Stadtplanung, die seit Beginn der Industrialisierung immer auf die Vorstellung einer wachsenden Stadt ausgerichtet

7

Folgende Phasen werden meistens benannt: 1. Definition Problem- und Fragestellung, 2. Einflussbereiche und -faktoren benennen, 3. Wirkungsanalyse und Auswahl der Schlüsselfaktoren, 4. Erarbeitung von unterschiedlichen Zukunftsprojektionen für die Schlüsselfaktoren, 5. Kombination und Formulierung von Szenarien und 6. Szenariotransfer (Handlungsempfehlungen erarbeiten).

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waren, verlieren teilweise ihre Basis, weil sie nicht für die »Lenkung von Schrumpfungs- und Rückbaumaßnahmen konzipiert sind. […] Eine der zu beobachtenden Reaktionen der Städte […] ist die vermehrte Anwendung der Szenariotechnik« (ebd.: 49). Allerdings offenbart der Symposiumsbericht eher eine Krise der Szenariotechniken: Die Alternativplanungen würden sich häufig darauf beschränken, eine negative und eine positive Zukunftsvariante vorzustellen, eine Schreckensvision und einen gangbaren Pfad, so dass sich eine politische Diskussion erübrigt. (Vgl. Häußermann/Siebel 1989: 12) Zwei Szenarien für die Stadt Braunschweig, die aus rückblickender Perspektive im Jahr 2000 verfasst sind, machen das deutlich: »›Braunschweig sicher auf steiler Talfahrt‹ (Szenario A): […] Die negativen Entwicklungen nehmen ungelenkt ihren Lauf, […] so dass mutlos am Ende festgestellt werden muss, dass Armut und Kriminalität die einzigen Wachstumspotentiale der Stadt zu sein scheinen. […] ›Braunschweig, das Mekka für Innovation und sanfte Technologien‹ (Szenario B): […] [F]ormuliert ein neues Leitbild für die Stadt, wenn es gelingt, mit geeigneten Maßnahmen der Talfahrt entgegenzusteuern. […] Braunschweig ist zu einem internationalen ›Agrar- und Biozentrum‹ mit prosperierender Wirtschaft und wieder steigenden Einwohnerzahlen geworden.« (Vgl. Fellner/Gestring 1991: 118-121)

Die Szenarien schaffen kein alternatives Denken zum Wachstumsparadigma: Die Lösungswege zielen auf eine ökonomische Wiedergewinnung des Wachstums, höchstens eines anderen Wachstums, oder auf dessen Erreichen mit anderen Mitteln. Schrumpfungsprozesse werden nicht offensiv als positive Alternative vertreten. Auch die Nutzbarkeit von Szenarien selbst steht auf dem Symposium zur Diskussion: Es drohe eine Überproduktion an Szenarien, die nach drei Tagen niemanden mehr interessieren und die nicht in den Alltag von Stadtverwaltungen Eingang finden. (Vgl. Drevermann 1989: 49) Statt einen explorativen Charakter zu haben, funktionieren Szenarien hier als »normative narrative Szenarien« (Steinmüller/Gaßner 2006) oder als Formulierungen eines Leitbilds. Die Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den Städten wäre damit ein Motiv für die Mode der Szenarien in der Stadtplanung. Bezeichnenderweise ist für die Stadt Hamburg in der Studie Zukünfte der Stadt anstelle einer Szenarioanalyse die Rede des Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi von 1983 zu finden, in der er die Idee der Stadt als Unternehmen propagiert. (Vgl. Fellner/ Gestring 1991: 138) Die Logik des Wettbewerbs politischer Systeme, Unternehmen und Städte ist von Anfang an in die Geschichte der Szenariotechniken eingeschrieben. Protagonisten dieser Geschichte sind Global Player wie Militärund Regierungsberater (Kahn), global agierende Unternehmen (Shell) und Städ-

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te, die ihre (globale) Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit sichern wollen. Zu diesem unternehmerischen Zugriff auf Zukunft stellen die Zukunftswerkstätten, um deren Geschichte es im Folgenden gehen wird, einen Gegenentwurf dar.

D IE D EMOKRATISIERUNG DER Z UKUNFT (D IE Z UKUNFT HAT SCHON BEGONNEN ) An den Beginn der Geschichte der Zukunftswerkstätten könnte man den Titel des erfolgreichen Sachbuchs des Journalisten Robert Jungk von 1952 setzen: Die Zukunft hat schon begonnen. Diese Reportage über den technischen Fortschritt in den USA, die auch ein Kapitel über Thinktanks und Zukunftsforschung à la Kahn enthält, schwankt zwischen Bewunderung dafür und Warnung davor, dass in Amerika der »Griff auf die Zukunft« bereits begonnen habe. (Vgl. Eberspächer 2011: 7) Jungk, der in der Folge dieser Veröffentlichung zum Pionier der Zukunftsforschung im europäischen Raum wird,8 distanziert sich in den 1970erJahren vom explorativen und technokratischen Zugriff auf Zukunft. Ebenfalls beeinflusst vom Bericht des Club of Rome und von neuen sozialen Bewegungen entwickeln sich in Europa in den 1970er-Jahren »Ansätze zu einer alternativen, kritischen und partizipatorischen Zukunftsforschung im Unterschied zur Establishment-Zukunftsforschung«, zu denen maßgeblich Robert Jungk mit der Erfindung der Zukunftswerkstätten beiträgt. (Vgl. Steinmüller 2000: 46) »Dringend notwendig ist es, daß die Geführten und Verführten eigene Zukunftsvorstellungen entwickeln, die sie den Prognosen und Projekten der Mächtigen entgegenstellen können. Aber in welchen Gesprächskreisen, Alternativgruppen, Vereinigungen, Interessenverbänden, Institutionen können die Bürger, die Bauern, die Arbeiter und Angestellten ihre eigenen Konzepte für künftige lebenswerte, menschenwürdige Zustände ebenso weit voraus entwerfen wie Staat und Industrie? Hier ist als Folge jüngster Entwicklungen im ohnehin unvollkommenen demokratischen System eine weitere Lücke entstanden.« (Jungk/Müllert 1993: 13)

Statt auf das strategische Pläneschmieden der Global Player lässt sich die Rede von alternativen Zukünften hier auf das Pläneschmieden von ›unten‹ beziehen. Es geht hier weniger um ein methodisches Format der Zukunftsforschung als um eines der Zukunftsgestaltung, um »ein Forum, in dem sich Bürger gemeinsam bemühen, wünschbare, mögliche, aber auch vorläufig unmögliche Zukünfte zu

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Er gründet u.a. im Jahr 1964 das Institut für Zukunftsfragen.

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entwerfen und deren Durchsetzungsmöglichkeiten zu überprüfen.« (Ebd.: 17) Durch zahlreiche Erprobungen in der Praxis entwickelt Jungk dieses Format, bei dem alle Zukunftsdenker_innen und Zukunftsgestalter_innen sein können und sollen und bei dem die Fantasie und das schöpferische Erfinden von wünschenswerten Zukünften im Mittelpunkt steht. Ausgehend von der Notlage einer Gruppe beginnt der Prozess mit einer Kritikphase, in der gemeinsam Äußerungen des Unmuts und der Resignation zum Gegenstand der jeweiligen Zukunftswerkstatt gesammelt werden. Darauf folgt die Fantasie- oder Utopiephase: Die Kritikpunkte werden nun ins Positive gewendet und zur Grundlage für eine utopische Ideensammlung genommen, in der Wunschvorstellungen skizziert werden. (Vgl. ebd.: 109).9 Jungk selbst thematisiert in seinen Büchern immer wieder eine der Schwierigkeiten, die das Erfinden alternativer Wunschzukünfte oft verhindere: Die »Wunschkräfte« (ebd.: 28) und Potenziale der Fantasie müssten erst einmal freigelegt werden, denn sie seien zu häufig von den dominanten Zukunftsbildern überlagert, von Propaganda und Konsumwerbung verschüttet oder von Zukunftsängsten gebremst. Erst in der dritten Phase wird in den Zukunftswerkstätten »nach Verwirklichungswegen gefragt, wenn wir uns schon in der Wunschzukunft eingerichtet haben« (ebd.: 29). Anders als beim bloßen ›Denken auf Vorrat‹ enthalten die Zukunftswerkstätten damit ein Versprechen auf Mitgestaltung und Gestaltbarkeit der Zukunft in einem praktischen Sinn: In Zukunftswerkstätten wird an der Zukunft gebaut und gebastelt, Zukunft wird hier selbst gemacht. Materialien braucht es wenig, alles wird handschriftlich fixiert, die Zukunftsideen werden in selbst gemalten Skizzen festgehalten, sodass Zukunftswerkstätten mit wenig Aufwand an jedem Ort durchführbar sind. Jungk sieht den Ort der Zukunftswerkstätten innerhalb sozialer Bewegungen, in konkreten lokalen Kontexten und jenseits offizieller politischer Bühnen. Die Zukunftswerkstätten sollen der Wiederbelebung der Demokratie dienen. Die Versprechen sind nichts Geringeres als die Demokratisierung der Zukunft und die Zukunft der Demokratie.

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Der Utopiebegriff ist hier irreführend, weil es auch hier nicht um Utopien im Sinne eines alternativen Weltentwurfs geht. – Die Themen der Zukunftswerkstätten sollen stets den lokalen und persönlichen Bezug zu den Betroffenen halten. Der Utopiebegriff stimmt aber insofern, als dass in dieser Phase sowohl Sachkenntnisse als auch die Frage der Realisierbarkeit völlig ausgeblendet werden sollen. Die Verbindungen zwischen Gegenwart und Zukunft werden gewissermaßen gekappt, während es bei den Szenariotechniken immer um variantenreiche Verlaufsformen gegenwärtiger Entwicklungen in die Zukunft geht.

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»Uns geht es darum, das Konzept der Zukunftswerkstatt als eine Demokratisierungschance weiter zu verbreiten und zu vertiefen. Unsere Utopie: Zukunftswerkstätten in jeder Stadt und an jedem Ort, an dem gesellschaftliche Probleme auftauchen […]. Sie sind keine neuen Instrumente der Lenkung, sondern Geburtshelfer einer Demokratie, die zwar oft versprochen und viel besprochen wurde, aber bisher noch nie und nirgendwo zu wirklichem Leben erwacht ist«. (Jungk/Müllert 1993: 188)

Angeblich versicherte Carlo Schmid in den 1980er-Jahren, dass die Zukunftswerkstatt seit der Einführung des Parlaments eine der wenigen Erfolg versprechenden sozialen Erfindungen auf politischem Gebiet sei. (Vgl. StrackeBaumann 2008: 43) Die Zukunftswerkstätten sollen dazu dienen, weitere »soziale Erfindungen« (Jungk/Müllert 1993: 31) zu generieren. Das Dispositiv der sozialen Erfindungen, bei denen die Urheber oft unbekannt bleiben, setzt Jungk den technischen Erfindungen entgegen: »Wäre die systematische Hervorbringung und ständige Erprobung von Ideen, die das menschliche Zusammenleben humanisieren, nicht vordringlicher als die Überproduktion auf dem Gebiet technischer Neuerungen?« (Ebd.) Dieses Erfinden sei eine Kunst, die aber nicht an Kunstwerke gebunden, sondern in die Gesellschaft ausstrahlen, ins soziale Geschehen durchbrechen müsse. Auch macht Jungk nicht das einmalige oder zufällige, sondern das systematische Hervorbringen von Erfindungen stark – die Zukunftswerkstätten als Methodenerfindung für das Erfinden. Vermutlich sind es diese Demokratisierungsversprechen, die Zukunftswerkstätten allmählich zum Repertoire der Politischen Bildung, der Erwachsenenbildung, aber auch des Schulunterrichts werden lassen. (Vgl. Stracke-Baumann 2008: 42) Das pädagogische Moment, der Ermutigungs- und Emanzipationsgedanke der Zukunftswerkstätten prädestiniert sie für Bildungszusammenhänge, lässt aber auch ihren didaktischen Impetus hervortreten, der ihnen heute noch anhaften mag: Während die Teilnehmenden von der Resignation oder Unmündigkeit zur Mitgestaltung aktiviert werden müssen, ist die Moderation der Zukunftswerkstätten zu einem professionellen Gebiet geworden, für das es eine Ausbildung, ein Netzwerk und einen Moderationskoffer gibt. Ein weitere Schwierigkeit ist die Frage nach der Verwirklichung der Wunschzukünfte. Stracke-Baumann untersucht in einer empirischen Studie die Nachhaltigkeit von Zukunftswerkstätten in der Organisationsentwicklung. Inwiefern werden Ideen und Projekte aus den Werkstätten tatsächlich umgesetzt? Denn Jungk selbst sieht zwar eine Realisierungsphase vor, in der Projektpapiere geschrieben und Nachfolgeaktivitäten geplant werden können, er sieht die Umsetzung aber nicht als genuine Aufgabe der Zukunftswerkstätten – sie liegt v.a. in den Händen der Beteiligten. Hier stellt sich also die Frage, wann Zukunftswerkstätten tatsächlich

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Gestaltungs- und Entscheidungsmacht zukommt und wann es sich um Simulationen von Teilhabe und Demokratie handelt? Zukunftswerkstätten scheinen im 21. Jahrhundert im Vergleich zu ihren Anfängen die Seite gewechselt zu haben: Sie sind etabliert, werden von Stadtverwaltungen ausgerichtet und gehören zum Kanon informeller Beteiligungsverfahren in der Stadtplanung, denen im Zuge »kommunikativer Planungskulturen« (Danielzyk/Knieling 2011: 474) verstärkte Aufmerksamkeit zukommt. Nicht selten werden dabei Verfahren kombiniert: Das Projekt Bürgervision des Thinktanks Next Hamburg stellt bspw. eine Kombination aus Zukunftswerkstätten, Szenariotechniken und ›E-Partizipation‹ (Onlineplattformen) dar, die als übertragbare Methode zur kollaborativen Generierung von Zukunftsvorstellungen präsentiert wird. (Vgl. Burij 2011: 4f.) Die Rückführung der Visionen der Bürgerinnen und Bürger in die politische Landschaft wird zwar versprochen, beinahe wichtiger scheint es den Initiierenden aber zu sein, als Erfinder_innen einer Methode oder eines Modells in Erscheinung zu treten. Partizipationsprojekte und -verfahren sind eben nicht nur eine Mode, sondern auch ein Markt, und Thinktanks müssen sich – wie im Fall von Kahn – mit eigenen Methodologien vermarkten. Im Unterschied zur formellen Planung, deren Verfahrensschritte im Planungsrecht festgelegt sind, können Verfahren der informellen Planung situationsbedingt gestaltet werden, was aber auch heißt, dass die Ergebnisse dieser Verfahren weniger verbindlich sind und von der Selbstbindung der Beteiligten abhängen. (Vgl. Danielzyk/Knieling 2011: 475) Die Frage, was mit den Ideen und Ergebnissen solcher Prozesse passiert und ob die Gefahr der Überproduktion von Ideen besteht, bleibt oft unbeantwortet und ist für jeden Einzelfall genau zu überprüfen. So kann eben das eintreten, wogegen 2012 bei der Hamburger Stadtwerkstatt protestiert wird und wogegen schon Jungk mit seinen Zukunftswerkstätten eigentlich anzutreten meinte: »Trotz allem Gerede über Bürgerbeteiligung werden Entscheidungen […] über ihre Köpfe hinweg getroffen. Daran ändert auch die Auslegung von Plänen, die Veranstaltung von Bürgerforen, die sogenannte offene Planung nichts: Die Betroffenen kommen immer zu spät.« (Jungk 1991: 11) Oder anders gesagt: Die Zukunft hat in vielen Fällen schon begonnen.

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OFFENE

Z UKUNFT

HAT SCHON ANGEFANGEN

Szenariotechniken versprechen, einen neuen Zugriff auf die offene, unsicher gewordene Zukunft, und Zukunftswerkstätten, einen neuen Zugriff auf die geschlossene, schon begonnene Zukunft zu ermöglichen. Es ist an dieser Stelle aufschlussreich, die derart artikulierten Zukunftsverhältnisse genauer zu reflek-

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tieren. Elena Esposito macht in ihrem Aufsatz Die Konstruktion einer offenen Zukunft (Esposito 2011) deutlich, dass diese beiden Wahrnehmungsweisen von Zukunft keinen Gegensatz darstellen, sondern zwei Dimensionen unserer Beziehung zur Zukunft sind. Durch die Konstruktion einer offenen Zukunft gelingt es modernen, im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften, die Zukunft als Möglichkeitsraum und die Gegenwart als Entscheidungsspielraum, der verschiedene Alternativen bietet, aufzufassen. Für denjenigen, der in der Gegenwart Entscheidungen zu treffen hat, ist die Offenheit der Zukunft zum einen vorteilhaft, weil sie Möglichkeiten bietet, andererseits ist sie nachteilig, denn sie bedeutet Unsicherheiten und Risiken. (Vgl. ebd.: 11) In der Geschichte der Szenariotechniken wird mal das Flexibilitätsversprechen – das Denken in Alternativen könne helfen, Risiken und Gefahren rechtzeitig zu erkennen – und mal das Innovationsversprechen – das Denken in Alternativen könne dabei helfen, unternehmerisch erfolgreich zu handeln – akzentuiert. Durch diese zweifache Bedeutung der offenen Zukunft offenbart sich ein Paradoxon. Die unsichere Zukunft wird im Kontext von Szenariotechniken als (Entscheidungs-)Problem dargestellt, aber niemals aufgelöst. Das Ziel einer Szenarioanalyse ist es meist nicht, sich für ein Zukunftsszenario zu entscheiden oder einzusetzen, sondern flexibel auf multiple Zukünfte reagieren zu können. Multiple Zukünfte stehen für eine Vervielfältigung von Zukunft, durch die Unsicherheit aufrecht erhalten bzw. erzeugt wird. Esposito bezeichnet die Ungewissheit10 der Zukunft als eine Ressource, »und zwar die Ressource schlechthin, die ökonomisches Handeln überhaupt motiviert«. (Esposito 2010: 25) Welche Bedeutung hat aber nun die gegensätzliche Formel, die Zukunft habe bereits angefangen? Es geht dabei um die Beziehung zwischen den Entscheidungen heute und deren Konsequenzen in einer möglicherweise fernen Zukunft: Was wir heute tun und nicht tun, schafft die Voraussetzungen dafür, was morgen möglich sein wird. (Vgl. Esposito 2011: 11) Die Geschichte der Zukunftswerkstätten zeigt, dass der Eindruck, die Zukunft habe schon begonnen, mit der Wahrnehmung zu tun hat, von diesen Entscheidungen, die die Voraussetzungen für morgen schaffen, ausgeschlossen zu sein. Die Zukunft hat schon begonnen, weil andere über sie entscheiden, oder weil diese Entscheidungen schon vor langer Zeit getroffen wurden. Für Esposito bilden die offene und die geschlossene Zukunft eine Zirkularität und eine paradoxe Situation zwischen Macht und Ohnmacht. Die offene

10 Finanzmärkte erzeugen selbst Ungewissheit, eine endogene Ungewissheit, so Esposito, die nicht durch eine tatsächliche Instabilität externer Bedingungen bestimmt ist, sondern durch eine zirkuläre und reflexive Art und Weise der gegenseitigen Beobachtung von Erwartungen. (Vgl. Esposito 2010: 25)

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Zukunft hat schon begonnen: Wir wissen zwar, dass das, was künftig möglich sein wird, mit dem zusammenhängt, was wir heute tun, und auch mit dem, was wir heute vorhersagen. Wir können aber nicht wissen und nicht kontrollieren, wie es das tut. (Vgl. ebd.) Um diese Zirkularität genauer zu beschreiben, schlägt Esposito die soziologischen Begriffe der gegenwärtigen Zukunft und der zukünftigen Gegenwart vor: »Die gegenwärtige Zukunft ist das Bild der Zukunft, wie wir es heute haben (in der Gegenwart), zu einem Zeitpunkt also in dem diese Zukunft nur in unseren Vorstellungen und Hoffnungen oder in unserer Projekten existiert […]. Die künftige Gegenwart ist dagegen das, was zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich der Fall sein wird, also das, was zu einem späteren Zeitpunkt gegenwärtig wird. Was uns jederzeit zur Verfügung steht, ist einzig die gegenwärtige Zukunft, welche in unserer Vorstellung existiert […]. Man kann nicht im Voraus sagen, wie die zukünftige Gegenwart auf die gegenwärtige Zukunft reagieren wird, man kann nur wissen, dass das, was wir tun, Folgen haben wird.« (Esposito 2011: 12)

Wenn uns nur die gegenwärtige Zukunft zur Verfügung steht, scheint es notwendig, nach den Möglichkeiten der Erfindung und Veränderung gegenwärtiger Zukünfte zu fragen und danach zu forschen, wie alternative Vorstellungen und Narrative der Zukunft entstehen und wirksam werden. Allerdings hat die historische Analyse gezeigt, dass diese Vorstellungen und Narrative sehr träge zu sein scheinen und sich beständig reproduzieren. Wir scheinen nicht nur von sehr langlebigen offiziellen Zukünften umgeben zu sein, sondern – noch gravierender – von alten gegenwärtigen Zukünften. Die Alternativszenarien in der Stadtplanung scheitern bspw. am Wachstumsparadigma, das sich gerade als veraltet herausgestellt hat. Liegt also das Problem in der Produktion von gegenwärtigen Zukünften selbst, die stets nur Vorstellungen, Bilder oder Narrative der Zukunft sind und Zukunft repräsentieren? Diese Antwort hätte eine weitere Konsequenz: Die Erfindung alternativer Zukünfte müsste dann im gegenwärtigen Handeln lokalisiert werden. Die Krisen der Zukunftswerkstätten haben ja gerade mit der fehlenden Durchsetzungs- und Umsetzungsmacht von Zukunftsbildern oder -ideen zu tun: Ihr Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsansatz entwickelt sich zu durchdesignten Partizipationssimulations- oder Zukunftsüberproduktionsräumen. Die Realisierung der Projektideen fehlt, weil die Verbindlichkeiten fehlen. Statt soziale Erfindungen zu fördern, die erst noch realisiert werden müssen, wäre nach sozialen Experimenten zu suchen – oder nach künstlerischen Experimenten mit ›Durchbruch ins Soziale‹ –, bei denen alternative Zukünfte in praktischen Schritten entwickelt und erprobt werden.

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D IE E RFINDUNG DES J UNGEN I NSTITUTS FÜR Z UKUNFTSFORSCHUNG (W IR SIND DIE Z UKUNFT ) Bereits das Konzept des Jungen Instituts für Zukunftsforschung stellt die Erfindung einer alternativen Zukunft für die Partizipationsmöglichkeiten von Kindern dar. Es lässt sich als soziale Erfindung bezeichnen, deren Um- und Durchsetzbarkeiten durch den Rahmen der Kunst experimentell erforscht und getestet werden können. Mit einer öffentlichen Ausschreibung adressiert das fiktive bzw. gerade erfundene Institut gleich zu Beginn des Forschungsprozesses Hamburger Institutionen, Organisationen und Bürger_innen und testet seine Realitätseffekte: »Das Junge Institut für Zukunftsforschung ist das erste Zukunftsinstitut, das von Kindern und Jugendlichen aus Hamburg gegründet wurde. Sitz ist das Forschungstheater Hamburg. Bei uns sind ausnahmsweise Hamburger SchülerInnen im Alter von 10-16 Jahren die Zukunfts-Weisen. Wir beraten städtische Einrichtungen, Vereine, Unternehmen, aber auch Privatpersonen in Zukunftsfragen. Unsere Stärken sind die Perspektiven und seherischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen im urbanen Raum. Alle reden von der Zukunft. Wir reden mit: Wir haben uns auf die Entwicklung von Zukunftsszenarien spezialisiert, bei uns kommen aber auch Methoden aus dem Bereich der Zukunftsvorhersage zum Einsatz. Am liebsten praktizieren wir einen Methodenmix. […] Was würden Sie gerne über Hamburgs nahe oder ferne Zukunft in den Jahren 2013 bis 2063 wissen? Suchen Sie Rat bei einer wichtigen Frage, die Sie oder Ihre Organisation im Hinblick auf die Zukunft haben? Stehen Sie vor einer schweren Entscheidung und wissen nicht, welchen Weg Sie einschlagen sollen? […] Wenn Sie eine Frage an uns richten wollen, füllen Sie bis zum 21.12.2012 unser Kontaktformular aus. Im Januar 2013 finden wir bei einem Gespräch heraus, was die Hintergründe für Ihr Anliegen sind. Wir entwickeln dann ein Vorhersagedesign, das speziell auf Ihre Frage zugeschnitten ist. Im Mai 2013 können Sie die Forschungsergebnisse im Forschungstheater abholen – verschiedene, alternative Zukunftsszenarien werden hier öffentlich präsentiert.« (Junges Institut für Zukunftsforschung: 2012)

Ähnlich wie bei Zukunftswerkstätten geht es beim Jungen Institut für Zukunftsforschung um eine Demokratisierung der Zukunft für diejenigen, deren Mitspracherechte und Mitgestaltungschancen v.a. auf den schulischen und familiären Rahmen beschränkt bleiben. Während die Formel ›Kinder sind unsere Zukunft‹ omnipräsent ist, muss festgestellt werden, dass für sie die geschlossene Seite unseres zweifachen Zukunftsverhältnisses besonders ins Gewicht fällt: Die Zukunft hat für sie schon begonnen. Wenn das, was wir heute tun und nicht tun, die Voraussetzungen dafür schafft, was morgen möglich sein wird, und wenn der outcome gegenwärtigen Handelns sich oft erst in ferner Zukunft zeigt, sind Kinder

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diejenigen, die die Konsequenzen dieses Handelns (oder Unterlassens) zu tragen haben. Die Verantwortlichen werden diese gar nicht mehr erleben. Kinder sind insofern unsere Zukunft, weil sie in einer zukünftigen Gegenwart leben werden, die von uns beeinflusst und gemacht ist. Der Begriff des »generationing« (Haug 2011: 26) weist zudem darauf hin, dass die Generationszugehörigkeit ähnlich wie die Geschlechtszugehörigkeit ein Merkmal darstellt, mit dem Einordnungsund Zuschreibungsprozesse verbunden sind. Ergebnisse kritischer Betrachtungen der Generationseinordnung fordern mehr Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und eine veränderte ,Kindheitspolitik‹, weil Älteren aus verschiedenen Gründen mehr Macht und Ressourcen zukommen und Kinder aufgrund ihrer Generationszugehörigkeit benachteiligt werden. Weil diese Benachteiligung aber nur zeitlich beschränkt stattfindet, so Haug, werde sie oft nicht als Problem wahrgenommen. (Vgl. ebd.: 27) Betrachtet man Kinder und Jugendliche als Schülerinnen und Schüler, als dem System Schule Zugehörige, spitzt sich dieses Zukunftsverhältnis auf der individuellen Ebene noch weiter zu. Die Schulzeit gilt als die Zeit, die die Voraussetzungen dafür schafft, was im späteren Leben möglich sein wird – dies steckt in der wohl zeitlosen Formel, die Schule sei wichtig für die Zukunft. Es ist eine Zeit des Aufschubs, in der das Jetzt für das Später suspendiert wird – diese Zukunftsfixierung des Systems Schule bedeutet, dass hier die individuelle Zukunft bereits beginnt oder schon begonnen hat. Kinder sind nicht einfach die Zukunft, sie müssen sie erst noch werden – sie müssen zukunftsfähig, in ihre Zukunft muss investiert werden. In der Bildungsdebatte des letzten Jahrzehnts spiegelt sich ein ökonomisches Verhältnis zur Zukunft im Namen der Zukunftsfähigkeit wider, das den eh schon vorhandenen Zukunftsdruck während der Schulzeit verschärft. Tendenz ist es, in Schülerinnen und Schülern »unternehmerische Lernende« zu sehen, »die in sich selbst investieren, das heißt als Personen, die jene Kompetenzen produzieren, die ihre employability sichern.« (Maschelein/Simon 2012)11 Für welche Zukunft soll man in der Schule also eigentlich vorbereitet werden? ›Investition in die Zukunft‹ bedeutet hier nicht die Produktion eines

11 Dieses Zitat bezieht sich im Original auf Studierende und wurde von mir auf

Schülerinnen und Schüler übertragen. Als signifikant für diese Entwicklung ist u.a. die Macht der Pisastudien zu nennen, die seit dem Jahr 2000 durchgeführt werden und die besonders in Deutschland zur Wahrnehmung einer Bildungskatastrophe geführt haben, während eine kritische Reflexion darüber, dass es sich bei PISA um Studien der OECD handelt, die eine Perspektivierung in Richtung von Humankapital und employability vornehmen und gewissermaßen die Kompetenzen des Nachwuchses für die Wirtschaft testen, weit weniger präsent ist.

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breiten Möglichkeitsraums im Sinne einer offenen Zukunft, sondern im Gegenteil von sehr geschlossenen Wenn-dann-Logikketten. Die Dominanz des engen und möglicherweise veralteten Narrativs ›Schule, Job, Geld, besseres Leben‹ zeigt sich auch in ersten Fragerunden mit den Schülerinnen und Schülern des Europagymnasium Hamm – in den Antworten auf die Frage, was Schule und Zukunft miteinander zu tun haben: »Wenn du auf eine Stadtteilschule kommst, dann […]. Aber wenn du auf ein Gymnasium kommst und das richtig schaffst und dein Abitur schaffst […], dann hast du viele Chancen auf ein besseres Leben. Also mehr verdienen und so.« (Clemens, 5. Klasse) »Wenn du dein Abi fertig machst, hast du einen Job. Dann gibt es Geld. Wenn du keinen Job hast, hast du kein Geld. Du kannst ja nicht dein Leben lang bei deinen Eltern bleiben. Du musst ja auch mal in ein Haus oder eine Wohnung ziehen. Und wenn du die ganze Zeit gammelst, ist es unnötig, dass du überhaupt lebst.« (Fatima, 5. Klasse)

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Die Umkehrung dieses Zukunftsverhältnisses, wie sie in der Frage zum Ausdruck kommt, was passiert, wenn wir Kinder und Jugendliche zu Zukunftsweisen erklären, anstatt ständig in ihre Zukunftsfähigkeit zu investieren, war der Anlass für die Erfindung und Gründung eines Jungen Instituts für Zukunftsforschung. Die Organisationsform des Instituts wurde gewählt, um neue Adressierungen und Kooperationen zu provozieren, die über den Kindertheaterrahmen wie auch den schulischen und familiären Rahmen hinausgehen. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln ihre Zukunftsszenarien nicht allein für den Theaterraum, sondern für andere Öffentlichkeiten, für Auftraggeberinnen aus der Stadt Hamburg. Sie betreten quasi den Markt derer, die Szenarien erstellen und Zukunft erforschen. Um herauszufinden, wer am Kinderzukunftsforschungsinstitut überhaupt partizipiert, welche Zukunftsfragen von wem formuliert und welche von den Kindern ausgewählt werden, hält die Ausschreibung des Instituts die

12 Das Junge Institut für Zukunftsforschung wurde im Jahr 2012 mit 43 Schülerinnen und Schülern des Europagymnasium Hamm gegründet, die aus zwei verschiedenen Klassenstufen kamen – einer 5. Klasse, bestehend aus 25 Kindern, und dem Theaterkurs der 8. Klassen, bestehend aus 17 Schülerinnen und Schülern. Als Rahmenbedingung für obige Aussagen und weitere Reflexionen des Projekts ist zu ergänzen, dass das Europagymnasium Hamm einen hohen Anteil migrantischer Schüler_innen hat, deutschfördernder Unterricht hat einen hohen Stellenwert. Gleichzeitig hat die Schule den Ruf als ›strengste Schule Hamburgs‹. Ziel ist es, in sehr kurzer Zeit nicht deutschsprachige Kinder in das Schulsystem zu integrieren und bis zum Abitur zu bringen.

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Zukunftsthemen, um die es gehen könnte, offen – es geht um Zukünfte der Stadt Hamburg in den kommenden 50 Jahren.

G LAUBT NICHT MAL UNSEREN F RAGEN (Z UKUNFT IST DAS , WORÜBER ES P ROGNOSEN

GIBT )

In einer szenischen Improvisation als Wahrsager_innen beschreiben die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen, welche ersten (Traum-)Bilder, Geräusche und Personen ihnen in den Kopf kommen, wenn sie an Hamburg in 50 Jahren denken: »Ich sehe überall alte Omas und Opas, die auf die U-Bahn warten. Die Uhren in den U-Bahnhöfen sind viel größer, weil die alten Menschen nicht so gut sehen können. Es wird immer größere Uhren geben, mit größeren Zahlen und größeren Zeigern. Es wird fast nur noch alte Menschen geben. Und nur noch sehr wenig Kinder. Die Kinder haben Angst, dass es bald keine Kinder mehr geben wird. Sie sehen aus wie Zombiekinder. Sie sind von der Haut her etwas blasser. Und sie suchen jemandem zum Spielen.« (Schülerin, 5. Klasse)

Die Schülerin greift das Thema des demografischen Wandels auf, wie es zumeist öffentlich rezipiert wird – als bedrohliche Überalterung der Gesellschaft. Sie fügt allerdings eine interessante Perspektive hinzu: Was bedeutet der demografische Wandel eigentlich –einmal ab von den Alten und dem Renten- und Wirtschaftssystem – für die Kinder? Das Junge Institut für Zukunftsforschung erhält bis Januar 2013 etwa 20 Forschungsaufträge per Post von unterschiedlichen Hamburger Akteur_innen – aus der Politik (Rathaus, Bezirksamt Wandsbek), aus sozialen Organisationen und Initiativen (Arbeiter-Samariter-Bund, GWA St. Pauli), Kultur- und Kinderkultureinrichtungen (Literaturhaus Hamburg u.a.), einem Unternehmen (HVV), einer Professorin, und einer Privatperson (›Gängeviertel-Gangster‹). Hinzu kommen Fragen, die die Schülerinnen und Schüler im Stadtteil Wandsbek auf der Straße und in Ladengeschäften im Namen des Instituts selber sammeln. V.a. bei den Umfragen auf der Straße, aber auch in den Zuschriften dominieren einige thematische Schwerpunkte: Neben den Themenkomplexen ›Mobilität/Verkehr‹, ›Klimawandel‹ und ›Wohnraum/Stadtbild Hamburg‹ ist es der Themenkomplex ›demografischer Wandel/Verhältnis der Generationen‹, der besonders stark repräsentiert ist:

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»Wie sollen es die jungen Leute schaffen, die Alten zu versorgen? Wird es in 50 Jahren mehr Pflege für alte und kranke Menschen geben?« (Umfrage) »Wie sieht zukünftig die Freizeitgestaltung von Senioren aus? Gibt es noch Seniorentreffs?« (Arbeiter-Samariter-Bund) »Wie sieht es zukünftig aus mit dem Zusammenleben unterschiedlicher Generationen?« (GWA St. Pauli) »Gibt es 2063 noch Menschen, die sich als türkeistämmig bezeichnen oder fühlen wir uns alle als deutsch oder sogar alle als Europäer? Die zweite große Frage, die mich beschäftigt, ist natürich, wie sich der geänderte Altersaufbau mit weniger Jüngeren und mehr Älteren im Jahr 2063 darstellen wird.« (CDU-Fraktionsvorsitzender Hamburger Bürgerschaft)

Das Entwerfen alternativer Zukünfte beginnt bei der Schwierigkeit, überhaupt Themen, Fragen oder Probleme als Zukunftsthemen zu identifizieren, die von dem abweichen, was als official future oder Zukunftskonsens bezeichnet werden kann: Jene Themen, die den Zukunftsdiskurs bestimmen und damit die Vorstellung davon, was die Zukunft (und die Gegenwart) ausmacht. Jene Themen, zu denen es Prognosen gibt, und die deswegen als zukunftsrelevant gelten, weil es zu ihnen Prognosen gibt. Neben der Reproduktion offizieller, bereits vorhergesagter Zukünfte, die sich in den Ausschreibungsergebnissen zeigen und die wahrscheinlich durch ihre Offenheit und Langfristigkeit begünstigt sind, lässt sich noch ein zweites zukunftsverengendes Moment erkennen. Die Themen des demografischen Wandels sind deswegen überrepräsentiert, weil hier Kinder die Zukunft erforschen. Das Generationenverhältnis, das der Aufbau des Projekts Junges Institut für Zukunftsforschung per se anspricht, bestätigt und verstärkt sich in den Forschungsaufträgen. Und es lässt sich vermuten, dass diese Diagnose des sich selbst verstärkenden Diskurses auch auf andere Zukunftsforschungsinstitute und -prozesse übertragbar ist: Zwischen denen, die die Aufträge vergeben, und jenen, die sie ausführen, bleibt stets nur ein beschränktes Spektrum von Themen verhandelbar, das die Aufmerksamkeit für alternative Fragestellungen und Zukünfte verunmöglicht. Unter den Zuschriften an das Junge Institut für Zukunftsforschung findet sich eine Absage, die den Zukunftsforscherinnen zu eben jener Skepsis gegenüber dem manipulativen Charakter von Fragen rät: »Ich fürchte, die Geschichte der Menschheit ist voll von nicht gestellten Fragen, die hätten gestellt werden sollen. […] Denn es sind ja nicht die Antworten – es sind in erster Linie

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die Fragen, auf die es ankommt. Bitte, liebes Junges Institut für Zukunftsforschung – also ihr, die zukünftig in dieser Stadt und dieser Region leben wollt: Hinterfragt nicht nur unsere Antworten, hinterfragt nicht nur die Informationen, die wir geben. Nein, glaubt nicht mal unseren Fragen.« (Büro Metropolregion Hamburg)

A LLES WIRD IN Z UKUNFT WENIGER (Z UKÜNFTE JENSEITS DES W ACHSTUMSPARADIGMAS ?) Die Prognosen zum demografischen Wandel sind nicht nur deswegen mächtig, weil sie auf der Prognosemethode schlechthin basieren. Sie repräsentieren den Bereich, in dem langfristige Prognosen als am ehesten machbar gelten. Schon bei Kahn zählt die Bevölkerungsentwicklung zu den vorherbestimmten, bleibenden Faktoren der Zukunftsforschung. Die Botschaft des demografischen Wandels lautet nicht nur: Wir werden immer älter. Sondern auch: Wir werden immer weniger. Daher ist der demografische Wandel aufs Engste mit dem Wachstumsparadigma verknüpft. Und wie schon Ende der 1980er-Jahre stellen sinkende Bevölkerungszahlen einen Schrumpfungsprozess dar, der stets als bedrohlich interpretiert und dargestellt wird. Für die Schülerinnen und Schüler der 8. Klassen, die sich für die zwei Fragen des Mitglieds der Hamburger Bürgerschaft zum demografischen Wandel entschieden haben, ist es zwar möglich, sich auszumalen, wie sich der demografische Wandel in Hamburg darstellen könnte (was die Formulierung der ersten Frage auch nahelegt), aber beinahe unmöglich, diesen Prognosen alternative Entwicklungen entgegenzusetzen. Und das obwohl gerade die erste Frage des CDU-Fraktionsvorsitzenden – die Frage nach zukünftigen Identitäten und Bezeichnungen – das Thema Migration berührt und Migrationsbewegungen der ausschlaggebende Unsicherheitsfaktor innerhalb der Wahrscheinlichkeitsaussagen von Bevölkerungsstatistiken sind. Mehr noch: Größere Wanderungsbewegungen müssen hier explizit ausgeblendet werden. Beeindruckt von den Zahlen, die der Auftraggeber beim ersten Treffen mitbringt, und trotz der Vermutung, dass diese Zahlen auch nur Vermutungen seien, schien ein Denken in Alternativen zwar zwingend, aber gerade das Zusammendenken beider Fragen erweist sich als sehr schwierig und komplex. Vier Szenarien werden daher in Zusammenarbeit mit dem Institut assoziierten Künstler_innen entwickelt – diese entwerfen grobe Szenarien, die dann an die Jugendlichen zur Ausarbeitung und

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Weiterentwicklung weitergegeben werden.13 Ein Szenario trägt den Titel ›Suburban Farming‹: »Alles wird in Zukunft weniger – die Bevölkerungszahlen in Hamburg sinken, die Vororte stehen leer. Die Ressourcen werden knapper und alle müssen mit weniger auskommen. Stell dir vor, du bekommst statt einer Rente ein leerstehendes Einfamilienhaus in Rahlstedt zur Verfügung gestellt, in dem du dich selbst versorgen kannst. Wie würdest du das Einfamilienhaus oder die ganze Siedlung verändern, um daraus eine Farm zu machen? Andere Alte tun dasselbe und in den Vororten entstehen neue Siedlungen, vielleicht auch autonome Alten-Zone mit eigenen Regeln und Gesetzen.« (Probenscript, 2013)

Einige der jungen Teilnehmenden wählen ›Alten-Zonen‹ als wünschenswert aus, verändern sie in der Weiterarbeit aber gravierend: Die Altensiedlung verwandelt sich in eine gated community, in die nur Reiche (mit einem Vermögen ab 200.000 Euro) einziehen dürfen, in der nur teure Autos zugelassen sind und Security eine wichtige Rolle spielt. In einer gemeinsamen Diskussion äußern die beteiligten Künstler_innen Skepsis, ob das denn nun noch ein wünschenswertes Szenario sei, was aber für die Schülerinnen und Schüler als Kritik unverständlich bleibt. Auch das Szenario ›Route 66‹, bei dem es darum geht, dass viele Menschen sich in Zukunft nicht mehr über einen Ort, sondern über die Routen, auf denen sie unterwegs sind, definieren werden, wird von einem Schüler so aufgefasst, dass er Häuser an drei verschiedenen Orten haben werde. Auf die Anregung, dass in dieser nomadischen Zukunft Wohnraum nur noch geteilt oder mitgenutzt aber nicht mehr besessen wird, reagiert der Schüler mit erheblichem Widerstand. Er verweigert die Weiterarbeit an dem Szenario, wenn er nicht davon ausgehen dürfe, dass er drei Häuser an drei verschiedenen Orten besitzen werde. Die alternative Zukunft, die ein Weniger impliziert, stößt auf Widerstand. Während die einen – erwachsene Künstlerinnen und Künstler – die Simplifizierung als wünschenswerte alternative Zukunft entwerfen, schreiben die anderen – Schülerinnen und Schüler des Europagymnasium Hamm, die sich auf individuelle Berufskarrieren vorbereiten – daraus Reichtumsszenarien. Es ist keine Banalität, dass ›alternativ‹ für jede_n etwas anderes bedeuten muss, je nachdem was die Ausgangslage, was die gegebene ›Standardwelt‹ ist und wie das Wertesystem aussieht: Linke Fortschrittsideologie im Sinne eines ›Weniger für alle!‹ trifft auf unternehmerisch Lernende, die Ambitionen haben, ein Stück vom großen Kuchen abzubekommen. Angesichts der bisherigen histo-

13 Dieses Verfahren der Weitergabe ähnelt der Delphimethode, einem weiteren Zukunftsforschungsverfahren.

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rischen und theoretischen Analyse konkretisiert sich allerdings im künstlerischen Experiment der Befund, dass gerade Schülerinnen und Schüler in und durch das Schulsystem mit veralteten Zukunftsbildern und -narrativen heranwachsen, während aktuelle Debatten über den demografischen Wandel (ebenso über den Klimawandel, die Migration, die Finanzkrisen, den Postfordismus) von der Notwendigkeit zeugen, Zukunft jenseits von der Notwendigkeit neuer, alternativer Narrative zu denken. Die dringende Frage lautet, ob und wie sich Zukunftsvorstellungen jenseits des zentralen Wachstumsparadigmas etablieren können. Neue Narrative sind im Jungen Institut für Zukunftsforschung dann entstanden, wenn zwei widersprüchliche Fragen oder Phänomene aufeinander bezogen wurden: Überalterung und Migration im Szenario ›Migrationseintrittsalter‹ (statt Renteneintrittsalter) oder Überalterung und Party im Szenario ›Ü70-Party‹. Die Szenarien konnten sich durchsetzen, wenn deutlich wurde, dass in ihnen Wünsche realisierbar wären, die sonst ausgeblendet, als Defizit gewertet oder verboten sind. Oder wenn in den Szenarien Fähigkeiten aufgewertet werden, ,die im Schulsystem bisher keine Rolle spielen: »Ich reise in das Szenario ›Suburban Farming‹ und nehme meinen grünen Daumen mit, Tomaten und Kartoffeln anzupflanzen […]. So habe ich das in meinem Dorf in Russland gemacht.« (Schülerin, 8. Klasse) Im Szenario ›Migrationseintrittsalter‹ lässt sich das Renteneintrittsalter mit dem positiv besetzten Reisen in ferne Länder, im Szenario ›Ü70-Party‹ das Alter mit Feiern und Drogenkonsum verknüpfen – Wünsche der Schüler_innen der 8. Klasse, die sich nicht nur auf etwas Zukünftiges, sondern auch auf etwas Gegenwärtiges beziehen und im Rahmen der Szenarien ihren Ausdruck finden. Das Vorhaben, neue Zukunftsnarrative jenseits des Wachstumsparadigmas zu erfinden, steht aber immer vor dem Problem, dass Zukunftsbezug und Wachstums- und Fortschrittsparadigmen kaum voneinander zu trennen sind. Ebenso wie die Szenariotechniken in ihrem Herkunftskontext Zukunft auf Wettbewerb und Wachstum verpflichten, tun dies Zukunftswerkstätten mit ihrer Wunschund Widerstandsideologie: Zukunft wird auch hier auf Fortschritt im Sinne einer linken Ideologie verpflichtet. Der Zukunftsbezug, die Produktion von Zukunft selbst ist in der Krise, weil sie entweder Zukunftsreproduktion oder Zukunftsüberproduktion im Sinne von Wachstum und Fortschritt bedeutet und damit ökonomische Prinzipien reproduziert. Dies wird auch in den Krisen der Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten deutlich, und dies macht u.a. die Krise der Partizipation im 21. Jahrhundert aus: Partizipationsverfahren sind fast immer Zukunftsimaginations- oder Zukunftsplanungsverfahren.

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PRAKTIZIEREN )

Im letzten Teil möchte ich daher noch einmal einen Blick auf die Krise der Partizipation und der Partizipationsverfahren werfen. Dies geschieht in zwei Schritten: als Blick auf die Krise der Partizipationsprotokolle und auf die Krise des Protokolls/der Agenda Zukunft. Es ist nur teilweise ein Rückblick auf die Ergebnisse dieses Texts, v.a. ist es ein Ausblick, eine Sammlung weiterführender ›Links‹. 1. Krise der Partizipationsprotokolle: Die Krise der Partizipation ist ein Problem der Reproduktion von Partizipationsprotokollen. Szenariotechniken, Zukunftswerkstätten und auch das Junge Institut für Zukunftsforschung sind nach Miraftab zu den ,invited space[s]‹ der Partizipation zu zählen, die sie von den ›invented spaces‹ abgrenzt. Das erscheint zunächst verwirrend, denn Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten lassen sich auf Erfinder zurückführen und auch das Junge Institut wurde hier als soziale Erfindung vorgestellt. Szenarioprojekte und Zukunftswerkstätten sind methodische Formate oder Protokolle der Partizipation, die zum Mitmachen einladen. Auch das Junge Institut für Zukunftsforschung spricht mit der öffentlichen Ausschreibung ein Einladung an Akteure der Stadt Hamburg aus. Szenariotechniken und Zukunftswerkstätten lassen sich zwar auf Erfinder zurückführen und auch das Junge Institut für Zukunftsforschung wurde hier als soziale Erfindung vorgestellt, es handelt sich dennoch nicht um ›invented spaces‹ im Sinne Miraftabs: Sie meint damit Räume der Partizipation, denen keine Geste des Einladens von institutioneller Seite vorausgeht, die nicht schon demokratisch legitimiert sind, sondern den Status Quo herausfordern. (vgl. Miraftab 2004: 1) Das Protokoll der Partizipation, das Wie und Wieviel des Teilhabens, kann hier nicht als gegeben vorausgesetzt werden. Auch Markus Miessen versucht in seinem Buch Alptraum Partizipation (Miessen 2012) einen Gegenentwurf zur Geste der Einladung zu entwickeln. Inspiriert von Chantal Mouffes Demokratieverständnis, nach dem der demokratische Raum durch Dissens und Antagonismen gekennzeichnet ist, fordert er ein Verständnis von Partizipation als Konflikt, das sich einem zu harmonischen, unschuldigen Verständnis von Partizipation, »der Modevorstellung von demokratischer Schlichtung oder des demokratischen Ausgleichs widersetzt.« (Ebd.: 16) Im Rückschluss auf Szenariotechniken, Zukunftswerkstätten und das Junge Institut für Zukunftsforschung könnte das bedeuten, dass diese zu oft als Problemlösungsmethode oder Methode zur Findung eines Konsenses benutzt werden, statt dafür, Räume zu schaffen, in denen Konflikte ausgetragen werden oder sich entwickeln können, Räume also, wo Konflikte gewissermaßen gepflegt

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werden. (Vgl. ebd.: 22) Auch im Jungen Institut für Zukunftsforschung wären gerade die widerständigen und konflikthaften Momente, die entstehen, wenn Szenarien durch unterschiedliche Hände gehen, mehr zu pflegen gewesen. Miessens Konzept der konfliktreichen Partizipation hebt aber mehr auf den unmöglichen Konflikt mit den Protokollen selbst als auf Konflikte zwischen Personen oder Ideen ab. Miessen wirft die Frage auf, wie man partizipieren kann, ohne im Vorhinein festgelegte Ansprüche oder Aufgaben zu bedienen. Eine politische Einladung zur Partizipation gehe gemeinhin Hand in Hand mit einer ganz klaren Vorstellung davon, wie man partizipieren soll. (Vgl. ebd.: 42) Die Geschichte der Zukunftswerkstätten zeigt den Widerspruch zwischen dem Ziel der Selbstbestimmung und der Bestimmtheit des methodischen Verfahrens deutlich: Wie können selbst gemachte Zukünfte erfunden werden, wenn das Verfahren bereits festgeschrieben und durch Moderator_innen autorisiert ist? Ist der Widerspruch auflösbar, der zwischen Verbreitungs- und Institutionalisierungsansprüchen der Zukunftswerkstätten einerseits und ihrem Anspruch auf Selbstermächtigung und Demokratisierung von unten andererseits bestehen?14 Miessens Lösungsvorschlag ist der ›ungeladene Außenseiter‹, der sich jenseits jeglichen Protokolls Zutritt verschafft und kritisch interveniert – Partizipation von unten, aber als individuelle Zugangsstrategie. (Vgl. ebd.: 10) Wenn man sich aber anders als Miessen für kollektive Prozesse interessiert, kommt man um die Frage des Protokolls oder der Selbststeuerung, auf die man sich als Gruppe gemeinsam einigt, nicht herum. Es wäre wichtig, bestehende Protokolle so zu betrachten, dass sie keine Rezepte für einen reibungslosen Ablauf darstellen, keine Methode sind (als operativer Plan, als Weg zu einem Ziel), höchstens ein Verfahren (aus Praxiserfahrungen abgeleitet), das in jedem Prozess wieder neu erfunden werden muss. Eine kritische Analyse der Rolle von Moderatorinnen und Moderatoren müsste hinterfragen, warum diese meist das Fortschreiten und nicht das Stocken oder Stehenbleiben des Prozederes zu gewährleisten haben. Jeder kollektive Prozess braucht Momente der Selbststeuerung und Selbsterfindung – welche Alternative gibt es in jedem Moment, bei jedem Schritt? Verfahren können durchaus Verbreitung gebrauchen: Die Zukunftswerkstätten, das Junge Institut für Zukunftsforschung und Praktiken der Real-democracy-Bewegungen zeugen von Demokratisierungsversuchen, für die es einen Bedarf gibt. Für solche Vorgänge der Übertragung ist aber von entscheidender Bedeutung, wer für kollektive Erfindungen Autor_innenschaft übernehmen kann und soll und wie in Vorgängen des

14 Auch Jungk nimmt eine kritische Haltung gegenüber der Methode ein: Eine Zukunftswerkstatt sei keine Institution, die man einfach aufsuchen könne wie eine Autowerkstatt.

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Aufschreibens das Festschreiben und Vorschreiben verhindert werden kann. Denn auch eine festgeschriebene Methode schreibt die Zukunft, den Weg in die Zukunft, fest. 2. Krise des Protokolls/der Agenda ›Zukunft‹: Die Krise der Partizipation ist eine Krise der Zukunftsreproduktion. Wichtiger als das Schreiben von Zukunftsszenarien war für die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler die Gründung des Jungen Instituts für Zukunftsforschung selbst, die einen Realisierungs- und Gestaltungsprozess in der Gegenwart in Gang setzte. Für die Kinder und Jugendlichen war die Rolle als Zukunftsforscherin oder -forscher nicht nur eine Bühnenfiktion, sondern ein Beispiel für Rollen, weil bereits die Übernahme der Rolle alternative Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart erzeugt. Es sind gerade jene Momente, die von den Schüler_innen als besonders wertvoll beurteilt werden: »Ich werde mich wahrscheinlich an den ersten Tag erinnern, wo wir das Institut gegründet haben und Fragen gesammelt haben, weil das sehr speziell ist […]. Ich werde mich vor allem an den Moment erinnern, als wir mit Herrn Wersich über die Zukunft gesprochen haben, denn es war sehr besonders, dass ein CDU-Politiker zu uns die Schule kommt und uns seine Fragen an die Zukunft stellt! […] Ich fand es unglaublich toll, dass wir Jugendliche den Älteren was über die Zukunft erzählen konnten. Es war toll zu sehen, dass die Älteren uns gespannt anhörten, sonst ist es ja immer andersrum.« (Schülerinnen und Schüler, anonym, 8. Klasse)

Die gemeinsame Hervorbringung dessen, was das Junge Institut für Zukunftsforschung ist und was als nächstes getan werden muss, konnte als Machen und Gestalten einer alternativen Zukunft erfahren werden. Das Versprechen auf die Erfindung alternativer Zukünfte kommt im Jahr 2013 woanders her als aus Zukunftsimaginations- oder -produktionsprogrammen. Das Versprechen aktueller Versammlungsbewegungen auf demokratische Zukünfte stammt nicht daher, dass hier der Zukunftsbezug von der Bewegung selbst groß gemacht würde. Im Gegenteil: Die verbindliche Formulierung oder Forderung einer Zukunft scheint zunächst suspendiert zu werden zugunsten des Jetzt. Die Losung lautet now, der gegenwärtige Charakter der Versammlungen wird beschworen. Der Präsenzbegriff der Versammlungsbewegungen wäre nicht nur als Kritik an politischer Repräsentation (repräsentative Demokratie), sondern auch als Kritik an Repräsentationen von Zukunft, die in Bildern, Narrativen oder politischen Forderungen ausgedrückt werden, zu diskutieren. Ist das Postulat des ,Now‹ ein Ausdruck der Krise der Agenda Zukunft oder kündigt sich hier auch eine Wende in der Konstruktion alternativer Zukünfte an? In den Principles of Solidarity, einem Doku-

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ment von Occupy Wall Street, heißt es: »We are daring to imagine a new sociopolitical and economic alternative.« (Lorey 2012: 43) Lorey fügt diesem Zitat die These hinzu, dass es um mehr geht, als die Vorstellung von soziopolitischen und ökonomischen Alternativen: Diese würden bereits in den Versammlungen und Besetzungen von privaten und öffentlichen Räumen praktiziert, »in einem Prozess von praktizierter präsentischer Demokratie.« (Ebd.) Diese Lesart bedeutet, dass hier alternative Zukünfte als Praktiken und in neuen Praktiken der Versammlung und des Zusammenseins zu finden sind (oder erfunden werden) – statt als neue Narrative. Hier entstehen alternative Zukünfte als Praktiken und in Praktiken der Versammlung und des Zusammenseins. Sie entstehen situativ, als in die Gegenwart integrierte Zukünfte. Sie entstehen als Antworten auf Fragen nach der weiteren Vorgehensweise: Was passiert als Nächstes, was ist der nächste Schritt? Durch die Demokratisierung der gemeinsamen Vorgehensweise, als einem gemeinsamen Unterwegssein, werden potenziell demokratische Zukünfte und alternative Zukünfte der Stadt geschaffen. Die Erfindung alternativer Zukünfte und die Erfindung alternativer Versammlungsformen oder -protokolle fallen in eins.

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

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A LTERNATIVES NOW

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Das theatrale und das bürokratische Dispositiv des Gerichts E LISE V . B ERNSTORFF

P RÄAMBEL Präambeln sind Einleitungen, die Gesetzestexten vorangestellt werden. Sie haben keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit, sondern dienen der Auslegung einer Verfassung, eines Gesetzes oder Vertrages. In ihnen werden Voraussetzungen dargestellt, Motive beschrieben und historische Kontexte aufgerufen; damit enthalten sie, was das Gesetz selbst nicht enthalten darf, denn seine Autorität kommt dem Gesetz nur zu, wenn es »ohne Geschichte, ohne Genese, ohne mögliche Ableitung ist« (Derrida 2006: 49). Präambeln sind also Schranken, sie halten Historizität und Erzählung außerhalb des Rechts und vermitteln den Zugang zum Gesetz. Präambeln sind auf der Schwelle zwischen Mündlichem und Schriftlichem verortet; historisch sind sie die gesprochene Vorrede zum geschriebenen Gesetzestext (Vismann 2000: 39). In Franz Kafkas Roman Der Prozeß heißt es: »›In dem Gericht täuschst du dich‹«, »›in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.‹« (Kafka 2005: 220f.) Bekanntlich steht hinter dem Türhüter ein weiterer Türhüter, das Gesetz erweist sich als unzugänglich. Von solchen Zugangsschranken, von Täuschungen und Enttäuschungen im Zusammenhang mit dem Gericht handelt dieser Text. In Der Prozeß sitzen vor den Türen, auf den Treppenstufen, in den Eingängen zum Gericht Kinder. Schon bei seinem ersten Besuch im Gericht bemerkt der Protagonist Josef K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, auf dem in einer »kindlichen, ungeübten Schrift« der Aufgang zu den Gerichtskanzleien gewiesen wird (ebd.: 65), durch die Türen im Treppenhaus laufen Kinder ein und aus, erschweren K. den Zugang und schließlich wird er von einem Jungen an der Hand vor den Richter geführt. Auf dem Weg zu seiner Exekution schließlich

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sieht K. in einem Fenster Kinder spielen. Die Kinder erscheinen an den Rändern des Verfahrens, mal weisen sie K. in Richtung des Gerichts, mal sind sie versunken in ihre eigene Welt, die von dem Gericht nichts zu wissen scheint. So machen sie die Schranken des Gerichts sichtbar, die durchlässig und unzugänglich zugleich sind. Mit der Klasse 7b des Europagymnasiums Hamm habe ich drei Monate lang das Amtsgericht und Landgericht Hamburg Mitte erforscht und anschließend mit den Schülerinnen und Schülern eine Inszenierung entwickelt, die im Ziviljustizgebäude aufgeführt wurde. Die 26 Schüler_innen waren größtenteils 13 Jahre alt, befanden sich also kurz vor ihrem Eintritt in die Strafmündigkeit und hatten selbst noch keine Erfahrungen mit dem Gericht gemacht. Mein Interesse war, mit den Kindern einen anderen Blick auf die Rechtsprechung zu werfen: Wie würde sich das Gericht ihnen auf der Schwelle zur Strafmündigkeit darstellen? Die im Zuge dieser gemeinsamen Erkundungen gemachten Erfahrungen möchte ich im Folgenden – im Rekurs auf Literatur und Forschungsliteratur – als Widerstreit zweier Grundzüge des Gerichts verstehen: des theatralen und des bürokratischen Dispositivs der Rechtsprechung.

D AS

THEATRALE

D ISPOSITIV

Die Forschungsliteratur hat zahlreiche Parallelen zwischen Theater und Gericht herausgearbeitet, die als Grundlage der Untersuchung dienten und die ich daher zunächst zusammenfassen werde. Theater- und Gerichtsräume sind Innenräume in einem starken Sinn: Im Gerichtssaal wird jede Verbindung nach draußen gekappt, es findet sich nichts, was an ein Außerhalb erinnern könnte,1 oft passiert man im Eingang eine Schranke und gibt Rucksäcke, Mobiltelefone, manchmal sogar Personalausweise ab. Das Gericht überwacht beständig seine Grenzen, indem es z.B. unzulässiges Beweismaterial ausschließt, die Berichterstattung in den Medien reguliert und Filmaufnahmen verhindert. (Vgl. Mohr 2011: 99) Das Theater verhängt die Wände, dunkelt den Zuschauer_innenraum ab, verbietet Handyklingeln und Gespräche, um dieselbe Geschlossenheit zu erzeugen. Das Theater ist dem Gericht auch strukturell inhärent. Gewöhnlich sind Theater und Gericht der Öffentlichkeit zugänglich, doch die Zuschauer_innen sind von den Akteur_innen deutlich getrennt, schweigen und sollen nicht interagieren. In

1

Im Gericht gab es lange Zeit keine Uhren und häufig nicht einmal Fenster. (Vgl. Vismann 2011: 40)

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der Genese der Rechtsprechung wird Urteilen erst möglich, seit es Nichtinvolvierte gibt, die beobachten und Distanz ermöglichen (Vismann 2011: 76ff.), und auch das Theater braucht die Präsenz des Publikums (und sei es eine zukünftige, verstreute oder vereinzelte Präsenz). Immer noch, zahlreichen Infragestellungen und Rationalisierungen unter dem Aspekt der Prozessökonomie und -beschleunigung zum Trotz, ist die Regel des Rechtsprechens die Versammlung.2 Zur Verhandlung versammeln sich die Prozessbeteiligten sowie – fakultativ – beteiligte und unbeteiligte Zuschauer_innen. Walter Benjamin sieht eine gemeinsame Genese von Gericht und Theater in der Tragödie der griechischen Antike. (Benjamin 1974: 295) In der Tragödie und im Gerichtsprozess besteht eine Einheit von Raum, Zeit und Handlung.3 Diese grundlegenden Parameter des antiken Theaters lassen sich auch im Gericht finden: Für dieses ist es von größter Wichtigkeit, dass die Richterin bzw. der Richter sich während der Verhandlung ein Urteil bildet und somit die Rechtsprechung als linearer Vorgang innerhalb des Prozesses erscheint; ebenso wichtig ist, dass die Prozessbeteiligten in Person anwesend sind. Wie die Tragödie ist auch die antike Rechtsprechung ein Dialog, in dem der einzelne Mensch vor den Chor und in eine Verhandlung tritt. Untersucht man ausgehend von dieser Analogie die theatralen Aspekte des Gerichts, lassen sich zunächst äußerliche Gemeinsamkeiten beschreiben. Gericht

2

Der Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung kennt jedoch gesetzliche Ausnahmen, die ein schriftliches Verfahren zulassen: Gemäß § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO kann mit Zustimmung der Prozessparteien das Gericht eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren treffen. Bei einem geringen Streitwert kann im Verfahren vor dem Amtsgericht das Gericht gemäß § 495a ZPO auch von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen. Im deutschen Strafrecht ist das Strafbefehlsverfahren ein vereinfachtes Verfahren zur Bewältigung des Prozessaufkommens in Bezug auf leichte Kriminalität durch einen schriftlichen Strafbefehl. Doch es handelt sich stets um Ausnahmen, Abkürzungen des regulären Verfahrens, die fallspezifisch beantragt werden müssen.

3

Für das Theater wurden die drei Einheiten in der Renaissance mit Bezug auf die Poetik von Aristoteles als Norm etabliert, wobei die Einheit des Orts ausdrücklich erst bei Lodovico Castelvetro erwähnt wird. Aristoteles schreibt über die Einheit der Zeit: »[D]ie Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen«. (Aristoteles 1993: 5) Zur Einheit der Handlung führt er aus: »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe« (ebd.: 6). Zur Einheit des Ortes bei Lodovico Castelvetro vgl. Kappl 2006: 176.

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und Theater haben bspw. ähnliche Aufführungsarchitekturen: Zunächst haben beide einen festen Ort.4 Die Architekturen und Orte, an und in denen Gericht und Theater eine Stätte finden, entwickeln sich historisch von der Agora – und allgemeiner von Versammlungen unter freiem Himmel – über das absolutistisch auf die Monarchin oder den Monarchen ausgerichtete barocke Hofgericht bzw. -theater zu den monumental-repräsentativen Gebäuden, die mit der Emanzipation des Bürgertums im 19. Jahrhundert aufkommen. In den Gerichts- und Theaterbauten finden sich Säulenportale, architektonisch inszenierte Blickachsen und die Teilung der Räume in den Bereich der Beteiligten und jenen der Zuschauer_innen. Und auch die jeweiligen Aufführungspraktiken weisen Ähnlichkeiten auf: Wie im Theater wird auch im Gericht die Beleuchtung inszenatorisch eingesetzt (bei Letzterem nicht nur ein Kunstlicht; die Vertretung der Staatsanwaltschaft sitzt in der Regel mit dem Rücken zum Fenster, sodass dem oder der Angeklagten das Tageslicht ins Gesicht scheint) und es kommen Kostüme zum Einsatz (gemeinhin tragen Richter_innen und Rechts- sowie Staatsanwält_innen Roben). Die Beteiligten im traditionellen Theater und im Gericht nehmen Rollen ein; sie sind Darstellende ihres Amtes (Richter_in, Staatsanwält_in) und ihrer selbst (Angeklagte_r, Zeuge).5 Sowohl die Gerichtsverhandlung als auch die Theateraufführung haben einen deutlich abgesteckten Zeitrahmen (einen markierten Beginn und ein rituell eingefasstes Ende), der sie aus dem Zeitfluss gleichsam herausschneidet; das Gerichtsurteil hat beendende Kraft, »es löscht die Erinnerung und ist auf die Zukunft des Vollzugs [...] ausgerichtet« (Vismann 2011: 75); im Theater fällt schließlich der Vorhang, das Licht im Zuschauer_innenraum geht an. Analog zum klassischen Dramentext, der mit einer Exposition eröffnet, die über Ort, Zeit und Kontext des Geschehens informiert, verliest die Justiz die Anklageschrift, präsentiert Ermittlungsergebnisse, biografische Hintergründe, Fachberichte und Verhörprotokolle. Die Perspektiven der Zeug_innen, des (angenommenen) Opfers und der oder dem Angeklagten werden rekonstruiert, damit sich das Publikum  auch die Richterin oder der Richter ist in diesem Moment Teil des Publikums  ein ›eigenes‹ Bild von den Geschehnissen machen kann, ein Bild, das aus der Erzählung entsteht.

4

Das fordert auch die Rechtslehre selbst: vom Diktum der Magna Carta – »Ordinary lawsuits shall not follow the royal court around, but shall be held in a fixed place« – bis zur modernen Anforderung, dass ein Verfahren an einem angekündigten, öffentlichen Ort stattzufinden hat. (Vgl. Mohr 2011: 99)

5

So sprechen sich die Prozessbeteiligten, deren Rolle ihr Amt ist, sogar mit dieser Funktion an, nicht mit ihrem Namen. Vgl. dazu auch Niklas Luhmann zu den Verfahrensrollen in Legitimation durch Verfahren (Luhmann 1983: 47ff.).

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Theater und Gericht rekurrieren auf einen zugrunde liegenden Text, den sie (immer wieder) interpretieren und damit Wirklichkeiten schaffen. Das Recht wird gesprochen, so wie das Drama in erster Linie ein gesprochener und zu sprechender Text ist. Theater und Gericht sind Techniken der Vergegenwärtigung eines abwesenden Sinns: Das Theater vergegenwärtigt nicht unmittelbar Gegebenes in der Vorstellung, im Abbild, in der Darstellung. Die Richterin bzw. der Richter agiert als Repräsentation des Volks, die Anwältin oder der Anwalt vertritt die Person auf der Anklagebank. Die Inszenierung der Rechtsprechung ist kein der Rechtsfindung nachgeschalteter, sondern ein ihr inhärenter Akt. Cornelia Vismann sieht eine wichtige Aufgabe des Gerichts in der Wiederaufführung der Tat im symbolischen Raum: Die Funktion des Gerichts sei es, eine Erzählung zu entwickeln von dem, was sich zugetragen hat. Aus dem Ereignis der Tat macht die Wiederaufführung ein Ereignis in der Sprache.6 Vismann stellt neben der Herleitung aus der Antike eine zweite Genese des Gerichts als Theater in der germanischen Rechtsprechung vor. Diese ist eine Versammlung um das ›Ding‹, nach dem laut Vismann die Stätte der Verhandlung ›Thing‹ genannt wurde. Dieses ›Ding‹ ist umstritten und wird in der Verhandlung zur Darstellung gebracht. Mit Lacan lässt sich das ›Ding‹ von der ›Sache‹ unterscheiden, wobei das ›Ding‹ dem Bereich des Realen angehört und die ›Sache‹ der symbolischen Ordnung. In dieser Verwandlung des Realen in das Symbolische, die das umstrittene ›Ding‹ im Laufe des Verfahrens durchläuft, wird das Gericht zum theatrum, zur Szene einer Umwandlung; hierin liegt das performative Element der Rechtsprechung. (Vismann 2011: 19f.) Wo das Gericht Ort der Transformation vom Realen in die symbolische Ordnung wird, schafft das Theater eine Wirklichkeit für Räume des Symbolischen und Imaginären. Das Recht konvertiert die Tat in die (abgeschlossene) Vergangenheit, es hat Auswirkungen auf fast alle gesellschaftlichen Bereiche. Das Performative des Rechts braucht die Theatralität, damit Urteile Körper markieren und sanktionieren und Rechtshandlungen materielle gesellschaftliche Ordnungen schaffen können. (Vgl. Schwarte/Wulf 2003) Die Inszenierung des Gerichts ist es, die seine hierarchische Struktur und Legitimität herstellt, sie hat abschließende Funktion, leistet die Wiederaufführung der Tat im symbolischen Raum und bringt – agonal, da nicht alle Beteiligten mit ihr übereinstimmen müssen – eine (kollektive) Erzählung hervor. Das

6

Vismann bezieht sich hier auf den Rechtshistoriker Legendre, der den Vorgang, mit dem die aus der symbolischen Ordnung herausgelöste Tat im Gericht eine Fassung in der Sprache erhält, als »Réjouer les crimes« bezeichnet. (Vismann 2011: 31ff.)

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Gerichthalten erfordert die unmittelbare Anwesenheit der Beteiligten, die Mündlichkeit und die Öffentlichkeit des Verfahrens.7

R EVISION Die Schüler_innen und ich besuchten das Gericht im Rahmen eines Theaterprojekts. Das Theater war damit sowohl im Hinblick auf die zugrunde liegende Recherche als auch ganz praktisch im Sinne der institutionellen Rahmung unserer Untersuchung der Hauptbezugsrahmen unserer Erkundung. Ermöglicht der Rahmen des Theaters den Kindern und Jugendlichen, das Gericht und ihre zukünftige Teilhabe an der Institution des Rechts zu verstehen, indem sie die Rolle der im Recht mitgedachten Öffentlichkeit ganz real übernehmen und verkörpern? Zunächst schien die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen die Befunde der Forschungsliteratur zu bestätigen. »Das Gericht ist wichtig, weil es ein Ort ist, an dem man über das reden kann, was man getan hat.« (Baris)8 »Ich würde der Angeklagte sein, weil der Angeklagte wird meistens freigesprochen glaube ich, und würde ich als Angeklagter auch wirklich nichts begangen haben, dann würde ich mich freuen.« (Berkay)9 In unserer Forschung hatten wir keine Schwierigkeiten, gerichtliche Prozesse zu besuchen. Selbst als Schulklasse mit 26 Personen konnten wir jederzeit in die als ›öffentlich‹ gekennzeichneten Verhandlungen eintreten. Die Schüler_innen reagierten durchaus sensibel auf die Inszenierungen des Gerichts, brachten der Richterin viel Respekt entgegen, fühlten sich von den Si-

7

Zumindest im Strafrecht. Siehe hierzu die Prozessmaximen das ›Mündlichkeitsprinzip‹, das ›Unmittelbarkeitsprinzip‹ und der ›Öffentlichkeitsgrundsatz‹.

8

Die Zitate stammen von Schüler_innen der Klasse 7b des Europagymnasiums Hamm

9

Im Sinne des hier formulierten Begehrens nach Verhandlung und Freispruch, schreibt

und sind während unserer Arbeit an dem Projekt Das jüngste Gericht entstanden. der Philosoph Louis Althusser, der 1980 seine Ehefrau durch Erdrosselung tötete und dessen Verfahren wegen Schuldunfähigkeit eingestellt wurde, seine Verhandlung selbst. Althusser musste nicht vor Gericht erscheinen und hatte keine Gelegenheit, sich zu äußern, doch das Begehren nach der Versprachlichung, die ihm durch dieses Vorgehen verweigert wurde, findet in seiner Autobiografie Die Zukunft hat Zeit einen Ausdruck; er schreibt: »Dieses Buch ist eben die Erwiderung, zu der ich sonst gezwungen gewesen wäre.« (Althusser 1998: 21) Cornelia Vismann liest seine Lebensbeschreibung als einen aus Selbstanklage, Zeugenbericht und Verteidigung bestehenden Gerichtsprozess. (Vismann 2011: 25)

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cherheitskontrollen eingeschüchtert, nahmen die Sitzordnung, Höhenunterschiede und darin zum Ausdruck kommende Hierarchien bewusst wahr. Besondere Aufmerksamkeit gab es für die performativen Aspekte der Rechtsprechung. Bezeichnend waren wiederkehrende Fragen nach dem Hammer, mit dem Richter_innen das Urteil verkünden, den es aber in der deutschen Rechtsprechung nicht gibt, wohl aber in (oft US-amerikanischen) Fernsehserien und Gerichtsfilmen. An den Fragen wurde deutlich, dass die Kinder und Jugendlichen nach einem Moment suchten, in dem das Gericht sich verdichtet: Der Hammer markiert den Moment des Urteils und macht ihn dadurch sichtbar. Neben der Erwartung des Hammerschlags waren für die Gruppe die nicht zugängliche Asservatenkammer, die den beschlagnahmten Beweismitteln anhaftende Aura von Gefährlichkeit und Verbot, die Fallgeschichten und psychologischen Hintergründe, die dramatischen Erzählungen und Bilder des ephemeren, gewaltsamen Moments des Verbrechens von Interesse. Doch das Warten der Schüler_innen auf eine Versammlung, in der diese Aspekte sichtbar werden würden, wurde immer wieder enttäuscht. »Am meisten ist aufgefallen, dass man vieles mit Papier […] macht.« (Baris) »Eigentlich war ich überrascht, dass da so viele Akten waren.« (Mehmet) »Angelockt von einem Gesetz, das unlesbar ist, hingehalten von einem Urteil, das ausbleibt«, so beschreibt Cornelia Vismann die Eingangssituation zum Recht wie sie in der Erzählung Vor dem Gesetz von Franz Kafka geschildert wird. (Vismann 2000: 31) Ihre Formulierung spiegelt treffend die Erfahrungen der Schüler_innen (und der Erwachsenen) bei unserer Erkundung des Gerichts wieder. Die Hoffnung auf die Momente, in denen alle Beteiligten versammelt wären, in denen Urteile gesprochen, Geschichten erzählt würden, kurz: in dem das Theater des Gerichts sichtbar werden würde, wurden immer wieder enttäuscht und mussten verschiedenen Spielarten des Wartens, des Aufschubs und der Langeweile weichen. Es drängte sich kontinuierlich der Topos der Bürokratie in den Mittelpunkt: die Langeweile, die Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit, der Aufschub, das Warten, die Verzögerung. Selten waren alle Betroffenen versammelt, Kritik an der Unwichtigkeit der Fälle wurde geäußert, das Interesse, in den unübersichtlichen Korridoren, Treppen und Paternostern zu spielen, wuchs. Die Probleme der Schüler_innen mit dem Gericht entfalteten sich entlang von Fragen der Zugänglich- und Sichtbarkeit; nicht mit einer theatralen Geste wie mit dem Rückzug der Richter_innen für die Entscheidungsfindung wich das Gericht vor uns zurück, sondern mittels bürokratischer Faktoren. Die Konzentration auf das theatrale Dispositiv ließ eine andere Seite des Gerichts umso deutlicher hervortreten: das bürokratische Dispositiv. Dies soll im Folgenden genauer untersucht werden.

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BÜROKRATISCHE

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Der Begriff ›Bürokratie‹ steht im Zusammenhang mit der bereits im 17. Jahrhundert am Hof von Ludwig XIV. entstehenden, von Regeln und Rangordnungen geprägten zentralstaatlichen Verwaltung. (Vgl. Albrow 1970) Das Wort ›Bürokratie‹ geht etymologisch auf das bureau zurück, aus dem heraus im 18. Jahrhundert zunehmend geherrscht wurde; die ursprünglich raumbezogene Bedeutung wurde übertragen auf die dort Tätigen und das Wort bezeichnete schließlich die »Herrschaft der Beamten« (Derlien/Böhme/Heindl 2011: 16).10 Indem die Wortschöpfung an die aristotelische Einteilung von Herrschaftsformen (wie z.B. Demokratie oder Aristokratie) anknüpft, bezeichnet sie ein vollständiges Regierungssystem. Bürokratie wird v.a. mit den Verwaltungshandlungen des Staates in Verbindung gebracht und ist eine Organisationsform »characterized by a hierarchy of offices, impersonality in its recruitment of staff and its procedures, continuity in form and files, and the primacy of functional expertise« (McLeish 1993: 96). Auch wenn heute der Begriff ›Bürokratie‹ weitestgehend mit einer negativen Konnotation ausgestattet wird (z.B. mit Attributen wie Ineffizienz und Intransparenz), richtet sich das Konzept durchaus auch auf die Begrenzung einer Willkürherrschaft der Regierenden oder der Administration, indem es das Handeln nach allgemeinen und personenunabhängigen Regeln ausrichtet. (Vgl. Weber 1980: 565) Die Kinder, die selbst noch nicht strafmündig waren, begegneten im Gericht immer wieder Schranken und Begrenzungen. Zugangsbeschränkungen, an die wir stießen, waren selten endgültig – in der Regel war es uns lediglich nicht möglich, im Zeitrahmen der Recherche die richtige Ansprechperson zu finden; immer wieder wurden wir weiter verwiesen zu einer anderen Stelle. Daten oder Materialien wurden aus Gründen des Personenschutzes zurückgehalten: Während Gerichtsverhandlungen in der Regel öffentlich sind, sehen die in Deutschland geltenden Prozessordnungen durchgängig vor, dass unbeteiligte Dritte in die Verfahrensakten keine Einsicht nehmen dürfen. Dem ›Gerichtstheater‹ darf man beiwohnen, doch die Aufzeichnungsapparate, die doch Medium und Prozessor des Rechtssystems sind, bleiben dem Zuschauenden entzogen. Wir haben nie einen Urteilsspruch erlebt, da nicht alle Betroffenen anwesend, nicht alle Informationen vorhanden waren oder weil vereinbart wurde, dass nach Ratenzahlung von Bußgeldern der Fall ohne Verurteilung zu den Akten gelegt werden

10 »Akten und kontinuierlicher Betrieb durch Beamte ergeben: Das Bureau, als den Kernpunkt jedes modernen Verbandshandelns.« (Weber 1980: 125)

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würde oder aber weil das Verdikt im Nachhinein schriftlich versandt, aber nicht mündlich verkündet wurde. Um diesen Erfahrungen nachzugehen, galt es, den Weg von der Forschungsliteratur zur empirischen Erfahrung noch einmal umzukehren. Die Beobachtungen des bürokratischen Wesens der Rechtsprechung schlagen sich auch in der Literatur nieder. Während die theatrale Seite der Rechtsprechung kaum überraschend v.a. in der Dramatik ihren Niederschlag findet (vgl. z.B. Aischylos: Orestie, Sophocles: König Ödipus, von Kleist: Der zerbrochene Krug), scheint der Aspekt der Bürokratie v.a. der Epik vorbehalten zu sein (vgl. z.B. Tolstoj: Auferstehung oder Roth: Die Rebellion); im Nachstehenden werden einige Gründe dafür deutlich. Besonders bei Franz Kafka finden sich Darstellungen von Gericht, die sichtbar machen, was sich in den Gerichtspraktiken einer Darstellung häufig entzieht: die Bürokratie. Um die Erfahrungen der Schüler_innen weiter aufzuschließen, möchte ich den Roman Der Prozeß von Kafka genauer betrachten. Der Rückgriff auf die Literatur soll einen ästhetischen Zugriff auf das bürokratische Dispositiv der Rechtsprechung ermöglichen, dieses klarer umreißen und eine Abgrenzung vom theatralen Dispositiv des Gerichts ermöglichen. »Die Gänge sehen alle gleich aus, was einen sehr verwirrt. Man findet die richtigen Räume nicht und verirrt sich oder verpasst sogar die Verhandlung.« (Mehmet)

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Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass die Darstellung des Gerichts in Der Prozeß den theatralen Aspekten, die ich im ersten Teil definiert habe, diametral entgegengesetzt ist. Am Morgen seines 30. Geburtstages wird Josef K. ohne Angabe von Gründen verhaftet, hat aber weiterhin die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Vergeblich versucht er herauszufinden, welche Anklage gegen ihn vorliegt und wie er sich rechtfertigen könnte. Immer tiefer verstrickt er sich in das ungreifbare und unzugängliche Gericht, bis er sich schließlich einem unausgesprochenen Urteil fügt; am Vorabend seines 31. Geburtstages wird K. von zwei Herren abgeholt und in einem Steinbruch erstochen. Als dem theatralen Dispositiv zugehörig habe ich die Aufgabe der Verhandlung erwähnt, Dinge zur Sprache zu bringen und in der symbolischen Ordnung einzurichten. In Der Prozeß kommt jenes ›Ding‹ – das der Anklage zugrunde liegende Ereignis – jedoch nie zur Sprache. Es bleibt sogar von Beginn an offen, um was es überhaupt geht, was die Anklage oder Schuld sei; K.s anfängliche Freude, im Aufseher »endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können«, (Kafka 2005: 16) wird gleich enttäuscht, denn der Aufseher und die Wächter sind »für Ihre Ange-

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legenheit vollständig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts« (ebd.). Der Prozess bringt nichts zur Sprache und hat daher auch keine abschließende Funktion.11 Und auch im Fortgang des Prozesses findet sich nicht Zeit und Ort, v.a. keine Ansprechperson, um über den Grund der Anklage zu sprechen; lediglich Fragen des Verfahrens selbst spricht K. in einigen Momenten an. (Vgl. ebd.: 49) Als das Gericht an K.s 30. Geburtstag in sein Leben tritt, ist das Verfahren gegen ihn bereits im Gange; das Gericht war immer schon da. Es ruft K. an (eine Anrufung des Subjektes durch die Institution, die immer schon geschehen ist, da die Konstitution des Subjekts bereits das Werk dieser Interpellation ist). K. antwortet ihr, indem er sich auf die Suche nach dem Gericht macht. (Vgl. Höcker 2007) Im Kapitel Erste Untersuchung findet K. zunächst die klassische, hierarchische Anordnung eines Gerichtsaals (die vor allem im Strafgericht anzutreffen ist): »K. glaubte, in eine Versammlung einzutreten«, und betritt einen Raum, in dem der Richter erhöht auf einem Podium hinter einem Tisch in der Mitte des Raums sitzt. (Kafka 2005: 43f.) Doch anstatt in einem Gerichtsaal zu versammeln, verteilt sich der Prozess auf unzählige Advokatenbüros. K. befindet sich von nun an eher in Schwellen- als in Innenräumen – in Treppenhäusern, Eingangsbereichen, Nebenzimmern. Die anfängliche Dreieckskonstellation des Gerichts, bestehend aus dem Richter an der Spitze und zwei aufgeteilten Saalhälften rechts und links, wird nach und nach aufgelöst in eine einzige, kontinuierliche und tendenziell unendliche Linie, »bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter« reihen sich an »eine Richterschaft hohen und höchsten Grades […], mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen Hilfskräften« (ebd.: 38). Hier ist bereits angesprochen, wie im Laufe des Romans die Zeit, der Ort und die Handlung in unzählige einzelne Begegnungen und Begebenheiten zersplittern. Ein hierarchisches Gefüge bleibt zwar bestehen, dieses ist aber nicht pyramidal, sondern horizontal ausgerichtet. Diese Dissemination hat auch mit dem Einsatz der Medien zu tun, der im theatralen Dispositiv des Gerichts streng überwacht wird: Akten

11 Dem entspricht, dass Deleuze und Guattari in ihrem Buch über Kafka anzweifeln, dass das letzte Kapitel, in dem K. exekutiert wird, an das Ende des Romans gehört; es enthielte keinen Hinweis auf seine Stellung im Roman und könnte genauso gut ein Traum an einer anderen Position sein. Sie zitieren Max Brod: »Da aber der Prozeß nach der vom Dichter mündlich geäußerten Ansicht niemals bis zur höchsten Instanz vordringen sollte, war in gewissem Sinne der Roman überhaupt unvollendbar, das heißt in infinitum fortsetzbar.« (Deleuze/Guattari 1976: 61)

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(ebd.: 47), schriftliche Eingaben (ebd.: 120), Bücher (ebd.: 55) und Telefone sind die Sprachkanäle, über die das Gericht kommuniziert. Telefonisch wird K. verständigt, dass eine Untersuchung seines Falls stattfinden würde, doch ihm wird weder ein genauer Zeitpunkt12 noch ein konkreter Ort13 genannt. Also begibt sich K. auf eine sich immer weiter fortsetzende Irrfahrt durch Kanzleien, durchquert Nebenzimmer nach Nebenzimmer, ist über endlose Treppen und Gänge auf der Suche nach Anwälten, Richtern, Ansprechpartnern. Entscheidend ist nicht das Geschehen auf dem Podium, auf dem der Richter in der Ersten Untersuchung sitzt, nicht die Meinungen der beiden Parteien im Saal, sondern das »molekulare Hin und Her auf den Korridoren, in den Kulissen, hinter den Türen und in den Nebenzimmern« (Deleuze/Guattari 1976: 69). Schon die erste Anhörung findet im Zimmer nebenan statt (Kafka 2005: 16). Das Gericht in Der Prozeß dehnt sich räumlich, aber auch zeitlich aus, sonntags, nachts, jederzeit ist es bereit zu verhandeln, in einer kontinuierlichen Reihe aufeinander folgender Untersuchungen (ebd.: 37); eine Struktur, die im Roman vom Maler Titorelli als Verschleppung beschrieben wird (ebd.: 159). Die konstitutiven Gemeinsamkeiten der Gerichtsverhandlung mit dem Theater, der markierte Beginn und Abschluss und der Ort als feste Stätte lösen sich auf. Die Macht des Gerichts funktioniert nicht pyramidal, sondern horizontal; nicht durch Distanz – Nähe und Ferne –, sondern durch Kontiguität (vgl. Deleuze/Guattari 1976: 78). Diese Kontiguität zeigt sich u.a. im Nebeneinander der Kanzleien und Zimmer, darin, dass jede Person mit dem Gericht in Kontakt steht und in der Aufhebung der Trennung von Zuschauenden und Akteur_innen.14 In einer Zurückweisung repräsentativer Mechanismen fasst K. den Entschluss, sich vor Gericht nicht vertreten zu lassen. (Kafka 2005: 173) K., der die Hoffnung auf »[e]in paar Worte«, die er mit einem ihm »ebenbürtigen Menschen sprechen« wird und die alles unvergleichlich klarer machen würden (ebd.: 12f.), bald aufgibt, erwägt den Gedanken, eine schriftliche Verteidigung bei Gericht einzureichen (ebd.: 119). Die Schrift ist das Medium der Kommunikation des Gerichts in Der Prozeß, Eingaben müssen gemacht, Akten und Verzeichnisse

12 »Ich bin jetzt antelephoniert worden, ich möchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen, zu welcher Stunde«. (Kafka 2005: 38) 13 »Er ärgerte sich, daß man ihm die Lage des Zimmers nicht näher bezeichnet hatte«. (Kafka 2005: 41) 14 So z.B. die drei jungen Leute, die während des ersten Gesprächs unbeteiligt im Zimmer stehen und letztlich doch auch zum Gericht gehören, (Kafka 2005: 16) oder wie der Maler, die Frauen, der Fabrikant, die mit dem Gericht in Kontakt stehen.

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angelegt werden (ebd.: 120), es wird in Heftchen (ebd.: 47) und Büchern gelesen. Kafkas Beschreibungen des Gerichts in Der Prozeß sind sehr nah an den Darstellungen, mit denen die Schüler_innen ihre Erfahrungen im Gericht während unserer Recherche schildern: »Wenn die Angeklagten und Zeugen nicht verstehen, was passiert, wissen sie nicht, worum es geht und was sie machen sollen.« (Ceyda) Die Gerichtsbesuche, bei denen wir mit Verweisen auf kommende Gerichtstage und ausstehende Bußzahlungen konfrontiert waren, weckten bei den Kindern und Jugendlichen das Gefühl, nicht zum eigentlichen Kern des Gerichts vorzudringen. Die Architektur des Gerichts mit den vielen Gängen und Sälen war für die Schüler_innen unübersichtlich und schien herauszufordern, dass man sich verirrte. Der Grund der Verhandlungen war oft nicht zu verstehen, ihre Berechtigung schien nicht gegeben, denn sie handelten in der Wahrnehmung der Schüler_innen nicht wie erwartet von dramatischen Fällen, zu denen man Erzählungen entwickeln konnte. Die Büros waren kaum zugänglich und die Verfahren schwer zu durchschauen; Fragen wurden von Person zu Person weitergereicht oder noch öfter wegen Unzuständigkeit abgewiesen. »Wir haben es uns viel spannender vorgestellt. Vor allem im Zivilgericht werden nicht so schlimme Prozesse behandelt und geringe Strafen festgelegt, nur Geldstrafen bis 400 Euro. Es geht nicht um Mord oder Diebstahl.« (Ceyda) Das Fortschreiten der Untersuchung vom theatralen Dispositiv, wie es in der Forschungsliteratur aufgezeigt wird, zur Erfahrung der Kinder und Jugendlichen im Gericht und von dort aus wieder in die Literatur hinein ermöglicht nun im Sinne eines ersten Untersuchungsergebnisses eine konzeptionelle Differenzierung von theatralem und bürokratischem Dispositiv. Wenn man mithilfe der Erfahrungen der Schüler_innen und der Darstellung in Der Prozeß das bürokratische vom theatralen Dispositiv der Rechtsprechung abgrenzt, führt das schematisch zu folgender Gegenüberstellung: Während das theatrale Dispositiv hierarchisch vertikal organisiert ist, ist das bürokratische Dispositiv horizontal angeordnet. Das Theater subjektiviert Objekte und Verfahren (wenn z.B. anhand der Asservate eine Erzählung vom Tathergang entwickelt wird), während die Bürokratie Subjekte objektiviert (hier interessiert sich keiner mehr für pathetische Anklage und Verteidigung, für die letzten Worte, die der Angeklagte selbst spricht; stattdessen werden Akten angelegt, die keinen Verfasser haben, und der Verhandlung vorgefertigte Formulare vorangestellt, die Mitteilungen vorstrukturieren. Auch bei Kafka wird K. vom Gericht auf den Gegenstand des Verfahrens reduziert). Die Bürokratie durchzieht die schriftlichen Anteile der Rechtsprechung, das Theater die mündlichen. Bei Kafka ist das Bürokratische durch Kontiguität, Ausdehnung in Raum und Zeit und Absenz von Re-

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präsentation gekennzeichnet, während für das Theatrale des Gerichts Distanz, Einheit in Raum, Zeit und Handlung und Repräsentation konstitutiv sind. Das Bürokratische zeigt sich in Vielstimmigkeit, wo in dem Theater der Tragödie die oder der Einzelne spricht. Während das theatrale Dispositiv in der Form einer Zusammenkunft stattfindet, scheint das bürokratische Dispositiv zu Vereinzelung und Dissemination zu führen. Die Bürokratie des Gerichts beinhaltet die Wiederholung, während sein theatrales Moment den Abschluss sucht.15 In der gemeinsamen Genese von Gericht und Theater in der griechischen Tragödie, die Walter Benjamin beschreibt, lässt sich ein Begriff finden, der eine weitere Abgrenzung ermöglicht: Gericht und Tragödie sind eine ›Verhandlung‹ (Benjamin 1974: 295). Während also der theatralen Seite der Rechtsprechung die Verhandlung entspricht, zeigt sich Der Prozeß von Kafka als ein bürokratisches Verfahren. In der Gegenüberstellung von Theatralität und Bürokratie im Gericht erscheint die Bürokratie zunächst als das, was der Zugänglichkeit der Rechtsprechung entgegensteht; die Möglichkeit einer Teilhabe qua Theatralität und Performativität scheint durch das bürokratische Dispositiv des Gerichts verhindert zu werden. Der enge Zusammenhang von Verfahren und Bürokratie verweist dagegen auch auf Aspekte von Bürokratie im Gerichtswesen, die Teilhabe ermöglichen. Dies soll im Folgenden genauer beleuchtet werden.

15 Hier bietet sich noch einmal ein Exkurs zu Walter Benjamin an, denn in der Unterscheidung von Tragödie und Trauerspiel, die dieser in Ursprung des deutschen Trauerspiels trifft, finden sich diese Motive wieder. Benjamin untersucht das barocke Trauerspiel, das historisch verortet ist in der Zeit, in der die Bürokratie entsteht. So waren denn auch Opitz, Lohenstein, Gryphius – Protagonisten des bürgerlichen Trauerspiels – Bürokraten, genauer hohe Beamte. (Vgl. Benjamin 1972: 86) So ist es wohl kein Zufall, dass sich Charakteristiken des Trauerspiels auf eine Ästhetik der Bürokratie des Gerichts abbilden lassen, während – wie auch zu Beginn des Texts aufgeführt – Eigenschaften der griechischen Tragödie dem theatralen Dispositiv der Rechtsprechung entsprechen: Das Trauerspiel findet auf der Wanderbühne statt, seine Bühne ist »nicht streng fixierbar, eigentlicher Ort, sondern dialektisch zerissen«, wo die Architektur des griechischen Theaters einen festen Ort hat. Das Trauerspiel ist »wiederholbare Ostentation« (Benjamin 1974: 298). »Ins Unendliche wiederholt sie sich selbst und ins Unabsehbare verkleinert sie den Kreis, den sie umschließt.« (Benjamin 1974: 262), während die Tragödie »einmalige Wiederaufnahme des tragischen Prozesses in höherer Instanz« (ebd.) ist. Das Trauerspiel kennt keine Held_innen, sondern nur Konstellationen, es ist durch Immanenz gekennzeichnet.

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V ERFAHREN 16 Niklas Luhmann, Soziologe und ausgebildeter Rechtswissenschaftler, untersucht in seiner 1969 erschienenen Schrift Legitimation durch Verfahren das Verfahren als soziales System. Sein Ausgangspunkt ist die verbreitete Annahme, dass rechtlich geordnete Verfahren rechtlich verbindliche Entscheidungen legitimieren würden. Er sieht in diesem Ansatz eine liberale Konzeption, die das »alteuropäische Modell einer hierarchischen Ordnung von Rechtsquellen und Rechtsmaterien« (Luhmann 1983: VII) ablöst. Das Verfahren scheint mehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Rechts in einer sich wandelnden Gesellschaft zu ermöglichen, denn es hat die Fähigkeit, »sich selbst aufs Änderbare festzulegen und jede mögliche Zukunft auszuhalten« (ebd.). Dies geschieht dadurch, dass Entscheidungsfindungsverfahren wie das Gerichtsverfahren sich nicht mehr auf eine Wahrheit im naturwissenschaftlichen oder Gerechtigkeit im metaphysischen Sinne ausrichten. Stattdessen reguliert und kanalisiert das Verfahren die Kommunikation und das Verhalten der Beteiligten so, »daß es das Zustandekommen von Entscheidungen garantiert« (ebd.: 11f.). Da die Legitimität einer rechtlichen Entscheidung sich in einer stark individualisierten Gesellschaften nicht allein auf die Vorstellungen der einzelnen Individuen begründen lässt, muss sie auch vom politisch-administrativen System (und nicht mehr vom repräsentativen System wie in der Disziplinargesellschaft, vgl. unten) selbst hergestellt werden. Verfahren sichern daher die verbindliche Anerkennung von Entscheidungen, institutionalisieren sie und schaffen Selbstverständlichkeit. Das Verfahren zeichnet sich nach Luhmann dadurch aus, dass die Handlungen und ihre Abfolge nicht zu Beginn vollständig festgelegt sind; es existieren vielmehr mehrere mögliche Verfahrensverläufe, die aber entsprechend normativer Regeln eingegrenzt werden. Denn durch ihre eigenen, nicht festgelegten Handlungen entwickeln die Beteiligten Verfahrensrollen und schließen hierdurch mehr und mehr Alternativverläufe des Verfahrens aus, reduzieren Komplexität und steuern so auf ein konkretes Ergebnis hin. Was Luhmann überwiegend positiv als liberales Prinzip moderner Gesellschaftlichkeit beschreibt, lässt sich mit Gilles Deleuze und Félix Guattari jedoch auch kritisch kontextualisieren.

16 Ich danke Kai van Eikels für seinen Hinweis, dass das juristische Verfahren bei Luhmann zusammenzudenken ist mit dem Gebrauch des Verfahrenbegriffs am Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe. (Vgl. A-Z des transdisziplinären Forschens 2014: Versammeln)

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D IE V ERFAHRENSFÖRMIGKEIT DER K ONTROLLGESELLSCHAFT 1990, 15 Jahre nach dem Buch von Deleuze und Guattari über Kafka, schreibt Deleuze das Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (Deleuze 1993: 254262). Ausgehend von dem Begriff der Disziplinargesellschaft von Michel Foucault beschreibt Deleuze mit der ›Kontrollgesellschaft‹ einen Umbruch in der Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird. Diese wird hier weder von Individuen noch von Institutionen ausgeübt, sondern sie ist Teil des Systems, ist systemimmanent. Sie richtet sich in den modernen Gesellschaften in einem verselbstständigten Prozess ein, der von der Gesellschaft selbst permanent angetrieben wird und dabei ungreifbar und unsichtbar bleibt. Die Disziplinargesellschaften sind im 18. und 19. Jahrhundert bis in die Anfänge des 20. Jahrhundert verortet. (Ebd.: 254)17 Hier wechselt das Individuum von einem Einschließungsmilieu in das nächste, diese bleiben aber deutlich voneinander abgegrenzt (wie z.B. Schule, Fabrik, Familie). Die Einschließung erfolgt sowohl auf räumlicher als auch auf zeitlicher Ebene. In der Ablösung der Disziplinargesellschaft durch die Kontrollgesellschaft geraten diese Milieus in eine Krise, was sich an den zahlreichen Reformen von Schulen, Gefängnissen etc. ablesen lässt. (Vgl. ebd.: 255) Während die alten Machtformen innerhalb eines geschlossenen Systems arbeiteten, nehmen sie nun eine neue Gestalt an: »Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gußformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gußform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren.« (Ebd.: 256) Mit dieser Beschreibung lässt sich das sich aus dem eigenen Prozess heraus entwickelnde Verfahren bei Luhmann in Verbindung bringen. In diesem Sinne beschreibt Arne Höcker das Verfahren als »Form ohne Form«, als »Form des Formens«, das Offenheit behält und gleichzeitig Stabilität garantiert. Die spezifischen Eigenschaften des Verfahrens seien in der

17 Der Prozeß entstand zwischen 1914 und 1915; Deleuze schreibt über Der Prozeß: »Kafka, der schon an der Nahtstelle der beiden Gesellschaftstypen stand, hat im Prozeß die fürchterlichsten juristischen Formen beschrieben: Der scheinbare Freispruch der Disziplinargesellschaften (zwischen zwei Einsperrungen) und der unbegrenzte Aufschub der Kontrollgesellschaften (in kontinuierlicher Variation) sind zwei sehr unterschiedliche juristische Lebensformen.« (Deleuze 1993: 257)

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Moderne in den »zur Forschung sich transformierenden Wissenschaften« ebenso am Werk wie in den sozialen Institutionen der Demokratie.18 Ähnlich wie Deleuze sehen auch die Philosophen Slavoj Žižek und Bruno Latour die Rolle des Verfahrens als herrschende Ideologie der liberalen Demokratie kritisch. Žižek sieht in der Verfahrensförmigkeit eine Ideologie, die jede Revolte gegen den Kapitalismus verhindert. Da grundsätzliche Fragen wie jene nach der Verteilung von Besitz außerhalb der Sphäre des Politischen angesiedelt werden, müssen laut Žižek radikale Veränderungen außerhalb der von Verfahren legitimierten Prozesse stattfinden. (Vgl. Cveji /Vujanovi 2012: 74) Auch Latour argumentiert in diese Richtung; öffentlich wird etwas, wenn es kein Verfahren gibt, um es zu behandeln und schließlich zu schlichten. In dem Moment, in dem keine Verfahren zur Verfügung stehen, müssen neue Protokolle entwickelt werden; dies ist ein seltener, flüchtiger politischer Moment, der aber durch Verfahren systematisch verhindert wird. (Vgl. ebd.: 74f.) Cveji und Vujanovi

schließen in Public Sphere by Performance aus diesen Analysen des Verfahrens, dass es notwendig ist, die regulierenden Verfahren, die normativ wirken, zu erkennen. Verfahren müssen dort aufgehoben werden, wo sie für ein anderes Ziel instrumentalisiert werden, um zu verhindern, dass normative Regeln reproduziert werden, ohne dass Gerechtigkeit (oder konkreter: Ziele, Inhalte, grundsätzliche Anordnungen) adressiert werden kann. Einige der Charakteristiken des Verfahrens lassen sich auch in Der Prozeß finden. K. erfährt nicht, wessen er beschuldigt ist, es scheint sich bei dem Prozess nicht um eine Wahrheitssuche zu handeln, sondern um ein sich selbst erhaltendes System normativer Regeln. In Der Prozeß heißt es: »Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren.« (Kafka 2005: 9) Von diesem Punkt an gelangt K. in eine Innenbindung des Verfahrens. Wenn er auch zu Beginn noch viele Handlungsmöglichkeiten zu haben scheint – »Noch war er frei.« (Ebd.: 10) –, so reduzieren diese sich im Laufe der Erzählung, ganz im Sinne der Beschreibung Luhmanns, dass das Verfahren am Anfang noch gewisse Freiheiten lässt, unterschiedliche Sinndarstellungen und Haltungen zu wählen (Luhmann 1983: 93f.), und dass es doch unvermeidlich für die Beteiligten ist, bindende Entscheidungen über die eigene Darstellung zu fällen. Diese Vorentscheidungen müssen getroffen werden, »ohne damit auf das Ergebnis des Verfahrens, das ja noch nicht feststeht, reagieren zu können« (ebd.: 94):

18 Aus der Ankündigung eines Workshops von Arne Höcker an der New York University. (Höcker 2012)

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»Szene und Zeremoniell des Verfahrens werden so zur Norm, wenn nicht gar zur Falle für Beteiligte, die sich gar nicht so weit engagieren wollten. Außerdem wird ihr eigenes Verhalten zur Verfahrensgeschichte und damit zur Fessel. Häufig wird es protokolliert in einer Sprache, die bereits nicht mehr die des Sprechenden ist, sondern die der Polizei, des Gerichts, des Gesetzes; oder es wird in Erinnerungen festgehalten, die nicht die seinen sind, und tritt ihm im weiteren Verlauf des Verfahrens als Objekt gegenüber.« (Ebd.: 93)

In diese Falle gerät K. Daher sieht er auch als einzigen Fluchtweg, sich dem Verfahren zu entziehen, indem er es nicht anerkennt: »Sie können einwenden, daß es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne.« (Ebd.:46) Nach Luhmanns Analyse des Verfahrens liegt der Grund, warum K.s Verhalten kein Ausweg aus dem Verfahren sein kann, in der Darstellung für Unbeteiligte, er liegt in der Rolle des Publikums in der Bürokratie. Die Funktion des Publikums besteht darin, das Individuum zu isolieren, falls er dem Verfahren nicht zustimmt, sodass sein Protest folgenlos bleibt. (Ebd.: 121) Die oder der Betroffene wird nicht durch Verinnerlichung gesellschaftlicher Zwänge an das Verfahren gebunden, sondern indem die Person als Problemquelle ausgegliedert wird und das Verfahren von ihrer Zustimmung oder Ablehnung unabhängig gemacht wird. In das Gerichtsverfahren kann nicht jede_r eintreten und aktiv mitreden. Der Zugang zum Verfahren ist streng reguliert; es ist nicht möglich, aufgrund von inhaltlicher Motivation wie z.B. Solidarität mit einem Angeklagten Teil eines Gerichtsverfahrens zu werden. (Vgl. ebd.: 122) Durch die beobachtende Teilnahme des Publikums am Verfahren etabliert sich ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass in der Rechtsprechung transparente und faire Verfahren gesichert seien. Daher kann eine einzelne Person, die aufbegehrt, nicht mit der Unterstützung anderer rechnen. (Ebd.: 123) Das tatsächlich nur wenige Teile des Verfahrens sichtbar für Unbeteiligte werden, spielt dabei keine Rolle, solange der Eindruck vorherrscht, die Verfahren seien weiter öffentlich. Das Verfahren braucht also nicht die Anerkennung K.s, sehr wohl aber die der in Der Prozeß stets präsenten Zuschauer_innen. Dass sie sich sämtlich als mit dem Gericht verbunden erweisen, hängt mit ihrer Funktion für das Verfahren zusammen: Sie sind immer schon auf der Seite des Gerichts, sind »Gerichtsfunktionäre« (Deleuze/Guattari 1976: 68). Verfahren sind also auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet; ihre Funktion liegt nicht darin, einen gesellschaftsweiten Konsens oder Diskurs darüber herzustellen, was gerecht, erwünscht oder richtig sei, sondern darin, ein bestimmtes Verhalten als rechtmäßig auszuzeichnen und Konflikte zu vermeiden. Wenn es auch eine wichtige Fähigkeit von Verfahren ist, Stabilität bei gleichzeitiger Offenheit zu garantieren, Komplexität zu reduzieren und Entscheidungen zu ermöglichen,

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so bringen Verfahren in Bezug auf die Teilhabe Beteiligter und Unbeteiligter doch auch Probleme mit sich. Sie verhindern, dass Konflikte öffentlich werden, reproduzieren normative Regeln, ohne dass deren Inhalt zur Verhandlung stünde, und enteignen die Prozessbeteiligten ihrer Konflikte, indem sie diese in eine Sprache überführen, die nicht die der Prozessbeteiligten ist, und ihre Befassung an Professionelle übereignen.

N EUE P ROTOKOLLE Kurz vor dem Übertritt in die Strafmündigkeit befinden sich die Schüler_innen auf einer Schwelle zum Recht. Als Mitforschende bringen sie die Themen Grenzen, innen und außen, Ein- und Ausschluss sowie Teilhabe in das Projekt ein. Diese Themen werden virulent in Bezug auf die bürokratischen Aspekte der Rechtsprechung – und damit in Bezug auf die Verfahrensförmigkeit des Gerichts. Immer wieder beschäftigten die Schüler_innen Fragen nach dem Zugang zum Recht, nach einer aktiven Teilnahme an den Verhandlungen (anstelle einer unbeteiligten Zuschauer_innenrolle), nach Verständlichkeit, Durchschaubarkeit. Kritik an der Unwichtigkeit der Verhandlung wurde geäußert; eine Kritik, die sich auch als Missbilligung der Inhalte oder Ziele und einem Desinteresse für die Regulierungen der Verfahren deuten lässt. Bei unserer Erkundung sind wir auf den Widerstreit zwischen Theatralität/ Versammlung und Bürokratie/Verfahren gestoßen, den das Gericht unablässig austrägt. Die Ausschließungen des Verfahrens, das einerseits regulierend und normativ wirkt und andererseits Willkür und Parteilichkeit begrenzt, wurden durch die Perspektiven der Schüler_innen sichtbar. Die Konsequenz aus unseren Erfahrungen und der Lektüre war der Versuch, ein neues Protokoll zu entwickeln, dessen Ziel die Teilhabe ist. Um die Schüler_innen, für deren Strafmündigkeit es bemerkenswerterweise kein gesellschaftliches Ritual gibt, auf der Schwelle des Gerichts zu begleiten, bot Das jüngste Gericht ihnen den Rahmen, in eine Verhandlung über das Gericht einzutreten, die wiederum auf das Gericht rückwirken kann. Wir sammelten Zeug_innenaussagen, schrieben Protokolle, beschrifteten Asservate, legten Akten an, verteidigten, klagten an und verhandelten; nicht zuletzt nahmen wir natürlich die Zuschauer_innenrolle ein. Die Inszenierung eines Rundgangs, in dem die Schülerinnen und Schüler aus ihrer Perspektive durch das Gericht führten, und die Beschäftigung mit Kafka stellten der reflexiven eine ästhetische Erfahrung zur Seite, die auch Raum für Spekulation, Interpretation und neue Bilder geschaffen hat.

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Q UELLENVERZEICHNIS

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Eintopf und Konsens Urbane künstlerische Beteiligungsprojekte und die Kunst des sozialen Austauschs

H ILKE B ERGER

»Und jetzt bitte alle: Intervention!«

Diese Aufforderung war an die Teilnehmenden eines Workshops gerichtet, der im Sommer 2012 in Berlin stattfand. Er beschäftigte sich mit künstlerischen Strategien im öffentlichen Raum und der Appell war nur vermeintlich eine lediglich kleine Bitte, denn in diesem speziellen Kontext war damit gleich zweierlei verbunden: der Anspruch einer Beteiligung und die Aufforderung, künstlerisch evoziert in die urbane Umgebung einzugreifen. Natürlich amüsant – weil hier völlig aus dem Zusammenhang gerissen – und dennoch erstaunlich treffend beschreibt diese Aufforderung eine deutliche Tendenz künstlerischer Projekte der letzten Jahre, um die es im Folgenden gehen soll.1 Berührt werden hier Fragen nach der Rolle von Zuschauer_innen und Künstler_innen ebenso wie das daraus resultierende Problem der Autor_innenschaft. Bei intensiverer Beschäftigung kommen schnell Diskussionen um die Indienstnahme von Gemeinschaftsutopien, Instrumentalisierungsdebatten, städtisches Planungsvorgehen in Hinblick auf die Gefahr von ›Stadt als Beute‹, die ›Festivalisierung‹ der Kunst sowie ganz grundsätzlich die Frage nach dem Ort der Kunst zwischen Zweckfreiheit und Heilsbringung als Themen hinzu. Kein kleines Feld

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Der inflationär benutzte und dadurch bis zur Unkenntlichkeit heterogenisierte Begriff ›Intervention‹ wird hier bewusst nicht verwendet und auch nicht näher behandelt. Ausführliche Forschungen und erste Ergebnisse zu diesem Begriff sind über das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsprojekt an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, Urbane Interventionen, einsehbar.

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also, und jedes der genannten Themen ist Gegenstand etablierter Debatten und zahlreicher Publikationen. Dieser Text ist daher, in bewusst gewählter kondensierender Form, als Versuch einer Zusammenschau der genannten Problemfelder zu lesen. Im Rahmen meiner Dissertation Kunst macht Gesellschaft dient der hier entworfene Überblick als Fundament für die Analyse einer Kunst des Sozialen. Diese begründen sich aus den skizzierten Entwicklungen partizipativer Praktiken und der Auflösung der Genrezuschreibungen in der Kunst und schreiben sich zunehmend in Projekte unterschiedlicher Kontexte ein.

Ä PFEL

UND

B IRNEN – K UNST

IM URBANEN

R AUM

Die skizzierten Problemfelder sind zum Teil auch Gegenstand von Diskursen zum öffentlichen Raum. Im Gegensatz zu einem Konzept, in dem sich Raum eindeutig zuordnen ließ (wie z.B. in der Polis der griechischen Antike), hat sich der Begriff ›öffentlicher Raum‹ im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte stark verändert. Letztlich ist heutzutage – und genau da liegt das große Problem – in Städten nicht mehr erkennbar, wo sich vermeintlich öffentlicher Raum längst in Privatbesitz befindet und wie eine klare Trennung zwischen öffentlich und privat überhaupt noch gedacht werden kann, zumal auch die von Habermas skizzierte Kategorie einer ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ (Habermas 1962) heute nicht mehr zeitgemäß erscheint. Von der einen Öffentlichkeit kann seit Michael Warner und seiner Analyse der multiplen Öffentlichkeiten (Warner 2005) ohnehin nicht mehr gesprochen werden. Welcher Raum welcher Öffentlichkeit zuzuordnen ist, ist nicht Gegenstand meines Beitrags, zumal fraglich ist, ob sich das überhaupt eindeutig definieren ließe, da Öffentlichkeit eine veränderbare und v.a. auch variable Größe ist. Um das Zusammenspiel von Kunst und öffentlichem Raum differenziert darstellen zu können, hat Miwon Kwon eine instruktive Trennung in erstens ›Kunst im öffentlichen Raum‹, zweitens ›Kunst als öffentlicher Raum‹ und drittens ›Kunst im öffentlichen Interesse‹ vorgeschlagen. Auf Kwons Arbeiten geht auch die Gattungsbezeichnung ›new genre public art‹ (Kwon 1997) zurück.2 Das Forschungsinteresse meiner Arbeit liegt auf der Entwicklung partizipativer künstlerischer Projekte im urbanen Raum seit den 1960er-Jahren. Die Unklarheit des Öffentlichkeitsbegriffs führt hierbei meiner Meinung nach auch zu Unklarheiten in Bezug auf Möglichkeiten der (Bürger-)Beteiligung z.B. bei Fra-

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Einen umfassenden Überblick zum Zusammenhang zwischen Kunst und öffentlichem Raum bietet z.B. der Sammelband Die Kunst des Öffentlichen (Babias 1998).

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gen nach der Gestaltung und Definition des öffentlichen Raums. So verknüpft besteht jedoch die Gefahr, sich im ausführlichen Diskurs zum Öffentlichen zu verlieren und so den Fokus von künstlerischen Strategien zu raumtheoretischen Überlegungen zu verschieben.3 Die Lösung hier ist natürlich nur eine temporäre Flucht aus dieser Problematik; sie liegt in der Vermeidung des Begriffs. Im Folgenden wird daher vom – bewusst offen definierten – ›urbanen‹ statt vom ›öffentlichen‹ Raum die Rede sein. Die gängige Diskussion zu ›künstlerischen Projekten im Stadtraum‹ summierend scheint es zunächst wichtig, einen Blick auf diesen urbanen Raum zu werfen, welcher bei vielen der geführten Debatten auf zahlreichen Festivals und Kongressen oft als homogenes Konstrukt vereinheitlicht wird, was meist nicht ganz unproblematisch ist, da auf diese Weise häufig Unvergleichbares gleichgesetzt wird. In Metropolen überwiegen in Bezug auf die Thematik ›Künste im urbanen Raum‹ v.a. kritische Diskussionen zu Themen wie der Gefahr der Instrumentalisierung der Kunst (siehe die Auseinandersetzung rund um die künstlerischen Projekte im Rahmen der Internationalen Bauausstellung [IBA] Hamburg). Eine Formulierung wie die des ›Potenzials‹ der Kunst erscheint insofern verdächtig, weil sie automatisch den schalen Beigeschmack eines hierarchisierenden ›Giving-a-voice-Empowerments‹ mit sich führt. Für von Schrumpfung bedrohte urbane Regionen ist diese Potentialität erst einmal positiv besetzt. Hier geht es meist primär um die Möglichkeit der Aktivierung von Stadtgesellschaft insgesamt durch Kunst, ohne den politischen Impetus der Diskussion möglicher, hierdurch erst stigmatisierter ›Randgruppen‹.4 Alltägliche Prozesse wie die kritisch zu betrachtende Indienstnahme künstlerischer Projekte im Rahmen von Aufwertungsprozessen, die in Großstädten weltweit zum Problem geworden sind, verkehren sich jenseits des Metropolenhypes schnell in eine Hoffnung, nämlich darauf, überhaupt noch irgendetwas mit

3

Dieser Zusammenhang zwischen dem sich verändernden Verständnis des öffentlichen Raums einerseits und der Steigerung eines Anspruchs auf Beteiligung andererseits ließe sich exemplarisch an einer Protestbewegung wie ›Stuttgart 21‹ untersuchen.

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Als ein Beispiel sei hier auf die Gefahr der falsch verstandenen ›Fürsorge‹ verwiesen. Mit der Haltung der generösen Option auf Partizipation, einer Heilsbringung, die von außen kommt, um etwas zum Positiven zu verändern, was vielleicht von den Menschen nicht als negativ empfunden wird, werden erst entsprechende ›Randgruppen‹ konstruiert, die immer als ›die anderen‹ (nämlich als diejenigen, die teilhaben sollen) stigmatisiert bleiben müssen.

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und durch Kunst bewegen zu können. ›Please gentrify me‹ ist hierzu ein treffender, augenzwinkernder Kommentar eines Mühlheimer Theaterintendanten. Bei der Betrachtung der Rolle der Künste im urbanen Raum sind die Spezifika dieses Raums mit allen lokalen und regionalen Problemen daher entscheidend für die Bewertung von allen Initiativen, die den städtischen Raum thematisieren. Diese Thematisierungen reichen von einer Fokussierung auf die Gefahr der Instrumentalisierung auf der einen bis zur Betonung des Potenzials einer Aktivierung der Gesellschaft auf der anderen Seite. So weit das Feld ›urbaner Raum‹ gefasst wird – die Frage nach der Rolle der Künste verbindet die Pole in einem entscheidenden Punkt: in der Frage nach der Rolle des Zuschauenden. Hierbei bekommt die Tatsache elementare Bedeutung, dass das Publikum nicht etwas ist, das per se existiert, sondern immer etwas ›Gemachtes‹, und dass es somit nicht nur veränderbar, sondern v.a. auch aktivierbar ist. Denn natürlich liegen hierin Potenzial wie Gefahr gleichermaßen. Nicht von ungefähr hat daher in den letzten Jahrzehnten das Spiel mit dem Publikum für Künstler_innen aller Bereiche an Bedeutung gewonnen. Nachfolgend wird die Historie des so entstandenen ›Imperativs der Partizipation‹ zusammenfassend nachgezeichnet.

H AT

HIER ETWA SCHON WIEDER JEMAND DAS ›P-W ORT ‹ BENUTZT ? – Ü BER DIE LANGE G ESCHICHTE DER P ARTIZIPATIONSKRITIK Die scheinbar kleine Bitte ›Und jetzt bitte alle‹ zu Beginn dieses Beitrags erscheint als harmlose Aufforderung, kommt aber mit gewaltigem Gepäck daher. Rekurriert sie doch auf die Sehnsucht und den Anspruch einer Beteiligung, die inzwischen zum gängigen Standardrepertoire von Künstlerinnen und Künstlern wie zum Vokabular von Stadtplaner_innen gleichermaßen gehört. Jede Beschäftigung mit der Thematik läuft schnell Gefahr, sich in den Untiefen einer seit Jahrzehnten geführten Diskussion zu verlieren. Dessen ungeachtet ist der Beteiligungsauftrag im Laufe der letzten 20 Jahre zum Imperativ in allen Sparten geworden, gefasst in einem Wort, bei dessen Verwendung von Fachleuten längst mit den Augen gerollt wird und dessen kritische Diskussion inzwischen mehrere Regalmeter von Bibliotheken weltweit füllt: Partizipation. Das im hier betrachteten Kontext wahrscheinlich am häufigsten benutzte und bei vielen daher unbeliebteste Wort der letzten zwei Jahrzehnte. Quer durch alle Kunstformen und Praktiken trotz aller Kritik nach wie vor ein ›In-Wort‹, an dem letztlich kein Förderantrag vorbeikommt.

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Entsprechende Projekte bewegen sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Kunstgattungen, unterlaufen tradierte Sehgewohnheiten, verlassen etablierte und gewohnte Rahmen und schaffen – so zumindest ein vielfach formulierter Anspruch – neue Räume sozialer und kultureller Interaktion. Allerorten ist aus dem Zuschauenden ein_e Teilnehmer_in geworden und Kunst findet längst fernab von institutionalisierten Räumen in Straßen, Parks, Kaffees, Parkhäusern oder Einkaufspassagen statt. (Vgl. Deck/Sieburg 2008) Zuschauer_innen sind weniger Publikum als Partnerinnen und Partner bei Kunstperformances und Performancekunst – und das mit großem Erfolg: International lässt sich bei allen großen Festivals eine deutliche Zunahme von Arbeiten beobachten, welche die klassische Trennung von Publikum und Darstellenden aufbrechen und die dies durch Bewegung hinaus aus den gewohnten rahmenden Räumen, hinein in den Stadtraum tun. So z.B. im deutschsprachigen Raum mit Bezug auf die darstellenden Künste bei den renommierten jährlichen Großevents wie dem Steirischen Herbst in Graz, bei mehrjährigen Programmen wie Playing the City der Schirn Kunsthalle Frankfurt oder Veranstaltungen wie dem Festival Politik im Freien Theater in Köln mit der Sparte Made in Cologne oder beim Leipziger play!-Festival, welches dem Theater im Stadtraum gewidmet war, sowie in der Programmlinie Urbane Künste Ruhr, um nur eine kleine Auswahl des riesigen Angebots entsprechender Rahmen zu nennen. So bewegend solche Arbeiten in vielerlei Hinsicht sein mögen, so problematisch erscheinen sie der Kritik häufig nicht nur in Bezug auf ihre Rezeption. So sehen die einen die Gefahr des Verlusts eines ästhetischen Anspruchs und der restlosen Auflösung des Kunstbegriffs in Beliebigkeit. (Vgl. Raunig 2000; Bischop 2006 und 2013); während die anderen nach wie vor eine generalisierende Kritik am Konzept der Partizipation mit und durch Kunst üben, drohe doch den Teilnehmenden so das Gefühl einer ›Verordnung‹ und damit einer Hierarchisierung oder – im schlimmsten Fall – eine Stigmatisierung der ›zu Beteiligenden‹ im Namen der Kunst. (Vorkoeper 2011) Hinzu kämen die Probleme einer vereinheitlichenden Konsensproduktion, die Konflikte nur verdecken, aber nicht wirklich lösen könne und die ein nicht nur utopisches, sondern hochproblematisches Demokratieverständnis beinhalte, in dem immer alle einer Meinung seien und sein müssten. Der Ausverkauf der Partizipation im Politischen wird so bspw. von Markus Miessen in seiner Trilogie zur Partizipation im Anschluss an Chantal Mouffe kritisch diskutiert, in der er im Gegenzug die Rolle des ›interesselosen Außenseiters‹ und ›ungefragten Teilnehmers‹ wieder stark macht. (Miessen 2012)

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Aktuelle Kritiken reihen sich in einen nun seit Jahrzehnten aufgeführten Reigen ein, denn die Partizipationskritik scheint heute bereits ein wenig in die Jahre gekommen zu sein. Sie begann spätestens in den 1960er-Jahren mit Sherry Arnsteins A Ladder of Citizen Participation (Arnstein 1969). Ein französisches Studierendenplakat mit dem Wortlaut »je participe // tu participes // il participe // nous participons // vous participez // ils profitent« ist Arnsteins Aufsatz als Abbildung beigefügt und fasst die Hauptpartizipationskritik treffend zusammen, denn das Plakat bezieht sich bereits auf die später heftig kritisierten Gefahren der Instrumentalisierung, der Vereinnahmung und des Ausverkaufs der Teilnehmer. In den 1990er-Jahren wurde die kritische Debatte dann so massiv geführt, dass es erstaunen mag, dass Partizipation das Diktum im Stadtplanungs- wie im kulturpolitischen Bereich geblieben ist,5 wenn es auch zunehmend mit einem anderen Wort kombiniert wird (und das ist natürlich wenig überraschend): mit der ›Nachhaltigkeit‹. Der hiermit verbundene und extrem problematische Effizienzanspruch – wie auch die schwierigen Fragen nach Messbarkeit etc. – wäre Thema einer eigenen Publikation. Ganz ausblenden lässt sich die Nachhaltigkeitsdiskussion im Kontext urbaner Beteiligungsprojekte jedoch nicht. Denn während die hermeneutische Analyse noch die Bedeutung des Kunstwerks ins Zentrum stellte, geht es nun darum zu fragen, »was Kunst bewirken kann, d.h., worin die Bedeutsamkeit ihres Tuns liegt« (Gludovatz et al. 2010: 9). Mit Karin Gludovatz et al. wurde die Funktion der modernen, autonomen Kunst nach ihrer Loslösung aus religiösen oder politischen Zusammenhängen primär im Ästhetischen gesehen und somit auch mit Zweckfreiheit assoziiert. Kunst aus eben jener Zweckfreiheit zurück in Wirksamkeit und Wirklichkeit zu überführen, verbunden mit der Hoffnung, der Kunst »ein anderes gesellschaftliches Fundament und damit auch eine neue gesellschaftliche Setzungsmacht zu verleihen, war dann die Absicht der Avantgarden des 20. Jahrhunderts« (ebd.: 9f.). Entsprechend ist auch das vermeintliche ›Phänomen‹ der Partizipation kein neues: Von den mittelalterlichen Mysterienspielen zu russischer Revolutionskunst, vom Dadaismus über die politische Konzeptkunst eines Hans Haackes bis

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Erklärbar wird diese typische Ungleichzeitigkeit durch die innovativen Kräfte, die sowohl der Kunst als auch der Wissenschaft als impulsgebende Sphären zuzuschreiben sind. Während Strategien hier nicht nur entwickelt, sondern bereits wieder diskutiert und gegebenenfalls verworfen worden sind, muss die bürokratisch verankerte Stadtplanung diesen Entwicklungen hinterherhinken, da die Diskurse hier erst Raum greifen müssen, um überhaupt wirkungsmächtig zu werden.

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zu environmental und fluxus art (event scores), von den Situationist_innen sowie der Happeningkunst der 1960er-Jahre zu John Cage, Yoko Ono, Allen Kaprow, Martha Rosler und Georg Brecht, zu Organisationen wie der Art Workers Coalition und Gruppen wie Group Material lässt sich eine Traditionslinie ziehen. Diese Arbeiten verbinden die Überwindung von starren Grenzen und die Involvierung der Zuschauerrin und des Zuschauers gleichermaßen. (Vgl. Rollig 2001)

Z UR

KUNSTHISTORISCHEN E NTWICKLUNG SEIT DEN 1960 ER -J AHREN Die Veränderung von repräsentativen Arbeiten, die auf einer reinen Kopräsenz von Werk und Zuschauenden basieren, hin zu aktivierenden Formaten, in denen der zuschauende zum teilnehmenden Part wird, verlief analog zu einer weiteren wesentlichen Veränderung in der Kunst des 20. Jahrhunderts: der von Objekten zu Praktiken oder Prozessen. In Bezug auf städtische Kunstprojekte löste die ›Kunst im öffentlichen Raum‹ in den späten 1970er-Jahren die bis dato praktizierte ›Kunst am Bau‹ ab und vermischte bildende mit performativen Kunstformen v.a. im Bereich der site-specific bzw. der new genre public art. Und so verwischen nicht nur zunehmend die Grenzen zwischen den Kunstformen und Gattungen bis hin zu ihrer Auflösung, sondern es geht entsprechend auch um die Frage nach der Veränderung von Autor_innenschaft ganz allgemein. Diese Feststellung ist eng verzahnt mit der Frage nach politischer Teilhabe. Es geht um eine Veränderung von einer »repräsentativen hin zu einer performativen Demokratie«, um Peter Weibel zu zitieren (Weibel 2011). Insbesondere in den 1970er-Jahren fand »das Verständnis der künstlerischen Arbeit als eine explizite und notwendige Intervention im gesellschaftlichen Lebensraum, als Formbildungsprozess einer sozialen Skulptur« (Putz-Plecko 2002: 107) mit Joseph Beuys einen renommierten Vertreter. Für den europäischen Raum bedeutete diese Auffassung von Kunst als gezielter und v.a. gesellschaftlich wirksam sein wollender Intervention etwas Neues. Im Gegensatz bspw. zu Nordamerika, wo sogenannte ›Protestkunst‹ bereits seit den 1960er-Jahren etabliert und künstlerischer Aktivismus auch ästhetisch als Kunst legitimiert war.6 Das 1973 von Jörg Immendorff gemalte Bild Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege? bringt den hierzulande in den 1970er-Jahren noch auszufechtenden Konflikt auf den Punkt. Es zeigt einen in seinem Atelier sitzenden Maler. Die

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Dies geschah u.a. durch verschiedene Formate wie die feministische Bewegung, die Antivietnamprojekte oder die Aidsaufklärungskampagnen, die als Poster dann im New Yorker Museum of Modern Art (MOMA) wieder auftauchten.

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Tür zu diesem offensichtlich privaten Raum wird von einem Mann aufgerissen, der anklagend auf eine zwar direkt vor der Tür, aber eben draußen auf der Straße stattfindende Arbeiter_innendemonstration weist, die ein Transparent mit der Aufschrift ›Kampf‹ vor sich herträgt. Die am unteren Rand des Bilds großformatig abgebildete Frage »Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?« beantwortet Immendorff im Bild gleich selbst: Nicht nur sitzt der Maler getrennt von den äußeren Geschehnissen in seinem privaten, stillen Kämmerlein. An der Wand seines Rückzugraums hängt darüberhinaus ein Plakat: Auf diesem sind die dominierenden Kunstrichtungen der 1960er-Jahre von Pop- über Concept- bis zur Land-Art gelistet, die so ebenfalls als von ›dem da draußen‹ getrennt gekennzeichnet sind. Wie Philip Ursprung in seiner kunsthistorischen Zusammenschau der 1960er-Jahre pointiert, löste so die Frage »Wo ist die Kunst?« der 1970erund 1980er-Jahre durch ihren räumlichen Bezug zur Gesellschaft die in den 1950er- und 1960er-Jahren noch relevante Frage, »Was ist die Kunst?«, ab. (Ursprung 2012)7 Im Hinblick auf die skizzierten kunsthistorischen Veränderungen gipfelte die Entwicklung der 1970er-Jahre in einer zunehmenden Politisierung der Kunst in den 1990er-Jahren. Eben dies ist auch die Hochzeit des Aufkommens partizipativer Projekte wie auch ihrer Kritik. Die ›Kunst des sozialen Austauschs‹ wurde zu einem zentralen Paradigma im Kunstbetrieb. So ist eine neue, hybride Kunstform entstanden, die sich entsprechend klarer Genrezuschreibungen entzieht. Dazu noch einmal Peter Weibel: »Die Kunst dehnt sich vom Objekt aus zu einer Praktik, und in ihrer Praktik dehnt sie ihre Arbeitsfelder in neue Bereiche aus, die bis dahin den Sozial- und Naturwissenschaften vorbehalten waren.« (Weibel

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Nun sind wir heutzutage zusätzlich zu dem von Immendorff skizzierten Konflikt mit dem Dilemma konfrontiert, dass es nach Negri und Hardt gar kein drinnen und draußen, kein ›außerhalb‹ gibt. (Hardt/Negri 2002) Eine zwar unmittelbar daran anschließende weiterführende, aber an dieser Stelle argumentativ wegführende Frage wäre, ob vielleicht die Institutionskritik darum heute fester Bestandteil des Curriculums der meisten kunsthochschulischen Ausbildungen ist. Hiermit verordnet die Institution ihre eigene Infragestellung quasi gleich mit und läuft so Gefahr, ihr jeglichen politischen Impetus zu nehmen. Ein ähnlicher Effekt wird an der Musealisierung der aktivistischen Kunst – noch während ihres politischen Protests – kritisiert, wie zuletzt bei der Berlin Biennale, die der politischen Wirksamkeit durch ihre Ausstellung im Moment der Aktion quasi die Zähne ziehe. Hier wäre ein ausführlicherer Blick auf den Effekt der Inkorporation dieses vormaligen außerhalb und die daraus resultierenden Folgen sicherlich spannend.

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2011: 129) Verhandelt werden hierbei Fragen der Kulturgeschichte, der sozialen Lebensbedingungen und der Stadtentwicklung. Die Trennschärfe zwischen sozialen Projekten, Kunst oder politischer Aktion ist häufig aufgehoben. In dem Versuch, eben jenen neuen Handlungsfeldern der Kunst und der hierdurch erzeugten neuen Rollenverteilung ›Herr‹ zu werden, hatte dies ein wahres Auftürmen an Begrifflichkeiten zur Folge. Zu nennen wären hier u.v.a. ›partizipatorische‹, ›kollaborative‹, und ›dialogische‹ Kunst, ›community-, social-, project-based art‹, ›utopian proposal‹ und natürlich die eingangs erwähnten ›urbanen Interventionen‹. 2002 erschien mit dem Buch des französischen Kritikers und Kurators Nicolas Bourriaud dann ein Werk, dessen Titel, Relational Aesthetics, so griffig zu sein schien, dass er sich zur Subsumierung der meisten genannten Strömungen eignete und damit auch im Kontext künstlerischer Partizipation nicht mehr wegzudenken ist.

R ELATIONAL A ESTHETICS ODER DIE K UNST DES SOZIALEN A USTAUSCHS »Basically Relational Aesthetics is when someone with an MFA [Master of Fine Arts] wants to meet new people. They spent so much time pursuing the MFA, that they don’t know how to speak to people normally. And they got so poor social skills, and they got no other way to meet new people other than forcing them into art activities at their own poorly attended art openings.« (Art Thoughtz: Relational Aesthetics 2011)

Der Videokünstler Jayson Musson karikiert so mit seiner Kunstfigur Hennessy Youngman im Rahmen seiner Art-Thoughtz-Videos auf außerordentlich amüsante Art und Weise einen Aspekt, der im Rahmen der Partizipationskritik bereits angesprochen wurde: die Gefahr einer »Auflösung des Kunstbegriffs in Beliebigkeit«. Musson/Youngman gibt uns eine Definition von relationaler Kunst, die alltägliche Praktiken – wie ein gemeinsames Essen, verlegt in den institutionalisierten Rahmen einer Kunstgalerie – einen anderen Status, nämlich den von Kunst, zuschreibt und die so die intellektuelle Aufladung einer solchen Inszenierung ironisiert. Nicolas Bourriaud, der eben jenen Begriff der ›Relationalen Ästhetik‹ in den Diskurs eingebracht hat, verdeutlicht in seinem gleichnamigen Buch anhand von Beispielen – wie etwa den in Galerien veranstalteten Dinnern des Künstlers Rirkrit Tiravanija, bei denen die Begegnung und Involvierung der Besucherinnen und Besucher gleichermaßen im Vordergrund stehen – einen Trend in der Kunst der 1990er-Jahre. Bourriaud unternimmt hier den massiv kritisierten Versuch,

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die entsprechenden Aktionen, die v.a. für die Inszenierung des geselligen Miteinanders bzw. der Einbeziehung des Publikums bekannt wurden, mit politischem Gehalt aufzuladen.8 Den Hintergrund für den Erfolg solcher und ähnlicher Arbeiten sieht der Autor in einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der persönlicher, interpersoneller Kontakt mehr und mehr durch digitale Welten, technische Dienstleistungen etc. ersetzt werde. Festgestellt wird von Bourriaud letztlich aber nur eine zunehmende ähnliche Arbeitsweise vieler Künstler_innen, deren Ergebnis die Schaffung einer geselligen Rahmung mit dem Effekt der Herstellung erhöhter Sozialität ist. Über die Intention der Kunstschaffenden, die Folge der Aktionen und tatsächliche Veränderungen über den kurzen Moment des Kontakts (z.B. bei einem gemeinsamen Essen) hinaus wird nichts ausgesagt. Dabei sei das politische Anliegen der relationalen Kunst, die Brüche im gesellschaftlichen Gefüge – »cracks in the social bond« (Bourriaud 2002: 36) – zu schließen, was zur Stiftung neuer sozialer Gemeinschaften führe. Der politisch elementare Dissens scheint hier keinen Platz mehr zu haben. Und so ist es gerade diese Aussage, die zur Hauptangriffsfläche für die massive Kritik am Konzept der ›Beziehungskunst‹ geworden ist. Die kompensatorische Funktion, die Bourriaud der Kunst hier zuweist, erscheint hoch problematisch: »Das Prinzip demokratischer Egalität, das solcherart in die Zusammenhänge ästhetischer Beziehungen eingeschrieben zu werden verspricht, scheint seine konsequenteste Verwirklichung in künstlerischen Projekten zu erreichen, die nichts anderes anzielen als die Inszenierung eines gemeinschaftlichen Zusammenseins des Publikums – mit den KünstlerInnen oder mit sich selbst – […]. Der Begriff droht (so) schlechterdings zu einem Synonym für eine – unproblematisch und konfliktfrei verstandene – Gemeinschaftsbildung zu werden«. (Neuner 2007: 4)

Dies ist auch die Kritik in der Auseinandersetzung mit den Thesen Bourriauds durch Jacques Rancière, der bezüglich dieses »politischen Anliegens« von Kunst zu folgendem Schluss kommt:

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Bevor Bourriaud in der Vielzahl der Projekte, die auf soziales Beisammensein zielten, einen Trend erkennen konnte, gab es bereits ähnlich arbeitende Künstler_innen. So beanspruchte bspw. Tom Marioni in seinen Memoiren Beer, Art and Philosophy mit seiner Aktion The Act of Drinking Beer with Friends is the Highest Form of Art von 1979 spätere, ähnliche Konzepte letztlich vorweggenommen zu haben. »I am the author of this idea. In the 90s the idea of social interaction in an art context became a movement.« (Marioni 2007: 93)

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»Als Ersatz aber läuft die Kunst Gefahr, sich in den Kategorien des Konsens’ insofern zu verwirklichen, als dieser die politische Anwandlung einer ihr Gebiet verlassenden Kunst auf die Aufgaben der Nachbarschaftspolitik und eines sozialen Heilmittels beschränkt. […] Die Politik der Kunst reduziert sich auf Wohlfahrt und ethische Ungenauigkeit.« (Rancière 2008: 96)

Unklar bleibt hier, was dieses ›Gebiet der Kunst‹ denn eigentlich genau ist. Angesprochen sind damit letztlich alle künstlerischen Projekte, die das ihnen zugeschriebene Handlungsfeld, wie auch immer man dieses definieren möchte, verlassen. Und das sind inzwischen unendlich viele. Anders als Kritiker_innen wie Rancière oder Bishop sehen die angesprochenen Künstlerinnen und Künstler gerade in dieser Ausdehnung der Kunst in ein ihr nicht originär zugestandenes Feld eine große Chance. So kommt bspw. auch Robert Pfaller in seiner Untersuchung zur Verschmelzung von Kunst mit anderen Disziplinen zu dem Schluss, dass nur durch die zugrunde liegende Existenz der unterschiedlichen Systeme ein Erfolg im jeweilig ›anderen‹ System erreicht werden könne. Pfaller entwickelt diese These in Bezug auf die Arbeiten der Wochenklausur, einer in Österreich ansässigen Gruppe, die seit den frühen 1990er-Jahren »kleine, aber sehr konkrete Vorschläge zur Verringerung gesellschaftspolitischer Defizite [entwickelt] und diese Vorschläge auch um[-setzt]. Künstlerische Gestaltung wird dabei nicht mehr als formaler Akt, sondern als Eingriff in unsere Gesellschaft gesehen«. (Wochenklausur) Diese Vermischung von Kunst mit – im Fall von Wochenklausur – Sozialarbeit, einer Überlagerung, die v.a. im englischsprachigen Bereich häufig kurz als social art bezeichnet wird, ist aber auch der Kritik ausgesetzt, Erfüllungshilfe bei dem voranschreitenden Rückbau des Sozialstaats zu leisten. Gerald Raunig zufolge tendieren »entsprechende Modelle im Kunstfeld dazu, Communities ihrer Inkommensurabilität zu berauben, durch die patriarchal/pastorale Intervention des Künstler- oder Kurator-Vaters und unter dem Schlagwort des Identitätsstiftenden nichts als kurzfristig ästhetisierende Inseln in einem Haufen von absoluten Differenzen zurückzulassen. Unter Devisen wie ›Förderung kultureller Identität‹, ›Stärkung des Gemeinschaftsgefühls‹ oder ›kulturelle (Selbst-)Repräsentation von Minderheiten‹ wurden zusehends ganze Kleinszenen depolitisiert, die Kolonialisierung der Differenz betrieben und sowohl in den USA als auch in Mitteleuropa (wenn auch hier meist prozessualer und unter rigoroserem Verzicht auf die Werkhaftigkeit) moralisierende Mehrwerte aus sozialen Feldern in das Kunstfeld umgeleitet« (Raunig 2002: 119).

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Hiergegen lässt sich mit Robert Pfaller argumentieren, dass dadurch, dass Künstler_innen – auch als solche wahrgenommene – Sozialarbeit leisten, erst die Möglichkeit entsteht, etwas anderes zu erzeugen, als es der Auftrag klassischer Sozialarbeit vorsieht. Die Gefahr des Ersatzes, wie von Rancière befürchtet, sieht Pfaller hierbei nicht, da ja die Existenz der unterschiedlichen Systeme als Bedingung gegeben sei. Auch Sandra Umathum zieht in ihrer Analyse der Thesen von Bourriaud und Rancière zu Arbeiten von Erwin Wurm, Félix Gonzàlez-Torres und Tino Sehgal das Fazit, dass hinsichtlich der politischen Dimension für die Fragestellung der interpersonellen Begegnung die Einladung zu einer Handlung im Vordergrund stehe: »Die politische Dimension dieser Werke liegt demnach darin, dass sie zu einem Handeln einladen, welches nicht Selbstzweck ist und sich nicht in sich selbst erschöpft. Weniger zählt hier das Handeln an sich oder das, was man konkret tut, als vielmehr das, was durch das jeweilige Tun hervorgerufen und erfahrbar wird: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein in einer Situation, mit dem eigenen Handlungsvorhaben, mit den Weisen der Einflussnahme auf ein Geschehen oder die anderen Besucherinnen und Besucher.« (Umathum 2010: 71)

Umathum nennt als Ergebnis dieser Arbeiten die Eröffnung von »SelbstVerhandlungsräumen«. Die beschriebene Inszenierung einer Rahmung, die den persönlichen Kontakt herausfordere, habe die Kunst zu einem Schauplatz verwandelt, auf dem »die unterschiedlichen Interessen, Haltungen, Befindlichkeiten oder Disponiertheiten der einzelnen Teilnehmer aufeinandertreffen und durch ihre jeweiligen Handlungen, Verhaltensweisen oder Gespräche reflektierbar werden können« (ebd.: 72). Interessant ist diese Analyse v.a. deshalb, weil sie den Blick zurück auf das Ich lenkt. Die von Umathum beschriebenen ›Selbstverhandlungsräume‹ stehen in Kontrast zu der Betonung des ›Relationalen‹, sind aber überhaupt nur über den Kontakt mit anderen herstellbar. Wenn der Fokus wieder zurück auf die eigene Erfahrung in der Geselligkeit rückt, wird auch die Kritik unwirksam, die v.a. Claire Bishop an der unhinterfragten Qualität der Beziehungen, die in solchen Arbeiten hergestellt werden, geäußert hat. Was aber, wenn es gar nicht um die Beziehungen mit ›den anderen‹ geht? Wenn relationale Kunst zwar durch den Kontakt mit anderen hergestellt wird, es aber viel weniger darum als um die eigene Rolle dabei geht? Diese These würde auch einer vermeintlichen Auflösung des Publikums widersprechen. Die Trennung von initiierender Künstlerin bzw. initiierendem Künstler und Publikum

E INTOPF UND K ONSENS

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bliebe erhalten; die Zuschauer_innen wären – trotz aller gemeinsam erzeugten Geselligkeit – Beobachtende. Dass die ›Teilnehmer_innen‹ relationaler Kunstprojekte letztlich in ihrer Rolle als Publikum verhaftet bleiben, sieht auch Lars Blunck in seiner Analyse zur Formierung des Publikums in relationaler Kunst als gegeben an: »Das Publikum führt das Stück ›soziale Interaktion‹ und seine eigene Abschaffung bloß auf. Es vertreibt sich gewissermaßen selbst vom Hofe der Kunst, um sich dann durch die Hintertür der Selbst-Exponierung dieser Vertreibung wieder Einlass zu verschaffen – zumindest dann, wenn es aufmerksam für die eigene Situation und seine Handlungen ist.« (Blunck 2012: 26f.)

Der Künstler_innen werden so zu Gestalterinnen und Gestaltern eines Angebots, eines Settings oder (mit Oskar Bätschmann) zum »Erfahrungsgestalter« (Bätschmann 1997).

E RFAHRUNGSGESTALTER

VON

M ÖGLICHKEITSRÄUMEN

Abschließend erlaubt es mir jene Figur des Erfahrungsgestalters, diesen Text weniger pessimistisch zu beenden, als es die vorangegangene geballte kritische Darstellung einer Jahrzehnte währenden Debatte vielleicht hat vermuten lassen. Der Vorwurf, partizipatorische Projekte zielten auf die regulierende Funktion einer Gemeinschaftsutopie – mit all den dazugehörigen negativen Konnotationen – mag in Bezug auf einige Projekte zutreffen: immer dort, wo eine Strategie des Appeasements, der Beruhigung und der instrumentalisierenden Konsensproduktion verfolgt wird. Wenn partizipative Projekte eine Beteiligung nur vorgeben, wenn es nur um das Ruhigstellen der Kritik geht, nicht um tatsächliche Möglichkeiten der Mitgestaltung, dann werden aus den hier involvierten Künstler_innen jene Erfüllungsgehilf_innen, die mit Erfahrungsgestalter_innen nichts mehr gemein haben, bestenfalls vielleicht noch im Hinblick auf die doch recht negative Erfahrung, nicht wirklich ernst genommen worden zu sein. Die Offerte eines Angebots mit der entsprechenden Konsequenz der Schaffung von Erfahrungs- und Möglichkeitsräumen weist m.E. noch einmal in eine andere Richtung als die zitierte Kritik, die inzwischen als kanonisiert gelten kann. Kunst, die es gestattet, einen Entwurf einer vielleicht (noch) unmöglichen Gesellschaft zu entwerfen, ermöglicht über das Angebot der Beteiligung hinaus, das eigene Ich in Beziehung zu dieser Idee zu setzen. Interessant wird diese Lesart im Hinblick auf das Ziel dieser Erfahrung. Bleibt ein solches Erlebnis am Ort des Geschehens als ein Event in der Gesellschaft des Spektakels oder gelingt es,

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einen Blickwechsel zu vollziehen, der über den kurzen Moment des Erlebnisses hinausgeht? Die Zuschauer_innen müssen hierbei als souverän begriffen werden und nicht als Marionetten, die einer schon vorher festgelegten Lesart zu folgen haben. Im Zentrum bleibt dabei die Frage, um wen es eigentlich geht. Dabei sind das Kunstwerk und die Zuschauerin bzw. der Zuschauer als zwei getrennte, eigenständige Positionen zu betrachten. In Bezug auf das sogenannte Potenzial künstlerischer Arbeit für die aktivierende Stadtentwicklung dominiert für mich daher auch nicht der Pessimismus. Ich zitiere hierzu zusammenfassend Jesko Fezer und Mathias Heyden: »Partizipation stellt die Frage der Macht. Sie problematisiert, inwieweit und zu welchem Zweck Beteiligung erwünscht, eingefordert, erkämpft, zugelassen, gefördert oder praktiziert wird. Damit ist Partizipation eben nicht private Selbstregulierung, keine gefühlte Teilhabe oder Konsensproduktion, sondern eine Bedingung des Sozialen und des Politischen.« (Fezer/Heyden 2007: 95, Herv. i.O.)

Die Auseinandersetzung mit der berechtigten Kritik und der Gefahr der Instrumentalisierung zeigt immer auch die Relevanz künstlerischer Projekte, sonst wäre die Aufregung nicht so groß. Das große Potenzial künstlerischer Arbeit für die Aktivierung einer Stadtgesellschaft liegt denke ich in dem beschriebenen Aufzeigen und Behaupten von Möglichkeitsräumen. »Art is the space from which one behaves as if the conditions for things to happen are in place and everybody had agreed on what we are proposing. It is about making believe, while we know that we don’t have much more than the belief itself«. (Vasquez 2012: 29f.)

L ITERATUR -

UND

Q UELLENVERZEICHNIS

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E INTOPF UND K ONSENS

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Urbane Öffentlichkeiten zwischen Kunst und Nichtkunst Kollektive Dynamiken im Lauf der Zeit – am Beispiel des Gängeviertels

G ESA Z IEMER

Im August 2009 besetzte eine Gruppe von Aktivist_innen das Hamburger Gängeviertel, ein historisches Gebäudeensemble in der Innenstadt.1 Ziel der Besetzung war der Erhalt der Gebäude und der Wunsch, das Areal dauerhaft vor Immobilienspekulation zu schützen. Es sollte ein vielfältiger und bereichernder Ort für das öffentliche Leben in Hamburg geschaffen werden, der von aktiven Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt mitgestaltet werden sollte. Solche Rückeroberungen von Arealen durch Besetzungen haben in europäischen Städten seit den 1970er-Jahren vielfach stattgefunden. Oft haben diese Prozesse darin gemündet, dass diese Areale zur kulturellen Nutzung freigegeben worden sind, woraufhin sogenannte freie oder experimentelle Kunstorte entstanden sind, die nicht nur für den Kunstbetrieb, sondern auch als Katalysator für urbanes Leben einen wichtige Größe darstellen.2 Die Geschehnisse rund um das Gängeviertel in Hamburg reihen sich in diese Entwicklung ein und sie sind aus zwei Gründen für das Thema des Graduierten-

1

Für eine Darstellung sowohl des Areals als auch des Engagements vor Ort siehe die

2

Beispielhaft wären hier das ehemalige Fabrikgelände – Kampnagel – in Hamburg, die

Website des Projekts: http://das-gaengeviertel.info (letzter Zugriff am 06.02.2014). ehemalige Kaserne – Theaterhaus Gessnerallee – und die alte Seidenweberei – Rote Fabrik – in Zürich zu nennen. Diese Orte wurden nicht nur zu erfolgreichen Kunstproduktionsstätten umgebaut, sondern nehmen auch bezüglich kreativer Milieus eine wichtige Rolle in der Stadtentwicklung ein.

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kollegs besonders interessant: Erstens gingen die ideenreichen Aktionen von recht heterogenen Akteur_innen aus und waren in ihren Formaten Kunst, Protest und Bürger_inneninitiative gleichermaßen. Es kamen also unterschiedliche Kompetenzen im Erzeugen von urbanen Öffentlichkeiten zusammen. Und zweitens erzeugten die Besetzerinnen und Besetzer durch ihr Engagement tatsächlich so große Aufmerksamkeit und damit politischen Druck, dass die Stadt Hamburg das begehrte Innenstadtgrundstück vom Investor zurückkaufte. Dieser ungewöhnliche Rückkauf machte v.a. deshalb überregional Schlagzeilen, weil sich Hamburg aufgrund der steigenden Immobilienpreise in den vorhergehenden Dekaden nicht gerade als Eldorado für Kunstschaffende positioniert hatte, die auf günstige Ateliers zum Arbeiten angewiesen sind. Im Anschluss an diesen Rückkauf erkämpfte das Besetzer_innenkollektiv, dass es der Hamburger Behörde für Umwelt und Entwicklung ein Zukunftskonzept für die Mischnutzung des Geländes sowie seine baulichen Vorstellungen vorlegen konnte. Bis heute ist ein aktives Kollektiv vor Ort und entwickelt mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Architektur und Stadtplanung ein konkretes Konzept, das durchaus Realisierungschancen hat. Im Zentrum meiner Perspektive auf das Forschungsthema ›Versammlung und Teilhabe‹ stehen die Kollektivierungspraktiken am Beispiel des Gängeviertels, welche die Beteiligten von Beginn bis heute durchlaufen haben. Denn aus einer kleinen, verschworenen Gemeinschaft, einem aktiven Nukleus, der die Idee der Rückeroberung dieses Areals verfolgte, wurde im Verlauf der letzten vier Jahre ein größeres, sich immer wieder wandelndes Kollektiv, das bis heute die Planung des Areals gegen alle Widrigkeiten vorantreibt. Es lassen sich am Beispiel des Gängeviertels also exemplarisch verschiedene Zustände und Qualitäten von Zusammenarbeit untersuchen, die hier im Fokus stehen sollen.3 Begrifflich möchte ich diesen Prozess verschiedener Kollektivierungsdynamiken als eine Entwicklung von der Kompliz_innenschaft, die per definitionem eher auf einem Kleingruppenmodel basiert, hin zum Format einer größeren Versammlung, wie sie heute dort mit einer Gruppe von ca. 200 Aktiven besteht, in den Blick nehmen. Ziel dieser Analyse ist die Untersuchung und Darstellung der unterschiedlichen Beziehungsformen und -intensitäten, welche die Entwicklung der kollektiven Dynamik im Laufe der Zeit beschreiben. Die beiden genannten Besonderheiten stehen dabei im Fokus: das Zusammentreffen unterschiedlicher Exper-

3

Diese Entwicklung wird anhand von eigenen Beobachtungen und zwei qualitativen Interviews mit Aktivistinnen der ersten Stunde, Hannah Kowalski und Christine Ebeling, die auch heute noch beide Teil größerer Gängeviertelversammlungen sind, analysiert. Siehe darüber hinaus auch den Beitrag von Hannah Kowalski in diesem Band.

U RBANE Ö FFENTLICHKEITEN ZWISCHEN K UNST UND N ICHTKUNST

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tisen aus den Bereichen Kunst und Nichtkunst und der Übergang von einer kleinen Besetzer_innengruppe, die nicht zerfallen ist, hin zu einem größeren Kollektiv, das heute in reale politische und stadtplanerische Prozesse involviert ist und diese kontinuierlich verhandelt.

T EILNAHME 4 IN

URBANEN

K ONTEXTEN

Bevor die spezifischen Kollektivierungsprozesse genauer betrachtet werden, einige allgemeine Bemerkungen zu Praktiken im urbanen Raum. Das Beispiel des Gängeviertels sollte auch in diesem Kontext und dem dazugehörigen aktuellen kulturwissenschaftlichen Stadtdiskurs verstanden werden: Aktuell stoßen wir auf eine Reihe von informellen Praktiken zur Herstellung verschiedener Öffentlichkeiten im urbanen Raum. Deren Initiator_innen finden sich nicht im Rahmen offizieller Stadtpolitik vertreten und organisieren sich deshalb eigeninitiativ in Kollektiven abseits vorgegebener Formate. Öffentlichkeit fungiert hier als Vehikel »für die Mobilisierung öffentlicher Meinung als einer politischen Kraft […]. Sie sollte die Bürgerinnen und Bürger gegenüber privaten Mächten ermächtigen und es ihnen ermöglichen, Einfluss auf den Staat auszuüben.« (Fraser 2005: 1) Gerade in Städten entwickeln die Bewohner_innen zunehmend Formen der aktiven Einmischung, welche das gängige Top-down-Verständnis von Stadtentwicklung und -politik, Architektur und Wirtschaft konstruktiv infrage stellen. Es ist »eine neue Form von Praxis« entstanden, »die sich auf kollektives Produzieren, prozessgeleitetes Arbeiten und ein Agieren in transversalen Projektplattformen stützt«. (Mörtenböck/Mooshammer 2010: 8) Solche »disziplinlose Praxis« (ebd.) zielt auf die Rückgewinnung und Inanspruchnahme des öffentlichen Raums und ermöglicht neue Zirkulationen von Wissen und Praktiken. Verhandelt wird somit auch ein Demokratieverständnis, das jenseits der offiziellen Bühnen der Politik zu finden ist. Es geht um die Frage, wer wie an welchen Prozessen teilnehmen und sich äußern darf. Die Vehemenz des Wunschs nach Teilnahme kann als Seismograf eines – schon historisch immer wieder spannungsgeladenen – Verhältnisses zwischen Regierung und Zivilgesellschaft verstanden werden: »Es geht also heute – wieder einmal – um die Wiederentdeckung des Bürgers, um Stadtbewusstsein und

4

›Partizipation‹ wird hier im Sinne der (aktiven) Teilnahme und weniger der (passiven) Teilhabe verstanden. Diese Definition geht auf Wolfgang Fach zurück, der sich auf Samuel Johnsons bezieht: »Passiv verstanden meint Partizipation Teilhaben (›mein‹ Tortenstück); in seiner aktiven Bedeutung steht es für Teil-nehmen (›meine‹ Wählerstimme).« (Fach 2004: 197)

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eigenbestimmte Stadtmacht.« (Böhme 2006: 16) Dabei ist zu beobachten, dass klassische Formate der Beteiligung, wie sie im Rahmen von Stadtentwicklungsprozessen in den letzten Jahrzehnten praktiziert wurden, oft keinen Anreiz mehr für echte Beteiligung bieten. In solchen Kontexten macht man die Erfahrung, dass oft nur wenige Menschen die Beteiligungsangebote bspw. in Quartiersbeiräten, Workshops, Forumsveranstaltungen oder Arbeitsformaten wie Zukunftskonferenzen und World Cafés annehmen. Man ist mit dem Dilemma der Partizipation konfrontiert, dass gerade diejenigen, die man für zukünftige Veränderungen gerne involvieren möchte – wie bspw. Jugendliche, Migrant_innen oder junge Familien –, aufgrund ihrer nicht selten angespannten Lebenslage keine Kapazitäten haben, die lokale Sprache ungenügend sprechen oder nicht aus demokratischen Kulturen kommen, in denen so etwas wie Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung von klein auf eingeübt worden ist. Diejenigen wiederum, die teilnehmen, sind häufig nicht repräsentativ und leisten oft keine konstruktiven Beiträge. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Fach pointiert die Problematik: »Ein ums andere Mal kommt es zu Situationen, in denen Menschen partizipieren wollen, obwohl sie nicht sollen – und sollen, obwohl sie nicht wollen.« (Fach 2004: 198, Herv. i.O.) So wird Teilnahme oft zur Alibiübung, weil bereits feststeht, wer am Ende entscheidet. Im Verwaltungsdeutsch einer Behördenvertreterin klang das jüngst so: »Beteiligungs- und Entscheidungsprozesse sind in der städtischen Verwaltung zwei voneinander getrennt verlaufende Arbeitsprozesse, die primär nichts miteinander zu tun haben.«5 Wofür dann Angebote der Teilnahme? Man könnte angesichts dieser Aussage sogar meinen, dass solche Formate bewusst angeboten werden, um Beteiligung zwar zu suggerieren, aber real zu verhindern. Diese Aussage ist nur eine von vielen, die belegen, dass ein romantisierendes Partizipationsverständnis nicht zielführend ist. Viel eher geht es darum, Partizipation als konfliktorientiertes Handlungsfeld zu verstehen, als »individuelle Zugangsstrategie, als post-konsensuelles Mittel: das Recht, sich selbst, dem ›Ungeladenen Außenseiter‹, Zutritt zu bestehenden Machtverhältnissen zu verschaffen – so lange sie selber wissen, dass sie ein qualifiziertes Interesse an der Teilnahme haben«. (Miessen 2012: 10, Herv. i.O.) Die Notwendigkeit, sich zu engagieren, ist zudem v.a. deshalb vorhanden, weil Städte heute stark unternehmerisch und an einigen Stellen zu wenig kulturell oder sozial gedacht werden, weshalb das Prinzip der kapitalistischen Ökonomie

5

Das Gespräch mit der Behördenvertreterin in Hamburg fand im Rahmen des Projekts Paradox Partizipation im Studienbereich Kultur der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg 2012 unter meiner Leitung statt.

U RBANE Ö FFENTLICHKEITEN ZWISCHEN K UNST UND N ICHTKUNST

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zu einer Leitdisziplin und damit auch Grundlage von Regierungsprinzipien geworden ist. David Harvey formuliert es so: »Die traditionelle Stadt ist von der zügellosen kapitalistischen Entwicklung zerstört worden, sie ist dem endlosen Bedürfnis, überakkumuliertes Kapital zu investieren, zum Opfer gefallen, so dass wir uns auf ein endloses wucherndes urbanes Wachstum zubewegen, das keine Rücksicht auf die sozialen, ökologischen oder politischen Konsequenzen nimmt.« (Harvey 2013: 19f.)

Die Verstädterung nimmt eben unter diesen Bedingungen zu und damit auch die Verdichtung des urbanen Raums, wodurch sich Fragen im Hinblick auf die Lebensqualität zuspitzen. Als Reaktion auf die beiden Entwicklungen – unbefriedigende Partizipation und Wachstumslogik – folgt, dass wir es aktuell mit einem vermehrten Aufkommen selbst autorisierter Praktiken zu tun haben, die sich kollektiv äußern und deren Akteur_innen so ihr Unbehagen formulieren. Aus diesen Entwicklungen folgt, dass sich Engagement mehr und mehr jenseits der traditionell angebotenen Formate zeigt und damit auch neue Formen von Kollektivierungspraktiken einsetzen. Engagierte versammeln sich in unkonventionellen und situativ gestalteten Formaten, um bspw. Zwischen- oder Umnutzungen von Arealen, den Erhalt von Freiflächen oder Mietpreisbindungen zu erkämpfen, urbane Gärten und Nachbarschaftsnetzwerke zu gründen oder kulturelle Initiativen zu stärken. Vor diesem Hintergrund ist auch die neue Rolle von künstlerischen Praktiken zu betrachten. Denn in die Entwicklung anderer Öffentlichkeiten auf gesellschaftlicher und städtischer Ebene mischen sich Künstlerinnen und Künstler mehr und mehr ein. (Vgl. Beyes/Krempl/Deuflhard 2009) Zunehmend verstehen sie sich nicht mehr nur als Kunstschaffende im engen Sinne, sondern als Initiator_innen von sozialen Prozessen, in forschender, felderzeugender oder situationsherstellender Funktion, die an den Schnittstellen zum Urbanen, zur Bildung, Wissenschaft oder zum Sozialen arbeiten. (Vgl. Lenz 2011 und den Beitrag von Hilke Berger in diesem Band) »Kunst für alle?«, so lautet die Frage, welche v.a. auf Kunst im öffentlichen Raum abzielt und neben dem Aspekt der Demokratisierung von Kunst auch ihren Wert für die Stadtgesellschaft auslotet. (Vgl. Lewitzky 2005) Künstlerische Praktiken eignen sich derzeit besonders, um komplexe urbane Transformationen erfahrbar zu machen. »Die zunehmend partizipatorisch und interventionistisch ausgerichtete Kunstpraxis eröffnet Kommunikationsräume und Betätigungsfelder und nährt so die Hoffnung, auch außerkünstlerisch brauchbar zu sein, also kompetenzfördernde, gemeinschaftsbildende und identitätsstiftende Wirkung zu haben.« (Seitz 2009: 182) Entsprechend dieser Auffassung soll Kunst hier nicht als abgeschlossenes

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System rezipiert, sondern für verschiedene Anlässe der Zusammenarbeit genutzt werden.

K OMPLIZ _ INNENSCHAFT Im Fall des Gängeviertels gingen die ersten Initiativen von einer kleinen konspirativen Gruppe aus, die – so meine These – komplizitär organisiert war. Die Aktivitäten vereinten sich in der sogenannten Zelle, die von drei bis vier Mitgliedern gegründet wurde. Der Name war eher als Raum- und Zeitangabe zu verstehen, denn man traf sich jeden Dienstagabend unter der Puppenstube, einem Ladengeschäft am Valentinskamp. Die ›Zelle‹ wuchs beständig bis sie aus ca. 30 bis 40 Mitgliedern bestand. »Diese hatten sich schon einige Jahre mit Kulturund Stadtpolitik und Fragen zu Gentrifizierung in Bezug auf Leerstand und Zwischennutzung beschäftigt und genügend Erfahrungen im Organisieren inoffizieller Veranstaltungen« – so Christine Ebeling, Künstlerin und Mitglied des Gängeviertelkollektivs. »Wir wollten ein Zeichen setzen, dass es so nicht weitergehen kann!«6 Das Gängeviertel bot sich an, weil es dort bereits temporäre Ateliernutzungen in der Puppenstube und an anderen Orten gab. Wie können solche Kollektivierungspraktiken also analysiert werden? Der Begriff Komplizenschaft rückt in den Fokus und stellt sich die Frage, wie dieser nun definiert wird. Kompliz_innenschaft heißt Mittäter_innenschaft und definiert sich aus dem Strafrecht heraus als Dreischritt von Entschlussfassung, Planung und Durchführung einer Tat. (Vgl. Donatsch/Rehberg 2001: 140) Der Begriff bezieht sich auf illegales Verhalten und wird fast ausschließlich mit dieser negativen Konnotation verwendet. In diesem Sinne sind Kompliz_innen – meist männliche – Wirtschaftskriminelle, Betrüger_innen, Bankräuber_innen oder andere, die Taten ohne Absender_in vollziehen. Da viele Staaten Angst vor kriminellen Kollektiven haben, weil diese unkontrollierbar destruktive Kräfte entwickeln und freisetzen können, stehen auf kriminelle Kompliz_innenschaft hohe Strafen. Abstrahiert man allerdings von dieser Konnotation und sieht von moralisch nicht vertretbaren Zielen wie Mord, Betrug, Raub etc. ab, dann öffnet sich eine neue Perspektive auf Kollektivität. Betrachtet man Kompliz_innenschaft nicht in destruktiven, sondern in konstruktiv-kreativen Arbeitsfeldern, lässt sich fragen, ob dieser Begriff sich dafür eignet, temporäre, zielgerichtete und selbstbestimmte Arbeitsweisen von sehr heterogenen Gruppen zu analysieren. Kompliz_innenschaft kann somit als eine spezifische Arbeitsform verstanden werden, die von einer destruktiven hin zu einer konstruktiven, lustvollen Arbeitsweise

6

Das Interview mit Christine Ebeling fand am 20. November 2013 in Hamburg statt.

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umgedeutet werden kann und die dazu führt, dass alternative Strukturen entwickelt werden, die Innovationen hervorbringen können.7 Wenn man mit diesem Begriff die Geschehnisse rund um das Gängeviertel analysiert, erhellt sich der Beginn von dessen Geschichte, der von so einer kompliz_innenhaften Dynamik getragen war. Die erste große Veranstaltung, das Hoffest unter dem Titel Komm in die Gänge, zu dem ca. 2.000 Besucherinnen und Besucher kamen, wurde nämlich geheim organisiert und gerade deshalb ein Überraschungserfolg, weil auf diesem Wege eine enorme, auch überregionale Öffentlichkeit hergestellt wurde. Im Falle des Gängeviertels ist dem Kollektiv nach dieser ersten komplizitären Phase mit anfänglicher affektiver Besetzungseuphorie, die allerdings ca. ein Jahr andauerte, der Übergang hin zu einer strategisch orientierten, nachhaltigen kollektiven Aktivität gelungen. Was geschah also nach dem emotionalen, kollektiven Höhepunkt der Besetzung?8 Was kommt, wenn die kollektive Energie nicht mehr daraus gezogen wird, dass man im überschwänglichen Affekt eine gemeinsame Utopie verfolgt, sondern Zukunft konkret und auch kühl neu gestaltet muss? Wenn es also nicht mehr ausreicht zu artikulieren, wogegen man ist, sondern alle wissen wollen, wofür man eigentlich ist? Warum gelang es, die Kompliz_innenschaft in eine verstetigte kollektive Praxis zu überführen? Hier ist es aufschlussreich, die Veränderung der Nahbeziehungen zu beobachten, die qualitativen Veränderungen unterliegen. Diese Entwicklung vom Rausch in die Rationalität, von der Hitze in die Kühle, von der Leidenschaft zum Kalkül ist auf der Beziehungsebene ein labiler und heikler Zustand, der als fragiler Übergang zu begreifen ist, in dem man sich zwar an das erinnert, was war, aber noch nicht genau weiß, was kommen wird. Wenn man allerdings die Wirksamkeit kollektiver Aktionen analysieren möchte, ist genau die Qualität dieses fragilen Übergangszustands zentral. Denn in diesem zeichnet sich ab, ob ein Kollektiv zerfällt oder zusammenbleibt, ob es sich transformiert und in der Lage ist, neue Impulse in sich aufzunehmen und sich zu entwickeln.

7

Eine ausführliche Analyse des Begriffs ›Komplizenschaft‹ liefert die gleichnamige

8

Siehe zu dieser Frage auch das Magazin Herbst. Theorie zur Praxis aus dem Jahr

Publikation. (Ziemer 2013) 2013.

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V ERSAMMLUNGEN Das Gängeviertelkollektiv ist nicht auseinandergefallen, obwohl es sich im Lauf der Zeit sehr verändert hat. Eine Aktivistin der ersten Stunde sagt im Gespräch: »Zwischen der Besetzung und dem Auftrag der Behörde für die Entwicklung des Zukunftskonzeptes lagen ca. zweieinhalb Jahre. Alles geschah im Zeitraffer, was für die Qualitäten der Beziehungen eine große Rolle gespielt hat. Am Anfang war der Ausnahmezustand, so als wären wir alle verknallt gewesen. Dann hat man auf unserer Party das Licht angeknipst und Neonröhren erleuchteten den Ort mit seinem Dreck und auch in seiner Hässlichkeit. Wir sind nun nicht mehr frisch verliebt, sondern inzwischen in Beziehungen, in denen rational diskutiert und verhandelt wird.«9

Was genau verändert sich in den Nahbeziehungen, wenn ›das Licht plötzlich angeknipst‹ wird? Hannah Kowalski nennt einige Merkmale: »Die Energie schwindet und die kollektive Kraft lässt nach. Dafür tritt eine angenehme Ruhe ein, die einen wieder nachdenken lässt und auch Ambivalenzen zulässt. Genau in dieser Phase findet eine Erneuerung der Gruppe statt. Einige gehen, Neue kommen, die dann wieder die rosa Brille aufsetzen und die Gruppe mit Energie versorgen. Unser Kollektiv wurde jünger. Vorher lag der Altersdurchschnitt bei ca. 35 Jahren, heute deutlich darunter. Als wir begannen, richtig planerisch zu arbeiten, prallten nicht nur Geld-, sondern auch Zeitökonomien aufeinander. Wir sind ein Feierabendbüro, das 24 Stunden geöffnet hat und in dem ohne Lohn gearbeitet wird. Es gab einen Moment, in dem wir feststellten, dass wir alle kollektiv vergessen hatten, einer Lohnarbeit nachzugehen. Für viele waren die unbezahlten Tätigkeiten im Gängeviertel aber inzwischen zum Hauptberuf geworden. Das Interessanteste war jedoch, dass wir anfangs den Behörden stark voraus waren, weil die kollektive Energie uns getragen und alles beschleunigt hat. Heute ist die Behörde uns voraus, weil sie mehr Zeit (und bezahlte Jobs) hat, um Themen vorzubereiten. Wir hinken oft hinterher und agieren nicht mehr, sondern reagieren eher.«10

Dieses Statement lenkt den Fokus auf einige zentrale Merkmale der Veränderung von Beziehungen, wenn der Anfangsrausch, dessen kollektive Form häufig auf Kompliz_innenschaft basiert, vorbei ist. Hervorzuheben ist die Aussage, dass Ruhe eintritt und Ambivalenzen zugelassen werden müssen. Die entscheidende Frage ist also, ob das Kollektiv in der Lage ist, diese Veränderung in sich aufzu-

9

Das Gespräch mit Hannah Kowalski fand im Mai 2013 in Hamburg statt.

10 Zitat aus dem Gespräch mit Hannah Kowalski.

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nehmen und in einen Zustand der Verhandlung, z.B. den der Versammlung, überzugehen. Verhandeln heißt abwägen, streiten, nachgeben, umstellen, aushalten und zuhören. Anders als in der Kompliz_innenschaft, in der sich alle rasch auf ein gemeinsames Ziel verständigen, geht es in der Versammlung darum, konträre Interessen miteinander abzugleichen, wofür das Kollektiv ein inszeniertes Forum mit entsprechenden Ritualen entwirft. Dieses kann die Versammlung sein, eine Ansammlung von Menschen also, in der die verschiedenen Ziele artikuliert werden. (Vgl. A-Z der transdisziplinären Forschung 2014: Versammeln) Versammlungen sind »Ansammlungen von Personen, die im Rahmen ihrer Zusammenkunft bestimmte Interessen vertreten und Orientierung für zukünftiges Handeln suchen. Die Menschen versammeln sich dabei jeweils ›als jemand‹ – als Elternteil, als Mitglied einer Gemeinde, als Mieter, als Mitarbeiterin. Sie teilen gesellschaftliche Rollen, Handlungskontexte und/oder Interessen.« (Peters 2013: 158) Versammlungen sind also als Foren des Zusammentreffens zu verstehen, in denen Verhandlungen überhaupt erst ermöglicht werden. Kompliz_innenschaft hingegen ist nicht primär Ort des Verhandelns, vielmehr basiert diese auf dem genannten Dreischritt und gilt deshalb als schnelle, zielorientierte und handlungsgeleitete Aktionsform, welche die Phasen von der Idee zur Umsetzung in hohem Tempo durchläuft, weshalb komplexe Verhandlungen hier eher störend wären. Wenn wir Kompliz_innenschaft dennoch als Initialmoment und damit als Basis größerer Versammlungen verstehen, ist die Öffentlichkeit, die von Kollektiven hergestellt wird, von Bedeutung: »Öffentlichkeit entsteht dann – und nur dann –, wenn eine Debatte unter den Herumstehenden ausbricht.« (Marchart 2007: 173) Diese Aussage impliziert, dass solche Prozesse nicht konfliktfrei sind, im Gegenteil: Sie zeichnen sich als politische Artikulationen genau durch die Verhandlung von Dissens aus, der den vielfältigen Strukturen unserer Gesellschaft meistens zugrunde liegt. So gesehen wäre Öffentlichkeit bereits in dem Moment entstanden, wenn sich eine kontroverse Debatte entfacht. Im Falle von Kompliz_innenschaft, die zu Versammlungen führt, handelt es sich aber nicht nur um Debatten oder Diskurse, sondern primär um Handlungen, die unter den Beteiligten ausbrechen. Im besten Fall zeigt sich diese Handlungsebene jedoch nicht konfrontativ, sondern in geschickter Verknüpfung heterogener Akteurinnen und Akteure unter Umgehung direkter Konfrontation. Eine Definition von Öffentlichkeit, die über die Betonung des Austragens von Uneinigkeiten läuft, kann wichtig sein, um sich die gemeinsamen Ziele zu vergegenwärtigen, sie ist aber nicht ausreichend. Beide Praktiken, die des Versammelns und die des Komplizitär-Agierens, betonen die Handlungsebene, weshalb der Dissens in eine Entscheidung münden muss. Im Falle der Versammlung heißt dies

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etwa: Eine Bürger_innenversammlung kann bspw. in eine Bürger_inneninitiative übergehen, eine politische Versammlung in eine Demonstration, parlamentarische Versammlungen können politisches Geschehen beeinflussen oder eine Elternversammlung kann konkrete Maßnahmen in der Schule der Kinder einleiten. Man versammelt sich zu einem bestimmten Zweck, wobei die Umsetzung der Idee in die Tat – ähnlich wie bei der Kompliz_innenschaft – eine zentrale Rolle spielt. Die kontroverse Debatte kann zwar Bestandteil sein, sie erschöpft sich jedoch nicht im Diskurs, sondern muss Entscheidungen ermöglichen und darf das Erreichen von (Teil-)Zielen nicht behindern. Kompliz_innenschaft kann also als Keimzelle für größere Formen von Versammlungen verstanden werden. Sie entwickelt sich aufgrund persönlicher Initiativen – meist als Reaktion auf eine konkrete lokale Bedrohung –, anfangs häufig im Verborgenen und mit unklaren Strukturen. Die Kompliz_innenschaft ist dabei oft der Anfang im Kleinen, und wird später von einer größeren Formation abgelöst, die unkontrollierbar sein kann und keinem klaren Plan mehr zu folgen scheint. Der primäre Grund dafür, dass sich die Gängeviertelgruppe der ›Zelle‹ so schnell vergrößerte, war, dass insgesamt zwölf Häuser zu ›bespielen‹ waren, wofür die Größe der ursprünglichen Gruppe nicht ausreichte. Deshalb wurden schnell alle Netzwerke aktiviert, wobei man sich nicht nur individuell mit anderen zusammentat, sondern v.a. auch mit bereits bestehenden anderen Kleinkollektiven. Auch aus diesem Grund vergrößerte sich die Gruppe rasant. »Es gab also viele Zellen, die sich wie ein Gehirn verschaltet haben.«11 Mit Rekurs auf Norbert Elias wird bezüglich der Dynamik des Sich-Versammelns konstatiert: »Processes, such as civilizing process, are not planned, intended, or foreseen by people, although they do presume intentions, plans and actions of people.« (Vree 1999: 320) Auch Versammlungen folgen, der Kompliz_innenschaft ähnlich, einem »secret of social figuration« (ebd.: 320), das besagt, dass im Kollektiv durch die Interaktion der Beteiligten mehr geschieht, als von den Einzelnen voraussehbar ist. Da im Fall des Gängeviertels schnell klar war, dass die vielen kleinen Kompliz_innenschaften auf dem Areal bleiben konnten, mussten die Interaktionen allerdings ebenso schnell in funktionierende Strukturen überführt werden. Es gäbe sicher noch eine Reihe anderer Resultate des Vergleichs zwischen Kompliz_innenschaft und Versammlung. Wir belassen es an dieser Stelle aber bei dem Zwischenfazit, dass die Transformationsfähigkeit eines Kollektivs entscheidend ist für dessen weiteres Bestehen. Kann ein Kollektiv im Nachklang des Rauschs, der meistens als sehr ernüchternd empfunden wird, mehrdeutige,

11 Zitat aus dem Gespräch mit Christine Ebeling.

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vielschichtige und komplexe Ambivalenzen nicht nur aushalten, sondern auch stetig weiter erzeugen? Gelingt dieses – so meine These –, können Kompliz_innenschaften sich zu Versammlungen entwickeln, in denen wiederum Verhandlungen in konstruktive Aushandlungen übergehen können. Da das Gängeviertelkollektiv aus sehr unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren bestand, wurden v.a. anfangs heftige Kontroversen ausgefochten, die heute jedoch einem relativ offenen Gesprächsklima gewichen sind. »Es sind auch Freundschaften entstanden, von denen wir niemals gedacht hätten, dass sie möglich wären.«12 Als besondere Herausforderung erscheint der Aspekt der Transformationsfähigkeit v.a. rückblickend, wenn man nochmals die anfänglichen zwei Besonderheiten des Gängeviertels betrachtet: Die Erzeugung einer großen Öffentlichkeit und die Aktivität der heterogenen Akteur_innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen von Kunst und Nichtkunst.

K UNST

UND

N ICHTKUNST

Die Definition des künstlerischen Berufsfelds hat sich in den letzten Dekaden stark verändert. Kunsthistorisch wird nachgewiesen, dass Künstlerinnen und Künstler sich immer weniger als individuelle Genies verstehen, sondern zunehmend kollektiven Austausch und entsprechende Produktionsweisen bevorzugen. Hergestellt werden weniger fertige Werke, die als Œuvre hinterlassen werden wollen. Stattdessen steht prozessorientiertes Arbeiten im Vordergrund, in dem nicht fertige, sondern sich in Entwicklung befindende Arbeiten eher diskutiert als gezeigt werden. Diese u.a. Veränderungen haben zu einer Neudefinition des Berufs der Künstlerin bzw. des Künstlers geführt. Ein Berufsmerkmal ist hiernach, dass Schnittstellentätigkeiten zunehmen, die sich nicht nur interdisziplinär innerhalb der Kunstszene entwickeln, sondern gehäuft auch in Kooperation mit nicht künstlerischen Bereichen: »Zu unterscheiden sind nicht mehr nur Kunstund Alltagsobjekte, sondern vielmehr künstlerische und nicht-künstlerische Prozesse.« (Gludovatz et al. 2010: 7, Herv. i.O.) In diesem Sinne arbeiten Künstler_innen bspw. mit Schulen zusammen, sie erforschen soziale Prozesse mit künstlerischen Verfahren, sie interagieren im Stadtgeschehen, indem sie Labore oder Medienstationen in vernachlässigten Stadtteilen eröffnen, oder betätigen sich als Kurator_innen.13 Diese Experimente werden zunehmend auch von der

12 Zitat aus dem Gespräch mit Hannah Kowalski. 13 Einen guten Einblick in solche Kunstformen bietet der Band Kunst einer anderen Stadt, in dem die Herausgeberinnen Ute Vorkoeper und Andrea Knobloch Ausstellungen von 2008 bis 2011 dokumentieren, die als Parcours durch die Stadt Hamburg

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Stadtentwicklung wahrgenommen und es scheint, als würde die Sehnsucht der Kunst nach gesellschaftlicher Relevanz und die Sehnsucht der Stadtentwicklung nach neuen Formaten der Mitwirkung hier zusammentreffen. Die soziale Praxis der Kompliz_innenschaft ist mit Blick auf diese Entwicklung interessant, weil sie es ermöglicht, ungewöhnliche Verbindungen zwischen verschiedenen Akteur_innen herzustellen und so überraschende Öffentlichkeiten zu erzeugen. In besonderem Maße zukunftsweisend wirkt es, wenn Akteurinnen und Akteure der Kunst Kompliz_innenschaften mit solchen aus nicht künstlerischen Bereichen eingehen, was beim Gängeviertel besonders ausgeprägt war: Fachleute aus dem Handwerk, aus Architektur und Stadtplanung, Studierende, Köch_innen und Therapeut_innen sind genauso Teil der Gruppe wie Künstlerinnen und Künstler mit starkem politischen Engagement und solche, die ihre Arbeit explizit nicht als politisch verstehen. Bei der Entwicklung der vorgestellten Formate stellt die Kunst eine performative und oft auch mediale Expertise bereit, die gerade deshalb sehr wirkungsvoll sein kann, weil sie ungewöhnliche und vielfältige Versammlungsformen inszenieren kann. Schwarzmärkte des Wissens (Hannah Hurtzig), geheimagentur und random people (Aktionen//Attraktionen), Park Fiction (Künstler_innen mit dem Hafenrandverein e.V.), Kongreß der Schwarzfahrer (Rimini Protokoll), translokale Stadtforschungsnetzwerke (School of Missing Studies) oder Schlafplätze für drogenabhängige Frauen (Wochenklausur) sind nur einige solcher Beispiele. In der Kunst »kann man sich probeweise an Öffentlichkeiten wenden, die es vielleicht noch gar nicht gibt – an Counterpublics. Statt sich an die eine alte, immer schon gegebene ›Öffentlichkeit‹ zu wenden, folgt die szenische Kunst der Versammlung dem Versprechen, durch neue Arten der Ansprache neue Öffentlichkeiten auf Probe ins Leben rufen zu können.« (Peters 2012: 133) Diese neuen Arten der Ansprache entstehen oft nur durch Kompliz_innenschaft, denn das Modell bietet die Möglichkeit, so wenig disziplinär und so stark milieuübergreifend wie nur möglich zu handeln. Trotz ihrer zeitlichen Begrenztheit entwickeln solche Projekte doch häufig nachhaltige Wirkungen auf soziale Zusammenhänge. (Vgl. Jackson 2011; Thompson 2012) Kommen wir erneut auf das Zwischenfazit zurück: Aus kleinen Kompliz_innenschaften werden größere Versammlungen, wenn sie in der Lage sind, Ambivalenzen auszuhalten, diese zu verhandeln und schließlich auch konsensuell in Handlungen münden zu lassen. Das Beispiel des Gängeviertels hat gezeigt, dass extrem heterogene Kompliz_innenschaften zu ebenso heterogen besetzten

konzipiert waren und in denen viele Kompliz_innenschaften zwischen Kunst und Nichtkunst eingegangen wurden. (Vgl. Vorkoeper/Knobloch 2012)

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Versammlungen führen. Gerade die Zusammenarbeit zwischen Kunst und Nichtkunst war in diesem Kontext von großer Bedeutung, weil hierüber überraschende Öffentlichkeiten hergestellt werden konnten. Intern hat das Kollektiv Formen gefunden, diese Versammlungen so zu strukturieren, dass die Verhandlungen zwischen den unterschiedlichen Akteur_innen stattfinden können. Offiziell wurde 2009 ein Verein gegründet und 2010 eine Genossenschaft. Am Besetzungswochenende und in den ersten Tagen haben sich aus der ›Zelle‹ sogenannte Familientreffen entwickelt, in denen die Hauptverantwortlichen zusammenkamen. Zudem gab es für jedes Gebäude Hauspat_innen, welche während der Anfangszeit für alle Fragen der Sicherheit, Technik und Ausstellungsplanung zuständig waren. Der Hauspat_innenrat hat sich erhalten und das wöchentliche Plenum wurde eingeführt. Auch wurde eine Reihe von Arbeitsgruppen gegründet: für die Themen Bau, Kultur, Garten, Nutzung, Küche, Medien und Kommunikation etc. Durch den Einsatz dieser verschiedenen Arbeitsgruppen wurden folglich die unterschiedlichsten Öffentlichkeiten hergestellt. Man fragt sich also, wie hier mit dem Begriff der Öffentlichkeit umgegangen wurde. Interessant ist, dass es nicht beabsichtigt war – wie es in solchen Kontexten häufig der Fall ist – Gegenöffentlichkeiten herzustellen, denn im Fall des Gängeviertels ging es gerade nicht darum, ein Gegen zu inszenieren. Viel eher entstand eine hybride Öffentlichkeit und das Kollektiv musste trotz der Beteiligung unterschiedlichster Akteure Konsens erzeugen, da Handlungen folgen sollten. »Einige Arbeitsgruppen des Gängeviertels sowie der Verein mit seinem Vorstand haben starke Schnittstellen mit den Behörden und dem Bezirk, auch zur Politik und Kulturbehörde«, so Christine Ebeling.14 Wenn soziale Praktiken und Begriffe des Versammelns und komplizitären Agierens verwendet werden, muss das ›Gegen‹ insofern relativiert werden, als Komplizinnen und Komplizen eben Mittäter_innen sind, die das ›Mit‹ gegenüber dem ›Gegen‹ stark machen. Diese Dynamik findet sich wiederum in Strukturen aktueller Versammlungen, für welche das Gängeviertel ein Beispiel von vielen ist, wieder. Wenn Versammlungen nachhaltig sein wollen, müssen Entscheidungen gefällt und Handlungen vollzogen werden. Es handelt sich um die Erzeugung eines aktiven Konsenses, aus dem im Gegensatz zu einem passiven Konsens nicht Stillstand folgt, sondern die Möglichkeit eröffnet wird, auf die anspruchsvollen und wirkungsvollen Ebenen der Entscheidungsfindung und Handlung vorzustoßen. Erst dadurch kann die Wirksamkeit eines Konsenses geprüft werden.

14 Zitat aus dem Gespräch mit Christine Ebeling.

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L ITERATUR -

UND

QUELLENVERZEICHNIS

A-Z der transdisziplinären Forschung/Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe (2014): Versammeln, online auf: http://www.versammlung-undteilhabe.de/az/ index.php?title=Versammeln (letzter Zugriff am 01.02.2014). Beyes, Timon/Krempl, Sophie-Thérèse/Deuflhard, Amelie (Hg.) (2009): ParCITYpate: Artistic Interventions and Urban Space, Sulgen. Böhme, Helmut (2006): Die Stadt und ihre Bürger. Versuch zur Klärung eines schwierigen Verhältnisses aus historischer Sicht, in: Ulrich Hatzfeld/Franz Pesch (Hg.), Stadt und Bürger, Darmstadt, S. 16-24. Donatsch, Andreas/Rehberg, Jörg (2001): Strafrecht I. Verbrechenslehre, Zürich. Fach, Wolfgang (2004): Partizipation, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krassmann/ Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M., S. 197-203. Fraser, Nancy (2005): Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit, online auf: http://www.republicart.net/disc/publicum/fraser01_de.htm (letzter Zugriff am 13.11.2013). Gludovatz, Karin/Hantelmann, Dorothea von/Lüthy, Michael/Schieder, Bernhard (Hg.) (2010): Kunsthandeln, Zürich. Harvey, David (2013): Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution, Berlin. Jackson, Shannon (2011): Social Works. Performing Art, Supporting Publics, London. Lenz, Seraphina (2011): Werkstatt für Veränderung, Bonn. Lewitzky, Uwe (2005): Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität, Bielefeld. Marchart, Oliver (2007): Die kuratorische Funktion – Oder, was heißt eine Aus/Stellung zu organisieren?, in: Marianne Eigenheer/Dorothee Richter/ Barnaby Drabble (Hg.), Curating Critique, Frankfurt a.M., S. 172-179. Miessen, Marcus (2012): Albtraum Partizipation, Berlin. Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hg.) (2010): Netzwerk Kultur. Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt, Bielefeld. Peters, Sibylle (2012): Unwahrscheinliche Ansprachen. Wenn sich das Theater an Öffentlichkeiten wendet, die es noch nicht gibt, in: Kirsten Hehmeyer/ Matthias Pees (Hg.), Import Export. Arbeitsbuch zum HAU Berlin, Berlin, S. 130-135. Peters, Sibylle (2013): THE ART OF BEING MANY. Zur Entwicklung einer Kunst der Versammlung im Theater der Gegenwart, in: Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld, 155-172.

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Seitz, Hanne (2009): Temporäre Komplizenschaften. Künstlerische Intervention im sozialen Raum, in: Helga Peskoller/Bernd Rathmayr/Maria A. Wolf (Hg.), Konglomerationen. Produktion von Sicherheiten im Alltag. Theorien und Forschungsskizzen, Bielefeld, S. 181-198. Vorkoeper, Ute/Knobloch, Andrea (Hg.) (2012): Kunst einer anderen Stadt: Akademie einer anderen Stadt. Kunstplattform der IBA Hamburg von 2009 bis 2011, Hamburg. Vree, Wilbert van (1999): Meeting, Manners and Civilization: The Development of Modern Meeting Behaviour, London. Ziemer, Gesa (2013): Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, Bielefeld.

Autorinnen und Autoren

Hilke Berger hat Theaterwissenschaft sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft studiert und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Kultur der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg zuständig für die künstlerischen Forschungsprojekte. Elise v. Bernstorff (Berlin/Hamburg) hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert. Seit 2009 arbeitet sie freiberuflich als Dramaturgin, Wissenschaftlerin und Lektorin und entwickelt eigene künstlerische Projekte, u.a. in Zusammenarbeit mit Kindern. Regula Valérie Burri ist Professorin für Wissenschafts- und Technikkulturen an der HafenCity Universität Hamburg. Kerstin Evert ist Tanzwissenschaftlerin und leitet das Choreographische Zentrum K3 | Tanzplan Hamburg. Dorothea Grießbach ist Dokumentarfilmerin und Journalistin, mit Arbeitsschwerpunkten in Performance und Video, Stadtforschung und Migration, transkulturellen und interreligiösen Thematiken. Hannah Kowalski ist Politikwissenschaftlerin und Performerin und arbeitet u.a. am Forschungstheater/FUNDUS THEATER Hamburg. Sylvi Kretzschmar hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert und arbeitet an den Grenzen zwischen Performance, (elektronischer) Musik und politischem Aktivismus. Sie ist Teil des Duos SKILLS und des Kollektivs SCHWABINGGRAD BALLETT.

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Stefanie Lorey hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert. Seit 2002 arbeitet sie mit Bjoern Auftrag unter dem Label Auftrag : Lorey an künstlerischen Projekten, die sich an der Grenze zwischen Performance, Theater und installativer Kunst bewegen. Sebastian Matthias ist Tänzer, Tanzwissenschaftler und Choreograf in Berlin und Hamburg. Martin Nachbar ist Choreograf. Er unterrichtet europaweit und schreibt regelmäßig über seine Arbeit. Sibylle Peters ist Kulturwissenschaftlerin und Theatermacherin. Sie leitet das Forschungstheaterprogramm im FUNDUS THEATER Hamburg. Esther Pilkington ist Performancemacherin und -forscherin und arbeitet als PostDoc am künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Eva Plischke ist Kulturwissenschaftlerin und Performerin und arbeitet u.a. mit dem Theaterkollektiv Turbo Pascal in Berlin. Inga Reimers ist Kulturanthropologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Kultur der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg. Margarita Tsomou ist Kulturwissenschaftlerin, Performerin und Kulturarbeiterin sowie Herausgeberin des Missy Magazins. Gesa Ziemer ist Professorin für Kulturtheorie und kulturelle Praxis und Vizepräsidentin für Forschung an der HafenCity Universität Hamburg.

Zeitschrif ten bei transcript Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Thomas Hecken, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur und Kritik (Heft 4, Frühjahr 2014)

2014, 170 Seiten, kart., 16,80 E, ISBN 978-3-8376-2633-9 »POP. Kultur und Kritik« analysiert und kommentiert die wichtigsten Tendenzen der aktuellen Popkultur in den Bereichen von Musik und Mode, Politik und Ökonomie, Internet und Fernsehen, Literatur und Kunst. »POP« liefert feuilletonistische Artikel und Essays mit kritisch pointierten Zeitdiagnosen. »POP« bietet wissenschaftliche Aufsätze, die sich in Überblicksdarstellungen zentralen Themen der zeitgenössischen Popkultur widmen. Die Zeitschrift richtet sich sowohl an Wissenschaftler/-innen und Studierende als auch an Journalisten und alle Leser/-innen mit Interesse an der Pop- und Gegenwartskultur. Im vierten Heft geht es um Europa und Deutschland, die WM in Brasilien, Coverversionen, Camp, RTL, Artcore u.a.

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Kultur und Soziale Praxis Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.)

Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt

Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3 Die arabischen Großstädte sind prominente Orte, an denen sich Widerstand und Protest gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Armut und Ausgrenzung artikulieren und öffentlich sichtbar werden. Jugendliche, die Hauptinitiatoren des arabischen Frühlings, stehen dabei im Mittelpunkt. Der Band beleuchtet ihre alltäglichen Handlungsspielräume im Rahmen wirtschaftlicher Zwänge und staatlicher Kontrolle sowie ihre Rolle in politischen Ordnungen. Die Beiträge zeigen, wie Widerstand und neue Initiativen die aktuellen Gesellschaftsentwürfe verändern und wie neue Vorstellungen von Heimat verhandelt werden. Kontextbezogene Studien bieten einen ersten differenzierten Blick auf das breite Spektrum des zeitgenössischen Jugendlichseins in den Städten der arabischen Welt.

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Urban Studies Alain Bourdin, Frank Eckardt, Andrew Wood

Die ortlose Stadt Über die Virtualisierung des Urbanen

2014, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2746-6 In atemberaubender Geschwindigkeit haben sich die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien einen zentralen Platz im Leben der meisten Menschen erobert. Das virtuelle Überwinden großer räumlicher Entfernungen ist damit zur Selbstverständlichkeit geworden. Mehr und mehr überholt sich die Vorstellung der langfristigen Bindung an einen Ort. Alain Bourdin, Frank Eckardt und Andrew Wood zeigen: Auch Urbanität hat sich von ihrem physischen Kontext und ihrem räumlichen Ursprung zu lösen begonnen und sich um Dimensionen der Virtualität erweitert. Die Virtualisierung des Urbanen relativiert nicht nur die traditionelle Räumlichkeit der Stadt. Auch das Bild der planbaren Stadt erweist sich als eine historisch gewordene Fiktion der Moderne.

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Zeitdiagnosen bei transcript Ilja Braun

Grundeinkommen statt Urheberrecht? Zum kreativen Schaffen in der digitalen Welt

2014, 192 Seiten, kart., 21,99 €, ISBN 978-3-8376-2680-3 Geistiges Eigentum und freies Wissen – zwischen diesen beiden Polen hat sich die Debatte um das Urheberrecht im Digitalzeitalter eingependelt. Dabei geht es längst um viel mehr: Kreativität ist der wesentliche Produktivfaktor in einer zunehmend auf immaterielle Wertschöpfung ausgerichteten Ökonomie. Unternehmen erwirtschaften ihre Gewinne mit »Innovationen« und »Ideen«. Doch was geben sie dafür an die Kreativschaffenden zurück? Ilja Brauns Essay ordnet die unübersichtliche Debatte über das Urheberrecht. Dabei nimmt er von der Kulturflatrate bis zur Idee einer öffentlich-rechtlichen Produktionsfinanzierung die wichtigsten Lösungsansätze kritisch in den Blick, um schließlich den Bogen zur Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen zu schlagen. Kann es eine Antwort auf die digitale Krise des Urheberrechts und die Demokratisierung der Kreativität sein?

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