Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft [1. Aufl.] 9783658316303, 9783658316310

Die Autor*innen stellen die in der empirischen (Evaluations-)Forschung gewonnenen Erkenntnisse über Wirksamkeit und Wirk

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Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft [1. Aufl.]
 9783658316303, 9783658316310

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte: Systematisierungen – Wirkungen – forschungsmethodische Zugänge. Eine Einführung (Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel, Bastian Walther)....Pages 1-25
Front Matter ....Pages 27-27
Engagement, sozialer Zusammenhalt und die Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen in Städten (Frank Gesemann, Leif Jannis Höfler, Alexander Seidel)....Pages 29-55
Eine Systematik von Projekten der Integrationsbegleitung (Roman Lietz)....Pages 57-74
Front Matter ....Pages 75-75
Jenseits von Enthusiasmus und Ernüchterung (Bernd Schüler)....Pages 77-108
Das Mentoringprogramm Balu und Du (Franziska Niebuhr)....Pages 109-130
Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil (Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann, Bastian Walther)....Pages 131-160
Front Matter ....Pages 161-161
Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Bedeutung einer Qualifizierungsmaßnahme (Bastian Walther)....Pages 163-193
Stadtteilmütter in Berlin zwischen Aktivierung und Nicht-/Anerkennung (Liv-Berit Koch)....Pages 195-214
Migrantenorganisationen als Partner für Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte (Katharina Neubert, Cemalettin Özer)....Pages 215-237
Front Matter ....Pages 239-239
Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete in Deutschland (Alexander Seidel, Frank Gesemann)....Pages 241-272
»Und dann sitzt man selber erstmal da und denkt: Will ich jetzt nicht helfen?« (Sabine Jungk, Serafina Morrin)....Pages 273-286
Ankommenspatenschaften (Bernd Schüler)....Pages 287-305
Patenschaften zwischen Geflüchteten und Einheimischen: Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung (Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel)....Pages 307-326
Koordinationsstellen als Brückenstrukturen für programmatisch ausgerichtete Flüchtlingsarbeit (Nicole Saile, Julia Schlicht, Paul-Stefan Roß)....Pages 327-337
Front Matter ....Pages 339-339
Der hessische Integrationslotsenansatz im Landesprogramm „WIR“ (Susanne Huth, Wiebke Schindel, Jürgen Schumacher, Heike Würfel)....Pages 341-355
Virtuelles Dolmetschen als Lösung für Herausforderungen der Mehrsprachigkeit im interkulturellen Behördenhandeln (Andrea Cnyrim)....Pages 357-371
Engagement in Patenschaftsprojekten zwischen persönlicher Beziehung und Öffentlichkeit (Paul-Stefan Roß)....Pages 373-386
Erratum zu: Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft (Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel, Bastian Walther)....Pages E1-E1
Back Matter ....Pages 387-389

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Frank Gesemann · Iris Nentwig-Gesemann  Alexander Seidel · Bastian Walther Hrsg.

Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft

Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft

Frank Gesemann · Iris Nentwig-Gesemann · Alexander Seidel · Bastian Walther (Hrsg.)

Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungs­ gesellschaft

Hrsg. Frank Gesemann DESI – Institut für Demokratische ­Entwicklung und Soziale Integration Berlin, Deutschland

Iris Nentwig-Gesemann Fakultät für Bildungswissenschaften Freie Universität Bozen Brixen - Bressanone, Italien

Alexander Seidel DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration Berlin, Deutschland

Bastian Walther DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-31630-3 ISBN 978-3-658-31631-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte: Systematisierungen – Wirkungen – forschungsmethodische Zugänge. Eine Einführung ............................................. 1 Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

I

Engagement – Teilhabe – Zusammenhalt

Engagement, sozialer Zusammenhalt und die Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen in Städten ................................................ 29 Frank Gesemann, Leif Jannis Höfler und Alexander Seidel Eine Systematik von Projekten der Integrationsbegleitung ................................ 57 Roman Lietz

II

Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche

Jenseits von Enthusiasmus und Ernüchterung. Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche im Spiegel von Forschungsergebnissen aus 25 Jahren.......................................................... 77 Bernd Schüler Das Mentoringprogramm Balu und Du. Welchen Beitrag leistet Forschung für den Nachweis der Wirksamkeit? ......... 109 Franziska Niebuhr Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil. Potenziale und Herausforderungen einer niedrigschwelligen Qualifizierungsmaßnahme in Berlin ................................................................. 131 Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther

VI

Inhalt

III Lotsen, Mentoren und Paten zwischen freiwilligem Engagement und beruflicher Anerkennung Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Bedeutung einer Qualifizierungsmaßnahme. Ergebnisse einer komparativen Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen .......................... 163 Bastian Walther Stadtteilmütter in Berlin zwischen Aktivierung und Nicht-/Anerkennung. Rekonstruktive Forschungsergebnisse zur Frage der Verwirklichungschancen von Adressatinnen der Sozialen Arbeit .................... 195 Liv-Berit Koch Migrantenorganisationen als Partner für Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte. Das Beispiel der ehrenamtlichen Begleitung zur beruflichen Anerkennung in Nordrhein-Westfalen ........................................... 215 Katharina Neubert und Cemalettin Özer

IV Zivilgesellschaft und Patenschaften in der Flüchtlingshilfe Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete in Deutschland. Dynamiken und Verstetigungsansätze seit dem „Willkommenssommer“ 2015 .......................................................................... 241 Alexander Seidel und Frank Gesemann »Und dann sitzt man selber erstmal da und denkt: Will ich jetzt nicht helfen?« Herausforderungen und normative Konflikte in Patenschaften mit Geflüchteten ............................................................................................... 273 Sabine Jungk und Serafina Morrin Ankommenspatenschaften. Einsichten über ein ungewohntes niedrigschwelliges Format im Engagement für Geflüchtete ............................. 287 Bernd Schüler

Inhalt

VII

Patenschaften zwischen Geflüchteten und Einheimischen: Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung............................. 307 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie und Lea-Maria Löbel Koordinationsstellen als Brückenstrukturen für programmatisch ausgerichtete Flüchtlingsarbeit ......................................................................... 327 Nicole Saile, Julia Schicht und Paul-Stefan Roß

V

Lotsen-, Mentoren- und Patenschaftsprojekte in der Integrationspolitik

Der hessische Integrationslotsenansatz im Landesprogramm „WIR“. Ziele, Umsetzung, Erfahrungen und Perspektiven ............................................ 341 Susanne Huth, Wiebke Schindel, Jürgen Schumacher und Heike Würfel Virtuelles Dolmetschen als Lösung für Herausforderungen der Mehrsprachigkeit im interkulturellen Behördenhandeln ............................ 357 Andrea Cnyrim Engagement in Patenschaftsprojekten zwischen persönlicher Beziehung und Öffentlichkeit. Ein kritischer Zwischenruf aus zivilgesellschaftlicher Perspektive........................................................................................................ 373 Paul-Stefan Roß

Autorinnen und Autoren ................................................................................... 387

Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte Systematisierungen – Wirkungen – forschungsmethodische Zugänge. Eine Einführung Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

Zivilgesellschaftliches Engagement ist eine zentrale Dimension von individueller Teilhabe, sozialer Integration und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Der Deutsche Freiwilligensurvey (vgl. Simonson et al. 2017) und die Engagementberichte der Bundesregierung (vgl. BMFSFJ 2012; 2017) verweisen auf eine Zunahme des Engagements in seinen verschiedenen Ausprägungen, bieten eindrucksvolle Einblicke in eine vitale Zivilgesellschaft und unterstreichen die Bedeutung einer nachhaltigen Engagementpolitik (siehe auch die Beiträge in Klie/Klie 2018). Thematisiert werden u.a. die Bedeutung des Engagements für die Förderung von Bildungsgerechtigkeit, für Integration und Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund sowie für die Bewältigung der Herausforderungen bei der Integration von Geflüchteten und Asylsuchenden. Bildung wird dabei als Schlüsselfaktor für Engagement beschrieben, da Bildung sowohl eine Voraussetzung als auch ein Ergebnis von Engagement ist (vgl. BMFSFJ 2017: 289). Spätestens seit der Neuausrichtung der Integrationspolitik von Bund, Ländern und Kommunen in Folge des Zuwanderungsgesetzes von 2004 kommt Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten eine besondere Bedeutung in der niedrigschwelligen Integrationsbegleitung und -förderung von Zugewanderten zu, insbesondere wenn es um die Wahrnehmung von Bildungs- und Teilhabechancen geht (vgl. Gesemann, Roth und Aumüller 2012: 72f.; siehe auch den Beitrag von Huth, Schindel, Schumacher und Würfel in diesem Band). Als Brückenbauer*innen können Lotsen, Mentoren und Paten zudem aufgrund ihrer eigenen Migrationserfahrungen zur größeren Anerkennung und zu einer verbesserten Erschließung der Potenziale der Zugewanderten beitragen und die interkulturelle Öffnung von Einrichtungen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_1

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Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

befördern (vgl. Gesemann 2015; 2017; siehe auch den Beitrag von Andrea Cnyrim in diesem Band). Einen weiteren Schub haben diese Projekte in Deutschland mit dem Engagement für Geflüchtete seit dem „Sommer der Migration“ 2015 bekommen. Nahezu flächendeckend entstanden und erstarkten zivilgesellschaftliche Initiativen, die in den Kommunen einen wichtigen Beitrag zur Aufnahme und Integration von Geflüchteten leisten. Auch außerhalb dieser organisierten Strukturen setzen sich viele Menschen insbesondere im Rahmen von Patenschaften für Geflüchtete ein (vgl. Schiffauer, Eilert und Rudloff 2017; Institut für Demoskopie Allensbach 2018; Gesemann, Seidel und Mayer 2019). Mit dem vorliegenden Sammelband sollen die in der empirischen (Evaluations-) Forschung gewonnenen Erkenntnisse über Wirksamkeit und Wirkungen von Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten zusammengetragen werden. Darüber hinaus werden auf der methodischen Ebene die Potenziale und Herausforderungen verschiedener, standardisierter und qualitativer, (evaluativer) forschungsmethodischer Zugänge zur Thematik aufgezeigt und reflektiert. Insbesondere die Frage danach, welchen Beitrag formative, partizipative und responsive Forschungsansätze zur Sicherung der Nachhaltigkeit von Projekten, vor allem aber zur Aktivierung der in die Forschung einbezogenen Akteure leisten können, ist von hoher Praxisrelevanz. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass partizipative Forschung durch Teilhabe an Forschung auch mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht (vgl. von Unger 2014). Im Folgenden werden die Beiträge des Bandes in verschiedener Hinsicht reflektiert: Nach einer Systematisierung von Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten bzw. einer grundlegenden Begriffsbestimmung (1) werden die Beiträge im Hinblick auf die Frage der Wirkungen in verschiedenen Handlungsfeldern befragt (2). Schließlich werden die Potenziale und Herausforderungen erörtert, die mit den jeweiligen theoretischen und empirischen bzw. standardisierten und qualitativen forschungsmethodischen Zugängen verbunden sind (3).

Einführung

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Systematisierung von Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten

Die besondere Dynamik und die verschiedenen Traditionslinien von Patenschaften und Mentoring – Bildungsmentoring, Integrationsbegleitung, Flüchtlingspatenschaften – haben in den letzten beiden Jahrzehnten zur Entstehung einer enormen Vielfalt von Ansätzen und Formaten geführt. In der Datenbank der „Aktion zusammen wachsen“ (www.aktion-zusammen-wachsen.de) sind beispielsweise etwa 850 Patenschafts- und Mentoringprojekte eingetragen, wobei schwerpunktmäßig Projekte für Jugendliche in Schule und Berufsausbildung und für Kinder im Vor- und Grundschulalter vertreten sind.1 Hinzu kommen dürften bundesweit noch einmal mehrere Hundert Integrationslotsen- und Integrationsbegleiterprojekte (vgl. Lietz 2017: 185).2 Das dynamische Wachstum von niedrigschwelligen Projekten zur Förderung von Integration und Teilhabe ist das Ergebnis vielfältiger Entwicklungslinien, einerseits struktureller Herausforderungen und andererseits politischer Reformen (vgl. Gesemann 2015; 2017): ƒ Mangelnde Chancengleichheit im Bildungssystem; ƒ Zunahme und Verfestigung sozialer Ungleichheit; ƒ Häufung sozialer Problemlagen in benachteiligten Stadtteilen; ƒ Diversifizierung von Migrationsbewegungen und Zunahme gesellschaftlicher Heterogenität; ƒ Unzureichende interkulturelle Öffnung von Verwaltungen und Verbänden; ƒ Reformen des Wohlfahrtsstaates („aktivierender Staat“); ƒ Aktivierung zivilgesellschaftlicher Ressourcen und Erschließung von Engagementpotenzialen im Rahmen einer Neuausrichtung der Integrationspolitik von Bund, Ländern und Kommunen; ƒ Entwicklung niedrigschwelliger Hilfestrukturen und Handlungsansätze in der Sozialen Arbeit.

1 Auskunft der Bundesservicestelle der „Aktion zusammen wachsen“ vom 26.05.2020. 2 Roman Lietz (2017: 185) hat im Rahmen seiner Dissertationsarbeit bundesweit 320 Integrationslotsen- und Integrationsbegleiterprojekte recherchiert.

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Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

Angesichts der zunehmenden Komplexität von Problemlagen und Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft sind auch Lotsen-, Paten- und Mentorenprojekte nicht selten mit hohen, teilweise auch widersprüchlichen Erwartungen und Wünschen konfrontiert. 1.1 Begriffsbestimmungen Der Begriff der Niedrigschwelligkeit bezeichnet im weiteren Sinne ein Merkmal, das sich auf die Erreichbarkeit bzw. Zugänglichkeit von Angeboten, Einrichtungen und Organisationen bezieht. Im engeren Sinne ist damit ein Prinzip der Gestaltung sozialer Dienstleistungen gemeint, welches inzwischen auch in vielen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit greift. Die Unterstützungsangebote sollen sich dabei inhaltlich, zeitlich und örtlich an den Lebenswelten der Zielgruppen orientieren sowie von potenziellen Nutzer*innen ohne größeren Aufwand oder besondere Voraussetzungen in Anspruch genommen werden können. Damit sollen auch jene Menschen erreicht werden, die sich in besonderen Lebenslagen befinden und auf anderen – stärker formalisierten – Wegen nicht oder nicht frühzeitig genug erreicht werden (vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2005: 6; siehe auch Muche, Oehme und Schröer 2010: 8 ff.). Merkmale von Niedrigschwelligkeit3 sind: ƒ Lebensweltbezug und Alltagsnähe: Angebote sollten sich an den konkreten Bedarfen und Bedürfnissen der Menschen in ihren sozialen Zusammenhängen orientieren. ƒ Gute Erreichbarkeit: Angebote sollten räumlich und zeitlich leicht erreichbar sein. Ihre Inanspruchnahme sollte „unkompliziert und unbürokratisch“ sein. ƒ Zugangsmöglichkeiten: Angebote sollten für die Zielgruppen „erschwinglich und zugänglich“ sein. ƒ Freiwilligkeit und Selbstverantwortung: Die Nutzung von Angeboten sollte auf freiwilliger Basis erfolgen und Selbstverantwortung fördern. 3 Diese Merkmale orientieren sich an den „Kriterien von Niedrigschwelligkeit aus Sicht der Familien“, die der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (2005: 6ff.) in den Handlungsempfehlungen „Niedrigschwelliger Zugang zu familienunterstützenden Angeboten“ ausführlich erläutert hat.

Einführung

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ƒ Potenzialorientierung: Angebote sollten an Kompetenzen und Potenzialen der Nutzer*innen anknüpfen und ihrer Stigmatisierung als hilfsbedürftig entgegenwirken. Von zentraler Bedeutung für die niedrigschwellige Ausgestaltung von Angeboten sind das „Wahrnehmen, Verstehen und Wissen um den Alltag und die konkrete Lebenssituation“ von Menschen mit Unterstützungsbedarf (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2005: 6). Lotsen-, Mentoring- und Patenschaftsmodelle bzw. -projekte werden häufig als Einheit thematisiert, wenn es um niedrigschwellige Ansätze bzw. Instrumente zur Förderung der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe von Zugewanderten geht. Dabei gibt es jenseits der Gemeinsamkeiten auch spezifische Merkmale der verschiedenen Ansätze (vgl. Gesemann 2015: 7f.): Der Begriff Lotse stammt ursprünglich aus der Seefahrt und wird für Personen verwandt, die die ihnen anvertrauten Schiffe sicher durch Untiefen, vorbei an Hindernissen und durch dichten Verkehr navigieren und die mit ihrer Tätigkeit den Kapitän unterstützen.4 Integrationslots*innen unterstützen (Neu-) Zugewanderte bei der Bewältigung einfacher Alltagsaufgaben, fördern die Orientierung im unvertrauten gesellschaftlichen Umfeld und erleichtern Zugänge zu Angeboten und Einrichtungen. Lots*innen werden vor allem als Sprach- und Kulturmittler*innen oder als Stadtteilmütter5 eingesetzt, um Brücken zwischen Zugewanderten und sozialen Diensten zu bauen. Als Pat*innen werden Personen bezeichnet, die eine Patenschaft für ein Kind, einen Jugendlichen oder eine Familie übernehmen. Das Spektrum reicht dabei von Bildungs-, Lern- oder Schülerpatenschaften über Ausbildungs- und Job- bis hin zu Familienpatenschaften. Im Bereich der frühen Bildung werden Pat*innen z.B. zur Förderung der Lesekompetenz eingesetzt. Patenschaften (mit allen Altersgruppen) haben zudem mittlerweile in den Bereichen Integration und Flüchtlingshilfe eine große Bedeutung erlangt. Dies dokumentiert sich z.B. im Aufblühen lokaler Will-

4 Lotse. In: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Lotse [zuletzt abgerufen am 15.05.2020]. 5 Bei Stadtteilmüttern handelt es sich um eine spezifische Form der Integrationsbegleitung. Stadtteilmütter sind Multiplikatorinnen, die zumeist einen Migrationshintergund haben, und schwer erreichbaren Familien Informationen zu den Themen Erziehung, Bildung und Gesundheit vermitteln (siehe auch den Beitrag von Liv-Berit Koch in diesem Band).

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kommensinitiativen (vgl. Gesemann, Seidel und Mayer 2019), in zahlreichen Projekten auf lokaler Ebene (vgl. Schiffauer, Eilert und Rudloff 2017) und im Patenschaftsprogramm der Bundesinitiative „Menschen stärken Menschen“ (vgl. Prognos 2017). Mentor*innen sind Personen, die mit ihrer Erfahrung und ihrem Wissen die Entwicklung von Mentees fördern. Der Erfahrungs- und Wissenstransfer im Rahmen einer persönlichen Beziehung wird als Mentoring oder Mentorat bezeichnet. Mentoring-Beziehungen sollen die Mentees bei persönlichen oder beruflichen Entwicklungen unterstützen und sind vor allem in den Bereichen Berufsorientierung, Übergang Schule/Beruf und Hochschule zu finden. Inzwischen haben sich viele weitere Formen und Bezeichnungen der Begleitung und Unterstützung wie Stadtteilmütter oder Sprach- und Kulturmittler*innen etabliert. Während Lots*innen als kundige Wegweiser und Türöffner fungieren, zielt die aufsuchende Arbeit von Stadtteilmüttern vor allem auf die Aufklärung und Aktivierung von schwer erreichbaren Familien, sowie auf die Bildung von Brücken zu den Regelangeboten. Mentoring- und Patenschaftsprojekte basieren in der Regel auf einer engen und intensiven Begleitung und Unterstützung von jüngeren Menschen durch erfahrene Mentor*innen und haben vor allem eine Motivations- und Vorbildfunktion. Sprach- und Kulturmittler*innen erbringen sprachliche und kulturelle Übersetzungsleistungen insbesondere in Situationen, die ausgewiesene kommunikative, soziale und reflexive Kompetenzen erfordern. Die hier betrachteten Ansätze sind jeweils durch spezifische Merkmale gekennzeichnet, auch wenn die Übergänge zwischen ihnen z.T. fließend und die Bezeichnungen keineswegs einheitlich sind. An dieser Stelle wird für das Gesamtspektrum der Ansätze – wie bereits von Susanne Huth (2007) vorgeschlagen – die Bezeichnung Integrationsbegleiter*in verwendet. Diese übergreifende Bezeichnung umfasst alle Lotsen-, Mentoring- und Patenschaftsprojekte, die auf eine Förderung der Integration und Teilhabe von Einwander*innen abzielen. Der Begriff Integrationslotse bezeichnet daher im engeren Sinne nur eine Teilmenge, auch wenn er gelegentlich ebenfalls als inklusive Bezeichnung verwandt wird (siehe auch den Beitrag von Roman Lietz in diesem Band).

Einführung

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1.2 Formate und Funktionen niedrigschwelliger Angebote und Instrumente zwischen bürgerschaftlichem Engagement und Professionalisierung Die große Vielfalt niedrigschwelliger Angebote und Formate in der Integrationsarbeit hängt mit der großen Zahl kommunaler und freier Träger, aber auch mit der Förderpraxis von Bund, Ländern und Kommunen zusammen. Die zumeist ehrenamtlich arbeitenden Integrationsbegleiter*innen werden dabei insbesondere eingesetzt, um bürgerschaftliches Engagement zu fördern, Integration und Teilhabechancen von Zugewanderten zu verbessern, den Zugang zu Bildung, sozialen Angeboten und Diensten zu erleichtern sowie die professionellen Beratungs- und Betreuungsangebote von Kommunen und Wohlfahrtsverbänden zu unterstützen. Dabei lassen sich verschiedene Funktionen und Formate von Programmen und Projekten unterscheiden (vgl. Abbildung 1; siehe auch den Beitrag von Roman Lietz in diesem Band):

Abb. 1: Typologie von Projekten der Integrationsbegleitung. Quelle: Gesemann (2015) Auch wenn sich die Funktionen und Tätigkeitsfelder überschneiden, gehören alle Patenschafts- und Mentoringprojekte zum Kernbereich des bürgerschaftlichen Engagements: Freiwillig Engagierte schenken ihre Erfahrungen, Zuwendung und Zeit Menschen mit einem besonderen Bedarf an Kontakt und Unterstützung. Diese

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Angebote bilden das Herzstück einer aktiven, durch persönliche Beziehungen gefestigten Bürgergesellschaft. Sie können eine bürgernahe und interkulturell ausgerichtete Verwaltung oder gar strukturelle Reformen im Bildungssystem nicht ersetzen, aber zum Brückenbau zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft beitragen, den sozialen Zusammenhalt fördern, strukturelle Barrieren im Umgang mit Behörden und Einrichtungen abbauen sowie eine aktivierende, motivierende und unterstützende Wirkung haben. Integrationslotsen- und Stadtteilmütterprojekte sind in Deutschland aus dem bürgerschaftlichen Engagement hervorgegangen und werden vielerorts immer noch durch dieses geprägt. Zugleich zeigen sich in dem Maße, in dem sich die Assistenz- und Unterstützungsfunktion von Stadtteilmüttern ausprägt, insbesondere in einigen Großstädten deutliche Tendenzen einer Qualifizierung und Verstetigung, die mit Entlohnung einhergehen und damit ihren ehrenamtlichen Charakter verlieren. Am stärksten ausgeprägt ist der Grad der Professionalisierung im Bereich der Sprach- und Integrationsmittlung, da es insbesondere im Gesundheitsbereich, aber auch im Bildungs- und Sozialwesen einen zunehmenden Bedarf an professioneller, kultursensibler Sprachmittlung gibt, die nicht mehr durch kurzzeitige Qualifizierungsmaßnahmen und/oder auf ehrenamtlicher Basis abgedeckt werden kann. Mit einer 18-monatigen, praxisnahen Qualifizierung mit rund 2.000 Unterrichtsstunden wurden die Grundlagen für eine Berufsausbildung gelegt, die auf die speziellen Bedürfnisse von Migrant*innen und die Unterstützung von Fachkräften im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen ausgerichtet ist.6

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Wirkungen von Lotsen-, Mentoren- und Paten-Projekten

Mentoring wird in Deutschland seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einer Vielzahl von Bereichen eingesetzt, insbesondere als Instrument der Personalentwicklung in Organisationen und zur individuellen Förderung von Ange-

6 Informationen zur bundesweit standardarisierten Qualifizierung zur/zum Sprach- und Kulturmittler*in (SprInt) sind zu finden unter: https://www.sprachundintegrationsmittler.org/ qualifizierung.

Einführung

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hörigen bestimmter Zielgruppen (Kinder und Jugendliche, Frauen, Zugewanderte). Angesichts der dynamischen Entwicklung von Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten in verschiedenen Handlungsfeldern (insbesondere Bildung, Familien, Jugend, Gesundheit, Stadtteilentwicklung, Integration, Flüchtlingshilfe) ist bemerkenswert, dass es bislang an einer vergleichenden Analyse und wissenschaftlichen Einordnung von Ansätzen und Instrumenten in den verschiedenen Themenfeldern mangelt. Im Folgenden sollen der diesbezügliche Stand der Forschung sowie die Erkenntnisse über Erfolgsfaktoren und Hindernisse bei der Zielerreichung im Hinblick auf verschiedene Zielgruppen resümiert werden. 2.1 Kinder und Jugendliche Zu den Wirkungen von Mentoring- und Patenschafts-Programmen auf Kinder und Jugendliche liegen inzwischen vielfältige Befunde vor, die zumeist auf Forschungen in angelsächsischen Ländern basieren (vgl. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin 2014; siehe auch den Beitrag von Bernd Schüler in diesem Band). In einer Zwischenbilanz zum Forschungsstand kommen Cavell et al. (2009: 2) zu dem Ergebnis, dass Mentoring-Programme die Entwicklung und das Verhalten Jugendlicher in mehrfacher Hinsicht positiv beeinflussen können: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Verbesserungen des Selbstwertgefühls der Mentees; Bessere Beziehungen zwischen Eltern und Kindern; Stärkere Verbundenheit der Jugendlichen mit der Schule; Verbesserte schulische Leistungen; Rückgang von Drogenmissbrauch, Gewalt und anderen riskanten Verhaltensweisen.

Die Ergebnisse von zwei Metaanalysen zur Wirksamkeit von Mentoring-Programmen für Jugendliche in den USA belegen die Wirksamkeit von Mentoring-Programmen, zeigen aber auch, dass die Resultate sehr unterschiedlich sein können (vgl. DuBois et al. 2002 und DuBois et al. 2011). Erfolgreiche Verläufe zeigen sich vor allem dann, wenn: ƒ eine hauptamtliche Projektkoordination für Organisation und Steuerung des Programms verantwortlich ist (Konzeption und Zielsetzungen, Einbeziehung von Schlüsselakteuren, Monitoring und Evaluation des Programms);

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Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

ƒ Mentoring-Beziehungen gut begleitet werden (Auswahl der Mentor*innen und Mentees, unterstützende Aktivitäten für die Tandems, Qualifizierungsangebote und Supervision für Mentor*innen, Monitoring und Evaluation zur Qualitätssicherung); ƒ Mentoring-Beziehungen eine bestimmte Dauer und Intensität aufweisen. Bleiben Tandems mindestens ein Jahr oder länger zusammen und haben sie wöchentlich Kontakt, wirkt sich dies positiv aus. In seiner eindrucksvollen Zusammenschau von Forschungsergebnissen aus 25 Jahren hebt Bernd Schüler (in diesem Band) die vielfältigen Wirkungen von Mentoring hervor, verweist aber auch auf die Bedeutung von Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen. Viele Faktoren seien von Bedeutung, um eine zufriedenstellende und wirksame Mentoring-Beziehung zu stiften und zu begleiten. In Deutschland gehört das Mentoringprogramm „Balu und Du“ zu den wissenschaftlich besonders intensiv begleiteten und evaluierten Programmen. Die Ergebnisse der Begleitforschung belegen Wirkungen bei Mentees (Förderung von Prosozialität in Form von Altruismus, Vertrauen und Verhalten in Bezug auf Andere) und Mentor*innen (Erwerb und Stärkung von Schlüsselkompetenzen) und unterstreichen zudem den gesellschaftlichen Mehrwert des Programms (Erreichung eines höheren Bildungsgrads, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, vermehrtes freiwilliges Engagement, bessere Gesundheit) (siehe den Beitrag von Franziska Niebuhr in diesem Band). 2.2 Menschen mit Zuwanderungsgeschichte Seit der Aufwertung und Neuausrichtung der Integrationspolitik von Bund und Ländern und der Konzipierung von Integration als Gemeinschaftsaufgabe von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wird Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten eine besondere Bedeutung beigemessen. Der Einsatz ehrenamtlicher Integrationslots*innen hat nach den Ergebnissen der vorliegenden Expertisen und Studien dazu beigetragen, die individuelle Integration von Migrant*innen zu unterstützen, das bürgerschaftliche Engagement von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu stärken, das nachbarschaftliche Miteinander und den gesell-

Einführung

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schaftlichen Zusammenhalt zu fördern sowie die Weiterentwicklung und interkulturelle Öffnung der Regelstrukturen anzuregen. Folgende Ziele wurden demnach von den Projekten erreicht:7 ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

ƒ ƒ ƒ ƒ

Migrant*innen zur Selbsthilfe zu aktivieren und zu stärken; Schwierigkeiten von Zugewanderten im Integrationsprozess abzubauen; freiwilliges Engagement in der Integrationsarbeit zu fördern; das Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund sichtbar zu machen; interkulturelle Begegnungen in der Kommune oder im Stadtteil zu ermöglichen; Zugewanderte stärker mit den deutschen Regelinstitutionen vertraut zu machen; die Zielgruppenerreichung von Behörden, sozialen Diensten, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen zu verbessern; die Angebote besser an die Bedarfe der Zielgruppen anzupassen; die Kommunikation zwischen Fachkräften und Zugewanderten zu verbessern; bei Missverständnissen und Konflikten als ‚Brückenbauer‘ zu ‚übersetzen‘ und zu vermitteln; die interkulturelle Öffnung der Regelstrukturen voranzutreiben.

Um die Kontinuität und Qualität der Arbeit von ehrenamtlichen Integrationsbegleiter*innen zu sichern und die Tätigkeit zu vergüten, wurden seit Mitte des ersten Jahrzehnts der 2.000er Jahre insbesondere in Berlin Stadtteilmütter-Projekte zumeist über Arbeitsmarkt-Instrumente gefördert. Damit verbunden war eine Verschiebung des Fokus von der Aktivierung und Stärkung von Migrantinnen und Migranten auf ehrenamtlicher Basis hin zur Förderung der Arbeitsmarktintegration von schwer vermittelbaren Migrantinnen (vgl. Gesemann 2015: 27 ff.; Koch 2017: 67 ff.).

7 Siehe die Ergebnisse der Evaluation des Projekts „Integrationslotsen in Niedersachsen“ (Bommes et al. 2010) und der wissenschaftlichen Begleitung des Landesprogramms Modellregionen Integration in Hessen (vgl. Hessisches Ministerium der Justiz, für Integration und Europa 2013). Siehe auch die zusammenfassenden Darstellungen in Gesemann (2015) und Huth (2017) sowie die Beiträge von Huth, Schindel, Schumacher und Würfel, Nentwig-Gesemann, Gesemann und Walther sowie Walther in diesem Band.

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Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

Die Stadtteilmütter-Projekte in Deutschland sind relativ gut erforscht. Hierzu gehören vor allem Ergebnisse aus Evaluationen der Stadt Essen (2004),8 den Berliner Bezirken bzw. Ortsteilen Neukölln (Koch 2009, 2015; Behn et al. 2010), Charlottenburg (Wießmeier et al. 2011), Kreuzberg (Berg und Stolzenberg 2011), Mitte (Kroneder und Regnoux 2014; Khan-Zvorničanin und Schaffranke 2016) und einer Implementationsanalyse zu einem Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen (Bauer 2013). Hinzu kommen zwei Dissertationen (Koch 2017; Hamra 2018) und der Abschlussbericht zu einem Projekt im Auftrag des vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung (Sülzle, Glock und Jörg 2019). Zu den zentralen Ergebnissen der Evaluations- und Wirkungsstudien gehört, dass ƒ es den Stadtteilmüttern durch den Aufbau persönlicher und vertrauensvoller Beziehungen gelingt, Frauen in belasteten Familiensituationen zu erreichen; ƒ die Stadtteilmütter bei den aufgesuchten Frauen einen deutlichen Wissens- und Kompetenzgewinn insbesondere in Bezug auf Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitsthemen bewirken; ƒ die Stadtteilmütter dazu beitragen, bei den migrantischen Frauen das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Kinder zu stärken und die Beziehungen der Mütter zu ihren Kindern zu verbessern; ƒ die Stadtteilmütter bei der Zielgruppe die stärkere Nutzung weiterführenden Beratungs- und Unterstützungsangeboten fördert; ƒ die Stadtteilmütter dazu beitragen, die Barrieren zwischen den migrantischen Frauen und Institutionen wie Schule und Jugendamt abzubauen und es ihnen mitunter auch gelingt, zwischen verschiedenen Perspektiven zu vermitteln; ƒ sich die sozialen Netze der aufgesuchten Frauen durch den Kontakt zu den Stadtteilmüttern deutlich vergrößern und die Zugänge zu Informationen und Unterstützungsangeboten verbessern; ƒ Stadtteilmütter die Bedingungen für Begegnung und Teilhabe im Quartier verbessern und zur Verständigung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Quartier beitragen;

8 Das Stadtteilmütter-Projekt der Stadt Essen ist durch eine Verknüpfung von interkultureller Sprachförderung und Elternbildung in Kindertageseinrichtungen gekennzeichnet.

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ƒ sich besonders deutliche Veränderungen bei den Stadtteilmüttern selbst zeigen (Wissensgewinne, Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung, Erschließung beruflicher Perspektiven). 2.3 Engagement in der Flüchtlingshilfe Die starke Zuwanderung von Geflüchteten seit 2015 hat in weiten Teilen Deutschlands zu einem enormen Engagement für Geflüchtete geführt. Vielerorts entstanden Nachbarschafts- und Willkommensinitiativen, Freundes- und Helferkreise soKoordinierungsstellen (siehe die Beiträge von Alexander Seidel und Frank Gesemann sowie Nicole Saile, Julia Schlicht und Paul-Stefan Roß in diesem Band). Nach der rasanten Entwicklung des Engagements und den improvisierten Anfängen zeichnen sich inzwischen verschiedene Entwicklungslinien ab. Während ein vor allem humanitär motivierter Teil des Engagements nach der Bewältigung der anfänglichen Unterbringungs- und Versorgungsprobleme zurückgegangen ist, befinden sich viele Willkommensinitiativen auf einem Weg der Institutionalisierung, Spezialisierung und Professionalisierung (vgl. Gesemann, Seidel und Mayer 2019). Verlagert hat sich damit auch der Schwerpunkt des freiwilligen Engagements hin zu zur Erschließung neuer Handlungsfelder wie z.B. der ehrenamtlichen Vormundschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (vgl. Trautmann 2018), der Unterstützung von Geflüchteten bei der Integration in den Arbeitsmarkt (vgl. Erler, Prytula und Grotheer 2018) oder längerfristigen Patenschaften (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 163ff.). Patenschaftsprojekte bilden eine auf Längerfristigkeit und Nachhaltigkeit angelegte Form der Begleitung und Unterstützung. Im günstigen Fall bedienen sie unterschiedliche Bedürfnisse von Geflüchteten (vgl. Han-Broich 2012; 2014). Dazu zählen diversitätssensible, dialogische Beziehungen aller Art, die geflüchtete Menschen mit Sprache, sozio-kulturell codierten Verhaltensweisen, Normen, Werten und Erwartungen der aufnehmenden Gesellschaft vertraut machen und sie zugleich mit ihrem jeweils ganz spezifischen Erfahrungswissen ernstnehmen und als Potenzial unserer Gesellschaft betrachten. In einer sozial-strukturellen Dimension umfasst die Patenschaftsbeziehung konkrete Hilfestellungen, die die geflüchteten Menschen dabei unterstützen, eigenständige Bewältigungs- und Lebensformen in ihrer neuen Umgebung zu entwickeln und diese aktiv mitzugestalten (vgl. Häseler-Bestmann et al. 2019: 174ff.).

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Patenschaften können dabei auch als eine Art von Sozialkapital betrachtet werden: Die Beziehungen zu freiwillig Engagierten und der damit verbundene Zugang zu bestimmten Formen des gesellschaftlich relevanten Wissens stellt für Geflüchtete in bestimmten Situationen ein Potenzial von besonderem Wert dar, beispielsweise beim Umgang mit Behörden, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder bei Schulund Ausbildungsfragen. Ein großer Wert der Patenschaften kann auch in Erfahrungen menschlicher Begegnungen und Verständigungsprozesse liegen, die sich zwischen Geflüchteten und Pat*innen entwickeln. Die Beziehung zu einem Paten kann über das Empfinden von Fremdheit und Stagnation hinweghelfen, welches sich in den komplizierten Asylverfahren und im langwierigen Einlebens- und Integrationsprozess in eine neue Gesellschaft oftmals einstellt (siehe auch die Beiträge von Bernd Schüler, Sabine Jungk und Serafina Morrin sowie Jursch, Kroh, Krieger, Legewie und Löbel zu Patenschaften in diesem Band). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat Ende 2015 das Programm „Menschen stärken Menschen“ ins Leben gerufen, mit dem Patenschaften zwischen geflüchteten und in Deutschland lebenden Menschen unterstützt werden.9 Eine Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ergab, dass von den Engagierten in der Flüchtlingshilfe (2017) elf Prozent eine Patenschaft für Flüchtlinge übernommen haben; weitere fünf Prozent hatten das in der Vergangenheit gemacht. Dabei zeigte sich „eine deutliche Kumulation der Hilfen“: Die Pat*innen verbringen auch Freizeit mit Geflüchteten oder helfen ihnen, Kontakte zu knüpfen. Sie unterstützen sie zudem beim Deutsch lernen, bei der Orientierung am Wohnort und bei Behördengängen. „Der Weg ins Zentrum der Flüchtlingshilfe führt also von der eher sachbezogenen Hilfe über den stärker

9 Das Patenschaftsprogramm „Menschen stärken Menschen“ wurde im Jahr 2019 auf die Zielgruppe von Menschen aus benachteiligenden Lebensumständen ausgeweitet. Die Erweiterung des Programms zielt insbesondere auf junge Menschen, die noch über keinen oder nur einen niedrigen Bildungsabschluss verfügen und unter schwierigen Bedingungen leben. Durch die Erweiterung des Programms sollen die bereits gebildeten Strukturen zur Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement für die Integration von geflüchteten Menschen in die Gesellschaft auch anderen Zielgruppen zur Verfügung gestellt und nutzbar gemacht werden. Übergreifende Ziele über alle Zielgruppen sind die Förderung der Teilhabegerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Zudem soll das bürgerschaftliche Engagement durch Vernetzung, Wissenstransfer und Stärkung der lokalen Engagementlandschaft nachhaltig gefördert werden.

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persönlichen Kontakt bis hin zur Übernahme einer Patenschaft“ (Institut für Demoskopie Allensbach 2017: 18). Die Patenschaften haben aus Sicht der freiwillig Engagierten (ebd.: 58 ff.) ƒ einen „wichtigen Beitrag zur Integration geflüchteter Menschen“ geleistet (93 Prozent der Befragten stimmen dieser Aussage voll oder eher zu) und den Geflüchteten ein selbstbestimmtes Handeln ermöglicht hat (jeweils 85 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass sich durch die Patenschaft der Horizont ihrer Tandempartner*innen erweitert hat bzw. die Integration in das gesellschaftliche System erleichtert wird; 81 Prozent stimmen der Aussage zu, dass sich die deutschen Sprachkenntnisse ihrer Tandempartner*innen durch die Patenschaft verbessert haben. ƒ den Geflüchteten Zugänge zu wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeits- und Ausbildungsmarkt, Wohnungsmarkt, Vereinen oder ehrenamtlichem Engagement erleichtert: 34 Prozent der Befragten geben an, dass ihre Tandempartner*innen durch ihre Unterstützung einen Praktikums-/Ausbildungsplatz oder einen Betreuungsplatz für Kinder (34 %), Zugänge zu einem Verein oder Verband (31 %) oder zum ehrenamtlichen Engagement (19 %) gefunden haben. 43 Prozent haben zudem mit Hilfe ihrer Pat*innen eine Wohnung gefunden. ƒ hohe Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht und zu einer Ausweitung des freiwilligen Engagements beigetragen: 83 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass sie durch ihr Engagement „die Gesellschaft aktiv mitgestalten können“; 45 Prozent engagieren sich auch in anderen Bereichen und 49 Prozent können sich vorstellen, ihr freiwilliges Engagement auszuweiten. 49 Prozent geben zudem an, durch ihr Engagement weitere Menschen für ein freiwilliges Engagement gewonnen zu haben. 91 Prozent der Befragten planen, sich weiterhin regelmäßig zu engagieren; ƒ das gegenseitige Verständnis gefördert (94 % der Befragten stimmen dieser Aussage voll oder eher zu). Durch die Patenschaften sind vielfach enge und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten entstanden: 87 Prozent der Befragten geben an, dass sich aus ihrer Patenschaft eine freundschaftliche/familiäre Beziehung entwickelt hat. Niedrigschwellige Ansätze bzw. Instrumente können die individuelle Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchtgeschichte in allen

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Dimensionen der sozialen Integration unterstützen (siehe hierzu insbesondere Heckmann 2015): Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte fördern Prozesse einer kulturellen Integration vor allem in den Bereichen der Sprachförderung und Wertebildung. Sie leisten zudem einen Beitrag zur strukturellen Integration, indem sie (Neu-) Zugewanderten Zugänge zu den Kerninstitutionen der Gesellschaft eröffnen bzw. zu einer Verbesserung von Teilhabechancen im Bildungs- und Gesundheitssystem beitragen. Mentoren- und Patenprogramme können die soziale und identifikative Integration von Zugewanderten fördern, wenn interkulturelle Begegnungen und Freundschaften entstehen, Zugänge zu sozialen Netzwerken gefördert werden bzw. Zugewanderte sich anerkannt, wertgeschätzt und willkommen fühlen (vgl. Gesemann 2015 und 2017; siehe auch den Beitrag von Roman Lietz in diesem Band). Empirische Studien zeigen, dass ehrenamtliches Engagement und der Aufbau persönlicher Beziehungen Geflüchteten hilft, den Verlust sozialer Beziehungen auszugleichen, soziale Bezugssysteme zu stabilisieren, ein Gefühl des Angenommen- und Willkommenseins zu entwickeln, Kontakte zur einheimischen Bevölkerung aktiv zu suchen und positiv zu gestalten sowie Herausforderungen im Umgang mit Behörden, Kitas oder Schulen, bei Problemen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder in der Nachbarschaft erfolgreich zu bewältigen (vgl. HanBroich (2015); Institut für Demoskopie Allensbach (2017); Erler, Prytula und Grotheer 2018). Die größten Wirkungen zeigen sich Han-Broich (2015) zufolge sogar im seelisch-emotionalen Bereich und nicht in den die praktische Integration betreffenden kognitiv-kulturellen und sozial-strukturellen Dimensionen. Diese Wirkungen hängen ganz wesentlich „mit den dem Ehrenamt zugrundeliegenden intrinsischen Motiven und Beziehungsfähigkeiten der Ehrenamtlichen“ zusammen: Diese „können durch die persönliche Art ihrer Kontakte eine einzigartige Beziehung zu Flüchtlingen aufbauen, indem sie gezielt auf Menschen zugehen, persönliche Berührungspunkte herstellen und mit den Flüchtlingen eine ganzheitliche Begegnung erleben“ (ebd.: 45). Gelingende Patenschaftsbeziehungen können auch für Pat*innen sehr bereichernd sein. Freiwillig Engagierte erweitern durch die persönlichen Kontakte mit den Geflüchteten ihren Horizont, setzen sich mit kultureller Verschiedenheit auseinander und vertiefen ihre Sprachkenntnisse. Sie machen aber auch ungewohnte Erfahrungen im Umgang mit Behörden, lernen sich – gemeinsam mit anderen –

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für die Interessen ihrer Mentees einzusetzen, tauschen sich über ihre Erfahrungen aus und erfahren Unterstützung durch Organisationen und Netzwerke. Die Freiwilligen erleben in der Regel viel Dankbarkeit durch die Geflüchteten; zuweilen entwickeln sich aus den persönlichen Kontakten auch engere soziale Beziehungen. Pat*innen sind wichtige Brückenbauer*innen und Multiplikator*innen, die in der lokalen Bevölkerung Verständnis für die Lebenssituation von Geflüchteten vermitteln sowie zum Abbau von Ängsten und Vorurteilen beitragen können (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 163f.). Mentoring und Patenschaften bieten eine zumeist auf Längerfristigkeit und Nachhaltigkeit angelegte Form der Unterstützung insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Fluchtgeschichte, aber auch für jüngere Menschen aus benachteiligenden Verhältnissen und in schwierigen Lebenssituationen. Im günstigen Fall bedienen sie unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse von Mentees. Dazu zählen dialogische und diversitätssensible Beziehungen aller Art, die Menschen mit ihren jeweils spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen ernstnehmen. Die Unterstützung durch Pat*innen stärkt das Vertrauen der Mentees in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten und hilft ihnen, herausfordernde ‚Übergänge‘ (z.B. Grundschule/weiterführende Schulen; Schule/Beruf; Integration/Teilhabe) erfolgreich zu meistern (Gesemann und Nentwig-Gesemann, i.V.).

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Potenziale und Herausforderungen verschiedener, standardisierter und qualitativer, (evaluativer) forschungsmethodischer Zugänge zur Thematik

Im Rahmen von wissenschaftlicher Begleit- und/oder Evaluationsforschung, bei der es sich häufig um Auftragsforschung handelt, ist in aller Regel eine Adaptation der forschungsmethodischen Zugänge erforderlich, die allerdings nicht mit einem Verzicht auf die Standards ‚guter‘ Forschung verbunden sein darf. Wenn es um die (interne und v.a. externe) wissenschaftliche Begleitung, Beratung und Evaluation von Programmen und Projekten geht, gilt es zumeist, einen klar umrissenen Zeitrahmen einzuhalten und mit der Begrenztheit von finanziellen Ressourcen zurechtzukommen. Zudem ergibt sich bei Evaluationsstudien aufgrund von unter-

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schiedlichen bzw. widerstreitenden (Nutzungs-) Interessen der beteiligten Stakeholder-Gruppen häufig ein Spannungsfeld, in das die Evaluationsforscher*innen als (unabhängige und zugleich abhängige) Akteure involviert sind. Eine weitere Herausforderung für die Begleit- und Evaluationsforschung ist das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: Neigen Sozialwissenschaftler*innen als Expert*innen für eine Thematik ohnehin dazu, die Logik der Theorie in die Logik der Praxis hinein zu projizieren und die „praktische Logik“ gegenüber der „theoretischen Logik“ (Bourdieu 1976: 228) eher abzuwerten, stellt dies in der Begleitund Evaluationsforschung eine besonderes Problem dar, denn es sind die Akteure im Praxis- bzw. Berufsfeld, die Projekte realisieren und ihre Qualität Tag für Tag neu hervorbringen, sichern und verbessern. So gilt es als Forscher*innen, auch die in der Praxis implizierten Wissens- und Reflexionspotenziale anzuerkennen bzw. zu rekonstruieren und sie in ihrer praktischen, eigentümlichen Logik („practical wisdom“; Schwandt 2002: 152) zu verstehen (vgl. Bohnsack 2020: 7). Gelingt dann im Sinne eines formativen Vorgehens, die (standortverbundenen) Perspektiven der Forschung und die (ebenfalls standortverbundenen) Perspektiven der verschiedenen Projektakteure in einem gemeinsamen Diskurs zusammenzuführen, dann stellt dies ‚Keimzelle‘ für Qualitätsentwicklungsprozesse dar, in denen nicht Theorie gegen Praxis ausgespielt wird, es also nicht um eine „Hierarchisierung des Besserwissens“ (Luhmann 1992: 510) geht. Eine dritte Herausforderung ergibt sich aus dem Anspruch der Bewertung: Werden Programme und Projekte wissenschaftlich begleitet und evaluiert, dann geht es – wie auch bei der Grundlagenforschung – darum, Erkenntnisse zu generieren: Hypothesen zu prüfen und neue Hypothesen bzw. Theorien zu entwickeln. Es geht aber zudem darum, eine kriteriengeleitete Bewertung vorzunehmen und mehr noch: Überlegungen zur Ergebnisverwertung bzw. zur daraus zu schlussfolgernden Qualitätsentwicklung anzustellen (vgl. Nentwig-Gesemann 2020). In den verschiedenen Studien, die den Beiträgen dieses Sammelbandes zugrunde liegen, ist diesen grundlegenden Herausforderungen auf methodisch vielfältige – standardisierte, qualitative und rekonstruktive sowie triangulative – Art und Weise begegnet worden. Dies soll im Folgenden jeweils kurz skizziert werden. Einen besonderen Stellenwert nehmen die drei Beiträge von Roman Lietz, von Paul-Stefan Roß sowie von Bernd Schüler ein, die sich auf der Ebene der wissen-

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schaftlichen Systematisierung von (bereits empirisch generierten) Konzeptualisierungen bewegen und damit einen Beitrag zur Theoriebildung leisten. „Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um die Welt einzufangen, - sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen“ (Popper 2005: 36). In dem Beitrag von Roman Lietz werden über einzelne Integrationsbegleitungsprojekte hinaus gültige Charakteristika herausdestilliert und damit Projekttypen voneinander unterschieden. Bernd Schüler trägt im Rahmen einer metaanalytischen Auswertung Forschungserkenntnisse zu den Wirkungen von Patenschaften und Mentoring zusammen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Identifikation von Forschungslücken und neuen Forschungsfragen. Die essayistische Stellungnahme von Paul-Stefan Roß fordert schließlich zu einer kritischen Reflexion der Indienstnahme des zivilgesellschaftlichen, bürgerschaftlichen Engagements für eine Individualisierung und Privatisierung gesellschaftlicher Problemlagen heraus. Mit dieser deutlichen Positionierung legt der Autor offen, was aus seiner Perspektive zentrale Kriterien für die Bewertung von Projekten der Integrationsbegleitung sind. Die Beiträge in denen methodentriangulativ gearbeitet wurde – dazu zählen die Beiträge von Franziska Niebuhr, von Bernd Schüler (zu Ankommenspatenschaften), von Frank Gesemann, Leif Jannis Höfler und Alexander Seidel, von Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther, Alexander Seidel und Frank Gesemann sowie von Nicole Saile, Julia Schicht und Paul-Stefan Roß – zeigen in besonderer Weise auf, welche vielfältigen Möglichkeiten existieren, ein Programm sowohl mit standardisierten als auch mit qualitativen forschungsmethodischen Zugängen zu evaluieren. Damit wird auch deutlich, wie sehr die jeweils gewählte Methode die Ergebnisse mitkonstruiert: Stehen bei offenen Methoden mehr die Wirkungen im Vordergrund (und können damit z.B. auch nicht-intendierte Prozesse, die mit einem Projekt verbunden sind ‚entdeckt‘ werden), lassen sich mit quantitativen Methoden (und der damit in der Regel verbundenen größeren Stichprobe) eher Aussagen zur Wirksamkeit in Bezug auf ausgewählte Parameter treffen. Werden Akteure sowohl mit offenen Interviewverfahren als auch mit standardisierten Fragebögen befragt, lassen sich die Ergebnisse im Prinzip sehr gut aufeinander beziehen – nicht im Sinne einer gegenseitigen Validierung, wohl aber einer Ergänzung, Differenzierung oder Vertiefung von Erkenntnissen. Da es aus zeitlichen Gründen allerdings oft nicht möglich ist, die Ergebnisse einer standardisierten Befragung dafür zu nutzen, gezielt ‚Eckfälle‘ für vertiefende qualitative Befragungen auszuwählen oder die Ergebnisse qualitativer

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Fallanalysen als Ausgangspunkt für die Fragenbogenkonstruktion zu verwenden, bleiben dies Potenziale einer derartigen Methodentriangulation (vgl. Flick 2011) oft weitgehend ungenutzt. Zudem wird vor allem in dem Beitrag von Franziska Niebuhr reflektiert, dass interne Begleit- und Evaluationsforschung immer mit der Gefahr eines Forschungsbias verbunden ist: Die Verbundenheit mit, ggfs. auch (finanzielle) Abhängigkeit von, einem Projekt stellt einen – ohne Zweifel wichtigen – Standort dar, von dem aus ein Projekt betrachtet werden kann. Der Projektbericht von Katharina Neubert und Cemalettin Özer, in dem aus einer projektinternen Sicht die „Vorteile der Begleitung durch Ehrenamtliche aus Migrantenorganisationen“ herausgearbeitet werden, zeigt in diesem Sinne, dass die Reflexionspotenziale interner Evaluation für die Qualitätsentwicklung genutzt werden können. Wesentlich leichter ist es aber ohne Zweifel für externe Forscher*innen, die verschiedenen Perspektiven verschiedener Stakeholdergruppen in einem Projekt als gleichwertige nebeneinander zu stellen und damit Mehrperspektivität zu gewährleisten. Begleitforschung, die den Prinzipien der Dokumentarischen Methode bzw. der Dokumentarischen Evaluationsforschung folgt – dies ist der Fall bei den Beiträgen von Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther, dem Beitrag von Bastian Walther sowie dem von Liv Berit Koch – macht die Handlungspraxis der Akteure und damit verbunden die Rekonstruktion ihres (impliziten) Erfahrungswissens, ihrer handlungsleitenden Orientierungen, zum zentralen Gegenstand der Forschung. Durch diese „praxeologische Wende“ wird ein Zugang zur „Struktur der Praxis der Erforschten“ (Bohnsack und Nentwig-Gesemann 2020: 15) eröffnet. Damit können sowohl individuell-biografische Entwicklungen in ihrer Soziogenese rekonstruiert werden als auch konjunktive Erfahrungsräume identifiziert (ggfs. typisiert) werden, in denen typische Muster des Denkens, Deutens und Handelns verwurzelt sind. Hier wird auch in den Beiträgen dieses Bandes ein Forschungsdesiderat deutlich: Ein unmittelbarer Zugang zur Praxis von Patenschaften bzw. Mentor*innen-Beziehungen wäre nur möglich, wenn in der Begleitund Evaluationsforschung stärker mit Methoden der teilnehmenden und/oder videobasierten Beobachtung gearbeitet würde. Qualitative Verfahren, die stärker auf das explizite Wissen der befragten Akteure abzielen, wie dies z.B. bei der Anwendung von leitfadengestützten Interviews der Fall ist, ermöglichen eine dezidierte inhaltliche Vorstrukturierung der Erhebungen und sind besonders geeignet, um Expert*innenwissen zu erfragen. So

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wurden in der Studie von Sabine Jungk und Serafina Morrin die Perspektiven von ehrenamtlich Tätigen auf ihre Patenschaften inhaltsanalytisch herausgearbeitet. Hier wird wiederum das Potenzial der Mehrperspektivität deutlich. Würde nicht nur jeweils eine Akteursperspektive auf einen Projektkontext erfasst, sondern diese anderen Perspektiven auf das Projekt gegenübergestellt, könnte ein Gesamtbild der Erfahrungen und Orientierungen gezeichnet werden, welche eine Projektdynamik ausmachen. Die aus einer Online-Befragung gewonnenen Erkenntnisse der Studie von Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie und Lea-Maria Löbel zu den Determinanten von Zufriedenheit in Patenschaftsbeziehungen zeigen die Vorteile einer standardisierten Vorgehensweise auf: Es können große Stichproben realisiert werden und damit Annahmen über eine Grundgesamtheit wie zum Beispiel die Bedeutung verschiedener Einflussfaktoren für die Entstehung von Zufriedenheit in Tandembeziehungen überprüft werden. Für das Verständnis komplexer Interaktionen wäre eine Ergänzung und Vertiefung durch qualitative Forschungsmethoden potenziell bereichernd. Der Beitrag von Susanne Huth, Wiebke Schindel, Jürgen Schumacher und Heike Würfel zum hessischen Integrationslotsenansatz im Landesprogramm „WIR“ ist ein Beispiel dafür, wie die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begleitforschung von den verantwortlichen Akteuren für eine Weiterentwicklung des Programms genutzt werden. Die wissenschaftlich begleitete Erprobung innovativer Lösungen stößt nicht selten aber auch, wie Andrea Cnyrim in ihrem Beitrag zu virtuellem Dolmetschen als Möglichkeit zur Bewältigung der mit Mehrsprachigkeit verbundenen Herausforderungen zeigt, auf Barrieren in der alltäglichen Verwaltungspraxis.

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Behn, Sabine; Khan-Zvornicanin, Meggi; Koch, Liv-Berit; Staub, Mirjam (2013): Synopse „Struktur und Finanzierung von Integrationslots/innen und Stadtteilmüttern“. Berlin: Die Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration Berg, Gieselind; Stolzenberg, Regina (2011): Gesundheitsförderung durch Empowerment von Frauen im Setting Stadtteil - Evaluation des Projekts Stadtteilmütter in Berlin-Kreuzberg. Schlussbericht. Berlin: Charité – Universitätsmedizin Berlin – Berlin School of Public Health BMFSFJ 2012: Erster Engagementbericht: Für eine Kultur der Mitverantwortung. Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland – Schwerpunkt: Engagement von Unternehmen. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMFSFJ: 2017: Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland. Schwerpunktthema: „Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung“. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bohnsack, Ralf (2020): Professionalisierung in praxeologischer Perspektive. Zur Eigenlogik der Praxis in Lehramt, Sozialer Arbeit und Frühpädagogik. Opladen/Toronto: Barbara Budrich Bommes, Michael; Seveker, Marina: Par, Judith; Temborius, Sarah (2010): Evaluierung des Projektes „Integrationslotsen in Niedersachsen“. Zusammenfassung der Ergebnisse. Eine Studie im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration. Osnabrück: Institut für Migrationsforschung (IMIS) Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main [im Original 1972] Cavell, Timothy; DuBois, David; Karcher, Michael; Keller, Thomas; Rhodes, Jean (2009): Strengthening Mentoring Opportunities for At-Risk Youth. Policy Brief, 2. Portland Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin (Hrsg.) (2014): Ein Engagement, das wirkt. 1:1-Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche im Paritätischen Berlin. Konzept, Redaktion und Texte: Bernd Schüler. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.paritaet-berlin.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Aktuelles/2014_10_06_Jugendhilfe_Mentoring_Broschuere.pdf [zuletzt abgerufen am 21.05.2020] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2005): Niedrigschwelliger Zugang zu familienunterstützenden Angeboten in Familien. Handlungsempfehlungen des Deutschen Vereins. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge DuBois, David L.; Holloway, Bruce E.; Valentine, Jeffrey C.; Cooper, Harris (2002): Effectiveness of Mentoring Programs for Youth: A Meta-Analytic Review. In: American Journal of Community Psychology 30(2), 157-197 DuBois, David L.; Portillo, Nelson; Rhodes, Jean; Valentine, Jeffrey C. 2011: How Effective Are Mentoring Programs for Youth? A Systematic Assessment of the Evidence. In: Psychological Science in the Public Interest 12 (2): 57- 91 DuBois, David L.; Karcher, Michael J. (Hrsg.) (2014): Handbook of Youth Mentoring. Second Edition. Thousands Oaks, California: SAGE Erler, Wolfgang; Prytula, Andrea; Grothee, Angela (2018): „Ausbildung und Arbeit für Flüchtlinge? – Ohne die Freiwilligen können Sie das vergessen!“ Über bürgerschaftliches Engagement zur Unterstützung der Arbeitsmarktintegration. Unter Mitarbeit von Christopher Hell. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Flick, Uwe (2011): Triangulation. Eine Einführung. 3. akt. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Frank Gesemann, Iris Nentwig-Gesemann, Alexander Seidel und Bastian Walther

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I Engagement – Teilhabe – Zusammenhalt

Engagement, sozialer Zusammenhalt und die Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen in Städten Frank Gesemann, Leif Jannis Höfler und Alexander Seidel

Abstract Bürgerschaftliches Engagement gilt als ein wesentliches Element für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es fördert die Bildung von Sozialkapital, trägt die Selbstorganisation der Gesellschaft und die Übernahme von Verantwortung und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. In diesem Beitrag werden Ergebnisse aus einem multimethodisch angelegten Forschungsprojekt zum sozialen Zusammenhalt in Städten unter den Bedingungen einer zumindest zeitweise hohen Zuwanderung diskutiert. Den Fallstudien lag ein mehrdimensionales Konzept von gesellschaftlichem Zusammenhalt zugrunde, welches aus den Kernelementen Soziale Beziehungen, Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung besteht. Die Ergebnisse zeigen, dass der soziale Zusammenhalt im Städtevergleich hoch ist, sich aber auf Stadtteilebene insbesondere in Großstädten stark ausdifferenziert. Engagement ist zwar ein wesentliches Element von sozialem Zusammenhalt, aber zugleich ist es verwoben mit der sozialräumlichen Spaltung von Städten, dem zunehmendem Auseinanderfallen in unterschiedliche Lebenswelten und Milieus. Engagement ist daher sowohl der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, als auch Reaktion auf gesellschaftliche Herausforderungen, wie sie sich gegenwärtig etwa am Thema Flucht und Migration manifestieren. Stichworte Engagement, Teilhabe, Vertrauen, Vielfalt, Zusammenhalt

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_2

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Einleitung

Städte und Gemeinden sind angesichts politischer, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen durch eine zunehmende Vielfalt ihrer Bürgerschaft geprägt. Die Kommunen können die hiermit einhergehenden Trends der Digitalisierung und Globalisierung, den Herausforderungen weltweiter Migration und demografischen Wandels, der zunehmenden sprachlichen, kulturellen und religiösen Pluralisierung der Bevölkerung sowie sich verändernden Familien- und Lebensformen kaum beeinflussen. Dennoch sind die Kommunen zunehmend gefordert, das Miteinander und die Vielfalt vor Ort aktiv zu gestalten, unterschiedliche Interessen auszugleichen und Konflikten entgegenzuwirken. Die Sorge um den sozialen Zusammenhalt ist in den letzten Jahren zu einem Kernthema politischer Debatten geworden. Einen besonderen Impuls hat dabei die große Zahl von Asylsuchenden und Flüchtlingen ausgelöst, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind. Der Umgang mit der Flüchtlingszuwanderung ist dabei zu einem Synonym für die vielfältigen desintegrativen Entwicklungstendenzen in unserer Gesellschaft geworden. Die Erfolge rechtspopulistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) an den Wahlurnen scheinen diese Sichtweise ebenso zu bekräftigen wie die Debatten über das Fehlen einer gesamteuropäischen Strategie zur Verteilung von Asylsuchenden und die Abweisung von Flüchtlingen an den Außengrenzen der Europäischen Union. In Vorbereitung auf die nähere Betrachtung und Diskussion der Ergebnisse einer Studie zum sozialen Zusammenhalt in Städten wird zunächst eine Begriffsklärung des Phänomens des Bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland und seine gesellschaftspolitische Einordnung vorgenommen. Darauf aufbauend wird der Zusammenhang von Engagement und Zusammenhalt näher beleuchtet und um ausgewählte Ergebnisse nationaler und internationaler Studien angereichert. Ergebnisse von Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt in Städten zeigen, dass der soziale Zusammenhalt zwischen Städten weniger differenziert ist als der zwischen Stadtteilen. Argumentiert wird in diesem Beitrag, dass Engagement zwar als wesentliches Element von gesellschaftlichem Zusammenhalt konzeptualisiert werden kann, aber zugleich verwoben ist mit zunehmender sozialer Ungleichheit und sozialer Spaltung der Städte.

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Methodisches Vorgehen

Das DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration 1 hat von September 2016 bis August 2018 vier Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt in ost- und westdeutschen Groß- und Mittelstädten durchgeführt. Die Ergebnisse des von der Bertelsmann Stiftung beauftragten und finanzierten Projekts basieren auf einer standardisierten (Telefon-)Befragung von 2.952 Personen, vertiefenden Interviews und Gruppendiskussionen mit etwa 130 Personen, Großgruppenveranstaltungen mit über 300 Schlüsselakteuren des lokalen Zusammenhalts und einer Analyse der Berichterstattung von lokalen Medien in vier Städten. Die kontrastierend angelegten Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt in Dortmund, Rostock, Dessau-Roßlau und Lippstadt geben Hinweise auf Trends und Zusammenhänge, die sich erst durch das intensive Eintauchen in die urbanen Untersuchungsräume zeigen. Sie bieten beispielhafte Einblicke, wie es gegenwärtig um den Zusammenhalt in deutschen Städten steht und wie mit Vielfalt, Zuwanderung und Integration umgegangen wird. Deutlich wird, dass sozialer Zusammenhalt eine multidimensionale Ressource von (Stadt-)Gesellschaften ist, die durch eine diversitätssensible und kinderfreundliche Kommunalpolitik gestaltet werden kann, die Bildung, Gesundheit und Lebenszufriedenheit fördert, das Vertrauen in die lokale Demokratie durch Engagementförderung und Bürgerbeteiligung stärkt, räumlichen Disparitäten und Segregation entgegenwirkt sowie Begegnung und Dialog zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ermöglicht (vgl. Gesemann/Schwarze/Seidel 2019). Das Forschungsprojekt „Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt“ orientierte sich an dem mehrdimensionalen Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts der Bertelsmann Stiftung.2 Sozialer Zusammenhalt wird hierbei definiert als die Qualität des Miteinanders in einem abgegrenzten Gemeinwesen. Zentrale Kennzeichen eines hohen Zusammenhalts sind belastbare soziale Beziehungen, eine

1 Das Forschungsprojekt wurde in Kooperation mit dem IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH und mit Unterstützung des ARGO-Teams durchgeführt. 2 Das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts wurde von einer Bremer Forschungsgruppe unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Boehnke von der Jacobs University in Bremen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung entwickelt und seitdem in einer Reihe von Studien angewandt (vgl. Dragolov et al. 2014).

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emotionale Verbundenheit der Mitglieder mit ihrem Gemeinwesen und eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung. Diese drei Kernbereiche von Zusammenhalt sind, wie die nachfolgende Abbildung veranschaulicht, wiederum in je drei Dimensionen untergliedert: ƒ Der Kernbereich Soziale Beziehungen umfasst die Dimensionen Soziale Netze, Vertrauen in Mitmenschen und Akzeptanz von Diversität. Diese beschreiben die horizontalen Beziehungen zwischen Personen und Gruppen, die Größe und Qualität sozialer Netze, das Ausmaß des Vertrauens in die Mitmenschen sowie die Akzeptanz und Wertschätzung von anderen Lebensweisen und Wertvorstellungen. ƒ Zum Kernbereich Verbundenheit gehören die Dimensionen Identifikation mit dem Gemeinwesen, Vertrauen in Institutionen und Gerechtigkeitsempfinden. Diese beschreiben das Ausmaß der Bindungen der Menschen an das Gemeinwesen, die Zufriedenheit mit der Funktionsfähigkeit und Qualität demokratischer Institutionen sowie das Gefühl, als Mitglied der Gesellschaft gerecht behandelt zu werden. ƒ Der Kernbereich Gemeinwohlorientierung besteht aus den Dimensionen Solidarität und Hilfsbereitschaft, Anerkennung sozialer Regeln sowie gesellschaftliche Teilhabe. Er beschreibt die Einstellungen und Verhaltensweisen von Mitgliedern eines Gemeinwesens zur Unterstützung Anderer und Schwächerer in der Gesellschaft, ihren Umgang mit den sozialen Regeln des Miteinanders und ihrem Engagement für das Gemeinwesen und ihrer Teilhabe an der Gesellschaft. Die insgesamt neun Elemente des sozialen Zusammenhalts lassen sich durch Leitsätze prägnant charakterisieren (siehe Abbildung 1).

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Abb. 1: Bereiche und Dimensionen des sozialen Zusammenhalt Quelle: Bertelsmann Stiftung (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019)

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Bürgerschaftliches Engagement

Der Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements subsumiert eine nahezu unübersichtliche Fülle von freiwilligen, gemeinwohlorientierten und im öffentlichen Raum stattfindenden, meist unbezahlten Tätigkeiten (vgl. Simonson et al. 2017: 28; Deutscher Bundestag 2002: 38ff.). Eine erste Annäherung gelingt über den wesentlich enger gefassten und zunehmend antiquiert anmutenden Begriff des ‚Ehrenamtes‘. Bezeichnet dieser im Sprachgebrauch die ehrenvolle und zumeist langfristige Übernahme eines mit gewissen Rechten und Pflichten versehenen Amtes etwa im Sportverein, bei der Feuerwehr oder als Wahlhelfer*in, umfasst bürgerschaftliches Engagement über diese klassischen Tätigkeitsfelder hinaus eine viel größere Bandbreite: Der/die engagierte Bürger*in betätigt sich nach wie vor über etablierte Institutionen des Gemeinwesens wie Vereine, Schulen und Kitas, Kirchen und soziale Träger, aber das Engagement erstreckt sich ebenso auf weniger formalisierte oder organisierte Bereiche der Zivilgesellschaft und umfasst spontane, kurzzeitige Unterstützungsleistungen in der Nachbarschaft oder auch situatives Helfen zur Bewältigung von Notsituationen wie etwa bei der Aufnahme geflüchteter Menschen oder bei Natur- und Umweltkatastrophen. Spätestens mit dem Einsetzen der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ im Jahr 1999 avancierte die Bezeichnung Bürgerschaftliches Engagement zum begrifflichen Leitbild, das im gesellschaftspolitischen Diskurs die Funktion erfüllte, „altbekannte und neue Formen sozialen und politischen Engagements zu integrieren“ (Braun 2001: 102). Diese diskursive Positionierung geschah nicht zufällig, sondern fiel in Deutschland in einen Zeitraum fortlaufender Liberalisierungen, in dem nicht zuletzt unter der ersten rot-grünen Bundesregierung die Zukunft des Sozialstaats unter anderem in Hinblick auf eine veränderte Verantwortungsteilung im Verhältnis zwischen Staat und Bürger*innen bearbeitet wurde (vgl. ebd.: 83ff.). Der hohe (politische) Stellenwert des Bürgerschaftlichen Engagements spiegelt sich mitunter darin, dass es seit der Jahrtausendwende Gegenstand groß angelegter, auf Bundesministerialebene beauftragter Untersuchungen und Studien wie den Freiwilligensurveys und Engagementberichten ist, die neben weiterem Erkenntnisgewinn zum Phänomen des Bürgerschaftlichen Engagements und seinen unterschiedlichen Ausprägungen wiederum Auswirkungen auf die finanzielle Förde-

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rung und Bedeutung für die symbolische Würdigung haben. Unter diesen Vorzeichen wird Bürgerschaftliches Engagement systematisch vermessen und in Zahlen und Statistiken übersetzt: 30,9 Millionen Menschen und damit 43,6 Prozent der Wohnbevölkerung Deutschlands waren laut Erhebung des Deutschen Freiwilligensurvey 2014 freiwillig engagiert – Tendenz steigend (vgl. Simonson et al. 2017: 21). In diesen Zahlen nicht berücksichtigt sind Menschen, die im sozialen Nahraum Personen aus der Nachbarschaft oder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis unterstützen. Hierzu werden ‚informelle Hilfen‘ wie beispielsweise Einkäufe, Garten- oder Reparaturarbeiten, die Betreuung von Kindern und die Pflege hilfebedürftiger Personen gezählt. Freiwilliges Engagement und informelle Unterstützung sind einander ergänzende Tätigkeiten, da Personen, die im sozialen Nahraum aktiv sind, häufig auch freiwillig engagiert sind. Allerdings ist ein Fünftel der Wohnbevölkerung (19,7 %) ausschließlich im sozialen Nahraum unterstützend tätig, ein Beitrag, der oft unterschätzt wird: „Der Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft lassen sich nicht allein am Ausmaß und Umfang des freiwilligen Engagements festmachen, sondern können auch daran abgelesen werden, wie häufig informelle Hilfen für andere im sozialen Nahraum geleistet werden“ (Vogel, Tesch-Römer und Simonson 2017: 286). In diesen eindrucksvollen Zahlen spiegeln sich gleichzeitig die sozialen Verhältnisse der deutschen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und zahlreichen Ungleichheiten wider. Die gesellschaftspolitisch entscheidende Frage, wer sich für wen engagiert, verweist beispielsweise im Deutschen Freiwilligensurvey 2014 auf Disparitäten bei den sozioökonomischen Ressourcen der Menschen, auf Bildungsstatus und finanzielle Lage, aber auch auf Werthaltungen und eine gute soziale Integration. Reflektiert werden zudem die Bedeutung organisationaler, regionaler und kultureller Rahmenbedingungen, Unterschiede zwischen Stadt und Land oder Ost- und Westdeutschland sowie nach vorhandenem oder nicht vorhandenem Migrationshintergrund (vgl. Simonson et al. 2017: 21ff.).

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Bürgerschaftliches Engagement und Zusammenhalt

Der Deutsche Bundestag postulierte Ende der 1990er Jahre bürgerschaftliches Engagement als „unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft“ und erteilte der Enquete-Kommission ,Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements‘ den Auftrag, „konkrete politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland zu erarbeiten“ (Deutscher Bundestag 2002: 2). Zu den Leitideen der Enquete-Kommission gehörte, dass bürgerschaftliches Engagement wichtige Funktionen in einer Bürgergesellschaft erfüllt: „Es schafft Sozialkapital und gesellschaftlichen Zusammenhalt, ermöglicht Teilhabe und trägt gesellschaftliche Selbstorganisation“ (ebd.: 38). Bürgerschaftliches Engagement verfüge über „ein Kritik- und Innovationspotenzial“, stoße „Lernprozesse“ an und befinde sich selbst „in ständigem Wandel“ (ebd.). Nach Überzeugung der Enquete-Kommission kommt dem bürgerschaftlichen Engagement somit auch besondere Bedeutung für die Bewältigung gesellschaftlicher Zukunftsaufgaben zu: „für die Reaktivierung des politischen Gemeinwesens als Bürgergesellschaft, für die Aufwertung von Tätigkeiten neben und jenseits der Erwerbsarbeit, für die Reform des Sozialstaats“ (ebd.: 56f.). Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger sei zudem „in einem noch fundamentaleren Sinne unerlässlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Zukunft der Gesellschaft“: In einer zunehmend diversen Gesellschaft ermöglicht es die „Ausbildung und Stabilisierung einer Kooperationskultur, die bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen doch die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Gruppierungen zum gegenseitigen Vorteil im Blick behält“. Auf dieser Basis entstehen und verfestigen sich – über soziale Milieus und Bevölkerungsgruppen hinweg – persönliche Beziehungen, die wiederum „ein maßgeblicher Bestandteil sozialen Kapitals und damit Garanten wirtschaftlicher Prosperität“ sind (ebd.: 57). Soziales Kapital als Summe der sozialen Kontakte und des Vertrauens sowohl in Mitmenschen als auch in Institutionen entstehe durch die Kooperation in den „Netzwerken des Bürgerengagements“. Mit ihren „vielfältigen Aktivitäten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ würden die Bürgerinnen und Bürger „Tag für Tag“ die Bindekräfte der Gesellschaft erneuen: „Sie sind der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Sie schaffen eine Atmosphäre der Solidarität, der Zugehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens“

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(ebd.: 59). Der Bericht der Enquete-Kommission bildet innerhalb der deutschen Debatte zum bürgerschaftlichen Engagement einen wichtigen Referenzpunkt, sowohl in Bezug auf die erstmals in dieser Größenordnung gewonnenen Erkenntnisse zu Umfang und Reichweite der deutschen Engagementlandschaft, als auch in Hinblick auf seine gesellschaftspolitische Rahmung. Als international einflussreicher Beitrag zum Zusammenhang von Engagement und Zusammenhalt gilt die Studie „Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community“ des US-Amerikanischen Politologen Robert D. Putnam. Um die Jahrtausendwende beschrieb er das Teamsport-ersetzende Phänomen des individualisierten Einzelbowlings und damit verbunden das schwindende soziale Kapital der Spielenden als Sinnbild für die kulturpessimistische Diagnose eines in den USA bereits weit vorangeschrittenen Gemeinschaftsverlusts (vgl. Putnam 1995). Laut Putnams Analyse bildet sich Sozialkapital insbesondere über persönliche und solidargemeinschaftliche Bindungen und Engagement in Vereinen und ähnlichen Assoziationen und wirkt von diesem Entstehungszusammenhängen aus weiter in die Gesellschaft hinein. Der Ausweg von der zunehmenden Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts liegt demnach in der Stärkung der ,community‘ (vgl. Putnam 2000). Wenn das Ausmaß zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und der Anteil freiwillig Engagierter als Indikatoren für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft betrachtet werden können (vgl. Vogel, Hagen und Tesch-Römer 2017: 92), dann stellt sich die Frage nach den sozialen Bedingungen, die Engagement fördern. Freiwilliges Engagement und soziale Integration sind dabei, wie die Ergebnisse des Freiwilligensurveys 2014 zeigen, in vielfältiger Weise miteinander verwoben. Menschen, die als gut integriert gelten, da sie über belastbare soziale Netze verfügen, auf die Unterstützung durch Personen außerhalb des eigenen Haushalts zählen können und über ein hohes Vertrauen in andere Menschen verfügen, sind im Durchschnitt häufiger engagiert als Menschen, die weniger gut integriert sind (vgl. Simonson et al 2017: 25f). In Wohnvierteln mit einer hohen Engagementrate zeichnet sich die Nachbarschaft durch großen Zusammenhalt aus. Dieser statistische Zusammenhang gilt über die individuellen Einflüsse der sozialen Integration der Bewohnerinnen und Bewohner, ihres Alters und Geschlechts sowie ihren persönlichen Ressourcen und Einstellungen hinaus. Unabhängig davon, über welche Voraussetzungen ein

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Mensch verfügt und wie gut er sozial eingebunden ist, existiert eine höhere Wahrscheinlichkeit für individuelles Engagement, wenn das Wohnumfeld durch einen hohen sozialen Zusammenhalt gekennzeichnet ist. Im Umkehrschluss gilt allerdings, dass in einer Nachbarschaft mit wenig ausgeprägtem Zusammenhalt die Wahrscheinlichkeit für ein Engagement sinkt, und zwar unabhängig von den individuellen Voraussetzungen. Die Qualität des Miteinanders in der Wohnumgebung kann ein individuelles Engagement also sowohl befördern, als auch diesem entgegenstehen (vgl. Huxhold und Hameister 2017: 515ff.). Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext die Bedeutung von Migrationsprozessen und Zuwanderung für den Zusammenhalt im Gemeinwesen. Dafür lohnt es, noch einmal zu Putnam und den Entwicklungen in den USA zurückzukommen. In einem jüngeren, weit rezipierten und kontrovers diskutierten Artikel argumentiert er, dass Einwanderung und die dadurch vergrößerte Heterogenität und ethnische Diversität das soziale Kapital der Bevölkerung zunächst hemmen und eine große Herausforderung für die Solidarität darstellen (vgl. Putnam 2007: 138). Eine der negativen Auswirkungen sei die sinkende Bereitschaft für zivilgesellschaftliches Engagement, da Mitglieder ethnisch diverser Gemeinschaften zunächst dazu tendieren, sich in das Private zurückzuziehen (vgl. ebd.: 150f.). Daneben gibt Putnam zu bedenken, dass erfolgreiche Einwanderungsgesellschaften neue Formen der Solidarität schaffen und die negativen Effekte der vergrößerten Diversität abdämpfen durch neue und allumfassendere Identitätskonstruktionen. Die zentrale Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt zunehmend vielfältiger Gesellschaften liegt laut Putnam dementsprechend in der Schaffung eines breiteren und inklusiveren Gemeinschaftsgefühls (vgl. ebd.: 138). Auch in Deutschland wurden die Auswirkungen wachsender ethnischer, kultureller und religiöser Vielfalt auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft in verschiedenen Studien und mit teils unterschiedlichen Ergebnissen untersucht. Zu den zentralen Ergebnissen eines Forschungsprojekts am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gehört, dass ethnische Vielfalt zwar Vertrauen und pro-soziales Verhalten in der Nachbarschaft beeinträchtigt, aber auch Menschen dazu aktivieren kann, der mangelnden Bereitstellung öffentlicher Güter organisiert entgegenzutreten. Die festgestellten Unterschiede zwischen den kognitiven Einstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Befragten deuten in diesem Forschungsprojekt darauf hin, „dass Vertrauen und Partizipation tatsächlich unabhängige Di-

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mensionen des Sozialkapitals sind, die auf unterschiedliche Weise sowohl mit kultureller Diversität als auch mit sozialer Ungleichheit und Beteiligung zusammenhängen“ (Koopmans et al. 2011: 213f.). Eine Studie zur Vielfalt in 50 Wohnvierteln westdeutscher Groß- und Mittelstädte, die im Rahmen des Projekts Diversity and Contact (DivCon) untersucht wurden, kommt dagegen zum Ergebnis, dass sich migrantisch geprägte Nachbarschaften nicht durch ein geringeres Maß gegenseitigen Vertrauens, als zentraler Indikator für den Zusammenhalt der Gesellschaft, hervorheben, sondern dass gesellschaftliche Vielfalt im Wohnviertel eine weithin akzeptierte und alltägliche städtische Normalität darstellt. Anstatt dass sich die Menschen zurückziehen, zeigt die Studie auf, dass die Kontakte in den Stadtteilen mit größerer Diversität am häufigsten sind (vgl. Schönwälder et al. 2016: 191ff.; siehe auch Schönwälder/Petermann 2018: 362). Die Studien der Bertelsmann Stiftung zum sozialen Zusammenhalt in Deutschland, die auf dem bereits weiter oben vorgestellten Konzept von Zusammenhalt beruhen, kommen zu dem Ergebnis, dass die Stärke des Zusammenhalts in Bundesländern und Regionen zusammenhängt mit sozioökonomischen Faktoren (Wohlstandsniveau, Wirtschaftslage, Arbeitslosenquote, Armutsgefährdung) und soziodemografischen Merkmalen der Bevölkerung (Altersstruktur, Bildungsgrad und kulturelles Kapital), aber auch mit Haltungen und Werten der Menschen wie Empathie, Solidarität und Offenheit. Zwischen dem sozialen Zusammenhalt und dem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund besteht dagegen kein Zusammenhang (vgl. zum Beispiel Arant, Dragolov und Boehnke 2017: 60ff.). Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum sozialen Zusammenhalt in Städten vorgestellt, in dem die Qualität des Miteinanders vor Ort in vier ost- und westdeutschen Kommunen untersucht wurde. Im Fokus standen dabei im Erhebungszeitraum von 2016 bis 2018 die verschiedenen Dimensionen von Zusammenhalt, insbesondere die Akzeptanz von Vielfalt, sowie die Auswirkungen der hohen Zuwanderung von Geflüchteten auf das Miteinander vor Ort. Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag ist der Befund, dass der Zusammenhalt in den untersuchten Städten zwar vergleichsweise hoch ist, sich aber auf Stadtteileben stark ausdifferenziert. Akzeptanz von Vielfalt und Engagement für Geflüchtete sind ebenfalls hoch, aber beziehen sich nicht in gleicher Weise auf alle Bevölkerungsgruppen und Sozialräume. Es zeigt sich eine problematische Situation, in der Engagement zwar zum Zusammenhalt beiträgt, gleichzeitig aber die

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sozioökomische und sozialräumliche Spaltung von Städten, das Auseinanderfallen in unterschiedliche Milieus den Zusammenhalt gefährden.

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Empirische Ergebnisse zum Zusammenhang von Engagement und sozialem Zusammenhalt

Zusammenhalt wird in der eigenen Stadt, im Ortsteil und in der Nachbarschaft gelebt und erfahren. Das belegen die Ergebnisse unserer Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt in mehrfacher Hinsicht: Erstens zeigt sich eine große Diskrepanz zwischen der Einschätzung des Zusammenhalts in Deutschland und der (besseren) Bewertung des Miteinanders im eigenen Ortsteil. Das subjektive Gerechtigkeitsempfinden der Befragten ist zweitens deutlich positiver als die Wahrnehmung der allgemeinen Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland. Drittens zeigen die Menschen in der Tendenz mehr Vertrauen in lokale Politik und Verwaltung als in Parteien und Politiker im Allgemeinen oder die Bundes- und Landesregierung. Ein ähnliches Bild zeigt sich viertens bei lokalen bzw. regionalen Medien, die im Schnitt besser bewertet werden als die überregionalen Medien. Fünftens fühlen sich die Befragten in hohem Maße mit ihrer Stadt verbunden, wobei sich allerdings große Unterschiede zwischen den untersuchten Städten und Stadtteilen zeigen. Die Ergebnisse unserer Fallstudien zeigen, dass der soziale Zusammenhalt hoch und im Städtevergleich nur wenig voneinander abweicht. Die Unterschiede zwischen den vier Untersuchungsorten fallen beim Gesamtindex Gesellschaftlicher Zusammenhalt3 überraschend gering aus. Sie entsprechen weder den vermuteten Unterschieden zwischen Groß- und Mittelstädten noch dem erwartbaren West-Ost-Gefälle. Der soziale Zusammenhalt ist weder in den Mittelstädten größer als in den Großstädten noch in den ostdeutschen Kommunen geringer als in den westdeutschen Kommunen. Die Ergebnisse belegen, dass der soziale Zusammenhalt vielerorts – auch vor dem Hintergrund der sehr hohen Zuwanderung von Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016 – nicht nur vergleichsweise hoch, sondern auch belastbarer und robuster ist als manche besorgte und skeptische Stimmen vermuten lassen. Die Akzeptanz von Diversität in den untersuchten Städten 3 Der Gesamtindex Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird als Mittelwert aller neun Dimensionswerte auf einer Skala von 0 bis 100 berechnet.

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ist mehrheitlich hoch und die Zuwanderung von Geflüchteten wird überwiegend positiv bewertet. Die Ergebnisse unserer Fallstudien zeigen aber auch, wie sehr sich sozialer Zusammenhalt auf Stadtteilebene ausdifferenziert. Sehr viel deutlicher als die Unterschiede zwischen den Städten sind die Unterschiede zwischen den untersuchten Stadtteilen ausgeprägt. Große Disparitäten finden sich vor allem in den Großstädten, wo sich die Werte für den sozialen Zusammenhalt und seine Dimensionen entlang demografischer und sozioökonomischer Bedingungen sozialräumlich ausdifferenzieren. Die Unterschiede innerhalb der Mittelstädte fallen dagegen deutlich geringer aus. Bemerkenswert ist, dass der soziale Zusammenhalt in den Großstädten in den inneren Stadtteilen besonders hoch ist, während er in den Mittelstädten in den äußeren, eher ländlich geprägten Bereichen stärker als in den Kernstadtbereichen ausgeprägt ist (ebd.: 98ff.). 5.1 Bereiche und Dimensionen des sozialen Zusammenhalts Die Muster des lokalen Zusammenhalts unterscheiden sich im Hinblick auf die Ausprägung der verschiedenen Bereiche und Dimensionen. Zwischen den neun einzelnen Dimensionen, die zur Messung des sozialen Zusammenhalts gebildet wurden, zeigen sich große Unterschiede: Den höchsten Wert weist die Dimension Identifikation auf. Es folgen Solidarität und Hilfsbereitschaft, Akzeptanz von Diversität, Anerkennung sozialer Regeln und Gerechtigkeitsempfinden. Die Dimensionen Soziale Netze und Vertrauen in die Mitmenschen liegen im unteren Mittelfeld. Mit Abstand am niedrigsten sind die Werte in den Dimensionen Vertrauen in Institutionen und Gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 63). Die unterschiedliche Ausprägung der Werte in den einzelnen Dimensionen verweist auf Potenziale und Herausforderungen von sozialem Zusammenhalt, die auf kommunaler Ebene erschlossen bzw. bewältigt werden müssen (siehe auch Abbildung 2). Besonders deutlich ausgeprägt sind die Differenzen zwischen den Untersuchungsorten vor allem in den Dimensionen Soziale Netze, Gerechtigkeitsempfinden und Akzeptanz von Diversität. Mit Ausnahme von zwei Dimensionen finden sich allerdings keine Unterschiede, bei denen eindeutige Unterschiede zwischen Groß- und Mittelstädten oder zwischen Ost- und Westdeutschland sichtbar werden: Soziale Netze sind in westdeutschen Kommunen stärker als in ostdeutschen Kommunen ausgeprägt und die Akzeptanz von Diversität ist in Großstädten höher als in Mittelstädten (ebd.: 62 f.).

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Soziale Netze Gesellschaftliche Teilhabe

Anerkennung sozialer Regeln

90 80 70 60 50 40 30 20

Solidarität und Hilfsbereitschaft

Gerechtigkeitsempfinden

Vertrauen in die Mitmenschen

Akzeptanz von Diversität

Identifikation

Vertrauen in Institutionen

Abb. 2: Dimensionen des sozialen Zusammenhalts in Städten (DESI 2020). Im Folgenden werden die beiden Dimensionen Vertrauen in die Mitmenschen, Akzeptanz von Diversität und Gesellschaftliche Teilhabe noch einmal vertiefend betrachtet, da diese für den sozialen Zusammenhalt von besonderer Bedeutung sind. 5.2 Vertrauen in die Mitmenschen Dem Vertrauen in die Mitmenschen wird in der Debatte über soziales Kapital, bürgerschaftliches Engagement und gesellschaftliche Integration eine besondere Bedeutung zugeschrieben (vgl. Hartmann/Offe 2001; Zmerli 2013). Vertrauen in die Mitmenschen wird als zivilgesellschaftliches Phänomen betrachtet, das verbundene, engagierte, tolerante und prosperierende und demokratische Gemeinschaften charakterisiert. Es wird zudem als wichtige Grundlage von Engagement und Hilfsbereitschaft, von gegenseitiger Kooperation und solidarischem Handeln beschrieben: „Soziales Vertrauen gilt als Kitt, der Gesellschaften zusammenhält:

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es stärkt individuelle und gesellschaftliche Kooperationsbereitschaft, stabilisiert das demokratische Gemeinwesen und dessen Institutionen, fördert wirtschaftlichen Erfolg, erhöht die Lebenszufriedenheit und stärkt die eigenen Gesundheit“ (Zmerli 2013: 152). Fragen zum Vertrauen in andere Menschen allgemein oder in bestimmte Gruppen gehören zu den Standarditems vieler Bevölkerungsumfragen. In den von uns untersuchten Städten zeigt etwa die Hälfte der Befragten (51 %) ein sehr hohes oder hohes Vertrauen in die Mitmenschen. Ein (sehr) geringes Vertrauen hat nur etwa jeder achte Befragte (13 %). Allerdings wird die aktive Hilfsbereitschaft der Menschen deutlich niedriger als das eher abstrakte Vertrauen in Menschen bewertet: Vier von zehn Befragten (40 %) stufen die Hilfsbereitschaft sehr hoch oder hoch ein, wiederum etwa jeder achte Befragte (13 %) bewertet sie als niedrig oder sehr niedrig. Bei diesen beiden Items zeigen sich große Unterschiede insbesondere zwischen den untersuchten Stadtteilen. Das bestätigt Forschungsergebnisse, die einen vertrauensfördenden Einfluss des lokalen Umfelds beobachten, auf die insbesondere die Effekte der kommunalen Verbundenheit, des freiwilligen Engagements und informeller nachbarschaftlicher Kontakte hinweisen (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 71). Weitere Konturen bekommen diese Zusammenhänge bei der Betrachtung jener Ergebnisse unserer Studie, die eine enge Abhängigkeit zwischen dem Vertrauen in die Mitmenschen und der Akzeptanz von Vielfalt herausstellen. So gilt für die Befragten mit einem hohen Vertrauen in ihre Mitmenschen, dass sie sich durch die wahrgenommene Vielfalt eher bereichert als bedroht fühlen und dass sie mehrheitlich eine (eher) positive Einstellung (72 Prozent) gegenüber einer vielfältigen und bunten Willkommensgesellschaft und ebenso gegenüber Muslimen (66 Prozent) aufweisen. 5.3 Akzeptanz von Diversität Akzeptanz und Umgang mit Vielfalt sind von zentraler Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt von Städten, die durch Globalisierung und wirtschaftlichen Strukturwandel, internationale Wanderungsbewegungen und eine zunehmende Heterogenität der Bevölkerung sowie eine Vielfalt von Lebenslagen und -entwürfen geprägt sind (vgl. Arant et al. 2019). Kommunen können diese Entwicklungen kaum beeinflussen, aber sie können das Miteinander und die Vielfalt vor Ort aktiv gestalten. Es wird künftig vor allem darum gehen, Bürgerinnen und Bürger in einer

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zunehmend vernetzten Welt zu befähigen, „mit Menschen aus verschiedenen Kulturen umzugehen und innerhalb sozial heterogener Gruppen zu interagieren“ (OECD 2005: 7),4 Begegnungen und Dialoge zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Lebensformen und Milieus zu ermöglichen, Chancengleichheit und Teilhabe für Angehörige aller Bevölkerungsgruppen anzustreben sowie kommunale Angebote und Leistungen diversitätssensibel auszurichten. Die Akzeptanz von Vielfalt in den untersuchten Städten ist sehr hoch, aber es zeigt sich eine Polarisierung des Meinungsklimas – mit Unterschieden zwischen Groß- und Mittelstädten. Während die höchsten Werte in den Großstädten erreicht werden, sind die Werte in den Mittelstädten deutlich niedriger. Eine Mehrheit der Befragten in den vier untersuchten Städten empfindet die zunehmende Vielfalt für das Leben in Deutschland als Bereicherung und freut sich, dass Deutschland im Zuge einer Willkommenskultur „vielfältiger und bunter“ wird (55 % bzw. 57 %). Während die Akzeptanz von Diversität nach wie vor groß ist, fühlt sich eine Minderheit von knapp einem Fünftel der Befragten von der zunehmenden Vielfalt eher bedroht. Zudem zeigen sich einige Ambivalenzen und Spannungsfelder, die zur Diskussion und vertiefenden Untersuchungen anregen. ƒ Zuwanderung und Vielfalt: Zwischen der Wertschätzung von Vielfalt und der Akzeptanz von Zuwanderung gibt es einen deutlichen Unterschied: Während sich 57 Prozent der Befragten freuen, „dass Deutschland noch vielfältiger und bunter wird“, gefällt es „nur“ 47 Prozent der Befragten, „dass sich so viele Migranten für Deutschland entscheiden“. Diese Differenz zeigt, dass das eher abstrakte Bild einer vielfältigen Gesellschaft positiver besetzt ist als die Vorstellung von konkreter Zuwanderung. ƒ Ambivalenzen im Integrationsverständnis der Gesellschaft: Der Aussage „Ich finde es gut, wenn Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, ihre kulturellen Wurzeln beibehalten“ bewerten nur knapp die Hälfte aller Befragten als (eher) zutreffend, 20 Prozent lehnen sie (eher) ab. 80 Prozent der Befragten erwarten eine Anpassung der Zugewanderten „an die in Deutschland geltenden Normen und Werte“, wozu von einem Teil der Befragten auch kulturelle Anpassungsleistungen gezählt werden. 4 Das „Interagieren in heterogenen Gruppen“ gehört zu den drei „Schlüsselkompetenzen“, die laut OECD für „ein erfolgreiches Leben und eine gut funktionierende Gesellschaft“ erforderlich sind (OECD 2005: 6).

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ƒ Fremdheitsgefühle gegenüber Muslimen: Knapp ein Viertel der Befragten fühlt sich „durch die vielen Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“. Über das Eingeständnis von Fremdheitsgefühlen deutlich hinaus geht die Handlungsaufforderung an die Politik „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“. Dieser abweisenden und islamfeindlichen Aussage stimmen 15 Prozent der Befragten zu. ƒ Polarisierung des Meinungsklimas: Gefährdungen der Akzeptanz von Vielfalt zeigen sich vor allem bei den abwehrenden Einstellungen zu der Aussage „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland“, der 31 Prozent aller Befragten, darunter auch viele mit Migrationshintergrund, zustimmen. Die radikale Handlungsaufforderung „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat schicken“ befürworten 17 Prozent der Befragten. Differenziert nach soziodemografischen Merkmalen zeigt sich eine hohe Abhängigkeit der Akzeptanz von Diversität vom Alter der Befragten. Unter jüngeren Menschen steigen die Werte für Akzeptanz in allen Einzelfragen an; insbesondere in der jüngsten Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen liegen diese deutlich höher. Auch das Bildungsniveau hat in dieser Hinsicht einen hohen Einfluss, während sich zwischen Männern und Frauen sowie Befragten mit und ohne Migrationshintergrund nur geringe Unterschiede offenbaren. Zudem zeigen sich besondere Unterschiede in der Akzeptanz von Vielfalt zwischen den 19 untersuchten Stadtteilen, die sich auf fast 30 Prozentpunkte belaufen. Diese sozialräumlichen Unterschiede zeigen sich auch beim Engagement für Geflüchtete, das zumeist in den Innenstädten und inneren Stadtbereichen höher ist als in den äußeren Stadtteilen und Ortschaften. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass mit hohem sozialem Zusammenhalt ein deutliches größeres Engagement für Geflüchtete in der Kommune einher geht (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 122).5 Allerdings wurde in allen vier Untersuchungsstädten über eine starke Unterstützung von Geflüchteten und ein eindrucksvolles freiwilliges Engagement in der

5 Ein (negativer) Zusammenhang zeigt sich übrigens auch bei Anfeindungen von Engagierten und dem (niedrigeren) Zusammenhalt vor Ort: In Stadtteilen, in denen das Miteinander der Menschen stärker durch Misstrauen geprägt ist, fällt die Akzeptanz von Geflüchteten geringer aus und es kommt häufiger zu Anfeindungen von Engagierten (vgl. Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 138).

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Bevölkerung berichtet, was sich auch in den Ergebnissen der quantitativen Befragung widerspiegelt. Fast zwei Drittel (63 %) der Befragten gaben im Frühjahr 2017 an, sich in den vorangegangenen zwei Jahren in irgendeiner Form (außer Geld- und Sachspenden) für Geflüchtete eingesetzt zu haben. Die Aufnahme und Integration von Geflüchteten hat zudem das Miteinander im Ortsteil, das von etwa zwei Dritteln der Befragten in den vier Städten als sehr freundlich oder eher freundlich bewertet wird, weniger beeinflusst als häufig angenommen wird. Rund drei Viertel der Befragten geben an, dass sich das Miteinander im Ortsteil weder verbessert noch verschlechtert hat. Eine Mehrheit der Befragten in den vier Städten bewertet die Zuwanderung von Geflüchteten positiv. 54 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass ihre Stadt durch die Geflüchteten zu einem „besseren Ort zum Leben“ wird und 64 Prozent teilen die Überzeugung, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen „gut für die deutsche Wirtschaft“ ist. Diese positiven Einschätzungen korrespondieren mit einer großen Offenheit für die Unterbringung von Geflüchteten im eigenen Ortsteil, einem starken Engagement für Geflüchtete und einer hohen Zufriedenheit mit der kommunalen Flüchtlings- und Integrationspolitik. Positive Einschätzungen zu den Geflüchteten zugeschriebenen Wirkungen finden sich dabei häufiger in den Großstädten und seltener in den Mittelstädten. Etwa ein Viertel der Befragten vertritt bei diesen Fragen eine gegenteilige Auffassung. Zu der hohen Akzeptanz von Geflüchteten dürften – neben dem breiten zivilgesellschaftlichen Engagement und einer aktiven Kommunalpolitik – auch persönliche Erfahrungen beigetragen haben. Mehr als drei Viertel der Befragten in den vier Untersuchungsstädten berichten über eigene Erfahrungen mit Geflüchteten und etwas mehr als zwei Drittel bewerten diese überwiegend positiv. Die Häufigkeit von Kontakten zu Geflüchteten und deren Bewertung stehen allerdings in Zusammenhang mit individuellen Einstellungsmustern gegenüber Vielfalt und Einwanderung sowie allgemeinen Erfahrungen im Umgang mit Migrantinnen und Migranten. Befragte, die in ihrem persönlichen oder beruflichen Umfeld regelmäßige Kontakte zu Menschen mit Migrationshintergrund haben, zeigen häufiger eine positive Haltung zu Vielfalt und Zuwanderung, sind offener für Kontakte zu Geflüchteten und bewerten diese Erfahrungen tendenziell auch positiver. Diese Momentaufnahme im Frühjahr 2017 erlaubt zwar keine Aussage über die Nachhaltigkeit der Wirkungen von Kontakten angesichts veränderter gesellschaft-

Engagement und sozialer Zusammenhalt

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licher Stimmungen und Problemlagen. Sie kann aber als Hinweis für die Bedeutung der Kontakthypothese interpretiert werden, die auf den amerikanischen Wissenschaftler Gordon Allport und seinen Klassiker „Die Natur des Vorurteils“ (1954) zurückgeht. Die toleranzfördernden Wirkungen von Kontakten sind seit Allport weitgehend bekannt. Neuere Forschungsergebnisse und Auswertungen der weltweit verfügbaren Untersuchungen (Meta-Analysen) veranschaulichen, dass Kontakte zu einem Abbau von Vorurteilen führen, weil sie Ängste reduzieren und das Verständnis für die Mitglieder der Fremdgruppe fördern. Eine Zunahme des Wissens über die fremde Gruppe ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Weiterführende Erklärungen gehen davon aus, dass Kontakte die Haltung zum Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft verändern, durch eine Relativierung der eigenen kulturellen Standards und Gewohnheiten („Deprovinzialisierung“) und die Entwicklung der Auffassung, dass Vielfältigkeit für das Funktionieren und den Erfolg von Gruppen nützlich sein kann („Diversitätsüberzeugung“) (Pettigrew/Tropp 2011; Asbrock et al. 2012). Starke Unterschiede zeigen sich bei unseren Ergebnissen auch im Vergleich der Bildungsgruppen: Mit zunehmendem Bildungsniveau steigen sowohl die Häufigkeit von Kontakterfahrungen als auch der Anteil derjenigen, die diese Kontakte als positiv bewerten: 30 Prozent in der niedrigsten, aber nur 17 Prozent in der höchsten Bildungsgruppe haben noch keine Kontakterfahrungen gemacht. 57 Prozent der Befragten mit hohem Bildungsstatus, aber nur 35 Prozent der Befragten mit niedrigem Bildungsstatus berichten über sehr positive oder positive Erfahrungen. Die Anteile derjenigen, die über eher negative oder sehr negative Erfahrungen berichten, bleiben zwar in allen Gruppen mit Werten von unter zehn Prozent relativ gering, verdoppeln sich aber in der niedrigsten Bildungsgruppe mit acht Prozent gegenüber der höchsten Bildungsgruppe mit vier Prozent. Personen, die generell regelmäßig Kontakte zu Menschen mit Migrationshintergrund haben, bewerten Kontakte mit Geflüchteten häufiger positiv als Menschen mit wenigen oder keinen Kontakten. Die Häufigkeit von Kontakten zu Geflüchteten, aber auch deren Bewertung stehen in Zusammenhang mit individuellen Einstellungen zu Migration und Vielfalt sowie allgemeinen Erfahrungen im Umgang mit Zugewanderten. Befragte, die in ihrem persönlichen oder beruflichen Umfeld regelmäßige Kontakte zu Menschen

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Frank Gesemann, Leif Jannis Höfler und Alexander Seidel

mit Migrationshintergrund haben, zeigen häufiger eine positive Haltung zu Vielfalt und Zuwanderung, sind offener für Kontakte zu Geflüchteten und bewerten diese Erfahrungen tendenziell auch positiver. Die subjektiv vor Ort wahrgenommene Vielfalt in Bezug auf Herkunft, Zuwanderung, Kultur oder Religion scheint in keinem Zusammenhang zum sozialen Zusammenhalt zu stehen: Sozialer Zusammenhalt wird durch wahrnehmbare Zuwanderung und kulturelle Vielfalt auf Ebene der Stadtbereiche also nicht geschwächt, aber auch nicht gestärkt. Das Schüren von Ängsten und die Heraufbeschwörung von sozialen Differenzen, wie sie als Strategie insbesondere von rechtspopulistischen Milieus verfolgt wird, erweist sich vor diesem Hintergrund offenbar nur als begrenzt wirkmächtig. Wahrnehmbare soziale und ökonomische Unterschiede korrelieren dagegen mit dem Zusammenhalt – in Stadtteilen mit stärkeren sozialen und ökonomischen Ungleichheiten ist also auch der Zusammenhalt vor Ort niedriger. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass wir keine statistische Signifikanz für diese Unterschiede nachweisen können und nur einige wenige abweichende Werte die Ausrichtung der Trendlinie stark beeinflussen, was der geringen Fallzahl geschuldet ist, aber auch den Stellenwert lokaler Bedingungen unterstreicht (vgl. Abbildung 3).6

Abb. 3: Zusammenhang zwischen den Werten für Zusammenhalt und der Wahrnehmung von Verschiedenheit (Gesamtindex Zusammenhalt vor Ort und die

6

Dieser Befund korrespondiert mit den Ergebnissen des Vielfaltsbarometers 2019 der Robert Bosch Stiftung, dass in der Nachbarschaft ethnische Vielfalt mehr akzeptiert wird als sozioökonomische Schwäche (vgl. Arant et al. 2019).

Engagement und sozialer Zusammenhalt

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Wahrnehmung von Verschiedenheit in Bezug auf (1) Herkunft/Zuwanderung/Kultur/Religion und (2) soziale/ökonomische Lage) Farblich markiert sind die einzelnen Stadtbereiche von: ● Lippstadt (1: Stadtkern, 2: Kernstadt, 3: Äußere Stadt), ● Dortmund (4: Innenstadt, 5: Brackel, 6: Aplerbeck, 7: Hörde, 8: Stadtbezirke im Norden, 9: Stadtbezirke im Südwesten, 10: Stadtbezirke im Nordwesten), ● Dessau-Roßlau (11: Dessau/Kernstadt, 12: Innere Stadt, 13: Roßlau, 14: Äußere Stadt mit Ortschaften im ländlichen Raum), ● Rostock (15: Stadtmitte/Innenstadt, 16: Innenstadtnahe Wohnquartiere, 17: Periphere Großraumsiedlungen Nordwest, 18: Periphere Großraumsiedlungen Nordost, 19: Ortsteile mit hohem Einfamilienhausanteil). Quelle: Gesemann, Schwarze und Seidel 2019: 80 5.4 Engagement und Zusammenhalt Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Mitwirkung an politischen Entscheidungs- und Willensbildungsprozessen bilden den Kern der Demokratie – die Gesellschaft und das politische System sind für ihre Funktionsfähigkeit auf das Engagement ihrer Mitglieder angewiesen. Eine starke gesellschaftliche Teilhabe wirkt der Entfremdung der Bevölkerung gegenüber dem politischen System sowie den damit verbundenen demokratischen Legitimations- und Repräsentationsdefiziten entgegen. Engagementbereitschaft und Interesse an der Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse sind aber auch wesentliche Elemente für die Identifikation mit dem Gemeinwesen. Gesellschaftliche Teilhabe erzeugt gegenseitigen Austausch und produktive Begegnungen mit Fremdem und Neuem. Sie fördert damit die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft der Gesellschaft im Hinblick auf künftige Herausforderungen. Die Bewertung der Dimension ‚Gesellschaftliche Teilhabe‘ stützte sich auf drei Pfeiler: (1) das freiwillige Engagement in Initiativen und Vereinen, (2) das politische Interesse der Befragten und ihre Beteiligung am politischen Leben sowie (3) ihr Einsatz für das lokale Wohnumfeld und die Interessen der dort lebenden Menschen. Bei dieser Dimension zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Bereichen: Während das individuelle Engagement in Initiativen und Vereinen sehr hoch ausfällt, ist die politische Beteiligung eher niedrig und

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Frank Gesemann, Leif Jannis Höfler und Alexander Seidel

die Einsatzbereitschaft für das eigene Wohnumfeld sehr gering ausgeprägt. Dabei zeigen sich allerdings Unterschiede zwischen Groß- und Mittelstädten sowie vor allem zwischen besser gestellten und benachteiligten Stadtteilen in den Großstädten. Die Werte für Zusammenhalt insgesamt und freiwilliges Engagement scheinen sich gegenseitig zu beeinflussen. Je höher die allgemeine Engagementquote ist, desto höher fällt tendenziell auch der Wert für den sozialen Zusammenhalt in den näher betrachteten 19 Stadtbereichen der vier Groß- und Mittelstädte aus. Die höchsten Werte für Engagement und Zusammenhalt sind dabei in Stadtbereichen zu verzeichnen, die entweder durch vergleichsweise hohe Anteile von jungen und mobilen Menschen mit hohem Bildungsstatus geprägt sind (z.B. Rostock: Stadtmitte/Innenstadt; Rostock: Ortsteile mit hohem Familienhausanteil; Dortmund: Stadtmitte und sozioökonomisch? besser gestellte Stadtteile im Süden der Stadt). Auffallend ist allerdings auch, dass der Zusammenhang zwischen Engagement und Zusammenhalt in den Stadtteilen mit einer niedrigeren Engagementquote schwächer zu werden scheint, wie insbesondere die Werte aus Dessau und Rostock nahelegen (vgl. Abbildung 4). Dieser positive Zusammenhang zwischen Engagement und Zusammenhalt zeigt sich in allen Teilbereichen (allgemeines Engagement, politische Beteiligung und Engagement für Geflüchtete). Bemerkenswert ist, dass sich dieser Zusammenhang nicht bei der Bereitschaft zeigt, sich für die Interessen der Wohngegend und der Menschen, die dort leben, einzusetzen: Interessanterweise zeigt die Trendlinie recht deutlich nach unten, so dass die Engagementbereitschaft mit zunehmendem Zusammenhalt zu sinken scheint. Das könnte darauf hindeuten, dass dort, wo bereits viele Menschen engagiert sind und der Zusammenhalt hoch ist, die Bereitschaft für weiteres Engagement sinkt. Zugleich scheinen die Ergebnisse zu zeigen, dass es auch in benachteiligten Stadtteilen, die eher einen niedrigeren Zusammenhalt aufweisen, Engagementpotenziale gibt, die für den Einsatz im Stadtteil erschlossen werden können. Die hiervon abweichenden Werte für Dessau-Roßlau (Kernstadt, Roßlau) und Dortmund (Stadtbezirke im Norden) zeigen, dass das keineswegs für alle Stadtteile zutrifft, und werfen die Frage nach den Gelingensbedingungen für eine Aktivierung und Transformation der Engagementbereitschaft von Bewohnerinnen und Bewohnern auf.

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Engagement und sozialer Zusammenhalt

Allgemeine Engagementquote

100% 1

90%

3

19 13

80%

11 10

2

14 12

9

70%

6

5

16

17

15

4

7

8 18

60% 50%

56

58

60

62

64

66

68

Gesamtindex Zusammenhalt vor Ort

Abb. 4: Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Zusammenhalt (DESI 2020). Anmerkung: Dargestellt ist der Zusammenhang zwischen dem Gesamtindex sozialer Zusammenhalt und einem Indikator für Engagement, der aus dem Engagement in Initiativen oder Vereinen, dem politischen Engagement sowie dem Engagement für Geflüchtete gebildet wurde. Legende siehe Abb. 3.

6

Fazit

Der Zusammenhalt in deutschen Städten ist hoch, zeigt sich aber in ein und derselben Stadt in räumlicher Hinsicht sehr differenziert. Unsere Studie bestätigt daher die Befunde anderer Untersuchungen, die auf die wachsende Spaltung deutscher Städte verweisen. Sie zeigt, dass die Unterschiede zwischen den untersuchten Stadtteilen in allen Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts sehr hoch ausfallen, aber in den Dimensionen Solidarität und Hilfsbereitschaft, Anerkennung sozialer Regeln und Gesellschaftliche Teilhabe besonders ausgeprägt sind.

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Unsere Studie bietet zudem eine Fülle von Hinweisen, dass die Auswirkungen der Flüchtlingszuwanderung auf den sozialen Zusammenhalt weithin überschätzt werden. Bemerkenswert sind dagegen die hohe Akzeptanz, das Ausmaß der Kontakte und die positiven Erfahrungen mit Geflüchteten, die in allen Untersuchungsorten mit einem sehr großen Engagement der lokalen Bevölkerung korrespondieren. Engagement erscheint in diesem Zusammenhang, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Geflüchteten, auch als eine Reaktion auf den wachsenden Rechtspopulismus und ist somit integraler Bestandteil im Prozess der Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen. Die Ergebnisse Studie zeigen, dass der soziale Zusammenhalt insbesondere vor Ort gelebt wird. Damit verbunden ist auch eine Verantwortung für die Kommunen, ihre politische Gestaltungsaufgabe anzunehmen und auszufüllen, wobei wir vor allem vier Handlungsbereiche sehen: (1) Kommunen können das Miteinander in einer vielfältigen Stadtgesellschaft durch eine aktive und inklusive Politik fördern, die den mehrdimensionalen Charakter und die dichte Verwobenheit der verschiedenen Dimensionen und Bereiche von Zusammenhalt beachtet. Zusammenhalt kann als das Ergebnis des Zusammenwirkens der drei Dimensionen Soziale Beziehungen, Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung mit ihren jeweiligen Elementen verstanden werden. Eine inklusive Politik zur Förderung von Zusammenhalt sollte insbesondere das soziale Miteinander im Ortsteil fördern, Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und Vertrauen in Institutionen stärken sowie Engagement und Beteiligung in einer vielfältigen Demokratie ermöglichen. (2) Kommunen sollten eine aktive Politik der Vielfalt verfolgen, die die hohe Akzeptanz von Diversität in der Bevölkerung als Ressource nutzt, aber auch den Ängsten und Befürchtungen jener Minderheiten begegnet, die Migration und Vielfalt als Bedrohung erleben oder ablehnen. Dazu können alltägliche Begegnungen von Einheimischen und Zugewanderten sowie die Vermeidung ihrer sozialräumlichen Segregation erheblich beitragen. Der Schaffung von niedrigschwelligen Begegnungsorten und -gelegenheiten sollte daher besondere Bedeutung zukommen. Zur Politik der Vielfalt trägt auch das intensive bürgerschaftliche Engagement mit und von Geflüchteten bei, das entsprechende Anerkennung und öffentliche Förderung erfahren sollte.

Engagement und sozialer Zusammenhalt

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(3) Kommunen sind gefordert, den sozialräumlichen Unterschieden stärker entgegenzuwirken. Die wachsende Polarisierung innerhalb der Städte erfordert eine aktive, inklusive und miteinander verknüpfte Bildungs-, Integrations- und Stadtentwicklungspolitik sowie eine Schärfung stadtpolitischer Steuerungsmöglichkeiten. Die Städte können diese großen Herausforderungen aber nicht allein bewältigen. Um das weitere sozialräumliche Auseinanderdriften zu verhindern, sind erweiterte Bund-Länder-Programme vom Typus des Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ notwendig. Diese müssten zusätzliche Mittel für eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, insbesondere von Kitas, Schulen und Stadtteileinrichtungen in sozial benachteiligten Quartieren bereitstellen sowie die lokale Flüchtlings- und Gemeinwesenarbeit und die Integrationsleistungen der Kommunen angemessen gegenfinanzieren. (4) Kommunen sollten die lokale Demokratie stärken und inklusiv ausgestalten. Die Chancen und Potenziale der Vielfalt werden sich auf Dauer nur dann produktiv entfalten, wenn es gelingt, die lokale Demokratie zu stärken und inklusiver auszugestalten. Unerlässlich ist dafür vor allem die Stärkung der Engagement- und Beteiligungschancen von Menschen in sozial benachteiligten Stadtteilen. Das starke Engagement für Geflüchtete, die aktive Rolle von Migrantenorganisationen sowie die Offenheit vieler lokaler Vereine und Initiativen legen es nahe, Kommunalpolitik in Richtung einer vielfältigen Demokratie weiterzuentwickeln, die stärker auf Aktivierung, Dialog und Beteiligung setzt und damit die Rolle der Bürgerund Zivilgesellschaft im politischen Prozess stärkt. Dies dürfte auch ein aussichtsreicher Weg sein, dem Vertrauensschwund von Politik, Parteien und Parlamenten etwas entgegenzusetzen.

Literatur Allport, Gordon W. 1979 [1954]: The Nature of Prejudice, Reading, Massachusetts: Addison-Wesley Arant, Regina; Larsen, Mandi; Boehnke, Klaus Boehnke 2016: Sozialer Zusammenhalt in Bremen. Gütersloh: Bertelsmann Arant, Regina; Dragolov, Georgi; Boehnke, Klaus 2017: Zusammenhalt in Deutschland 2017. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Arant, Regina; Dragolov, Georgi; Gernig, Björn; Boehnke, Klaus [unter Mitarbeit von Jonas Anttoni Seppälä]. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung

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Asbrock, Frank; Kauff, Mathias; Issmer, Christian; Christ, Oliver; Pettigrew, Thomas F.; Wagner, Ulrich 2012: Kontakt hilft – auch wenn die Politik es nicht immer leichtmacht. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 10. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 199-219 BMFSFJ (Hrsg.) (2017): Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Braun, Sebastian (2001): Bürgerschaftliches Engagement – Konjunktur und Ambivalenz einer gesellschaftspolitischen Debatte. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 29, 2001: 83-109 Dragolov, Georgi; Ignácz, Zsófia; Lorenz, Jan; Delhey, Jan; Boehnke, Klaus 2014: Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Deutscher Bundestag (2002): Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode. Drucksache 14/8900, 03.06.2002 Gesemann, Frank; Roth, Roland 2015: Engagement im Quartier. BBSR-Online-Publikation, Nr. 04/2015. Bonn: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Gesemann, Frank; Schwarze, Kristin; Seidel, Alexander 2019: Städte leben Vielfalt. Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Huxhold, Oliver; Hameister, Nicole 2017: Soziale Einbettung und freiwilliges Engagement. In: Julia Simonson, Claudia Vogel und Clemens Tesch-Römer (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS Koopmans, Ruud; Dunkel, Anna; Schaeffer, Merlin; Veit Susanne (2011): Ethnische Diversität, soziales Vertrauen und Zivilengagement. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Koopmans, Ruud; Lancee, Bram; Schaeffer, Merlin (Hrsg.) (2015): Social Cohesion and Immigration in Europe and North America. Mechanisms, conditions, and causality. London und Ney York: Routledge Pettigrew, Thomas F.; Tropp Linda R. 2011: When groups meet. The dynamics of intergroup contact. New York, NY/Hove, East Sussex: Psychology Press. Putnam, Robert D. (1995): Bowling alone: America's declining social capital, in: Journal of Democracy, 6, 1: 65-78 Putnam, Robert D. (2000): Bowling alone. The collapse and revival of American community. New York: Simon & Schuster Putnam, Robert D. (2007): E Pluribus Unum: Diversity and community in the twenty-first century. In: Scandinavian Political Studies. 30 (2): 137–174 Schönwälder, Karen; Petermann, Sören (2018): Vielfalt als alltägliche Normalität: Interaktionen und Einstellungen in deutschen Städten. Wiesbaden: Springer VS, S. 359-372 Schönwälder, Karen; Petermann, Sören; Hüttermann, Jörg; Vertovec, Steven; Hewstone, Miles; Stolle, Dietlind; Schmid, Katharina; Schmitt, Thomas (2016): Diversity and Contact. Immigration and Social Interaction in German Cities. London: Palgrave Macmillan Simonson, Julia; Vogel, Claudia; Tesch-Römer, Clemens (Hrsg.) (2017): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS Simonson, Julia; Ziegelmann, Jochen P.; Vogel, Claudia; Tesch-Römer, Clemens (2017): Zentrale Ergebnisse des Deutschen Freiwilligensurvey 2014. In: Julia Simonson et al. (Hrsg.): Freiwilliges

Engagement und sozialer Zusammenhalt

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Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS: 2127 Vogel, Claudia; Hagen, Christine; Simonson, Julia; Tesch-Römer, Clemens (2017): Freiwilliges Engagement und öffentliche gemeinschaftliche Aktivität. In: Julia Simonson et al. (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS: 91-123 Vogel, Claudia; Tesch-Römer, Clemens (2017): Informelle Unterstützung außerhalb des Engagement: Instrumentelle Hilfen, Kinderbetreuung und Pflege im Sozialraum. In: Julia Simonson et al. (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS: 253-283 Vogel, Claudia; Tesch-Römer, Clemens; Simonson, Julia (2017): Zusammenspiel des freiwilligen Engagement mit informeller Unterstützung. In: Julia Simonson et al. (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Wiesbaden: Springer VS: 285-295

Eine Systematik von Projekten der Integrationsbegleitung Roman Lietz

Abstract Integrationsbegleitung ist der Überbegriff für Paten-, Integrationslotsen-, Multiplikatoren- und Community Interpreting-Projekte. Diese arbeiten in Deutschland unter teils missverständlichen und inkonsistenten Bezeichnungen. Dadurch entsteht eine unübersichtliche und ineffiziente Situation sowohl für Hilfesuchende, für freiwillig Engagierte, für Geldgeber und für Institutionen. Im vorliegenden Beitrag erfolgt eine Abgrenzung, Definition und Systematisierung der verschiedenen Integrationsbegleitertätigkeiten sowie eine Analyse des Integrationsbeitrags dieser Projektformen. Stichworte Integrationsbegleiter, Integrationslotsen, Multiplikatoren, Paten, Community Interpreter, strukturelle Integration, soziale Integration, kulturelle Integration, identifikatorische Integration

1

Einführung

Die Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist mittlerweile trivial. Immigration ist schon lange eine soziale Realität, mit der sich die Gesellschaft aktiv auseinandersetzt (u. a. Bade 2013). Angesichts auf längere Frist angelegter Zuwanderungsbewegungen ist das soziale Engagement und die Unterstützung der neuen Mitbürger/-innen in Alltagsangelegenheiten eine ebenso sinnvolle wie unerlässliche Maßnahme, um Zusammenhalt und Teilhabe © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_3

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Roman Lietz

zu fördern. Personen, die über geringe Deutschkenntnisse und über geringe Struktur- bzw. Systemkenntnisse verfügen, sind angehalten, in einen Dialog mit den Institutionen der Aufnahmegesellschaft (z. B. Behörden, Bildungseinrichtungen, Wohnungsmarkt und Gesundheitsversorgung, Elternvertretungen, Sportvereine etc.) zu treten und andersherum. Zwar ist die überwiegende Zahl der Migranten/-innen in der Lage, mindestens passabel gutes Deutsch zu sprechen, einer Erhebung des Sozio-Ökonomischen Panel (2017) zufolge geben jedoch ca. fünf Prozent der Personen, die selbst oder deren Eltern Deutsch nicht als ihre Muttersprache benennen, an, „gar nicht“ oder „eher schlecht“ Deutsch zu sprechen. Bei Gleichsetzung dieser Personengruppe mit „Personen mit Migrationshintergrund“ (entspricht 17,1 Mio. Menschen, vgl. Statistisches Bundesamt 2015) ergibt das eine Gesamtzahl von 880.000 Menschen mit erheblichen sprachlichen Defiziten im Umgang mit der im Alltag dominierenden Sprache Deutsch. Da sprachliche Verständigung eine Kernressource für die Integration ist (vgl. u. a. Beauftragte der Bundesregierung 2007: 16), verwundert es nicht, dass das Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid (2012: 16) ermittelte, dass die drei wichtigsten Aktivitäten, um Einwanderern attraktive Lebensbedingungen zu bieten (1.) das Angebot von Sprachkursen, (2.) die Sprachförderung von Kindern und (3.) die Bereitstellung von Ansprechpartnern, die bei Fragen des täglichen Lebens in Deutschland helfen, sind. Die Lösung des Kommunikationsproblems erfolgt also durch eine bilaterale Strategie, die sich praktischerweise ergänzt (vgl. Lietz 2013a: 175): Erstens den Deutscherwerb fördern und zweitens auf Mittler/-innen zurückgreifen. Letzteres bringt explizit Integrationsbegleitungsangebote ins Gespräch.

2

Integrationsbegleitung

Integrationsbegleiter/-innen werden eingesetzt, um „bürgerschaftliches Engagement zu fördern, Integration und Teilhabechancen von Zugewanderten zu verbessern, den Zugang zu Bildung, sozialen Angeboten und Diensten zu erleichtern, wie Kindertagesstätten und Schulen sowie die professionellen Beratungs- und Betreuungsangebote von Kommunen und Wohlfahrtsverbänden zu unterstützen“ (Gesemann 2015: 45). Dazu gehören: Integrationslotsen/-innen, Paten/-innen,

Eine Systematik von Projekten der Integrationsbegleitung

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Multiplikatoren/-innen sowie Community Interpreter (vgl. Lietz 2013b: 361; Gesemann 2015: 45-51; Lietz 2017: 37-52). In der Praxis hat sich ein mannigfaltiges Netz von Integrationsbegleiter/-innen etabliert: Schon 2005 gaben über 80 Prozent der Kommunen, die an einer Befragung teilnahmen, an, in irgendeiner Form Integrationsbegleiter/-innen im Einsatz zu haben (vgl. Otman 2007). Die Initiativen arbeiten jedoch nur selten vernetzt und sind häufig nicht auf Dauer angelegt (Lietz 2017: 163-168). Integrationsbegleiterprojekte arbeiten deutschlandweit recht unterschiedlich koordiniert und unter sehr vielfältigen Namen, die oft keinen Aufschluss über ihr Kompetenzprofil und ihr Einsatzfeld geben. Dadurch entsteht eine unübersichtliche Situation, in der Ressourcen nicht effizient eingesetzt werden (Lietz 2017: 17-20). Die Lösung beinhaltet die Formulierung von Mindeststandards für die Durchführung von Integrationsbegleiterprojekten. Diese Forderung ist schon mehrfach geäußert worden (vgl. u. a. Salman 2000: 103; Huth/ Pöhnl 2007: 3, Müller-Wille 2008: 8; Arbeitskreis Neue Erziehung 2010: 5, Khan-Zvornicanin et al. 2015: 77) und setzt zunächst die Definition und Systematisierung der verschiedenen Integrationsbegleitertätigkeiten voraus (vgl. Lietz 2017: 37-52; Gesemann 2015: 45-51).

3

Kurze Geschichte der Integrationsbegleitung

Auch wenn der Integrationsdiskurs in den letzten fünfzehn Jahren an Intensität gewonnen hat, ist die Existenz von Integrationsbegleitung bei Weitem kein Novum. Zwar wird häufig und zurecht kritisiert, dass die Integration der sogenannten Gastarbeiter aus dem Süden Europas und der Türkei größtenteils ‚verschlafen‘ oder verdrängt wurde (vgl. Bade 2007: 37; Bade 2012: 51), dennoch datiert die früheste Nennung von „Spachmittler/-innen“ in Berlin beispielsweise in den 1970er Jahren, als man diese in den Öffentlichen Dienst einstellen wollte (PapiesWinkler 2003: 232). In den 1980er und 1990er Jahren wurden vor allem Integrationspatenprojekte für die Erstintegration von Spätaussiedlern ins Leben gerufen (vgl. Hülsmann 2006: 69-72). 1992 entstand in Hannover mit dem ersten Dolmetscherpool durch das Ethnomedizinische Zentrum (vgl. Salman 2000: 98) ein Modell, welches bald Nachahmer in München (vgl. Wesselmann 2009: 124), Hamburg (vgl. Albrecht 2002: 291) und Berlin (vgl. Oldag 2009: 103) fand. Seit Anfang der 2000er Jahre wird das bis dato aus Patenprojekten und Sprachmittler/-

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Roman Lietz

innen bestehende Aufgabenfeld der Integrationsbegleiter um Multiplikatoren/-innen (insbesondere Stadtteilmütter) und Integrationslotsen/-innen ergänzt (Huth 2007: 24) und findet sich mittlerweile in nahezu jeder Kommune in Deutschland (vgl. Lietz 2017: 18).

4

Integrationsbegleitung und der Integrationsbegriff

Das Ziel der Integrationsbegleitung ist – wie schon der Name verdeutlicht – Menschen bei der „Integration“ zu begleiten. Eine Lesart des Integrationsbegriffs beinhaltet die Teilhabe (oder Partizipation) in den „bestehenden Sozialstrukturen“ der Aufnahmegesellschaft (Heckmann 1997; Heckmann 2005). Diese Teilhabe gliedert sich in vier Dimensionen (vgl. Heckmann 1997: 1-7; Heckmann 2005: 29): a) b) c) d)

Strukturelle Integration Soziale Integration Kulturelle Integration Identifikatorische Integration

Strukturelle Integration bedeutet die Teilhabe an Kerninstitutionen der Aufnahmegesellschaft: am Arbeits- und Wohnungsmarkt, am Bildungswesen sowie an politischen Institutionen (vgl. Heckmann 1997: 1-4). Um eine Mitglieds- und Partizipationsrolle überhaupt erfüllen zu können, ist laut Heckmann (1997: 4) kulturelle Integration erforderlich: Er versteht diese als „Einladung, Austausch, Werbung um Übernahme und Herausbildung neuer kultureller Muster“ (Heckmann 2005: 7) und explizit nicht als „Zwangsassimilierung“ (ebd.). In der Praxis bezieht sich die kulturelle Integration vor allem – aber nicht nur – auf den Spracherwerb (vgl. ebd.). Die Partizipation am sozialen Leben, zum Beispiel durch „Freundschaftskreise, Partnerwahlstrukturen, Gruppen- und Vereinsmitgliedschaft“ wird in der Dimension der sozialen Integration (ebd.: 2) zusammengefasst. Die vollständige Integration in allen möglichen Dimensionen ist erst dann erreicht, wenn auch eine „Zugehörigkeits- und Identifizierungsbereitschaft mit [den] ethnisch-nationalen, regionalen und/oder lokalen Strukturen“ vorliegt. Diese wird

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als identifikatorische Integration bezeichnet (vgl. Heckmann 1997: 6). Sie vollzieht sich meistens langsamer als die anderen Domänen der Integration (Heckmann 2005: 9). Dennoch kann auch sie über Identifikationsangebote gefördert und begleitet werden (Heckmann 1997: 6f.).

5

Systematik von Integrationsbegleiterprojekten

Ein Manko für die erfolgreiche Etablierung und vor allem nachhaltige Gestaltung von Integrationsbegleiterprojekten, liegt in der fehlenden Abstimmung zwischen Projekten und der Unklarheit über deren Angebotsstruktur. Akteuren in der Zivilgesellschaft, Hilfesuchenden, Hilfe anbietenden Ehrenamtlichen oder Professionellen, Mitarbeiter/-innen von Institutionen und Entscheider/-innen für die Mittelvergabe ist häufig nicht klar, welche Art von Integrationsbegleitern welche Aufgaben übernimmt bzw. zu übernehmen in der Lage ist (vgl. Lietz 2017: 17). Eine genaue Festlegung und möglichst allgemeingültige Formulierung von Aufgabenfeldern wurde in der Vergangenheit zwar immer wieder angemahnt (u. a. Salman 2007: 253; Becker et al. 2010: 87; Arbeitskreis Neue Erziehung 2010: 5; Lietz 2013b: 261-262; Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz 2015), eine begriffliche Systematisierung hat sich aber bislang nicht etabliert. In den vergangenen Jahren bereicherten jedoch zwei Publikationen den Diskurs, die unabhängig voneinander zu inhaltlich sehr ähnlichen und sich nur in Details unterscheidenden Abgrenzungen kommen (Gesemann 2015; Lietz 2017). Diese systematisieren die Integrationsbegleiter folgendermaßen:

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Paten (Lietz 2017: 42-43) bzw.

Multiplikatoren / Ratgeber (Lietz 2017: 43-46) bzw.

Paten / Mentoren (Gesemann 2015: 45)

Stadtteilmütter (Gesemann 2015: 45)

Integrationslotsen (Lietz 2017: 37-42; Gesemann 2015: 45)

Community Interpreter / Gemeindedolmetscher (Lietz 2017: 47-52) bzw. Sprachmittler (Gesemann 2015)

Abb. 1: Systematik von Integrationsbegleiterprojekten (Eigene Darstellung). 5.1 Paten Tätigkeiten/Spezifika: Es handelt sich um eine Unterstützung durch Einzelpersonen, die sich häufig über viele Wochen, Monate oder Jahre zu festgelegten Zeiten (z. B. einmal pro Woche) einer zugewanderten Person oder Familie annehmen. Laut Huth/ Pöhnl (2007: 13) geht es dabei „um das Üben der deutschen Sprache, gemeinsame Freizeitgestaltung, Heranführen an den Stadtteil und das Vereinsleben, Besuch von kulturellen Veranstaltungen, Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe […].“ Zwar moderieren Paten/-innen nicht im Dialog mit Institutionen der Aufnahmegesellschaft – zumindest nicht in ihrer Rolle als „Paten“ (denn dann wären Sie eher als Integrationslotsen zu bezeichnen) – jedoch gehört auch die Weitergabe von Informationen, beispielsweise über das Bildungssystem, zu einer Patenschaft. Paten/-innen betreuen häufig nur eine einzige Person oder Familie, arbeiten immer ehrenamtlich, verfügen nicht zwingend über Fremdsprachkenntnisse oder einen eigenen Migrationshintergrund und erfahren nur selten eine systematische Ausund Weiterbildung für ihre Tätigkeit. Integrationsbeitrag: Bei Patenschaften steht die Integration im alltäglichen Sozialleben im Mittelpunkt. Somit erfolgt vor allem soziale und kulturelle Integration. Paten/-innen führen Migranten/-innen an soziale Gruppen heran und etablieren Freundschafts- und Vertrauensverhältnisse über ethnische Grenzen hinweg. Des Weiteren sind sie lebendiges Vorbild für kulturelle Spezifika der Aufnahmegesellschaft, zum Beispiel durch die Vermittlung von unterschiedlichsten Traditionen (wie z. B. Fasching, „Tatort“-Sonntag oder lokale Sehenswürdigkeiten) und nicht zuletzt auch durch die Förderung des Deutscherwerbs. Auf lange Frist kann

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dadurch auch die Grundlage für eine identifikatorische Integration geschaffen werden. Die Dimension der strukturellen Integration ist bei Paten nachrangig, denn sie sind allenfalls unsystematisch hilfreich bei der Arbeitssuche, Kontaktvermittlung zu potentiellen Arbeitgebern, Behördengängen oder Arztbesuchen. Als Laiendolmetscher/-innen ist ihr Einsatz teilweise sogar mehr schädlich als förderlich (vgl. Rey 2011: 8). Wenn durch Patenprojekte die Aufgabe der Begleitung zu Institutionen und Sprachmittlung übernommen wird, sollte man sie entsprechend qualifizieren, Mindeststandards ansetzen, nach Möglichkeit entlohnen und als „Integrationslotsen“ oder „Community Interpreter“ bezeichnen (vgl. Lietz 2017: 41). 5.2 Multiplikatoren/Ratgeber Tätigkeiten/Spezifika: Multiplikatoren- und Ratgeberprojekte beruhen wie die Patenschaftsprojekte auf längerfristigen Beziehungen zwischen einem Multiplikator / einer Multiplikatorin und einer zugewanderten Person. Im Unterschied zu den Patenschaften findet hier jedoch keine Freizeitgestaltung statt. Stattdessen bearbeiten die Multiplikator/-innen an mehreren vereinbarten Terminen mit ihren Klienten die Themen eines feststehenden Curriculums. Häufig geht es dabei um Bildung und / oder Erziehung sowie die gesundheitliche Aufklärung bzw. Krankheitsprävention. Die Niedrigschwelligkeit des Angebots soll Zugänge zu ansonsten schwer erreichbaren Familien ermöglichen und diese mit wichtigen Kenntnissen über die oben genannten Themen versorgen. Die Integrationsbegleitung findet dabei entweder bei den Klienten zuhause oder in einem Elterncafé, Verein o. ä. statt. Die Multiplikatoren/-innen stammen häufig aus derselben Zuwanderergruppe wie ihre Klienten und meistens sogar aus dem gleichen Sozialraum (Stadtteil). Zudem kommt mitunter ein geschlechterspezifischer Ansatz zum Tragen (Frauen unterstützen Frauen), insbesondere bei den sogenannten Stadtteilmüttern (Koch 2009: 8). Die genannten Kriterien können zwar auch bei Patenschaften und Integrationslotsen von Bedeutung sein, werden aber bei den Multiplikator/-innen konsequenter verfolgt (vgl. Bauer 2013: 11). Die Multiplikator/-innen sollten nach Möglichkeit für ihre Einsätze bezahlt werden und müssen auf ihre Einsätze durch eine Qualifizierung vorbereitet werden. Das didaktische Material wird im Übrigen bildlich oder auch physisch in einem Rucksack transportiert, weshalb diese Methode auch als Rucksack-Methode bekannt ist (vgl. Hock 2001: 31; Koch 2009:

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11f.). Die bundesweit bekanntesten Vertreterinnen in der Gruppe der Multiplikatorenprojekte sind wohl sicher die Stadtteilmütter und die Vertreter aus dem so genannten MiMi-Projekt (Mit Migranten für Migranten), die es mittlerweile an mehreren Standorten im gesamten Bundesgebiet gibt. Da es jedoch darüber hinaus zahlreiche andere Projekte gibt, u. a. auch mit Vätern, wird dazu geraten, als generischen Begriff „Multiplikatoren / Ratgeber“ statt „Stadtteilmütter“ zu verwenden. Auch wenn Multiplikatoren häufig mit Integrationslotsen oder auch mit Paten gleichgesetzt werden, so zum Beispiel im Integrationslotsenkonzept in Niedersachsen (Bommes et al. 2010: 54-71) und in Berlin (Leptien/Kapphan 2014: 29; Khan-Zvornicanin et al. 2014: 5), bestehen doch wesentliche Unterschiede zu beiden. Es sei erinnert, dass Multiplikator/-innen eine Bildungs- und Präventionsabsicht mittels eines vorbereiteten didaktischen Materials verfolgen, während sie originär keine Sprachmittlung bei Institutionen leisten. Dies geht insbesondere aus der Aufgabenbeschreibung der Stadtteilmütter aus dem Berliner Bezirk Neukölln hervor, die sich das Label „Stadtteilmütter“ haben markenrechtlich schützen lassen (Koch 2009: 11): „Förderung der Sprachfähigkeiten von Kindern und Eltern, Ermutigung und Sensibilisierung der Eltern, ihre Erziehungsverantwortung aktiv wahrzunehmen, Vorstellung der Arbeit der Kindertagesstätten und Werbung für den frühen KiTa-Besuch, Wahrnehmung und Stärkung der Eigenpotenziale der Eltern, Vermittlung konkreter Hilfen und Informationen für Familien im Kiez und Bezirk, Förderung der Kommunikation und Interaktion zwischen Eltern und Kindern, Stärkung des Selbstbewusstseins der Eltern im Umgang mit den Bildungseinrichtungen, Qualifizierung und Förderung erwerbsloser Migrantinnen.“ Integrationsbeitrag: Multiplikatorenprojekte vermitteln vor allem systematisches Wissen über Institutionen der Aufnahmegesellschaft, insbesondere über das Bildungs- und Gesundheitssystem und ermutigen dazu, deren Angebote zu nutzen. Von daher unterstützen sie vor allem die strukturelle Integration. Implizit können sie auch einen Beitrag zu sozialer Integration leisten, wenn zum Beispiel Adressen von Sportangeboten im Sinne der Gesundheitsvorsorge bekannt gemacht werden. Die kulturelle Integration ist dagegen ebenso wie die identifikatorische Integration eher nachrangig, wenn auch nicht gänzlich zu vernachlässigen: Einerseits werden bei den Hausbesuchen auch kulturelle Spezifika angesprochen (z. B. Erziehungskonzepte oder kulturelles Wissen über Sportvereine oder Ernährung), andererseits erfolgen die Gespräche aber häufig nicht in deutscher Sprache.

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Multiplikatoren- oder Ratgeberprojekte firmieren zwar nominell als Integrationsprojekte, genau genommen kann es aber nicht als belegt angesehen werden, dass ihre Dienstleistungen insbesondere für Personen mit Migrationshintergrund relevanter sind als für Personen ohne Migrationshintergrund. Einen Bedarf an Informationen über frühkindliches Lernen, Kinderkrankheiten, Möglichkeiten des Hochschulstudiums oder Energieeffizienz haben auch autochthone Deutsche (vor allem aus bildungsfernen Milieus). 5.3 Integrationslotsen Tätigkeiten / Spezifika: Auch bei Integrationslotsen-Projekten gibt es in der Praxis noch keinen Konsens über deren Aufgaben und Kompetenzen. Auf Grundlage einiger vielversprechender Ansätze (einer der frühesten davon von Baykara 2006) kristallisieren sich jedoch zwei Hauptbetätigungsfelder heraus: 1. Sozialraumorientierung, 2. Sprachmittlung (Lietz 2017: 41). Die Sozialraumorientierung meint die „Eruierung des Unterstützungsbedarfs von Personen mit Migrationshintergrund im Umgang mit Institutionen der Aufnahmegesellschaft [sowie die] Weitergabe nützlicher Informationen und Kontaktvermittlung [und die] Ermutigung zur Inanspruchnahme von Hilfsangeboten“ (ebd.). Dies wird ergänzt um die Sprachmittlung, die „niedrigschwelliges Dolmetschen [im Sinne] einer Begleitung und sprachliche[n] und kulturelle[n] Vermittlung im Dialog zwischen Mitarbeitern der Institutionen der Aufnahmegesellschaft und Personen mit Migrationshintergrund“ beinhaltet (ebd.) Im Unterschied zu Paten/-innen und Multiplikatoren/-innen stehen Integrationslotsen/-innen in einem weniger engen Verhältnis zu ihren Klienten. Sie machen zum Beispiel keine Hausbesuche und erledigen teilweise mehrere unterschiedliche Anliegen eines oder mehrerer Klienten an einem einzigen Tag. Andere Anliegen, wie zum Beispiel die Wohnungssuche, können mitunter auch mehr Zeit in Anspruch nehmen. Im For-Profit-Bereich ist diese Art der Unterstützung am ehesten unter der Bezeichnung Relocation bekannt (Society for Human Resource Management 2015). Um vor Ort kompetent Hilfe leisten zu können, müssen Integrationslotsen/-innen umfangreicher qualifiziert sein als es zum Beispiel von Paten/-innen verlangt wird (Lietz 2017: 130-139). Grundsätzlich sollte die Qualität von Integrationslotsenprojekten durch die Einhaltung von Mindeststandards abgesichert

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sein, dazu gehören u. a. die Finanzierung der Projekte, Einstellungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsstandards sowie eine angemessene Vergütung (vgl. Lietz 2017: 114). Integrationsbeitrag: Integrationslotsen/-innen zielen vor allem auf die Gestaltung des Dialogs zwischen Migranten/-innen und Institutionen der Aufnahmegesellschaft (z. B. Behörden, Bildungseinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen und Wohnungsmarkt). Dadurch machen sie strukturelle Integration häufig überhaupt erst möglich. Des Weiteren unterstützen sie bei der sozialen Integration, z. B. durch Recherche und Kontaktierung von geeigneten sozialen Gemeinschaften (z. B. Nachbarschaftstreffs, Vereine). Durch ihre Lotsentätigkeit sensibilisieren Integrationslotsen/-innen auch für kulturelle Spezifika (z. B. Öffnungszeiten) oder sie etablieren Kontakt zu Deutschkursanbietern. Die kulturelle Integration ist bei ihnen jedoch – im Gegensatz zu den Patenprojekten – eher nachrangig, zumal die Klientengespräche zumeist nicht in Deutsch stattfinden und sie damit sogar (so wie auch die Community Interpreter) dazu beitragen können, dass Zuwanderer erst einmal nicht unbedingt Deutsch lernen müssen. 5.4 Community Interpreter / Gemeindedolmetscher Tätigkeiten/Spezifika: Community Interpreting ist eine besondere Form des Dolmetschens und damit Teil eines anerkannten Berufs. Community Interpreter bzw. Gemeindedolmetscher/-innen übersetzen Gespräche zwischen Mitarbeiter/-innen von Institutionen der Aufnahmegesellschaft und Zuwanderer/-innen. Somit gehören auch sie zu den Integrationsbegleitern und mitunter herrscht Unklarheit, wann und wie sie am sinnvollsten eingesetzt werden (Lietz 2017: 51). Im Unterschied zu allen anderen beschriebenen Integrationsbegleitern ist bei ihnen gewährleistet, dass sie keine Klienten-Fürsprache (Advocacy) leisten. Zudem sind sie für die anspruchsvolle Aufgabe des Dolmetschens bestens qualifiziert, was bei Integrationslotsen/-innen nur bedingt und bei Einhaltung der Mindeststandards gewährleistet, bei den Multiplikatoren/-innen und Paten/-innen üblicherweise überhaupt nicht Teil der Ausbildung und des Anforderungsprofils ist. Dagegen unterstützen Community Interpreter in keiner Weise durch Sozialraumorientierung oder wegweisende, beratungsähnliche Leistungen, wie sie zum Beispiel Integrationslotsen, Multiplikatoren und teilweise auch Paten leisten. Mit den Sprach- und Integrationsmittlern der Bundesarbeitsgruppe Berufsbildentwicklung Sprach- und Integrationsmittler (SprInt) (Becker et al. 2010) und den

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Sprach- und Kulturmittlern der Caritas Osnabrück (Grehl-Schmitt 2011) haben sich zwei ernstzunehmende Anbieter aus dem niederschwelligen Dolmetschbereich im Non-For-Profit-Bereich entwickelt. Community Interpreter arbeiten üblicherweise auf Honorarbasis. Somit steht und fällt ihr Einsatz mit der Finanzierungsmöglichkeit im konkreten Einzelfall. In einigen Ausnahmen bzw. Pilotprojekten sind sie auch regelfinanziert (siehe Beitrag von Andrea Cnyrim in diesem Band). Sie sind zumindest fast immer kostenintensiver als die anderen Integrationsbegleiterprojekte und entsprechend ist ihre Zusammenarbeit mit Zuwanderer/innen auf kurze Kontakte beschränkt. Diese haben häufig noch nicht einmal selber den Zugang, zum Beispiel die Adresse oder Telefonnummer der Dolmetscherzentrale. Stattdessen werden die Community Interpreter von den Institutionen angefragt und beauftragt. Hierin liegt ein sehr wesentlicher Unterschied zu den anderen Integrationsbegleitertätigkeiten. Integrationsbeitrag: Der Integrationsbeitrag der Community Interpreter ist weniger facettenreich. Durch ihre Beschränkung auf Sprachmittlungen, die von Institutionen initiiert werden, welche zudem über ein Budget dafür verfügen müssen, finden sie sich üblicherweise nur im Bereich der strukturellen Integration, nämlich bei der Sprachmittlung in Behörden und im Gesundheitsbereich (Kliniken). Im Bildungssektor oder bei niedergelassenen Ärzten/-innen ist ihr Einsatz schwierig und im Bereich der sozialen Integration gar nicht vorgesehen. Entsprechend ist auch kein Fortschritt bei der sozialen, kulturellen oder identifikatorischen Integration durch den Einsatz von Community Interpretern zu erwarten.

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Zusammenfassung

Integrationsbegleiterprojekte sind in Deutschland sehr populär. Ihre Ausgestaltung ist jedoch alles andere als transparent. So leisten beispielsweise Integrationslotsen/-innen in Niedersachsen unterschiedlichste Aufgaben, die nach der Argumentation dieses Beitrags den Multiplikatoren (z. B. Umweltlotsen, Elternlotsen, Hochschullotsen) (Bommes et al. 2010: 33, 58 und 61-62) oder den Paten (z. B. gemeinsame Ausflüge, Nachhilfe etc.) (Müller-Wille 2012: 117-122) zuzurechnen sind. Diese Inkonsistenz führt zu Effizienzverlusten und Unsicherheit auf Seiten von Zugewanderten, Institutionen und Geldgebern. Eine Systematisierung, aus der die Aufgaben der einzelnen Projekttypen und ihr Integrationsbeitrag hervorgehen, ist wünschenswert und im vorliegenden Artikel formuliert worden. Die zuvor erörterten Standpunkte werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Sie sind als Debattenbeitrag zu verstehen. Da Abgrenzungen vorgeschlagen werden, die zum Teil den bewährten Status Quo in der Projektlandschaft in Frage stellen, mag es sein, dass dieser Vorschlag zunächst in der Praxis nicht allerorten auf Gegenliebe stößt. Dennoch wird die nachfolgende Systematisierung im Sinne erfolgreicher und nachvollziehbarer Integrationsarbeit empfohlen:

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Paten

Multiplikatoren

Integrationslotsen

Community Interpreter

Tätigkeiten Vielfältige Formen der gemeinsamen Alltagsgestaltung: z. B. Ausflüge, Sprachtandems, persönliche Anliegen. Weitergabe von Informationen und Kontaktvermittlung nach Bedarf.

Weitergabe von vorbereiteten Informationen v. a. zu Bildungs- und Gesundheitsthemen. Umsetzung eines Curriculums.

Weitergabe von Informationen, Kontaktvermittlung z. B. zu Beratungsstellen, Begleitung zu Institutionen und Sprachmittlung.

Übersetzung v. a. im Non-For-Profit-Bereich in Behörden oder Krankenhäusern.

Integrationsbeitrag (nach Heckmann 1997 & 2005) ++ = großer Beitrag, + geringer Beitrag, o = kein nennenswerter Beitrag Strukturelle I. +

++

++

++

Soziale I. ++

+

++

o

Kulturelle I. ++

+

+

o

O

O

o

Durch die Anmeldung des Markenschutzes für das Label Stadtteilmütter kann das Konzept der Stadtteilmütter in Neukölln exemplarisch für bestimmte Multiplikatoren gelten (Koch 2009).

Erste Vorschläge für allgemeine Standards sind bei Huth/Pöhnl (2007) zu finden. Bei Lietz (2017) erfolgt eine umfassende und systematische Formulierung von Mindeststandards für Lotsenprojekte.

Das Konzept der Bundesarbeitsgruppe Berufsbildentwicklung für Sprach- und Integrationsmittler (SprInt) kann als Muster für diese Form der Integrationsbegleitung dienen (Schwarze 2009; Becker et al. 2010)

Identifikatori- O sche I. Formulierung von allgemeingültigen Standards für die Projektform

Nicht bekannt. Am ehesten kann das niedersächsische Integrationslotsenprogramm (Bommes et al. 2010; Müller-Wille 2012) als Standardgeber für Patenprojekte (!) bezeichnet werden.

Abb. 2: Tätigkeiten und Integrationsbeitrag von Integrationsbegleiterprojekten (Eigene Darstellung).

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Es geht dabei wohlgemerkt nicht darum, sich für oder gegen ein bestimmtes Integrationsbegleitungskonzept zu entscheiden, denn ein schlüssiger kommunaler Integrationsplan bietet alle vier Möglichkeiten von Integrationsbegleitung an. Diese Übersicht soll daher als Entscheidungshilfe dienen, um erstens Zugewanderten die Möglichkeit zu geben, die für sie passende Integrationsbegleitung in Anspruch zu nehmen, zweitens Institutionen (z. B. Behörden, Beratungsstellen, Schulen) dabei zu unterstützen, den richtigen Partner für konkrete Vorhaben zu finden, und drittens Kommunen/Geldgebern erlauben, Angebote in ihrem Einflussbereich komplementär und nicht konkurrierend zu gestalten. Zugleich soll die Übersicht helfen, einerseits keine falschen, andererseits aber auch berechtigte Erwartungen und Forderungen an Integrationsbegleiter zu stellen. Ersteres betrifft vor allem Paten, deren freiwilliges Engagement mitunter zu Überforderung führt, wenn sie während ihrer emotional herausfordernden Aufgabe (z. B. bei Paten für Flüchtlinge) nicht fachgerecht und kompetent begleitet werden. Die klare Aufgabenbeschreibung und Abgrenzung sowie die Absicherung von Mindeststandards ermöglicht aber auch Forderungen hinsichtlich Qualität, Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit von Integrationsbegleitern. Die Alternative wären sonst häufig Laiendolmetscher/-innen und Laienlotsen/-innen, die ad-hoc, unvorbereitet oder parteiisch auftreten. Die Bewertung dieser Laien fällt in der Literatur durchweg negativ aus (Muela-Ribera et al. 2008: 6; 58). Umso wichtiger ist es, dass Integrationsbegleiterangebote weiter implementiert, gefördert, systematisiert, evaluiert, besser strukturiert und vernetzt werden. Sie sind ein Schlüssel zur Integration zumindest in der strukturellen, sozialen und kulturellen Dimension. Durch sie werden Zugänge zu Anbietern und Nachfragern des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystems eröffnet. Und vor allem wird durch sie Kommunikation ermöglicht, die Grundlage für Teilhabe an den Strukturen der Aufnahmegesellschaft ist.

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II Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche

Jenseits von Enthusiasmus und Ernüchterung Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche im Spiegel von Forschungsergebnissen aus 25 Jahren Bernd Schüler

Abstract Wie erfolgreich wirken Patenschaften und Mentoring? Warum wirkt diese freiwillige Unterstützung für Kinder und Jugendliche überhaupt? Und was sind zentrale Gelingensfaktoren dabei? Seit gut 25 Jahren ist die Forschung dabei, diese Fragen wissenschaftlich unabhängig zu klären, zuerst vor allem in den USA, inzwischen auch in Deutschland. Der Artikel gibt einen Überblick über zentrale Einsichten aus einer Vielzahl von Studien unterschiedlicher Fachrichtungen. Dabei wird auch eigens auf die besondere Zielgruppe junger geflüchteter Menschen eingegangen.

Stichworte Mentoring, außerschulische Förderung, Integration, Teilhabe, Bildung, Prävention, soziale Ungleichheit, freiwilliges Engagement, Wirksamkeitsforschung, Wirkungsmodelle, Geflüchtetenhilfe

1

Einführung

Deutschland holt auf, hält jedoch noch Abstand zum Mutterland des organisierten Mentorings, den USA. Dort, wo jedes Jahr über zweieinhalb Millionen Erwachsene, also etwa ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung (Raposa et al. 2017), ein Kind oder einen Jugendlichen begleiten, ist die Fördermethode spätestens seit

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_4

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Anfang der 1990er Jahre allgegenwärtig und gehört zum gesellschaftlichen Standardrepertoire (Walker 2005). Aber unübersehbar ist: Auch im alten Europa gewinnt Mentoring an Bedeutung. Ohnehin „eine der ältesten pädagogisch-praktischen Techniken‟ (Ziegler et al. 2009: 320), hat Mentoring bzw. Patenschaften in der deutschen Engagementlandschaft einen festen Platz erobert (Ramm 2009; Huth 2017). Die Freiwilligen von heute sind längst keine Exoten mehr wie vor fünfzehn Jahren, als die ersten Initiativen begannen. Seither wächst hier die Zahl der Projekte kontinuierlich. Genaue Zahlen gibt es nicht, eine Datenbank (www.aktiv-paten.de) kam 2018 auf bundesweit 1.700 Angebote, nicht eingerechnet die, die für Geflüchtete eingerichtet wurden. Insgesamt differenzieren sich die Projekte zunehmend aus, erreichen immer neue Zielgruppen und bearbeiten ganz unterschiedliche Themen. Das findet zahlreiche Unterstützer: Neben Stiftungen, Unternehmen und Privatpersonen tritt vermehrt auch der Staat als Förderer auf – am prominentesten derzeit das Bundesfamilienministerium mit dem Programm „Menschen stärken Menschen‟, das seit 2016 (junge) Geflüchtete und seit 2018 auch andere Zielgruppen von Benachteiligten unterstützt. Naheliegend, dass auch die Wissenschaft dieses Phänomen häufiger unter die Lupe nimmt. Umfangreiche Evaluationen sind entstanden, für die Zielgruppe Grundschulkinder die meisten zum bundesweit vertretenen Programm „Balu und Du‟ (z. B. Müller-Kohlenberg 2016, 2018). Daneben stehen konzeptionelle Einordnungen (z. B. Ziegler 2009, Bestmann et al. 2014, Lorenzen 2017) und instruktive Fallstudien (z. B. Selle 2016, Schott-Leser 2018, Jakob 2019, Häseler-Bestmann et al. 2019). Einen Meilenstein gelegt haben Verhaltensökonomen, mit einer aufwändigen Langzeitstudie (Kosse et al. 2016). Studierende erforschen den Ansatz vermehrt in Abschlussarbeiten, Promotionen widmen sich dem Mentoring im Kinder- und Jugendbereich (z. B. Lorenzen 2017, Schott-Leser 2018). Aber auch prominente Wissenschaftler plausibilisieren und unterstützen die Methode (z.B. Falk 2017, Largo 2018, Hurrelmann 2019), die noch neu daherkommt, aber natürlich altehrwürdige Vorläufer hat (Roberts 1999, Schüler 2019, Jakob 2019: 8ff.). Wer nun eine fundierte empirische Auseinandersetzung und theoretische Grundlagen sucht, kommt nicht umhin, Studien aus anderen Ländern zu konsultieren. Besonders in den USA wird viel geforscht – aufgrund des Stellenwerts, dem bürgerschaftlichen Engagement dort auch im Umgang mit schweren sozialen Problemen zukommt, aufgrund der längeren Tradition – Big Brother Big Sister, der heute größte einschlägige Anbieter, wurde 1904 gegründet –, und aufgrund der

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beträchtlichen Fördersummen, die in diesen Sektor fließen. Das so unterschiedliche Ausmaß der Wissensproduktion begreift sofort, wer das „Handbook of Youth Mentoring“ (DuBois/ Karcher 2014) aufschlägt: 600 Seiten stark, in zweiter Auflage erschienen, versammelt es die Essenzen aus über 25 Jahren Forschung, überwiegend von US-Wissenschaftlern. Und der „Chronicle of Evidence-based Youth Mentoring‟ bringt jede Woche Kurzberichte über neue Studien. Unterdessen organisieren sich Forschende auch auf europäischer Ebene: Vor einigen Jahren gründete sich, nach einem Vorbild aus den USA, das „European Center of EvidenceBased Mentoring“. Dieser Artikel versucht eine Zusammenschau zu bieten. Er stellt wichtige Modelle, Resultate und Debatten von beiden Seiten des Atlantiks vor und berücksichtigt die Besonderheiten, die sich für die Zielgruppe von jungen Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte ergeben. Wer die vielfältigen und zuweilen konträren Zugänge und Ergebnisse einordnen will, mag mitbedenken: „Youth mentoring is many things to many people“ (Keller 2008: 42). Theoretisch wie empirisch erweist sich Mentoring als multidimensionales, polyvalentes und mehrdeutiges Instrument, das für diverse Kontexte und Zielgruppen unterschiedliche Potenziale hat. Nur um einige Perspektiven anzudeuten: Die einen sehen darin den „Goldstandard der Pädagogik und des Lernens“ (Bloom, zit. nach Ziegler 2009: 12), einen Weg, um junge Menschen zu unterstützen, sie vor Risiken und Benachteiligungen zu schützen und durch Empowerment und Förderung persönlicher Entwicklung zu stärken. Andere heben Mentoring als Maßnahme der Integration in die Mehrheitsgesellschaft hervor, als Förderung der Genetationensolidarität, als Stärkung der Zivilgesellschaft. Während manche den Schluss ziehen, Mentoring ist ein Gegenmittel gegen soziale Ungleichheit (Kosse 2016), halten andere für möglich, dass es auch soziale Ungleichheit reproduzieren (Albright et al. 2017), aber antisoziales Verhalten reduzieren kann (Roberts 2004). Oder das Instrument wird als politisches verstanden, um sozial-strukturell bedingte Problemlagen zu individualisieren und so soziale Kontrolle auszuüben (Lorenzen 2017) – oder gar dem Terrorismus zu vorzubeugen (Spalek/ Davies 2011). Je nachdem erscheint Mentoring dann eher als Maßnahme der Bildung, der Familienhilfe, der Gesundheitsprävention, der Wertvermittlung, der Teilhabe, des Übergangsmanagements, der Gemeinwesenarbeit, der Sozialpolitik, der Machtausübung etc.

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„The diversity seen in youth mentoring is a function of the many possible interstices between individualized helping relationships, larger social conditions, and philosophies of intervention“ (Keller 2008: 26).

Von daher zu beachten: Unterschiedliche Stakeholder folgen hier oft unterschiedlichen Leitbildern, auch aufgrund unterschiedlicher Interessen. Zum Ausdruck kommt diese (nicht immer offensichtliche) Multiperspektivität in den (nicht immer zu vereinbarenden) Grundannahmen und Wahrnehmungen zur Wirksamkeit. So können Forschende und Geldgeber enttäuscht sein, wenn Studien herausfanden, dass Mentoring die schulischen Leistungen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund kaum verbessern konnte. Gleichzeitig können sich die unmittelbar beteiligten Freiwilligen und die Jugendlichen selbst sehr zufrieden äußern über ihre Erfahrung, einfach weil sie sich schätzen, verbunden und wohlfühlen (Crul 2018). Damit deutet sich auch ein grundsätzliches Spannungsfeld an, etwa entlang der Achsen von Funktionalität und Eigensinn: Haben Mentoring-Beziehungen in jedem Fall eine individuell zurechenbare Leistung zu erbringen – oder stellen sie nicht schon ein besonderen Wert an sich dar, wenn sie ein Miteinander stiften? Der Austausch über Mentoring berührt insofern immer gesellschaftliche Grundfragen und bietet sich als Rahmen der Verständigung darüber an. Für diesen Überblick wurden Arbeiten aus unterschiedlichen Fachrichtungen herangezogen, um die Perspektivenvielfalt auch hier aufzunehmen. Wie festzustellen sein wird, sehen Psychologen etwa eher das Potential für die Resilienz, Pädagogen die Möglichkeiten des Lernens, Soziologen das soziale Kapital, Ökonomen auch die soziale Mobilität und die Aufstiegsmöglichkeiten. Zuerst soll es in diesem Beitrag um Modelle gehen, die die Wirkung von Mentoring erklären, bevor konkrete Ergebnisse aus Wirksamkeitsstudien vorzustellen sind. Sodann werden Faktoren beschrieben, die mitbestimmen, unter welchen Bedingungen es besser oder schlechter funktioniert. Zudem finden sich Einsichten über Mentoring für junge Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund, wonach noch auf kritische Perspektiven auf Mentoring und mögliche kommende Entwicklungen einzugehen ist.

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Wie kann Mentoring wirken? Modelle und Konzepte

Mentoring ist ein tückisches Konstrukt: Es klingt einfach – und ist schnell eine komplizierte Angelegenheit. Klar, Zuwendung, Ermutigung, Anleitung helfen. Selbstverständlich bedarf es der persönlichen Fürsorge verlässlicher Erwachsener, damit junge Menschen sich gut entwickeln. Dass sich außerfamiliale Bezugspersonen an dieser An- und Begleitung beteiligen, ist ebenfalls unschwer als Mechanismus zu erschließen, der zur Menschheitsgeschichte und sogar im Tierreich dazugehört (Hrdy 2009). Und dass die Tandem-Situation besonders geeignet ist, gut zu lernen, so individualisiert, wechselseitig, in vielfältigen alltäglichen Situationen (Ziegler 2009) – auch das liegt schon intuitiv nahe. Mitten in der Praxis angekommen, ist nur wenig eindeutig und leicht. „Each mentoring relationship is, like any other interpersonal relationship, complex, dynamic, multifaceted and idiosyncratic“ (Keller/ Pryce 2010: 33). Es treffen ja zwei Fremde aufeinander, in vielerlei Hinsicht unterschieden, im Alter, in der Schichtund Milieuzugehörigkeit, in ihren Werten und/oder in der Herkunftskultur etc. So gesehen erstaunt es, wie viel von dieser Dyade erwartet wird – müssen doch beide Seiten aufeinander eingehen, sich wechselseitig abstimmen, zusammenfinden etc. Diese Ausgangssituation im Blick, fragt sich: Wie kann das Miteinander aufgebaut, wie die „Fürsorge für Fremde“ (Goldner 2017) interaktiv gestaltet werden? In welche Rolle soll sich dabei insbesondere der Mentor oder die Mentorin begeben? Ausgehend von empirischen Studien, haben sich in der US-Forschung dafür zunächst zwei Modelle herauskristallisiert. Vielfach diskutiert, enthalten sie auch zentrale Annahmen über die Wirksamkeit von Mentoring (Karcher/ Nakkula 2010; Keller 2008). Der beziehungs- und auf Entwicklung orientierte Ansatz nimmt an: Es muss zuallererst darum gehen, Interaktionen in Gang zu setzen, die eine vertrauensvolle und emotional nahe Verbindung zum Gegenüber entstehen lassen (Rhodes 2005). Denn der Heranwachsende profitiert gerade dadurch, dass er sich wertgeschätzt und verstanden fühlt. Auch ohne dass sich das Tandem Ziele setzt, sorgt diese verlässliche und sichere Bindung für Fortschritte, etwa weil sich der Mentee von sich aus öffnet und von Problemen berichtet, zu denen der Mentor Lösungsvorschläge machen kann. Der Mentee lernt modellhaft, wie man vernünftig mit einem Erwachsenen umgehen kann, und überträgt diese Erfahrung auf auch soziale Beziehungen mit anderen Erwachsenen, Eltern, Lehrern etc. Freizeitbeschäftigungen

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stehen im Mittelpunkt. Wenn konkrete Aufgaben gemeinsam in Angriff genommen werden, etwa schulische Unterstützung, dann bleibt es beim Primat der Beziehung: Die konkrete Hilfe soll eher deren Verfestigung dienen. Der Mentor bleibt respektvoll an den Wünschen des Mentees ausgerichtet, achtet drauf, dass der Spaß erhalten bleibt, bewertet und kritisiert nicht. Er kann aber verlangen, dass sich der Mentee für die Mentoring-Beziehung engagiert, um die Wechselseitigkeit zu gewährleisten (Morrow/ Styles 1995). Der instrumentelle, zielorientierte Ansatz dagegen erkennt gemeinsame Aktivitäten als die primäre wirkmächtige Kraft des Mentorings und sagt: Es kommt vor allem darauf an, etwas zu tun, was mit den Zielen in Verbindung steht, die der/die Mentee verfolgt bzw. beide übereinstimmend verfolgen. Der Mentor animiert, spornt an und schafft zugleich Gelegenheiten, die den Mentee herausfordern, sich neue Fähigkeiten anzueignen oder bestehende anzuwenden (Hamilton/ Hamilton 1992).1 Der Fokus liegt auf der Anleitung und der Weiterentwicklung der Kompetenzen und der Persönlichkeit. Die zwischenmenschliche Beziehung, die dabei entstehen kann, eher als ein Neben-Produkt, unterstützt dies. Der Mentor kann den Mentee so besser motivieren und vorschlagen, was den Heranwachsenden noch interessieren und weiterbringen könnte. Welches dieser Modelle geeigneter ist, kann von den Zielgruppen abhängen: Für Kinder, so wird vorgeschlagen, bietet sich oft eher der erstere Zugang an, entsprechend ihrem Bedürfnis nach freudvollen Aktivitäten, die das Hier und Jetzt umfassen. Für Jugendliche dagegen kann der zweite eher taugen, da sie oft nichtelterliche Erwachsene zunächst über ihre funktionellen Beiträge wahrnehmen (ebd.). Auch für die Situation zugewanderter junger Menschen lässt sich begründen, wann ein Modell sinnvoller als das andere sein könnte: Gerade im neuen Land angekommen, kann es geboten sein, auf das instrumentelle Mentoring zu setzen, weil damit der Spracherwerb gefördert wird, der wichtigste Schritt zur Integration. Schon länger im Land, können für Themen der bi-kulturellen Identität beziehungs-

1 Laut Ziegler bietet Mentoring in diesem Sinne „optimale Rahmenbedingungen‟, die vier Aspekte effektiver Lernprozesse einlösen: Im Tandem kann die Lernsituation 1) verbesserungsorientiert gestaltet sowie 2) individualisiert werden. 3) kann man dabei gut Feedback vermitteln und 4) Gelerntes üben und verfestigen (Ziegler 2009: 14).

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orientierte Varianten förderlich sein, auch indem Mentoren mit eigener Zuwanderungsgeschichte ausgewählt werden (Birman/ Morland 2014; siehe auch den Abschnitt weiter hinten). Obwohl einander gegenübergestellt, wird gleichzeitig oft betont: Beide Modelle oder Stile schließen sich nicht aus. In Mentoring-Beziehungen, die als positiv erlebt werden, ergänzen sie sich, wechseln sich ab und gehen ineinander über. Die jeweiligen Akzente spiegeln auch unterschiedliche zeitliche Verläufe (Karcher/ Nakkula 2010): Mal ist es leichter, ganz gegenwartsorientiert mit schönen spielerischen Aktivitäten zu beginnen. Dem Beziehungsaufbau folgen die schwierigeren Sachen, die angegangen werden wollen/sollen. Mal liegt es näher, sich gleich mit den Sachen zu beschäftigen, die als Aufgabe ohnehin in naher Zukunft anstehen, bevor sich später eine persönliche Verbundenheit entwickelt, oft von selbst, durch die gemeinsame Orientierung an den Aufgaben und den damit verbundenen Erlebnissen. Wenn aber die Beziehungsmuster ineinander übergehen, kommt es da nicht zu einer Vermischung unterschiedlicher Rollen? Ganz so wie es sich in einem Zitat eines arabischstämmigen Jugendlichen anhört, der über seinen Schülerpaten einmal sagte: „Inzwischen ist er alles für mich: ein Lehrer, ein Freund, ein großer Bruder, ein Vater, eine Mutti, alles Mögliche“? Tatsächlich werden die flexiblen Übergänge zu unterschiedlichen Rollen als eine genuine Eigenheit des Mentoring gesehen, die auch das zentrale Potenzial seiner Wirksamkeit darstellt. Da es keinen angemessenen Begriff für diese 'Zwischenpositionen' gibt, werden sie oft metaphorisch beschrieben: Mentoring erscheint dann als „professional friendship“ (Philip/ Spratt). Oder Mentoren „fill a niche that lies somewhere between professional and kinship“ (Rhodes 2008) bzw. „fullfill a special role that combines characteristics of being a parent and being a friend without being either“ (Rhodes 1994, zitiert nach Keller/ Pryce 2010: 44). Andere kennzeichnen Mentoring entsprechend als „hybrid relationship, incorporating features of more familiar vertical and horizontal models“ (Keller/ Pryce 2010: 37) und meinen damit: Mentoren ähneln Eltern insofern, als sie beide – die vertikale Dimension – sowohl mehr soziale Macht und mehr Wissen haben als das Kind/ der Jugendliche als auch für deren Wohlbefinden und Entwicklung verantwortlich sind. Zugleich ähneln Mentoren aber auch Freunden, denn sie sind nicht – die horizontale Dimension – wie Eltern zu ihrem Einsatz verpflichtet, sondern

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unternehmen freiwillig etwas und erfreuen sich an den Interaktionen, gleichermaßen wie der Mentee auch. Die Aufgabe für Mentoren lautet demnach: „managing the voluntary nature of the relationship while using the imbalance in social influence to support mentee development“ (ebd.: 45). Weil sich oft zeigt, dass Mentoren mit unterschiedlichen Rollen jonglieren, wurde daraus ein Arbeitsmodell abgeleitet (Mayseless/ Goldner 2008). Es analysiert zuerst, welche Schnittmengen die Mentoren-Rolle zu denen von Eltern, Freunden, Therapeuten sowie Lehrkräften aufweist. Mentoren sind beispielsweise Therapeuten ähnlich, wenn sie Techniken wie aktives Zuhören anwenden oder eine fürsorgliche Beziehung erleben lassen. Andererseits unterscheiden sie sich, etwa weil Mentoren in informelleren Settings und weniger hierarchisch handeln. In Bezug auf Lehrkräfte ließe sich sagen: Mentoren agieren wie sie, sofern sie Inhalte vermitteln oder üben lassen, getreu eines Vorbilds des Mentoring, der traditionellen Beziehung von Lehrer und Schüler. Zugleich sind Mentoren anders, etwa weil sie spielerischer vorgehen und keine Noten vergeben. Die Annahme lautet nun: Mentoren agieren nie vollständig in diese fürsorglichen Rollen – und schon gar nicht ersetzen sie sie. Aber sie beleihen diese Rollen und entnehmen einige Facetten daraus. „Die Einzigartigkeit der Mentoring-Beziehung liegt in der Fähigkeit der Mentorin oder des Mentors, sich frei innerhalb und außerhalb dieser Rollen zu bewegen, ohne dabei eine davon selbst zu verkörpern“ (Goldner 2017). Mentoring kann demnach eine „maßgeschneiderte Intervention“ (ebd.) sein, wenn man, abgestimmt auf den wichtigsten Bedarf des Mentees, einen Mentoren vermittelt und entsprechend schult, der die jeweils dazu passende Qualität dieser Rollen besonders gut einbringen kann. Trotzdem sollten die Freiwilligen in der Lage sein, zwischen diesen Haltungen zu wechseln, die besagten vier Rollen zu Grunde liegen. Zur Veranschaulichung einige Beispiele (Mayseless/ Goldner 2008; Goldner 2016): Was fehlt etwa am meisten Kindern, die in Heimen aufwachsen, keinen oder nur wenig oder einen belasteten Umgang mit den eigenen Eltern haben? Mit der Bindungstheorie gedeutet, brauchen sie zum Ausgleich eine sichere Basis, vermittelt durch Wärme, Empathie, Spiegelung. Dies bieten Erwachsene, die als 'weiser und stärker' und als Rollenmodell wahrgenommen werden. Daher ist hier die Rolle einer Elternfigur oder eines Therapeuten am besten geeignet. In anderen Situationen kann es sich stattdessen eher verbieten, durch Mentoring eine Elternfigur

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einzuführen, etwa wenn eine Familie in ein neues Land kommt: Hier gilt die enge Verbundenheit von Kindern zu den Eltern als schützender Faktor (Birman/ Morland 2014). Ein weiterer Fall: Jugendliche etwa, die sich in einer belasteten Situation zurechtfinden müssen, etwa weil sie allein geflohen sind, sich im Aufnahmeland ausgeschlossen fühlen oder mit dem Tod oder der Krankheit eines Familienmitglieds zurechtkommen müssen. Für sie sind sachliche Maßnahmen und emotionale Begleitung gefragt. Gemäß der Theorie sozialer Unterstützung sind dann Beratung, konkrete Hilfen ebenso angezeigt wie Ermutigung und Beruhigung – Ressourcen, die die Widerstandskraft und soziale Kompetenzen stärken. Dafür erforderlich ist ein Mentoring, das dem Modell der Freundschaft nahekommt, aber auch Aspekte der Rolle von Eltern und Therapeuten impliziert. In allen Situationen, in denen es um Lernleistungen geht, sei es weil junge Menschen für den schulischen Abschluss aufholen oder eine neue Sprache erlernen müssen, ist entlang der Theorie Sozialen Lernens eine Situation hilfreich, in der geübt werden kann. Mentoren ermöglichen hier Lernprozesse, indem sie anleiten, kleine Ziele setzen und dabei so vorbildlich wirken, dass sich die Motivation überträgt und die Verhaltensweisen nachgeahmt werden.

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Wie wirksam sind Mentoring-Beziehungen? Resultate und Befunde

Gab es vor 25 Jahren nur einige wenige Untersuchungen, ist die Fülle an Wirksamkeitsstudien zumal aus dem angelsächsischen Bereich heute nur schwer überschaubar. Um diese Vielfalt zu verdichten, werden Meta-Analysen durchgeführt. Sie ziehen quantitative Einzelstudien heran und arbeiten die Ergebnisse nochmals auf, um einen umfassenden gesicherten Stand der Erkenntnis liefern zu können. Vor allem auf der Grundlage einer solchen Meta-Analyse aus den USA, die 73 nach dem „Goldstandard der Wirkungsforschung“, mit randomised controlled trials erarbeiteten Studien auswertete (DuBois et al. 2011), wird nun dargestellt, welche Effekte Mentoring hat, ergänzt um Einsichten unter anderem aus dem am besten erforschten deutschen Programm. Diesem Ausschnitt aus der quantitativen und überwiegend psychologisch orientierten Forschung zufolge wirkt Mentoring für Kinder und Jugendliche…

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… vielfältig in unterschiedlichen Dimensionen: Mentoring hat das sozialisatorische Potenzial, sich gleichzeitig auf emotionale, kognitive wie soziale Aspekte auszuwirken. Im Jahre 2009 fassten führende Mentoring-Forscher aus den USA die Effekte so zusammen (Cavell et al. 2009: 2): „Mentoring programs are capable of making a positive difference in multiple domains of youth behavior and development: - Improvements in self-esteem - Better relationships with parents and peers - Greater school connectedness - Improved academic performance - Reductions in substance use, violence and other risk behaviors.“

Auch in Deutschland wurde der polyvalente Charakter nachgewiesen. Konkret „Balu und Du“ wurde, angelehnt an das breite Wirkungsspektrum von Antibiotika, als „Breitbandangebot“ (Müller-Kohlenberg) bezeichnet. In einer Vielzahl von Evaluationsstudien zu diesem Programm zeigte sich etwa: Die von Mentoren begleiteten Kinder im Grundschulalter wurden fröhlicher, wissbegieriger, aufgeschlossener für neue Situationen, und sie konnten sich besser selbst organisieren (Müller-Kohlenberg 2016). In einer langfristig angelegten randomised controlled trail-Studie konnte zudem belegt werden: Die Kinder wurden prosozialer (Kosse et al. 2016). Vor Beginn des Mentorings zeigte sich, die Kinder aus Familien mit höherem Einkommen und Bildungsstand hatten im Schnitt deutlich mehr soziale Fähigkeiten als sozial benachteiligte Gleichaltrige. Nach einem Jahr regelmäßiger Begleitung zogen letztere mit den bessergestellten Altersgenossen gleich. … bei ‚weichen' und ‚harten' Zielen: Mentoring wirkt sich am deutlichsten bei den Einstellungen aus, etwa gegenüber der Schule (Eby 2008). Allerdings: „Areas of positive impact have encompassed not only outcomes that tend to be seen as 'soft' or subjective (e.g., attitudes) but also those that typically are regarded as 'harder' and more objective (e.g., behavior, academic performance) and thus are of greatest interest to policymakers.“ (DuBois et al. 2011: 74)

… kompensatorisch und präventiv: Wer soziale Interventionen erforscht, fragt meist nach zwei Wirkungsweisen: Kann eine Intervention im Vorhinein verhindern, dass ein Defizit entsteht? Oder kann sie negative Zustände zum Positiven

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wenden? Mentoring kann beides und erweist sich damit als „an intervention strategy that has the capacity to serve both promotion and prevention aims“ (ebd.: 57). … auch bei schweren Risikolagen: Kann Mentoring etwas ausrichten, auch wenn Kinder und Jugendliche mit vielen schwerwiegenden Problemen zu kämpfen haben, etwa weil sie im Heim leben, als kriminell auffallen oder ein Elternteil im Gefängnis sitzt? Eine groß angelegte Studie mit über 1300 Mentees im Alter zwischen acht und fünfzehn (im Durchschnitt etwas über elf) Jahren kam zu dem Ergebnis: Ja, das geht. „The strongest program benefit (…) was a reduction in depressive symptoms – a particularly noteworthy finding given that almost one in four youth reported worrisome levels of these symptoms at baseline“ (Herrara et al. 2012: 3).

Dieser Befund gilt für alle untersuchten Risikogruppen, also sowohl bei jungen Menschen mit umweltbedingten Risiken (wenn das Kind in Armutslagen oder stark von Kriminalität belasteten Nachbarschaften aufwächst) als auch bei individuellen Risiken (wie herausforderndes Verhalten oder Krankheiten). Außerdem profitierten die Mentees, weil sie mehr soziale Akzeptanz erfuhren und sich ihre schulischen Leistungen verbesserten. (ebd.) … in verschiedenen Entwicklungsphasen: Was für Kinder gut ist, muss sich nicht für Jugendliche eignen. Doch hier zeigt sich: „Benefits of participation in mentoring programs are apparent from early childhood to adolescence and thus not confined to a particular stage of development“ (DuBois et al. 2011: 57).

Arbeitsplatzbezogenes Mentoring weist im Vergleich deutlich größere Effektstärken auf als Mentoring für Kinder und Jugendliche (Eby et al. 2008). … nachhaltig und langfristig: US-Studien, die die Mentees zwischen sechs Monaten und vier Jahren nach Ende des Mentorings befragten, belegen einen anhaltenden Effekt (DuBois et al. 2011: 70). Sogar 20 Jahre danach weist eine LangzeitStudie Effekte nach, die sich auf Mentoring zurückführen lassen. Wer ein Jahr daran teilnahm, hatte später eine signifikant geringe Wahrscheinlichkeit, von der Polizei festgenommen zu werden. Junge Menschen, die Minderheiten angehörten,

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fielen weniger durch Delikte auf und machten eher einen höheren Schulabschluss (DuBois et al. 2018). Der letztgenannte Effekt wurde auch in der erwähnten deutschen Langzeitstudie belegt: Bei Grundschulkindern in der zweiten oder dritten Klasse wirkte sich Mentoring auf die weitere Schulkarriere aus: „Die Wahrscheinlichkeit, auf das Gymnasium zu gehen, obwohl die Mutter kein Abitur hat, (ist) für Kinder größer, wenn sie an 'Balu und Du' teilgenommen haben“ (Kosse 2016). Zudem war auch zwei Jahre, nachdem die Begleitung durch den Mentor beendet war, ein höheres Maß an höhere soziale Fähigkeiten festzustellen, verglichen mit Gleichaltrigen mit dem gleichen Bildungshintergrund (ebd.). … auf beiden Seiten: In den USA werden bislang selten die Auswirkungen erforscht, die das Engagement auf die Mentoren selbst hat. Eine umfassende Studie fand bei Studierenden, die als Mentor tätig waren, etwa eine größere Selbstwirksamkeitsüberzeugung bezüglich gemeinschaftlichen Handelns, mehr politisches Bewusstsein und eine Zunahme der Fähigkeiten zur Problemlösung (Weiler et al. 2013). Für das israelische Programm „Perach“ konnte gezeigt werden: Wer im Studium als Mentor/in aktiv war und die Erfahrung als bereichernd erlebt hat, entwickelte oder behielt eine positive Einstellung gegenüber Engagement und brachte sich auch Jahre später ein (Goldner et al. 2017). Auch für „Balu und Du“ konnten Effekte nachgewiesen werden, etwa eine größere Empathie, besseres Konfliktmanagement und bessere pädagogische Fähigkeiten (Szczesny et al. 2009). … auch gar nicht: Es gibt Dimensionen, zu denen in vielen Studien keine positiven Wirkungen gemessen werden konnten, etwa bei Kriminalität oder Fettleibigkeit (DuBois et al. 2011: 74). Bei der Gruppe der Mentees in besonderen Risikolagen etwa bleibt das Fehlverhalten ebenso stabil wie das Maß des Vertrauens in die Eltern (Herrara et al. 2012: 4). Die Teilnahme an „Balu und Du“ hatte zum Beispiel keinen Effekt auf den Fernsehkonsum – „obwohl man das vielleicht hätte annehmen können, denn die Mentees entwickeln ja neue, andere Interessen“ (Müller-Kohlenberg 2016). Auf einen Nenner gebracht, fällt die Einschätzung der quantitativ orientierten Forschung aus den USA gespalten aus: Das breite Wirkungsspektrum wird gelobt, aber die Gesamteffektstärke gilt als eher moderat: Cohen’s d von .21 wird für eine

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soziale Intervention als bescheidene Wirkung gewertet (DuBois et al. 2011; Ziegler 2009), andere Meta-Analysen kommen zu ähnlichen Werten (Rhodes 2018). Um dieses Resultat einzuordnen, werden unterschiedliche Hinweise gegeben. Die Basis der Wirkungsanalysen, so ein erster Aspekt, sind Mittelwerte, zusammengeführt über ganz unterschiedliche Dimensionen und aus Evaluationen mit großen Fallzahlen. Eine mögliche Folge davon veranschaulicht das Beispiel einer Studie, die die Konzentrationsfähigkeit der Kinder untersuchte. Das zunächst ernüchternde Ergebnis dazu: Die Effektstärken bei der Gesamtgruppe der Mentees fielen nur moderat aus. Verständlich, denn viele Kinder hatten keine Probleme mit der Konzentration, sie konnten sich kaum verbessern. Als man allerdings nur die Werte der Kinder betrachtete, die anfangs sehr starke Konzentrationsprobleme hatten, wandelte sich das Bild: Bei ihnen fanden sich die größten Effekte, sie profitierten am meisten. „Wer immer nur die Gesamtgruppe auswertet, dem gehen solche Ergebnisse verloren“ (Müller-Kohlenberg 2016). Eine andere Perspektive sieht die Aussagekraft quantitativer Forschung begrenzt. So verarbeiten Meta-Analysen etwa Daten sehr unterschiedlicher Projekte und beziehen auch Variablen ein, die nicht in deren Fokus standen (Ziegler 2009: 12). Zudem können quantitative Studien nicht alle Erfahrungen abbilden, die für die Beteiligten selbst sehr zentral sein können. So heißt es beispielsweise in einer Fallstudie über ein Mentoring-Projekt, das, angesiedelt in einem Kieler Multiproblem-Viertel, mit Kindern arbeitet, die durch Unterrichtsstörungen auffallen: „Einer der wichtigsten Effekte (war) der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen (…) und damit auch das Empfinden, nicht alleine zu sein. (...) Man muss sich ja vorstellen: Zuhause gab es für diese Kinder nicht immer jemanden, der sich interessiert. Mit dem Klassenlehrer hat man vielleicht gerade Knatsch – und wenn dann auch die Förderlehrkraft keinen Zugang findet oder nicht da ist, dann ist so eine Patenschaft etwas sehr Tragendes“ (Selle 2016).

Einsamkeit wird in der quantitativen Forschung selten thematisiert. Von der psychologisch orientierten Forschung kaum erfasst wird der Aspekt, wie sich durch Mentoring die Netzwerke von Mentees verändern. Dass sich das soziale Kapital vergrößert und mehr soziale Beziehungen zu relevanten Erwachsenen und Peers entstehen, wird eher in soziologisch fundierten Untersuchungen aus Europa nachgewiesen – nicht zuletzt für Mentees mit Migrations- und Fluchthintergrund eine wichtige Dimension (Crul 2018).

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Vor allem aber gibt es, wie die Meta-Analysen selbst beweisen und nachfolgend beschrieben wird, einen Zusammenhang zwischen den Effektstärken und der Art der Umsetzung von Mentoring: „Mentoring kann zwar hoch effektiv sein, in der Tat sogar die effektivste pädagogische Maßnahme, doch die Effektstärke ist aufgrund verschiedener Umsetzungsmängel typischerweise niedrig bis moderat“ (Ziegler 2009: 24).

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Wann wirkt Mentoring? Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen

Dass eine Mentoring-Beziehung besteht, sagt noch gar nichts. Entscheidend ist, wer wie beteiligt ist, wie sie arrangiert und begleitet wird. So lautet die zentrale Einsicht vieler Studien, die näher bestimmen, unter welchen Bedingungen Mentoring bessere oder schlechtere Effekte erzielt (DuBois et al. 2002 und 2011). Nachfolgend werden zentrale Faktoren beschrieben. Programmmerkmale: Wie Auswirkungen und organisatorische Umsetzung zusammenhängen, lässt sich zunächst am Beispiel der Dauer erläutern. Je länger Mentoring-Beziehungen andauern, so ein eindeutiger Befund, desto stärker sind die Effekte aufseiten der Mentees und desto besser schätzen die Beteiligten die Qualität der Beziehung ein. Treffen sich Tandems länger als ein Jahr, ergeben sich die positivsten Auswirkungen (Grossmann/ Rhodes 2002). Umso wichtiger erscheint, für eine Langlebigkeit der Mentoring-Beziehungen zu sorgen. Wie jüngst eine Studie (Kupersmidt et al. 2017) zeigte, gelingt dies Programmen offenbar am besten, wenn sie die Beteiligten gut vorbereiten, etwa dazu, wie sie die Beziehung aufbauen, welche Stolperfallen lauern etc. Hatten Projekte die entsprechenden Standards erfüllt, wie sie die „Effective Elements of Practice of Mentoring (EEPM)“ (Garringer et al. 2015) für das Training festlegen, konnte man am treffsichersten die Langlebigkeit der Tandems vorhersagen. Ein Ergebnis, das mit einem anderen Befund verbunden ist: Angemessene Erwartungen haben sich als Gelingensfaktor erwiesen und sind Ziel jeder Vorbereitung. Exemplarisch zeigt sich hier: „greater adherence to and fidelity of implementation with the EEPM can enhance program effectiveness“ (ebd.: 11). Das erwähnte Handbuch verbindet die Erfahrungen von Praktikern mit den Einsichten

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aus Studien, die weitere Programmmerkmale identifizieren konnten, anhand derer sich ebenfalls bessere Ergebnisse prognostizieren ließen (DuBois et al. 2002, DuBois et al. 2011). Zu diesen Merkmalen gehören: Es gibt ein Monitoring über die Prozesse im Projekt. Im Tandem bestehen übereinstimmende Erwartungen an die Regelmäßigkeit der Treffen. Mentoring-Paaren werden strukturierte Aktivitäten angeboten. Mentoren werden fortlaufend zu Trainings und Supervision eingeladen. Es gibt eine gute Passung zwischen den beruflichen und pädagogischen Hintergründen und den Zielen des Programms. Die Eltern werden eingebunden. Beim Matching wird darauf geachtet, Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenzubringen; ein Faktor, der sich statistisch als besonders relevant erweist (Rhodes 2018). Diese Facetten erfolgreicher Programme zusammen betrachtet, könnte man sagen: Die meisten zielen darauf, bestimmte Formen und die Regelmäßigkeit von Aktivitäten zu ermöglichen und die daraus resultierenden Prozesse kontinuierlich zu begleiten. Allerdings wird für die USA eine große Kluft beschrieben: Nur ein Drittel der Programme folgen allen Standards des EEPM (ebd.). Dabei würde es sich lohnen: Wird das ganze Repertoire bewährter Praktiken umgesetzt, können Programme um das Dreifache effektiver sein als jene, die in dieser Hinsicht durchschnittlich sind (DuBois et al. 2002). Im mindestens sollten Maßnahmen getroffen werden, Schaden zu vermeiden (Rhodes et al. 2009). Etwa 40 Prozent der Mentoring-Beziehungen in den USA enden vorzeitig (Rhodes 2018). Das kann sich nachteilig auf die betroffenen Mentees auswirken: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zeigen diese bei einem Abbruch innerhalb der ersten sechs Monate ein stärkeres Problemverhalten, etwa Alkoholmissbrauch (Grossman/ Rhodes 2002). Zwar hat sich dieser Effekt nicht in allen Meta-Analysen bestätigt (DuBois et al. 2011). Aber gerade für Kinder und Jugendliche, die bereits Beziehungsabbrüche erlebt haben, kann dieser neuerliche Verlust schwerwiegend sein. Deshalb erweist sich ein sorgfältiges Abschlussmanagement als wichtige, aber oft vernachlässigte Aufgabe für Mentoring-Programme (Spencer 2007). Eigenheiten der Mentor/-innen: Die genannten Meta-Analysen (DuBois et al. 2002 und 2011) konnten auch Merkmale der Freiwilligen identifizieren, die mit besseren Auswirkungen bei Mentees korrelierten: Die Mentoren haben eine positive Einstellung gegenüber jungen Menschen und eine hohe Selbstwirksamkeits-

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erwartung. Zudem sind sie sensibel, was sozioökonomische und kulturelle Einflüsse auf die Lebenswelt und Persönlichkeit des Mentees anbelangt. Auch können sie eine Fürsprecher- bzw. anwaltliche Rolle für ihren Mentee übernehmen. Eine zugespitzte Formel über besonders wertvolle Freiwillige lautet: Die besten Freiwilligen sind die, die mit realistischen Erwartungen anfangen und etwas Erfahrung in einer helfenden Rolle haben (Rhodes 2018). Wer sich früher schon mit jungen Menschen beschäftigt hat, scheint zum Beispiel eher in der Lage, mit den negativen Auswirkungen zurechtzukommen, die die Verhaltensprobleme des jungen Menschen mit sich bringen (Raposa et al. 2016). Zu den weiteren Aspekten, die sich als günstig herausgestellt haben (siehe Schüler 2011), gehören: Die Mentoren bieten sowohl Unterstützung als auch Struktur (Rhodes/ DuBois 2006), haben weder einen dominanten noch einen Laissez-faire-Stil und können sich sowohl gut auf die konkrete Situation des Mentees einstimmen (Weiler et al. 2016) als auch selbst beruhigen und motivieren (Frankenberg/ Aufhammer 2012). Wie aus den weiter oben vorgestellten Arbeitsmodell hervorgeht, ist anzufügen: „Mentors must be willing to tolerate ambiguity as they determine the best course of action“ (Rhodes et al. 2014: 520). Eigenheiten der Mentees: Mentoring wirkt nicht bei allen jungen Menschen gleichermaßen. Es zeigen sich Unterschiede, die von Studie zu Studie stark variieren. Von Meta-Analysen (DuBois et al. 2011) bestätigt ist: Programme, die größere Anteile weiblicher Mentees haben als männliche, haben weniger starke Effekte. Die Gründe dafür sind nicht genau erforscht, es gibt Hinweise darauf, dass weibliche Mentees oft mehr Misstrauen gegenüber Erwachsenen mitbringen. Auch könnten sie mit ihrer Begleiterin mehr mit 'problem-talk' beschäftigt sein als männliche Mentees (ebd. S. 77). Außerdem sind größere Wirkungen belegt, wenn Mentees beteiligt sind, die entweder bereits Verhaltensprobleme hatten oder starke umweltbedingte Risikofaktoren aufwiesen, etwa weil sie in von Armut und Kriminalität geprägten Vierteln wohnen. Sind Mentees von beiden Risikofaktoren betroffen, finden sich geringere Effektstärken (ebd.). Gleichzeitig ergeben sich aus Risiken auch Belastungen für die Mentoring-Beziehung selbst: Bei einem erheblichem Stressniveau, bedingt durch Ärger mit den Eltern oder in der Schule, ist die Gefahr größer, dass die Beziehung kürzer dauert (Raposa et al. 2016). Stark von Mentoring profitieren, doch zugleich bedroht sein, diese Unterstützung eher zu verlieren: Das ist ein Befund, der die Chancen wie die Grenzen der Methode beleuchtet.

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Wie unterschiedlich Mentoring selbst bei einer konkret umrissenen Zielgruppe wirken kann, zeigt eine Studie über junge Menschen mit chronischen Gesundheitsproblemen. Verglichen mit einer Gruppe ohne Mentoring, verringerten sich bei diesen Mentees beispielsweise die Symptome von sozialer Angst, zudem zeigten sie mehr Selbstvertrauen gegenüber Peers. Diese Veränderung stellte sich aber nur ein bei denen, die aufgrund ihrer Krankheit in ihren Aktivitäten eingeschränkt waren (Lipman et al. 2018). Einflüsse des Umfelds: Systemisch oder soziologisch betrachtet, sind MentoringBeziehungen stets in ein Umfeld eingebettet, das sie prägt. Deshalb ist von Wechselwirkungen mit anderen Akteuren auszugehen. Nicht nur gehört, wie geschildert, das Programm dazu, sondern allem voran auch die Familie des Mentees. Die Eltern einzubeziehen hat sich als Praxis erwiesen, die mit besseren Ergebnissen verbunden ist (DuBois et al. 2011). Wir wirksam Mentoring ist, kann davon abhängen, was die Eltern tun. So fand eine Studie über schulisches Mentoring: Wie diese Förderung wirkte, war bedingt durch das Ausmaß, wie die Mutter ihr Kind gleichzeitig unterstützte. Fiel deren Unterstützung stark aus, konnten deutlich bessere Ergebnisse bei der schulischen Anpassung vorhergesagt werden. Ein Resultat, das eine selektive Wirkung belegt und suggeriert, wie Mentoring vor allem 'die Reichen reicher machen' kann. Allerdings haben auch die schlechter gestellten Mentees profitiert: Auch wenn sie weder von der Mutter noch von Lehrern unterstützt wurden, hatte sich bei ihnen die schulische Einstellung verbessert (Weiler et al. 2017).

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Was sind Besonderheiten bei Mentoring für Kinder und Jugendliche mit Migrations- oder Fluchthintergrund? Kulturelle und situationsspezifische Hintergründe

Wenn es um menschliche Entwicklung geht, sind Fragen der Kultur immer präsent. Werte, Normen, Glaubensvorstellungen, Gewohnheiten und Bräuche etc. bestimmen mit, welche Bedarfe Menschen haben und wie sie ihre Beziehungen erleben und gestalten. Insofern beeinflussen kulturelle Faktoren auch Mentoring – so wie alle Faktoren dafür eine Rolle spielen, die für die Lebensumstände und die

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Identität der Beteiligten relevant sind und etwa in den Bereich Diversität fallen, seien es äußere Merkmale oder ethnische und soziale Zugehörigkeiten. Was die Erforschung dieses Aspekts anbelangt, ist zuerst zu sagen: Wissenschaftler empfehlen durchgängig, alle mit Kultur verbundene Aspekte in der Vorbereitung zu thematisieren und Freiwillige dafür zu sensibilisieren und zu schulen. „The need to promote and practice cultural sensitivity can, in fact, be regarded as an ethical imperative“ (Goldner/ Scharf 2014: 197). Ansonsten existieren viele theoretische Konzepte, aber wenig gesicherte Befunde; Studien basieren oft auf geringen Fallzahlen, systematisch wird der Fokus erst seit zehn Jahren darauf gelenkt (Sanchez et al. 2014: 156). In den USA gehört im wissenschaftlichen Diskurs dazu, nach ‚Rassen‘ zu unterscheiden, meist zwischen Afroamerikanern und Weißen. Es wird von „racial identities“ gesprochen, definiert als „individuals' internalization of their racial socialization (e.g., discrimination, what it means to be black)” (Sánchez et al. 2014: 147). Teilweise überschneidet sich dies mit der Kategorie „ethnic identity“, die eher darauf abhebt, kulturell umgrenzte Verhaltensweisen und Vorstellungen einer Gruppe zu kennzeichnen. Für die USA sind diese Differenzen und die damit verbundenen Fragen deshalb relevant, weil in Mentoringprogrammen dort zumeist afroamerikanische junge Menschen auf weiße Erwachsene treffen – und weil „youth of color“ in ihren natürlichen Kontexten deutlich weniger natürliche Mentoren finden als weiße Jugendliche in ihren Umgebungen (Rhodes 2018). Ein Ausgangspunkt ist hier das Paradigma, wonach Menschen andere attraktiver finden, je ähnlicher diese ihnen selbst sind. Eine Möglichkeit, wie sich dies im Mentoring niederschlagen könnte, lautet: Mentoring-Beziehungen, in denen Menschen der gleichen „Rasse/ Ethnie“ beteiligt sind, könnten eher gelingen, weil sie größere Gemeinsamkeiten haben (ebd.). Dass sich dies wiederum auf die Effektivität der Beziehungen auswirkt, ist aber nicht bestätigt: Es gibt gemischte Befunde dazu. In einer Meta-Analyse (DuBois et al. 2011) fanden sich nur kleinere Effekte, wenn nach dem Kriterium gleiche „Rasse/ Ethnie“ gematcht wurde. Trotzdem erweisen sich die Kategorien als praktisch relevant. In einer experimentellen Studie mit afroamerikanischen Jugendlichen kam heraus: Jene mit einer starken ethnischen Identität schätzen afroamerikanische Mentoren als kompetenter ein als jene mit schwächeren ethnischer Identität – möglicherweise weil Letztere negative Stereotype über Afroamerikaner haben und positivere Bilder über Weiße. Ein heikles Ergebnis, denn ein positives Selbstbild der eigenen Gruppe

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führt eher zu einer guten Entwicklung junger Menschen, als wenn dieses schlecht ausfällt (Sánchez et al. 2014: 153). Die Empfehlung an die Praxis lautet am Ende: Beim Matching sollten die Präfenzen der Beteiligten gelten. Gleichwohl kann man beide Seiten anleiten, relevante Ähnlichkeiten in anderen weniger offensichtlichen Aspekten zu finden, etwa bei den Interessen. Zugleich sollte erwogen werden, durchaus eher ein Tandem der 'Gleichen' zu matchen, wenn der Mentee selbst die eigene Gruppe abwerten könnte, und eher ein Tandem der ‚Ungleichen‘, wenn der Mentee wenig Kontakt zu anderen Lebenswelten hat (ebd.). Einen anderen Zugang bieten Studien, die idealtypisch zentrale Werte von Kulturen voneinander abgrenzen und schauen, wie sich diese auf die Erwartungen an und Funktionen von Mentoring auswirken könnten (für das Folgende Goldner/ Scharf 2014: 191 ff.). Eine eher individualistische Orientierung etwa könnte in Mentoring ein Mittel sehen, das hilft, persönliche Kompetenzen und Autonomie zu vergrößern – zum Wohle des Einzelnen. In einer stärker kollektivistisch ausgerichteten Tradition dürften Mentoring-Beziehungen als Weg gelten, die Zugehörigkeit des Einzelnen zu fördern, Zusammenhalt zu stärken und die dafür notwendigen sozialen Fähigkeiten zu vermitteln – zum Wohle der Gemeinschaft. Je traditioneller eine Gesellschaft, desto mehr hierarchische Beziehungen werden sich finden, weshalb die Rolle des Mentors auch eher die einer Autoritätsperson ist, der auch die Ziele bestimmt. Dem gegenüber steht eine egalitärere Orientierung, die mehr auf die Gemeinsamkeit in einer Mentoring-Beziehung setzt und auf die Mitbestimmung des Mentees. Außerdem ließe sich unterscheiden, wie der Umgang mit Emotionen aussieht. Insofern eher kollektivistische Zugänge stärker die Bedeutung der Gemeinschaft in den Vordergrund stellen, fördern sie weniger die Kommunikation über subjektive Empfindungen, sondern eher die kognitive Entwicklung, die zu praktischen Fähigkeiten führt. Anders die individualistische Haltung: Hier ist der Austausch über das eigene Erleben und die emotionale Offenheit wichtig, allein schon, um die Mentoring-Beziehung eher freundschaftlich gestalten zu können, aber auch als zentrale Anforderung, um reflexiv eine eigene Identität aufzubauen. Diese Pole im Hinterkopf zu behalten, am besten schon bei der Planung und in der Vorbereitung, kann allen mindestens helfen, so lautet eine Empfehlung, interkulturell bedingte Missverständnisse zu vermeiden und sich aufeinander einzustimmen.

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Beim Mentoring für Geflüchtete gilt diese Rahmung gleichermaßen. Auch für sie gilt eine Einsicht, die schon zuvor thematisiert wurde: Junge Menschen mit Fluchtsind wie andere mit Migrationshintergrund eine Gruppe, die zu heterogen ist, als dass man sie alle nach dem gleichen Muster behandeln könnte: „Given the tremendous diversity, a one-size-fits-all approach simply cannot work, and providers need a range of tools and approaches at their disposal to adress varied needs“ (Birman/ Morland 2014: 366).

Angesichts der Vielfalt wird es auch für sinnvoll gehalten, die jeweiligen Bedarfe von den Betroffenen selbst zu erfragen und schon bei der Projektentwicklung partizipativ vorzugehen – so mühsam dies zunächst sein mag (Morland 2016). Einige Besonderheiten bei neu Zugewanderten lassen sich aus ihrer Notsituation und der daraus resultierenden größeren Vulnerabilität ableiten. Eine zentrale Maßgabe betrifft den zeitlichen Verlauf: Das Mentoring-Angebot sollte zur jeweiligen Phase des Ankommens passen (Birman/ Morland 2014). Gerade am Anfang im neuen Land ist demnach wichtig, dass die Familie gestärkt wird. Ohnehin steht sie vor einer Belastungsprobe: Weil Kinder schneller die neue Sprache und Kultur erlernen als ihre Eltern, stellt sich das ein, was „acculturation gap“ genannt wird. Die jüngeren Familienmitglieder verbinden sich eher mit der neuen Kultur, was zu Konflikten mit den Älteren führen kann. Für die Entwicklung der Kinder eine Gefahr, denn der Zusammenhalt in der Familie bleibt dafür ein zentraler Faktor, erst recht, wenn familialistisch-kollektivistische Traditionen den Rahmen vorgeben. Ungünstig daher, wenn durch Mentoring eine elternähnliche Bezugsperson eingeführt wird, die die Kluft vertiefen und die wechselseitige Entfremdung verstärken könnte. Eine potentielle Nebenwirkung übrigens, die auch in anderen sozialen Konstellationen von Mentoring beschrieben wurde (Colley 2001). Deshalb wird empfohlen (Birman/ Morland 2014: 363ff.), für neu zugewanderte Kinder und Jugendlichen eher ein instrumentelles Mentoring zu organisieren, etwa für den Spracherwerb. Ein weiterer Rat: in der ersten Ankommensphase Mentoring für Familien als Ganzes anbieten. Mentoren können dabei auch wichtige Lotsenfunktionen übernehmen, die viele Aspekte etwa des Schulsystems verständlich machen können. Später, wenn bei den jungen Menschen Identitätsfragen aufkommen, die das Leben zwischen zwei Kulturen betreffen, gilt als sinnvoll, wenn Kindern und Jugendlichen ein Mentor an die Seite gestellt wird, der selbst

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als Zugewanderter diese Aufgabe schon bewältigt hat und insofern als Rollenmodell dienen kann.

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Was sagen kritische Analysen über Mentoring? Gesellschaftliche Hintergründe, politische Vorgaben, institutionelle Notlagen

Fast wie eine Offenbarung wurde es aufgenommen, als in den USA im Jahr 1995 eine Studie über Big Brother Big Sister erschien. Wissenschaftlich auf höchstem Niveau durchgeführt, wies sie nach: Mentoring sorgt dafür, dass Kinder seltener beginnen Drogen zu nehmen, dass sie weniger häufig die Schule schwänzen oder sich seltener schlagen. Bei der Veröffentlichung hieß es: „This program suggests a strategy the country can build on to make a difference.“ Und tatsächlich beschäftigten sich in den Wochen darauf Politik und Öffentlichkeit mit dieser Studie, die in den USA somit dafür sorgte, dass Mentoring den Durchbruch erreichte (Walker 1995). So erzählt, ist dies der oberflächliche Teil der Geschichte. Wer Mentoring kritisch beleuchtet, legt dagegen auch das Darunterliegende frei: die gesellschaftlichen Entwicklungen und Kontexte, in denen das Instrument thematisiert und gefördert wird – oft mit spezifischen gesellschaftspolitischen Vorzeichen. Zum Boom des Mentorings ab den 1990-Jahren gehörte es demzufolge, dass es weniger um die Sorge des Auseinanderdriftens der Gesellschaft ging, was nicht zuletzt eine Folge steigender Einkommensungleichheit war. Stattdessen wurde Mentoring als ein vergleichsweise kostengünstiges Instrument verstanden, das als Antwort taugte für die wachsende Zahl von marginalisierten Jugendlichen, die dem Sparkurs etwa in der öffentlichen Bildung zum Opfer fielen. „Consistent with the times, the public embraced formulations and solutions that highlighted individual frailty and redemption over structural impediments and change. And, because mentoring located the problem (a lack of role models) and solution (deployment of predominately middle-class volunteers) at the personal level, it fit neatly popular notions of equal opportunity for upward mobility“ (Rhodes 2018a).

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Zu diesem Zeitgeist passten auch wissenschaftliche Moden: Die Psychologie beschäftigte sich mit dem „dekontextualisierten Kind“. Angesagt war, eher am individuellen jungen Menschen zu arbeiten, an dessen Kompetenzen zum Ausgleich der Defizite. Umso weniger wurden die Ressourcen erforscht, die in den unmittelbaren Umgebungen lagen: In Familien und Nachbarschaften wurden nur die Probleme, nie die Lösungen gesehen. Anders als frühe Aktivisten des Mentoring, die auch das soziale Netzwerk der Familie förderten, fokussierten die modernen Angebote meist nur das Kind (ebd.). Eine Schlussfolgerung daraus lautet: „As we celebrate our successes in mentoring, we must also retain the courage to challenge the forces of inequality“ (ebd.). Auch in anderen Ländern, vor allem in England, aber auch in Deutschland, wurde die Entwicklung der Mentoring-Bewegung kritisch begleitet. Überwiegend soziologisch mit Fallstudien arbeitend, lautet die Diagnose für Programme, die an den Übergängen von Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt tätig sind: Die umfassende Marginalisierung großer Gruppen junger Menschen erscheint hier nur noch als Aneinanderreihung von Charakterschwächen. „Dabei wird die strukturelle Dimension der Übergangsproblematik verschleiert“ und in eine „Individualisierung sozialer Risiken umgedeutet“ (Lorenzen 2017: 189). Jugendliche müssen sich selbst kümmern und eine neue Dimension von Ungleichheit schultern, denn sie müssen auf den Beistand Freiwilliger hoffen, die sich wiederum als verantwortliche Bürger selbst funktionalisieren. Mentoring wird in diesem Licht zu einer der „aktivierungspolitischen Techniken und Instanzen der Anleitung zum Selbstverantwortlichsein“ (Lessenich, zit. nach Lorenzen 2017: 184). Daraus folgt, dass Mentoring nicht als „Allheilmittel zur Lösung des Problems ‚Übergang‘“ (Lorenzen 2017: 182) taugt. Außerdem, so reklamiert eine feministische Perspektive (Colley 2003), wird bei Mentoring eine fragwürdige aufopferungsvolle Praxis aufgerufen, die auf Weiblichkeits-Stereotypen aufbaut. Überwiegend getragen von Frauen, sollen sie im Mentoring Emotionsarbeit leisten, das heißt: die eigenen Gefühle wie die der anderen kontrollieren und bearbeiten. Wenn sie an den hohen Anforderungen, die damit einhergehen, scheitern, zahlen Frauen demzufolge nicht selten einen hohen Preis, etwa schwer beschädigtes Selbstvertrauen. Indem Verbindungen zwischen globalen und persönlichen Prozessen hergestellt werden, bekommen Analysen des „engagement mentorings“ zugleich einen kapitalismuskritischen Zungenschlag:

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„In the globalized economy (...), the reproduction has become a matter of enlistening not only bodies, but also hearts and minds. Our very selves become dehumanized as human capital. In mentoring, the greatest contradiction is that this brutal commodification of the self is cloaked in the guise of human relationships based on warmth and compassion“ (Colley 2003: 152).

Trotzdem wird Mentoring nie als Ganzes infrage gestellt. Schädliche Nebenfolgen resultieren demnach vor allem aus politisch diktierten Zwecksetzungen, die von außen den Mentoring-Beziehungen vorgegeben werden; im konkreten untersuchten Fall war das Ziel die schnelle Einbindung in den Arbeitsmarkt. „When young people are allowed to negotiate mentor relationships on the basis of their own needs and concerns, they usually perceive mentoring in a highly positive way, and can identify important benefits they have gained from the experience“ (ebd.: 162).

Anders, selbstbestimmter genutzt, könne Mentoring auch Prozesse der Solidarisierung und des gemeinschaftlichen Lernens in Gang setzen. Eine andere Frage, die häufig mitthematisiert wird, wenn es um Mentoring geht, lautet: Inwieweit ergeben sich Konkurrenzen und Verdrängungskämpfe zwischen freiwilligen Mentoren und Fachkräften etwa in der Jugend- und Familienhilfe? „Bei aller Freude über die vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten von Ehrenamtlichen“, heißt es etwa in einem Beitrag über die Situation in Deutschland: Mentoring ist „ein ‚Einfallstor‘ für neue Akteure im klassischen Hilfe-Feld der Sozialen Arbeit“ (Lorenzen/ Zifonun 2011: 2). Empirisch dargelegt ist in einer Fallstudie über ein schulisches Projekt, dass die Patenschaften „in einigen Fällen“ zweckentfremdet wurden. „Wenn Sonderpädagogen der Schule etwa krank waren und sich eine Unterversorgung mit Förderlehrkräften einstellte, wurde schon versucht, die fehlenden Fördermaßnahmen mit den Patenschaften zu kompensieren“ (Selle 2017).

Obwohl klar ist, dass Patenschaften dies nicht leisten, „genauso wenig wie sie sozialpädagogische Maßnahmen ersetzen können“, wird hier auf die „große Gefahr“ hingewiesen: „Wenn sich professionelle Strukturen lichten, können deren Aufgaben in Patenschaften verschoben werden. Das aber ist schon deshalb nicht wünschenswert, weil es die spezifischen Qualitäten von Patenschaften bedroht“ (ebd.).

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Eine skeptische Analyse sieht daher mit dem „Einzug des Mentorings“ „problematische De-Professionalisierungselemente“ (Lorenzen/ Zifonun 2011: 4) verbunden. Freiwillige Mentoren können demzufolge keine „professionelle Reflexion“ ihrer Arbeit leisten, was dazu führt, dass „die Beziehung nicht ausreichend professionell gesteuert und gestaltet werden kann“ (ebd.). Auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext erscheint die Mentoring-Szene als Problem, weil sie „keine nachhaltige Leistung“ (ebd.: 5) vollbringen kann. „Das ehrenamtliche Engagement (im Mentoring, B.S.) wird zwar als Lösung gesellschaftlicher Probleme propagiert, verdrängt damit aber in manchen Fällen die professionelle Soziale Arbeit, die mit Lizenz und Mandat zur Lösung eben dieser gesellschaftlichen Probleme ausgestattet war“ (ebd.).

Ohne empirisch untermauert zu sein, überwiegt in dieser Sicht der Verlust an Professionalität den Gewinn an neuen bürgerschaftlichen Unterstützungsressourcen. Dem gegenüber stehen Positionen, die das Subsidiaritätsprinzip geltend machen: „Professionalität ist nachrangig und da einzusetzen, wo ehrenamtliches Engagement überfordert ist“ (Röbke 2011). Mentoring ist demnach ein zusätzliches Angebot, aufbauend auf professionellen Hilfesystemen. Daher gilt es, die unterschiedlichen Formen der Koproduktion von Haupt- und Ehrenamt auszuloten und die jeweiligen Ressourcen angemessen zu verbinden (ebd.). Aus den USA wiederum kommen aktuell Forderungen, mehr auf die Paraprofessionalisierung der Mentoren zu setzen. In vielen Feldern haben demzufolge geschulte, fortgebildete Laien, die bestimmte Lern- oder psychologische Techniken anwenden, bessere Ergebnisse erzielt als professionelle Psychologen (Rhodes 2018). Auch zu diesen Vorschlägen gibt es Gegenstimmen, ein prinzipieller Einwand lautet: Wird „die Logik von Effektivität und Effizienz auch als Mantra in den Ehrenamtsbereich hineintragen“, „verlieren Patenschaften ihren eigenen Charme, ihren Eigensinn“ (Röbke 2011: 2). Eine grundsätzliche Frage, die in diesen Debatten aufgeworfen wird, mahnt an, eine Entscheidung über den effizienten Einsatz von Mitteln zu treffen: Wann lohnt es eher in Professionalität zu investieren und wann eher in Mentoring? Übertragen etwa auf die Situation eines schulischen Mentoring-Projekts heißt dies: Lernen die Kinder mehr in Mathe, wenn eine zusätzliche Lehrkraft eingestellt wird oder wenn eine Unterstützung durch Mentoren aufgebaut wird? (Crul 2018)

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Zudem kann man nach den angemessenen Rahmenbedingungen für gutes Mentoring fragen. Weit überwiegend werden Mentoring-Angebote in Deutschland über Projektmittel finanziert. Das verkennt, so lautet eine Stimme, dass man es „nicht mit einem konjunkturellen Bedarf zu tun“ hat. Die Förderbedarfe eines Fünftels der jungen Menschen blieben ja fortlaufend bestehen und verschwänden nicht. Die Schlussfolgerung: „Das Mentoring muss aus der Projektfinanzierung heraus und in die strukturelle Dauerfinanzierung hinein“ (Hurrelmann 2019).

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Wie weiter? Schlussfolgerungen und neue Perspektiven

In ihrer Keynote anlässlich des 3. European Mentoring Summits im März 2018 in Berlin wurde Jean Rhodes deutlich: „Europa, mach es besser“, so lautete der Appell der international bekanntesten Mentoring-Forscherin aus Boston. „Lernt aus den Fehlern, die wir in den USA gemacht haben!“ Ein falscher Weg war ihr zufolge, sich zu stark auf das quantitative Wachstum der Projekte auszurichten. Weil begrenzte Ressourcen genutzt werden, um immer höhere Zahlen von Mentees einzubinden, entstehen nach dieser Diagnose massive Qualitätsmängel in der Umsetzung (Rhodes/ DuBois 2008). Das wiederum führt, wie hier mehrfach gezeigt wurde, zu einem Verlust an positiven Wirkungen. Denn, ein weiteres Ergebnis dieser Zusammenschau: Wer irgendein Tandem zusammenführt, hat noch nichts erreicht. Im Gegenteil, unter schlechten Umständen hat man ein Risiko provoziert, weil Mentoring aufgrund vieler sensibler Prozesse, die es in Gang setzt, auch negativ wirken kann. Daher sind viele Faktoren zu bedenken, um sowohl eine wirksame als auch zufriedenstellende Mentoring-Beziehung vorzubereiten, zu stiften, zu begleiten und zu beenden. So vielfältig und konträr die Einsichten aus der Forschung sind, die hier nur ausschnitthaft wiedergegeben werden konnten, so sicher ist: Von den Bedarfen und Eigenheiten der Zielgruppe hängt ab, welche Formen, Stile und Aktivitäten des Mentorings angemessen sind. Dies zu berücksichtigen ist umso wichtiger, je vulnerabler die beteiligten Kinder und Jugendlichen sind, nicht zuletzt bei geflüchteten jungen Menschen. Wer die Mentoringarbeit in Deutschland fördert, organisiert und anleitet, sollte dies berücksichtigen. Außerdem ist deutlich geworden: Mentoring kann kein Allheilmittel sein. Um allen Bedarfen benachteiligter junger Menschen gerecht zu werden, braucht es

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mehr als ein Mentoring, das nur am Individuum arbeitet, aber nichts an den sozialen Verhältnissen ändert. Und unter Umständen braucht es auch andere innovative Formen. Ausschließlich eingeschränkt auf das, was Projekte arrangieren, ist klar: So bleibt Mentoring „an important but limited programmatic solution“ (Walker 2005: 518). Denn die Zahl der Freiwilligen wird auch in Deutschland begrenzt bleiben. In den USA haben vier Prozent der jungen Menschen einen formal vermittelten Mentor (Rhodes 2018). Die Frage ist, wie sich das Engagement niedrigschwelliger gestalten lässt. Online-Mentoring kommt hier ins Spiel. Ein neuer Trend in den USA ist aber vor allem, das informelle Mentoring in natürlichen Kontexten zu fördern und damit auf dem aufzubauen, was es schon gibt: Über 60 Prozent der jungen Menschen bekundet, einen solchen Mentoren zu haben – entferntere Verwandte, Lehrkräfte, Nachbarn und andere Personen, die Teil des sozialen Umfelds sind. Wie mehrere Studien nachweisen (Schwartz/ Rhodes 2016), profitieren die jungen Menschen davon. Mehr noch: Unter der Bedingung, dass die Beziehung gut ist, also eng, unterstützend, zugewandt, sind die Ergebnisse besser als im formalen Mentoring. Allerdings sind die Chancen sozial ungleich verteilt: Wer in einer Armutslage aufwächst, hat deutlich seltener einen natürlichen Mentor als Kinder besserverdienender Eltern; oft hat dieser zudem weniger soziales Kapital als die informellen Begleiter aus reicheren Haushalten (Schwartz et al. 2018, zitiert nach Rhodes 2018). Deshalb geht es prinzipiell darum, ein Leitbild der „mentor-rich environments“ zu verfolgen, über den Tellerrand von Projekten hinaus. Konkret machen sich erste Initiativen daran, jungen Menschen beizubringen, sich selbst einen Mentor zu suchen. „From Treatment to Empowerment“ (Schwartz/ Rhodes 2016) scheint ein Ansatz mit Erfolg zu sein, wie erste Studien zeigen (Schwartz et al.2018b): College-Studierende aus Zuwandererfamilien der ersten Generation, die entsprechend geschult worden waren, standen in der Zeit nach dem College besser da: Verglichen mit einer Kontrollgruppe zeigten sie signifikant bessere Leistungen, neigten weniger dazu, Hilfe abzulehnen, suchten mehr Unterstützung und waren engagierter. Insgesamt, so lautet dieser Impuls, sind Modelle gefragt, die Schnittmengen zwischen natürlichem und künstlichem Mentoring ausloten und das Zusammenwirken beider Förderbeziehungen arrangieren. Wie schon an anderen Stellen dieses Überblicks erweist sich auch hier wieder: Im Mentoring geht es selten um ein Entweder-oder, sondern meist um ein Sowohl-als-auch. Mit Spannungsfeldern

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und Ambivalenzen ist zu rechnen (Schüler 2013, Jakob 2019: 51ff.), und der konstruktive Umgang damit ist eine entscheidende Bedingung für das Gelingen. Nicht zuletzt zu einseitige, unter Umständen politische Zwecksetzungen belasten diesen Prozess. Viele der vorgestellten Erkenntnisse belegen im Übrigen, dass der Hype-Zyklus vorangeschritten ist: Über den „Gipfel überzogener Anfangserwartungen“ hinweg und durch das „Tal der Ernüchterung“ hindurch, scheint die Forschung in die „produktive Phase realistischer Einschätzung“ eingemündet zu sein (Ziegler et al.2009: 321). Damit einher geht die Einsicht: Nicht nur die Praxis, auch die wissenschaftliche Auswertung von Mentoring ist eine dynamische Angelegenheit. Es gibt eindeutige, gut zusammenstimmende Befunde, die klare Orientierungen für die Praxis liefern, aber es finden sich auch widersprüchliche und sich wandelnde Ergebnisse und Leitkonzepte, zumal im Vergleich unterschiedlicher Länder. Ein Beispiel für die zahlreichen Wandlungen liefert die oben erwähnte Jean Rhodes, das wohl international bekannteste 'Gesicht' der Mentoring-Forschung. Lange Zeit richtete sich alles an dem (psychologischen) Mentoring-Modell aus, das sie maßgeblich entwickelt hatte: das Freundschaftsmodell, das die Nähe und Verbundenheit von Mentee und Mentor als zentralen Wirkmechanismus ansieht. Inzwischen hat sie diese Grundannahme revidiert und neigt nun zu einem (pädagogischen) Konzept, das Mentoring als einen Rahmen für individualisiertes Lernen und Üben versteht, allgemeiner: die Beziehung als Kontext für eine Intervention (Rhodes 2018). Trotz aller Wandlungen plädiert sie für eine Stärkung und Verstetigung des 'organisierten Mentorings'. Auch in Deutschland finden sich inzwischen Stimmen von Wissenschaftlern, die den Ansatz weitreichender als bisher etablieren möchten. Angesichts der vielen Befunde zu Mentoring, so sagte kürzlich der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, „sollten die politischen Bemühungen darauf hinwirken, Mentoring und Patenschaften zum Bestandteil der normalen Kultur-, Bildungs-, Sportarbeit etc. mit Kindern und Jugendlichen zu machen. Wir müssen Mentoring in die sozialpädagogische und -arbeiterische Förderung junger Menschen so integrieren, dass es überall fest verankert ist“ (Hurrelmann 2019: 7).

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Sieht man Mentoring ansonsten als Spiegel aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen, Erwartungen, Interessen und Leitbilder sowie wissenschaftlicher Konzepte, wird sich das Instrument wohl auch künftig in seinen Formen und Anwendungen weiterentwickeln und immer neu angewandt werden.

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Bernd Schüler

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Das Mentoringprogramm Balu und Du Welchen Beitrag leistet Forschung für den Nachweis der Wirksamkeit? Franziska Niebuhr

Abstract Im Mentoringprogramm Balu und Du trifft sich eine junge erwachsene Person als Mentor*in ein Mal in der Woche für ein Jahr lang mit einem Grundschulkind als Mentee. Das Informelle Lernen in der 1:1-Situation steht hierbei im Vordergrund und die Treffen werden je nach Interessen und Ressourcen gemeinsam gestaltet. Diskutiert wird hier eine interdisziplinäre Auswahl an Forschungsarbeiten, die die Wirkung des Breitbandprogramms sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene darstellen. Stichworte Mentoring, Prävention, Persönlichkeitsentwicklung, Informelles Lernen, Grundschulkinder

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Einleitung „We constantly walk that tightrope between scale and quality because what we know is that mentoring helps drive greater public health, public safety, and the very things that lead to opportunity – school attendance, achievement, graduation, workforce readiness, and connection to community – when it is done with rigor and clarity of purpose” (Shapiro, 2014: x).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_5

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Franziska Niebuhr

Die Worte von David Shapiro, Chief Executive Officer des amerikanischen Mentoringprogramms MENTOR, beschreiben, wozu Mentoring Kinder und Jugendliche als Mentees befähigen kann: Sich eigenständig und mit offenem Blick in der Welt zu bewegen, eigene Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Mentoring, das an klare Ziele gebunden ist („clarity of purpose“), umfasst recht unterschiedliche Formen: es gibt Informelles Mentoring, Formelles Mentoring, Cross-Mentoring, Externes Mentoring, um nur ein paar zu nennen (vgl. Höher 2013: 97ff.). Eindeutig definierte Ziele werden beim Mentoringprogramm Balu und Du allerdings nicht verfolgt. Für ein Jahr lang übernimmt hier ein*e junge*r Erwachsene*r (Balu) eine Patenschaft für ein Grundschulkind und verbringt einmal in der Woche für zwei bis drei Stunden den Nachmittag mit dem Kind, ihrem oder seinem Mogli. Das diskursive Aushandeln über die Gestaltung der Treffen, das je nach Ressourcen und Herausforderungen erfolgt, die sowohl Mentor*in als auch Mentee mitbringen, steht hierbei im Vordergrund. So unterschiedlich sich die Beziehungen entwickeln, so divers sind auch die Wirkungen, die erfasst werden können. Je nach Forschungsinteresse wird „nach vermuteten, erhofften, unerwarteten, befürchteten oder anekdotisch festgestellten Wirkungen“ gesucht (Müller-Kohlenberg 2018: 97), was wiederum unterschiedliche Forschungszugänge fordert. Dementsprechend gilt es, in der Begleitforschung ein ausgewogenes Verhältnis zwischen quantitativer Forschung („scale“) und qualitativer Forschung („quality“) herzustellen. Um diese Relevanz nachfolgend zu erläutern, soll zunächst die Infrastruktur des Programms dargestellt werden.

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Die Infrastruktur von Balu und Du und seine Projektbausteine

Balu und Du ist ein Mentoringprogramm für Grundschulkinder und existiert bereits über 15 Jahre. Drei Gespanne waren es, die im ersten Durchgang 2001/2002 in Osnabrück ihre Mentor*in/Mentee-Beziehung begannen, bis heute sind es fast 10.000 an mehr als 90 Standorten deutschlandweit (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 2). Die Mentor*innen sind junge Menschen zwischen 17 und 30 Jahren. Oftmals

Das Mentoringprogramm Balu und Du

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sind es Studierende, doch auch an Gymnasien, berufsbildenden Schulen oder Freiwilligenagenturen ist Balu und Du angebunden, sodass die Aktivitäten der Mentor*innen sowohl curricular eingebunden sein, aber auch ehrenamtlich praktiziert werden können (vgl. ebd.: 2f.). Die Mentees sind Grundschulkinder im Alter von sechs bis zehn Jahren, die von ihren Lehrer*innen der kooperierenden Grundschulen für das Programm vorgeschlagen werden. Die Gründe sind recht verschieden, wobei generell zu sagen ist, dass sich Lehrkräfte um die Entwicklung der Kinder, die sie anmelden, „Sorgen machen“ (vgl. ebd.: 11). So sind es Kinder, die nach Meinung der Lehrkräfte Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen brauchen, genauso wie Kinder, denen innerhalb ihrer Familie wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden kann oder die einen sehr hohen Leistungsdruck erfahren (vgl. ebd.: 11ff.). Ihnen wird ein*e Mentor*in an die Seite gestellt, die*der ihnen bei nachmittäglichen und oft ganz gewöhnlichen Unternehmungen neue Perspektiven aufzeigt. Auch die Mentor*innen geben einen „Bewerbungsbogen“ ab, auf dem sie Informationen wie den Wohnort, Hobbies etc. mitteilen, die dabei helfen, Gemeinsamkeiten zu ihrer*m Mentee zu finden und so ein gutes „Matching“, also das Zusammenführen von Balu und Mogli, vorzubereiten (vgl. ebd.: 28). Voraussetzung für die Mentor*innen ist ferner ein eintragsfreies erweitertes polizeiliches Führungszeugnis und natürlich ein freier Nachmittag in der Woche. Derzeit sind 1.090 Mentees unterwegs, von denen 435 einen Migrationshintergrund haben (Stand: 30.05.2018). Seit Einführung des Online-Tagebuch-Tools 2007 sind es 3.603 von 9.762, was einem Anteil von knapp 37 Prozent entspricht (Stand: 30.05.2018). Wichtig zu erwähnen ist hier, dass dies nur Mentees sind, deren Lehrkräfte diese Information auf dem Anmeldebogen angegeben haben und sie somit im Tagebuch-Tool vermerkt werden konnte. Zu vermuten ist aus Erfahrung, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt und dass auch die Zahl der Kinder mit Fluchthintergrund in den letzten Jahren zugenommen hat. Diese Entwicklung fand wegen der jeweils individuellen Gestaltung der Mentorate ohne eine Änderung der Strukturen oder Auswahlkriterien des Programms statt. Durch den engen und/oder täglichen Kontakt zu den Schüler*innen und häufig auch ihren Familien wird den Lehrkräften ein besonderes Feingefühl zugeschrieben, wodurch sie festlegen, wo der Bedarf am größten ist. Wenn geflüchtete Kinder Teil der Klassengemeinschaft sind, werden sie häufig für das Programm vorgeschlagen, was oft durch sprachliche Herausforderungen bedingt ist, aber auch von dem

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Franziska Niebuhr

Wunsch nach neuen Kontakten getragen wird. Aufgrund der Individualität der jeweiligen Mentor*in/Mentee-Beziehung ist eine spezielle Vorbereitung durch ein festgelegtes Curriculum für die Mentor*innen nicht vorgesehen (vgl. ebd.: 43). „Einsichten sind kleinteilig und konkret, es geht nicht um „typische“ nationale Eigenheiten. Verallgemeinerungen sind nur in Ausnahmefällen sinnvoll“ (ebd.: 217). Im Rahmen des Begleitseminars stehen den Mentor*innen deshalb je nach Bedarf verschiedene unterstützende Materialien wie Sprachlernspiele oder Lexika in verschiedenen Sprachen zur Verfügung. Darüber hinaus wird wissenschaftlicher Input mit dem Thema „Einblicke in eine andere Lebenswelt“ bereitgestellt, um Sensibilisierung in Bezug auf Zuschreibungen im Kontext von Migration zu schaffen. Zudem verweisen die Koordinator*innen auf Aktivitäten, bei denen das Sprechen nicht unbedingt im Vordergrund steht – sie schaffen gemeinsame Erfahrungsräume und verbindende Erlebnisse, auf denen aufgebaut werden kann. Die hinreichende Information der Eltern wird durch fremdsprachige Informationsmaterialien zum Programm sichergestellt. Neben der Zusammenarbeit mit der Schule, über die die Anmeldung der Kinder gewöhnlich läuft, ist vereinzelt auch die Zusammenarbeit mit Trägern der Koordinierungsstelle Flüchtlingssozialarbeit der Stadt Osnabrück von Bedeutung, um die Ressourcen aller Beteiligten optimal zusammenzubringen. Wenn es beispielsweise um Übersetzungsarbeiten, Erreichbarkeit der Familien, die Kommunikation über einen Wohnortwechsel oder auch die erkennbar nötige Unterstützung beim Kontakt mit Behörden geht, ist die Hilfe dieser Träger erforderlich. Hier setzen sich je nach Kapazität auch die Mentor*innen ein, um die Beziehung mit ihren Mentees so unkompliziert wie möglich zu gestalten. Zur Infrastruktur des Programms gehören drei Bausteine. Zum einen sind es die wöchentlichen Treffen der Gespanne, bei denen sie zwei bis drei Stunden an einem Nachmittag der Woche in der 1:1-Situation verbringen. Hier steht die aktive Freizeitgestaltung im Fokus, wofür ein monatliches Taschengeld von zehn Euro zur Verfügung steht, welches meist aus Spenden stammt (vgl. ebd.: 5). Zudem wird den Gespannen im Projektjahr Versicherungs- und Haftpflichtschutz geboten (vgl. ebd.: 77). Ein zweiter Baustein ist das von pädagogischem Fachpersonal geleitete Begleitseminar, an dem alle Mentor*innen (zwei-)wöchentlich (je nach Standort) teilnehmen. Koordinator*innen müssen mindestens einen Fachhochschulab-

Das Mentoringprogramm Balu und Du

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schluss in Sozialarbeit/ -pädagogik oder eine vergleichbare Qualifikation nachweisen (vgl. Balu und Du e.V. 2013: 22). Das Augenmerk im Seminar liegt auf dem Austausch zwischen den Mentor*innen untereinander (Intervision), die teils erfahrene und teils neue Mentor*innen sind; ferner dem Berichten über die letzten Treffen (vgl. ebd.: 72). Es wird Raum geschaffen, um entstandene Schwierigkeiten, Sorgen und Ängste zu thematisieren, aber auch schöne Erlebnisse und Meilensteinmomente zu teilen. Die Tätigkeit der Koordinator*innen besteht in diesem Rahmen darin, Impulse für Handlungen zu geben, zu beraten und Reflexionsräume zu öffnen (Supervision). Veränderungen in der Beziehung werden unmittelbar erkannt und ein direkter Austausch mit anderen Mentor*innen und dem*der Koordinator*in erfolgt. Die Beziehung kann sich somit trotz und mit der Unterstützung weiterhin in ihrer eigenen Dynamik entwickeln (vgl. ebd.: 44). Teil des Seminars sind außerdem sogenannte „Memos“, innerhalb derer wissenschaftliche und pädagogische Themen wie Resilienz, die vertrauensvolle Beziehung oder informelles Lernen sowie praktische Ideen zur Gestaltung der Treffen thematisiert werden. Sie dienen den Mentor*innen als Anregung, Unterstützung und Diskussionsgrundlage. Als dritter Baustein kommt hinzu, dass die Mentor*innen jedes Treffen im passwortgeschützten Online-Tagebuch-Tool dokumentieren, wozu von den Koordinator*innen schriftliches Feedback gegeben wird (vgl. ebd.: 73). Dies bietet wiederum die Grundlage dafür, punktuell im Seminar aufgegriffen und thematisiert zu werden. Situationen können hier ausführlich beschrieben und reflektiert werden, und es wird sichergestellt, dass jeder*m Mentor*in ausreichend Raum geboten wird, um Gedanken und Fragen auszuführen. Jeder dieser Bausteine für sich ist essenziell, da die Mentor*innen auf mehreren Ebenen begleitet werden können, um das komplexe Konstrukt von Beziehung und die damit einhergehende Aufgabe der Beziehungsgestaltung selbstsicher und eigenständig meistern zu können. Ein Fahrplan für „richtiges“ Verhalten existiert schlichtweg nicht. Eine zuverlässige Koordination und Durchführung dieser drei Bausteine ist deshalb unabdingbar. Balu und Du ist ein Breitbandangebot, was die individuelle Beziehung von Mentor*in und Mentee und die daraus erwachsenden individuellen Bedürfnisse und Herausforderungen in den Vordergrund stellt. Es geht „also [um] eine allgemeine Verbesserung der psychischen und physischen Gesundheit des Moglis“ (Ohlemann/ Angermann 2012: 27 nach Drexler/ Borrmann/ Müller-Kohlenberg

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Franziska Niebuhr

2012). So lassen sich keine allgemeingültigen Ziele formulieren, die nach dem gemeinsamen Jahr zu erreichen sind und im Programm überprüft werden können. Es geht vielmehr um „eine Sensibilisierung für die Situationsbedingtheit informeller Lernprozesse“ (Drexler 2015: 68), sodass die Mentor*innen durch den Intervisionscharakter gestärkt in die 1:1-Situation mit Mentees treten, somit wiederum den Blick für die Bedürfnisse der Kinder schärfen und eine dementsprechende Handlung ableiten können. Forschung zum Programm existiert dennoch in großem Umfang und wird im vierten Abschnitt dieses Beitrags weiter ausgeführt. Jeder Standort von Balu und Du handelt weitestgehend autonom (vgl. MüllerKohlenberg 2018: 3). Zur Sicherung der Qualität existieren jedoch Qualitätsstandards, die einzuhalten sind (vgl. ebd.). Zusammenfassend sind es folgende: „ein regelmäßiges Begleitseminar für Balus während der gesamten Dauer der Mentoringbeziehung; das Führen eines Online-Tagebuchs durch die Balus nach jedem Treffen; schriftliche beratende Kommentare der KoordinatorInnen zu den Tagebucheinträgen; Kontrakte zwischen den Balus und VertreterInnen des Programms; Qualitätsbeauftragte als Ansprechpartner der einzelnen Standorte; Koordinatorenkonferenzen; „Memos“ als schriftliche, projektspezifische Lehrmaterialen; ein Fundus zur Ausleihe mit didaktisch geeigneten Spielen für die Moglis; eine Abschlussfeier am Ende der Projektzeit; Angebote für die (erwünschte) Fortführung nach der offiziellen Laufzeit, Dokumente und Anregungen im Intranet“ (Müller-Kohlenberg 2018: 71).

Qualitätsbeauftragte und die an den Standort der Universität Osnabrück angegliederte Programmentwicklung arbeiten stets an der Sicherung und Weiterentwicklung des Programms, sei es z.B. im Zuge der Änderung von Datenschutzrichtlinien oder der Neugestaltung der „Memos“ (vgl. ebd.: 4).

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Empirischer Problemhorizont

Balu und Du versteht sich als selektiv primärpräventives Programm, was bedeutet, dass eine Minimierung allgemeiner Entwicklungsgefährdungen zum Ziel gesetzt wird (vgl. Borrmann/ Drexler/ Müller-Kohlenberg 2013; Ziegler 2013: 213 in Anlehnung an Caplan 1964). Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung, wozu beispielsweise die Herausbildung von prosozialem Verhalten wie Vertrauen und Altruismus zählt, kann hier besonders stark greifen, da sie „sich nicht nur positiv auf den individuellen Berufs- und Lebensweg aus[wirkt], sondern auch auf das

Das Mentoringprogramm Balu und Du

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solidarische Zusammenleben in der Gesellschaft“ (Fallak 2016: 1). So kann späteren potenziell notwendigen Maßnahmen, beispielsweise zur Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt (tertiäre Prävention), vorgebeugt werden (vgl. Ziegler 2013: 213 in Anlehnung an Caplan 1964). Mentoringprogramme tragen in einem bildungspolitischen Rahmen einen wichtigen Teil zur Chancengerechtigkeit1 bei, da Bildungsprozesse nicht nur im formalen Kontext wie in der Schule bedeutsam sind, sondern mittlerweile auch außercurriculare und non-formale Bildung hohe Anerkennung erfahren (vgl. Drexler 2015: 66; Böllert 2008: 9ff.). Bei Balu und Du wird dieser Beitrag hauptsächlich durch die Lernform des „Informellen Lernens“ geleistet, durch die sich das Programm maßgeblich auszeichnet. Informelles Lernen ist das beiläufige Lernen im Alltag und geschieht zufällig, sporadisch, anlassbezogen und ist meist auf die Lösung von aktuellen Einzelproblemen bezogen (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 57). Es stellt das Fundament für den Erwerb von Basiskompetenzen, die sowohl zur Fähigkeit des systematischen Lernens als auch zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen (vgl. ebd.). Dass sich der Alltag naturgemäß nicht bei allen Kindern gleich gestaltet und in allen Familien unterschiedliche Ressourcen vorhanden sind (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital nach Bourdieu 1992), hat unterschiedliche Ausgangslagen zur Folge, mit denen die Kinder in die Grundschule eintreten. Der numerisch hoch geschätzte Anteil an Mentees mit Migrations- und/oder Fluchthintergrund kann mit Ergebnissen internationaler Studien wie PISA oder der Analyse von Bildungskarrieren auf Grundlage der Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) in Verbindung gebracht werden. Es zeigt sich, dass Kinder, die noch nicht immer in Deutschland leben und Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem Benachteiligungen erfahren (vgl. Diefenbach 2010: 288ff.). Beispielsweise bekommen sie deutlich häufiger eine Empfehlung für die Hauptschule als deutsche Kinder, sie wiederholen häufiger eine Klasse und haben eine geringere Lesekompetenz (vgl. OECD 2001: 155; Kristen 2002; Avenarius et al. 2003: 215). Eine Studie der Mercator Stiftung aus dem Jahr 2016 zeigte, dass Kinder mit Migrationshintergrund häufig in Risikolagen leben, weshalb sie an

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Es wird der Begriff aus der Schwellen-Konzeption „Bildungsgerechtigkeit“ verwendet und sich bewusst vom Begriff der Gleichheit abgegrenzt (Giesinger 2013).

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manchen Stellen sogar doppelt benachteiligt sind (vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2016: 28; Konsortium Bildungsberichterstattung 2016: 173). Die entscheidendere und größere Rolle in der Bildungsbiografie spielt jedoch der soziale Hintergrund. In Deutschland hängt er dazu so sehr mit der Schulleistung zusammen, wie in keinem anderen Land (vgl. Kerstan 2011). Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass sich durch Forschung zu formaler Bildung Korrelationen zwischen einem niedrigen sozio-ökonomischen Status und niedrigen Leistungen erkennen lassen. Dem umfänglich vorzubeugen kann in der Grundschule nicht allein gewährleistet werden, weshalb unterstützend auf Programme wie Balu und Du zurückgegriffen wird. Durch die PISA-Studie sichtbar gemachte ungerecht verteilte Bildungschancen sind teilweise Ausdruck dieses unterschiedlichen Zugangs zum informellen Lernen, der sich beispielsweise im Vorhandensein von Spielzeug, Gesprächspartner*innen und Anregungen zeigt. Lernfreude, Neugier, Leistungsoptimismus, Selbstvertrauen, Kooperationsbereitschaft, eigenständige Zeiteinteilung oder die Fähigkeit, ein Gespräch zu führen sind nicht gegeben, wenn Eltern möglicherweise nicht die nötigen Ressourcen besitzen, um die kindlichen Bedürfnisse in Gänze zu befriedigen (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 57f.). Eine erwachsene Person als eine Art natürliche*n Mentor*in im nahen, oft familiären, Umfeld zu haben, stellt für viele Kinder die sichere Basis dar (vgl. Friesen/ Brennan 2005: 303 nach Luthar/ Zigler 1991; Werner/ Smith 1982). In diesem Fall können es die Mentor*innen sein, die unter anderem durch prosoziale Eigenschaften informelle Lernsituationen schaffen und durch die freundschaftliche Beziehung zu ihrem Mentee in diese Richtungen maßgeblich unterstützend wirken (vgl. Kosse et al. 2016: 18). Sie gestalten die Lernlandschaft der Kinder mit, sodass diese ihre Potenziale entfalten können. Es geht darum, sich zu trauen und vor allem das Fragenstellen (wieder) zu lernen. Beim Lesen von Straßenschildern, Erstellen von Einkaufslisten, der Erkundung des urbanen Umfelds etc. verarbeiten die Mentees all diese Eindrücke ganz nebenbei, speichern sie in Bezug auf ihr alltägliches Leben ab und wenden das Gelernte häufig vollkommen unbewusst an (vgl. MüllerKohlenberg 2018: 57ff.). Wie in den Studien zu Balu und Du aufgezeigt wird, stellt informelle Bildung einen sichtbaren Mehrwert für Mentor*innen, Mentees und langfristig für die gesamte Gesellschaft dar.

Das Mentoringprogramm Balu und Du

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Forschung

Wie kann die Wirkung des Programms sichtbar gemacht werden und woran bedient sich Forschung? Wie eingangs bereits erwähnt, entsteht ein Großteil der Forschungsfragen durch nähere Betrachtung des Feldes, wodurch „die Wirkungsforschung zwar aufwändig [ist], […] aber während der Programmlaufzeit immer wieder neue Fragestellungen aufgreifen und bearbeiten [kann]“ (Müller-Kohlenberg 2018: 97). Im Laufe der Jahre entstanden zahlreiche Forschungsarbeiten aus sowohl interner als auch aus externer Begleit- und Wirkungsforschung, was einen potenziellen Forschungs-Bias der jeweils Forschenden ausgleicht, der durch emotionale Nähe zum Programm entstehen könnte (vgl. www.balu-und-du.de/wirkung/evaluationbegleitforschung/). Extern können „Hypothesen, Skepsis oder angenommene Ziele, die aus der Außenperspektive ein besonderes Interesse wecken“ durch bereitgestellte Daten geprüft werden (ebd.: 97). Die Forschungsarbeiten kommen aus unterschiedlichen Disziplinen wie Psychologie, Erziehungswissenschaft, Politik und Wirtschaft. So können fachbezogene Perspektiven gezielt an die Vielfalt diverser Lebensbereiche der Mentees anknüpfen. Da alle Gespanne unterschiedliche Ausgangslagen, Bedürfnisse etc. mitbringen, muss auch die Evaluationsmethodik breitgefächert sein (vgl. Borrmann/ Drexler/ Müller-Kohlenberg 2013). Obwohl der Gebrauch quantitativer Forschungsmethoden vorherrscht, können durch die qualitative Forschung „weitere Aspekte einer Persönlichkeitsförderung der Moglis erkannt werden, die in quantitativen Forschungsansätzen oft verborgen bleiben“ (Müller-Kohlenberg 2018: 350). Eine breite Auswahl an empirisch belegten Aspekten der Persönlichkeitsförderung ist bereits vorzufinden (vgl. MüllerKohlenberg 2018: vierter Teil). Aus soziologischer Perspektive kann mit Eva Illouz gesprochen werden, die argumentiert, dass sich Kultur „[…] nicht in Wahrscheinlichkeitsrechnungen fassen [lässt]. Kultur zu verstehen heißt, mit Michael Schudson ausgedrückt, die gesellschaftliche Signifikanz des statistisch Insignifikanten sowie das unscheinbare Netz der Bedeutungen, auf das die Menschen zurückgreifen, um sozialen Situationen Sinn zuzuschreiben, zu verstehen (Schudson 1992)“ (Illouz 2003: 21).

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Fest steht, dass sich Wahrscheinlichkeitsrechnungen in quantitativen Verfahren definitiv nutzen lassen, um Wirkungen sichtbar zu machen. Darüber hinaus haben qualitative Methoden einen hohen Stellenwert in der Forschung zu Beziehungsgestaltung, um dieses „unscheinbare Netz der Bedeutungen“, gewissermaßen also den Weg, der diese Wirkungen hervorbringt, freizulegen und sichtbar zu machen. Die Nutzung qualitativer Methoden ist oftmals mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden, wodurch auch die Auswertung von nonreaktivem Material aufgrund des hohen Anspruchs an ihre Grenzen stößt (vgl. Müller-Kohlenberg 2018, ebd.: 52). Bezugnehmend auf Forschung im Programm Balu und Du sind beide Zugänge häufig in Verbindung vorzufinden.

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Beispiele aus der Forschung

Das Thema Medienkonsum ist eines derer, welches die Mentor*innen wiederholt beschäftigt. Oft stellen sie fest, wie viel Zeit Mentees vor dem Fernseher oder der Konsole verbringen und im gleichen Zuge, wie wenig Ideen zur eigenen Freizeitgestaltung existieren (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 302ff.). Befragt wurden Mentees in Bezug auf ihre Mediennutzung, wobei am Ende des Projektjahres festgestellt wurde, dass sie im Gegensatz zur Kontrollgruppe weniger Zeit vor dem Computer verbrachten (Treatmentgruppe N = 141; Kontrollgruppe N = 158) (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 304; Drexler 2015: 335). In einer weiteren Studie, einer qualitativen Untersuchung, wurden nach dem Projektjahr 54 Interviews mit den Eltern der Mentees geführt, die über die Nachhaltigkeit des Programms Aufschluss geben. Ein Teil der Eltern wurde weniger als ein halbes Jahr nach Projektende befragt, der andere später. Hier konnte festgestellt werden, dass die rückblickende Bewertung bei beiden Gruppen „überwiegend positiv, teils euphorisch“ ausfiel (Müller-Kohlenberg 2018: 361). Auch im Hinblick auf die Beziehungsentwicklung zwischen Eltern und Mentees ist ein positiver Trend festzustellen (vgl. ebd.: 362). Bei der Beantwortung der Frage nach Höhen und Tiefen wurde als Kritikpunkt auf ausgefallene Treffen hingewiesen, da die Enttäuschung der Kinder deutlich sichtbar war (vgl. ebd.: 361.). Der Betrag von zehn Euro als monatliches Taschengeld wurde ebenfalls negativ angemerkt und als zu gering empfunden, wobei dies, wie zuvor erwähnt, eine bewusste pädagogisch begründete Entscheidung ist (vgl. ebd.: 362).

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Zu Mentees mit Migrations- und/oder Fluchthintergrund existiert bisher keine spezifische Forschung, was an dieser Stelle als Anregung gesehen werden kann. Durch unterschiedliche Forschungsinteressen sind verschiedene Wirkungen sowohl auf die Mentees als auch auf die Mentor*innen nachweisbar. Darüber hinaus wird die Reichweite des Programms deutlich, indem auch gesellschaftliche Auswirkungen ergründet werden, wobei für die Umsetzung auf bestehende Studien zurückgegriffen werden kann. An den drei folgenden Beispielen aus der Forschung lässt sich diese auch methodische Vielfalt etwas detaillierter, wenn auch exemplarisch hervorheben. Weitere Publikationen zum Programm sind auf der Homepage zu finden (vgl. www.balu-und-du.de/wirkung/publikationen/). 5.1 Prosozialität – Was bedeutet Balu und Du für die Mentees? Die externe Studie „The Formation of Prosociality: Causal Evidence on the Role of Social Environment“ (2016) ist hochaktuell und wird seit 2011 am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn unter der Leitung von Prof. Dr. Armin Falk durchgeführt. Die Langzeitstudie ist eine umfangreiche Interventionsstudie mit zwei Kontrollgruppen, bei der mit Fragebögen, Interviews und Verhaltensexperimenten gearbeitet wird. Zusammengefasst werden diese Erhebungsinstrumente als Interview-Welle (Interview Period Wave 1-3). In Abbildung 1 ist der zeitliche Verlauf der Studie zu erkennen. Die Zuteilung zur Treatmentgruppe erfolgte zufällig, nachdem Fragebögen zum sozioökonomischen Status der Familien ausgefüllt, ein Einverständnis abgegeben und eine erste Interview-Welle durchgeführt wurde (vgl. Kosse et al. 2016: 4). Als Treatmentphase wird die einjährige Teilnahme am Programm Balu und Du erklärt. Forschungsfragen, die es zu ergründen gilt, lauten: „Hat das soziale Umfeld Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern? Hat eine zufällig erzeugte Variation des sozialen Umfeldes – z. B. durch eine Intervention wie Mentoring – positive Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung? Kann Mentoring einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit im Bildungssektor leisten?“ (Volz 2017).

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Abb. 1: Flussdiagramm zur Darstellung des Forschungsprozesses (Kosse et al. 2016: 6) Es wird also von der Persönlichkeitsebene, die das Individuum betrifft, auf die gesellschaftliche Ebene erweitert. Erste Ergebnisse liefern aufschlussreiche Erkenntnisse über die Wirksamkeit des Programms in vielerlei Hinsicht. Im Hinblick auf Prosozialität, die aus den drei Komponenten Altruismus, Vertrauen und Verhalten in Bezug auf andere erschlossen wurde, kann durch die Erhebungsinstrumente der Interview-Wellen festgestellt werden, dass die Lücke zwischen der Gruppe Treatment Low SES (Kinder mit Mentor*in) und der Gruppe Control High

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SES (Kinder ohne Mentor*in) nahezu geschlossen wird, da sie nach einem Jahr ähnliche Werte von Prosozialität aufweisen (vgl. Kosse et al. 2016: 15). Weiter wurde herausgefunden, dass sich das Mentoringprogramm als am effektivsten für Kinder erweist, deren Mütter eine niedrige Prosozialität aufweisen (vgl. ebd.: 17). Es offenbart sich also, dass insbesondere diejenigen Kinder von Balu und Du profitieren, die weniger prosoziale Vorbilder haben und weniger Stärkung durch soziale Interaktionen erfahren (vgl. ebd.: 18). Auch in Bezug auf die Bildungschancen hat sich ergeben, dass die Kinder, die ein Jahr lang von einer*m Mentor*in begleitet wurden, eine um elf Prozent höhere Chance haben, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen (vgl. Falk 2016a). Persönlichkeiten werden gestärkt und die Bildungsbiografie wird beeinflusst. Ein weiteres Forschungsvorhaben versucht zu ergründen, wie diese Ergebnisse erklärt werden können. Hier können digitalisierte und anonymisierte Tagebucheinträge zur Analyse herangezogen werden (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 233f.). 5.2 Schlüsselqualifikationen – Welchen Effekt hat Balu und Du auf die Mentor*innen? In einer weiteren Studie aus dem Jahr 2009 wurde der Fokus auf die Mentor*innen gelegt, deren Selbsteinschätzung in Bezug auf Selbst- und Sozialkompetenz analysiert wurde (Szczesny/ Goloborodko/ Müller-Kohlenberg 2009). Teilnehmer*innen waren Studierende der Universität Osnabrück, nämlich 74 Mentor*innen im Mentoringprogramm Balu und Du sowie 208 Studierende, die an keinem Praxisprojekt teilnahmen. Beide Gruppen wurden noch einmal in drei Gruppen unterteilt: Anfänger*innen, Mittlere (nach einem Semester) und Ältere (nach zwei Semestern), sodass zum einen unterschiedliche Zeitpunkte sowie ein Zeitverlauf festgehalten werden kann und zum anderen eine Vergleichbarkeit sichergestellt wird. Es wurden Fragebögen mit einer Skala von 50 Items erstellt, die als Operationalisierungen der theoretischen Konstrukte „Selbstkompetenz“ und „Sozialkompetenz“ zu verstehen sind und mit einer 5-stufigen Skala beantwortet wurden (vgl. Szczesny/ Goloborodko/ Müller-Kohlenberg 2009: 5f.). Als Kontrollitems wurden Fragen zur Methodenkompetenz gestellt (vgl. ebd.: 6). Aus den Antworten ergab sich eine Interkorrelationsmatrix, die dann mit dem quantitativen Verfahren der Faktorenanalyse ausgewertet wurde (vgl. ebd.). Hierbei konnten Unterschiede zwischen Mentor*innen und Studierenden, die an keinem Praxisprojekt teilnahmen, festgestellt werden. Es lassen sich zwei Komponenten interpretieren, die der

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von der OECD formulierten Schlüsselkompetenz „Interagieren in heterogenen Gruppen“ sehr nahekommt (vgl. ebd.: 7). Zum einen ist dies „Arbeitshaltung und Selbstdisziplin“, wozu beispielhaft die Items „Situationen, in denen sich Langeweile breit macht, kann ich durch Ideen und Vorschläge überwinden“ oder „Meine Zeitplanung lässt sich meistens realisieren“ gehören (vgl. ebd.).

Abb. 2: Beispiel-Item aus Fragebogen zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen. „Es gelingt mir, Verständnis für Personen zu entwickeln, die mir in ihrer Art eigentlich fern sind“ (Szczezny 2015: 211-124) Die zweite Komponente ist „Kommunikation in schwierigen Situationen/ Krisenmanagement“, was durch „Es gelingt mir, Verständnis für Personen zu entwickeln, die mir in ihrer Art eigentlich fern sind“ (siehe Abbildung 2) oder „Ich habe erlebt, dass sich im Umgang mit verschlossenen Personen Durchhaltevermögen lohnt“ erfasst wurde (vgl. ebd.). Es ist nicht auszuschließen, dass sich generell eher schon engagierte Studierende für das Programm interessieren („Positiv-Auswahl“), wodurch sich die von Beginn an höheren Werte der Mentor*innen und die größtenteils hochsignifikanten Ergebnisse erklären ließen. Es zeigt sich dennoch, dass die Mentor*innen erheblich von ihrer Tätigkeit als Mentor*in profitieren und Schlüsselkompetenzen erwerben, die auch sie nachhaltig in ihrer persönlichen

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Entwicklung stärken und ihre inter- und transkulturellen Kompetenzen sowie die Bereitschaft, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, fördern. 5.3 SROI Analyse – Was ist der gesellschaftliche Mehrwert? Bekannt ist die SROI Analyse vornehmlich aus dem Wirtschaftsbereich, wo der Mehrwert mit den geleisteten Investitionen eines Unternehmens verglichen wird. Hier finden auch die sozialen Erträge und Aktivitäten oder Maßnahmen Berücksichtigung, doch müssen diese zunächst monetarisiert werden (vgl. Péron/ Baldauf 2015: 8). Durch Wirkungsindikatoren wird der soziale Mehrwert gemessen und mithilfe von Näherungsvariablen in Geldeinheiten umgewandelt (vgl. ebd.). Hieraus ergibt sich der SROI-Koeffizient, der die Sozialrendite, also den gesellschaftlichen Nutzen eines Sozialprojekts in Geldwert (Euro) angibt (vgl. ebd.). Da hierfür die Wirksamkeit des Programms entscheidend ist, wurde für diese Studie auf bereits durchgeführte Evaluationen und Ergebnisse zurückgegriffen (vgl. ebd.).

Abb. 3: Der Weg eines Moglis (Péron/ Baldauf 2015: 9)

Abbildung 3 stellt die Prognosen in kurz-, mittel- und langfristiger Hinsicht dar und lässt drei größere Bereiche erkennen: Durch die Programmteilnahme erreichen die Mentees einen höheren Bildungsgrad und erhalten bessere Chancen auf

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dem Arbeitsmarkt. Zudem zeigen die Mentees vermehrtes bürgerliches Engagement sowie eine bessere psychische und physische Gesundheit. Als negative Prognose konnten Verlustgefühle seitens der Mentees nach Programmende oder durch Abbruch durch die*den Mentor*in verzeichnet werden.

Abb. 4: Hebelwirkung (Péron/ Baldauf 2015: 9) Die Hebelwirkung, die eine Spende an Balu und Du hervorruft, ist in Abbildung 4 erkennbar. Eine Spende von einem Euro bewirkt weitere 1,58 Euro, die sich durch indirekte (solche, die auch ohne das Programm anfallen würden) und unentgeltliche Investitionen ergeben. Somit wird aus dem einen Euro eine Gesamtinvestition von 2,58 Euro in Balu und Du. Die Sozialrendite, die für das Programm erschlossen wurde, beläuft sich darüber hinaus je nach Szenario auf 4,25 bis 8,08 Euro. Da eher vorsichtig-konservative Annahmen gemacht wurden, nämlich, dass nur 1015 Prozent der Mentees profitieren würden, könnte es bei positiveren Annahmen zu einem noch höheren Investitionsrückfluss kommen (vgl. ebd.: 9). Eine kritische Auseinandersetzung mit monetären Zielen folgt in Kapitel sechs.

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Empirische und praktische Herausforderungen

Die Herausforderungen, die sich für die Forschung zu Mentoringprogrammen ergeben, sind sehr vielseitig. Begonnen werden kann mit einer Skizze der Inhalte in der Bildungsforschung. Im historischen Verlauf zeigen sich verschiedene Ausprägungen der Forschungsinteressen, die von sozialer Selektivität in den 1960ern, Bildungsbeteiligung in den späten 1970ern bis frühen 1980ern bis zu Untersuchungen zu den weichen Faktoren wie z.B. die kontrollierte Begleitung und Beobachtung von Lernfortschritten der Schüler*innen oder dem pädagogischen Konsens von Lehrer*innen, reichten (vgl. Zedler/ Döbert 2010: 26f.). Bildungspolitisch wurde Ende der 1990er Jahre statt Inputfaktoren wie Klassengrößen und Lehrplänen vielmehr den Output-Faktoren, also der sichtbaren Leistung, Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. ebd.: 27). Dies wurde vor allem durch die Ergebnisse der TIMSS-Studie 1997, aber auch durch PISA 2000 nachhaltig belebt, die die Leistungen der deutschen Schüler*innen am Rand des unteren Mittelfeldes einordneten. Folglich sah sich die Bildungspolitik gezwungen, Maßnahmen zur dauerhaften Leistungsverbesserung der Schüler*innen durchzuführen. Das Hauptinteresse der Bildungsforschung war auf folgende Merkmale gerichtet: „Studien, die theoretisch und vor allem an der Effizienz und Effektivität von Bildungseinrichtungen ausgerichtet sind, auf großen Stichproben basieren und mit quantitativen Verfahren insbesondere dem Kompetenzwettbewerb, der Umsetzung von Bildungsstandards in den Kernfächern sowie ähnlich gelagerten steuerungsrelevanten Problemen nachgehen“ (Zedler/ Döbert 2010: 33).

Sollte eine Vergleichbarkeit der monetären Wirkung auch für Mentoringprogramme geschaffen werden? Aus ethischer Sicht ist die Frage zu stellen, ob ein Vergleich überhaupt wünschenswert wäre. Zu vermuten wäre ein hoher Druck auf die einzelnen Programmkoordinator*innen, deren Einfluss über die Ressourcennutzung und –entwicklung der Mentees natürlich nicht in bestimmte Richtungen gesteuert werden sollte. Auf der anderen Seite stellt dies ebenso einen Qualitätsstandard dar, der nicht unwichtig sein könnte. In diesem Zusammenhang kann die vorgestellte Studie zum SROI, die Balu und Du einen monetären Wert zuschreibt, jedoch hinterfragt werden. Dennoch ist die Tatsache nicht zu ignorieren, dass auch soziale Programme eine wirtschaftliche Seite besitzen und im Zuge wirtschaftlicher Krisen und des demografischen Wandels einen bestmöglichen Einsatz ihrer

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Ressourcen zu belegen haben (vgl. Péron/ Baldauf 2015: 12). Durch den Nachweis der effektiven und effizienten Verwendung von Geldern können Investor*innen fundierte Entscheidungen treffen und auch Programme selbst dies für Fundraising nutzen (vgl. ebd.). So relevant Leistung und Vergleichbarkeit waren, rückten etwa zeitgleich Kernkompetenzen in den Fokus, die laut internationaler Bildungsexperten von hoher Relevanz in der heutigen Gesellschaft sind. Die Trias von Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkompetenz wurde auch in dem OECD-Projekt „Definition and Selection of Competencies“ erwähnt (vgl. Zedler/ Döbert 2010: 36). Ein Problem stellt die Messbarkeit dieser sozialen Kompetenzen dar. Zur Feststellung von Motiven, Qualität und Affekten muss mit Selbstberichten oder Beobachtungs- und Schätzverfahren gearbeitet werden, die sehr aufwendig und nur schwer objektivierbar sind (vgl. ebd.). Für repräsentative Erhebungen, die in der Bildungsforschung gegenwärtig maßgeblich wegweisend sind, stellen diese eine besondere Herausforderung dar. Um nun die Metaebene zu verlassen, wird der Blick auf die Möglichkeiten, die Mentoringprogramme ausschöpfen können und Anforderungen, die sie bedienen können, gerichtet. Die zur Verfügung stehenden personellen und finanziellen Mittel stellen einen maßgeblichen Faktor dar. Zwar führen 93,9 Prozent der befragten Programme2 Evaluationen durch, allerdings stehen nur 18,1 Prozent ein Budget speziell für Evaluationen zur Verfügung (vgl. Höppel 2014: 12). Fehlende Mittel haben zur Folge, dass Forschung zu Mentoringprogrammen zu einem großen Teil auf Programmevaluationen oder kleineren Forschungsarbeiten basiert, die nicht immer kausale Zusammenhänge liefern können (vgl. Falk 2016b). Auch die zeitlichen Ressourcen für Tätigkeiten, die über das Tagesgeschäft hinausgehen, wie in diesem Kontext die Forschung, sind oft zu knapp. Bei Forschung zu Mentoring kann selten mit großen Stichproben gerechnet werden. Auf der einen Seite weisen nicht alle Programme eine ausreichende Anzahl an zu beforschenden Personen vor, auf der anderen Seite ist es erforderlich, dass Mentor*innen, Mentees und oftmals Erziehungsberechtige ihr Einverständnis geben. Hinzukommend müssen Daten bei Umzügen, Schulwechseln etc. aktualisiert werden, wodurch Ausfälle nicht unwahrscheinlich werden. Da Balu und Du 2 Forschungsgegenstand waren hier Mentoringprogramme an Hochschulen. Durch die ähnlichen Strukturen lassen sich jedoch ähnliche Hintergründe zur Evaluation mutmaßen.

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an vielen Standorten curricular eingebunden ist, ist die Anzahl an Studien- und Forschungsarbeiten sowie Dissertationen nicht gering. Auch Koordinator*innen waren an bisherigen Evaluationen beteiligt. Es ist also eine große Menge an Daten vorhanden, da allein durch das Online-Tagebuchschreiben die Daten der Mentees und Mentor*innen an allen Standorten mit ihrem Einverständnis gespeichert werden. Hier kann für Forschungszwecke sowohl auf die Individualdaten als auch auf die dann anonymisierten Tagebücher zurückgegriffen werden. Zudem wurden das Sample und die Kontrollgruppe(n) der Studie von Armin Falk (2016) in das Sozioökonomische Panel (SOEP) aufgenommen, was eine langfristige Begleitforschung sichert (vgl. Müller-Kohlenberg 2018: 233). Bei anderen Forschungsarbeiten, in denen ehemalige Mentees befragt werden sollten, war der Forschungsprozess mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, da die Kinder nur sehr mühsam und häufig gar nicht ausfindig gemacht werden konnten – ein Anspruch auf die Einforderung aktueller Daten besteht keinesfalls. Es stellt sich heraus, dass strukturelle Gegebenheiten eine eingehende Forschung zu Mentoringprogrammen derzeit nur eingeschränkt ermöglichen.

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Fazit

Aufgezeigt werden konnte eine Vielschichtigkeit an Forschungsdisziplinen, -methoden und letztendlich Forschungsergebnissen, was bekräftigt, „dass Beziehung kein eindimensionales Konstrukt ist“ (Ohlemann/ Angermann 2012: 94f.). Über die Schaffung informeller Lernsituationen, der Grundidee von Balu und Du, wird die Gestaltung einer solchen Beziehung durch die Mentor*innen übernommen. Die über Jahre erreichte Stabilität des Programms Balu und Du bietet einen vielversprechenden Zugang für eine breite Auswahl an Forschungsvorhaben und -ergebnissen. Eine mehrdimensionale, interdisziplinäre Forschung ist ausdrücklich erstrebenswert, um diese Vielseitigkeit auszuschöpfen, wobei die Synthese quantitativer und qualitativer Forschungszugänge eine hohe Aussagekraft bietet. Um jedoch das bereits aufgegriffene „unscheinbare Netz von Bedeutungen“ (Illouz 2003: 97) in Bezug auf Beziehungsgestaltung deutlicher zum Vorschein zu bringen, liegt eine intensivere Nutzung qualitativer Methoden nahe.

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Abschließen möchte ich mit den Worten von Klaus Hurrelmann, der dafür plädiert, „[…] Mentoring auf die höchste politische Ebene [zu] heben und dort deutlich [zu] machen, welche Effekte schon erzielt worden sind. Viele Evaluationen zeigen ja, dass es sich lohnt“ (Hurrelmann 2019: 8).

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Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil Potenziale und Herausforderungen einer niedrigschwelligen Qualifizierungsmaßnahme in Berlin Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther

Abstract In einer Qualifizierungsmaßnahme wurden Menschen mit Migrationshintergrund zu „Bildungsbotschafter*innen“ ausgebildet. Die auf das Projekt bezogene, formative Evaluation beschäftigt sich mit Fragen nach den Motiven der beteiligten Akteure, der Projektdynamik sowie den Erfolgs- und Risikofaktoren des Projektes. Dazu wurden in einem Mixed-Method-Design aus Fragebögen, Experteninterviews, Gruppendiskussionen und Dokumentenanalyse verschiedene Perspektiven von Bildungsbotschafter*innen, Schulleitungen und Projektverantwortlichen erhoben und mittels Dokumentarischer Methode ausgewertet. Die zentralen Erkenntnisse werden in einem Wirkungsgefüge-Modell zusammengefasst, das die Bedeutung der Erfolgs-faktoren „Persönlichkeit und individuelle Kompetenzen“, „Ausbildung eines individuellen Kompetenzprofils“ sowie „Erfahrungen im Praxisfeld“ herausarbeitet. Stichworte Bildung, Engagement, Teilhabe, Bildungsbotschafter*innen, Integrationsbegleitung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_6

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Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther

Einleitung

Kinder und Jugendliche aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte verfügen im deutschen Bildungssystem über geringere Bildungschancen als dies bei ‚einheimischen‘ Familien der Fall ist. Sie nutzen seltener Angebote vorschulischer Bildung, Betreuung und Erziehung, verlassen die allgemeinbildende Schule häufiger ohne Schulabschluss, erwerben seltener eine Studienberechtigung und sind an Hochschulen unterrepräsentiert. Auch bleiben sie häufiger ohne eine berufsbezogene Grundbildung, haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und sind häufiger von staatlichen Transferleistungen abhängig (vgl. Becker 2011: 12). Darüber hinaus werden Potenziale von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland noch zu wenig erschlossen. Besondere Ressourcen wie Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen werden insgesamt nur unzureichend genutzt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 162). In der Integrationspolitik von Bund, Ländern und Kommunen kommt Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten daher eine besondere Bedeutung zu: Sie gelten als zielführende Instrumente einer niedrigschwelligen Integrationsförderung von Zugewanderten (Bundesregierung 2007; siehe auch Gesemann 2015). Die zumeist ehrenamtlich arbeitenden Integrationsbegleiter*innen1 werden dabei insbesondere eingesetzt, um bürgerschaftliches Engagement zu fördern, Integration und Teilhabechancen von Zugewanderten zu verbessern, den Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund zu sozialen Angeboten und Diensten zu erleichtern sowie die professionellen Beratungs- und Betreuungsangebote von Kommunen und Wohlfahrtsverbänden zu unterstützen. Die Integrationsbegleiter*innen übernehmen dabei zumeist eine Mittlerrolle zwischen Menschen mit Migrationshintergrund sowie Behörden, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen (vgl. Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019: 20f.). Zu den in den letzten 15 Jahren entstandenen Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten gehören auch Projekte einer niedrigschwelligen Zusammenarbeit mit Eltern, die die Integration von Familien mit Migrationshintergrund in das Bildungssystem dadurch verbessern sollen, dass zum einen die Kompetenzen der El-

1 Im Folgenden dient der Begriff der Integrationsbegleiter*innen als Oberbegriff für die Akteure in den verschiedenen Lotsen-, Paten- und Mentorenprojekten.

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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tern gestärkt und zum anderen Barrieren beseitigt werden, die einer aktiven Beteiligung von Eltern an Bildungseinrichtungen im Wege stehen (vgl. Alpek 2017; Arbeitskreis Neue Erziehung 2009: 3). Das dynamische Wachstum von Projekten der Integrationsbegleitung ist also das Ergebnis vielfältiger Herausforderungen, zu denen die mangelnde Chancengleichheit im Bildungssystem, die Häufung sozialer Problemlagen in benachteiligten Stadtteilen und die unzureichende interkulturelle Öffnung von Bildungseinrichtungen gehören. Eine Antwort darauf war die zunehmende Erschließung von Engagementpotenzialen der Zivilgesellschaft sowie die Förderung von Integration und Teilhabe durch Aktivierung und Empowerment (vgl. Gesemann, NentwigGesemann und Walther 2019: 22). Der Bildungssektor eignet sich zudem besonders gut, um Engagementpotenziale von Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen und auszuschöpfen. Der Bereich Kindergarten und Schule ist nach Befunden des Deutschen Freiwilligensurveys 2014 bei Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte – nach Sport und Bewegung – der zweitgrößte Engagementbereich. Hier ist ihr Anteil nur geringfügig niedriger als bei Personen ohne Migrationshintergrund (vgl. Vogel, Kausmann und Kelle 2019: 10). Das Projekt „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter in Kita, Schule und Stadtteil“, das im Zentrum dieses Beitrags steht, verfolgt das Ziel, interessierte und engagierte Eltern zu ermutigen und zu befähigen, auf ehrenamtlicher Basis mit professionellen Fachkräften in Kitas, Schulen und Nachbarschaftseinrichtungen zu kooperieren, um die Gelingensbedingungen für Lern- und Bildungsprozesse von Kindern in mehrfach belasteten Stadtquartieren zu verbessern. Als Bindeglieder und ‚Brückenbauer*innen‘ zwischen Institutionen und Familien sollen Bildungsbotschafter*innen sich qua Projektkonzept (vgl. Pestalozzi-Fröbel Haus 2019) aktiv einen Zugang zu anderen Eltern und Familien erarbeiten, Begegnungsräume für Familien schaffen, Wege zu einer besseren Kommunikation zwischen Eltern und (sozial-) pädagogischen Fachkräften aufzeigen und sich im Stadtteil für ein tolerantes, verantwortungsbewusstes und demokratisches Miteinander einsetzen.2

2 Zu Informationen zum Projekt Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter siehe die Homepage des Projekts (http://www.bildungsbotschafter-berlin.de). Materialien zur Entwicklung des Projekts seit 2010 finden sich auf der Homepage des Quartiersmanagements Schöneberger Norden (https://www.schoeneberger-norden.de/index.php?id=247). Zur ‚Vorgeschichte‘ des Projekts und

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Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther

Die Evaluation3 war zum einen formativ angelegt: Indem immer wieder Gelegenheiten geschaffen wurden, die vom Evaluationsteam herausgearbeiteten Einblicke in das Projekt – Potenziale und Schwachstellen – an die Projektakteure zurück zu spiegeln, konnten wesentliche Nachsteuerungen und Weiterentwicklungen angestoßen werden. Zum anderen wurden im Sinne eines multiperspektivischen Ansatzes die Erfahrungen und Einschätzungen verschiedener beteiligter Akteursgruppen einbezogen, um Gelingensbedingungen und Herausforderungen herausarbeiten zu können, die nicht von vornherein durch die Perspektive und Interessenlage nur einer Akteursgruppe beschränkt waren. Die multimethodische Vorgehensweise (‚mixed methods‘) mit einer Kombination aus Gruppendiskussionen, biografischen Interviews und standardisierten Befragungen, gewährleistete zudem nicht nur einen qualitativ verstehenden Zugang zu den Prozessen und Wirkungen des Projekts auf der Ebene ausgewählter Bildungsbotschafter*innen, sondern eine quantitative Beschreibung der Gesamtgruppe (ihrer Merkmale, Tätigkeiten und Motive) in der Breite. In diesem Beitrag werden einige wichtige, mit der Evaluation verbundene, Erkenntnisse vorgestellt (vgl. zudem den Beitrag von Bastian Walther in diesem Band sowie den umfassenden Evaluationsbericht, Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019). Nachdem die Fragestellungen und Methoden der Evaluation vorgestellt wurden, werden im dritten Kapitel dieses Beitrags die, über Fragebögen erfassten, soziodemografischen Merkmale, Engagementmotive und (Selbst-) Wirksamkeitserfahrungen der Bildungsbotschafter*innen präsentiert. Der Fokus richtet sich dann im vierten Kapitel auf die konkrete Qualifizierungsmaßnahme, ihre Potenziale und Herausforderungen. Im fünften Kapitel wird ein für das Gelingen des Projekts zentrales Spannungsfeld verdeutlicht, das sich aus einer nicht optimalen Passung zwischen den Vorstellungen und Kompetenzen der Bildungsbotschafter*innen nach Abschluss der Qualifizierung zum einen und den an sie gerichteten Erwartungen der ‚abnehmenden‘ Einrichtungen (am Beispiel von Schule) zum anderen ergab. Im abschließenden Kapitel des Beitrags werden das zur Ausgangsituation zu Beginn der wissenschaftlichen Begleitung siehe auch Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther (2019: 26ff.). 3 Das Projekt „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter in Kita, Schule und Stadtteil wurde von Oktober 2015 bis März 2019 vom DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Stadt“ evaluiert. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung wurden Ende 2019 in einem Abschlussbericht dokumentiert (vgl. Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019).

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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im Projektverlauf entwickelte und geschärfte Wirkungsgefüge-Modell vorgestellt und zusammenfassend Gelingensbedingungen formuliert, die bei dem evaluierten Projekt herausgearbeitet werden konnten und bei ähnlichen Projekten zu beachten wären.

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Fragestellungen und methodisches Vorgehen

Im Zentrum der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Projekts standen eine Vielzahl von Fragen, von denen hier einige zentrale bearbeitet werden sollen: Welche Ziele und Motive verfolgen Bildungsbotschafter*innen und Schulleitungen und wie passen die verschiedenen Motive und Zielstellungen zusammen? Welche Dynamiken entfalten sich in der Qualifizierungsmaßnahme, welche Kompetenzen erwerben die Bildungsbotschafter*innen und wie finden sie ins Feld? Welche Erfolgsfaktoren und Risiken sind mit dem Projekt verbunden? Die Methoden, die für die Evaluation genutzt wurden, waren zum einen leitfadengestützte, thematisch fokussierende Experteninterviews (Meuser und Nagel 2009), in denen unter anderem die Schulleitungen ihre Erfahrungen und Einschätzungen formulierten. Des Weiteren eröffneten Gruppendiskussionen (NentwigGesemann 2010; Nentwig-Gesemann/Bohnsack 2010) mit ihrem narrativen Charakter den (angehenden) Bildungsbotschafter*innen die Möglichkeit, ihre Perspektive detailliert darzulegen: Die Akteure wurden eingeladen, in offenen Gesprächen, in denen sie selbst Themen und Relevanzen bestimmen konnten, über konkrete Erfahrungen und Erlebnisse im Projekt zu erzählen. Zudem wurden die Bildungsbotschafter*innen an drei Erhebungszeitpunkten, zu Beginn, in der Mitte und gegen Ende des Projekts mittels standardisierter Fragebögen zu ihrer Person, zu Projektangeboten sowie ihren Aktivitäten und den von Ihnen selbst wahrgenommen Wirkungen befragt. Schließlich wurden Projektmaterialien, wie das Curriculum, der Projektflyer oder das überarbeitete Qualifizierungskonzept einer Dokumentenanalyse unterzogen, um die offiziell vertretene Perspektive des Projektteams inklusive der Dozierenden nachzuvollziehen. Die (multi-) perspektivischen Einblicke in die verschiedenen ‚Realitäten‘ des Projekts aus der Sicht der unterschiedlichen Akteure wurden im Hinblick auf die jeweils zentralen Deutungs- und Handlungsmuster analysiert. Ziel war dabei,

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Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther

übergreifende Gemeinsamkeiten, vor allem Gelingensbedingungen, herauszuarbeiten, aber auch spezifische, z.B. eher ‚konflikthafte‘ Projektverläufe in ihrer Eigendynamik zu verstehen. Die vorgesehene und auch in der Evaluationsforschung bereits bewährte Methode der Datenauswertung war die Dokumentarische Methode (Nentwig-Gesemann 2010; Nentwig-Gesemann/ Bohnsack 2010). Dieses Interpretationsverfahren ermöglichte es, sowohl explizite Deutungsmuster, Ziele und Bewertungen, als auch implizite (Erfahrungs-) Wissensbestände und (Wert-) Haltungen zu rekonstruieren. Durch das Prinzip der fallinternen und fallübergreifenden Komparation konnten zum einen typische Erfahrungen und Orientierungsmuster der Befragten erschlossen und abstrahiert, zum anderen unterschiedliche bzw. diskrepante Perspektiven verschiedener Akteursgruppen in Bezug auf das Projekt beleuchtet werden. Die standardisierten Daten wurden deskriptiv ausgewertet. Da die Erkenntnisse der Evaluation im Verlauf der Studie – in responsiven Feedbackgesprächen – regelmäßig an die beteiligten Akteursgruppen kommuniziert und mit ihnen diskutiert wurden, hatte die Evaluation einen formativen und diskursiven Charakter (Lamprecht 2013): Erkenntnisse wurden rasch in den Projektprozess eingespeist und den Stakeholdergruppen für ihre Diskussionen mit dem Evaluationsteam, aber auch untereinander zur Verfügung gestellt. Die verschiedenen Akteursgruppen waren damit ‚gezwungen‘ sich mit den Erfahrungen und Perspektiven der jeweils anderen Gruppen auseinanderzusetzen, offensichtliche Nicht-Passungen zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren.

3

Soziodemografische Merkmale, Engagementmotive und (Selbst-)Wirksamkeitserfahrungen der Bildungbotschafter*innen

Im Rahmen der Evaluation des Projekts wurden von 39 Teilnehmer*innen mehrerer Qualifizierungskurse soziodemografische Daten und Angaben zu den Motiven für die Kursteilnahme erhoben. Zudem wurden zu Beginn, in der Mitte und zum Ende der Projektlaufzeit 55 aktive Bildungsbotschafter*innen mit einem Dokumentationsbogen zu ihren Aktivitäten, ihren Erfahrungen mit der begleitenden Supervision sowie ihrer Wahrnehmung der Wirkungen des Projektes befragt.

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Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

3.1 Soziodemografische Merkmale der Bildungsbotschafter*innen Die deutliche Mehrheit der Teilnehmer*innen der ersten drei Kurse waren Frauen – unter den insgesamt 39 Personen befanden sich nur drei Männer. In Bezug auf das Alter waren die Kurse heterogen zusammengesetzt, wobei sich mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen in der mittleren Altersgruppe von 30 bis 45 Jahre befand. Die Spanne reichte von 21 bis 75 Jahren und das Durchschnittsalter lag bei rund 41 Jahren. Vier Personen waren älter als 60 Jahre und gehörten der ‚Großelterngeneration‘ an. Die große Mehrheit der Bildungsbotschafter*innen war zum Erhebungszeitpunkt verheiratet oder befand sich in einer Lebenspartnerschaft. Nur ein geringer Teil war ledig oder geschieden. Mit rund 42 Prozent hatte fast die Hälfte der Teilnehmer*innen drei oder mehr Kinder. Nimmt man nur die 35 Frauen, die zu ihren Kindern detaillierte Angaben machten, liegt deren durchschnittliche Kinderzahl mit einem Wert von 2,14 deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 1,47 Kindern pro Frau (Statistisches Bundesamt 2016). Merkmale

Absolut

In Prozent

Geschlecht (n=39) Männlich

3

8%

Weiblich

36

92 %

5 20 9 4

13 % 53 % 24 % 11 %

32 4 2 1

82 % 10 % 5% 3%

Alter (n=38) unter 30 Jahre 30 bis unter 45 Jahre 45 bis unter 60 Jahre 60 Jahre und mehr Familienstand (n=39) Verheiratet/Lebenspartnerschaft Ledig Geschieden Verwitwet

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Kinder (n=38) Keine Kinder Ein oder zwei Kinder Drei Kinder Mehr als drei Kinder Bildungsstatus (n=39) Hochschulabschluss Abitur/Fachhochschulreife Mittlerer Schulabschluss Hauptschulabschluss Ohne Schulabschluss Berufliche Bildung (N=37) Mit beruflichem Bildungsabschluss Arbeitsmarkt Erwerbstätig

2 20 14 2

5% 53 % 37 % 5%

14 13 6 4 2

36 % 33 % 15 % 10 % 5%

28

76 %

7

18 %

Tab. 1: Soziodemografische Merkmale der Bildungsbotschafter*innen. Quelle: Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019 Bildung, berufliche Bildung, Arbeitsmarkt Die Mehrheit der Bildungsbotschafter*innen verfügt über einen hohen Bildungsstatus: Mehr als zwei Drittel der Befragten besitzen einen Hochschulabschluss oder die (Fach-) Hochschulreife (69 %). Nur 15 Prozent der Befragten gaben an, die Schule mit einem Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss verlassen zu haben. Rund drei Viertel der befragten Bildungsbotschafter*innen verfügen zudem über einen beruflichen Bildungsabschluss. Trotz der hohen Rate an formaler Berufsqualifizierung waren über 80 Prozent der Teilnehmer*innen zum Zeitpunkt der Befragung nicht erwerbstätig. Als Gründe gaben mehr als ein Drittel der Befragten die Betreuung und Erziehung von Kindern und ein Fünftel Arbeitslosigkeit an. Weitere Gründe waren die Teilnahme an Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie an Sprachkursen (insgesamt rund 38 %). Drei Bildungsbotschafter*innen befanden sich im bereits Ruhestand und in einem Fall wurden gesundheitliche Gründe genannt.

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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Migrationshintergrund und Familiensprache 90 Prozent der befragten Teilnehmer*innen an der Qualifizierungsmaßnahme weisen einen Migrationshintergrund4 auf und 33 Prozent verfügen über die deutsche Staatsangehörigkeit. 26 Prozent der Befragten wurden in Deutschland geboren und 59 Prozent kamen in arabischen Staaten zur Welt, davon knapp die Hälfte in Syrien und im Libanon. Bei Betrachtung der Familiensprache ergibt sich ein differenziertes Bild. Insgesamt wurden von den 39 Befragten zehn verschiedene Sprachen als erste Familiensprache angegeben. Rund 30 Prozent gaben zudem mehrere Familiensprachen an. Knapp die Hälfte der Teilnehmer*innen spricht Arabisch (19), gefolgt von Türkisch (5) und Kurdisch (9). Die restlichen Sprachen (Azeri, Berberisch, Chinesisch, Georgisch, Serbisch und Tamilisch) wurden jeweils nur von einer/einem Teilnehmer*in als erste Familiensprache genannt. Fünf Teilnehmer*innen der Kurse gaben zudem Deutsch als erste Familiensprache an. Die Erhebung von Daten zu den soziodemografischen Merkmalen ermöglichte Einblicke, die auch die Schlüsselakteure des Projekts überraschten. So musste das Bild revidiert werden, dass es sich bei denjenigen, die von dem Projekt der Bildungsbotschafter*innen angesprochen werden, um eine unterprivilegierte Bevölkerungsgruppe handelt. Erreicht wurden durch die Qualifizierungsmaßnahme vor allem Frauen mit Migrationshintergrund, die über einen hohen Bildungsstand verfügten, diesen aber aus unterschiedlichen Gründen (Konzentration auf Hausarbeit und Kindererziehung, mangelnde Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen, unzureichende Sprachkenntnisse) zum Zeitpunkt des Projekts nicht für eine Integration in den Arbeitsmarkt nutzen konnten. Insgesamt verfügten viele der untersuchten Bildungsbotschafter*innen über eine relativ hohe formale Bildungsqualifikationen und konnten vielfältige Sprachkompetenzen einbringen. Die Kenntnis verschiedener Sprachen ermöglicht es den Bildungsbotschafter*innen, ganz unterschiedliche Eltern in ihrer Herkunftssprache anzusprechen sowie Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und insbesondere mit dem mehrsprachigen Aufwachsen von Kindern mit anderen Eltern zu teilen.

4 Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen nach der Definition des Statistischen Bundesamts alle Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen oder die mindestens ein Elternteil haben, auf die das zutrifft.

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Für den Projekterfolg waren die mitgebrachten Potenziale einiger der Teilnehmer*innen einerseits sehr bedeutsam, andererseits stellte es aber auch eine Herausforderung für das Projekt dar, Menschen mit extrem unterschiedlichen Kompetenzprofilen gleichermaßen adäquat für ihre Tätigkeit als Bildungsbotschafter*innen zu schulen. 3.2 Motive und Aktivitäten der Bildungsbotschafter*innen Die Motive zur Teilnahme an der Qualifizierungsmaßnahme zur Bildungsbotschafter*in sind sehr vielfältig. Eine besonders hohe Relevanz haben Aspekte, die sich auf die Stärkung der eigenen Kompetenzen beziehen, wie selbst mehr über Bildungs- und Erziehungsfragen zu erfahren und die eigenen Kinder bestmöglich fördern zu können (84 % bzw. 66 %). Ein zweites Motivbündel bezieht sich auf die Förderung des Engagements von Eltern für die Bildung ihrer Kinder (71 %) und die Stärkung ihrer Interessen und Perspektiven in Bildungseinrichtungen (42 %). Die Förderung von Begegnungen und Miteinander in Kita, Schule und Quartier sowie die Förderung von Begegnung und Austausch zwischen Eltern nennen etwas mehr als ein Drittel bzw. ein Viertel der Befragten als wichtiges Motiv (vgl. Abbildung 1).

Abb. 1: Motive für die Teilnahme an der Qualifizierungsmaßnahme (n= 38, max. drei Antwortmöglichkeiten). Quelle: Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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Etwas zu lernen, was dem erfolgreichen Bildungsweg der eigenen Kinder zugutekommen könnte, schien also als Teilnahmegrund die höchste Priorität zu haben. Ein weiteres wichtiges Motiv war, andere Eltern zu unterstützen, sich für die Bildung ihrer Kinder zu engagieren – dies war aus Projektperspektive ein zentrales Ziel des Kurses. Mit dem Projekt verknüpfte Zielstellungen, die sich auf das Brückenbauen zwischen Familien und Bildungseinrichtungen sowie das Begegnungen und Austausch fördernde Wirken im Sozialraum bezogen, traten demgegenüber etwas in den Hintergrund und stellten für knapp die Hälfte der Befragten eine wichtige Motivation dar.5 Aktivitäten der Bildungsbotschafter*innen Die Bildungsbotschafter*innen führen am häufigsten Gespräche, leisten Übersetzungsarbeit, begleiten Elterncafés oder unterstützen Angebote für Kinder. Jeweils etwas über ein Viertel der Befragten engagieren sich an Kitas und Schulen, indem sie Gespräche mit pädagogischen Fachkräften und/oder Eltern führen und/oder an Veranstaltungen teilnehmen. In diesen Kernbereichen des Projekts engagieren sich rund die Hälfte der Befragten mindestens acht Stunden im Monat (= zwei Stunden in der Woche). Weitere Aktivitäten wie Betreuung eines Standes auf Stadtteilfesten und Vorstellung des Bildungsbotschafter-Projekts werden etwas seltener angegeben. Ein Engagement in einem Stadtteilgremien stellt schließlich noch etwas Besonderes dar: Hier sind zwar nur drei Bildungsbotschafter*innen aktiv, dafür allerdings mit einem größeren zeitlichen Umfang. 6

5 Auch in der Analyse der Gruppendiskussionen und narrativen Interviews wurde eine große Vielfalt an Motiven und Erwartungen deutlich, die die Teilnehmer*innen mit der Qualifizierungsmaßnahme verbanden (vgl. dazu ausführlich: Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019, Kapitel 9). Ergänzend zu den Motiven, die im Fragenbogen benannt werden konnten, kristallisierte sich dabei in den qualitativen Befragungen noch der Wunsch, die deutsche Sprache (besser) zu lernen als sehr wichtig heraus. Zudem erhofften sich einige Teilnehmer*innen auch, über die Qualifizierung einen Einstieg in eine Ausbildung oder berufliche Tätigkeit zu finden. 6 Die Angaben zu den Aktivitäten beziehen sich auf die Stichprobe von 26 aktiven Bildungsbotschafter*innen aus dem vierten Quartal 2018. Diese wurden gebeten, im Rückblick auf die letzten drei Monate anzugeben, wie häufig sie verschiedene Tätigkeiten ausgeführt haben.

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3.3 Wirkungen des Engagements in der Selbsteinschätzung der Bildungsbotschafter*innen Die eigenen Aktivitäten schätzen die Bildungsbotschafter*innen überaus positiv ein. Mehr als drei Viertel der Befragten bewerten die Aussagen, an Erfahrung und Selbstvertrauen gewonnen sowie andere Eltern ermutigt zu haben, sich für die Bildung ihrer Kinder zu engagieren, als „voll und ganz zutreffend“ (85 bzw. 77 %). Es folgen die Förderung von Begegnung und Austausch zwischen Eltern (62 %), die bessere Förderung der eigenen Kinder (62 %), die Anregung von Eltern, sich verstärkt in Bildungseinrichtungen einzubringen (50 %) sowie die Verbesserung der beruflichen Perspektive (35 %). Dabei gibt es nur bei der Frage nach der Verbesserung der eigenen beruflichen Perspektive zwei deutliche Gegenstimmen („trifft überhaupt nicht zu“). Die einzige Kategorie, die insgesamt etwas abfällt, ist die Wirkung auf das Quartier („Förderung von Begegnung und Miteinander“) (vgl. Abbildung 2).

Abb. 2: Selbsteinschätzung der Wirkung der eigenen Aktivitäten, in Prozent (n= 26), Quelle: Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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Die Befragungen der Bildungsbotschafter*innen zu ihren Motiven und Aktivitäten sowie den angenommenen Wirkungen des Engagements zeigt, dass der Stärkung der eigenen Kompetenzen die höchste Bedeutung zukommt. Mehr über Bildungsund Erziehungsfragen zu erfahren, um die eigenen Kinder besser fördern zu können, und andere Eltern zu ermutigen, sich stärker für die Bildung der eigenen Kinder zu engagieren, steht eindeutig im Mittelpunkt des Engagements, an die weitergehende Ziele wie Stärkung der Teilhabe von Eltern in Bildungseinrichtungen und die Förderung von Begegnungen und Austausch zwischen Eltern anknüpfen (können). Diese Ergebnisse spiegeln sich auch in den hohen Werten der Selbstwirksamkeitserfahrungen der Befragten wider. Diese haben nach eigener Einschätzung vor allem an Erfahrung und Selbstvertrauen gewonnen sowie andere Eltern erfolgreich ermutigt, sich stärker für die Bildung ihrer Kinder zu engagieren. Der Erfolg des Projekts – gemessen auch an der Vielzahl an Aktivitäten, die die Bildungsbotschafter*innen nach Abschluss der Qualifizierungsmaßnahmen entfalten – scheint darin zu bestehen, dass das barrierearme Empowerment der Teilnehmer*innen hohe Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht.

4

Potenziale und Herausforderungen des ‚Zuschnitts‘ einer niedrigschwelligen und kompetenzorientierten Qualifizierungsmaßnahme

In den mit Bildungsbotschafter*innen durchgeführten Gruppendiskussionen 7 bestätigte sich, dass die Teilnehmer*innen an dieser niedrigschwelligen Qualifizierungsmaßnahme sehr unterschiedliche Motive, Kompetenzen und Erwartungen mitbrachten. Da keine kriteriengeleitete Auswahl von Personen vorgesehen war (und auch nicht eingeführt wurde, um das Zustandekommen der Kurse nicht zu gefährden), stand die Qualifizierung zur bzw. zum Bildungsbotschafter*in allen Menschen offen, die an ihr teilnehmen wollten.

7 Im Zeitraum der Evaluation von 2015 bis 2018 wurden insgesamt acht Gruppendiskussionen mit Bildungsbotschafter*innen durchgeführt, davon zwei mit aktiven und erfahrenen Bildungsbotschafter*innen, vier mit Teilnehmer*innen der Grundkurse I bis IV sowie zwei mit Absolvent*innen der Aufbaukurse I und II.

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Daraus ergaben sich zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen wurde die Qualifizierung zur Projektionsfläche sehr verschiedener, mehr oder weniger realistischer, Ziele und Hoffnungen der Teilnehmer*innen. In einigen Fällen erfüllten sich die Erwartungen, wenn die Kursteilnahme bspw. Frauen ermöglichte, sich selbst zu bilden und ihre Position in der Familie und der Gesellschaft zu stärken (vgl. dazu den Beitrag von Bastian Walther in diesem Band). Einige Teilnehmer*innen wurden aber auch enttäuscht, etwa wenn sie erhofft hatten, dass ihnen der Kurs einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt eröffnen oder auch längerfristig für ihr finanzielles Auskommen sorgen würde. Zum anderen konnte es in einer Qualifizierung mit zunächst nur 15 dreistündigen Weiterbildungseinheiten nicht gelingen, das Bildungsangebot so auszugestalten, dass es den extrem unterschiedlichen Kompetenzniveaus und Vorstellungen der Teilnehmer*innen hätte auch nur annähernd gerecht werden können. Im Folgenden wird es um die Herausforderungen gehen, die damit verbunden sind, eine niedrigschwellige Qualifizierungsmaßnahme so zu konzipieren und auszugestalten, dass sie niemanden über- oder unterfordert. Am Beispiel des evaluierten Projekts lässt sich verdeutlichen, dass es für das Gelingen einer kompetenzorientierten Qualifizierung (in dem Sinne, dass die Qualifizierten nach Abschluss das handlungspraktisch realisieren können, was von ihnen erwartet wird) von entscheidender Bedeutung ist, zum einen auf ein Curriculum mit klar formulierten Kompetenzzielen zurückgreifen zu können und zum anderen Menschen zu qualifizieren, die prinzipiell in der Lage sind, das angestrebte Kompetenzprofil tatsächlich zu erreichen und dann in diesem Sinne tätig zu werden. Zusammenhang von Qualifizierungskonzept und Selbstverständnis Ein grundlegendes Problem ergab sich in der Anfangsphase des Projekts nicht nur aus der Diversität der Teilnehmer*innen und der von ihnen mitgebrachten Kompetenzen, sondern auch aus einem Missverhältnis zwischen Anspruch und geringer Zahl an Unterrichtsstunden. So weckte der Projektflyer (Pestalozzi-FröbelHaus o.J.) sehr hohe Erwartungen, indem das Aufgabenprofil sozialarbeiterisch anmutete: Die Bildungsbotschafter*innen sollten demnach „informieren“, „vermitteln“ und „gestalten“: Sie sollen Fragen von Eltern zu Erziehung und Bildung sowie zu Bildungsinstitutionen beantworten bzw. sie an entsprechende Beratungsstellen weitervermitteln; sie sollen bei Konflikten zwischen Eltern und Erzie-

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her*innen oder Lehrer*innen „vermitteln“ und/oder übersetzen; sie sollen sich engagiert in die Gestaltung von Angeboten für Eltern in den Kooperationseinrichtungen einbringen. Schließlich sollen sie – so in einem weiteren Projektpapier (Pestalozzi-Fröbel-Haus 2017) formuliert, das zur Information für die Kooperationseinrichtungen dient, die professionellen Fachkräfte in Kitas, Schulen sowie Nachbarschafts- und Familienzentren bei „der Zusammenarbeit mit Eltern unterstützen“, indem sie „eine Brücke zu Eltern“ darstellen und z.B. „gezielt Wissen an andere Eltern darüber weitergeben, wie die jeweilige Schule funktioniert“. Insbesondere der im Curriculum (Pestalozzi-Fröbel-Haus 2016) und auch von den Kurzdozent*innen vielfach formulierte Anspruch, die Bildungsbotschafter*innen sollten in Konfliktsituationen als Mediator*innen wirken und in Kitas und Schulen dazu beitragen „schwierige Gespräche konstruktiv zu führen“ und „win-win“ herbeizuführen, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als unrealistisch und problematisch. Dies soll am Beispiel eines exemplarisch ausgewählten Zitats aus einer Gruppendiskussion verdeutlich werden. TnA:

Also ich würde dazu sagen, als Bildungsbotschafterin, dass ich eine Brücke zwischen Eltern und Lehrer, Kindern und Lehrer (.) also, dass man halt ne Botschaft überträgt. Diese Botschaft wie der Name auch sagt, diese Bildung, dass man halt diese Konflikte oder diese ganzen Situationen, (.) weil deshalb waren wir hier um des zu lernen, wie wir halt mit diesen Konflikten oder wie wir halt mit unseren Problemen oder wie halt Eltern mit Problemen des rüberbringen zu den Lehrern und diese Sachen, dass man halt eine Botschaft zwischen oder eine (.) wie soll ich sagen, eine Botschafterin zwischen beiden Personen ist. (Gruppendiskussion mit acht Teilnehmer*innen des 1. Grundkurses, 08.03.2016).

Auf der explizit-begrifflichen Ebene wird hier das Selbstverständnis als „Brückenbauerin“ und „Botschafterin“ aufgerufen, die zwischen Eltern, Pädagogen und Kindern vermittelt. An der jeweils zweifachen Benennung von „Problemen“ und „Konflikten“, wird deutlich, dass die Teilnehmerin sich in der Rolle der „Botschafterin“ sieht bzw. adressiert fühlt, die in herausfordernden Situationen zwischen zwei Parteien vermittelt. Dies entspricht durchaus den Zuschreibungen und Erwartungen, die in den Projektunterlagen zunächst formuliert wurden (siehe oben). Offenkundig wird auch, dass die Teilnehmerin sich auf einer sehr unkonkreten Ebene bewegt – weder werden Inhalte ihrer „Botschaften“ noch konkrete Handlungsstrategien oder -kompetenzen expliziert. Dass die Teilnehmer*innen

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sich mit diesem Anspruch überfordert fühlten, dokumentierte sich immer wieder in dem Wunsch nach mehr Möglichkeiten, das Gelernte zu üben, Praxiserfahrungen zu sammeln oder sogar ein Praktikum zu machen. Hierzu wiederum ein kurzes exemplarisch ausgewähltes Beispiel aus einer Gruppendiskussion: TnD:

TnA: (…) TnD: TnE:

Wir haben hier bisschen Übung gemacht (.) zwischen uns (.) hier (Name Dozent) dabei. Und da hab ich mit dem Herrn äh (Name) gemacht auch, aber das ist nicht die (.) genug; also wir müssen Realität also (.) äh wie=wie=wie (.) also gucken, was die Lösung ist. Das wär schön. Also Praktikum (.) °das wär schön°. Das fehlt (hier dann) Das Praktikum fehlt. Die Praxis ist gefehlt (.) also Praxis hat gefehlt, ja. Hat mir auch gefehlt, ja. Aber wir (.) ich weiß auch nicht wie man Praxis hier so miteinbringen kann. (Gruppendiskussion mit fünf Teilnehmer*innen des 2. Grundkurses, 04.07.2016)

Diese Aussagen zeigen sehr deutlich, dass die Teilnehmer*innen ein sehr gutes Gespür dafür hatten, was dazu beitragen könnte, dass sie ihren Aufgaben als Bildungsbotschafter*innen gerecht werden: Praxis. Sie mahnten immer wieder an, dass z.B. Rollenspiele zwar hilfreich wären, aber sie gerne – in Begleitung durch erfahrene Bildungsbotschafter*innen als Mentor*innen – den ‚Ernstfall‘ proben wollten, um Erfahrungswissen ansammeln zu können. Auf der Grundlage der Rückmeldungen durch die formative Evaluation wurde das Curriculum des Kurses dann im Projektverlauf grundlegend um- bzw. neu strukturiert und ein eindeutiges Aufgaben- und Kompetenzprofil für die Bildungsbotschafter*innen ausgearbeitet. Im überarbeiteten Leitbild des Projekts (Pestalozzi-Fröbel-Haus 2018) heißt es dann zum Profil der Bildungsbotschafter*innen: „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter wollen zu mehr Miteinander in Kita, Schule und Stadtteil beitragen. Sie werben für mehr Bildung, lebenslanges Lernen, mehr Interesse am Anderen. Sie wollen die Bildungschancen der Kinder verbessern, unterstützen Eltern, Lehrer und Erzieher. Sie übersetzen in viele Sprachen, sind als Vermittlerinnen und Vermittler tätig, schaffen Räume für Begegnung, setzen sich offen und neutral ein. Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter sind unterschiedlich, das macht uns aus.“

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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Die Fokussierung auf Konfliktsituationen ist hier verschwunden und die Aufgabe des „Vermittelns“ wird anders gerahmt: Die Bildungsbotschafter*innen sollen Begegnungs-, Gesprächs- und Interaktionsräume schaffen – sie werden aber nicht mehr für das Gelingen von Interaktionen zwischen Fachkräften, Eltern und Kindern in die Verantwortung genommen. Dies spiegelte sich relativ schnell in einem geschärften Selbst- und Aufgabenverständnis der Bildungsbotschafter*innen: Absolvent*innen des Aufbaukurses rahmten ihre Aufgabe, Brücken zwischen anderen Familien und Bildungseinrichtungen zu bauen und Kommunikationen anzubahnen, anders: „Wir sind eine Brücke, zum Beispiel zwischen Eltern und Erzieherin oder Eltern und Lehrerin, weil viele Eltern können nicht einen Kontakt direkt mit Erzieherin, und wir können auch das mitmachen, und helfen zu einem Gespräch“ (Gruppendiskussion mit sechs Teilnehmer*innen des ersten Aufbaukurses, 14.07.2017). Zum anderen wurde die Anregung beherzigt, ein differenziertes Curriculum auszuarbeiten, in dem für jede Kurseinheit formuliert wird, welches Wissen und Können, welche sozialen und personalen Kompetenzen die Teilnehmenden am Ende erworben haben sollten. Die angemahnte stärkere Kompetenzorientierung forderte die Dozent*innen dazu heraus, wirklich realistische, überprüfbare und vor allem von den ‚Abnehmern‘ der qualifizierten Bildungsbotschafter*innen in Kitas, Schulen und Nachbarschaftseinrichtungen erwartbare Kompetenzen zu formulieren. Während zu Beginn der Evaluation eine nicht hinreichende Passung zwischen dem Kursangebot und den – sehr unterschiedlichen – Eingangsvoraussetzungen, Sprachkenntnissen und Engagementpotenzialen der Kursteilnehmer*innen deutlich wurde, ermöglichte die Entwicklung und Implementierung eines mehrstufigen Qualifizierungskonzepts8 eine zunehmend bessere Passung zwischen den Anforderungen des Qualifizierungsangebots und den Erwartungen und Möglichkeiten der Teilnehmer*innen. Damit mussten einerseits keine interessierten Eltern ausgeschlossen werden (sie konnten am Grundkurs teilnehmen), andererseits konnten solche Teilnehmer*innen für den Aufbaukurs ausgewählt werden, bei denen das Erreichen der Kompetenzziele realistisch erschien.

8 Das mehrstufige Kurskonzept beinhaltete ein Elternseminar, einen 15-teiligen Grundkurs, eine Praktikumsphase und einen sechsteiligen Aufbaukurs.

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Die thematischen und methodischen Nachsteuerungen und Präzisierungen – auch die dafür notwendigen selbstkritischen Reflexionen des Projektteams – führten unmittelbar dazu, dass sich das Rollen- und Aufgabenverständnis der Teilnehmer*innen schärfte, sie weniger sich selbst überfordernde Ziele formulierten (etwa als Konfliktmediator*in zu agieren) und sich stattdessen der Aufgabe zuwandten, Gelegenheiten für Verständigung zu schaffen und Eltern zu einer offenen Kommunikation z.B. mit Lehrer*innen zu ermutigen: TnA:

also viele Eltern sind ja auch scheu überhaupt die Lehrer anzusprechen, und überhaupt ein Gespräch mit Lehrern anzufangen, die haben ja richtig, also nicht nur Scheu, sie haben auch richtig Angst davor, irgendwie, irgendwas zu erfragen oder überhaupt hallo zu sagen. Also da kann man auch immer, wie Sie schon sagte, so eine Brücke aufbauen, und die Eltern auch ermutigen. Ja, weil viele Eltern kamen, ja, ich weiß nicht, weil die Kinder dürfen ja die Arbeitshefte nicht mit nach Hause nehmen, weil es eine Ganztagsschule ist. Und viele Eltern, ich sage mal nicht, die ärgern sich nicht, sondern die machen sich dann immer Sorgen, wieweit sind sie, was machen die. Und dann habe ich denen halt immer wieder ermutigt, ja, sie können gerne hoch, das Kind hoch in die Klasse begleiten, muss nicht jeden Tag sein, aber ein, zweimal die Woche. Und da sehen sie ja die Lehrerin, und da können sie mal wieder nachfragen, und die Lehrer antworten auch gerne, sehen das auch gerne. Und das haben dann auch ein paar gemacht, und dann haben sie gesagt, das ist toll, jetzt machen sie das öfter, statt so im Ungewissen zu bleiben. (Gruppendiskussion mit sechs Teilnehmer*innen des ersten Aufbaukurses, 14.07.2017)

Die Bildungsbotschafterin informiert und ermutigt hier andere Eltern, ihre Kinder ruhig nach oben in den Klassenraum zu bringen und den Lehrern Fragen zu stellen, wenn sie sich Sorgen über die schulischen Leitungen ihrer Kinder machen. Sie sieht hier ihre Aufgabe darin, eine Kommunikation zwischen Eltern und Lehrkräften schon dann anzuregen, wenn es nicht um Konflikte oder Probleme geht, sondern um Sorgen der Eltern. Damit regt sie zu Gesprächen an, die an einem geteilten Interesse von Lehrer*innen und Eltern ansetzen und damit nicht von vorherein mit einem Konfliktpotenzial verbunden sind. Ein paar Eltern nehmen diesen Rat an, treffen auf positive Resonanz bei den Lehrern und sind ihr dankbar für diesen Tipp.

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Zwei weitere zentrale Gelingensbedingungen der Qualifizierung wurden ebenfalls im Projektverlauf zunehmend besser realisiert: Zum einen wurden den Kursteilnehmer*innen nach dem Grundkurs die Möglichkeit angeboten, begleitet von Pat*innen (erfahrene Bildungsbotschafter*innen) erste Erfahrungen an möglichen Einsatzorten zu machen. Diese Verknüpfung der Qualifizierung mit Praxisphasen bzw. Hospitationen / Praktika trug wesentlich dazu bei, dass sich die Qualifizierten sicherer fühlten und einen für sie geeigneten Ort für ihr Engagement fanden. Zum anderen wurde die Zusammenarbeit mit den Kooperationseinrichtungen im Kiez, also Kitas, Familien- und Nachbarschaftszentren sowie vor allem Schulen verstärkt, die ihre ganz konkreten Bedarfe zum Ausdruck brachten. Indem mit den Verantwortlichen in den Institutionen abgesprochen wurde, was die Bildungsbotschafter*innen anbieten könnten, wurde diesen zum einen Anerkennung und Sicherheit vermittelt, zum anderen passten die Angebote dann auch besser zu den Bedarfen: „Wir werden in der Kita S. sein, zum Elterncafé und wir machen einen Termin nächste Woche, dass wir sprechen mit dem Leiter von der Kita, was können wir genau machen oder was die Ideen sind und sowas“ (GD mit sechs Teilnehmer*innen des ersten. Aufbaukurses, 14.07.2017).

Dies sorgte in den Einrichtungen für eine bessere Verankerung und mehr Nachhaltigkeit der Aktivitäten der Bildungsbotschafter*innen. Zusammenfassung Insgesamt kann festgestellt werden, dass im Projektverlauf zwischen dem Wissen und Können, welches in den Kursen vermittelt wurde und der zur Verfügung stehenden Zeit und den mitgebrachten Potenzialen der (angehenden) Bildungsbotschafter*innen ein besseres Passungsverhältnis hergestellt werden konnte. Es erweis sich als wesentlich für den Erfolg der Qualifizierungsmaßnahme, die Aufgaben und Handlungsfelder von Bildungsbotschafter*innen konkret zu beschreiben und die Qualifizierungsmaßnahme mit realistischen Kompetenzerwartungen zu unterlegen, um Über- und Unterforderungen bzw. nicht zu erfüllende Erwartungen zu vermeiden und ein gutes ‚Matching‘ zwischen Einsatzorten und Bildungsbotschafter*innen zu gewährleisten. Die Ausarbeitung eines differenzierten und kompetenzorientierten Curriculums war in diesem Zusammenhang ein entscheidender

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Schritt, realistische Kompetenzziele zu formulieren und den Kooperationseinrichtungen gegenüber deutlich zu machen, was sie von den Bildungsbotschafter*innen erwarten dürfen. Die Entwicklung eines mehrstufigen Qualifizierungsangebots mit niedrigschwelligem Elternseminar, Grundkurs, Praktikumsphase und Aufbaukurs gewährleistete zudem, dass besonders engagierte Personen mit höheren Sprachkompetenzen und großem Tatendrang vertieft qualifiziert werden konnten, ohne dass andere Engagierte, die zunächst ‚nur‘ am Erlernen der deutschen Sprache oder an der eigenen Entwicklung und der Stärkung der eigenen Kinder orientiert waren, ausgeschlossen werden mussten.

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Das Profil der Bildungbotschafter*innen im Spannungsfeld von Selbstverortung und Außenwahrnehmung

Im Folgenden soll das Spannungsfeld beleuchtet werden, das sich aus einer vor allem zu Projektbeginn nicht optimalen Passung zwischen den Kompetenzen und Vorstellungen der Bildungsbotschafter*innen nach Abschluss der Qualifizierung zum einen und den an sie gerichteten Erwartungen der ‚abnehmenden‘ Einrichtungen (Kitas und Schulen) zum anderen ergab. In den Gruppendiskussionen erwies es sich für die Bildungsbotschafter*innen als besonders große Herausforderung, die Frage zu beantworten, was ein*e Bildungsbotschafter*in eigentlich ist, wie sie ihre Rolle und ihre Aufgaben definieren würden. Aus dem in Kapitel vier bereits beschriebenen diffusen Aufgaben- und Rollenverständnis, das erst im Verlauf der formativen Evaluation geschärft wurde, ergab sich für neu qualifizierte Bildungsbotschafter*innen eine Orientierungsherausforderung: Sie mussten jeweils individuell ‚geeignete‘ und angesichts ihrer (extrem unterschiedlichen) Kompetenzen weder unter- noch überfordernde Einsatzorte und Aufgabenfelder für sich suchen bzw. finden. Dies illustriert ein exemplarisch ausgewählter Auszug aus einer Gruppendiskussion: TnA:

TnD: TnA: TnD:

Und wir müssen uns ja unsere Klientel auch selber erstmal suchen, und das müssen wir eigentlich lernen. Also wir müssen ja die Leute suchen, ne? Die wir jetzt (.) mit denen wir jetzt beraten wollen und °sprechen wollen°, ne? L Ja Und wie man das macht (2), das ham wir nicht gelernt, oder nicht geübt. Ja genau, das (.)

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

TnC: TnD: TnE:

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Prakte- Prakte- Praktische. Die Praxis ist gefehlt (.) also Praxis. L hat gefehlt, ja. Hat mir auch gefehlt, ja. (Gruppendiskussion mit fünf Teilnehmer*innen des 2. Grundkurses, 04.07.2016)

Deutlich wird hier, dass der Schritt in die konkrete Tätigkeit als Bildungsbotschafter*in für die Teilnehmer*innen an der Qualifizierung eine große Herausforderung darstellt: Sie sehen sich nicht nur vor die Aufgabe gestellt, sich ihr „Klientel“ „suchen“ zu müssen, sondern beklagen einen Mangel an praktischen Übungen bzw. Praxiserfahrungen. Auf einer prä-reflexiven Ebene wissen die Teilnehmer*innen sehr genau, dass sich ein sicheres Selbst- und Rollenverständnis als Bildungsbotschafter*in nur auf der Basis von praktischem Tun wird herausbilden können. Dass dies mit Unsicherheiten und intensiven Suchbewegungen verbunden war, dokumentiert sich in einer sehr großen Diversität im Hinblick auf die Frage, warum bzw. in wessen Dienst die Bildungsbotschafter*innen tätig sein wollen. Die dokumentarische Analyse der Gruppendiskussionen ermöglichte die Identifizierung von sechs typischen Orientierungsfiguren, die sich bei den Befragten dann in verschiedensten Kombinationen und Schwerpunktsetzungen identifizieren ließen:9 ƒ Etwas für sich selbst tun, z.B. deutsche Sprache lernen/verbessern, (als Frau) soziale Kontakte knüpfen, Einstieg in eine Ausbildung oder eine berufliche Tätigkeit. ƒ Etwas für die eigenen Kinder, die eigene Familie tun, z.B. Schulerfolg der eigenen Kinder absichern, besserer Zugang zu nützlichen Informationen, von den Lehrer*innen respektiert werden. ƒ Etwas für andere Kinder und Eltern tun, z.B. andere Eltern beraten, für Kinder oder Eltern in der Schule vorsprechen, bei Konflikten vermitteln. ƒ Etwas für die Bildungs- und Stadtteileinrichtungen tun, z.B. Lehrkräfte und Schulen dabei unterstützen, ihren Bildungsauftrag gut erfüllen zu können; das Angebot von Familien- und Nachbarschaftseinrichtungen bereichern und unterstützen. ƒ Etwas für den Stadtteil tun, z.B. im Kiez ein Vorbild für Bildungserfolg und Integration sein, sich in Kiezaktivitäten und -gremien engagieren. 9 Gruppendiskussionssequenzen, aus denen diese Orientierungsfiguren herausgearbeitete wurden, finden sich in: Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019, Kapitel 9.

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ƒ Etwas zum interkulturellen Austausch beitragen, z.B. sich für demokratische Prinzipien, Toleranz und interkulturellen Austausch einsetzen. Bei den Analysen fiel immer wieder auf, dass insbesondere Schule (deutlich stärker als Kita) als ein potenzielles Konfliktfeld gerahmt wurde, in dem Eltern und Kinder sich gegen Zumutungen und Ungerechtigkeiten wehren müssen. Die Unterstützung und Erleichterung der Arbeit von Lehrer*innen, ein Brückenbauen und Hineinwirken in die Elternschaft im Sinne der Institution Schule, wird hingegen nicht mit dem Bildungsbotschafter*in-Sein verbunden. Die Perspektive von vier befragten (stellvertretenden) Schulleiter*innen aus den beteiligten Quartieren10 steht dazu in einem Widerspruch: Sie wünschen sich von den Bildungsbotschafter*innen vor allem eine hohe Identifikation mit der Schule, an der sie tätig werden wollen sowie ein Mitwirken am Erreichen der Zielstellungen der Schule. SLC:

Aber das macht jetzt eben für mich kein Sinn, wenn da zwei Eltern sitzen, wovon eine sich schon wie gesagt mit dem Gedanken trägt, dass dat hier sowieso @(alles nüscht taugt und dass man da irgendwo anders hingehn will)@ und die andern sowieso ganz andere Berührungspunkte mit Schule haben, und dann brauch ich so=ne so=ne Kurse letztendlich jetzt auch nicht, also so=ne Inhalte jetzt nicht vermitteln. Ka=man schon, aber das geht dann natürlich auch an den Eltern so=n bisschen vorbei. Ja, wenn ich jetzt so=n Kurs hätte, der nur aus Eltern der Schule besteht, kann ich natürlich auch eher die schulischen die Besonderheiten der Schule der also mei- unserer persönlichen Schule jetzt hier oder oder nicht @(persönlichen)@ aber der Schule vermitteln, ja?“ (Experteninterview mit Schulleitung der Schule C am 08.07.2016)

Im positiven Horizont stehen hier Bildungsbotschafter*innen, die das Angebot der Schule wertschätzen und sich mit dieser „persönlich“ verbunden fühlen, während im negativen Horizont eine Mutter steht, die sich nach dem BildungsbotschafterKurs von der Schule abwendet und diese abwertet („alles nüscht taugt“). Die Schulleiterin entwirft hier den Gedanken, dass die Besonderheiten der jeweiligen Schule viel besser berücksichtigt werden könnten, wenn es einen Kurs (der zu Bildungsbotschafter*innen qualifiziert) gäbe, der nur aus Eltern der Schule bestünde; 10 Zur Perspektive von Vertreter*innen aus Kindertages- und Gemeinschaftseinrichtungen vgl. Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019, Kapitel 11.2 und 11.3. Die Passung erwies sich hier von vornherein als wesentlich besser.

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implizit wird damit eine bessere Passung zwischen Bedarf (der Schule) und Angebot (durch die Bildungsbotschafter*innen) angemahnt, die nur über einen persönlichen Bezug hergestellt werden kann. Auch in den anderen Gesprächen mit den Schulleitungen kristallisierte sich heraus, dass von den Bildungsbotschafter*innen erwartet wird, dass sie sich an schulischen Aktivitäten beteiligen, die Lehrkräfte unterstützen und sich in Gremien engagieren und auch andere Eltern dazu motivieren. Für die Schulleitungen wäre es zudem ein Projekterfolg, wenn sich durch das Wirken der Bildungsbotschafter*innen im Sinne von ‚Schulbotschafter*innen‘ auch der Ruf ihrer Schulen verbessern würde. Erfüllen Bildungsbotschafter*innen diese Erwartung werden sie gelobt: SLA:

wir ham sehr positive Erfahrungen gemacht, dadurch, dass Bildungsbotschafter auch bei unserer Informationsveranstaltung, ja, sich nach vorne gestellt haben und unseren Eltern wirklich ne tolle Ansprache gehalten haben und zur Beteiligung an der Schule aufgefordert haben, ihre eigenen Erfahrungen geschildert haben, sehr sehr positiv eben gesprochen haben (Experteninterview mit der stellvertretenden Schulleitung der Schule A am 13.01.2016).

In diesem Bericht über die Informationsveranstaltung der Schule dokumentiert sich die Relevanz der Erfahrung, dass die Bildungsbotschafter*innen nicht gegen Schule bzw. die Lehrkräfte als ihnen feindlich gegenüberstehende Instanzen agieren, sondern sich selbst als Teil der Schule verstehen und die Schule anderen Eltern gegenüber positiv bewerben. Im positiven Horizont steht, dass aktive Eltern andere Eltern davon überzeugen, Schule als Ort der Beteiligung wahr- und anzunehmen. Erfüllen die Bildungsbotschafter*innen die Erwartungen der Schule aber nicht, werden sie als Belastung wahrgenommen; zudem wird der Gesamtansatz des Projekts abgewertet: SLC:

Also sie kann es theoretisch gut erklären aber auf ihre eigene Persönlichkeit bezogen und das, was sie auch eben einfach zu beachten hat, ob es jetzt pünktlicher Unterrichtsbeginn ist, oder ob es pünktliches Abholen is oder ob es in die Klasse reinplatzen betrifft, all solche kleinen Basics, wo man denkt ' Wenn ich das jetzt nich als Bildungsbotschafter vermittelt kriege, dass ich nich wenn es fünf nach acht ist ich die Tür aufreißen kann und erst mal die Lehrerin da anbrülle, denn weiß ich nich so richtig, dann hab ich irgendwie das @Ziel verfehlt@ würd ich jetz ma sagen (Experteninterview mit Schulleitung der Schule C am 08.07.2016).

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In der Erzählung wird ein Verhalten beschrieben, das die beschriebene Mutter aus der Perspektive der Schulleitung für eine glaubwürdige Tätigkeit als Bildungsbotschafter*in disqualifiziert: Sie wird als unpünktlich und störend-aggressiv beschrieben („hereinplatzen“, „Tür aufreißen“ und „Lehrerin anbrüllen“); dies wird auf ihre „Persönlichkeit“ zurückgeführt, die durch die Qualifizierung offenbar nicht beeinflusst werden konnte. Hier dokumentiert sich exemplarisch eine Erfahrung, die aus Sicht der Lehrer*innen, der professionellen Pädagog*innen, besonders problematisch wahrgenommen wird: Eltern bzw. sogar Bildungsbotschafter*innen mischen sich in ihren professionellen Aufgabenbereich – hier in den Unterricht selbst – ein und degradieren die Lehrkräfte zu Adressat*innen ihres Unmuts, ihrer Vorwürfe. Wenn auch Bildungsbotschafter*innen sich derart grenzverletzend verhalten, verliert die Schulleitung das Vertrauen in das Projekt („Ziel verfehlt“). Im Zuge der Evaluation konnte dieses nicht optimale und konfliktträchtige Verhältnis zwischen den Vorstellungen und Erwartungen von Schule an die Bildungsbotschafter*innen und deren Selbst- bzw. Aufgabenverständnis sehr deutlich herausgearbeitet werden. Diese Erkenntnis konnte insofern produktiv gewendet werden, als bereits in der Qualifizierung ein klarer konturiertes Rollen- und Aufgabenverständnis vermittelt wurde (vgl. Kapitel 3 dieses Beitrags). Zudem verstärkte das Projektteam seine Bemühungen, in sogenannten „Triangulationsgesprächen“ mit Vertreter*innen der jeweiligen Schule und Bildungsbotschafter*innen ein gutes ‚Matching‘ anzubahnen und beratend zu begleiten. Zusammenfassung Die Kooperation zwischen dem Bildungsbotschafterprojekt und den beteiligten Schulen im Quartier war mit besonderen Herausforderungen verbunden. Sowohl auf Seiten der Institution Schule und ihrer Lehrkräfte als auch auf Seiten der Bildungsbotschafter*innen musste viel Zeit und Energie darauf verwendet werden, ein sich wechselseitig anerkennendes Kooperationsverständnis zu entwickeln. Je konkreter die Bedarfe der jeweiligen Schule ernst genommen wurden und die Bildungsbotschafter*innen darauf mit ihren Angeboten und Potenzialen reagieren konnte, desto gewinnbringender empfanden beide Seiten die Kooperation.

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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Fazit

Die zentralen Ergebnisse der dreijährigen Evaluation wurden – in Anknüpfung an die allgemeinen Qualitätsstandards von Lietz (2017) – in einem WirkungsgefügeModell zusammengeführt und verdichtet, das die zentralen Dimensionen und Erfolgsfaktoren des Projekts „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter in Kita, Schule und Stadtteil“ beschreibt:

Abb. 3: Modellierung eines Wirkungsgefüges zum Projekt „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter in Kita, Schule und Stadtteil, Quelle: Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther 2019

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Die Ergebnisse der Evaluation zeigen, dass die Wirkungen des Projekts „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschaftern in Kita, Schule und Stadtteil“ vor allem von drei Dimensionen beeinflusst wurden: (1) Kriteriengeleitete Auswahl von Personen mit hinreichenden Voraussetzungen; (2) Aufgabenadäquate und kompetenzorientierte Qualifizierung; (3) Nachhaltig verankerte Kooperationsbeziehungen mit Institutionen im Stadtteil. Die Potenziale des Projekts können in vollem Umfang erschlossen werden, wenn die Teilnehmer*innen an der Qualifizierungsmaßnahme hinreichende Voraussetzungen für eine Tätigkeit als Bildungsbotschafter*in mitbringen, an die eine aufgaben- und kompetenzorientierte Qualifizierungsmaßnahme anschließen kann und wenn die Bildungsbotschafter*innen ihre Kompetenzen im Rahmen von Kooperationen zu Bildungs- und Stadtteileinrichtungen erfolgreich in verschiedene Praxisfelder einbringen können. ƒ Erfolgsfaktoren in der Dimension Persönlichkeit und individuelle Kompetenzen der Bildungsbotschafter*innen sind sprachliche und kommunikative Kompetenzen, Diversitätssensibilität und interkulturelle Kompetenzen, gute soziale Kontakte und Netzwerke sowie eine positive Einstellung zu Bildung und Bildungsinstitutionen. Die Ergebnisse des Projekts, insbesondere die angestrebte Gewinnung von Multiplikator*innen als Brückenbauer*innen zwischen Eltern aus unterprivilegierten Milieus und Bildungseinrichtungen, hängen ganz wesentlich von der Frage ab, inwieweit es gelingt, Personen für eine Teilnahme an der Qualifizierungsmaßnahme zu gewinnen, die über ausreichende sprachliche und kommunikative Kompetenzen verfügen, Aufgeschlossenheit für vielfältige Lebensweisen, Werte und Orientierungen zeigen, kontaktfreudig und sozial gut im Quartier vernetzt sind sowie eine positive Einstellung zu Bildung und Bildungseinrichtungen und den dort tätigen Fachkräften mitbringen. ƒ Erfolgsfaktoren in der Dimension Ausbildung eines individuellen Kompetenzprofils als Bildungsbotschafter*in sind eine präzise Benennung von angemessenen Aufgaben und Handlungsfeldern von Bildungsbotschafter*innen, Formulierung realistischer Kompetenzerwartungen (in mehreren Niveaustufen), Weiterbildner*innen, die nicht nur ‚Stoff‘ vermitteln, sondern mit den Teilnehmer*innen in eine reflexive Beziehungsgestaltung gehen sowie eine

Bildungsbotschafter*innen in Kita, Schule und Stadtteil

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enge Begleitung und Beratung der Teilnehmer*innen des Qualifizierungskurses in den Praxisphasen. Es ist wesentlich für den Erfolg der Qualifizierungsmaßnahme, die Aufgaben und Handlungsfelder von Bildungsbotschafter*innen konkret zu beschreiben und die Qualifizierungsmaßnahme mit realistischen Kompetenzerwartungen zu unterlegen, um Über- und Unterforderungen bzw. nicht zu erfüllende Erwartungen zu vermeiden. Zudem sollte der Unterricht interaktiv und reflexiv gestaltet sowie die Bildungsbotschafter*innen in den Praxisphasen eng begleitet werden. Eine derart ausgestaltete Qualifizierungsmaßnahme kann dazu beitragen, auf der Grundlage der Persönlichkeit und der (mitgebrachten) Kompetenzen der Teilnehmenden, die Ausbildung individueller Kompetenzprofile als Bildungsbotschafter*innen zu befördern. ƒ Erfolgsfaktoren in der Dimension Erfahrungen im Praxisfeld sind Anbindung an Bildungs- oder Stadtteileinrichtungen, Offenheit der Einrichtungen für Zusammenarbeit mit Familien, Passung von Angeboten der Bildungsbotschafter*innen und Bedarfen der Einrichtungen, Strukturen der Begleitung und Unterstützung von Bildungsbotschafter*innen sowie Informationen über Angebote und Beteiligungsmöglichkeiten im Quartier. Die Bildungsbotschafter*innen können ihre individuellen Kompetenzprofile vor allem dann zur Geltung bringen, wenn sie über enge Anbindungen zu Bildungs- und Stadtteileinrichtungen verfügen, die offen für eine Zusammenarbeit mit Familien sind. Zudem müssen die Angebote der Bildungsbotschafter*innen auf die Bedarfe der Einrichtungen abgestimmt sein. Für die wirksame Entfaltung ihrer Angebote benötigen die Bildungsbotschafter*innen des Weiteren Strukturen der Begleitung und Unterstützung, wie zuständige Ansprechpartner*innen und einen festen Treffpunkt in den Bildungs- und Stadtteileinrichtungen (z.B. Eltern-Café). Um als Multiplikator*innen wirken zu können, benötigen die Bildungsbotschafter*innen zudem einen breiten Fundus an Informationen und Wissen über Angebote und Beteiligungsmöglichkeiten im Quartier (z.B. Quartiersrat, Präventionsrat). Bildungs- und Beteiligungspotenziale von Eltern mit Migrationshintergrund oder Fluchtgeschichte können mit niedrigschwelligen Ansätzen und Instrumenten gut erschlossen werden. Diese Ansätze müssen aber mit der Entwicklung und Umsetzung von Konzepten einer interkulturellen Zusammenarbeit mit Eltern und der

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Schaffung geeigneter struktureller Rahmenbedingungen in Bildungseinrichtungen einhergehen, um nachhaltig wirken zu können. Im 11. Bericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung „Teilhabe, Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland“ (Integrationsbeauftragte der Bundesregierung 2016: 122f.) werden „wichtige bildungspolitische Aufgaben“ darin gesehen, ƒ „Elternkompetenzen in der Bildungsbegleitung ihrer Kinder zu stärken und Informationen zum deutschen Bildungssystem kultursensibel zu vermitteln, ƒ Interkulturelle Kompetenzen der Akteure in den Bildungsinstitutionen zu fördern und Zugänge für Eltern zu schaffen sowie ƒ hinreichende Ressourcen für eine strukturell verankerte und flächendeckende Kooperation von Elternhaus und Bildungseinrichtung bereitzustellen.“ Die Potenziale von niedrigschwelligen Projekten wie dem der „Bildungsbotschafter und Bildungsbotschafterinnen in Kita, Schule und Stadtteil“ können gut erschlossen werden, wenn die Ressourcen der Eltern wie hohe Bildungsaspirationen, Engagementbereitschaft für Bildung, sprachliche und interkulturelle Kompetenzen sowie Erfahrungen mit dem mehrsprachigen Aufwachsen von Kindern anerkannt und wertgeschätzt werden. Je besser es in Integrationsbegleiter-Projekten gelingt, an die Kompetenzen und Vorstellungen von Eltern anzuknüpfen, sie durch eine praxisbezogene Schulung zu empowern und ihren Einsatz in konkreten Tätigkeitsfeldern gut zu begleiten, desto stärker können aktivierende und niedrigschwellige Projekte der Bildungsbegleitung zu Teilhabe- und Teilgabeerfahrungen führen. Unabdingbar sind dabei pädagogischen Fachkräfte in den Bildungsinstitutionen, die allen Eltern und Familien mit einer diversitätssensiblen und ressourcenorientierten Haltung ‚auf Augenhöhe’ begegnen, Elternbeteiligung und -mitbestimmung grundsätzlich als Bereicherung betrachten und entsprechende partizipative und kooperative Strukturen nachhaltig in den Bildungseinrichtungen verankern.

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Iris Nentwig-Gesemann, Frank Gesemann und Bastian Walther

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III Lotsen, Mentoren und Paten zwischen freiwilligem Engagement und beruflicher Anerkennung

Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Bedeutung einer Qualifizierungsmaßnahme Ergebnisse einer komparativen Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen Bastian Walther

Abstract Frauen mit Zuwanderungsgeschichte in sozial benachteiligten Gebieten werden typischerweise nicht als potenziell gesellschaftlich engagierte Personen adressiert. Eine Ausnahme stellt das Projekt „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter in Kita, Schule und Stadtteil“ dar, in dem überwiegend zugewanderte Frauen dazu qualifiziert werden, sich für die eigene Familie, für Familien aus ihrem Umfeld und im Themenfeld „Bildung“ zu engagieren. Im vorliegenden Beitrag werden Gemeinsamkeiten in der Bedeutung dieser Weiterbildungsmaßnahme für die Lebensgeschichte der Teilnehmerinnen rekonstruiert. Dafür wurden acht Frauen mit Migrationshintergrund aus zwei sozial benachteiligten Quartieren in Berlin in biografischen Interviews zu ihren Erfahrungen mit dem Projekt im Kontext ihres Lebensverlaufes befragt. Als Ergebnis wird herausgearbeitet, dass die Bildungsbotschafterinnen vielfältige Ressourcen mitbringen und dass zentrale Wendepunkte in ihrem Leben schon vor der Teilnahme an der Qualifizierung stattgefunden haben. Das Projekt konnte sie allerdings wesentlich dabei unterstützen, Brücken zwischen anderen Familien und gesellschaftlichen Institutionen zu bauen sowie tradierte Erziehungs- und Geschlechtervorstellungen zu hinterfragen. Abschließend werden Schlussfolgerungen für bürgerschaftliche Initiativen diskutiert. Stichworte Bürgerschaftliches Engagement, Integration, Zuwanderung, soziale Benachteiligung, Engagement von Müttern © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_7

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1

Bastian Walther

Einleitung: Das Bildungsbotschafterprojekt und bürgerschaftliches Engagement

Im Projekt „Bildungsbotschafterinnen und Bildungsbotschafter in Kita, Schule und Stadtteil“ werden Eltern dabei unterstützt, sich für den Bildungsweg ihrer eigenen sowie anderer Kinder aus ihrem Umfeld einzusetzen. Zudem wirken sie als Bindeglied zwischen einerseits Bildungs- bzw. Gemeinschaftseinrichtungen im Stadtteil und andererseits Eltern aus den verschiedenen Communities (siehe auch den Beitrag von Gesemann, Nentwig-Gesemann und Walther in diesem Band). Dazu werden interessierte Eltern in einem Grund- und einem Aufbaukurs mit 45 bzw. zusätzlichen 18 Stunden qualifiziert, sie können Supervision sowie weitere kollegiale Austauschformate wahrnehmen und werden in einer Praxisphase begleitet und beraten. Es handelt sich also um ein niedrigschwelliges Lotsen- sowie um ein Sprach- und Kulturmittlerprojekt (vgl. Gesemann 2015: 45f.), das freiwillige, nicht auf materiellen Gewinn gerichtete, gemeinwohlorientierte, öffentliche und gemeinschaftlich ausgeübte Tätigkeiten umfasst und damit im Sinne der Enquête-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages (2002: 86) dem bürgerschaftlichen Engagement zugeordnet werden kann. Die Hauptzielgruppe – Mütter mit Migrationshintergrund der ersten oder zweiten Generation aus sozial benachteiligten Quartieren – besteht dabei aus einem Personenkreis, der in mehrfacher Hinsicht untypisch für bürgerschaftliches Engagement ist: In einer Befragung von Freiwilligenorganisationen wurde herausgearbeitet, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund in sozial benachteiligten Quartieren tendenziell weniger engagieren als Menschen ohne Migrationshintergrund (Gesemann/ Roth 2015: 57). Zudem müssen sie Barrieren, wie unzureichende Sprachkenntnisse, einen unsicheren Aufenthaltsstatus und hohe Belastungen in der privaten Lebenssituation überwinden (ebd.). Dementsprechend werden Zugewanderte nur selten selbst als potenziell Engagierte, sondern vornehmlich als Zielgruppe von bürgerschaftlichem Engagement betrachtet. Schührer (2019: 27ff.) konstatiert, dass ein freiwilliges Engagement von Migrant*innen bis ins 21. Jahrhundert ausschließlich im Rahmen eines Engagements in Migrantenorganisationen verhandelt und unter der Frage diskutiert wurde, inwiefern diese zu Integration beitragen oder aber sie verhindern würden. Erst seit einem guten Jahrzehnt hat sich der Diskurs diesbezüglich geändert, sodass

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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im Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund ein wichtiges Potenzial für die Entwicklung und Stärkung von Handlungsfähigkeit und Kompetenzen sowohl für die eigene als auch die gesellschaftliche Integration gesehen wird (vgl. Huth 2007: 13). Sich zu engagieren, freiwillig in Vereinen oder Organisationen tätig zu sein, ein Ehrenamt auszuüben und sich für andere einzusetzen, wird auch laut OECD als Gradmesser für die gesellschaftliche Integration angesehen, weil damit sowohl das Interesse von Zuwanderern am Funktionieren der Gesellschaft als auch Möglichkeiten und Bereitschaft, sich einzubringen, zum Ausdruck kommen (vgl. OECD 2012: 135). Dabei scheinen Bildung und Erziehung Schlüsselthemen zur Aktivierung von Menschen mit Migrationshintergrund für ein freiwilliges Engagement darzustellen (Gesemann/ Roth 2015: 57). Ilgün-Birhimeoğlu (2014) weist in diesem Zusammenhang auf das große Engagementpotenzial von Migrant*innen hin, das weitaus höher ist als in der deutschstämmigen Bevölkerung. Da das Bildungsbotschafterprojekt in Berliner Quartiersmanagementgebieten angesiedelt ist, in denen der Anteil von Transferleistungsbezieher*innen und Arbeitslosen weit über dem Berliner Durchschnitt liegt, ist eine weitere Kategorie die der sozial Benachteiligten - angesprochen, die üblicherweise ebenfalls nicht mit Bürgerschaftlichem Engagement in Verbindung gebracht wird. So wird in der Studie „Die Entbehrlichen der Bürgergesellschaft?“ (Klatt/ Walter 2011) plakativ danach gefragt, wo das Prekariat in der modernen Bürgergesellschaft bleibe (Walter 2011: 31). Eine Engagementgesellschaft, die vor allem aus akademischen Mittelschichtsgruppen bestehe und damit durch bestimmte Barrieren, wie „Sprachgewandtheit, Kompetenz, Selbstbewusstsein“ und „Informationen“ (ebd.) geprägt sei, konterkariere letztlich das selbstgesetzte Ziel der Partizipation von benachteiligten Gruppen. Klatt und Walter empfehlen daher, auch diese Gruppe der sozial Benachteiligten stärker zu befähigen und in ihrem gesellschaftlichen Engagement zu unterstützen, beispielsweise indem haltgebende Strukturen (2011: 195f.) geschaffen werden oder „Hilfe zur Selbstorganisation“ (ebd.: 198) gewährleistet wird. Schließlich scheint es interessant, innerhalb der Gruppe der Zugewanderten, die sich in benachteiligten Stadtteilen engagieren, Frauen näher in den Blick zu nehmen, die auch den weit überwiegenden Anteil der Engagierten im Bildungsbotschafterprojekt darstellen (Gesemann et al. 2019). Obwohl sich Frauen insgesamt auf die deutsche Gesellschaft bezogen etwas weniger engagieren als Männer

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Bastian Walther

(Simonson et al. 2017), lässt sich dieser Unterschied bei Menschen mit Migrationshintergrund nicht feststellen (Vogel et al. 2017). Klatt und Walter (2011: 186) erscheint die Gruppe der jüngeren Frauen und Mütter in sozial benachteiligten Gebieten sogar als besonders vielversprechend und ‚passend‘ für bürgerschaftliches Engagement, weil sie u.a. durch die Erziehung der Kinder an das Wohnviertel gebunden sind, die Lage der Kinder verbessern wollen und zudem über Netzwerke im Quartier verfügen. Insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund könnten zudem zu mehr Engagement bereit sein, wenn sich das gesellschaftliche Bild dieser Frauen ändern würde und Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements sich stärker für diese Gruppe öffnen würden (Ilgün-Birhimeoğlu 2014: 381).

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Forschungsstand und Fragestellung

Analog zum politisch-gesellschaftlichen Diskurs ist auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Engagement von Migrant*innen relativ jung (Schührer 2019: 29). Neben einigen quantitativen Studien, wie dem Freiwilligensurvey (Simonson et al. 2017), existieren auch qualitative Studien, die die Sichtweisen und Motive für ein Engagement von Zugewanderten in den Blick nehmen (vgl. für einen Überblick Schührer 2019: 30ff.). Als Pionierstudie im qualitativen Bereich kann die Untersuchung von Huth (2007) gelten, die biografische Interviews mit bürgerschaftlich Engagierten mit Zuwanderungsgeschichte führte - vor allem mit zugewanderten Frauen der ersten Generation. Die Autorin kommt in ihren inhaltsanalytischen Auswertungen zu dem Ergebnis, dass es ganz unterschiedliche Wege und Motive für ein freiwilliges Engagement von Migrant*innen gibt, arbeitet jedoch drei besonders wichtige Motive heraus: Sich um die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen kümmern, Begegnungsmöglichkeiten für Frauen schaffen und gesellschaftliche Partizipation für Migrant*innen ermöglichen (ebd.: 144). Zudem betont Huth die Chancen, die freiwilliges Engagement für die Integration in die Mehrheitsgesellschaft bietet: Indem zwischen Migrant*innen und deutschen Behörden und Einrichtungen vermittelt, übersetzt und kommuniziert wird, machen die Engagierten Erfahrungen und erwerben Kenntnisse, die ihnen wiederum bei der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration von Nutzen sind (ebd.: 145f.).

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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Dass Kinder für sozial Benachteiligte, zu denen Einwanderer*innen in erhöhtem Maße zählen, eine wichtige „Brücke in die Bürgergesellschaft“ darstellen können, konstatieren auch Klatt und Walter (2011: 199). Für ihre Studie „Entbehrliche der Bürgergesellschaft“ befragten sie in Fokusgruppen und Einzelinterviews Bewohner*innen aus drei sozial benachteiligten Gebieten in unterschiedlichen Städten zu bürgerschaftlichem Engagement, wobei in den Einzelinterviews auch die biografischen Hintergründe eines etwaigen Engagements angefragt wurden. Sich für Kinder einzusetzen und ihre Situation zu verbessern, scheint selbst bei begrenzten zeitlichen und/oder finanziellen Ressourcen ein wichtiges Motiv für Engagement zu sein. Wie eingangs erwähnt, erscheint den Autor*innen die Gruppe der jüngeren Frauen und Mütter als besonders vielversprechend und ‚passend‘ für bürgerschaftliches Engagement (ebd.: 186). Die Konzeption des Bildungsbotschafterprojektes folgt damit der Empfehlung der Autor*innen, Angebote zu entwerfen, die auch zu traditionellen Geschlechtsrollenverständnissen passen, die Unterstützung von Kindern einbeziehen und möglichst offen und breit gestaltet sind. In einer Untersuchung von Schührer (2019) wurden 28 narrative Interviews mit zugewanderten Frauen durchgeführt, die sich in Familien- und Mütterzentren engagieren. Dort werden ganz unterschiedliche Motive für das Engagement herausgearbeitet, die durch fünf unterschiedliche Typen repräsentiert werden: Die „Solidarisch-Prekären“, die „Aufstiegsorientiert-Prekären“, die „Unfreiwillig-Engagierten“, die „postintegrierte Mitte“ sowie die „Idealistisch-Kosmopoliten“. Interessant ist dabei, dass Schührer weder die Verweildauer in Deutschland noch das Bildungsniveau der Befragten als entscheidend für die Einteilung in einen bestimmten Typ identifiziert, sondern vor allem ihre soziale Lage. Die genannten Beiträge fokussieren auf unterschiedliche Motive von Migrant*innen, um sich zu engagieren und fassen Bürgerschaftliches Engagement als einen Lernprozess auf, der im Gelingensfall für einen Zuwachs an Kompetenzen sorgt. Obwohl ein Teil der qualitativen Studien aus dem beschriebenen Feld biografisch angelegt sind, werden nur wenige Bezüge zu den Lebensläufen von Migrant*innen hergestellt. Im vorliegenden Beitrag soll daher ein Beitrag zu diesem Forschungsdesiderat geleistet werden und am Beispiel des Bildungsbotschafterprojektes auf die lebensgeschichtliche Bedeutung eines ehrenamtlichen Engagements von Migrant*innen eingegangen werden. Es wird also gefragt: Wie wirkt das Projekt im Lebensverlauf von Frauen mit Migrationshintergrund in sozial benachteiligten Quartieren?

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Bastian Walther

(Wie) kann es zu einem biografischen Wendepunkt werden? Was sind die Bedingungen bzw. wie müssen Initiativen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements aufgestellt sein, damit sich Migrant*innen dort engagieren?

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Sample und Methode

Im Rahmen der von 2015 bis 2018 durchgeführten Evaluation des Bildungsbotschafterprojektes (Gesemann et al. 2019) war es das Ziel, intendierte und nichtintendierte Wirkungen des Projektes herauszuarbeiten. Während ein Großteil der qualifizierten Bildungsbotschafter*innen in Gruppendiskussionen zum Verlauf des Projektes und ihren Erfahrungen befragt wurden, sind im letzten Quartal 2018 einige von ihnen noch einmal in Einzel- bzw. Paarinterviews zu Wort gekommen, um die Bedeutung der Qualifizierung für ihren Lebensverlauf zu rekonstruieren. In halb-strukturierten, biographisch orientierten Interviews (Schütze 1983) wurden acht Bildungsbotschafterinnen zur Bedeutung des Bildungsbotschafterkurses in ihrer Biografie befragt. Von Interesse dabei ist, an welcher Stelle der Lebensgeschichte die Bildungsbotschafterinnen mit ihren biografischen Erzählungen einsetzen, welche Erfahrungen sie zur Erläuterung bestimmter Ereignisse oder Abfolgen heranziehen, welche Potenziale aus Sicht der Interviewten bestehen und welche Misserfolge sie erlebt haben. Im Sinne von Schütze (1996) spielt hier der Erzählmodus eine wichtige Rolle, also die Frage, ob ein Mensch seine Lebensgeschichte beispielsweise als „Verlaufskurve des Erleidens“, also als eine Geschichte der Fremdbestimmung und der Verkettung von negativen Umständen, auf die er keinen Einfluss hatte, erzählt, oder aber als Geschichte „biografischer Handlungsschemata“, in der eigene Lebens- und Handlungsentwürfe realisiert werden. Für die Biografie besonders relevante Lebensereignisse werden in biografischen Interviews besonders detailliert und emotional involviert erzählt. Sie stellen Erlebnisknoten- und oft auch Wendepunkte dar, die dem eigenen Leben und auch der Einordnung und Bewertung bisheriger Erfahrungen eine neue Richtung geben. Die Frage nach dem „Wie“ von Erzählungen prägt auch die Analyseeinstellung der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2017; Bohnsack et al. 2013), deren Kernziel es ist, implizites Wissen begrifflich-theoretisch zu explizieren. Dem Grundprinzip der komparativen Analyse folgend, wurde das empirische Material

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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auf die Fragen hin untersucht, wie der Bildungsbotschafterkurs in den biografischen Verlauf der Teilnehmerinnen einzuordnen ist, ob er einen relevanten Wendepunkt bedeutet und in der Biographie angelegte Tendenzen, sich als wirksamer oder eben nicht wirksamer Gestalter der eigenen Biografie bzw. der eigenen Lebenswelten wahrzunehmen, verstärkt bzw. ihnen entgegenwirkt. Das Interview-Sample setzt sich aus acht Frauen zusammen, die von der Projektleitung als „Leuchttürme“ vorgeschlagen wurden und die sich auch nach dem Kurs selbst als aktive Bildungsbotschafterinnen definieren. Dementsprechend handelt es sich ausschließlich um Beispiele, die im Sinne der Projektlogik als ‚gelungen‘ betrachtet werden können. Der Fokus der Analyse liegt daher auf den Gemeinsamkeiten im Sinne basistypischer Muster innerhalb der biografischen Verläufe, die das Potenzial des Projektes im Gelingensfall illustrieren. Alle Interviewten haben einen Migrationshintergrund, wobei vier von ihnen der ersten Einwanderergeneration angehören und die anderen vier in Deutschland geboren sind, also der zweiten Einwanderergeneration zugerechnet werden können. Fünf der Befragten haben einen türkischen und drei einen arabischen Hintergrund. Sechs Interviewte sind Mütter und zwei Großmütter von Kindern, die in die Kita bzw. Grundschule gehen.

4

Ergebnisse

4.1 Bewältigung der familiären Migrationsgeschichte durch Sprache und Bildung Die frühesten Erfahrungen, die die Bildungsbotschafterinnen heranziehen, beziehen sich auf ihre Kindheit und Schulzeit. Insbesondere wird von den Befragten ihr Migrationshintergrund thematisiert und in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Sprache und Bildung unterstrichen. Eine Bildungsbotschafterin (B2) erwähnt beispielsweise, dass ihre eigenen Eltern kein bzw. kaum Deutsch konnten als sie in Berlin aufgewachsen ist. Auf Nachfrage schildert sie Folgendes: I: Ja, als Sie damals als Schülerin in der Schule A waren, haben Ihre Eltern Sie da unterstützen können oder haben Sie Unterstützung von der Schule bekommen? B2: Nein, weil Mama wie ich gesagt habe keine Deutsch hatte, und unsere Klasse waren 26, 27, davon waren keine Deutsche drin. Und dann waren wir alle Ausländer,

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und konnten wir überhaupt keine reden. Und wenn alle Ausländer hinsetzen, mein Vater kein Deutsch hatte, hat er sich nie getraut, und meine Mama hatte auch kein Deutsch. Und dann gesagt, okay, lerne deutsch, du kannst, aber mehr können wir dir nichts machen.

Im Vordergrund dieser Erzählung steht die Erfahrung, in der Schule auf sich selbst gestellt gewesen zu sein. In einer Umgebung, in der weder die Mitschüler*innen noch die Eltern Deutsch reden, scheint es schwierig, selbst Deutsch zu lernen und in der Schule erfolgreich zu sein. Die begrenzten Einflussmöglichkeiten der Eltern auf die Schule und die Erfahrung, dass diese sich nicht trauten, mit den Lehrkräften auf Deutsch zu sprechen, scheint sich als eine Erfahrung des Exkludiert-Seins eingeprägt zu haben. Auf einer impliziteren Bedeutungsebene offenbart sich hier eine unüberwindlich erscheinende (Sprach-)Barriere zwischen Lehrkräften und den Familien, die sich jeweils als Fremde und ohne gemeinsame Sprache gegenüberstehen. Daraus ergibt sich für B2 offenbar eine besondere Notwendigkeit Deutsch zu lernen, was von ihren Eltern unterstützt wird. Gute deutsche Sprachkompetenzen werden somit als Schlüssel zur Teilhabe und damit zur Überwindung der Herausforderungen gerahmt, die sich aus der Migrationsgeschichte ergeben haben. Später kommt B2 dann auf die Berufsbiografien ihrer Geschwister zu sprechen: B2: Mein Bruder ist aus der Schule A, der hat Bauingenieur studiert, meine andere Bruder war aus der Schule A, Heizungslehre abgeschlossen, die andere war aus der Schule A, und die hat jetzt eine große Nassbaufirma, ganz groß in Berlin, die bauen ihre Wohnungen. Also mein Vater hat gesagt, ihr studiert alle, und Frau D1 die kennt ihr aus dem Quartiersrat, D2, ist meine Schwester, die kennt er auch aus der Quartiersrat. Mein Vater hat gesagt, macht ihr nur, ich hab es nicht geschafft, macht ihr, und das hat mir, danken wir auch meinem Vater und meiner Mutter, dass die uns da Gelegenheit gegeben haben. Und das ist (.) unsere (.) Geschichte.

Hier wird deutlich, dass B2 im Streben nach einem erfolgreichen Bildungsabschluss den Beistand ihres Vaters erlebte und ihren Eltern für die Motivation und deren Glauben an sie und ihre Geschwister dankbar ist. Nicht nur in Bezug auf ihre Brüder, die von B2 als beruflich sehr erfolgreich gerahmt werden, sondern auch auf sie und ihre Schwestern scheint den Eltern eine gleichwertige Unterstützung („ihr studiert alle“) wichtig gewesen zu sein. Zudem wird deutlich, wie sie ihre weitere Entwicklung in die eigenen Hände hat nehmen müssen („macht ihr nur“). Das Zutrauen und die Möglichkeit („Gelegenheit“), sich selbst beweisen zu

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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können, scheint B2 gestärkt zu haben und maßgeblich für ihre Biografie zu sein („Und das ist unsere Geschichte.“). Auf eine ähnliche Weise rahmt B1 ihre Bildungsgeschichte: B1: Und ich bin hier geboren, hier aufgewachsen, schulischer Werdegang alles hier in Deutschland. Auch Ausbildung, halbes Studium, na ja, aber ich sag mal so, meine Eltern waren ja die ersten Einwanderer, die hier waren, und meine Mutter war Analphabetin. Und die, also wie bei B2, also sie konnten mir, ich sag mal so im Stoff, beim Lernen nicht helfen. Aber ich danke für meine Eltern, also für die Umgebung zum Lernen haben sie mir genug gegeben. Dadurch, also ich hab zwar alles selbst geschafft, aber ich hatte auch sozusagen von meinen Eltern die Unterstützung und auch die Freiheit mich so zum Lernen also ich hab die Bibliothek benutzt, ich habe zu Hause auch immer eigenen Schreibtisch gehabt, eigenen Zimmer, also das was wichtig war habe ich von denen bekommen.

Wie B2 berichtet auch B1 explizit von einer „Unterstützung“ ihrer Eltern im Rahmen von deren Möglichkeiten. Indem sie ihre Mutter als Analphabetin rahmt, wird zum einen die Wichtigkeit deutscher Sprachkenntnisse für einen erfolgreichen Bildungsweg betont und zum anderen die Haltung der Eltern hervorgehoben, die die Tochter trotz dieser fehlenden persönlichen Ressourcen als Unterstützung erfahren hat („für die Umgebung zum Lernen haben sie mir genug gegeben“). So wird auch bei ihr das homologe Muster deutlich, den Wert von Bildung vermittelt bekommen zu haben, von den Eltern aber keine Hilfe im Lernprozess erhalten zu können. Andererseits haben ihre Eltern ihr sowohl eine gute Lernumgebung („Schreibtisch, eigenes Zimmer“) organisiert als auch die damit verbundene Möglichkeit zur freien Entfaltung („Freiheit für mich so zum Lernen“, „hab die Bibliothek benutzt“) eröffnet. Diese Form der Förderung ihres (Selbst-) Bildungsprozesses nimmt sie offensichtlich als große Stärkung wahr. Auch die Schwestern E1 und E2 rufen explizit drei Generationen in ihrer Erzählung auf: E2: Ich finde, dass wir für drei Generationen auftreten in jeder Hinsicht. Dass wir wirklich unsere Eltern, die damals nicht sprechen konnten, vertreten, uns selber und unsere Kinder. Denen was beibringen beziehungsweise vorbereiten. Ob im Kiez, allgemein, diese ganze Gesellschaft, die sich nicht so entwickelt. Weil wir sprechen die Problematik, was die damals gehabt haben, was wir haben und was unsere Kinder demnächst erwarten. Deshalb ist es halt wirklich sehr, sehr schön, dass man da halt mitreden kann.

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Hier dokumentiert sich das Motiv von E2 für ein Engagement als Bildungsbotschafterin: Es liegt ihr daran, die Kommunikationsbarrieren und die Ausgrenzung, die ihre Eltern als Einwanderer erfahren haben, zu überwinden und selbst an der Gesellschaft teilzuhaben, indem sie ihre eigene Perspektive aktiv einbringt. Der Schlüssel dafür scheint auch hier die Sprache zu sein, weil es erst mit deren Beherrschung möglich ist, ‚eine Stimme zu haben‘ und die eigene Position bzw. Meinung „vertreten“ zu können. Dass sie sich dabei als Teil eines größeren, noch nicht abgeschlossenen Integrationsprozesses sieht, der sie wie auch die Generation ihrer Kinder betrifft, macht der Verweis auf die Entwicklung im Kiez und in der Gesellschaft allgemein deutlich. Hierin besteht auch die Verbindung zum Thema Bildung: E2 möchte offenbar ihre Erfahrungen und die ihrer Eltern an ihre Kinder weitergeben, sodass diese „vorbereitet“ werden: Sie müssen die Hürden kennen, die vor ihnen liegen und sie müssen lernen, wie sie diese überwinden können. Ihre Generation positioniert sie als Bindeglied zwischen der Einwanderergeneration und einer möglichst gut integrierten dritten Generation, für die sie eine Anwaltschaft übernimmt. E1 geht in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle des Kurses ein: E1: Die Last haben wir getragen, ohne dass wir wussten, dass wir dagegen uns wehren können oder irgendwie ausdrücken können. Aber jetzt sind wir mittlerweile so. Ich glaube, das ist ja das Schöne: Mit dem Bildungsbotschafterkurs fand das alles so eine Vollendung. Das heißt, wir wussten zwar, wir sind hier aufgewachsen, (…) wir hatten die Bildung, wir hatten die Erfahrung. (E2: Wir wussten nicht, wo wir jetzt ansetzen.) Genau. Wir wussten nicht, wo wir das einsetzen oder mit wem wir dieses alles austauschen und rüberbringen können. Und dann kam Klaus1 in unsere Welt und genau. Ich finde, das war jetzt die Vollendung, wo wir wussten, okay. Das war das Schöne gewesen. Genau. Und Klaus persönlich oder Klaus mit dem Projekt, war auch richtig (E2: Hammer. Genau. Klaus). Leute, also richtige Leute für den richtigen Projekt. Genau.

Erneut wird die Bürde deutlich, die E1 als Vertreterin der zweiten Zuwanderergeneration spürt, wenn sie von der „Last“ spricht, die sie „getragen […] haben“. Zugleich erscheint die Integration in die Mehrheitsgesellschaft als eine Art generationsübergreifender Weg, auf dem „Bildung und Erfahrung“ hilfreich sind und der

1 Pseudonym für einen Dozenten des Projektes

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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„vollendet“ werden kann. Wenn sie den Bildungsbotschafterkurs als „Vollendung“ rahmt, wird deutlich, dass sie sich zum einen schon weit vor der Teilnahme an dem Kurs ‚auf den Weg‘ der Bildung gemacht haben und dieser zum anderen als wichtiger und notwendiger Teil betrachtet wird, um ganz in der Gesellschaft anzukommen. Ausdrücklich wird auch die Persönlichkeit des Dozenten gelobt, in dem sich das Projekt für E1 und E2 zu personifizieren scheint. Die Beispiele zeigen, dass die Bildungsbotschafterinnen aus formal eher bildungsfernen, immer jedoch aus bildungsorientierten Familien stammen. Die Bildungsorientierung der eigenen Eltern speist sich dabei aus einer mit der Migrationsgeschichte zusammenhängenden Chancenungleichheit, die nun von den Kindern ‚geheilt‘ werden soll. So haben es die befragten Frauen als Bestärkung erfahren, sich möglichst gut bilden und damit auch einen eigenen Weg gehen zu können. Der Keim, den hohen Wert von Bildung als Botschaft zu transportieren, scheint damit schon in der Familiengeschichte angelegt zu sein. 4.2 Vielversprechende Bildungswege und nicht voll ausgeschöpfte berufliche Potenziale Ihren eigenen beruflichen Werdegang beschreiben die Bildungsbotschafterinnen in der Folge als durchwachsen. Es wird deutlich, dass sie durchaus hohe formale Berufsabschlüsse erreichen, dieses Potenzial aber nicht immer voll ausschöpfen konnten. So werden in den biografischen Schilderungen immer wieder Momente fokussiert, in denen sie an Grenzen oder Hürden stießen. Hier wechselt dann auch die Art und Weise, wie sie ihr Leben erzählen: Nicht mehr das Treffen von Entscheidungen und das aktive Tun (lernen, studieren, erste Arbeitserfahrungen machen) stehen im Vordergrund, sondern das passive ‚Erleiden‘ bzw. zu einem ‚Opfer der Verhältnisse‘ werden. C1: Ja, ich bin hier geboren, habe typische Wurzeln. Habe eine Schneiderausbildung gemacht mit Designerausbildung, habe dann Diplom-Ingenieur-Bekleidungstechnikerin studiert. Habe aber dann irgendwann hier wegen Überqualifikation auch keinen Job bekommen, habe mich dann anders irgendwann orientiert, bin dann eher im Marketingbereich, im Gestaltungsbereich dann irgendwann gelandet. Und habe dann irgendwann geheiratet, was als Mensch, sage ich mal, ich war von der Persönlichkeit her immer so ein aktiver Mensch. Und dieser Mensch hat mich dann irgendwann so komplett verändert.“

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In ihrer Erzählung stellt C1 einen erfolgreichen (Aus-)Bildungsweg mit „Schneiderausbildung“, Zusatzqualifikation („Designerausbildung“) und anschließendem Studium („Diplom-Ingenieur-Bekleidungstechnikerin“) dar. Sie schreibt sich sogar eine „Überqualifikation“ zu, infolge derer sie „hier“ keinen Job bekommen hat. Interessant und bedeutsam ist der damit verknüpfte Wechsel vom Erzählmodus einer Akteurin, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt zur Beschreibung von etwas, das mit ihr geschieht und ihr Leben belastet. Das Heiraten wird dann zwar zunächst als aktive Entscheidung gerahmt, kurz danach wird aber ein biografischer Bruch, ein Bruch in der Erwerbsbiografie, deutlich: Die Ehe „verändert sie komplett“. B2 beschreibt ihre schulische und berufliche Ausbildungsbiografie überwiegend als von Schwierigkeiten geprägt: B2: Und Oberschule war, und ich war ja auch als Kopftuchträger, war auch sehr schlimm, aber meine Oberschule, in Oberschule H war das in, war mal ein Lehrer, der Herr Schubert, ich werden nie vergessen, der hat gesagt, guckt mal Kinder, weil die Kopftuch tragen, denke sie, sie werden anders behandelt, die sind auch so gut bei mir angekommen wie ihr. Das hat uns so motiviert, dass wir die zehnte Klasse abgeschlossen haben, Gott sei Dank, und dann aber, wir haben keinen Ausbildungsplatz bekommen. Ja, so ist das Leben.

In ihrer Schulerfahrung hebt B2 die Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihres Status als „Kopftuchträger“ hervor. Obwohl die Oberschule an sich als „sehr schlimm“ gerahmt wird, scheint die vorurteilsbewusste und an Chancengleichheit orientierte Haltung eines Lehrers sehr motivierend für B2 gewesen zu sein und einen großen Unterschied für die eigene Bildungsbiographie gemacht zu haben. Am Wechsel des Erzählmodus dokumentiert sich, dass sich B2 durch die Unterstützung des erwähnten Lehrers in die Lage versetzt sah, sich den Abschluss selbstständig zu erarbeiten. Der misslungene Wechsel vom Schulbildungs- in das Berufsausbildungssystem wird dagegen homolog zu C1 mit einem Wechsel vom Akteursstatus zum Erleidensmodus beschrieben („wir haben keinen Ausbildungsplatz bekommen“). Die konkludierende Aussage „ja, so ist das Leben“ deutet schließlich auf eine Verarbeitungsstrategie des fatalistischen Akzeptierens und Sich-damit-Abfindens hin. Die Erzählung von A1 beschreibt ähnlich zu der von B2 eine durch Rückschläge gekennzeichnete Bildungsbiografie:

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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A1: Hätte ich hier eh bisschen Ausbildung gemacht hätte ich auch Lehrerin geworden @(.)@ Y1: ah ja? A1: War ja auch mein Wunsch aber (.) schade. Y1: Was haben Sie gemacht dann oder? A1: Ich habe Abitur gemacht in Iran. Und dann bin ich direkt nach Deutschland gekommen. Mit 23 war=ich hier aber die Sprache lernen is=mir so schwergefallen. Ich konnt=es nich und das hat wirklich lange gedauert bis ich dann erst=ma die Sprache erst=ma einigermaßen eh gelernt habe und dann konnte ich mich verständigen. Dann hab=ich gesagt un=noch studiern? Ne; auf keinen Fall. Ich kann nich. Ich schaff das nicht. Ich hatte A:ngst wie gesagt was=die System in Iran war ne, die hat ich in mein Kopf. Da hab=ich gesagt ne; das will ich nich wiederholen, das will ich nicht. Aber danach hab ich mich auch beworben aber leider vor der Wende war das; kein Erfolg. Wollten die nich damals. Y1: Jetzt brauchn die Lehrer überall ne? A1: Die brauchen jetzt überall, u:nd=ehm ich hab mich als Kinder=ehm Kinderkrankenschwester für Kinderabteilung hab ich beworben, nich? U:nd=eh damals war=s Lehrerin? War unmöglich. Unmöglich. Des konntes=du nich. Y1: L°schade° A1: Da hab=ich gesagt vielleicht diese, aber es hat auch nicht geklappt. Immer Absage Absage dann man eh verliert den Lust, dann sagt=ma, ok, lassen=ma. Ich hab drei Kinder und ehm es reicht.

Auch bei A1 erschien die Bildungsbiographie zunächst vielversprechend („Abitur gemacht in Iran“). Die Entscheidung, nicht zu studieren, schreibt sie in der Rückschau sich selbst zu bzw. ihren mangelnden Sprachkenntnissen und der nicht näher spezifizierten Angst davor, Erlebnisse aus dem Bildungs- und Gesellschaftssystem des Irans erneut zu durchleben. Ihre Versuche, den Einstieg ins Berufsleben zu finden, beschreibt A1 als erfolglos und frustrierend: Weder bekam sie vor der Wende die Chance, Lehrerin zu werden, noch später Kinderkrankenschwester oder Lehrerin. Homolog zu C1 fügt sie sich dann ihrem Schicksal und gibt ihre Bemühungen auf. Sie rahmt dies als eigene Entscheidung und sichert damit trotz der Erfahrung des Abgelehnt-Werdens ihren Akteursstatus. Insgesamt wird diese Berufsgeschichte als eine des nicht ausgeschöpften Potenzials erzählt, denn A1 rahmt sich als verhinderte Lehrerin bzw. Krankenschwester.

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Trotz der Individualität der Lebensentwürfe dokumentiert sich in den verschiedenen Biografien ein homologes Muster: Die Frauen erleben nach dem erfolgreichen Schulabschluss bzw. einer Ausbildung oder einem Studium Grenzen, die sie nicht überwinden und damit auch ihre Potenziale nicht voll ausschöpfen können. Die acht befragten Bildungsbotschafterinnen beschreiben sich dabei als Frauen, die ‚bildungshungrig‘ und an einer beruflichen Karriere interessiert waren, an deren Verwirklichung aber durch gesellschaftliche Benachteiligungen oder die Familiengründung unfreiwillig gehindert wurden. 4.3 Erziehung und Bildung als Zukunftsperspektive und Keim für Veränderung Die Befragten berichten an verschiedenen Stellen der Interviews von einem sehr hohen Wert, den sie Erziehung und Bildung für die Zukunft ihrer Kinder beimessen. Hier wird deutlich, dass sie die Bildungsorientierung ihrer eigenen Eltern als positive Orientierungsfigur weitertragen bzw. zu einem nicht hinterfragbaren Ethos gesteigert haben. So äußert sich bspw. A1 kategorisch: A1: Und Wissen is=die beste Waffe, Y2: °Ja,° A1: die man habn kann. Für Leben. Y1: Ja, A1: Ne? Nich Krieg sondern für Leben, das=is beste, wirklich Voraussetzung; das Wissen. Y2: Mhm A1: Wenn man paar Bücher mehr liest dann eh handelt man auch ganz anders. Als man nichs gelernt is, nich=ma Hauptschlussabschluss dann natürlich=eh eh läuft alles schief. Y1: Mh hm. A1: Ne? (.) Und die Bildung is is sehr sehr sehr wichtig; sehr wichtig sogar, des ich sag=ma immer mh mh wichtiger als Brot. Y2: °Mh hm° Y1: @(.)@ A1: Ja, ja:, das=is dann ehm ehm wie sagt man, Nah:rung für (.) Seele?

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In der Formulierung, Wissen sei die beste Waffe für das Leben, dokumentiert sich, dass A1 nicht davon ausgeht, dass dem Menschen etwas schicksalhaft gegeben ist, das er sein Leben lang (klaglos) erleiden muss, sondern dass er es selbst in der Hand hat, sich zu ‚rüsten‘ – mit Wissen und Bildung. Das „Lesen von Büchern“, das nicht an den Besuch von Bildungsinstitutionen geknüpft ist – also die Erweiterung des eigenen Horizontes über die eigene Lebenswelt und Lebenspraxis hinaus – ist in ihren Augen der Garant für eine verändertes Handeln. Dass es hier nicht nur oder primär um einen bestimmten gesellschaftlichen Status oder eine rein formale Qualifikation geht, sondern eher um Bildung im klassischen humboldtschen Sinne, dokumentiert sich in ihrer Metapher, dass Bildung wichtiger ist „als Brot“ und „Nahrung für die Seele“. Eine ähnliche Haltung zu Bildung, insbesondere in Bezug auf die eigenen Kinder, wird auch bei B2 deutlich, die zudem den Erziehungsgedanken betont: B2: Ja, ich hab meinen Kindern gesagt, also auch dieses Leben, wenn man, soll man die Schule soweit machen wie es geht. Studieren ist der beste Weg, und ein guter Mensch zu werden, das ist, das geht nur durch die Schule. Und Erziehung, ich bin immer bei euch, und ich werde euch überall unterstützen, Hauptsache ihr macht Studium, ihr seid in der Schule und was ich nicht könnte, macht doch mal.

B2 betont nachdrücklich den Wert von Bildung. So sollen ihre Kinder die Schule „soweit machen, wie es geht“. Dass sie den Erfolg von Bildung nicht an rein formalen Kriterien fest macht, wie der Fokus aufs „Studieren“ zunächst vermuten lässt, zeigt sich in der Formulierung, die Schule sei der „beste Weg ein guter Mensch zu werden“. Damit schreibt sie Bildung nicht nur für bessere Berufschancen im späteren Leben eine Bedeutung zu, sondern betrachtet sie als Voraussetzung dafür, ein wertvolles und moralisch „gutes“ Mitglied der Gesellschaft zu werden. Damit betont B2 neben der Idee von (formaler) Bildung auch explizit den Erziehungsgedanken. Sie stärkt ihren Kindern den Rücken und nimmt eine verlässliche, unterstützende und gleichzeitig fordernde Rolle ein. Homolog zu ihren Eltern formuliert sie schließlich ihrerseits den Appell an die eigenen Kinder, das zu lernen und zu machen, was sie nicht konnte, und somit die eigene Biografie ein stückweit zu ‚reparieren‘. Offenbar hofft sie so zu erreichen, dass ihre Kinder mit Ehrgeiz und Zuverlässigkeit die Schule und das Studium meistern.

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In der Erzählung von C1 werden die Bedeutsamkeit von Bildung sowie die spezifische Rolle, die Eltern ihren Kindern gegenüber einnehmen, anhand ihrer Erfahrungen als Tochter sowie als Mutter erläutert: C1: Und Bildung war schon immer ein Thema gewesen bei mir, vor allem durch meine Kinder auch. Ich habe extreme Unterstützung von meinen Eltern immer gehabt, also bei uns allen vier Kindern und meine Eltern haben uns immer unterstützt, dass wir uns immer bilden. Und das wollte ich halt für meine Kinder, auch für andere Kinder. Und ich habe dann auch in der Schule gesehen, wie viele Kinder das nicht haben.

Auch C1 macht den hohen ideellen Stellenwert von Bildung in ihrer Familie deutlich. Der Bildungserfolg eines Kindes scheint in ihrem Verständnis sowohl vom Kind als auch von seinen Eltern andauerndes Engagement zu verlangen, wobei die „Unterstützung“ durch die Eltern hier besonders hervorgehoben wird. Indem sie die „extreme“ Unterstützung ihrer Eltern nicht nur für sich, sondern auch für ihre Geschwister betont, stellt sie ihre Eltern als sehr engagiert und ehrgeizig dar. Zugleich wird deutlich, dass C1 an einer gleichwertigen Unterstützung aller Kinder orientiert ist, was sich zum einen in der Erwähnung ihrer Geschwister und zum anderen in ihrem Bedauern ausdrückt, dass es anderen Kindern an elterlicher Unterstützung mangele. Homolog zu B2 scheint ihr daran gelegen, die Bildungsorientierung ihrer Eltern an die eigenen und an benachteiligte Kinder weiterzugeben. Übergreifend weisen die acht Interviewten der Bildung also einen ungemein hohen Stellenwert zu. Demnach sind nicht nur formale Bildungsabschlüsse, sondern auch und vor allem Bildung im weiteren Sinne, bspw. in Form von Belesenheit und moralischer Integrität, ein Schlüssel für ein „gutes“ Leben. Sie orientieren sich dabei sehr stark am Beispiel ihrer Eltern, die ihnen den ‚Auftrag‘ mitgegeben haben, den (Bildungs-) Erfolg zu erzielen, der ihnen selbst verwehrt blieb. Das Engagement als Bildungsbotschafterin ist damit sehr eng mit dem Anliegen verknüpft, Chancen- und Bildungsgerechtigkeit über die Generationen hinweg zu erzielen.

Komparative Analyse von biografischen Interviews mit Bildungsbotschafter*innen

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4.4 Überwindung von (Kommunikations-) Barrieren zwischen Eltern und gesellschaftlichen (Bildungs-) Institutionen mithilfe der Qualifizierung Eine Perspektive, die alle Befragten verbindet, ist die Wahrnehmung von selbst erlebten oder bei anderen Familien beobachteten Kommunikationsbarrieren zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und gesellschaftlichen Institutionen, wie Kita, Schule und Jugendamt. Die Qualifizierungsmaßnahme rahmen sie entsprechend als eine Möglichkeit, sie dabei zu stärken und in die Lage zu versetzen, eine vermittelnde Rolle zu übernehmen und Brücken zu bauen. Hier soll noch einmal auf ein Schlüsselerlebnis von B2 eingegangen werden, das sie zur Teilnahme an der Qualifizierung motivierte: B2: Also mein Persönliches war, dass ich nicht mit den Lehrern reden könnte, was? Ich hab mich nie getraut mit meinen Lehrern zu reden, weil eine hat dann auch über meine Tochter ein Thema angesprochen, dass ein Lehrer zu meiner Tochter gesagt hatte jedes Mal, so (?) da hatte ich das Gefühl, also heute werde ich dem Lehrer sagen, was soll das, wenn sie das kaufen sollte, was tun sie hier. Aber ich hab das damals nicht getraut, und heute leidet meine Tochter immer noch darunter. Es tut mir immer noch jedes Mal, mir schlecht wird, weil dass ich meinem Kind nicht helfen könnte. Und meine Kind hat dadurch auch seine deutsche Sprache so erlebt, dass sie nicht mehr mit ihm im Unterricht deutsch geredet hatte, dass er sein Leben lang begleitet. Und so Mamas wollte ich helfen und sagen, okay, wir können Eltern und Mamas mit den Lehrer reden. (…) Vielleicht wenn ich mit dem Lehrer gesprochen hätte, da wäre das so auf der Welt gelöst, und das hat mir mein Herz nicht so weh getan. Und das war mein Erlebnis, und dieses Grundkurse was wir mit Dozent*in 1 gemacht haben, war und sowas, eine Sprung für unsere Zukunft, war es eigentlich. Wir haben letztens, gestern auch darüber gesprochen, dieses was wir mit Dozent*in 1, diese ganze Kurse gemacht haben, die Kurse ist Zukunft für unsere Gesellschaft, sage ich mal so, für unsere Mamas, für unsere Väter.

Im Vordergrund der Schilderung steht die als Tochter und als Mutter wahrgenommene Kommunikationsbarriere zwischen sich und Lehrer*innen, die mit einem Gefühl der Machtlosigkeit verbunden ist. Wie hoch die Bedeutung ist, die sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen beigemessen wird, dokumentiert sich auch darin, dass B2 einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Stumm-Bleiben und dem Verstummen des Kindes im Unterricht (zumindest auf Deutsch) herstellt. Sie unterstreicht damit ihre Vorbildfunktion für das eigene Kind, das in dem Moment die deutsche Sprache verweigert, als sie sich nicht traut, mit dem Lehrer ins

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Gespräch zu kommen. Dieses Ohnmachts- und Versagenserlebnis scheint ein existenzielles, sehr nahe gehendes Erlebnis gewesen zu sein, das sie motiviert, andere Eltern zu unterstützen und zu ermutigen. Das Kursangebot hat B2 als großen Entwicklungsschub („Sprung“) bei sich selbst und anderen wahrgenommen. Wenn es als „Zukunft für unsere Gesellschaft“ bezeichnet wird, wird ihm das Potenzial zugesprochen, zu einem inklusiveren Bildungs- und Gesellschaftssystem beitragen zu können. Mangelnde Deutschkenntnisse sind auch für C2 in der Erinnerung mit einem Gefühl des Sich-nicht-mitteilen-Könnens und einer damit in Verbindung stehenden Kontaktvermeidung verknüpft: C2: Und, dass ich wollte gerne auch mein Deutsch verbessern, weil ich spreche nicht sehr gut Deutsch, aber ich muss immer rausgehen und mit anderen Leuten sprechen, weil zu Hause kann man nicht Deutsch sprechen. Und ich wollte gerne mit meiner Tochter dabei sein in der Schule, dass ich habe Kontakt jetzt mit der Lehrerin. Früher, ich habe Angst und ich weiß nicht wie kann ich mit der Lehrerin sprechen. […] Ich habe jetzt mehr Vertrauen an mich, was ich kann was machen. Früher ich habe immer Angst wegen meinem Deutsch, ich sage, vielleicht ich kann nicht verstehen oder vielleicht ich sage nicht was genau […} und jetzt finde ich besser ja.

C2 erläutert in der Retrospektive ihre frühere Angst, mit der Lehrerin ihrer Tochter zu sprechen, weil sie ihre Deutschkenntnisse als defizitär empfand. Gleichzeitig stand diese Wahrnehmung offenbar im Gegensatz zu ihrem Wunsch, am Leben ihrer Tochter in der Schule teilhaben zu können. C2 formuliert die Auflösung dieses Spannungsverhältnis in der Form einer persönlichen Transformation von der angstvollen, vermeidenden Ausgangsposition hin zu einer selbstbewussten und fordernden Positionierung: Sie „will“ ihr Deutsch verbessern und sie „will“ gerne zusammen mit ihrer Tochter in der Schule sein“. Der Impuls, sich aktiv um die Verbesserung der eigenen Situation zu bemühen, ging von ihr selbst aus, da ihr klar wurde, Zuhause kein Deutsch lernen zu können. Der Bildungsbotschafterkurs bot die Möglichkeit dazu, diesem Impuls zu folgen und ihre Pläne zu realisieren. Der positive Blick auf ihr heutiges Verhalten im Vergleich zum früheren („jetzt finde ich besser“) zeigt ihr gewachsenes Vertrauen zu sich selbst und dazu, was sie kann.

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Auch im folgenden Beispiel steht das Miteinander-Sprechen im Fokus, allerdings geht im Gegensatz zu B2 und C2 nicht darum, selbst mehr zu kommunizieren, sondern eine Kommunikations- bzw. Verständigungsbarriere zwischen anderen Eltern und einer Kita zu überwinden: Y: Und=ehm was waren so besondere Schlüsselerlebnisse für Sie oder vielleicht (.) Dinge die besonders positiv oder gut gelungen waren oder was Sie erlebt haben in der Zeit? A1: Ich hatte so eine schwierige ehm Fa:ll gehabt; mit einem Kind; des=sehr in die Kita wollte sie überhaupt nicht=ins Kita gehen. Y2:°okay° A1: Am Anfang zuhause sagte, ich will ich will ich gehen in die Kita, un=dana- eh sobald=sie da war, sagte, nein ich will nicht. Das war für mich wirklich schwer. Y1: Okay. A1: Ich musste immer mit Erziehern sprechen; mit die die Leuten sprechen; und mit=die Eltern sprechen; und die klar machen, die solln bisschen loslassen das Kind also die können nicht immer das Kind eh eh an=sich nehmen und sagen, oh mein Kind weint. Nein? (.) Und das war für mich sehr schwer. Und aber auch, eh sehr schön weil eh dann danach an Weihnachten, ich war ja am im He:rbst, ich weiß nicht August oder September. Weihnachten ham=sie mich eingeladen zum Weihnachtsfest un=da hab ich gesehen; diese Kind hat sich wirklich sehr gut integriert, Y2: °eingelebt° Y1: °wow° A1: Genau. Es spielt so schö:n, ich war so: fro:h? Und=ehm die auch die Erzieherinnen waren sehr dankbar dafür und das war für mich ein Erlebnis. Und Erfolg auch muss ich sa:gen, da hab ich gesagt gut dann ehm hab ich was bisschen gelernt, weil ich wusste dann eh wie ich mit den Erziehern rede. Ich muss auch die ehm von deren Sicht die ganze Sache sehen; betrachten. Und auch von Eltern; und das, vorher wusste ich nicht. Da hab ich gesagt, gut; eine Mutter will nicht ihre Kind dalassen dann lassen sie doch, dann will er nicht; aber das ist nicht gut. Das war für mich eine Erlebnis und auch Erfolg. Und Gott=sei Dank bis jetzt hat=s gehalten.

A1 rahmt in dieser Erzählung die Vermittlung zwischen Kita und anderen Eltern im Zusammenhang mit einem schwierigen Eingewöhnungsprozess als große und erfolgreich bewältigte Herausforderung. Dies dokumentiert sich darin, dass sie dreimal betont, wie schwer die Situation auch für sie persönlich war. Der gelungene Eingewöhnungsprozess führte dann zu großer Erleichterung, wobei sie sich in der Rolle der kommunizierend Vermittelnden zwischen Erziehern und Eltern

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sieht. Ihren Erfolg schreibt sie dem im Kurs gelernten Wissen um die Wichtigkeit der Beachtung von beiden Perspektiven, sowohl der der Fachkräfte als auch der der Eltern, zu. Letztlich erlebt sie diese Situation als eine große Wertschätzung für die Ausübung der Brückenfunktion. Zugleich zeigt sich hier auch die Heraus- bzw. potenzielle Überforderung, wenn die Bildungsbotschafter*innen zwischen drei Perspektiven, der von Kindern, Eltern und Fachkräften, vermitteln sollen. Homolog zu A1 ist auch B1 die Vermittlung zwischen Bildungseinrichtungen und Eltern wichtig: B1: Ich sag mal so, man hat ja auch unbewusst, bevor man dieses Kurs gemacht hat, auch schon, sage ich mal in Anführungsstrichen als Bildungsbotschafter fungiert. Weil ich hab so gesehen, als mein Sohn in die Schule kam, ich hab alles verstanden, ich hab die Regeln erklärt, aber bei vielen hat das halt in der Gemeinschaft, hat das nicht funktioniert. Und da hatte ich bei der Einschulungsfeier, der*die Dozent*in 1 hatte das Projekt vorgestellt, und dann dachte ich so, okay, viele kommen auch zu mir, weil sie halt merken, ich beherrsche die deutsche Sprache besser, also fragen immer.

In ihrer Erzählung beschreibt sich B1 als Ratgeberin für Eltern, die das Schulsystem noch nicht kennen oder nicht verstehen. Unabhängig von der Qualifizierung stellt sich selbst hier als eine Person vor, die Bescheid weiß und die Regeln versteht und diese anderen auch erklären kann. Durch den Bildungsbotschafterkurs hat sie die Möglichkeit erhalten, ihrer Beratungsrolle einen formaleren Rahmen zu geben und ihr Engagement weiter auszubauen. Seitdem ist sie für andere Eltern mit ihren Erfahrungen und Deutschkenntnissen sichtbarer geworden und wird von ihnen aktiv angesprochen. Eine ähnliche Beratungsrolle nimmt C1 ein, allerdings nicht um zwischen Eltern und Bildungseinrichtungen zu vermitteln. Stattdessen spezialisiert sie sich auf ein in „ihrer Community“ offenbar sehr sensibles Thema, den Austausch mit dem Jugendamt: C1: Also auf jeden Fall die Angst zu überwinden dem Jugendamt gegenüber, weil das ist ein supergroßes Thema, wo viele aus unserer Community, ob es im Türkischen, Arabischen ist, die Angst davor haben, über dieses Thema Jugendamt zu sprechen. Wenn dieses Thema aufkommt, oh Gott, meine Kinder werden mir sofort weggerissen. Es ist aber nicht so, wenn man mit denen gut zusammenarbeitet, auch gut

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kommuniziert, dann läuft alles auch sehr gut. Das den Personen über zu vermitteln, das war für mich wichtig […].

Die Angst anderer Eltern im Hinblick auf das Jugendamt ist nach der Erzählung von C1 auf die Befürchtung zurückzuführen, dass ihnen die Kinder weggenommen werden. Sie weiß aber, dass eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit möglich ist. Diesen Erfahrungsvorsprung möchte C1 beratend an andere Eltern vermitteln und ihnen die Angst nehmen. Die Qualifizierungsmaßnahme unterstützte die befragten Mütter ganz offensichtlich darin, nicht passiv zu bleiben, sondern sich aktiv für den Bildungserfolg von Kindern einzusetzen. Die Frauen treten selbstbewusster auf, festigen ihre schon vor der Kursteilnahme ausgeübte Beratungsrolle in der Community und erhalten Anerkennung für ihre Expertise. 4.5 Sich für andere einsetzen und andere Eltern stärken Im Zusammenhang mit der Migrationsgeschichte ihrer Familie stärkt Af auch den Solidarisierungsgedanken: A1:Weil alle warn Student nich verheiratet und=eh nach eine Essen mit Familie fehlte denen. Ja? Wir ham alle gesagt eure Familie is nich da, wir sin=nich=eh so verwandt aber wir kennen uns; die sind Freunde. Komm=ma zu uns dann ein bisschen wi=mache mir ein schöne Tag. Mein Mann war immer immer für solche Sache wirklich=eh sehr gut. De=hat i:mmer gemacht. Weih:nachten? (.) immer. Unser neues Jahr? (.) immer. Warn immer viele Leute bei uns. Da: hat=s angefangen bei mir, ne? Y1: Ah okay A1: Dann=ehm hab=ich gesagt; das=is eine gute Sache wenn man die Leute bisschen=eh Freude macht, weil (.) wir sind in eine sagen wir so in eine fremde Land am Anfang alles fremd. Es=is gut wenn=ma paar Landsleute hat man dann mit denen spricht und mhmh. Das macht Spaß, und eh ehm diese Idee eigentlich war=ja von meine Mann.

Das Ehepaar lädt an Sonn- und Feiertagen „Landsleute“, junge Studenten, zu sich nach Hause, die keine Familie in Deutschland haben – dies bezeichnet A1 als „Idee“ ihres Mannes und betont mehrfach, dass er dies „immer“ so wollte und gemacht hat. Auch hier konstruiert sich A1 dann wiederum als Akteurin mit einer eigenständigen Meinung: Sie teilt nicht nur die Gastfreundschaft ihres Mannes,

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sondern entwickelt daraus eine eigene Positionierung: „dann hab ich gesagt, das ist eine gut Sache, wenn man die Leute bisschen Freude macht“. Und auch B2 ist das Zusammenhalten und die gegenseitige Unterstützung unter Eltern wichtig: B2: Wir haben letztens, gestern auch darüber gesprochen, dieses was wir mit Dozent*in 1, diese ganze Kurse gemacht haben, die Kurse ist Zukunft für unsere Gesellschaft, sage ich mal so, für unsere Mamas, für unsere Väter. Und dass die Freude, wenn ich, mehr Väters dazu kommen werden, weil die Väters auch mehr mitbekommen könnten von die Schulsachen, aber die arbeiten meistens, Mamas sind zu Hause. Ja, das war es, also dass wir mit den Lehrern reden können, wir Mamas unterstützen können oder wie können die Kinder Hilfe brauchen, da wir da sein wollten, einfach andere Mamas helfen, dieses gut unterstützen.

Offenbar scheint die Gemeinschaftserfahrung und Solidarisierung mit anderen auch für B2 eine große Rolle zu spielen, was sich auf der expliziten Ebene in ihrer Betonung des Potenzials für die Gesellschaft widerspiegelt und implizit darin zeigt, dass B2 vom „Ich“ ins „Wir“ wechselt. Auch die Beschwerde, dass „Väter mehr mitbekommen könnten“ unterstreicht die Wichtigkeit des Themas Bildung und Lernen für alle Eltern. Sich als Bildungsbotschafterin zu engagieren, geht damit über den Einsatz für sich selbst und die eigenen Kinder hinaus und führt offenbar zu einer Stärkung der Eltern untereinander. Darin sieht B2 ein großes Potenzial, sowohl für die Gesellschaft an sich als auch für die „Zukunft“. Somit scheint in diesem Fall der Kurs dazu beigetragen zu haben, eine sich in der Verantwortung für ihre Kinder sehende aber handlungsunfähig erscheinende Mutter zu befähigen, sich für ihre Kinder einzusetzen und darüber hinaus die optimistische Haltung zu entwickeln, dass es lohnt, sich für andere und die Gesellschaft zu engagieren. Eine besondere Erfahrung stellt für die Schwestern E1 und E2 die Mitwirkung im Quartiersrat dar. Ein Quartiersmanager hatte auf Einladung des Dozenten im Elterncafé dafür geworben, dass sich aktive Bildungsbotschafter*innen bei den Quartiersratswahlen im Schöneberger Norden zur Wahl stellen: E2: Aber da ist auch wirklich Herr P. mal wieder derjenige gewesen, der gesagt hat, traut euch, ihr müsst das machen, ihr müsst.

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Die beiden Schwestern zeigten sich erst unentschlossen, beteiligten sich dann aber doch an den Quartiersratswahlen und werden in geheimer Wahl mit den meisten bzw. den zweitmeisten Stimmen als Vertreterinnen für ihre jeweiligen Kieze in den Quartiersrat gewählt. E1: Und dann ja, haben wir uns vorgestellt und dann war das das Wunder des Lebens. E1: Die meisten (waren) immer sehr offen gegenüber uns. (…) Die haben uns immer gut aufgenommen. (…) E2: Es ist wirklich sehr schön, da zu sein und mitzubestimmen bei einigen Sachen, was wir vorher wirklich nicht gewusst haben. (…) Wir wussten gar nicht, dass wir soweit den Kiez bewegen können mit unseren Stimmen, mit Schülern, Mietern oder auch Eltern. Das wussten wir vorher gar nicht. Jetzt weiß man das alles. E1: Wir stimmen ab, die Mehrheit entscheidet, aber nichtsdestotrotz kann jeder mal einbringen, was er jetzt hat. Wo man eigentlich normalerweise nie hingelangt oder wo man nie die Stimmen hören lassen kann. Das ist das Tolle an dem, glaube ich, also an diesem Projekt gewesen.

In ihren Schilderungen wirken die beiden Schwestern immer noch ungläubig darüber, dass sie für den Quartiersrat ausgewählt wurden und sich dort einbringen konnten. Auf der einen Seite scheint dies eine große Auszeichnung für die beiden persönlich darzustellen („Wunder des Lebens“) und ihnen das Gefühl zu geben, integriert („die haben uns immer gut aufgenommen“) und handlungsmächtig („kann jeder mal einbringen, was er jetzt hat“) zu sein. Auf der anderen Seite wird implizit deutlich, wie wichtig den beiden Schwestern ist, andere Familien mit Migrationshintergrund zu vertreten und ihnen eine Stimme zu verleihen. Gerade weil es in ihrer Wahrnehmung offenbar selten ist, sich als Frau mit Migrationshintergrund in einem lokalen Gremium engagieren zu können, stellt die Bereitschaft, sich als Anwohnervertreterin zu engagieren, etwas Besonderes dar. Ihre Engagement ermöglicht es, auch anderen Familien ‚eine Stimme zu geben‘, und „mit Schülern, Mietern oder auch Eltern“ den Kiez zu gestalten. 4.6 Emanzipation von tradierten Erziehungs- und Geschlechtervorstellungen Der Gedanke der Solidarisierung mit anderen steht schließlich auch mit dem homologen Muster der Emanzipation von tradierten Erziehungs- und Geschlechter-

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vorstellungen im Umfeld der Bildungsbotschafter*innen in Verbindung. So erzählt beispielsweise A1 in der folgenden Sequenz davon, wie sich durch die Teilnahme am Bildungsbotschafterprojekt die Perspektive auf ihre eigene Erziehung bzw. die ihres Mannes verändert hat: A1: Also meine für mich hat=s was verändert, weil ich hab gesehen wie ich mit meine Kinder umgegangen bin in der Schule un=so=weiter. Ich war nicht hart; ich hab nie meine Kinder geschlagen um Gottes Willen das, bei uns in=de Familie gab=s so=was nicht. Aber mein Mann war bisschen hart mit Kindern. Un=da hab ich gesehen das war falsch; das sollte man nicht machen. Y2: °ok.° A1:Aber gut die Kinder haben @alles so verstanden Gott=sei Dank@ Y1/2: @Ja@ A1: Weil, er wollte die Kinder eh was machen. Die mussen in=de Schule Beste sein, man kann auch mit Note 2 zufrieden sein; muss nicht alles 1 sein. Aber er wollte das. Aber die Kinder haben insofern nicht=so immer eins gehabt; sagen=wir=so. Da hab gelernt das war falsch was wir gemacht haben, beziehungsweise ich sollte ja auch mein Mann erklären aber ich wusste ja selber auch nicht; dachte okay, er hat Recht er hat ja hier studiert er weiß wie das is, wie das läuft, u:nd=ehm (.) aber aber Gott=sei Dank die ham=schon alles=ehm sehr gute Ausbildung gehabt, eh und eh ham=sie schon hinter sich, ehm meine dritte noch macht noch eine=eh Ausbildung noch ehm eh aber die sind=ehm (.) die erste zwei sind sehr erfolgreich, eine is Architekn eine is Architekt die andere is=eh Erdbauwissen=eh -Ingenieur=ehm un=die dritte studiert Medizin. Und=ehm die Pflegekind eh hat auch Heiz- und Klimatechnik studiert also insofern @alles falsch ham=wir nicht gemacht @2@

In der Erzählung wird deutlich, dass es sich hier um eine biografische Emanzipationsgeschichte handelt, um einen Prozess, der A1 dazu geführt hat, ihre eigene Einschätzung zu vertreten – auch wenn diese sich von der Einstellung ihres Mannes unterscheidet. Während sie es früher selbst „auch nicht wusste“ und daher ihrem Mann dahingehend vertraute (weil er „studiert“ hat), dass er „weiß“, was für die Kinder gut ist (er ist „hart“ zu ihnen und verlangt immer, dass sie die Bestnote haben), vertritt sie nun eine andere, eigenständige Position. Sie beurteilt die ‚Härte‘ ihres Mannes rückblickend als „falsch“ und ist froh, dass sich ihre Kinder trotz dieser „falschen“ Erziehung gut entwickelt haben. Der berufliche Erfolg der Kinder steht eindeutig in einem positiven Horizont – A1 erklärt deswegen aber

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nicht etwa nachträglich die „harte“ und an Schulleistung orientierte Erziehung ihrer Kinder als ‚gut‘, sondern verurteilt sie dennoch und dankt Gott, dass sich ihre Kinder trotzdem gut entwickelt haben. Auch D1 spricht über Veränderungen im Verhältnis zu ihrem Mann, die durch den Kurs unterstützt wurden. Nachdem sie eingangs danach gefragt wurde, wie sie zum Bildungsbotschafterkurs gekommen ist, geht es zunächst darum, wie sie ihrem Sohn dank des Kurses helfen konnte. In diesem Zusammenhang kommt sie auch auf ihren Mann zu sprechen: D1: Und hat mich dann irgendwie so auch zu Hause dann, da hab ich dann auch angefangen mit meinem Mann dann, ich hab heute das und das gelernt, jetzt machen wir zu Hause das und das mal so, mal so herum mal mit ihm [dem Sohn, Anm. d. Autors], und das hat dann so richtig viel bei mir gebracht.

Etwas später, nach der Bitte, über ihren Mann noch etwas mehr zu erzählen, schildert sie dann Folgendes: D1: Aber ansonsten hat er uns immer, anfangs hat er natürlich sich schon gewundert, ja, wie kamst du auf die Idee und so oder dass wir mal ganz anders mal versuchen als wir immer so gemacht hatten. Und, hm, dann hat er schon, ein paarmal hat er sich gewundert, und als er gesehen hat ich gebe nicht auf, und mache immer so weiter, wie ich mal so gelernt hatte, dann hat er schon gesehen, es klappt ja doch, tatsächlich. Also wo ich gesagt habe ich gehe jetzt in die Küche und koche irgendwas, und du bist du mit jemandem zusammen, und du musst aufpassen, dass der Sohn seine Hausaufgaben macht, ja. Anstatt dann Fernsehen zu gucken oder so, diese Zeit, wir hatten zum Beispiel normalerweise, kamen die Kinder aus der Schule, 16 Uhr bis so 17 Uhr, 17.30 Uhr hatten wir Zeit gehabt, bis wir was gegessen haben war der Fernseher an. Danach war der Fernseher aus bis 19 Uhr, hatten wir keinen Fernseher gehabt, weil die, jeder seine Hausaufgaben gemacht haben, und ich sag mal Zeit zu haben für meine Aufgaben die ich zu Hause hatte. Und das hat er irgendwie gemerkt, und als er dann mal frei hatte so in der Woche halt zusammen, da hat er automatisch Fernseher ausgemacht und gesagt, nee, jetzt kommt die Zeit, jetzt müssen die irgendwie was lernen, und es geht einfach nicht, wenn ich mein Kind, und da ist der Fernseher an, dann kann der seine Hausaufgaben gar nicht machen oder da zu konzentrieren. Und das hat er dann richtig gemerkt, also es muss ja doch was sich ändern, und seitdem es dann geklappt hat, kam er automatisch dann dazu. Also man muss schon ein bisschen Mühe haben als Frau so, wie man Männern dann, dass er das versteht, aber dann ist, wenn die merken es geht wirklich so, und da habe ich schon Unterstützung bekommen. Also da hat er auch mal gefragt, wann, was machen wir da, wenn das und das passiert, er kam auch mal an, zweimal in die Stunde mal und

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hat sich mal so angeguckt und mitgemacht, und fand ich auch ganz toll. Normalerweise kriegt man so von Männern, von Vätern nicht so viel, immer so als Mütter und so, ganz so groß, aber so vätermäßig fand ich das auch toll.

In dieser Passage wird deutlich, wie die Teilnahme an der Qualifizierungsmaßnahme das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden zu stärken vermag. D1 erzählt eine im doppelten Sinne erfolgreiche Veränderungsgeschichte: Es gelingt nicht nur, dass der Sohn seine Hausaufgaben macht, sondern vor allem gelingt es ihr, ihren Mann davon zu überzeugen, dass das von ihr vorgeschlagene Erziehungsverhalten gut ist bzw. „klappt“. Der Kurs scheint in diesem Zusammenhang ein Schlüssel dazu gewesen zu sein, eine stärker auf Gleichberechtigung der Eltern beruhende Erziehung des Kindes zu realisieren; der Vater wird von ihr – trotz seiner Berufstätigkeit – auf seine Erziehungsverantwortung verpflichtet. Wenn sie die Irritationen auf Seiten ihres Mannes schildert und betont „man muss schon ein bisschen Mühe haben als Frau so“, wird deutlich, dass es sich um einen anstrengenden und keineswegs einfachen Prozess handelte. Offenbar lieferte ihr die Qualifizierungsmaßnahme aber genug Argumente, um auch ihren Mann zu Verhaltensänderungen zu bewegen, die dazu führen, dass dieser sich mehr um die Kinder kümmert und diese sich besser auf ihre Hausaufgaben konzentrieren können. Die Sequenz endet mit einem expliziten Lob an ihren Mann, der sich sogar den Kurs angeschaut hat, sie bei Erziehungsfragen explizit um ihren Rat fragt und sie damit als kompetent anerkennt. Auch die schon angedeutete Geschichte von C1 ist in diesem Zusammenhang interessant: C1: Und habe dann irgendwann geheiratet, was als Mensch, sage ich mal, ich war von der Persönlichkeit her immer so ein aktiver Mensch und dieser Mensch hat mich dann irgendwann so komplett verändert. Und (2015) hatte ich einen Schlaganfall, was mein Leben komplett umgestellt hat und danach kam es halt zur Trennung und dann habe ich mir gesagt so, ich habe gekämpft, ich kann wieder laufen, ich kann wieder sprechen und schreiben. Und bin jetzt das alles Elend so mit halt auch häuslicher Gewalt jetzt los und ich will mich unbedingt halt für andere engagieren. Und da habe ich halt immer einen Weg gesucht. […] Und dafür wollte ich halt gerne mich auch einsetzen, um anderen Eltern zu sagen, hey, ihr könnt das auch. Oder Müttern zu sagen, ey, das was ich kann, das könnt ihr auch, auch wenn ihr eine andere Religion und andere Kultur, ihr könnt euch auch für eure Kinder einsetzen, ihr könnt auch aktiv sein, ihr könnt aus der Wohnung rausgehen und euch mal auch die Welt anschauen oder auch Berlin mal anders sehen. Ja, das war so meine Intention halt gewesen und das konnte ich halt hier in der Gruppe sehr ganz gut.

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Während die Heirat hier noch im Modus einer eigenen Entscheidung formuliert wird, schildert C1 die Ehe, den Schlaganfall und die folgende Trennung als eine Geschichte, in der sie die ‚Erleidende‘ war. Als Wendepunkt wird dann der Schlaganfall deutlich, der sie dazu nötigte, sich für sie selbst einzusetzen („ich habe gekämpft“). So stellt sie sich in dieser Passage als ‚Überwinderin‘ von „häuslicher Gewalt“ dar und wird damit wieder zur selbstbestimmten Akteurin, die sich von den Übergriffen ihres Mannes befreit hat. Auch hier sind also erneut die Motive erkennbar, sich für andere einzusetzen und die Gemeinschaft der Bildungsbotschafterinnen als Bestärkung zu erfahren. Insgesamt wird deutlich, dass die Qualifizierungsmaßnahme besonders Mütter mit Migrationshintergrund in ihrer Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit stärken und z.B. traditionelle Geschlechterrollenmuster irritieren kann. Dies bedeutet aber auch, dass es für Frauen schwer ist, sich in der Rolle der Bildungsbotschafterinnen zu entfalten und eine Brückenfunktion zu übernehmen, wenn sie im privaten Umfeld auf starke Widerstände und ein Beharren auf tradierten Erziehungs- und Geschlechtervorstellungen treffen. Mutig die eigenen Kompetenzen z.B. in der Schule einzusetzen, wird wesentlich erleichtert, wenn es in der eigenen Ehe bzw. Familie gelingt, den Mann oder andere Angehörige vom hohen Wert des Gelernten zu überzeugen. Daraus ergeben sich implizit die Herausforderungen für den Kurs: Wenn die Teilnehmerinnen im privaten Umfeld auf zu starke Widerstände und ein Beharren auf tradierten Erziehungs- und Geschlechtervorstellungen treffen, könnten sie überfordert werden. Gleichzeitig mag der Kurs wenig interessant sein für Teilnehmer*innen, die über genügend andere Freiräume und ein weitreichend emanzipiertes Umfeld verfügen. Der Kurs birgt aber das Potenzial, besonders Mütter mit Migrationshintergrund in ihrer Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit zu stärken und so auf deren direktes privates Umfeld zu wirken.

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Zusammenfassung und Diskussion

Im vorliegenden Beitrag wurde auf die gemeinsamen Orientierungen von acht engagierten Frauen mit Migrationshintergrund fokussiert, die zur lebensgeschichtlichen Bedeutung des Bildungsbotschafterprojektes befragt wurden.2 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Migrationsgeschichte der Familien der Befragten bedeutsam ist und deren Bewältigung ein zentrales Motiv für die Teilnahme am Bildungsbotschafterprojekt darstellt. So rahmen die Interviewten ihre Familien als formal eher bildungsfern, zugleich jedoch als bildungsorientiert. Die mit der Migrationsgeschichte zusammenhängende Chancenungleichheit, die besonders die erste Einwanderergeneration erlebt hat, soll von der zweiten und dritten Generation ‚geheilt‘ werden, was die Bildungsorientierung der Familien erklärt. Daher steht im positiven Horizont, sich möglichst gut bilden und damit auch einen eigenen Weg gehen zu können. Das Grundmotiv, den hohen Wert von Bildung als Botschaft zu transportieren, ist schon in der Familiengeschichte angelegt. Die Bildungsorientierung richtet sich dabei nicht nur auf formale Abschlüsse, sondern auch auf eine allgemeine Menschenbildung, die als Schlüssel zu einem ‚guten‘ Leben betrachtet wird. Trotz der Besonderheiten der Lebensentwürfe und der Orientierung an Bildung erfahren sowohl die Frauen der ersten als auch der zweiten Einwanderergeneration nach dem erfolgreichen Schulabschluss bzw. einer Ausbildung oder einem Studium Grenzen, die sie nicht überwinden können. Sie beschreiben den Verlauf ihres Lebens an diesen Stellen als eine Geschichte der nicht voll ausgeschöpften Potenziale. Sie stellen sich also als bildungshungrige und an einer beruflichen Karriere interessierte Frauen dar, die aber durch gesellschaftliche Benachteiligungen oder die Familiengründung unfreiwillig an der Verwirklichung ihrer Ziele und Wünsche gehindert wurden. Das Engagement für die eigenen Kinder, die Familie und die eigene Community stellt dann eine Kompensationsmöglichkeit dar: Die Frauen erfahren sich als kompetent und werden anerkannt. Die Qualifizierungsmaßnahme stärkt die Bildungsbotschafterinnen darin, eine vermittelnde Rolle zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und gesellschaftli-

2 Für eine Fokussierung auf Unterschiede in den Motiven für ein Engagement von zugewanderten Frauen siehe Schührer (2019).

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chen Institutionen zu übernehmen und Brücken zu bauen. So unterstützt das Projekt sie ganz offensichtlich darin, nicht passiv zu bleiben, sondern sich aktiv für den Bildungserfolg ihrer eigenen und anderer Kinder einzusetzen. Sie treten selbstbewusster auf, festigen ihre schon vor der Kursteilnahme ausgeübte Beratungsrolle in der Community und erhalten Anerkennung für ihre Expertise. Der Gedanke der Solidarisierung mit anderen steht schließlich auch mit dem Muster der Emanzipation von tradierten Erziehungs- und Geschlechtervorstellungen im Umfeld der Bildungsbotschafterinnen in Verbindung. Indem das Projekt eine außerhäusliche Sphäre schafft, in der das Engagement von Frauen sozial akzeptiert wird, entsteht ein Raum, in dem besonders Mütter mit Migrationshintergrund in ihrer Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit gestärkt und traditionelle Geschlechterrollenmuster irritiert werden können. Insgesamt zeigt sich, dass das Projekt in den zwei letztgenannten Aspekten bei der Überwindung von Kommunikationsbarrieren zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und gesellschaftlichen Institutionen zum einen und bei der Emanzipation von tradierten Geschlechter- und Erziehungsvorstellungen zum anderen einen entscheidenden Wendepunkt initiieren kann. Wesentliche „turning points“ im Leben der aktiven Bildungsbotschafterinnen haben jedoch auch schon vor der Teilnahme am Projekt stattgefunden. So konstruieren sich die Befragten schon über Jahre als aktiv und für die Gemeinschaft engagiert. Auch beim Entschluss, am Kurs teilzunehmen, handelt es sich um eine selbstbestimmte Entscheidung. Hier spiegeln sich die Motive wider, die auch Huth (2007) herausarbeitete: Es geht darum, sich für die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen einzusetzen sowie Begegnungsmöglichkeiten für Frauen sowie gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Eine solche grundlegende Haltung kann nicht von einem kurzfristigen Projekt ‚erzeugt‘ werden, es kann wohl aber auf bereits mitgebrachte Orientierungen aufbauen. Damit ist das Projekt darauf angewiesen, Teilnehmer*innen auszuwählen, an deren Ressourcen (Bildungsorientierung, Engagement für Andere, Stärkung des Gemeinwohls) angeknüpft werden kann. Wenn das gelingt, ist die Wirkung des Projektes allerdings nicht genug wertzuschätzen: In den narrativen Interviews wurde deutlich, welch besonderes Stärkungspotenzial das Projekt für Frauen mit Zuwanderungsgeschichte hat. Sie erleben ihr Engagement offenbar als einen Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung und Teilhabe an gesellschaftlichen (Bildungs-)Institutionen, zu der sie aktiv und

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selbstbestimmt beitragen können. Durch das Engagement als Bildungsbotschafterinnen und den Rahmen des Projekts, der ihnen für ihre Entfaltung zur Verfügung steht, können sie Selbstwirksamkeitserfahrungen machen und eine anerkannte und wertgeschätzte Rolle im öffentlichen Raum übernehmen. Für bürgerschaftliche Initiativen, die in sozial benachteiligten Quartieren mit hohem Anteil an Zuwandererfamilien aktiv sind, scheint es also sinnvoll, Migrant*innen nicht nur als Zielgruppe, sondern auch als potenziell Engagierte zu adressieren. Vielversprechend erscheint es, besonders Frauen, die sich für die Bildung ihrer Kinder und die anderer Familien engagieren wollen, anzusprechen und ihnen eine Plattform zu bieten. Auch das Aufzeigen von Engagementmöglichkeiten oder der Zugang zu Beteiligungsgremien und Ehrenämtern im Stadtteil kann Frauen mit Migrationshintergrund dabei unterstützen, sich gesellschaftlich zu engagieren. Insbesondere bei der sensiblen Begleitung von Kommunikationsprozessen zwischen Familien mit Migrationshintergrund und Bildungseinrichtungen bzw. Behörden könnte eine langfristige Unterstützung der Bildungsbotschafterinnen in Form von selbstständig aufzusuchender Beratung bzw. Supervision Überforderung vorbeugen und helfen, auch schwierige Prozesse zu bewältigen. Schließlich scheint die Schaffung von (Frei-)Räumen und Begegnungsmöglichkeiten für die gegenseitige Stärkung wichtig zu sein, etwa zur kritischen Reflexion tradierter Geschlechter- oder Erziehungsvorstellungen. Im Idealfall können so ‚Viertelgestalterinnen‘ (Hoeft et al. 2014) mit Migrationshintergrund, die sich für ihr Quartier und die dort lebenden Menschen einsetzen, ihre Potenziale entfalten und damit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen.

Literatur Bohnsack, Ralf (2017): Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen & Toronto: UTB Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris und Nohl, Arnd-Michael (2013): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Deutscher Bundestag (2002): Bericht der Enquête-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“: Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/089/1408900.pdf (zuletzt abgerufen am 06.07.2020)

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Stadtteilmütter in Berlin zwischen Aktivierung und Nicht-/Anerkennung Rekonstruktive Forschungsergebnisse zur Frage der Verwirklichungschancen von Adressatinnen der Sozialen Arbeit Liv-Berit Koch

Abstract In der Tradition einer rekonstruktiven Methodologie untersucht die Autorin die Verwirklichungschancen migrantischer Frauen im Rahmen ihrer Teilnahme am Stadtteilmütter-Projekt in Berlin. Dabei zeigen sich unterschiedliche Relevanzsetzungen, die die Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten für die Familie, für die Gesellschaft oder für sich selbst betreffen. Beim Zugang zum regulären Arbeitsmarkt zeigen sich jedoch Dilemmata, deren Bearbeitung nicht von den Stadtteilmüttern selbst geleistet werden kann, sondern grundlegender Veränderungen gesellschaftlicher Anerkennungsstrukturen bedarf. Stichworte Stadtteilmutter, Verwirklichungschancen, wohlfahrtsstaatliche Aktivierung und Anerkennung, Dokumentarische Methode, (rekonstruktive) Soziale Arbeit

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_8

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Liv-Berit Koch

Seit Mitte des ersten Jahrzehnts existiert in Berlin das Stadtteilmütter-Projekt (vgl. Koch 2009, 2017), dessen Ansatz – inzwischen mehrfach national und international preisgekrönt – als ein Zukunftsmodell für Einwanderungs- bzw. Ankunftsstädte1 gilt. Das Ursprungsprojekt startete – inspiriert durch das niederländische Rücksack-Programm – im Jahr 2004 als ein Mikroprojekt in einem Neuköllner Stadtteil und wurde 2006 mit Unterstützung des Neuköllner Bezirksamtes auf alle Quartiersmanagement-Gebiete2 des Bezirks ausgeweitet. Der Projektansatz, der mittlerweile patentiert ist und in verschiedenen Berliner Bezirken sowie deutschen und europäischen Städten Nachahmung gefunden hat, umfasst eine duale Zielstellung: erstens ein niedrigschwelliges Hausbesuchsangebot für Familien migrantischer3 Herkunft, die einen Informationsbedarf an Themen der Erziehung, Bildung und Gesundheit von Kindern haben, und zweitens die Heranführung von arbeitssuchenden Frauen migrantischer Herkunft an Erwerbsarbeit mittels sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsfördermaßnahmen.4 Die nachfolgend dargelegten Forschungsergebnisse beruhen auf einer qualitativ-rekonstruktiven Dissertationsstudie (Koch 2015, 2017), in der die Frage nach den Verwirklichungschancen von Adressatinnen5 der Sozialen Arbeit am Beispiel qualifizierter Stadtteilmütter in Berlin im Zentrum steht.6 Konkret behandelt der Beitrag im ersten Teil das Anliegen sowie die methodologische Fundierung und methodische Umsetzung der Dissertationsstudie. Im zweiten Teil werden ausgewählte Ergebnisse der Stadtteilmütterforschung vorgestellt, deren Bedeutung schließlich im dritten Teil in Bezug auf die Profession der Sozialen Arbeit und ihre Adressatinnen diskutiert wird. 1 Ausführlicher zum Begriff der „Ankunftsstadt“ bzw. der „Arrival City“ siehe Saunders (2013). 2 Das Berliner Quartiersmanagement unterstützt seit 1999 benachteiligte Stadtteile im Rahmen des Programms Soziale Stadt. 3 Als Personen migrantischer Herkunft bzw. mit Migrationshintergrund gelten hier jene, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland zugewandert sind, ungeachtet ihrer gegenwärtigen Staatsangehörigkeit (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). 4 Damit versteht sich die Stadtteilmütterarbeit dezidiert als ein Beschäftigungsfeld, das entlohnt und nicht ehrenamtlich umgesetzt wird. 5 Da es im Rahmen der Studie dezidiert um weibliche Adressatinnen geht, wird im Folgenden vorzugsweise die weibliche Form genutzt. Adressatinnen der Sozialen Arbeit werden hier auch als Akteurinnen aufgefasst (vgl. Homfeldt et al. 2008, Graßhoff 2013). 6 Bereits vor dem Dissertationsprojekt forschte die Autorin jahrelang, vorwiegend mittels teil-/standardisierter, kategorienbasierter Verfahren, zu Stadtteilmütter- und Integrationslotsenprojekten in Berlin (vgl. Koch 2009, Behn et al. 2010, Behn et al. 2013, Khan-Zvorničanin et al. 2015).

Stadtteilmütter in Berlin zwischen Aktivierung und Nicht-/Anerkennung

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Anliegen, methodologische Fundierung und methodische Umsetzung der Dissertationsstudie

Anliegen der Dissertationsstudie ist es, mittels einer in der praxeologischen Wissenssoziologie7 fundierten Erkenntnisgewinnung einen Beitrag zur empirischen Fundierung und Selbstkritik der Sozialen Arbeit – hier verstanden als Einheit von Sozialarbeit und Sozialpädagogik (vgl. Mühlum 2001, Thole 2002) sowie als forschende Disziplin (vgl. auch Schweppe/Thole 2005, Staub-Bernasconi 2007) – zu leisten. Dies bedeutet, neue Perspektiven im Hinblick auf das Theorie-Praxis-Verhältnis in der Sozialen Arbeit zu eröffnen. Von besonderer Bedeutung erweist sich hier eine implizite Logik der Praxis, eine Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen.8 Daran anknüpfend rückt die Forderung nach einem impliziten Professionsverständnis (vgl. Schütze 1994 sowie Riemann 2009) in den Vordergrund, das prä-reflexives Wissen als einen Gegenentwurf zu einer (dogmatisch) theoriegeleiteten Praxis und Forschung9 begreift. Es geht also um eine Professionalität, in der es Fachkräften der Sozialen Arbeit gelingt, implizite Wissensbestände rekonstruieren und explizieren zu können und damit diskutierbar zu machen. Mithilfe dieses sogenannten „reflexiven Orientierungswissens“ (Nentwig-Gesemann 2007a) bzw. dieser „analytischen Grundhaltung“ (Bohnsack 2005) können sich Praktikerinnen und Forscherinnen in Distanz zu den un0hinterfragt gültigen Wissensbeständen und Begrifflichkeiten begeben, von denen sie im Alltag ebenso wie im wissenschaftlichen Feld umgeben sind. 7 In der hier vertretenen praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2017) wird die Bedeutung der Handlungspraxis mit ihrem handlungsleitenden Wissen herausgestellt (vgl. hier auch Bohnsack et al. 2007: 12-13). 8 Das in dieser Studie deklarierte Theorie-Praxis-Verhältnis macht Bourdieu (1991: 275) deutlich: „Begriffe wie Habitus, Praxis usw. hatten unter anderem die Funktion, daran zu erinnern, dass es ein praktisches Wissen gibt, eine praktische Erkenntnis, die ihre eigene Logik hat, nicht reduzierbar auf die Logik der theoretischen Erkenntnis; dass in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Welt Bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festzuhalten, dass sie nicht wirklich Bescheid wissen und dass die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen.“ 9 Der Begriff Forschung wird hier auf sein traditionelles Verständnis konzentriert: Er bezieht sich auf den Einsatz sozialwissenschaftlicher Verfahren der Erkenntnisgewinnung und ihre methodologischen Begründungen aus einem dem Feld gegenüber (analytisch) distanzierten Perspektive (vgl. Lüders 1998, Bohnsack 2005). Dies ist ein engeres Forschungsverständnis als jenes, das beispielhaft durch Prengel (2003: 615ff.) vertreten wird.

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Dementsprechend verfolgt die Autorin im Rahmen der Studie eine reflexive resp. praxisanalytische Begriffs- und Theoriebildung, in der sie sich an Standards rekonstruktiver Sozialforschung (vgl. Bohnsack 2005, 2017) orientiert, eine akteursbezogene Forschungsperspektive (vgl. Graßhoff 2013) einnimmt und sich mit folgender Fragestellung beschäftigt: Was sind Verwirklichungschancen in der Perspektive der Stadtteilmütter und wie werden diese in der Praxis hergestellt? Die prinzipiell offene Theorie- und Forschungsanlage wird nachfolgend anhand des Untersuchungssamples, des sensibilisierenden Konzepts sowie der Forschungsmethoden und metatheoretischen Kategorien skizziert, um schließlich zu einer reflexiven Fassung des Verwirklichungschancen-Begriffs zu kommen (vgl. dazu Abb. 1). Untersuchungsgruppe

ƒ Stadtteilmütter in Berlin (Koch 2009, 2015, 2017) ƒ Theoretisches Sampling (Glaser/Strauss 1967)

Sensibilisierendes Konzept

ƒ Ansatz der Verwirklichungschancen (Sen 1980, 2007) ƒ Kritik an der normativen Dimension und Potenziale für einen rekonstruktiven Forschungszugang (Koch 2017)

Forschungsmethoden und Metatheorien

ƒ Rekonstruktive Erhebungs- (Schütze 1983, Bohnsack 2000, 2010) und Auswertungsmethoden (Bohnsack 2003, 2013) ƒ Methoden-Triangulation (Flick 2008) ƒ Biografietheoretische Kategorien (Schütze 1983) sowie praxeologisch-wissenssoziologische Kategorien (Bohnsack 2003, 2017 mit Bezugnahme auf Mannheim 1980 und Bourdieu 1976)

Reflexive Fassung des Verwirklichungschancen-Begriffs

ƒ Ebenen der praxeologischen Typenbildung (Koch 2017) ƒ Verwirklichungschancen Berliner Stadtteilmütter im Spannungsverhältnis zwischen Norm und Habitus (Koch 2017)

Abb. 1: Reflexive Begriffs- und Theoriebildung

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Das Untersuchungssample Im Zentrum der Untersuchung stehen die Erfahrungen und Erlebnisse von ehemaligen Stadtteilmüttern in Berlin. Das hier gewählte Verfahren des „theoretischen Samplings“ (Glaser/Strauss 1967) beinhaltete in einem ersten Schritt eine relativ offene Fallauswahl, die durch Mitarbeiterinnen des Neuköllner StadtteilmütterProjekts unterstützt worden ist. So konnten in einer ersten Erhebungsphase (November 2012 bis Januar 2013) sechs Frauen für die Untersuchung gewonnen werden, die aus dem Stadtteilmütter-Projekt ausgeschieden sind. Von September bis Oktober 2013 wurde eine zweite Erhebungsphase durchgeführt, die der weiteren Kontrastierung der empirischen Fälle diente. So wurden unter anderem auch Rückkehrerinnen ins Projekt in die Fallauswahl mitaufgenommen.10 Insgesamt haben 10 Stadtteilmütter an der empirischen Untersuchung teilgenommen. Das sensibilisierende Konzept Zentral für die Anlage der Untersuchung ist das Konzept der Verwirklichungschancen nach A. Sen (1980, 2007), das in der Studie als ein offenes Konzept aufgefasst wurde. Dies bedeutet, dass die Autorin nicht von einem theoretisch gesetzten und feststehenden Konzept der Verwirklichungschancen ausgegangen ist, sondern von einem empirisch erst zu generierenden Konstrukt. Demzufolge zielte die Studie nicht auf die normative Dimension des Verwirklichungschancen-Begriffs, sondern darauf, Erfahrungen und Praktiken der Herstellung von Verwirklichung zu generieren. Während die normative und die empirische Ebene des Ansatzes häufig nicht getrennt werden, fand in der Studie eine ausführliche, auch kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Verwirklichungschancen statt, der in der Tradition einer quantitativ-standardisierten Verwirklichungschancen-Perspektive steht (vgl. Koch 2017: 37-65). Davon zeugen sowohl seine politökonomischen Wurzeln als auch die gegenwärtige deutsch- und

10 Ausführlicher zum Grundgedanken des theoretischen Samplings siehe auch Przyborski und Wohlrab-Sahr (2010: 177ff.).

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englischsprachige sozialwissenschaftliche11 Debatte um Sens Ansatz, dem vor allem in der Sekundärliteratur eine stark normative Dimension zugeschrieben wird (vgl. ebd.). Doch in der Auseinandersetzung mit Sens Originalschriften konnten – wenn auch nicht bruchlos – Anschlüsse an eine qualitativ-rekonstruktive Verwirklichungschancen-Perspektive herausgearbeitet werden, die bislang noch nicht im Sinne eines praxisanalytischen Forschungsstils eingefangen worden ist. Die Studie versteht sich daher als ein erster Versuch, sich aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive an den Verwirklichungschancen-Begriff anzunähern. Die Forschungsmethoden und metatheoretischen Kategorien Im Rahmen der hier vorgestellten Stadtteilmütterforschung wurde ausschließlich auf qualitativ-rekonstruktive12 Erhebungs- und Auswertungsmethoden zurückgegriffen: Als Erhebungsmethoden wählte die Autorin das narrative Interview nach Schütze (1983) und das Gruppendiskussionsverfahren nach Bohnsack (2000, 2010), als übergreifende Auswertungsmethode die Dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack 2003, 2013, 2017). Um verdichtete Ergebnisse zu den Erfahrungen und Orientierungen von Einzelpersonen, aber auch fallübergreifende kollektive Erfahrungen und Orientierungen rekonstruieren zu können, wurde eine MethodenTriangulation (vgl. Flick 2008)13 umgesetzt. Als metatheoretische Kategorien, die ein wesentliches Moment in der rekonstruktiven Sozialforschung darstellen, dienten vor allem biografietheoretische Kategorien nach Schütze (1981, 1983), wie 11 Die sozialwissenschaftliche Diskussion umfasst hier vor allem die Disziplinen Pädagogik und Soziale Arbeit, aber aufgrund der politökonomischen Wurzeln des Ansatzes auch die Wirtschaftswissenschaften, im speziellen die Wohlfahrtsökonomie, sowie die Sozialphilosophie, Sozialethik und Sozialpolitik. 12 Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen standardisierten im Sinne von hypothesenprüfenden (vgl. Popper 1994) und qualitativ-rekonstruktiven im Sinne von theoriegenerierenden (vgl. Schütze 1983, Bohnsack 2003) Verfahren grenzt sich von Positionen ab, die die Entwicklung einer einheitlichen Methodologie in der empirischen Sozialforschung befürworten und die Konstruktion von unterschiedlichen Forschungsparadigmen ablehnen, wie dies z. B. von Gläser/Laudel (2004) vertreten wird. 13 Triangulation bedeutet im sozialwissenschaftlichen Forschungskontext die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand. Diese können sich u. a. in unterschiedlichen Methoden konkretisieren. Wichtig ist, dass die Methoden so weit wie möglich gleichberechtigt und in ihrer jeweiligen Forschungslogik konsequent umgesetzt werden. Ziel der Triangulation ist immer ein prinzipieller Erkenntniszuwachs, d. h. die Erkenntnisse reichen weiter, als es mit einem Zugang möglich wäre (vgl. Flick 2008: 11ff.).

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etwa die Prozessstrukturen des Lebenslaufs (von großer Bedeutung war hier das aktive Handlungsschema mit biographischer Relevanz als dominante Erfahrungsweise). Ferner wurde mit zentralen Kategorien der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2014, 2017) gearbeitet, wie etwa mit dem Orientierungsrahmen14 unter Bezugnahme auf Mannheim (1980) und sein Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums sowie auf Bourdieus (1976) Habituskonzept. Mithilfe dieser Kategorien konnte die grundsätzliche Perspektive, unter der die Befragten ihre Projekterfahrungen sehen, wie etwa ihren Einstieg ins Projekt, ihre Stadtteilmütterzeit und ihren Ausstieg aus dem Projekt, und daran anschließende primäre Orientierungsrahmen herausarbeitet werden.

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Ausgewählte Ergebnisse der Stadtteilmütterforschung

Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der von Koch (2017) durchgeführten Stadtteilmütterforschung vorgestellt, die die reflexive Fassung des Verwirklichungschancen-Begriffs (siehe vierte Ebene der Abb. 1) umfasst. Begonnen wird mit der in der Studie herausgearbeiteten praxeologischen Typenbildung15, die mehrere aufeinander aufbauende Analyseschritte der Abstraktion und Spezifizierung des Orientierungsrahmens der Erforschten umfasst und in Form einer Synopse veranschaulicht werden kann (siehe dazu Abb. 2).

14 Der Begriff des Orientierungsrahmens wird von Bohnsack (u.a. 2014, 2017) in vielerlei Hinsicht synonym mit demjenigen des Habitus verwendet. Ihm kommt jedoch noch eine weiter greifende Bedeutung zu, indem er nicht nur als ein Gegenbegriff zu den Kategorien des sog. interpretativen Paradigmas fungiert, sondern auch als ein übergeordneter Begriff verwendet wird, der Bezüge zu diesen Kategorien herstellt (vgl. ebd.). 15 Zu den Unterschieden zwischen einer praxeologischen Typenbildung der dokumentarischen Methode einerseits und Common-Sense-Typenbildungen andererseits vgl. Nentwig-Gesemann (2007b: 277-302).

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Ausgangs- bzw. Basistypik (Tertium Comparationis)

Realisierung aktiver Handlungsschemata: Zugänge zu Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens

Sinngenetische Typenbildung (Spezifizierung)

Drei kontrastierende Orientierungsrahmen: Familien-, Gesellschafts-, Selbstakteurin

Soziogenetische Interpretation (Genese)

Lebensphasentypik: Orientierung an einem chronologisch sequenzierten lebens- und familienzyklischen Ablaufmuster

Abb. 2: Synoptische Darstellung der praxeologischen Typenbildung Insgesamt haben die Analyse und Triangulation der narrativen und diskursiven Daten ergeben, dass die Erforschten fallübergreifend ihre Projektteilnahme als einen Aktivitätsimpuls deuteten, um verschiedene „Zugänge zu Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens“ (Basistypik) zu realisieren. Die Ressourcen dienten den Frauen dazu, bestimmte Problem- und Interessenslagen bewältigen bzw. durchsetzen zu können, die erstens ihre eigenen Kinder, zweitens ihre Arbeit mit anderen Frauen und Familien im Stadtteil oder aber drittens sie selbst betrafen. Das heißt, dass die verschiedenen von den Stadtteilmüttern thematisierten Ressourcen – wie etwa relevante Wissensbestände zu Themen der Erziehung, Bildung und Gesundheit von Kindern – immer wieder innerhalb dieser drei Rahmen bearbeitet worden sind. Dies soll nachfolgend exemplarisch anhand der Anfangssequenz der Gruppendiskussion aufgezeigt werden, an der insgesamt drei Stadtteilmütter teilgenommen haben.16 Interessant ist, dass sich die in der Gruppendiskussion dokumentierenden Orientierungen, zuvor auch fallübergreifend in den Einzelinterviews rekonstruiert und in der Zusammenschau präzisiert werden konnten. Cigdem, die als 24-Jährige im Rahmen eines Familiennachzugs nach Deutschland kam, beginnt als Erste zu erzählen und thematisiert primär ihre Unterstützungsbedarfe als Mutter in Bezug auf ihre eigenen Kinder:

16 Der Eingangsstimulus der Gruppendiskussion umfasste die Aufforderung, sich untereinander über die Bedeutung des Stadtteilmutterprojekts für das eigene Leben auszutauschen.

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„…ja für mich Bedeutung; für Migratinnenmutter;(.) ein wunderbares Projekt, Y: //mhm// Cigdem: wei:l ich bin auch eine Migrantinnenmutter; und wi:rklich dieses Projekt- über Schulsystem, überhaupt nicht (.) kei:ne Erfahrungen und keine Information bekommen, (.) ri:chtige Information- (.) und de:swegen für mich große Bedeutung, wei:l meine Kinder; (.) … aufgewachsen mit diesem Projekt“ (GD Cigdem 2013: 16-25).

Astere, die mit 39 Jahren gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern als politisch Verfolgte nach Deutschland eingereist ist, nimmt darauf Bezug, jedoch in einem anderen Orientierungsrahmen, in dem es primär um die Weitergabe von relevanten Informationen an andere Frauen und Familien im Stadtteil geht: „… ja für mich dieses Projekt hat auch viele Erfolge; (.) für mich und andere Leute, ich bin- wie Cigdem hat gesagt- wir sind gekommen von unsere Land nach Berlin …. wir wussten nicht wo können wir Hilfe bekommen … ja vor 15 Jahren … Y: //mhm// Astere: ja und … als ich dieses (.) Projekt kennen gelernt hab ich hab a=h ja das ist ein wichtiges Projekt für uns- unsere Frau:en (.) Migrantinnen und für Ki:nder auch; es gibt so viele wichtige Sachen das kann man weiter an andere Familie geben (.) wie Cigdem hat gesagt das ist ein gute Chance man findet für Ki:nder … durch unsere Erfahrung von unserem Projekt … wir können die andere Familien auch helfen Kita-Anmeldung; gute Schule finden, für unsere Familien“ (GD Astere 2013: 6265, 81-91).

Zum Schluss wirft Aydan, die mit 29 Jahren als Ehefrau zu ihrem Mann nach Deutschland gekommen ist, eine dritte Orientierung auf, in der sich die individuell-biographische Bedeutung des Projekts dokumentiert: „… in diesem Projekt hab ich mich (2) qualifiziert; entwickelt; ich hab in diesem Projekt vie:l viel gelernt was meine Kolleginnen erzählt haben … glei:chzeitig als priva:t habe ich mich entwickelt; dann dieses Projekt hat mir vie:le We:ge gezeigt … Y: //mhm// Aydan: (2) für mich gibts eine große Bedeutung … weil ich (2) hier allei:n war (.) ich bin verheiratet … ich hab die Deu:tschkurse besucht; aber tro:tzdem immer noch hatte ich kei:ne Möglichkeit die deutsche Sprache zu benutzen, dann hab ich ga:r keine (1) Freundin oder Nachbarn; … wi:rklich; das ist große Bedeutung für mich; als persönlich; auch für mein Qualifizierung und Bildung; große Bedeutung“ (GD Aydan 2013: 142-169, 212-214).

Demzufolge zeigten sich in der interaktiven Bezugnahme drei unterschiedliche primäre Relevanzsetzungen: einmal als migrantische Mutter, dann als gesellschaftliche Akteurin bzw. Multiplikatorin für andere Frauen und Familien im

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Stadtteil und schließlich als migrantische Frau, die für sich selbst eine (berufliche) Perspektive entwickeln möchte. Im Zuge der sinngenetischen Typenbildung (siehe zweite Ebene der Synopse in Abb. 2) bekamen diese drei handlungsleitenden Orientierungsrahmen als modi operandi von Handlungspraxis eine eigenständige Bedeutung: So zeigte sich in der familialen Praxis der engagierten und sich verantwortlich zeigenden Mutter die Familienakteurin, in der gesellschaftlichen Praxis der pädagogisch und politisch Interessierten die Gesellschaftsakteurin und in der individuell-biographischen Praxis der an Entwicklung bzw. Bildung17 Interessierten die Selbstakteurin. Ferner dokumentierte sich übergreifend eine Orientierung der Erforschten an einem chronologisch sequenzierten familienzyklischen Ablauf- und Erwartungsmuster (vgl. Schütze 1981: 67ff.), das lebensphasentypisch18 (siehe dritte Ebene der Abb. 2) variierte: Stadtteilmütter mit Kindern im Kleinkind- und vorschulischen Alter zeigten sich bis zur Einschulung ihrer Kinder primär für Haushalt und Erziehung zuständig. Als eine typische Aussage kann hier z. B. die von Roudy herangezogen werden, einer fünffachen Mutter, die sagte: „Ich warte nur, bis die Kleine in die erste Klasse kommt.“ (Interview 10 Roudy 2013: 534). Stadtteilmütter mit Kindern im Schul- bzw. Erwachsenenalter zogen dagegen ihre Integration in den außerhäuslichen Erwerbsarbeitsprozess in Betracht und versuchten aktiv, einen Zugang zum regulären Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt zu finden. Als typische Aussage kann hier die von Gülizar, einer Mutter von sechs Kindern, angeführt werden, die sagte: „Meine Kinder sind schon groß, die sind alle in der Schule, dann bin ich frei.“ (Interview 5 Gülizar 2012: 204-205). Dass die habituellen Orientierungen der Stadtteilmütter auf institutionelle Rahmenbedingungen und Rollenerwartungen des Stadtteilmütterprojekts treffen und sich diese in einer grundlegenden Spannung zwischen Norm und Habitus (vgl. Bohnsack 2014, 2017) bewegen, soll nachfolgend modellhaft dargelegt und kritisch beleuchtet werden (siehe dazu Abb. 3).

17 Bildung wird hier im Sinne von Marotzki (1990) als Wandlungsprozess aufgefasst im Gegensatz zum Lernprozess, welchen er als Mehrung von Wissen und Erfahrung innerhalb einer Lebensorientierung begreift. 18 Ausführlicher zu den gesellschaftlich etablierten Unterscheidungen im Rahmen einer soziogenetischen Typenbildung bzw. Interpretation vgl. Mannheim (1964), Bohnsack (2003) sowie Nohl (2013).

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Institutionell ermöglichte Zugänge und Diskrepanzen

Habituell geformte Passungen und Dilemmata

Stadtteilmütter erhalten Zugänge zu relevanten Wissensbeständen, sozialen Kontakten, entlohnter Arbeit (zweiter Arbeitsmarkt), persönlicher, beruflicher Weiterentwicklung/Krisenbewältigung, gesellschaftlichen Normen und Werten.

Familiale, gesellschafts-politische, individuell-biografische Orientierungen der Stadtteilmütter strukturieren ihr Handeln und müssen mit den institutionell ermöglichten Zugängen in Übereinstimmung gebracht werden.

Der strukturell-normative Rahmen des Projekts (Platzierung auf dem zweiten Arbeitsmarkt, Ausschließungsprozesse auf dem ersten Arbeitsmarkt/kein Stadtteilmütter-Beruf, Adressierung als Mutter) steht in Diskrepanz zur übergreifenden Basisorientierung der Befragten, welche den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und damit verbunden eine Orientierung an einer beruflichen Verstetigung der Stadtteilmütterarbeit umfasst.

Diskrepanzerfahrungen führen zu Orientierungs-Dilemmata (Orientierung am zweiten Arbeitsmarkt, Orientierung an institutionellen Ablauf- und Erwartungsmustern, Orientierung am chronologisch sequenzierten familienzyklischen Ablaufmodell), deren Bearbeitung von den Frauen selbst geleistet werden muss und die eine Gefahr der Verstetigung von marginalisierten und prekären Erwerbs- und Lebensverhältnissen implizieren.

Stadtteilmütter zwischen Aktivierung und Nicht-/Anerkennung – zwischen Passungs- und Diskrepanzerfahrungen Abb. 3: Verwirklichungschancen Berliner Stadtteilmütter im Spannungsverhältnis zwischen Norm und Habitus Auf der linken Seite des Modells finden sich die institutionell (nicht) ermöglichten Zugänge zu Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens, die die Stadtteilmütter mithilfe des Projekts erfahren konnten und die ein aktives, selbsttätiges Handeln auf Ebene der Akteurinnen vorausgesetzt haben. Von Bedeutung ist hier, dass das Stadtteilmütter-Projekt von Beginn an mit Institutionen der Beschäfti-

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gungsförderung kooperiert und vielfältige Arbeitsmarktinstrumente für die Stadtteilmutterarbeit eingesetzt hat.19 Damit stand die berufspraktische Tätigkeit der Stadtteilmütter immer auch im Zeichen einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, die zum Abbau von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit führen sollte und das Aktiv-Sein zur Aufgabe jeder Einzelnen macht.20 Auf der rechten Seite finden sich die habituell geformten Orientierungen der Akteurinnen, die das eigene Handeln im Stadtteilmütterfeld strukturiert und mit den ermöglichenden Strukturen in ein Passungsverhältnis gebracht haben. Damit geht es in dem Modell nicht lediglich um „einfache“ Zugänge zu Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens, sondern um ein (prä-reflexives) Einfinden der Erforschten in aktivierende Strukturen des Stadtteilmütterfelds, die sich im Selbstverständnis der Stadtteilmütter als Familien-, Gesellschafts- und Selbstakteurinnen dokumentieren. Insgesamt betrachtet zeigt die fallübergreifende dokumentarische Analyse aber nicht nur Passungsverhältnisse zwischen den normativen Ansprüchen des Projekts und den Orientierungen der Akteurinnen auf. Insbesondere die (analytische) Unterscheidung zwischen realisierten und überhaupt erreichbaren Zuständen und Aktivitäten, wie Sen (2007: 96) sie vornimmt, gibt ein differenzierteres Bild hinsichtlich der Frage nach den Verwirklichungschancen qualifizierter Stadtteilmütter in Berlin. Von Relevanz ist hier, dass es den Befragten fallübergreifend nicht gelungen ist, ihren erwerbsgesellschaftlichen Lebensentwurf als Stadtteilmutter umzusetzen, an dem sie sich spätestens zum Projektausstieg (mit unterschiedlicher Fokussierung) orientierten. Dies steht in Diskrepanz zu den institutionalisierten und organisationalen Ablaufmustern des Projekts, aus denen reguläre und dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse ausgeschlossen sind. Vor allem die in der Projektstruktur angelegte Beschäftigungsförderlogik hat bei den Erforschten zu diversen Diskrepanz- bzw. Dilemmata-Erfahrungen geführt. Nachfolgend werden drei Orientierungs-Dilemmata21 skizziert, die Bestandteil des kollektiven Erfahrungswissens der hier untersuchten Stadtteilmütter sind: 19 Bisher wurden Stadtteilmütter über verschiedene Programme finanziert, u. a. über die Arbeitsmarktprogramme Bürgerarbeit und Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt. 20 Vgl. dazu auch Lessenich (2009: 168-171). Ausführlicher zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik siehe Hartz et al. (2002). 21 Die hier skizzierten Orientierungs-Dilemmata werden im Sinne der dokumentarischen Methode aufgefasst, in der sich ein positiver Horizont (wie z. B. die dauerhafte Stadtteilmütterarbeit) nicht mit dem negativen Gegenhorizont (die befristete Beschäftigungsfördermaßnahme) vereinbaren lässt. Ausführlicher zum Begriff des Orientierungs-Dilemmata vgl. auch Przyborski (2004: 56).

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1. Zur Gruppe der Langzeitarbeitslosen gehörend werden Stadtteilmütter immer wieder auf dem zweiten Arbeitsmarkt platziert und damit in befristete und vom öffentlichen Transferbezug abhängige Beschäftigungsverhältnisse gebracht. Da für viele Frauen „jede Arbeit besser ist als keine“, wechseln sie von einer Beschäftigungsfördermaßnahme in die nächste, was eine Orientierung am zweiten Arbeitsmarkt befördern kann. 2. Keiner anerkannten Berufsgruppe zugehörend, werden Stadtteilmütter immer wieder in institutionelle Ablauf- und Erwartungsmuster verstrickt.22 Das heißt, dass sie dazu „aktiviert“ werden, eine Berufsausbildung in angrenzenden Bereichen, wie beispielsweise denen der Sozialassistenzausbildung zu beginnen und/oder als angelernte Kraft in die Altenpflege zu wechseln, was eine Verstetigung von marginalisierten und prekären23 Erwerbsarbeits- und Lebensverhältnissen implizieren kann. Zudem haben viele der Frauen, die über langjährige Erfahrungen in der Stadtteilmütterarbeit verfügen und sich im mittleren Erwerbsarbeitsalter befinden, gar nicht die Möglichkeit, eine (neue) Berufsausbildung zu beginnen (weil sie z. B. nicht über den entsprechenden Bildungsabschluss verfügen, ihr Haushaltseinkommen zu gering bzw. ihr Aufenthaltsstatus zu unsicher ist) bzw. zeigen auch kein Interesse an einer Beschäftigung im Pflegebereich. Ganz im Gegenteil verorten sie sich dezidiert in der Stadtteilmütterarbeit, in der sie sich als kompetent, praxiserfahren und gesellschaftlich dringend gebraucht erleben. 3. Als adressierte Mütter, denen die primäre Verantwortung für den Bildungserfolg ihrer Kinder obliegt (Familienbildungslogik des Projekts), werden Stadtteilmütter (vor allem mit Kleinkindern) in ihrer Orientierung an einem chronologisch sequenzierten lebens- und familienzyklischen Ablaufmuster bestärkt, das die eigenen beruflichen Aktivitäten bis zum Schuleintrittsalter der Kinder zurückstellt, um den (familiären) Bildungsaufstieg (stellvertretend durch ihre Kinder) aktiv voranzutreiben.

22 Zur engen Kopplung von Bildungs- und Berufssystem in Deutschland vgl. Groß (2008: 194). 23 Zum Begriff der Prekarisierung vgl. Motakef (2015).

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Zur Bedeutung der Ergebnisse für die Profession der Sozialen Arbeit und ihre Adressatinnen

Abschließend soll auf die Bedeutung der empirisch generierten Ergebnisse für die Profession der Sozialen Arbeit eingegangen werden, die eine kritische Distanzierung zu Projektstrukturen ermöglicht, die nicht nur Chancen eröffnen, sondern auch Dilemmata-Erfahrungen bei ihren Adressatinnen induzieren: Im Sinne eines 3. Mandats der Sozialen Arbeit (vgl. Staub-Bernasconi 2007), zufolge derer es um eine wissenschaftliche Fundierung ihrer Methoden und Handlungstheorien sowie um eine Berufsethik mit Bezugnahme auf Menschenrechte und Gerechtigkeit geht24, sollte es zukünftig darum gehen, migrantischen Frauen, die als Stadtteilmütter gesellschaftlich bedeutsame Arbeit leisten, tatsächliche Handlungsalternativen für ihre Lebensführung zu schaffen: Niedriglohnjobs, Nischenarbeitsplätze oder dauerhafte Maßnahmenkarrieren, in denen die Frauen keinen ausreichenden sozial- und arbeitsrechtlichen Schutz genießen und ständig von materieller Armut bzw. von sozialen Abhängigkeitsverhältnissen bedroht sind, stellen keine längerfristigen Handlungsalternativen dar.25 Die wohlfahrtsstaatliche Logik, kompetente, praxiserfahrene und höchst engagierte Frauen dauerhaft auf dem zweiten Arbeitsmarkt zu platzieren, sollte einer kritischen Prüfung unterzogen werden – handelt es sich doch um eine Akteurinnengruppe, die ihren Aktivierungswillen (als Arbeitsuchende und als Mutter) immer wieder unter Beweis stellt, dennoch aber weitgehend von der gesellschaftlichen Anerkennungsordnung ausgeschlossen bleibt.26 Um marginalisierte und prekäre Arbeits- und Familienformen zu durchbrechen, sollte die Position von Stadtteilmüttern auf dem ersten Arbeitsmarkt gestärkt und die reguläre Stadtteilmütterarbeit Teil der gesellschaftlichen Debatte um eine nachhaltige und qualifizierte niedrigschwellige Integrationslotsenarbeit (in Berlin) werden, die den Frauen eine tatsächliche Arbeitsmarktpartizipation ermöglicht und ihnen die Chance gibt, als das anerkannt zu werden, was sie seit Jahren sind: 24 Zum „doppelten Mandat" von Hilfe und Kontrolle vgl. Böhnisch/Lösch (1973: 27-29). 25 Wenngleich die berufspraktische Stadtteilmüttertätigkeit im Rahmen von Beschäftigungsfördermaßnahmen eine sinnvolle Einstiegsmöglichkeit in die Erwerbsarbeit darstellen kann (vgl. Behn et al. 2013: 15). 26 Zur hohen Aktivierungsbereitschaft von sogenannten „Armutsmigrantinnen“ vgl. auch Lessenich (2009: 172).

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Aktivbürgerinnen, die sich im Dienste der Familie, der Gesellschaft und ihrer Selbst engagieren und in dieser Gesellschaft einen festen (Erwerbsarbeits-) Platz finden möchten. Dazu braucht es aber nicht nur die Bereitschaft bzw. Befähigung der Akteurinnen selbst, sondern gesellschaftlich anerkannte Stadtteilmütterstrukturen, die auf Dauer angelegt sind.27 Auch angesichts des aktuellen Flüchtlingszuzugs, in der niedrigschwellige Integrationslotsenarbeit in Anlehnung an Stadtteilmütterkonzepte eine zunehmend wichtige Rolle spielen, muss es darum gehen, diese Erwerbsaktivitäten in gesellschaftliche Verantwortung zu bringen. Nach über einem Jahrzehnt aktiver und erfolgreicher Stadtteilmütterarbeit in Berlin scheint es an der Zeit, die Politik der wohlfahrtsstaatlichen Aktivierung um eine wohlfahrtsstaatliche Anerkennungspolitik zu ergänzen und die Stadtteilmütterarbeit als das zu finanzieren, was sie seit Jahren de facto ist: ein normalisiertes Angebot, das wichtige Brücken zwischen zugewanderten Menschen und sozialen Diensten schließt. Dies impliziert eine Umorientierung in Projekten der Sozialen Arbeit bzw. eine veränderte Logik öffentlicher und wohlfahrstaatlicher Verantwortung, die weg von einer einseitigen personenbezogenen Aktivierungsorientierung und hin zu einer umfassenden, in der Gesellschaft verankerten Anerkennungsorientierung führt. Für das hier konturierte Verständnis von Sozialer Arbeit als einer kritisch-reflexiven Praxis und Theorie (vgl. Dewe/Otto 2011) ist von Bedeutung, dass sie empirisch-analytisch fundiert ist und ein reflexives Verständnis von Verwirklichungschancen – ohne vorherige normative Setzung – einbezieht, das die Perspektive ihrer Adressatinnen abbildet, stärkt und „Subjektivierungspolitiken“, d. h. die Festschreibung von Individuen auf eine Position, in der sie in sozialen Prozessen zu hauptverantwortlichen Subjekten gemacht werden, unterläuft. Als Konsequenz ergibt sich für ein in diesem Sinne praxeologisch zu verstehendes Konzept von Verwirklichungschancen, dass das Handeln von Individuen etwas Gesellschaftli-

27 Ein wichtiger Schritt in diese Richtung stellt das Landesrahmenprogramm Integrationslots/innen in Berlin dar, das 2013 auf Landesebene initiiert worden ist und u. a. für Berliner Stadtteilmütter die Möglichkeit bietet, ihre Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt umzusetzen, jedoch überwiegend in Form eines befristeten Beschäftigungsverhältnisses (vgl. Khan-Zvorničanin et al. 2015). Ein weiterer richtungsweisender Schritt stellt in diesem Zusammenhang das am 1. April 2018 von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gestartete Modellprojekt dar, das zwölf Berliner Familienzentren ermöglicht, pro Bezirk eine festangestellte Stadtteilmutter zu erhalten (vgl. Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vom 06.04.2018).

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ches, Kollektives ist (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 159) und in den sie eingrenzenden oder auch ihren Möglichkeiten eröffnenden strukturellen Gegebenheiten zu betrachten ist. Zum Schluss soll noch einmal eine Akteurin selbst zu Wort kommen, die – trotz Stadtteilmütter- und anschließender Sozialassistenzausbildung sowie einem Kind im Erwachsenenalter – keine an das Stadtteilmütter-Projekt anschlussfähigen Erwerbsarbeitschancen für sich sieht. Auf die Frage, wo sich Aydan in fünf Jahren sieht, erwidert sie Folgendes: „Aydan: in fünf Jahren? Y: //mhm// ((zustimmend)) Aydan: (1) ach ich sehe nicht so gro:ße Veränderung … eine neu:e Maßnahme, (.) sonst nichts Y://mhm// Aydan: ich kann ni:cht eine andere Wahl sehen. Y: //mhm// Aydan: //mhm// (3) Hauptsache ist Zu:kunft von meine To:chter … wie kann ich helfen? wie kann ich gute Wege zeigen? … aber (.) mei:ne Zukunft? da sehe ich nicht große Veränderung … manche empfehlen mir Erzieherin zu werden; … ja ich hab auch Abitur und so weiter aber trotzdem das ist schwe=r; dann bin ich 48; … ein äh Erzieherinschule dauert drei Jahre dann bin ich 51; … wie kann ich dann ein A:rbeit finden? das ist schwe:r, da möchte ich nicht mehr in ein Schule gehen“ (Interview 7 Aydan 2013: 1053-1116).

Damit wird die Verwirklichungschancen-Perspektive in der Studie gestärkt, dass es nicht primär um die Befähigung von Individuen zu gehen hat, sondern es grundlegender Veränderungen von gesellschaftlichen Strukturen und Rollenerwartungen sowie von Machtverhältnissen bedarf, damit die Orientierungen von sozialen Akteurinnen nicht primär fremdgerahmt werden, sondern enaktiert, das heißt, in ihrem Alltagshandeln umgesetzt werden können. Umso erfreulicher ist es, abschließend auf eine ganz aktuelle Entwicklung innerhalb der Berliner Stadtteilmütterlandschaft hinweisen zu können: Nach fast 15 Jahren erfolgreicher Stadtteilmütterarbeit, wissenschaftlicher Evaluations-/Forschung und politischer Lobbyarbeit startet in Berlin zum Jahresbeginn 2020 das Landesprogramm Stadtteilmütter.28 Das Programm gibt der Berliner Stadtteilmütterarbeit erstmalig die politische Rahmung und finanzielle Planungssicherheit für eine nachhaltige und qualifizierte niedrigschwellige Elternbildungsarbeit mit migrantischen Familien. Ferner ermöglicht es den Stadtteilmüttern selbst eine lang-

28 Vgl. Pressemitteilungen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vom 04.06.2019 sowie der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vom 11.06.2019.

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fristige berufliche Perspektive, welche tariflich entlohnte, sozialversicherungspflichtige und auch unbefristete Anstellungsverhältnisse umfasst. Demzufolge erhalten Berliner Stadtteilmütter zum ersten Mal die Möglichkeit, ihren erwerbsgesellschaftlichen Lebensentwurf als Stadtteilmutter auf dem regulären Arbeitsmarkt verwirklichen zu können.

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Stadtteilmütter in Berlin zwischen Aktivierung und Nicht-/Anerkennung

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Liv-Berit Koch

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Migrantenorganisationen als Partner für Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte Das Beispiel der ehrenamtlichen Begleitung zur beruflichen Anerkennung in Nordrhein-Westfalen Katharina Neubert und Cemalettin Özer1

Abstract In Deutschland engagieren sich bundesweit schätzungsweise 20.000 Migrantenorganisationen für ihre Mitglieder und Communities in sozialen, kulturellen, religiösen und auch wirtschaftlichen Bereichen. Einige sind seit über 50 Jahren in verschiedenen Bereichen ehrenamtlich aktiv. In den letzten Jahren kommt es zu immer mehr geförderten Projekten mit und von Migrantenorganisationen, wo sie als Lotsen-, Paten- und Mentoren einbezogen werden. Die MOZAIK als gemeinnützige Gesellschaft für interkulturelle Bildungs- und Beratungsangebote mbH führt seit 2005 Projekte mit Migrantenorganisationen durch. Zuletzt waren es ca. 80 Ehrenamtliche aus knapp 50 unterschiedlichen Migrantenorganisationen in NRW, die über mehrere Jahre nach einer Qualifikation, ehrenamtliche Begleitung für Fachkräfte aus dem Ausland anbieten. Alle ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden beherrschen neben Deutsch weitere Sprachen und so kann die Begleitung in 34 unterschiedlichen Sprachen angeboten werden (Stand 2018). Stichworte Migrantenorganisationen, Ehrenamtliche Begleitung, Berufliche Anerkennung, Mehrsprachigkeit, Empowerment 1

Die Autor*innen arbeiten bei der MOZAIK gGmbH, Bielefeld, die die hier beschriebenen Projekte durchführt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_9

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1

Katharina Neubert und Cemalettin Özer

Einleitung

Durch die verstärkte Neuzuwanderung nach Deutschland gewinnt das Thema der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen eine immer bedeutendere gesellschaftspolitische Relevanz, da viele Neuzugewanderte über wertvolle berufliche Qualifikationen verfügen, die in Deutschland allerdings einer Anerkennung bedürfen. Menschen mit Einwanderungsgeschichte mit regulären Förder- und Beratungsangeboten oft nicht erreicht werden (Zimmer et al. 2015), sind etwa doppelt so stark von Arbeitslosigkeit betroffen wie Menschen ohne Migrationshintergrund (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut 2015). Aus diesem Grund ist eine zielgruppenspezifische (Berufs-) Förderung von besonderer Relevanz. An diesem Punkt leisten Migrantenorganisationen mit ihrer Multifunktionalität (z.B. Treffpunkt, Unterstützung von Neuzugewanderten etc.) seit Jahren wertvolle Integrationsarbeit. Sie spielen als Partner bei Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekte eine wichtige Rolle für die niedrigschwellige Integrationsförderung von Eingewanderten. Die MOZAIK gGmbH beschäftigt sich seit 2005 intensiv mit der Thematik und realisiert bereits seit 2015 viele unterschiedliche Studien und Kooperationsprojekte mit Migrantenorganisationen. Exemplarisch soll hier das IQ NRW Teilprojekt: „Niedrigschwellige Begleitung zur beruflichen Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung durch Ehrenamtliche aus Migrantencommunities in NRW“ erläutert werden. Die ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden aus Migrantenorganisationen, die Menschen mit im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen bei der Anerkennung in Deutschland unterstützen, stehen in diesem Beitrag im Fokus. Inhaltlich soll die Relevanz der Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen in Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten in den Vordergrund gestellt werden. Dazu möchten wir das Projekt der zweisprachigen, ehrenamtlichen Begleiter/-innen aus Migrantenorganisationen vorstellen sowie unsere Vorgehensweise und den Zugang zur Kooperation mit Migrantenorganisationen erläutern. Des Weiteren werden Evaluationsergebnisse im Hinblick auf die Effekte der Zusammenarbeit mit den ehrenamtlichen Begleiter/-innen für die Integration von Zugewanderten und auf die Nachhaltigkeit von ehrenamtlicher Tätigkeit präsentieren.

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Fragestellung

ƒ Welche Migrantenorganisationen sind für Projektkooperationen geeignet? ƒ Über welche Wege kann man Migrantenorganisationen für eine Projektkooperation gewinnen? ƒ Was sind die Vorteile der Begleitung durch Ehrenamtliche aus Migrantenorganitionen?

3

Migrantenorganisationen als Akteure und Projektpartner

3.1 Zahlen und Definition In Deutschland engagieren sich bundesweit schätzungsweise 20.000 Migrantenorganisationen für ihre Mitglieder und Communities in sozialen, kulturellen, religiösen und auch wirtschaftlichen Bereichen. Davon sind laut Bundesverwaltungsamt (2012) ca. 10.360 im Ausländerzentralregister als „ausländische Vereine“ erfasst – nicht enthalten sind hier Migrantenorganisationen, die vorwiegend Mitgliedern aus EU-Ländern oder Mitglieder mit überwiegend deutscher Staatsbürgerschaft im Vorstand haben (vgl. Pries 2013: 4). Migrantenorganisationen werden im Folgenden verstanden als Zusammenschlüsse, „die überwiegend von Zugewanderten gegründet wurden und deren Mitglieder überwiegend Migrantinnen und Migranten sind. Dabei umfasst der Begriff Migrantenorganisation eine äußerst heterogene Vereinslandschaft im Hinblick auf Aufgaben und Ziele, die Zusammensetzung der Vereinsmitglieder und den Organisationsgrad: Neben religiösen, kulturellen oder politischen Vereinen, gibt es Vereine bestimmter Einwanderergruppen, Vertriebenenverbände, Studierendenvereinigungen, Fachverbände, Sportvereine, Unternehmerverbände oder Bildungsträger. Migrantenorganisationen können in ihrer Zusammensetzung auch Vereine ausschließlich von Frauen, Müttern, Männern, Vätern, Eltern, Senioren oder Jugendlichen sein“ (Hunger/Metzger 2011: 4). Die meisten Vertreter/-innen aus Migrantenorganisationen verfügen selbst über Migrationserfahrung bzw. haben einen Migrationshintergrund und können so Menschen, die neu nach Deutschland kommen, besonders gut unterstützen. Die meisten Migrantenorganisationen engagieren sich auf lokaler Ebene als Verein und arbeiten ehrenamtlich. Sie haben

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vielfältige Organisationsstrukturen (u.a. Initiativen, lose Verbände, eingetragene und gemeinnützige Vereine, Bildungsträger, Stiftungen). Zu ihren Zielen gehört es, u.a. eigene Interessen durchzusetzen, Selbsthilfepotenziale zu bündeln und Brücken in die Gesellschaft zu bauen. 3.2 Bedeutung von Migrantenorganisationen Migrantenorganisationen weisen eine besondere Mitgliederstruktur auf und unterscheiden sich damit von vielen anderen Vereinen. Während sich in deutschen Vereinen oftmals eine bestimmte Gruppe oder Altersklasse einem speziellen Thema widmet (Sport, Musik, etc.), handelt es sich bei Migrantenvereinen meist um generationsübergreifende Organisationen. Aktivitäten finden oftmals im Verein statt, man übt gemeinsam Sport aus, pflegt die gemeinsame Kultur oder engagiert sich in Kommunen, Ländern oder Bund (Neubert/Özer 2016: 88). Der Weg des Ankommens in Deutschland läuft in der Regel über migrantische Communities und Migrantenorganisationen. Migrantenorganisationen bilden damit schon lange etablierte Anlaufstellen für Neuzugewanderte. Diese bieten nicht nur Hilfe beim Einstieg in den Beruf, sondern unterstützen bei der gesellschaftlichen Teilhabe. In den Migrantenorganisationen finden aber nicht nur Neuzugewanderte Angebote und Vertrauen, sondern auch Migrantinnen und Migranten, die schon länger in Deutschland leben. Rund 50 Prozent der Migrantinnen und Migranten einer Herkunftsgruppe können laut einer Studie durch Migrantenorganisationen in einer Kommune erreicht werden (Ministerium für Arbeit, Soziales, und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen 1999: 32). Migrantenorganisationen können als Mittler zwischen der Zielgruppe und Integrationsakteuren fungieren. Zum einen können sie die Bedarfe und Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten beispielsweise in Integrationsprojekte einfließen lassen, andererseits können sie auch bestehende Angebote als Experten ihrer eigenen Migrantenorganisation bezüglich der Angebotsgestaltung besprechen und Verbesserungen und neue Ideen einbringen. In den zurückliegenden Jahren haben Migrantenorganisationen in der Gesellschaft und Politik eine immer breitere Anerkennung erfahren und wirken in vielen Gremien mit. Erstmals gab es den Nationalen Integrationsgipfel mit Kanzlerin Angela Merkel im Jahr 2006. Seitdem lädt die ehemalige Integrationsbeauftragte, Aydan Özoğuz (2013-2018), jährlich zu einem bestimmten Thema zum Gipfel ins

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Bundeskanzleramt ein. Von diesen Kooperationen profitieren Migrantenorganisationen, sie sind besser vernetzt und können teilweise gemeinsam an Projekten arbeiten. Auch im „Nationalen Aktionsplan Integration. Zusammenhalt stärken – Teilhabe verwirklichen“ von 2012 wird auf Migrantenorganisationen verwiesen: „Die gleichberechtigte Einbeziehung und Partizipation der Migrantenorganisationen an den Bereichen und Strukturen des bürgerschaftlichen Engagements ist zu fördern. Dies beinhaltet auch, dass Migrantenorganisationen mit finanziellen, personellen und räumlichen Ressourcen angemessen ausgestattet sind.“ Und weiter: „Deshalb bemüht sich der Bund, mehr und gezieltere Angebote bürgerschaftlichen Engagements zu schaffen, Migrantenorganisationen an diesem Prozess zu beteiligen und stärker als Träger von Engagementprojekten zu integrieren“ (Die Bundesregierung 2012: 287ff.). Obwohl die Wertschätzung von Migrantenorganisationen in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren gestiegen ist, werden sie oftmals nicht angemessen gewürdigt. Für die Verbesserung der Bildungs- und Arbeitsintegration ist die Einbeziehung und Anerkennung von Migrantenorganisationen entscheidend, da so Regeleinrichtung und das Wissen über die jeweilige Zielgruppe zusammengebracht werden können. Das Potenzial von Migrantenorganisationen ist groß und wird bisher nur teilweise genutzt, viel mehr Kooperationen könnten eingegangen werden, um Synergieeffekte zu vergrößern. 3.3 Potenziale und Rollen von Migrantenorganisationen als Akteure Wie eine Kooperation mit Migrantenorganisationen aussehen kann, hängt nicht nur von der inhaltlichen Ausrichtung, sondern auch davon ab, wie professionell die einzelnen Vereine aufgestellt sind und arbeiten. Die meisten Migrantenorganisationen sind durch ehrenamtliche Strukturen geprägt, daher sollte der Professionalisierungsgrad bei einer Zusammenarbeit berücksichtigt werden: Inwiefern sind hauptamtliche Mitarbeiterstrukturen etabliert und inwiefern werden Projekte und Angebote zu Bildung und Integration durchgeführt? Dabei können fünf unterschiedliche Typen festgehalten werden (Abb. 1).

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Professionalisie- Verhältnis der rungsgrade von MitarbeitenMigrantenorgani- den (ehrenamtsationen lich/hauptamtlich)

Projektarbeit

Rolle von Migrantenorganisationen in Kooperationsbeziehungen

Keine Hauptamtliche, nur Ehrenamtliche

Keine Projekte, nur interne Tätigkeiten und einzelne Veranstaltungen

Informationsvermittler, Experte/-in für eigene Migrantengruppe, möglicher Netzwerkpartner

2 MO mit ehrenamt- Keine Hauptlicher Integrations- amtliche, arbeit nur Ehrenamtliche

Keine Projekte, sporadische Teilnahme an externen Projekten oder Netzwerkarbeit

Informationsvermittler, Experte/-in für eigene Migrantengruppe, Interessenvertreter/-in, Berater und Begleiter, möglicher Netzwerkpartner

3 MO mit ehrenamtlicher Integrationsarbeit und verbindlichen Netzwerkkooperation

Keine Hauptamtliche, nur Ehrenamtliche (evtl. Aufwandsentschädigungen)

Regelmäßige, verInformationsvermittler, bindliche Teilnahme Berater und Begleiter, an externen Projek- Netzwerkpartner ten und Netzwerkarbeit

4 MO mit eigenen kleinen Integrationsprojekten (Mikroprojekte)

Kurzfristige Beschäftigungen von MA für die Projektlaufzeit

Durchführung der eigenen kurzfristigen Mikro-Projekten und Netzwerkarbeit

Informationsvermittler, Berater und Begleiter, möglicher Projektträger, Netzwerkpartner

5 Professionalisierte MO: anerkannte Träger für Jugendarbeit, Bildung, Arbeitsmarkt

Langfristig beschäftigte und hochqualifizierte Mitarbeiter/-innen

Durchführung von langfristigen Projekten und spezialisierten Dienstleistungen, eigene Netzwerke

Expertengremium, Projektträger, Netzwerkpartner, Erstanlaufstelle

1 Einfacher Verein zu Zwecken der Kultur, Religion, Sport, o.a.

Abb. 1: Professionalisierungsgrade von Migrantenorganisationen (MOZAIK gGmbH [Hrsg.] 2014: 42f.)

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Migrantenorganisationen können sowohl aufgrund ihrer unterschiedlichen Professionalisierung, als auch aufgrund ihrer verschiedenen Schwerpunkte (Kultur, Eltern, Politik) und Angebote unterschiedliche Funktionen erfüllen und jeweils auf verschiedene Arten und Weisen in Netzwerke und Projekte eingebunden werden. Die Funktionen kann man wie folgt unterscheiden: ƒ Migrantenorganisationen als Informationsvermittler z.B. zur Vorbereitung der Weiterbildungsangebote an die MO-Mitglieder und deren Familien und Bekannte ƒ Migrantenorganisationen als Interessenvertreter z.B. bei (politischen Entscheidungsprozessen) in (Bildungs-)Netzwerken ƒ Migrantenorganisationen als Expertengremium für die Zielgruppe z.B. bei der Entwicklung und Umsetzung von Projektideen und Maßnahmen für eine spezielle Zielgruppe ƒ Migrantenorganisationen als Kooperations- oder Tandempartner z.B. bei der Projektkonzeption und -umsetzung ƒ Migrantenorganisationen als Träger für Integrationsprojekte z.B. zur Durchführung von Beratungs- und Qualifizierungsprojekten Abb. 2: Rollen von Migrantenorganisationen (MOZAIK gGmbH [Hrsg.] 2014: 44) Während Migrantenorganisationen in der Rolle als Informationsvermittler dazu dienen, Informationen an ihre Mitglieder oder auch in der Öffentlichkeit zu verbreiten, werden Migrantenorganisationen als Interessenvertreter zu Vorhaben für eine bestimmte Migrantengruppe nach ihrer Meinung befragt. Eine Weiterentwicklung dessen ist die Rolle als Expertengremium, in der Migrantenorganisationen mehr auf Augenhöhe und als Experten für eine Zielgruppe wahrgenommen und einbezogen werden. Als Kooperations- oder Tandemprojektpartner werden Migrantenorganisationen aktiv mit in die Planung und Umsetzung von Projekten eingebunden, sind als Akteur gleichberechtigt an den Aktionen des Projekts beteiligt und lassen ihre zielgruppenspezifischen Kenntnisse in die strategische Arbeit einfließen. Als Träger von Integrationsprojekten verfügen etablierte Migrantenorganisationen über eigenständige Projekte, die sie alleinig umsetzen und durchführen (MOZAIK gGmbH [Hrsg.] 2014: 44f.).

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3.4 Bedarf für Kooperation mit Migrantenorganisationen im Bereich Integration Den Bedarf für Projekte zur Arbeitsmarktintegration unter Beteiligung von Migrantenorganisationen zeigt ein Blick auf die Statistiken der Bevölkerung und der Arbeitslosigkeit. In Deutschland leben derzeit ca. 18,6 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, davon wohnen etwa 4,9 Mio. in Nordrhein-Westfalen (Destatis 2017: 37). Das Statistische Bundesamt definiert Migrationshintergrund wie folgt: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“ (ebd.). Der Vergleich der Inländer und Ausländerquote, aufgeteilt nach Arbeitsmarktregionen in NRW, zeigt, dass es immer noch Differenzen in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration gibt (siehe Abbildung 3). 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0%

Deutsche Arbeitslose

Ausländische Arbeitslose

Abb. 3: Vergleich Inländer- und Ausländerarbeitslosenquoten. Datenquelle: Erste Kommentierte Zuwanderungs- und Integrationsstatistik Nordrhein-Westfalen. Datenband, MAIS [Hrsg.], 2013. Zusammenstellung: MOZAIK gGmbH, 2013.

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Die Ausgangsituation lässt sich folgendermaßen beschreiben: Menschen mit Migrationshintergrund sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen und haben einen Nachholbedarf beim Zugang zu qualifizierten Bildungsangeboten, Berufen und sicheren Arbeitsplätzen. Zum Teil haben Migrantinnen und Migranten Schwierigkeiten mit der (Fach-)Sprache und werden mit regulären Fördermöglichkeiten nicht erreicht. Es fehlt an migrantenspezifischen Bildungs- und Beratungsangeboten (z.B. in mehreren Sprachen Kooperationen mit Migrantenorganisationen sowie an interkultureller Kompetenz bei Fachpersonal in Behörden und Einrichtungen.

Abb. 4: Anerkennungsbegleitende als Bindeglied. Eigene Grafik. Das Ziel unseres Praxisbeispiels ist es, mehr Menschen mit im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen anzusprechen und ihnen durch die berufliche Anerkennung den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt in bildungsadäquater Beschäftigung zu ermöglichen. Dafür ist eine niedrigschwellige Ansprache notwendig, wofür die Kooperation mit Vertreter/-innen aus Migrantenorganisationen prädestiniert ist. Sie haben das Vertrauen und Zugang zur Zielgruppe und können mit einer Brückenfunktion als Anerkennungsbegleitende zwischen regionalen Anerkennungsakteuren und Migrant/-innen und Neuzugewanderten fungieren.

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Praxisbeispiel: Ehrenamtliche aus Migrantenorganisationen und -communities bieten zweisprachige Begleitung zur beruflichen Anerkennung an

Die Neuzuwanderung (z.B. von Geflüchteten) stellt Institutionen, Organisationen und Akteure im Bereich der beruflichen Anerkennung vor viele Herausforderungen. Zuständige Stellen sowie Beratungs- und Unterstützungsangebote können nicht alle Bedarfe erfüllen, auch sprachliche Barrieren können ein Hindernis darstellen. Viele Anerkennungssuchende sind neu eingewandert und nutzen vorhandene Beratungsangebote nicht: Sie brauchen einen niedrigschwelligen Zugang, um an Informationen zu gelangen, die sie verstehen können. Zwar gibt es (Integrations-)Lotsenprogramme/Brückenbauer o.ä., die Vereinbarungen mit kommunalen Beratungsstellen haben, aber sie finden nicht immer den Zugang zur Zielgruppe. Bei Ehrenamtlichen aus Migrantenorganisationen ist das anders: Sie sind als Mitglied ihres Vereins bereits vor Ort und können meistens einen großen Mitgliederkreis erreichen. Sie können ihre Mitglieder und Neuankömmlinge zu Anerkennungsfragen niedrigschwellig und mehrsprachig informieren, sie zu den zuständigen Stellen und Beratungsangeboten begleiten sowie die Anerkennungssuchenden mit den genannten Stellen vernetzten. Die Etablierung solcher dauerhaften Kooperationen zwischen Akteuren im Bereich der beruflichen Anerkennung und Ehrenamtlichen aus Migrantenorganisationen/-communities, bietet für alle beteiligten Seiten viele Vorteile und verbessert die berufliche Integration von Neueingewanderten in Deutschland nachhaltig. Die Idee der zweisprachigen Begleitung zur beruflichen Anerkennung wird von der MOZAIK gGmbH im Rahmen eines Teilprojekts des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ in Nordrhein-Westfalen umgesetzt. Im Vorfeld des Projekts wurden die Ehrenamtlichen zu den Themen Anerkennung und Qualifizierung qualifiziert, zudem wurden ihnen entsprechende Infomaterialen zur Verfügung gestellt. Das Projekt wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und dem Europäischen Sozialfonds gefördert (Laufzeit 01/201612/2018).

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4.1 Konzept und Ziele des IQ NRW Teilprojekts Insgesamt engagieren sich in unserem Projekt landesweit ca. 80 Ehrenamtliche aus knapp 50 unterschiedlichen Migrantenorganisationen. Die Anerkennungsbegleitenden bieten an, Menschen mit einer im Ausland erworbenen Berufsqualifikation bei der Anerkennung in Deutschland zu unterstützen. Dazu machen die Anerkennungsbegleitenden diese Personen auf die Möglichkeit der beruflichen Anerkennung aufmerksam und begleiten sie ggf. zu einer Beratungsstelle, zu zuständigen Stellen für die Antragsstellung oder Ämtern. Des Weiteren helfen die Begleitenden beispielsweise beim Ausfüllen von Anträgen, bei der Zusammenstellung der Unterlagen oder bei der Beschaffung von Zeugnissen aus dem Herkunftsland. Alle ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden beherrschen neben Deutsch weitere Sprachen und so kann die Begleitung in 34 unterschiedlichen Sprachen angeboten werden (Stand 2018). Eine enge Kooperation mit kommunalen Strukturen liegt dem Projektkonzept zugrunde. Gemeinsam mit einem regionalen Partner, der vor Ort koordiniert, wurden in zehn Regionen interkulturelle Netzwerke mit Ehrenamtlichen aus Migrantenorganisationen und -communities aufgebaut. Der sogenannte regionale Koordinierungspartner fungiert als Ansprechpartner vor Ort, organisiert regelmäßige Austauschtreffen und pflegt zudem die lokale Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit.

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4.2 Kooperation von Ehrenamtlichen aus Migrantenorganisationen und kommunalen Partnern am Beispiel des Aufbaus eines interkulturellen Netzwerks aus Anerkennungsbegleitenden Am Beispiel des Aufbaus der Standorte im Teilprojekt der Anerkennungsbegleitenden soll exemplarisch eine Möglichkeit der Kooperation von kommunalen Partnern und Migrantenorganisationen erläutert werden. Die Grafik zeigt hierzu beispielhaft die einzelnen Schritte: 1. Einladung geeigneter Migrantenorganisationen zu einem Informationsabend

2. Erstes Arbeitstreffen und Auswahl der zukünftigen Anerkennungsbegleitenden

3. Erhebung der Bedarfe der Anerkennungsbegleitenden

4. Ggf. Aufwandsentschädigung der ehrenamtlichen Tätigkeit

6. Erhebung und Auswertung der Aktivitäten der Anerkennungsbegleitenden

7. Sicherung der Nachhaltigkeit der regionalen Kooperation mit Migrantenorganisationen bzw. der interkulturellen Netzwerke Abb. 5: Aufbau eines interkulturellen Netzwerks. Eigene Darstellung.

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Anhand der Liste von Migrantenorganisationen innerhalb einer Stadt oder einer Region, die der Kommune oder dem kommunalen Integrationsbeauftragten vorliegen, können Vereine ausgewählt werden, die für eine Kooperation in Frage kommen. Hierbei ist es wichtig darauf zu achten, dass die Vereine verfassungskonform sind, Integrationsabsichten haben und Interesse am fachlichen und interkulturellen Austausch haben sowie eine Zielgruppe erreichen können. Im Rahmen einer ersten Informationsveranstaltung werden das Vorhaben und die Motivation, Migrantenorganisationen in ein Projekt einzubinden, erläutert. Es sollten dafür nicht nur die aktuellen Kontaktinformationen der Teilnehmenden festgehalten werden, um sie nach der Veranstaltung ansprechen zu können, sondern auch über eine verbindliche Vereinbarung gesprochen werden. Es empfiehlt sich, mit allen Projektpartnern eine Kooperationsvereinbarung aufzusetzen, um Aufgaben und Zuständigkeiten festzuhalten sowie um ein Gefühl der Verbindlichkeit zu initiieren. Den Ehrenamtlichen sollte dabei stets auf Augenhöhe begegnet werden, die Partner sollten gleichberechtigt die Vorgehensweise bestimmen und beispielsweise zusammen Termine abstimmen. Dazu gehört auch, dass die Bedarfe der Ehrenamtlichen erhoben und berücksichtigt werden, Ziel sollte auch sein, die Migrantenorganisationen zu unterstützen und sie bei der Professionalisierung (durch Schulungen, Organisationsmaßnahmen und -beratung) zu fördern. Dem zuträglich ist auch eine monetäre Wertschätzung, das könnte bei freiwilligem Engagement zum Beispiel eine Aufwandsentschädigung von 50 bis 100 Euro pro Monat sein. Nachdem die Rahmenbedingungen festgehalten und die Migrantenorganisationen dem Projekt zugesagt haben, beginnt die regelmäßige Koordinierung des kommunalen Partners oder Akteurs. In unserem Beispiel führen die Ehrenamtlichen Begleitungen zur beruflichen Anerkennung durch, während der regionale Partner regelmäßige Austauschtreffen organisiert, zu denen auch lokale Akteure eingeladen werden, um den Bedarfen der Anerkennungsbegleitenden, sich weiter zu qualifizieren und sich weiter zu vernetzen, nachzukommen. Außerdem werden die Treffen für den Austausch untereinander über aktuelle Begleitfälle genutzt.

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MOZAIK gGmbH Landesweite Begleitung und Koordinierung Regionaler Koordinierungspartner Regionale Koordination, Vernetzung und Unterstützung

Akteure Anerkennung z.B. Beratungsstellen, Akteure Arbeitsmarkt und zuständige Stellen

Regionaler Austausch und Zusammenarbeit

Anerkennungsbegleitende aus MO/MC Begleitung von Ratsuchenden und Teil des regionalen Austauschs

Ratsuchende R Berufsabschluss aus dem Ausland

Abb. 5: Interkulturelles Netzwerk aus ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden, regionalen Partnern und Akteuren. Eigene Darstellung. Hauptsächlich führen die ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden regelmäßige Begleitungen von Ratsuchenden durch. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Ehrenamtlichen keine Beratung anbieten, sondern die Menschen mit im Ausland erworbenen Qualifikationen zur Erstberatung oder anderen zuständigen Stellen begleiten. Die unterschiedlichen Funktionen lassen sich wie folgt differenzieren:

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Abb. 6: Ablauf der Anerkennungsbegleitung. Eigene Darstellung.

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Evaluationsergebnisse der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen

Zuerst einmal lässt sich festhalten, dass die Zusammenarbeit zwischen allen Projektpartnern, MOZAIK gGmbH, dem IQ Netzwerk, den Ehrenamtlichen aus Migrantenorganisationen und den regionalen Koordinierungspartnern sehr gut funktioniert (durch Befragungen ermittelt). Dies konnte anhand von Befragungen festgestellt werden. Regelmäßig organisiert MOZAIK landesweite Workshops, bei denen alle Anerkennungsbegleitenden und alle regionalen Koordinierungspartner sowie ggf. externe Fachreferenten zum gegenseitigen Austausch eingeladen werden. Durch die Feedbackbögen stellte sich heraus, dass diese Treffen nicht nur sehr fruchtbar für den Projektträgersind, sondern auch für die Migrantenorganisationen und die Koordinierungspartner, die alle vom Austausch profitieren und viele wichtige Aspekte für ihre Arbeit mitnehmen können.

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Katharina Neubert und Cemalettin Özer

5.1 Berichte und Good-Practice Beispiele Zur Erhebung von ehrenamtlichen Tätigkeiten eignen sich Erfahrungsberichte oder Good-Practice Beispiele. So wird nicht nur die persönliche Geschichte der beteiligten Personen anhand von Interviews deutlich, sondern auch der Aufwand und Umfang an Zeit sowie der unermüdliche Einsatz, den Ehrenamtliche für andere Menschen leisten. Die Ehrenamtlichen dokumentieren die Schritte ihrer Begleitungen und reichen diese anschließend ein. Die Erfolgsfälle dabei werden anhand der Dokumentationen sichtbar. Anschließend kommt es zu einem Interview und daraus resultiert das Good-Practice Beispiel. Der einzelne Ehrenamtliche und seine Migrantenorganisation bzw. -community werden in ihrer Arbeit wertgeschätzt. Dies ist ein ganz wichtiger Faktor, um in einem Projekt motiviert mitzuwirken. Wie das aussehen kann, wollen wir anhand eines Good-Practice Beispiels aus dem Projekt der ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden zeigen (siehe Abb.7) : Es wird sichtbar, wie außerordentlich sich Herr Bascho, stellvertretend für die Ehrenamtlichen des Projekts (sichtbar aufgrund der Dokumentationen der Ehrenamtlichen), engagiert und welchen Effekt sein Engagement für die Integration von Neuzugewanderten haben kann. Des Weiteren zeigt sich, wie wichtig die Kooperation mit Migrantenorganisationen in Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten ist. Durch interkulturelle Kompetenzen, wie die gemeinsame Sprache und Herkunft, konnte der Anerkennungsbegleiter das Zutrauen der Geflüchteten gewinnen und sie zeitnah, noch vor dem Besuch von Deutschkursen, in ihren Integrationsvorhaben unterstützen.

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Abb. 7: Good-Practice-Beispiel eines Anerkennungsbegleitenden. Dokumentation des Ehrenamtlichen, überarbeitet von Katharina Neubert.

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5.2 Auswertung der bisherigen Zusammenarbeit MOZAIK ist es gelungen, mit vielen Ehrenamtlichen Lösungen und Wege zu finden, um ihre Tätigkeiten regelmäßig zu dokumentieren. Dafür wurden OnlineFormulare entwickelt, Übersetzungen angefertigt, telefonische Sprechstunden angeboten sowie der persönliche Kontakt gesucht, um bei den regionalen Treffen Begleitungen gemeinsam zu dokumentieren. Statistisch gesehen wurden in der Projektlaufzeit bisher über 300 Menschen zur beruflichen Anerkennung oder Qualifizierung von Ehrenamtlichen unterstützt. Dabei wurden 234 Begleitungen zum Thema berufliche Anerkennung und 134 zu Qualifizierung durchgeführt. Von den begleiteten Personen hatten 35,6 Prozent einen Berufsabschluss, 39,8 Prozent einen Hochschulabschluss und 15 Prozentverfügten über einen Schulabschluss. Die Berufe, zu denen Personen Rat suchen, sind sehr vielfältig, am häufigsten wurden bisher Ingenieure unterschiedlicher Art, Rechtsanwälte, Friseure, Betriebswirte und Elektriker/-innen begleitet. Dabei waren 72 Prozent der Ratsuchenden männlich und 28 Prozent weiblich. Die begleiteten Personen kamen aus 50 unterschiedlichen Ländern, die meisten stammten dabei aus Syrien (ca. 27 Prozent), gefolgt von Irak, Iran, Nigeria, Afghanistan, Russland, Italien und Griechenland. Den Zugang zu den Ehrenamtlichen haben die meisten Ratsuchenden über eine Migrantenorganisation oder eine persönliche Empfehlung gefunden. Inzwischen sind die Netzwerke aber auch so gut mit den lokalen Akteuren vernetzt, dass immer mehr Ratsuchende z.B. durch das Jobcenter an die Anerkennungsbegleitenden verwiesen werden. Dabei findet meistens nicht nur ein Kontakt statt, wie das in einer Beratungsstelle die Regel ist, sondern die Ehrenamtlichen begleiten die ratsuchenden Personen oft mehrmals und stehen ihnen als ständige Ansprechpartner/innen zur Verfügung. Sie leisten dabei nicht nur fachliche, sondern auch emotionale Unterstützung, insbesondere bei Rückschlägen stärkt der Begleitende der ratsuchenden Person den Rücken und motiviert ihn weiter an diesem Weg festzuhalten. Dokumentiert wurden hierbei 258 Folgekontakte, dabei wird mindestens jeder zweite Ratsuchende zwei- oder mehrmals begleitet. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Dunkelziffer dieser Zahlen sehr viel höher liegt, denn nicht alle halten ihre Begleitungen und die Folgetermine fest. Zusammenfassend stellten sich folgende Faktoren anhand der Erfahrungen der Projektmitarbeiter als wichtig für den Erfolg des Projekts heraus: Die ständige

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(Weiter-)Entwicklung und Anpassung von Materialien und Unterlagen für die Ehrenamtlichen, Erhebung und Evaluation der Bedarfe sowie ein starker regionaler Koordinierungspartner, der die Ehrenamtlichen vor Ort betreut und ihnen Unterstützung sowie Raum und Möglichkeiten anbietet. Darüber hinaus ist eine breite Öffentlichkeitsarbeit wichtig, um das Projekt und das ehrenamtliche Angebot bekannt zu machen sowie die Reichweite über die Migrantenorganisationen hinaus zu vergrößern. Zudem ist nicht nur die Begegnung mit den Vertreter/-innen aus Migrantenorganisationen auf Augenhöhe von Bedeutung, sondern auch stets ein offenes Ohr zu haben, auf die Bedürfnisse einzugehen, an die Dokumentation zu erinnern sowie die Kommunikation untereinander (bspw. per Telefon oder WhatsApp). 5.3 Herausforderung der Anerkennungsfälle durch Ehrenamtliche Die Ergebnisse der ehrenamtlichen Tätigkeit genau und detailliert zu erheben, stellte das Projekt vor einige Herausforderungen. Um die Aktivitäten und Begleitungen sowie Informationen zu den begleiteten Personen erfassen zu können, sollen die Ehrenamtlichen im IQ NRW Teilprojekt regelmäßig ihre Begleitungen dokumentieren und Unterlagen einreichen. Das bedeutet, dass sie jede Begleitung mit Daten zur Person, Beruf und Herkunft festhalten sollen, dafür werden ihnen entsprechende Bögen zur Verfügung gestellt. Zusätzlich ist es wichtig, dass die begleiteten Personen eine Einverständniserklärung zur Übertragung der Daten unterschreiben. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, dass nicht nur festgestellt werden kann, wie viele Personen von den Anerkennungsbegleitenden erreicht wurden, sondern auch auf welche Weise, welche Merkmale diese Personen mitbringen und wie lange eine Begleitung gedauert hat. Doch nicht alle Ehrenamtlichen dokumentieren ihre Begleitungen regelmäßig und vollständig. Das hat ganz unterschiedliche Gründe, am häufigsten wird die fehlende Zeit als Grund genannt. Einen Bogen mit Daten über die begleitete Person auszufüllen sowie der Person die Einwilligungserklärung zum Datenschutz und die Relevanz für das Projekt zu erläutern, kostet Zeit, die die meisten Ehrenamtlichen nicht haben, denn sie sind beruflich, familiär und im Verein viel beschäftigt. Je professioneller ein Verein arbeitet, desto eher kann zweifellos eine Dokumentation geleistet werden: Es gibt Räumlichkeiten für Treffen mit ratsuchenden Personen, technische Hilfsmittel, wie beispielsweise Computer oder Tablets, in die Daten direkt beim ersten Gespräch oder von der entsprechenden Person

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selbst eingetippt werden können und eigene finanziell Mittel, z.B. für Portokosten. Anderen ehrenamtlichen Anerkennungsbegleitenden ist die Dokumentation zu kompliziert, sie haben Probleme mit der Fach- oder Schriftsprache. Vielen schaffen es nicht, die Unterlagen regelmäßig einzureichen, das bedeutet sie geben vielleicht alle sechs Monate oder noch unregelmäßiger ihre Dokumentation ab oder reichen diese nur unvollständig ein.

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Diskussion

Anhand des Fallbeispiels von Herrn Bascho zeigt sich, wie wichtig die Kooperation mit Migrantenorganisationen in Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten ist und dass er durch u.a. die gemeinsame Sprache das Zutrauen der Geflüchteten gewonnen hat. Diese Wichtigkeit betonen auch Klutse und Wartumjan (2014), indem sie drauf hinweisen, dass Migrantenorganisationen von gegenseitigem Vertrauen geprägt sind und in diesen Kreisen sie Rat bezüglich der für sie noch unbekannten Lebenssituation erhalten. Das führt nicht nur zu Wohlbefinden, sondern es entsteht auch Sicherheit sowie Orientierung (ebd. 51f.). Die Ergebnisse zeigen, dass über 300 Personen hinsichtlich der Anerkennung ihrer Qualifikation beraten und unterstützt wurden. Der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt wird in der Regel über berufliche sowie schulische Qualifikationen gesteuert (Müller et al. 1998). Gerade deswegen ist es wichtig, dass nach Deutschland Zugewanderte ihren Abschluss anerkennen lassen, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht zu reduzieren. Um Arbeitsmarktpotenziale von Migranten/-innen zu steigern, ist daher 2012 das „Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“, kurz Anerkennungsgesetz, in Kraft getreten. Seit diesem Zeitpunkt gab es insgesamt 140.703 Anträge (Statistisches Bundesamt 2019).

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Sicherung von Nachhaltigkeit

Um für eine nachhaltige Sicherung der aufgebauten Netzwerke des IQ NRW Teilprojekts zu sorgen, ist die Kooperation mit den kommunalen Verwaltungen in den

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Standorten wichtig. Der regionale Koordinierungspartner kann über das Projektende hinaus das Netzwerk weiter pflegen, Treffen organisieren und die Migrantenorganisationen finanziell unterstützen. Außerdem ist die Aufrechterhaltung der Motivation ein wesentlicher Aspekt, um auch langfristig zu kooperieren. Darüber hinaus kann das Netzwerk gemeinsam einen Facharbeitskreis oder einen Fachverbund gründen. In einem Standort des IQ NRW Teilprojekts wurde bereits gemeinsam von den Migrantenorganisationen vor Ort und den regionalen Koordinierungspartnern ein Verein gegründet, um als handlungsfähige Organisation auch nach dem Projekt weiter an den gemeinsamen Zielen arbeiten zu können. Im Rahmen von Verbünden oder Verbänden werden die jeweiligen Interessen vorwiegend von Personen der gleichen Interessengemeinschaft vertreten. Daher ist auch die Organisation von Migrantenorganisationen im Rahmen von Verbünden sinnvoll. So können Migrantenorganisationen unterschiedlicher Herkunft bzw. deren Vertreter/-innen als gemeinsame Ansprechpartner/-innen für regionale Akteure verschiedener Themenbereiche fungieren. Außerdem können sie als Einheit nach außen auftreten und sich für migrationsrelevante Themen sowie für die Bedarfe und Interessen ihrer Mitglieder einsetzen. Möglich ist dahingehend auch die Erarbeitung von gemeinsamen Handlungsstrategien, um von Akteuren in der Politik als einzelne Organisationen ernster genommen zu werden. Gemeinsame interkulturelle Projekte haben zudem größerer Chancen finanziell gefördert zu werden. Eine langfristige Kooperation mit Migrantenorganisationen lohnt sich auch wegen der langjährigen Erfahrung, die diese haben. Sie engagierten sich schon vor einzelnen Projekten für Integration und für Migrantinnen und Migranten und sie werden es auch nach einem Projektende weiterhin tun. Darüber hinaus sind zuverlässige langjährige Partner bei Lotsenprojekten wichtig.

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Resümee

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Migrantenorganisationen als Projektpartner in Lotsen-, Mentoren- und Patenprojekten im Bereich der Integration viel für Migrant/-innen und Neueingewanderte erreichen können. Sie sind nicht nur prädestiniert dafür, eine niedrigschwellige Ansprache und Zugang zur Zielgruppe zu finden, sondern sie können auch Angebote und Maßnahmen mitgestalten und

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je nach Professionalisierungsgrad auch selbst umsetzen. Eine Kooperation mit kommunalen Partnern ist nicht nur förderlich für die lokale Vernetzung der Migrantenorganisationen, sondern auch für die Sicherung der Nachhaltigkeit, damit die aufgebauten Netzwerke auch nach der Projektlaufzeit weiterleben. Hier kann die Kommune einspringen und beispielsweise weiterhin Netzwerktreffen organisieren, die Migrantenorganisationen weiter fördern und u.a. durch Aufwandsentschädigungen unterstützen. Bisher sind Migrantenorganisationen und Menschen mit Einwanderungsgeschichte in klassischen Feldern des bürgerschaftlichen Engagements sowie als Akteure im Bereich Integration noch unterrepräsentiert. Sie werden oftmals nicht als Teil der Problemlösung verstanden und nicht aufgefordert, an der Zivilgesellschaft durch ihr Engagement teilzuhaben, sondern gelten in manchen Fällen als Teil des Problems. Allerdings sind die Mitglieder von Migrantenorganisationen generationenübergreifend in ihren Familien-, Bekannten- oder Nachbarschaftskreisen und ihren Vereinen engagiert. Dies bleibt in der Integrations- und Engagementpolitik oft unbemerkt. Obwohl eben jene Menschen ein besonderes Potenzial für gelungenes Engagement, erfolgreiche Integration und gesellschaftliche Teilhabe mitbringen. Dies versuchen wir durch dieses Projekt zu fördern und sichtbarer zu machen.

Literatur Destatis-Statistisches Bundesamt (2017): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2016. Wiesbaden Die Bundesregierung (2012): Nationaler Aktionsplan Integration. Zusammenhalt stärken – Teilhabe verwirklichen Hunger, Uwe (2005): Ausländische Vereine in Deutschland. Eine Gesamterfassung auf der Basis des Bundesausländervereinsregisters. In: Karin Weiss und Dietrich Thränhardt (Hrsg.): Selbst-Hilfe. Wie Migranten Netzwerke knüpfen und soziales Kapital schaffen. Freiburg: Lambertus: 221-244 Hunger, Uwe/ Metzger, Stefan (2011): Kooperation mit Migrantenorganisationen. Studie im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Nürnberg Huth, Susanne (2013): Vergleichende Fallstudien zum freiwilligen Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund. Wegweiser Bürgergesellschaft

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Klutse, Clement, Wartumjan, Marion (2014): Willkommens- und Anerkennungskultur: Rolle und Perspektive von Migrantenorganisationen. In: IQ Fachstelle (Hrsg.): Inklusiv, offen und gerecht? Deutschlands langer Weg u einer Willkommenskultur: 51-56 Ministerium für Arbeit, Soziales, und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (1999): Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in NRW. Wissenschaftliche Bestandsaufnahme Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2013): Erste Kommentierte Zuwanderungs- und Integrationsstatistik Nordrhein-Westfalen MOZAIK gGmbH (Hrsg.): Özer, Cemalettin/ Schulte, Claudia (2014): Arbeitsmarktintegration mit Migrantenorganisationen. Leitfaden für Migrantenorganisationen zu Kooperation mit Akteuren des Arbeitsmarkts Neubert, Katharina/ Özer, Cemalettin (2016): Die Rolle der Migrantendachorganisationen in der Bürgergesellschaft in Deutschland. In: Groß, Torsten/ Huth, Susanne/ Jagusch, Birgit/ Klein, Ansgar/ Naumann, Siglinde (Hrsg.): Engagierte Migranten. Teilhabe in der Bürgergesellschaft. Schwalbach: Wochenschau: 86-92 Pries, Ludger (2013): Umfang und Struktur von Migrantenorganisationen in Deutschland. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/158871/umfang-und-struktur (zuletzt abgerufen am 20. August 2019) Statistisches Bundesamt (2019): Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen nach Berufen. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Berufliche-Bildung/Tabellen/liste-bqfg-rangliste-berufe.html (zuletzt abgerufen am 25. August 2019) Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (2015): Zuwanderung: Auch bereits länger in Deutschland lebende Migranten brauchen mehr Unterstützung auf Arbeitsmarkt. Online verfügbar unter: https://www.boeckler.de/52619_60858.htm (zuletzt abgerufen am 19. August 2019) Zimmer, Veronika/ Feige, Marion/ Thom, Sabrina (2015): Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund zu Weiterbildungsangeboten. Online verfügbar unter: https://www.die-bonn.de/doks/interkulturelle-bildung-02.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2020)

IV Zivilgesellschaft und Patenschaften in der Flüchtlingshilfe

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete in Deutschland Dynamiken und Verstetigungsansätze seit dem „Willkommenssommer“ 2015 Alexander Seidel und Frank Gesemann

Abstract Das große zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete der letzten Jahre hat sich über den Zenit seiner öffentlichen Aufmerksamkeit hinaus in beständigen Initiativen verstetigt. Diese haben auf kommunaler Ebene Anbindung an staatliche Regelstrukturen gefunden, womit sich lokale Akteurslandschaften rekonfiguriert haben und neue Formen der Koproduktion von Integrationsleistungen entstanden sind. Die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Initiativen und ihre Erfolge werden jedoch von politischen und strukturellen Hindernissen beschränkt. Stichworte Willkommensinitiativen, zivilgesellschaftliches Engagement, Geflüchtete, kommunale Integrationspolitik, Koproduktion

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Einführung: Willkommensinitiativen – aus der Not zur Tugend

Das zivilgesellschaftliche Engagement zur Unterstützung von Geflüchteten hat nach den Zuwanderungserfahrungen, die in den Jahren 2015 und 2016 einen neuen Höhepunkt in Deutschland erreichten, eine enorme Dynamik entfaltet. Die hohe Zuwanderung löste nicht nur anhaltende politische Auseinandersetzungen um © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_10

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Migration, Integration und die Offenheit der Gesellschaft aus, sondern auch eine überwältigende Bewegung der Solidarität und Hilfsbereitschaft, um Neuzugewanderte im Ankommensprozess zu unterstützen und darüber hinaus zu begleiten. Zum international wahrgenommenen Sinnbild dieser „Willkommenskultur“ wurden die Szenen des Spätsommers 2015, als sich unzählige ehrenamtlich Engagierte spontan an Ankunfts- und Transitbahnhöfen und Notunterkünften für Geflüchtete versammelten, um am Aufbau von Aufnahmestrukturen mitzuwirken oder diesen gleich selbst in die Hand zu nehmen. Denn auch die Überforderung der öffentlichen Hand, Behörden und Verwaltungen, adäquat auf die hohe Zuwanderung zu reagieren, wurde zum Merkmal dieser Phase. Spätestens mit diesem „Willkommenssommer“ entwickelten sich zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse, Helferkreise oder andere Angebote zur Unterstützung und Begleitung von Geflüchteten – die wir unter dem Begriff »Willkommensinitiativen« subsumieren – zu einem bundesweit flächendeckenden Phänomen, an dem sich ein signifikanter Anteil der Bevölkerung beteiligte (vgl. Karakayali/Kleist 2016, Institut für Demoskopie Allensbach 2017). In vielen Kommunen haben diese Initiativen seitdem einen unverzichtbaren Beitrag für den Prozess des Ankommens und die Integration von Geflüchteten geleistet. Angesichts sich fortwährend verändernder Anforderungen, Rahmenbedingungen und Problemlagen hat sich der Fokus des zivilgesellschaftlichen Engagements kontinuierlich verschoben und der von den Initiativen bearbeitete thematische Radius immer stärker aufgefächert. Ebenso stellen sich Verwaltung und Politik auf lokaler Ebene neu in diesem Bereich auf: Es entstanden und entstehen neue Pfade der Koproduktion, deren Steuerungsmechanismen nach wie vor relativ unbestimmt sind. Inzwischen ist nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit für die Thematik, sondern vielerorts auch das breite Engagement abgeflaut. Nichtsdestotrotz sind aus der Initiativenbewegung dieser Zeit beständige Ansätze, Organisationen und nachhaltige Strukturen entstanden, die wir in diesem Beitrag in den Fokus nehmen. 1 Der Beitrag zeichnet Entwicklungslinien des Engagements und Formen der Professionalisierung und Institutionalisierung von Willkommensinitiativen nach, beleuchtet begünstigende und hemmende Rahmenbedingungen und zeigt, welche 1 Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts „Entwicklung und Nachhaltigkeit von Willkommensinitiativen“, welches zwischen August 2017 und Oktober 2019 im Auftrag des vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. am Berliner DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration durchgeführt wurde (vgl. Gesemann et al. 2019).

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

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Strukturen der Beteiligung und Ko-Produktion auf kommunaler Ebene daraus entstanden sind. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen und kommunalen Akteuren in diesem Bereich entwickelt haben und welche Formen der Zusammenarbeit, Koordination und kommunalen Unterstützung dabei zu beobachten sind und zu einer produktiven Ausgestaltung lokaler Integrationsarbeit beitragen. Die Untersuchung basiert auf einem multimethodischen und mehrstufigen Vorgehen. Dieses umfasste qualitative Telefon-Interviews, Experteninterviews und Gruppendiskussionen mit Vertreterinnen und Vertretern von Willkommensinitiativen, Migrantenselbstorganisationen, Ehrenamts- und Flüchtlingskoordination, Flüchtlings- und Integrationsmanagement und Engagementförderung; eine quantitativ-standardisierte Online-Befragung von zivilgesellschaftlichen Akteuren im Bereich der Hilfe und Unterstützung für Geflüchtete sowie zwei Transferveranstaltungen zur Vorstellung und Diskussion von (Zwischen-) Ergebnissen und der Anregung eines Praxisaustauschs zwischen den beteiligten Akteuren. Die Studie war dabei in mehreren Phasen angelegt: Zunächst führten wir (Telefon-)Interviews mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Koordinatorinnen und Koordinatoren für die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe sowie Verantwortlichen der kommunalen Integrations- und Flüchtlingspolitik in 20 deutschen Groß- und Mittelstädten, um die Entwicklung und Dynamik lokaler Engagementlandschaften in einer möglichst großen Breite in den Blick nehmen zu können. Anschließend wurden vertiefende Erhebungen vor Ort in vier ausgewählten Untersuchungsorten (Berlin, Dortmund, Nürnberg und Leipzig) durchgeführt, die unterschiedliche Erfahrungen und Entwicklungen repräsentieren. Die Online-Befragung richtete sich schließlich an zivilgesellschaftliche Initiativen in der Unterstützung von Geflüchteten in ganz Deutschland, wobei die Engagementlandschaften in den Großstädten im Mittelpunkt stand (erreichte Initiativen: N = 137 aus 47 Städten).

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Abb. 1: Untersuchungsstädte der Erhebung. Blau: Telefoninterviews, rot: vertiefende Erhebungen vor Ort, grau: Ort und Zahl der erreichten Initiativen in der Online-Befragung.

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Entwicklungslinien des Engagements für Geflüchtete zwischen Ausdauer und Fragilität

Die lokalen flüchtlingshilfebezogenen Engagementlandschaften in deutschen Städten und Gemeinden haben sich in den letzten Jahren flächendeckend rekonfiguriert. Die neu entstandenen Willkommensinitiativen sind darin zu einem festen und bedeutenden Bestandteil geworden, neben und mit alteingesessenen Organi-

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sationen wie Wohlfahrtsverbänden, freien Trägern, Vereinen, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen, Flüchtlingsräten und antirassistischen Aktivist*innen, Kirchengemeinden, Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen oder Migrantenorganisationen. Die Übergänge zwischen verschiedenen Organisationsformen sind dabei fließend: Anfangs informelle Initiativen institutionalisieren sich als Vereine oder entwickeln sich mit der Zeit sogar zu neuen freien Trägern, während andere aus Kirchengemeinden oder Nachbarschaftseinrichtungen heraus entstanden sind. Einerseits war die flächendeckende Entstehung der Willkommensinitiativen von einer Reihe identischer Rahmenbedingungen (große Zahl neu ankommender Geflüchteter, temporäre öffentliche Aufmerksamkeit mit zwischenzeitlich hohem Engagementinteresse, administrative Überforderung) und ähnlicher Problem- und Bedürfnislagen geprägt (fehlende staatliche Versorgungsleistungen, Bedarfe und Interessen der Geflüchteten, Defizite an Angeboten, bürokratische und juristische Hürden für Ehrenamtliche). Auf der anderen Seite entwickelten sie sich unabhängig voneinander, abhängig von lokalen Rahmenbedingungen und bis auf wenige Ausnahmen ohne überlokale Vernetzungen, sodass die Engagementlandschaften verschiedener Städte und Regionen differenzierte Entwicklungen und lokale Besonderheiten offenbaren, die zu einer breiten Varianz von Strukturformen in Deutschland geführt haben. Beispielhaft dafür sind die vier Städte, die wir für unsere Untersuchung vertiefend in den Blick genommen haben: ƒ So ist das Land Berlin ist durch einen vergleichsweise hohen Grad an zivilgesellschaftlicher Politisierung gekennzeichnet. Diese kristallisierte sich insbesondere im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Flüchtlingspolitik in den Jahren 2012 bis 2014 sowie in der Überforderung des Landesamts für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) bei der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten 2015/2016 heraus. Die Entwicklungsdynamik der Initiativenlandschaft wird u.a. auch durch die Unentschlossenheit der Engagementpolitik des Landes sowie konkurrierende Ansätze geprägt, während Politik und Verwaltung auf lokaler Ebene in vielen Bezirken durch eine aktive und strategisch orientierte kommunale Integrationspolitik Netzwerkbildungen und Verstetigungsperspektiven von Initiativen angeregt und gefördert haben. ƒ Die Stadt Dortmund ist ebenfalls durch eine aktive und lebendige zivilgesellschaftliche Engagementlandschaft geprägt, die aber auch hier sehr fragmentiert und segmentiert erscheint. Zwischen einigen Akteuren und Initiativen zeigen

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sich Konflikte und Konkurrenzen; zudem hält sich die Kommune als koordinierende Kraft im Feld des Engagements für Geflüchtete sehr zurück. Willkommensinitiativen nehmen den kommunalen bzw. hauptamtlichen Strukturaufbau häufig in Konkurrenz zu ihren eigenen Angeboten wahr, ohne sich einbezogen zu fühlen. Zu den besonderen Merkmalen der Engagementlandschaft in Dortmund gehören zudem der hohe Anteil von Aktiven mit Einwanderungsgeschichte sowie Migrantenorganisationen als prägende Akteure oder auch Träger von Flüchtlingsunterkünften. ƒ Die Engagementlandschaft in der Stadt Leipzig ist durch eine Gruppe aktiver, in hohem Maße eigenständiger, aber horizontal gut vernetzter Initiativen geprägt, von denen sich einige in Form neuer sozialer Träger und professioneller Dienstleister eine mittel- bis langfristige Perspektive erarbeitet haben. Auch wenn gute Kooperationen zwischen zivilgesellschaftlichen und kommunalen Akteuren auf der Arbeits- und Projektebene, insbesondere in der sozialen Arbeit, bestehen, scheint die Zivilgesellschaft in der strategischen Ausrichtung der kommunalen Flüchtlings- und Integrationspolitik nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dieser Umstand spiegelt sich in vereinzelten Konflikten und einer hohen Anspruchshaltung der Initiativen gegenüber der Stadtverwaltung wider. Bestehende Angebotslücken – auch dadurch bedingt, dass das Thema Integration in ostdeutschen Kommunen bisher eine eher untergeordnete Rolle spielte – wurden durch die selbstständig agierende Zivilgesellschaft besetzt. ƒ In der Stadt Nürnberg hat sich eine enge Kooperations- und Netzwerkbeziehung zwischen Kommune und Initiativen herausgebildet, die hier überwiegend in Form von unterkunfts- oder stadtteilorientierten Helferkreisen institutionalisiert sind. Auf kommunaler Seite übernimmt die Stabsstelle „Bürgerschaftliches Engagement und 'Corporate Citizenship‘“ – seit einer späteren Umstrukturierung die neu geschaffene Regiestelle Flucht und Integration – des Referats für Jugend, Familie und Soziales eine aktive koordinierende Rolle. Unter dem Eindruck der restriktiven bayerischen Landespolitik ist aus dieser Struktur heraus zudem ein politischer Arbeitskreis entstanden, der sich um überörtliche Vernetzungen bemüht, um auf die Flüchtlingspolitik des Landes Bayern einzuwirken.

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

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Aufgabenfelder und Selbstverständnis von Willkommensinitiativen In den einzelnen Städten finden sich also verschiedene Netzwerke und Zusammenschlüsse, Aktivitätsschwerpunkte und Organisierungsformen von Willkommensinitiativen. Grundsätzlich zielen sie mit ihrer Arbeit auf verschiedene Ebenen: So gibt es einrichtungsbezogene Helfer- oder Unterstützerkreise, die um Gemeinschafts- oder Notunterkünfte für Geflüchtete herum entstanden sind und deren Ehrenamtliche sich diesen Unterkünften und ihren Bewohner*innen zugehörig fühlen; stadtteilbezogene Initiativen, in denen die Ehrenamtlichen über die lokalen Unterkünfte hinaus stärker auf das Miteinander und Begegnungen in „ihrem“ Stadtteil fokussieren und Nachbarschaften sowie deren Anwohnende adressieren; themenbezogene bzw. auf gesamtstädtischer Ebene agierende Initiativen, die ein Projekt oder Thema unabhängig von konkreten Unterkünften oder Stadtteilen bearbeiten (z. B. Sprachbildung, Mentoring oder Wohnungssuche); sowie darüber hinaus politische Arbeitskreise, die meist als separate Netzwerke von Initiativen oder Freiwilligen entstehen, sowie Expert*innen der politischen Lobbyarbeit, die sich explizit mit Problemen und strukturellen Barrieren für Geflüchtete und die Arbeit von Willkommensinitiativen auseinandersetzen und Lösungen im politischen Prozess einfordern. Auf individueller Ebene diffundieren darüber hinaus viele vor allem informelle Unterstützungsleistungen in den privaten Raum, wenn Ehrenamtliche und geflüchtete Personen oder Familien, die über organisierte Zusammenhänge miteinander bekannt geworden sind, in mal patenschaftsartigen, mal freundschaftlichen Kontakten miteinander verbunden bleiben. Dass der Terminus „Willkommensinitiativen“ in vielen Städten nicht geläufig ist, verdeutlicht bereits, dass diese nicht als homogenes zivilgesellschaftliches Phänomen aufgefasst werden. Insbesondere für einrichtungs- und stadtteilbezogene Initiativen haben sich regional verschiedene Bezeichnungen durchgesetzt: Während im Süden eher von Helferkreisen (in den bayerischen Städten München, Nürnberg oder Augsburg) oder Flüchtlingsfreundeskreisen (in den baden-württembergischen Städten Stuttgart und Freiburg) gesprochen wird, sind „Willkommensinitiativen“ in nördlicheren Städten mit Namen wie „Willkommen in…“ oder „… hilft“ geläufiger. In anderen Städten nennen sie sich auch Nachbarschaftsoder Unterstützerkreise – jedoch fast immer einheitlich in einer Stadt, da sich neue Initiativen dort nach dem Vorbild bereits vorhandener Akteure in anderen Stadtteilen benannten.

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Auch wenn sich die mehr oder weniger starken humanistischen und karitativen Ausgangsmomente in der Namensgebung vieler Initiativen verfestigt haben, hat sich das Engagement der Initiativen fließend den veränderten Bedarfen angepasst – nach der „Normalisierung“ der Unterbringungssituation und Regelversorgung also vor allem auf die alltagsorientierte und fachspezifische Unterstützung fokussiert. Den Kern des Engagements bilden heute in fast allen Städten Angebote zur Sprachbildung, bürokratische oder juristische Unterstützung im Umgang mit Behörden und im Alltag, individuell begleitende Mentoren-, Lotsen- oder Patenprojekte, Kultur- und Begegnungsprojekte oder auch die Unterstützung bei der Suche nach eigenen Wohnungen für Geflüchtete. Entsprechend gibt es verbreitet offene Beratungsangebote oder Begegnungs- und Sprachcafés, Initiativen zur Unterstützung bei der Wohnungssuche und dem Umzug oder Angebote im Bereich der Kultur- und Freizeitgestaltung (vgl. auch Gesemann/Seidel 2019, Schiffauer et al. 2017). Integrative Arbeit dieser Art wird weiterhin stark von Ehrenamtlichen geleistet, im Gegensatz beispielsweise zur Arbeitsmarktintegration, die intensiver von Kommunen und Behörden bearbeitet wird. Darüber hinaus hat die politische Arbeit, beispielsweise die Mitarbeit in lokalen Netzwerken oder die Kommunikation mit Politik und Verwaltung, im Laufe der Zeit an Bedeutung zugenommen. Im wissenschaftlichen Diskurs wird diskutiert, ob es sich bei dem großen Engagement für Geflüchtete mit seinem Höhepunkt um die Jahre 2015 und 2016 um eine neue soziale Bewegung handelt (vgl. Hamann 2017, Karakayali 2017). Für viele Willkommensinitiativen scheint diese Frage längst beantwortet zu sein, denn die große Mehrheit versteht sich selbst als Teil einer sozialen Bewegung (vgl. Gesemann/Seidel 2019: S. 20 f.). Zum zentralen Kern des Selbstverständnisses gehört darüber hinaus der gemeinsame Einsatz mit Gleichgesinnten für Geflüchtete und eine solidarischere Gesellschaft. Dies wird auch in den Zielvorstellungen der Initiativen deutlich, die zum allergrößten Teil „die Gesellschaft mitgestalten [möchten], in der wir zukünftig leben“ (ebd. 21 ff.). Dieser Gestaltungsanspruch ist ein zentrales Moment für Motivation und Selbstverständnis der meisten Willkommensinitiativen. Oft speist er sich – so zeigen auch andere Studien – aus dem Bedürfnis heraus, unsolidarischen, rechten gesellschaftlichen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.

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Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

Selbstverständnis - Wir verstehen uns als… Trifft voll zu

Trifft zu

Teils/teils

Trifft eher nicht zu

Trifft gar nicht zu

Gemeinschaft Gleichgesinnter

73%

Teil einer sozialen Bewegung

69%

Interessenvertreter

59%

Impulsgeber für sozialen Wandel

49%

Sozialer Dienstleister

47%

Akteur politischer Willensbildung

38%

Sozialunternehmen

19% 0%

20%

40%

60%

80%

100%

Abb. 2: Selbstverständnis der befragten Initiativen (N = 137). Die Prozentangaben geben die Summe der zutreffenden Antworten („trifft voll zu“ und „trifft zu“) wider. Fragestellung: Wie würden Sie das Selbstverständnis Ihrer Organisation beschreiben? Wir verstehen uns als… Allgemeine Dynamik und Motivationsentwicklung seit dem Höhepunkt der Bewegung Nach dem chaotischen, oft sogar als „Überversorgung“ beschriebenen Höhepunkt des Engagements in der zweiten Jahreshälfte 2015 ging die Freiwilligenarbeit später wieder quantitativ stark zurück. In den meisten Städten manifestierte sich seit der zweiten Jahreshälfte 2016, spätestens im Jahresverlauf 2017 eine „Erschöpfungsphase“. Die Motive dafür sind vielfältig: Improvisierte Nothilfestrukturen werden überflüssig oder durch Regelstrukturen übernommen, unterkunftsorientierte Initiativen verlieren mit der Schließung von Einrichtungen ihren Bezugspunkt und die Ehrenamtlichen sehen ihre Arbeit als abgeschlossen an und neue Aufgabenfelder erweisen sich insbesondere für karitativ orientierte Freiwillige als

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Alexander Seidel und Frank Gesemann

wenig befriedigend. Besonders verzweifeln oder scheitern viele freiwillig Engagierte aber an wiederkehrenden bürokratischen Hürden, Missständen oder Widerständen in Behörden und Verwaltungen, die für die Freiwilligen schwer verständlich bleiben. Sie sind von persönlichen Rückschlägen wie Abschiebungen bekannter Geflüchteter betroffen, denen sie sich machtlos gegenübersehen und berichten nicht zuletzt über ein „Ausbrennen“ oder „Zermürben“, weil sie sich über lange Zeit in ihrem Engagement übernehmen oder neuen Herausforderungen nicht folgen können. Das Umschlagen anfänglicher Euphorie, der Aufbruchstimmung und des Gebraucht-werdens in eine Art Ohnmacht wird vielerorts als eine große Veränderung dieser Jahre identifiziert: Insbesondere rechtliche Rahmenbedingungen und bürokratische Strukturen, mit denen die Ehrenamtlichen umgehen müssen, aber die sie oft nicht nachvollziehen können und als äußerst integrationshemmend wahrnehmen, sind energie- und zeitraubend, nehmen bei gleichzeitig ausbleibenden Erfolgen einen großen Teil der Arbeitszeit in Beschlag und führen so schließlich zu Frustration und Rückzug. Darin liegt einer der wesentlichen Faktoren für die Schwächung des Engagements, der letztendlich auch dessen Verstetigung gefährdet. Viele Ehrenamtliche, die sich aus Initiativen zurückziehen, bleiben dem Thema aber in anderer, schwer quantifizierbarer Form erhalten: Sie pflegen beispielsweise auf individueller Ebene „unterhalb des Radars“ Beziehungen oder informelle „Patenschaften“ zu Geflüchteten, treten im persönlichen Umfeld oder öffentlich für die Interessen und Rechte von Geflüchteten ein oder orientieren sich beruflich in diesem Feld. Gleichzeitig sind die allgegenwärtigen Barrieren für viele Willkommensinitiativen, je nach Selbstverständnis, zunehmend aber auch zu einer Triebfeder ihres Engagements geworden. Vor allem für eher politisch orientierte Initiativen gehören sie zur zentralen Motivation, um Ursachen und Prozesse, die den identifizierten Problemen zugrunde liegen, in Frage zu stellen und auf ihre Veränderung hinzuwirken. „Fehlende Wohnungen, restriktive Gesetze, rechtswidrige Entscheidungen, ertrinkende Menschen im Mittelmeer, fehlender Familiennachzug… sind Hindernisse für die Integration, nicht aber Hindernisse, sondern vielmehr gerade auch Grund für unser Engagement“ (Willkommen im Westend – Bündnis zur Unterstützung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Charlottenburg, Berlin).

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

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Zwar zeigt sich mit dem Rückgang in der Breite des Engagements zunehmend eine gewisse Fragilität der dezentralen Unterstützungsstrukturen – vor allem, wenn sich aktive, mit hohem Sozialkapital ausgestattete Einzelpersonen zurückziehen. Unter den stark engagierten, exponierten, oft nur wenigen „Führungspersönlichkeiten“ der meisten Initiativen bleibt das Engagement jedoch insgesamt relativ stabil, auch mangelt es nicht an neuen Aufgaben und Projektideen. Ein wesentlicher Teil der Strukturen und Gruppen, die sich über die anfängliche „Nothilfe“ hinaus entwickelt haben, bleibt damit eher resilient: Während das breite Engagement um den „harten Kern“ herum abgeschmolzen ist, setzen viele Zusammenschlüsse ihre Arbeit kontinuierlich und aktiv fort, wenn auch mit reduzierter Kraft. Insgesamt lässt sich diese Entwicklung als „Normalisierung“ bewerten, parallel zur Abnahme der Zahlen ankommender Geflüchteter sowie des öffentlichen Interesses an ihrer Unterstützung. Auf diesem normalisierten Niveau gelingt es weiterhin, Ehrenamtliche zu finden, auch wenn der Bedarf nun das Interesse übersteigt. Ehrenamtsorganisationen bewerten das Engagement im Bereich Flüchtlingsunterstützung weiterhin als spürbar stärker ausgeprägt als in anderen sozialen Engagementbereichen wie Kinder, Jugend oder Pflege. Als positive Entwicklung des Engagements kann festgehalten werden, dass sich Geflüchtete zunehmend selbst als Freiwillige engagieren – motiviert durch absinkende Sprachbarrieren sowie den Wunsch nach sozialen Kontakten über die eigene Community hinaus. Insgesamt bleibt dieser Anteil aber weiterhin eher niedrig und der paternalistische Charakter der Flüchtlingsunterstützung an vielen Stellen weiter prägend. Die Reflektion über die eigenen Motive der „Hilfe“ und ein Abgleich eigener Erwartungen mit den tatsächlichen Bedürfnissen von Geflüchteten werden aber auch in bürgerlich geprägten Initiativen zunehmend thematisiert.

3

Pfade der Institutionalisierung und Professionalisierung von Willkommensinitiativen

Trotz des Rückgangs des Engagements in der Breite und weitgehend verschwundener öffentlicher Aufmerksamkeit ist klar zu erkennen, dass es sich bei dem Engagement für Geflüchtete dieser Jahre um ein Phänomen handelt, welches trotz veränderter bzw. normalisierter Ausgangsbedingungen nicht einfach wieder verschwindet, sondern dauerhaften Einfluss auf die zivilgesellschaftliche Landschaft

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Alexander Seidel und Frank Gesemann

– nicht nur in der Flüchtlingsunterstützung – und politische Prozesse und Strukturen in den Kommunen hinterlässt. Die beobachtbaren Verstetigungsdynamiken der neueren Willkommensinitiativen erinnern an den zivilgesellschaftlichen Aufbruch im Flüchtlings- und Asylbereich Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, aus dem Strukturen hervorgingen, die heute bundesweit (wie Pro Asyl oder die Flüchtlingsräte) oder auf kommunaler Ebene fest verankert sind (wie in Augsburg, wo der 1992 gegründete Verein Tür an Tür heute als zentraler Träger mit 60 hauptamtlichen Mitarbeiter*innen und vielen Freiwilligenprojekten den Engagement- und Flüchtlingsbereich abdeckt). Die Verstetigung der Initiativen eröffnet dabei nicht nur nachhaltige Handlungsperspektiven, sondern geht auch mit neuen Herausforderungen für das eigene Selbstverständnis und die innere Handlungslogik der Initiativen einher. Willkommensinitiativen waren zu Beginn überwiegend spontane und informelle Zusammenschlüsse zum Zweck der solidarischen Unterstützung von Geflüchteten, die darüber hinaus keiner festgeschriebenen Agenda folgten. Angesichts der prekären Situation der meisten Geflüchteten und der staatlichen Aufnahme- und Versorgungsstrukturen war es völlig nebensächlich, sich Gedanken über die eigene Organisationsstruktur, Formalia oder eine Satzung zu machen. Die starken Veränderungen, sowohl bei den Bedarfen der Geflüchteten, der Motivation der Engagierten als auch den strukturellen Rahmenbedingungen, haben später aber flächendeckende Prozesse der Institutionalisierung und Professionalisierung angestoßen, wobei verschiedene Stufen und Pfade sichtbar werden, die im Folgenden skizziert werden sollen. Zunächst gingen viele Initiativen dazu über, einen Verein zu gründen, überwiegend mit dem Zweck, Spenden oder Fördermittel direkt annehmen zu können. Damit einher geht ein interner Aushandlungsprozess innerhalb der Mitgliederschaft über gemeinsame Interessen, Ziele und Verantwortlichkeiten, die über die ursprüngliche direkte Unterstützung von Geflüchteten hinausgehen: Wie soll sich die Initiative in Zukunft aufstellen, mit wem möchte sie zusammenarbeiten? Wie konfrontativ tritt sie gegenüber Politik und Verwaltung auf? Nicht selten manifestierten sich dabei Konflikte innerhalb der Initiative, die zum Rückzug von Ehrenamtlichen bis hin zum Zusammenbruch der ganzen Organisation führten. Aus Angst davor, aber auch vor den bürokratischen Aufgaben und der damit verbundenen Kräfteabsorption, oder schlicht, weil keine Notwendigkeit bestand, haben

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viele Initiativen auf diesen Schritt verzichtet, was zunächst keinen Hinderungsgrund darstellt, eine nachhaltige Arbeit zu entwickeln. Quantitativ hält sich das Verhältnis zwischen in diesem Sinne informellen und institutionalisierten Initiativen etwa die Waage. Die Initiativen haben mit der Zeit große Wissensbestände aufgebaut und untereinander ausgetauscht. Dazu gehört, dass sich in den Initiativen insbesondere in fachlichen Fragen rund um Asylverfahren oder andere rechtliche Bereiche Expert*innen herausgebildet haben, die hauptamtlich damit befassten Akteuren in ihrer Expertise nicht nachstehen bzw. diese sogar übertreffen. Dieses Wissen umfasst auch die Funktionsweise bürokratischer und politischer Prozesse, Kontaktmöglichkeiten zu Entscheidungsträgern, organisatorische Fähigkeiten oder auch soziale und interkulturelle Kompetenzen. Mit diesem Wissen wurden die Grundlagen „professionellen“ Arbeitens gelegt, um eine stabile und nachhaltige Arbeit zu ermöglichen. „Da sind Leute, die haben die dicksten Telefonbücher im Land. Die haben Nummern, z. B. von Staatssekretären, die habe ich nicht, da komme ich gar nicht ran. Sie sind so gut, die wissen schon, wen sie bei einem Anliegen kontaktieren müssen, welchen Knopf sie drücken müssen, um vielleicht eine Abkürzung zu nehmen oder überhaupt einen Weg bestreiten zu können“ (Christine Grote, Koordination Flüchtlingsfragen, stellv. Integrationsbeauftragte im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf).

Institutionalisierung und Professionalisierung von Initiativen zu „neuen“ sozialen Trägern Auch wenn die Landschaft der Willkommensinitiativen in großen Teilen weiterhin einen informellen bottom-up-Charakter trägt, haben sich einige Initiativen weit über eine Vereinsgründung hinaus als „neue Träger“ professionalisiert und arbeiten in enger Kooperation mit den Kommunen und angebunden an staatliche Regelstrukturen weiter. Ein überraschend großer Anteil von Initiativen konnte für ihre Arbeit (meist kleinere) vergütete Stellen schaffen, sodass ein Teil der zuvor ehrenamtlich geleisteten Arbeit in Hauptamtlichkeit übergeht – bei den von uns befragten Willkommensinitiativen aus ganz Deutschland betrug dieser Anteil über 40 Prozent (Gesemann/Seidel 2019: 15 f.). Die bezahlten Mitarbeiter*innen kümmern sich um die Verwaltung und Koordination von Angeboten, die Netzwerkpflege oder weiten den Aktionsradius der Initiative aus. Finanziert wird diese Ar-

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beit zumeist über befristete Projektmittel von kommunalen Stellen oder aus Stiftungen. Diese Initiativen fungieren als soziale Dienstleister für die Kommune und schließen zum Teil feste Leistungs- und Kooperationsvereinbarungen. Seltener entwickelt sich ein sozialunternehmerisches Selbstverständnis. Willkommensinitiativen entwickeln sich auf diesem Pfad zu öffentlich anerkannten Trägerstrukturen für gemeinnützige Arbeit. Dazu beigetragen haben die im Zuge der hohen Zuwanderung von Geflüchteten neu entstandenen Fördermöglichkeiten, wodurch Stellen geschaffen werden konnten; einige Kommunen haben auch erkannt, dass die Initiativen durch ihre Expertise und konstante, verlässliche Arbeit prädestiniert dazu sind, direkt in die kommunale Leistungserbringung eingebunden zu werden. Sowohl hier als auch über die Schaffung neuer Stellen im öffentlichen und privaten Wohlfahrtssektor, die teils mit zuvor ehrenamtlich Aktiven besetzt wurden, sind Engagierte aus Willkommensinitiativen in hauptamtliche Strukturen quereingestiegen. Ihre spezifische Motivation und Innovationskraft schaffen teils bis tief in den Verwaltungsapparat hinein neue Möglichkeiten, auch wenn ihnen strukturelle Grenzen gesetzt sind, die sich oft nur schwer verschieben lassen. Verbreitet kritisieren neuere Initiativen jedoch auch Schwierigkeiten, sich „am Kuchen der Hauptamtlichen“, vor allem der alteingesessenen Träger und Wohlfahrtsverbände, zu beteiligen. Sie bemängeln einen Wettbewerbsdruck, der einem gemeinsamen Handeln zum Wohl der Geflüchteten im Wege steht, sowie dass Anforderungen und Rahmenbedingungen an etablierte Träger angepasst sind, während die Arbeit der Ehrenamtlichen als „unprofessionell“ dargestellt werde. Sie kritisieren dabei ein verbreitetes Professionalitätsverständnis, welches sich stark daran orientiere, ob jemand hauptamtlich in einem Bereich arbeite bzw. etabliert sei oder nicht. Stattdessen sollte Professionalität am tatsächlichen Wissen gemessen werden und daran, wie passend, kompetent und zielgerichtet ein Akteur arbeitet. Öffnung der Angebote für andere Zielgruppen und in die Nachbarschaft Die hohe Aufmerksamkeit, die den Themen Flucht und Migration sowohl gesellschaftlich wie politisch seit dem Jahr 2015 zukam, ermöglichte vielfach eine Fortentwicklung und Ausweitung von integrativen Strukturen und Angeboten sozialer Unterstützung, von denen neben Geflüchteten auch andere Zielgruppen profitieren können. Sowohl auf kommunaler wie zivilgesellschaftlicher Ebene hat hier eine

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Öffnung eingesetzt, damit andere Zielgruppen wie Migrant*innen im Allgemeinen oder sozial Benachteiligte von diesen Strukturen und Angeboten profitieren können. Dazu gehört, dass Angebote für Geflüchtete vermehrt mit generellen Strukturen für Zugewanderte verknüpft werden und sich in übergreifenden Zuwanderungsnetzwerken vereinigen. Auch viele zivilgesellschaftliche Initiativen, deren Fokus zunächst auf Geflüchteten lag, öffnen sich für andere Bedürftige: Kleiderkammern oder Wohnungsvermittlungen unterstützen beispielsweise auch wohnungslose Menschen und Hartz IV-Empfänger*innen. Motivierend wirken dabei nicht nur die entsprechenden Bedürfnislagen, sondern auch der Gedanke, sozialen Neiddebatten zu begegnen. Auch die Nachbarschaft wird vermehrt als Zielgruppe entdeckt und eingebunden. In Städten mit einer etablierten Struktur von Nachbarschafts- und Stadtteilzentren konnten diese für einige Initiativen einen Ankerpunkt des Engagements darstellen, zunächst durch die Unterstützung mit Ressourcen und die Nutzung von Räumlichkeiten, später in manchen Fällen durch dauerhaftes Andocken an solche Einrichtungen und die Einbindung in die Nachbarschaftsarbeit. Der Fokus rückt dabei stärker auf ein Zusammenbringen von alteingesessenen und neuzugewanderten Gruppen. Anderenorts haben sich aus Willkommensinitiativen selbst nachbarschafts- und quartiersorientierte Ansätze entwickelt, die über die Arbeit mit Geflüchteten hinaus die Nachbarschaft und den Zusammenhalt vor Ort in den Blick nehmen, um ein integratives Umfeld zu stärken. Das Fallbeispiel des Berliner Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf zeigt eindrücklich, wie Willkommensinitiativen einen übergreifenden Blick auf „ihren“ Sozialraum entwickeln und selbst zu neuen Nachbarschaftsakteuren werden, die das lokale soziale Miteinander und eine integrative Stadtteilarbeit für alle Menschen im Quartier in den Fokus nehmen. Mit den Projekten Ulme 35 – Raum für Kunst, Kultur & Begegnung (Interkulturanstalten Westend e.V.) und dem Haus der Nachbarschafft (nachbarschafft e.V.) haben hier gleich zwei Willkommensinitiativen einen neuen professionellen Nukleus nachhaltiger Arbeit im Nachbarschaftskontext gefunden. Das Projekt Ulme 35/Interkulturanstalten (vgl. auch Gesemann et al. 2017, Beck 2019) befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete im von Villen geprägten, sozialräumlich eher privilegierten Ortsteil Westend. Die Initiative, getragen von einer Kerngruppe aus dem Umfeld der Initiative Willkommen im Westend, konnte erreichen, dass die Stadt bzw. das Berliner Immobilienmanagement ihr eine seit 15

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Alexander Seidel und Frank Gesemann

Jahren leerstehende Villa zur Nutzung überlassen hat. Täglich finden hier Lerngruppen und Beratungsangebote statt, genauso gibt es kulturelle Events oder eine Holz- und Kreativwerkstatt. Die Angebote richten sich an Geflüchtete und Anwohnende, wobei letztere die Wiedernutzung der Immobilie nach langem Leerstand zum Teil als „Rückeroberung“ für die Nachbarschaft empfinden. Mit dem Haus der Nachbarschafft hat sich im angrenzenden Ortsteil Wilmersdorf inzwischen ein zweites Projekt mit auffälligen Parallelen etabliert. Es ist ein Begegnungsort, der direkt aus der Willkommensinitiative Freiwillige helfen im Rathaus Wilmersdorf hervorgegangen ist. Nachdem die Notunterkunft, an der sich die Initiative engagierte, geschlossen wurde, stellte sich für ihre Mitglieder die Frage nach dem weiteren Engagement. Zeitgleich strebte auch der Bezirk an, Ehrenamtliche für ein größeres integratives zivilgesellschaftliches Projekt mit sozialraumorientierter Ausrichtung zu gewinnen. Daraus entstand die Idee für ein nachbarschafts- und begegnungsorientiertes Projekt. Der Bezirk unterstützte die Initiative dabei, ein entsprechendes Nutzungskonzept für ein bis dahin leerstehendes Gebäude zu entwickeln und hielt sie an, sich für die Nutzung der bezirkseigenen Immobilie zu bewerben. Das neue Konzept der Initiative wurde weit über Angebote für Geflüchtete hinaus ausgedehnt und orientiert sich heute am Anspruch, einen Raum für nicht-kommerzielle Angebote für alle Menschen aus der Umgebung zu schaffen. Im Oktober 2017 erhielt der Verein vom Bezirksamt den Zuschlag für die Nutzung des Gebäudes. Seither werden im Haus eine Bildungs- und Jobberatung, Nachhilfestunden und Sprachunterricht angeboten sowie zahlreiche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, von Schach spielen über Tanzveranstaltungen bis hin zum Gärtnern. Im Haus wurde u.a. eine Näh- und Textilwerkstatt eingerichtet. Auch andere Akteure aus der Nachbarschaft können den Ort nutzen, z. B. eine Kirchengemeinde und eine Bürgerinitiative. Obwohl der Verein weiterhin mit einer Unterkunft für Geflüchtete kooperiert, stellen Geflüchtete nur noch einen kleinen Teil der Nutzer*innen dar. Beide Nachbarschaftsinitiativen profitierten nicht nur vom vergleichsweise hohen sozialen Kapital ihrer Mitglieder, dass es ihnen erleichterte, Projekte dieser Größenordnung erfolgreich umzusetzen. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor war auch ein klar erkennbares Bewusstsein in Politik und Verwaltung des Stadtbezirks, dass es für die Aufrechterhaltung des Engagements Projekte dieser Art bedarf und diese entsprechend unterstützt und gefördert werden müssen, sodass beide jährlich mit je etwa 100.000 Euro aus dem bezirklichen Integrationsfonds gefördert werden.

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Politisierung und die Entstehung stadtweiter politischer Netzwerke Während die Solidarität und Unterstützung von Geflüchteten in früheren, insbesondere den 1990er und 2000er Jahren ihren Ursprung in antirassistischen und politisch-aktivistischen Bewegungen hatte und damit ein politisches Selbstverständnis implizierte, entsprang die Flüchtlingssolidarität in Folge der Ereignisse um das Jahr 2015 zu großen Teilen einem karitativen Moment und wird stark von der bürgerlichen Mittelschicht getragen. Zwar sind vor allem einige öffentlich exponierte Willkommensinitiativen von alten sozialen Bewegungsmilieus mitgeprägt, in der Breite der Bewegung ging die Unterstützung von Geflüchteten zunächst aber nicht mit einem politischen Selbstverständnis einher, das darauf abzielt, in größerem Maße auf Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einzuwirken und Verantwortliche für Missstände zu adressieren. Ein solches politisches Selbstverständnis hat sich jedoch in vielen Fällen schnell herausgebildet, denn weil „viele der Freiwilligen einen bürgerlichen Hintergrund haben […], erleben sie durch ihr Engagement, manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben, welcher strukturellen Gewalt Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Wohlfahrtssystem ausgesetzt sind. […] Diese Erfahrungen haben, so scheint es, bei einem Teil der deutschen Mittelschichten ein Bewusstsein über institutionellen Rassismus geschaffen und bieten daher Chancen für neue Solidaritätsbündnisse“ (Karakayali 2017: 20). „Am Anfang hat man sich ja zurückgehalten mit irgendwelcher Politik. Man hat gesagt, wir wollen den Leuten, die jetzt hier vor der Haustür sind, helfen. Und jetzt hat man denen geholfen und gemerkt, die Gesetze sind aber irgendwie nicht so passend. Der hat sich jetzt bemüht, dem haben wir noch geholfen, Deutsch zu lernen und dann heißt es: Ja, aber eigentlich wollen wir dich gar nicht und du hättest jetzt zwar eine Arbeitsstelle und der Arbeitgeber will dich haben, aber du darfst nicht, weil du nicht anerkannt bist. Dann kam auch noch dieser Umschwung, AfD, mehr rechte Töne, dass öfter gesagt wurde, Flüchtlinge müssen raus. Und viele sagen dann: Wir müssen jetzt politischer werden. Wir müssen jetzt öfter unsere Stimme erheben, damit nicht nur die eine Seite gehört wird, sondern wir auch“ (Christina Brock, Koordinatorin des Helferkreises Langwasser, Vorsitzende des Bürgervereins Langwasser, Nürnberg).

Auf organisatorischer Ebene zieht diese Politisierung vor allem in größeren Städten die Entstehung politischer Netzwerke nach sich. Auf lokaler Ebene haben sich

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in vielen Städten formelle Vernetzungs- und Dachstrukturen von Willkommensinitiativen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren der Flüchtlingshilfe institutionalisiert, welche sich explizit als politisch verstehen. Zum Teil sind diese eigenständig von den Initiativen initiiert worden, zum Teil angeregt durch die Kommunen, die sich einen zentralen Ansprechpartner auf zivilgesellschaftlicher Seite wünschen. Vor allem in den Großstädten ist auffällig, dass sich zumeist ein großer, eigenständiger und politisch agierender Arbeitskreis herausgebildet hat. Beispiele dafür sind der Arbeitskreis Politik der Willkommensinitiativen in Köln, das Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen (BHFI), der Politische Arbeitskreis der Helferkreise in Nürnberg oder das Netzwerk Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe in Dortmund. Politische Arbeitskreise wie diese verstehen sich als Wissensplattform, Forum des Austauschs und Vertretung bzw. „Stimmrohr“ der Initiativen gegenüber Politik und Öffentlichkeit – zumindest derjenigen Initiativen, die sich von ihnen vertreten lassen wollen. Sie dienen den zivilgesellschaftlichen Akteuren, sich an politischen Prozessen rund um das Thema Flucht und Integration zu beteiligen und Forderungen an Verantwortliche zu formulieren. Zumeist werden sie auch von politischer Seite als Ansprechpartner gesucht und in flüchtlingsrelevanten Anliegen konsultiert. Durch solche Einbindungen in politische Entscheidungsprozesse oder kommunale Programme nehmen sie teils den Charakter von formalen Beteiligungsgremien an. So werden Initiativenvertreter*innen zu kommunalen und hauptamtlichen Runden Tischen eingeladen oder in die Erarbeitung von Leitlinien einbezogen. Andersherum nehmen städtische Mitarbeitende und andere Entscheidungsträger*innen an den Initiativenplena teil, um zu bestimmten Themen zu berichten bzw. zu aktuellen Fragestellungen Stellung zu beziehen. Aus einem festen Austausch des Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen mit der Hamburger Sozialbehörde und dem kommunalen Zentralen Koordinierungsstab Flüchtlinge konnte das Initiativennetzwerk mit der Einrichtung einer kommunalen Ombudsstelle zur Vermittlung in Konfliktfällen zwischen Geflüchteten oder Ehrenamtlichen einerseits und Behörden andererseits bereits frühzeitig eine wichtige Zielsetzung der Initiativen erreichen. Das Netzwerk Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe in Dortmund sollte zuletzt intensiver in die städtische Fachgruppen- und Koordinationsarbeit einbezogen werden. Während diese lokale Netzwerkarbeit für die meisten Initiativen ein wesentliches Element darstellt, halten sich die überlokalen Vernetzungsbemühungen der

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Initiativen dagegen eher in Grenzen, denn die Akteure befürchten (oder leiten zum Teil aus Erfahrungen ab), dass darüber viele Kräfte gebunden werden, ohne einen spürbaren Nutzen oder eine dauerhafte, wirksame Perspektive zu liefern. Vernetzungen und Austausch über Stadtgrenzen hinweg auf regionaler, Landes- oder Bundesebene sind folglich kaum sichtbar – auch bundesweite Vernetzungsversuche blieben bisher u. a. aufgrund der hohen zusätzlichen Arbeitsbelastung und der Diversität der Akteure erfolglos.

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Zivilgesellschaftliche Willkommensinitiativen im Spannungsfeld zwischen Koproduzenten und Kritikern staatlichen Handelns

Auch wenn um den Begriff der „Zivilgesellschaft“ nach wie vor breite wissenschaftliche Debatten geführt werden, ist doch unbestritten, dass sich die Sphäre des Zivilgesellschaftlichen jenseits der des Markts und des Staates erstreckt (Grande 2018, Ebertz et al. 2019). Damit ist verbunden, dass zivilgesellschaftliche Organisationen einer eigenen Logik folgen, die – im Gegensatz zu staatlichem und ökonomischem Handeln – ihrem selbstorganisierten, auf gemeinschaftliches Wohl fokussierten sozialen Handeln entspringt (Evers 1990). Dennoch können Zivilgesellschaft, Markt und Staat nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern bilden vielmehr ein gegenseitiges Abhängigkeits- und Aushandlungsgeflecht und gehen in einigen Bereichen eng ineinander über. Auch Willkommensinitiativen geraten hierbei – wie alle neu entstandenen Träger und Dienstleistungserbringer, die informell entstanden sind – in ein Spannungsfeld zwischen einer Rolle als selbstorganisierte, „zivile“ Assoziationen auf der einen und einem sozialstaatlichen oder privaten Dienstleister auf der anderen Seite; nehmen sie die Form von Sozialunternehmen an, kommt der Einfluss ökonomischer Logiken noch hinzu. Für eine erfolgreiche Arbeit von ehrenamtlichen Willkommensinitiativen ist es essenziell, staatliche Anerkennung, vor allem aber auch Unterstützung zu erfahren. Die bereits skizzierten Prozesse zeigen, dass nachhaltige Verstetigung zivilgesellschaftlicher Strukturen – bei vorhandenem Willen – politisch unterstützt und damit gestärkt werden kann. Zivilgesellschaftliche Akteure agieren häufig im oder am Kernbereich staatlicher Aufgaben und unterstützen formelle Integrationsbemühungen durch ihre eigenen Innovationen – verweisen aber auch regelmäßig auf

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Alexander Seidel und Frank Gesemann

die Gefahr, zur kostengünstigen Aufrechterhaltung unterausgestatteter öffentlicher Infrastrukturen instrumentalisiert zu werden. Nicht zuletzt fungieren sie als integrations- und einwanderungspolitisches Korrektiv, welches Missstände und Lösungsansätze aufzeigt. Eine entsprechende Wahrnehmung von zivilgesellschaftlichen Initiativen als kritischer Innovationsgenerator wäre dementsprechend nicht nur ein Gewinn für die Willkommensinitiativen selbst, sondern vor allem eine Notwendigkeit im Sinne gelingender Governance. Oft ist die politisch-administrative Rollenzuschreibung jedoch von einer Gegensätzlichkeit zwischen der Wahrnehmung von Willkommensinitiativen als gern gesehenen Integrationsunterstützern auf der einen und unbequemen Kritikern auf der anderen Seite geprägt, die als parteiische Unterstützer die Interessen von Geflüchteten in den Vordergrund rücken und meist auch bereit sind, sich dafür politisch einzusetzen. Angebote der Initiativen werden wohlwollend aufgenommen, Kritik auf politischer Ebene wird dagegen zurückgewiesen und substanzielle Partizipation vermieden. Wenn „sich Bürger […] gegen die Abschiebung von Asylbewerbern oder Geduldeten [wehren], dann erscheint Bürgerbeteiligung in der Verwaltungslogik als lästig“ (Aumüller et al. 2015: 99; vgl. auch Speth/Becker 2016: 1-22). Dabei ist zwischen verschiedenen politischen Ebenen zu unterscheiden, die zum Adressaten politischer Kritik „von unten“ werden. Vorrangig richtet sich diese gegen Probleme wie die Unterbringungssituation von Geflüchteten, restriktive Teile der Asylgesetzgebung und deren Vollstreckung sowie strukturelle Mängel in Verwaltungs- und Behördenabläufen, also insbesondere auf den Kompetenzbereich der Bundes- und Landesebene und entsprechender Behörden sowie die Arbeit von Trägern von Flüchtlingsunterkünften. Die kommunale Ebene – wo Integration und gesellschaftliches Zusammenleben zu Lebenswirklichkeit werden und entsprechende reale Erfahrungen entstehen, und wo staatlich-zivilgesellschaftliche Koproduktion ihren Boden findet – gerät hier in einen Zwiespalt zwischen einem „Partner für die Einen [Initiativen] und eben auch genau diesem Systemträger für die Anderen“.2 Gleichzeitig steht für die tatsächliche Ausgestaltung der Koproduktion zwischen staatlichen Akteuren und neueren lokalen Willkommensinitiativen im Themenfeld Migration und Integration genau diese kommu-

2 Aussage einer Vertreterin eines Wohlfahrtsverbands in einer Gruppendiskussion mit Haupt- und Ehrenamtlichen in Freiburg im Breisgau.

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

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nale Ebene im Fokus. Spezifische lokalpolitische Strukturen, Kulturen und Ansätze prägen nachhaltig die Entwicklungs- und Verstetigungsmöglichkeiten lokalen Engagements für Geflüchtete. Wie sich die Kommunen gegenüber dem neuen Engagement aufstellen Zunächst heben vor allem Großstädte als Stärke hervor, dass Integration schon vor der hohen Zuwanderung von Geflüchteten ein bedeutendes kommunales Handlungsfeld war – mit kommunalen Beauftragten und/oder Fachstellen, Integrationsnetzwerken und kooperativen Strukturen zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft –, was das Andocken von Ehrenamtlichen erleichtert hat. In kleineren Städten, in ostdeutschen Bundesländern teilweise auch in Großstädten, hat die Bedeutung des Themas Integration durch den neuen Zuzug von Geflüchteten dagegen stark zugenommen. Auf Basis der Erfahrungen der letzten Jahre haben die Kommunen Integrationskonzepte initiiert bzw. angepasst und überarbeitet sowie mit einem erweiterten Integrationsverständnis unterlegt: Nicht mehr Integration von Teilgruppen, sondern Integration als sozialer Zusammenhalt und gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist das Ziel. Die Thematik hat sich als Querschnittsaufgabe durchgesetzt, was sich in der Praxis auch in der Einbeziehung von Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichen Hintergründen und damit Kompetenzen, Erfahrungen und Zugängen zeigt (vgl. Gesemann/Roth 2017). Kommunen erachten Willkommensinitiativen überwiegend als wertvolle Ressource: Nicht nur für die integrative Unterstützung von Geflüchteten, sondern darüber hinaus in einer Doppelrolle auch als „Botschafter in die Gesellschaft“: „Ehrenamtliche sind diejenigen, die positiv mit dem Thema umgehen und ihren Freunden oder Kollegen die Geschichten erzählen können wie Integration funktioniert“ (Uli Glaser, Stabsstelle „Bürgerschaftliches Engagement und 'Corporate Citizenship'“ der Stadt Nürnberg).

Durch solche positiven Besetzungen spielen die Ehrenamtlichen eine wichtige Rolle für die Atmosphäre in der Stadt und Gesellschaft. Ebenso wird erwartet, dass die Ehrenamtlichen durch ihren Einblick ein Verständnis für komplexe kommunale und politische Strukturen entwickeln und auch einzuschätzen lernen, welche Umsetzbarkeitsmöglichkeiten bzw. -probleme mit ihren Ideen verbunden sind. Durch die Weitervermittlung dieses Wissens werden sie zu kompetenten Vermittler*innen zwischen Administration und (Zivil-) Gesellschaft.

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Alexander Seidel und Frank Gesemann

Die Städte und Kommunen selbst decken hinsichtlich der Unterstützung des Engagements für Geflüchtete insbesondere die folgenden Bedarfe ab: ƒ Verbreitung von und Zugang zu Informationen für Ehrenamtliche und Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Initiativen. Gemeinsame formelle Gremien wie Runde Tische und die Einbindung in politische Arbeitsstrukturen tragen dazu ebenso bei wie klar benannte, niedrigschwellige bzw. für Ehrenamtliche zugängliche Ansprechpersonen und ein transparentes kommunales Selbstbewusstsein als aktiver „Sender“ von Informationen (z. B. Newsletter als Bündelung von aktuellen Informationen und Entwicklungen und Ähnliches mit hoher Reichweite). Die Kommune kann Institutionen und Behörden darüber hinaus dazu bewegen, sich direkt (z. B. in Veranstaltungen und Netzwerktreffen) mit Ehrenamtlichen und ihren Anliegen auseinandersetzen zu müssen. ƒ Koordination, Organisation und Vernetzung bestehender Strukturen, beispielsweise durch die Finanzierung von Stellen für oder bei Initiativen zur Koordination, Geschäftsführung oder Angebotsentwicklung oder durch organisatorische Unterstützung stadtweiter Initiativentreffen. Die Kommune behält dabei den Überblick über und einen Zugang zu den Akteuren, ihren Angeboten oder Zielgruppen und kann zur Ergänzung fehlender Angebote anregen. ƒ Angebot von Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen, Supervision etc. für Ehrenamtliche. Ehrenamtsunterstützung kann hier beim Aufbau von speziellen, beispielsweise juristischen oder interkulturellen Kompetenzen, Wissen über bürokratische und organisatorische Prozesse oder professionelle Arbeitsweisen helfen sowie durch Supervision und die Anregung zur Reflektion eigener Bedürfnisse und Grenzen verhindern, dass sich Ehrenamtliche dauerhaft übernehmen und ausbrennen. ƒ Einrichtung von Ansprechpartner*innen oder vermittelnden Stellen als institutionalisierte Form des Umgangs mit Problemen und zur Schlichtung von Konflikten zwischen Ehrenamtlichen, Unterkünften, Politik/Verwaltung und Behörden. ƒ Kommunen können selbst strukturbildend wirken, um freiwillig Engagierte für die Unterstützung von Geflüchteten zu gewinnen, insbesondere in Bereichen, in denen ein nicht abgedeckter Bedarf identifiziert wird. Hier ergeben sich Spannungspotenziale gegenüber selbstinitiierten Willkommensinitiativen, wenn von ihnen entwickelte und umgesetzte Ideen „kopiert“ werden oder Konkurrenzsituationen entstehen.

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

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An kommunalen Stellen für die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen mangelt es heute an den meisten Orten nicht mehr. In der Ehrenamtskoordination und -kooperation ein richtiges Maß zwischen institutioneller „Unterstützung“ und „Steuerung“ von Akteuren zu finden, die entsprechend ihrer zivilgesellschaftlichen Eigenlogik weder gesteuert werden wollen noch gesteuert werden sollten, ist jedoch eine Herausforderung, die zukünftig zu Konflikten führen könnte. In der Vergangenheit blieben die sich daraus ergebenden Spannungen zwischen Initiativen und Kommunen begrenzt, da konkrete gemeinsame Ziele (z. B. die Umsetzung oder Stärkung konkreter Angebote) überwogen. Ansprüche und Interessen von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sind dennoch nicht immer deckungsgleich. Vor allem in Großstädten wird deutlich, dass sich die Möglichkeiten der Mitgestaltung und Einflussnahme für zivilgesellschaftliche Akteure nach der Phase administrativer Überforderung und Improvisation wieder reduziert haben. In der Zeit um 2015, als Verwaltungen vielerorts überfordert waren, eröffneten sich zeitweise besondere Zugänge, die mit Einflussmöglichkeiten auch in angrenzenden Politikfeldern wie der Stadtentwicklung sowie mit Öffnungs- und Veränderungsprozessen auf Seiten von Kommunalverwaltung und -politik einhergingen. Inzwischen, nach Normalisierung der bürokratischen Abläufe und Abnahme der öffentlichen Aufmerksamkeit, haben sich viele Zugänge wieder verschlossen (vgl. Gesemann et al. 2017). Auch ist in manchen Fällen zu beobachten, dass sich die zunächst noch jungen Koordinations- und Kooperationsstrukturen nach den ersten Jahren abnutzen, an Dynamik verlieren, bzw. wieder auf etablierte, hauptamtliche Akteure ausrichten. Aus vielen anderen Städten berichten Initiativen aber auch, dass sich inzwischen eine aus ihrer Sicht gute Kommunikation und Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und Kommune etabliert hat, auch wenn dies für einige Initiativen mit langer Überzeugungsarbeit verbunden war. Die dadurch geschaffenen Verbindlichkeiten oder die Herstellung transparenter und demokratischer Prozesse unterscheiden sich dabei von Fall zu Fall. Eine wiederkehrende Beobachtung ist, dass eine enge und positive Kooperation zwischen Kommunen und Willkommensinitiativen geographisch in kleineren Kommunen (in Mittelstädten oder kleineren Großstädten) mit ihren „kurzen Wegen“ begünstigt wird. Die Akteurslandschaft bleibt hier übersichtlich strukturiert: „Man kennt sich“ und es herrscht meist ein kooperatives und harmonisches Klima mit vergleichsweise wenigen Konflikten. Bei Problemen oder unbeachteten An-

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liegen kennen beide Seiten entsprechende Ansprechpartner, die ebenso wie Zuständigkeiten klar und verlässlich benannt sind. „Verwaltung und Behörden nehmen sich auch mal die Zeit für Einzelfälle“ (Niklas Kildentoft, Flüchtlingshilfe Flensburg). Auch unsere quantitativen Befragungsergebnisse zeigen, dass Konflikte zwischen Willkommensinitiativen und staatlichen Akteuren mit zunehmender Stadtgröße deutlich häufiger auftreten: Während von den befragten Initiativen aus kleineren Großstädten lediglich sechs Prozent von häufigen Problemen in der Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung und zehn Prozent von häufigen Problemen im Verhältnis zu Ämtern und Behörden berichten, sind es unter den Initiativen in den vier deutschen Millionenstädten 26 bzw. 39 Prozent und damit etwa viermal so viele (vgl. Gesemann/Seidel 2019: 25, siehe auch Abb. 3). Insgesamt gibt es aber keine einheitliche Antwort darauf, ob Kommunen und Willkommensinitiativen eher an einem Strang ziehen (z. B. gemeinsam „gegen das Land“) oder sich strukturell eher konflikthaft gegenüberstehen. Diese Frage führt auf die eingangs erwähnte Stellung der Kommune zwischen realer Lebenswelt- und Politikgestaltung auf der einen Seite und „Systemträger“ auf der anderen Seite zurück: Zum einen werden auf kommunaler Ebene eigene Erfahrungen gesammelt und Strukturprobleme sichtbar, für die „postfaktische“ Diskussionen auf Landes- oder Bundesebene wenig hilfreich erscheinen, zum anderen findet entsprechende Politik hier unter den Rahmenbedingungen der Kommune ihre Umsetzung. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf Bundesländer mit herausstechenden Rahmenbedingungen wie Bayern mit einer besonders restriktiven

265

Willkommensinitiativen und Engagementlandschaften für Geflüchtete

Qualität der Zusammenarbeit mit... Verhältnis ist reibungslos Ab und zu Probleme Häufig Probleme

Keine Zusammenarbeit

anderen lokalen Initiativen

69%

Kirchengemeinden

65%

Wohlfahrtsverbänden

56%

Migrantenorganisationen

48%

überlokalen Akteuren/Initiativen

45%

Stadtverwaltung

31%

Ämtern/Behörden

16%

19% 0%

20%

27% 40%

60%

80%

100%

Abb. 3: Bewertung der Qualität von Kooperationen mit anderen Organisationen, unabhängig von Bedeutung und Intensität der jeweiligen Zusammenarbeit. Fragestellung: Wie würden Sie das Verhältnis zu … beschreiben? Funktioniert die Zusammenarbeit alles in allem reibungslos oder gibt es ab und zu Probleme oder sogar häufig Probleme?

Asyl- und Flüchtlingspolitik, Berlin mit einer zwischenzeitlich bundesweit wahrgenommenen Überforderung der Verwaltung, oder Nordrhein-Westfalen mit einer strukturstarken Integrationspolitik. Am Beispiel einer bayerischen Großstadt wie Nürnberg – im Gegensatz zur Landespolitik sozialdemokratisch geprägt – wird sichtbar, dass die Kommunen den kritischen und politischen Haltungen der Initiativen positiv gegenüberstehen können, diese unterstützen und sich gemeinsam gegen integrationshemmende Restriktionen der Landespolitik wenden können. Ebenso wurde in den Jahren 2015/2016 in Berlin sichtbar, dass Zivilgesellschaft und Bezirke gemeinsame Interessen verfolgten und gegen die Landespolitik durchzusetzen versuchten – unabhängig von Parteizugehörigkeiten oder -präferen-

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zen (vgl. Gesemann et al. 2017). In nordrhein-westfälischen Städten wie Dortmund, die mit starken und traditionsreichen Integrationsstrukturen ausgestattet sind, werden dagegen eher Konflikte sichtbar, wenn Willkommensinitiativen eine hohe Dynamik und innovative Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Herausforderungen aufweisen, während die bestehenden Strukturen vergleichsweise unflexibel und träge reagieren und Konkurrenzsituationen entstehen. Ähnlich verhält es sich im Fallbeispiel Leipzig, nur unter der entgegengesetzten Ausgangsbedingung zuvor eher schwach ausgeprägter Strukturen. „Die meiste Reibung entsteht, weil wir als Initiativen relativ schnell reagieren können und neue Innovationen schnell umsetzen können und die Stadtverwaltung nicht. Wo man dann denkt: Warum sprecht ihr noch über X, wir müssten schon längst über Y sprechen. Das sind einfach ganz andere Geschwindigkeiten, die auch logisch sind, wenn man schaut, wie wir jeweils arbeiten. Das ist vielleicht auch Luxus, den wir haben, weil wir nicht eine riesige Bürokratie-Mühle und einen Verwaltungsapparat hinter uns haben, vor dem wir uns die ganze Zeit rechtfertigen müssen“ (Dana Ersing, Kontaktstelle Wohnen, Leipzig).

Generell fallen die Erwartungen an und die Zufriedenheit mit der Kooperation mit Behörden und Kommunen je nach Motivationsstrukturen verschiedener Initiativen (karitativ vs. gesellschaftspolitisch engagiert) sehr unterschiedlich aus (vgl. Daphi 2017). Entsprechend ist neben Merkmalen wie der Größe oder dem Institutionalisierungsgrad von Gruppen vor allem relevant, ob sich diese eher als Unterstützer*innen der kommunalen Verwaltung verstehen (im engeren Sinne von „Helferkreisen“) oder als kritische Beobachter*innen und Korrektiv der Aufnahme- und Integrationspolitik (ebd.: 41). Die Ergebnisse unserer Studie – sowohl der qualitativen Interviews wie der quantitativen Befragung – zeigen darüber hinaus, dass die Bewertung der Qualität der Zusammenarbeit in hohem Maße von kommunalen Haltungen und Angeboten abhängig ist. Vielerorts hat sich im Laufe der Zeit auch zwischen politisch und kritisch orientierten Initiativen und kommunalen Akteuren eine produktive, zum Teil vertraute Zusammenarbeit entwickelt, wenn für die zivilgesellschaftliche Seite erkennbar ist, dass sich die Kommune im Rahmen ihrer Möglichkeiten um eine Stärkung von Willkommensinitiativen bemüht und eine intermediäre, fast schon „neutrale“ Rolle einnimmt – sei es, weil sie aktiv eigene Gestaltungsspielräume sucht und ausnutzt, in Konfliktfällen ge-

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genüber anderen staatlichen Stellen vermittelt oder durch Bereitstellung von Informationen und Wissenszugängen zu einer transparenten und partizipativen Politik beiträgt. Förderlandschaften für Willkommensinitiativen Eine weitere entscheidende Rolle für die Entwicklung und Institutionalisierung von Willkommensinitiativen spielen finanzielle Fördermöglichkeiten. Dazu gehören im Alltag vieler Initiativen vor allem eher kleinere und niedrigschwellige Mittel zur regelmäßigen Durchführung von Angeboten oder Veranstaltungen und Bereitstellung der dafür notwendigen Ressourcen und Materialien. Insbesondere für Initiativen, die im Laufe ihrer Entwicklung in Form von professionellen Angeboten oder spezialisierten Themenschwerpunkten einen weitergehenden Gestaltungsanspruch entwickelt haben, stellt sich aber auch die Frage nach Zugängen zu substanziellen und regelmäßigen Mitteln für die Sicherstellung oder Ausweitung dauerhafter Arbeit. In Bezug auf die Förderpolitik finden Willkommensinitiativen regional und lokal sehr unterschiedliche Bedingungen vor. Ausschlaggebend sind dabei neben den von den jeweiligen Bundesländern verantworteten Programmen und unterschiedlichen politischen Prioritätensetzungen im Themenfeld Migration und Integration auch die kommunalen Fördermöglichkeiten und -bereitschaften. In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, in denen Integration und Förderung integrativer Projekte seit langem einen vergleichsweise hohen Stellenwert einnehmen, manifestiert sich dies in (gut ausgestatteten) Landesprogrammen wie z. B. KOMM-AN NRW. Aber auch anderenorts wurden ab 2016 verstärkt öffentliche Mittel mobilisiert. Die Kommunen treten dabei einerseits als „Verteilerinnen“ von Landesfördermitteln auf, für deren lokale Verwendung sie jeweils eigene Zugangskriterien und Mechanismen aufstellen. Andererseits stellen einige Kommunen zusätzlich eigene Mittel mit niedrigeren Zugangsbeschränkungen und direkteren Begleitmöglichkeiten bereit, die für Willkommensinitiativen eine weniger exklusive Förderkulisse mit einfacherem Zugang zu Mitteln unterschiedlichen Umfangs bieten: Von Mikrozuwendungen für einzelne Veranstaltungen oder Angebote, bis hin zu längerfristigen Projektfinanzierungen, die üblicherweise auf ein Jahr befristet sind und anschließend erneut beantragt und bewilligt werden können. Übergänge in eine Regelfinanzierung konnten in unserem Sample nicht identifiziert werden.

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Die Zugänge, die Willkommensinitiativen zu Fördermitteln haben, sind jedoch insgesamt eher schwierig. Das Problem dabei ist häufig nicht die Verfügbarkeit der Mittel an sich, sondern deren Zugänglichkeit für junge zivilgesellschaftliche Initiativen: Enge, mit ihren Bedarfen inkompatible Zuschnitte und Zweckbindungen und ein hoher bürokratischer Aufwand, der mit der Beantragung, Projektbegleitung oder dem Nachweis der Verwendung der Mittel verbunden ist (vgl. auch Karakayali et al. 2018). Professionalisierte Initiativen und -angebote haben keine Möglichkeiten, aus dem anhaltenden, zermürbenden Kreislauf befristeter Projektzyklen und wiederkehrender Antragsverfahren zu entkommen, was zu permanent unsicheren Bedingungen führt und Perspektivplanungen erschwert. In mehreren Interviews berichteten Engagierte am Jahresende, nicht zu wissen, wie es zum kommenden Jahresanfang weitergehe. Die herrschenden Fördermodalitäten sind in großen Teilen den dynamischen Entwicklungen, flexiblen Bedarfen und ehrenamtlich geprägten Möglichkeiten der Initiativen nicht angemessen, und störend für eine kontinuierliche Entwicklung. Wo vorhanden bzw. für die Initiativen zugänglich, haben sich die kommunalen Förderzugänge gegenüber anderen noch als flexibelste und unbürokratischste Quelle für finanzielle Fördermittel herausgestellt – wenn auch häufig nur in begrenztem Umfang verfügbar. Die engeren und persönlichen Kontaktmöglichkeiten zwischen den Beteiligten und – zumindest im Vergleich zur allgemeinen Förderlandschaft – variablere, bedarfsorientiertere Zieldefinition lokaler Förderpolitiken ermöglichen es bisweilen, die Mittelvergabe von aufwendigen bürokratischen Verfahren, Zweckbindungen und Verwendungsnachweisen zu entkoppeln und sorgen für einen Vertrauensvorschuss, wenn die Wirkungen direkt vor Ort sichtbar sind und begleitet werden können. Vor Ort Fördermittel verfügbar zu machen und dieses Vertrauen aufzubauen bzw. zu geben kann daher einen essenziellen Beitrag zur Stärkung und zu einem nachhaltigen Wirken von Willkommensinitiativen leisten. „Das Verhältnis [zur Kommune] ist gut, weil sie uns unterstützen und unsere Arbeit gut finden, aber es ist natürlich trotzdem auch ein schwieriges Verhältnis, weil praktische Arbeit auf Bürokratie trifft und das ist immer sehr anstrengend. Da würde man sich oft wünschen, dass sie flexibler sind und auch mehr Vertrauen uns gegenüber aufbringen, dass nicht jede Sache hinterfragt wird – im Sinne: Aha, was machen Sie denn jetzt damit? Sie wirtschaften sich doch in die eigene Tasche? Ein Beispiel aus der Anfangsphase: ‚Sie haben doch nur ein 16-Quadratmeter-Büro, aber Sie haben jetzt vier Schreibtische gekauft. Wie ist das denn möglich?‘ Da habe ich gesagt: Dann

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kommen sie doch mal zu uns und schauen sich unser Büro an – das ist halt unsere Realität! […] Vielleicht einfach mal vertrauen, dass es schon Hand und Fuß hat. Dieses Misstrauen, was aus dem bürokratischen Hintergrund geboren ist: Manchmal ist der Spielraum da glaub ich noch nicht ausgenutzt, den sie hätten. Das macht einem manchmal einfach das Leben schwer“ (Dana Ersing, Kontaktstelle Wohnen, Leipzig).

5

Ausblick: Willkommensinitiativen als nachhaltiges Organisations- und Kooperationsmodell?

Das enorme zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete, das rund um den „Willkommenssommer“ des Jahres 2015 einen neuen Höhepunkt fand, konnte sich in den weiteren Jahren seiner Entwicklung auch über den Zenit der öffentlichen Aufmerksamkeit und des breiten, spontanen Engagementinteresses hinaus in vielen fortbestehenden Formen verstetigen. So dynamisch, wie sich neue Willkommensinitiativen entwickelt haben, konnten sie sich im Laufe der Zeit auch an veränderte Bedarfe anpassen. Sie haben einen bemerkenswerten Bestand an Wissen, Expertise und Professionalität aufgebaut und verschiedene Wege der Institutionalisierung und Verstetigung eingeschlagen, sodass sie sich als wichtiger Teil lokaler Integrationslandschaften etablieren konnten. Die Aktivitäten und Wirkungen, die sie entfalten, werden an vielen Stellen jedoch von – überwiegend überlokal, politisch bedingten – strukturellen Hindernissen beschränkt, wozu insbesondere aufwendige Auseinandersetzungen mit Bürokratie und Behörden und der Zuschnitt finanzieller Fördermöglichkeiten gehören. Auch bemängeln Initiativen insbesondere vor dem Hintergrund eines veränderten gesellschaftlichen Klimas, das sich auch in Verschärfungen rechtlicher Fragen und im Agieren von Behörden widerspiegelt, dass das Engagement für Geflüchtete zunehmend unter Druck gerät und nur noch geringe Anerkennung und Wertschätzung erfährt. Willkommensinitiativen haben sich dennoch – oder auch deshalb – auf ihren Wegen dynamisch veränderten Bedingungen und Bedarfen angepasst: Sie sind nicht nur von Nothelfern zu professionellen, teils spezialisierten Integrationsakteuren avanciert, sondern auch zu politisch und menschenrechtlich agierenden Akteuren – oft ungewollt aufgrund der zähen Widerstände, denen sie begegnen. Gleichzeitig finden sie Anbindung an staatliche bzw. kommunale Regelstrukturen und ergänzen das staatlich erbrachte Leistungsangebot auf eigene und kreative

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Weise. Hier auf der kommunalen Ebene nimmt die Rekonfiguration der Akteurskonstellationen und Veränderungen im Zusammenspiel der Beteiligten konkrete und heterogene Formen an. Mit ihrem Innovationspotential haben die jüngeren Initiativen dabei manch alteingesessenen Träger abgehängt, gleichwohl betonen sie die Notwendigkeit eines solidarischen Miteinanders aller Akteure und kritisieren Konkurrenzen, von denen insbesondere sie nachteilig betroffen sind. Die Modelle und Pfade der Verstetigung von Initiativen werden insbesondere von lokalen Spezifika und institutionellen Strukturen der kommunalen Integrationspolitik geprägt. Das Gelingen neuer Formen der Koproduktion bei der Integration von Geflüchteten hängt davon ab, inwieweit es Kommunen gelingt, diese neuen zivilgesellschaftlichen Strukturen in ihrem Eigensinn zu bewahren, zu stärken und eine Anbindung an lokale Strukturen und politische Prozesse zu ermöglichen. Insgesamt wurden den Willkommensinitiativen zumindest von kommunaler Seite nur wenige Steine in den Weg gelegt: Die meisten Initiativen berichten von unterstützenden Haltungen der Kommune, positiven Kooperationserfahrungen und einer engen Einbindung in lokale Netzwerke, was vielerorts entscheidend zur Nachhaltigkeit des Engagements beigetragen hat. Nicht überall gelingt es aber den Initiativen, auf kommunaler Ebene als Akteur auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Insbesondere in größeren Städten, in denen Wege länger und Verwaltungsstrukturen oder Zuständigkeiten tendenziell unklarer sind, haben es die neueren Initiativen schwer, ihren Platz zwischen etablierten Trägern und Verbänden einzunehmen und nicht nur als „unbequeme kritische Stimme“ wahrgenommen zu werden. Insgesamt bergen die starke Selbstorganisation von Engagierten im Bereich der Unterstützung und Integration von Neuzugewanderten, die Geschwindigkeit und Beständigkeit der Entwicklung neuer Initiativen, die Vielfalt und Differenzierung von Angeboten und Dienstleistungen sowie die neuen Formen der Kooperation und Zusammenarbeit ein großes zivilgesellschaftliches Potenzial für eine soziale und partizipative Stadt- und Gesellschaftsentwicklung, welches sich aber nur unter bestimmten Voraussetzungen entfalten kann. Viele Ressourcen gehen durch unorganische, nicht mit lokalen Bedarfen harmonierende strukturelle Rahmenbedingungen verloren. Dazu gehören exklusive Förderlandschaften, die für viele zivilgesellschaftliche Initiativen unzugänglich bleiben oder wesentlichere Aufgaben verdrängen. Die positiven Bemühungen in den meisten Kommunen dürfen zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass wesentliche Hürden für das Engagement für

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Geflüchtete und Kräfte, die an Ehrenamtlichen zehren, außerhalb der kommunalpolitischen Ebene verantwortet werden. Dazu gehört insbesondere die Eintrübung der gesellschaftlichen Stimmung gegenüber Geflüchteten und die Stärkung von restriktiven Elementen der Asyl- und Migrationspolitik. Die Haltung und Arbeitsweise einiger Behörden scheinen stark von diesen Tendenzen geprägt. Die durch die Neoliberalisierung verschärfte soziale Spaltung der Gesellschaft provoziert Verteilungs- und Neiddebatten, bei denen Zugewanderte auf der Verliererseite landen. In den Städten manifestiert sich diese Problematik besonders dramatisch im prekär gewordenen Mangel an verfügbarem Wohnraum. Viele Engagierte und Initiativen haben sich an solchen Hemmnissen und Herausforderungen politisiert und bilden inzwischen ein lokal wirksames, gesamtgesellschaftlich aber eher noch leises Gegengewicht.

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https://www.vhw.de/fileadmin/user_upload/08_publikationen/vhw-schriftenreihe-tagungsband/PDFs/vhw_Schriftenreihe_Nr._13_Willkommensinitiativen.pdf. (zuletzt abgerufen am 06.02.2019) Gesemann, Frank/ Seidel, Alexander (2019): Entwicklung und Dynamik städtischer Engagementlandschaften für Geflüchtete. Ergebnisse einer Befragung von Willkommensinitiativen. Berlin: DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration. Online verfügbar unter https://www.desi-sozialforschung-berlin.de/wp-content/uploads/DESI-2019_Bericht-Online-Befragung-Willkommensinitiativen-1.pdf (zuletzt abgerufen am 15.05.2020) Grande, Edgar (2018): Zivilgesellschaft, politischer Konflikt und soziale Bewegungen. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1-2: 52-60 Hamann, Ulrike (2017): Eine neue soziale Bewegung? In: Publikationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Gesprächsreihe „Migrationspolitik als Transformationsprojekt“. Online verfügbar unter https://www.rosalux.de/publikation/id/14864/eine-neue-soziale-bewegung/ (zuletzt abgerufen am 04.02.2019) Institut für Demoskopie Allensbach (2017): Ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete. Ergebnisse eines Berichts des Instituts für Demoskopie Allensbach. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Online verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/122010/d35ec9bf4a940ea49283485db4625aaf/engagement-in-derfluechlingshilfe-data.pdf (zuletzt abgerufen am 06.02.2019) Karakayali, Serhat (2017): ,Infra-Politik‘ der Willkommensgesellschaft. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 3/2017: 16-24 Karakayali, Serhat/Kleist, J. Olaf (2016): Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland (EFA). 2. Forschungsbericht: Ergebnisse einer explorativen Umfrage November/Dezember 2015. Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin Karakayali, Serhat/ Wallis, Mira/ Höfler, Leif Jannis/ Heller, Mareike (2018): Fördermittel in der Flüchtlingshilfe. Was gebraucht wird – was ankommt. Eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Schiffauer, Werner/ Eilert, Anne/ Rudloff, Marlene (Hrsg.) (2017): So schaffen wir das. Eine Zivilgesellschaft im Aufbruch. 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten. Bielefeld: transcript Speth, Rudolf/ Becker, Elke (2016): Zivilgesellschaftliche Akteure und die Betreuung geflüchteter Menschen in deutschen Kommunen. Berlin: Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft

»Und dann sitzt man selber erstmal da und denkt: Will ich jetzt nicht helfen?« Herausforderungen und normative Konflikte in Patenschaften mit Geflüchteten Sabine Jungk und Serafina Morrin

Abstract Dieser Beitrag, basierend auf einer Interviewstudie, fokussiert die Beziehungsqualität von Patenschaften zwischen Ehrenamtlichen und Geflüchteten und fragt nach Herausforderungen. Betrachtet werden Dimensionen wie Freundschaftserwartungen, Nähe und Distanz, Subjektorientierung und Umgang mit Irritationen. Unterstützungsangebote für Ehrenamtliche sollten Selbstsorgefähigkeiten fördern und reflexive Strategien – auch gemeinsam mit den Geflüchteten – stärken. Stichworte Zivilgesellschaftliche Engagement mit Geflüchteten, Interviewstudie, normative Dilemmata, Irritationen, Nähe und Distanz, Selbstschutz, reflexive Strategie

1

Einleitung

Allein seit Beginn des Jahres 2014 haben in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen einen Asylantrag gestellt (BAMF 2018: 4). Die Vielfalt der Herausforderungen von der Registrierung bis zur Unterbringung der geflüchteten Menschen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_11

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Sabine Jungk und Serafina Morrin

brachte die staatlichen und kommunalen Strukturen bis an den Rand der Leistungsfähigkeit. Das Engagement1 von freiwilligen zivilgesellschaftlichen Akteuren, auch im Rahmen von Patenschaften, hat entscheidend dazu beigetragen, diese Aufgaben in der Erstaufnahme sowie in der Begleitung erster Integrationsschritte zu bewältigen (Daphi 2016). Zwischen 2011 und 2014 engagierten sich 70 Prozent mehr Menschen für Flüchtlinge als zuvor (Karakayali/Kleist 2015: 5). Angesichts der Herausforderungen, geflüchteten Menschen Teilhabechancen – vom Wohnen und sozialräumlicher Partizipation über (Aus-)Bildung, Arbeit und Freizeit bis zur politischen Mitwirkung – zu eröffnen, ist langfristige Unterstützung z.B. durch Pat*innen weiterhin unverzichtbar. Diese neuartige Dynamik freiwilligen Engagements war Anlass für unsere Studie zu den Erfahrungen der Ehrenamtlichen (Jungk/Morrin 2017), die Motive, Herausforderungen, Ressourcen und Gelingensbedingungen des Ehrenamtes untersucht. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf Herausforderungen, wie sie sich ergeben können: das Ausbalancieren von Nähe und Distanz, Perspektiven der Ehrenamtlichen auf die von ihnen begleiteten Menschen sowie den Umgang mit – normativ – irritierenden Situationen.

2

Beziehungen als soziales Kapital und die Forderung nach einem reflexiven Ehrenamt

Bürgerschaftliches Engagement ist als zentrale Form gesellschaftlicher Partizipation eine „unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft“ (Enquete-Kommission 2002: 7) und gilt als Indikator für eine lebendige Zivilgesellschaft (Simonson et al. 2016: 26). Der Nutzen ehrenamtlicher Tätigkeiten für Andere lässt sich u.a. mit dem Transfer sozialen Kapitals begründen (Bourdieu 1992). Soziales Kapital stellt nach Bourdieu ein Produkt menschlichen Handelns dar und besteht aus sozialen Beziehungsnetzwerken, die Unterstützung in vielen Lebensbereichen liefern und als individuelle Ressource nutzbar gemacht werden können. Migration ist vielgestaltig, eröffnet Opportunitäten, geht aber häufig mit

1 Der Begriff Engagement wird hier synonym zu Begrifflichkeiten wie bürgerschaftliches, zivilgesellschaftliches oder freiwilliges, soziales Engagement sowie Ehrenamt genutzt. Unterscheidungslinien in theoretischer Hinsicht werden hier nicht nachgezeichnet (siehe dazu Braun 2002).

Herausforderungen und normative Konflikte in Patenschaften mit Geflüchteten

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einem Verlust ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals einher. Dies gilt besonders bei unfreiwilliger Fluchtmigration. Im Aufnahmeland ist der Zugang zu sozialen Kontakten und Netzwerken der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund erschwert; sprachliche Verständigungsschwierigkeiten und fehlende Orte zur Begegnung stehen dem entgegen (vgl. Rühl/Babka von Gostomski 2012: 33 f.). Berufsabschlüsse werden zumeist nicht als vollwertig anerkannt, Schul- und anderes formelles wie informelles Wissen sowie (alltags-)kulturelle Praxen im öffentlichen Raum unfunktional, damit entwertet, und häufig in „asymmetrische[r] Arroganz“ deklassiert (Castro Varela 2015: 8)2. Politische und rechtliche Restriktionen führen zur „sozialen Ausschließung“, womit Cremer-Schäfer (2001: 56) das „strukturierte und organisierte Vorenthalten der Teilhabe an gesellschaftlich produzierten Ressourcen“ bezeichnet. Patenschaften können dazu beitragen, soziales (und kulturelles) Kapital zu transferieren, so dass das Missverhältnis in den gesellschaftlichen Verhandlungspositionen relativiert werden kann. Zugleich stellen sie eine Form „gemeinsame[r] Praxis“ dar, die der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR 2017: 17) als grundlegend für die „Werteübernahme“ kennzeichnet. Der Integration in das deutsche Normen- und Wertesystem wird dort ein ähnlich hoher Stellenwert zugemessen wie der Bildungs- oder Arbeitsmarktintegration. Sie setze voraus, dass die Menschen „diese Werte im Alltag erleben und praktisch erfahren“ (ebd.). Doch solche patenschaftlichen Beziehungen sind sensibel und störanfällig, sie können „Interaktionsstress“ (Badura 1990) erzeugen. Werden die Engagierten dabei allein gelassen, können sie „schnell überfordert“ werden (Pankoke 2002: 79). Harrell-Bond (2002) analysierte in internationalen Kontexten, dass Helfende paternalistische Haltungen entwickeln, Geflüchtete entmachten und klientelisieren, sie zu hilflosen, bedürftigen Menschen stigmatisieren. Freiwilliges Engagement in komplexen Umwelten, so Pankoke (2002: 79), erfordere „ein neues reflexives Engagement“, weil es „oft nicht mehr auf der Statik gesicherter Werte aufbauen“ könne. Deshalb seien „neue kommunikative wie auch kulturelle Kompetenzen“ notwendig, um sich z.B. über widerstreitende Interessen verständigen und sie aushandeln zu können (ebd.: 76).

2 Davon zeugen viele biografische Erzählungen und Untersuchungen, z.B. Suvak/Herrmann 2008; für die Anerkennung von Berufsabschlüssen vgl. Hanewinkel/Oltmer 2017.

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Fragestellung und Methode

Ehrenamtliches Engagement in Patenschaftsprojekten mit Geflüchteten hat unbestritten positive Effekte. Es erleichtert den neu angekommenen Menschen die Orientierung und die Anbahnung längerer Eingliederungsprozesse (Aumüller et al. 2015: 85f.). Wie gerade skizziert, ist diese anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe auch von Herausforderungen begleitet und von Scheitern bedroht; professionelle Strukturen können hier Unterstützung bieten. Unsere Studie stand im Zusammenhang mit neu zu konzipierenden Qualifizierungsangeboten für Ehrenamtliche. Der Fokus lag darauf, Wissen über die oft zum ersten Mal aktiven Freiwilligen zu generieren, und zwar sowohl über ihre Motive, Ressourcen, Haltungen, Handlungen, als auch hinsichtlich ihrer Lernstrategien (z.B. Wissensaneignung und reflexive Prozesse) und der Zufriedenheit mit bestehenden Angeboten, um die Ausgestaltung der Qualifizierungs- und Unterstützungsangebote zu optimieren3. Der Horizont der Untersuchung lag damit in erster Linie in der breiten Dokumentation und Systematisierung der Erfahrungen ehrenamtlich Aktiver, insbesondere auch in Hinblick auf Konflikte, Verunsicherungen und Dilemmata, die professionelle Qualifizierungs- und Begleitungsangebote für die Bearbeitung in den Blick zu nehmen hätten.4 Zwischen Mai und Juli 2016 wurden 16 Leitfadeninterviews mit Ehrenamtlichen in Projekten des Paritätischen Gesamtverbands (in Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen) durchgeführt. Unter den Befragten sind zehn Frauen und sechs Männer zwischen 18 und 76 Jahren. Eine Befragte war Schülerin, drei waren Studentinnen, neun berufstätig und drei Rentner*innen.5 Eine der Befragten hat eine eigene Flucht-, ein weiterer eine Migrationsgeschichte (S, R) und eine dritte einen Migrationshintergrund (G). Die Untersuchung war nicht explizit auf Patenschaftsprojekte ausgerichtet (lediglich fünf der Befragten weisen ausdrücklich diese Patentätigkeit auf), jedoch war uns an solchen Freiwil-

3 Die Rekonstruktion der Narrative von ehrenamtlich Engagierten beansprucht nicht, die Interaktionsbeziehungen abzubilden, wie es in einer diskursiven, dyadischen Anlage unter Einbeziehung ihrer Mentees eher möglich wäre. 4 Das Material erlaubt auch die Beschreibung von „Erfolgsgeschichten“. Weitergehende sequenzielle Analysen und Fallrekonstruktionen sind geplant. 5 Die Befragten wurden von Namenskürzeln von A bis T pseudonymisiert.

Herausforderungen und normative Konflikte in Patenschaften mit Geflüchteten

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ligen gelegen, die im weiteren Sinne pädagogische und lebensweltnahe beraterische Tätigkeiten ausübten, die – vergleichbar mit Pat*innen – eine intensive Beziehungsqualität verlangen. Während einige Interviewfragen auf funktionale Informationsgewinnung zielten (z.B. inwiefern Informations- und Qualifizierungsangebote genutzt wurden), wurden andere mit einem erzählgenerierenden Impuls gestaltet. Entsprechend wurde eine strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) vorgenommen. Diese wurde durch offenes Kodieren (Flick 2014: 388f.) einer explizierenden Inhaltsanalyse ergänzt. Die vorliegende, ausschnitthafte Präsentation konzentriert sich auf Erzählkomplexe unter den Fragestellungen: Welche Herausforderungen stellen sich in der Interaktion und Beziehungsgestaltung mit Geflüchteten? Welche Einstellungen, Haltungen, Irritationen und normativen Konflikte sind zu beobachten?6

4

Dimensionen der Beziehungsqualität und ihre Herausforderungen

Fallübergreifend sehen elf der befragten Ehrenamtlichen im Gesamtsample explizit ihre Ziele darin, durch soziale Nähe, Ermutigung und Einbeziehen in soziale Netzwerke das psycho-soziale Wohlbefinden von geflüchteten Menschen zu unterstützen. Dies entspricht den Befunden von Han-Broich (2012: 184ff.), die darin den grundlegenden Stellenwert der freiwilligen Arbeit sieht. Die ehrenamtlich Aktiven haben zunächst die Bedürfnisse ihrer Mentees im Blick, für die sie Ressourcen des Selbst oder ihrer Sozialbezüge zur Verfügung stellen. Doch auch umgekehrt wird gute, reziproke Beziehungsqualität von Ehrenamtlichen als wertvoll erlebt, als Quelle der Befriedigung (O 29) und Movens für freiwilliges Engagement. Zugleich, das ist Thema des nächsten Abschnitts, lösen dichte Beziehungen und Beziehungserwartungen ambivalente Erfahrungen aus.

6 Zitate aus den Interviews sind dabei kursiv hervorgehoben.

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Sabine Jungk und Serafina Morrin

4.1 Ehrenamt als Freundschaft(serwartung) und quasi-familiäre Beziehung Einige der Befragten streben eine reziproke freundschaftliche Beziehung an: Also ich habe halt gedacht, vielleicht entwickelt sich eine Freundschaft oder so was. […] ich habe jetzt kein Helfersyndrom, so gesehen (B 11). Herr B reflektiert explizit eine, von ihm nicht näher definierte, aber offensichtlich negativ konnotierte, (professionelle) Deformation, das Helfersyndrom, um es von sich zu weisen. Seine Alternative dazu ist eine informelle Beziehungsform, eine Freundschaft, die er jedoch als Erwartung relativiert: oder so was. Die eigene Rolle verortet er somit auf einer privaten Ebene, wobei er die Erwartung an Intensität flexibel hält. Anders gelagert ist dies bei Frau A; ungefähr ein Drittel ihres Interviews kreist um die Beziehung zu ihrer Mentee und verständnisvollen Erklärungen für letztlich enttäuschte Hoffnungen. Als wichtigstes Anliegen charakterisiert sie: dass wir es irgendwie schaffen/ nicht nur, dass ich nur helfe oder so, sondern dass wir eine Interaktion halt haben oder einen Austausch, dass wir halt was voneinander lernen können (A 31). Die erwartete Reziprozität, eine Begegnung auf Augenhöhe (was voneinander lernen), stellt sich jedoch nicht leicht ein, denn ihre Lebensentwürfe sind verschieden. Es gelingt nur ein bisschen: Also was ich einfach gut finde oder schön, dass wir jetzt nicht nur Mentorin und Mentee sind, sondern irgendwie auch so ein bisschen befreundet. Und sie interessiert sich auch für mein Leben und so. […] auch wenn wir eigentlich total verschiedene Vorstellungen haben vom Leben (A 41). Frau A wünscht, dass ihre Mentee durch Kontakt etwas von ihrer Lebenswelt und verschiedene (in Deutschland übliche) Lebensstile kennenlernt, und mehr, nicht näher charakterisierter, Austausch stattfinde: das fände ich cool, wenn ich sie mehr in Kontakt bringen könnte mit anderen Leuten oder mit deren Lebensstilen oder so. Und so einfach, dass es auch mehr Austausch gibt (A 75). Dass in der persönlichen Begleitung die gute Beziehung zur Bedingung für das Engagement werden kann, wird im Fall von Frau I deutlich: Sie begleitet drei junge, miteinander verwandte Afghanen, zwei von ihnen sind minderjährig: Also die [drei Jungs, d.V.] machen uns viel Freude. Sonst würde ich es nicht machen. Und sie sind wirklich lieb (I 69). Sie hat jetzt noch mehr Enkel (I 69). Die Jugendlichen werden von ihr familialisiert und sie teilen diese Beziehungsdefinition, wie Frau I später schildert: Sie habe die Ehre, von ihnen Omi genannt zu werden (I 97). Diese Variante der Familialisierung von Seiten der Mentees erfahren auch

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andere, ältere Befragte. Sie erleben den unerwarteten Statuswandel zum Großvater ebenfalls als besondere persönliche Wertschätzung: Es kommt zum Beispiel vor, dass ein Flüchtling mir nach so einem Unterricht sagt […]: ‚Du bist jetzt mein Großvater.‘ Und das ist dann schon bewegend (O 31). Auch Herr K vermutet, dass er der Großvater für geflüchtete Menschen ist (K 29) und nimmt eine damit verbundene Wertschätzung wahr, die hier so nicht bekannt ist: Im Grunde genommen - das habe ich ja nicht erwartet - bekommt man auf einmal da Zuwendung. Und sie lieben einen wirklich. Das kennt man hier so nicht. Ja, ich weiß nicht, ob ich ihr Großvater bin (lacht) oder was (ebd.). In diesen Beispielen werden keine Konflikte hinsichtlich der familialisierenden Rollenzuweisung erkennbar, jedoch verweisen sie, ebenso wie die zuvor dargestellten Konstellationen, auf eine virulente Nähe-Distanz-Thematik. 4.2 Nähe und Distanz Die Engagierten beschreiben fallübergreifend Situationen, die es erfordern sich abzugrenzen (A 53). Die Balance zwischen Nähe in Form von empathischem Mitfühlen, ggf. Parteilichkeit und einer Distanz, gewisse Dinge nicht zu nah an sich ran[zu]lassen (B 35), ist in allen Interviews ein Thema. Es verweist auf psychosoziale Belastungen, die entstehen, weil die Pat*innen extreme Lebensschicksale nachvollziehen: Man braucht eine gesunde Distanz, weil sonst zerfrisst einen das. Weil man ja die ganzen Lebensschicksale mitkriegt (K 61). Freiwillig Engagierte sehen sich mit hoher Verantwortung in teilweise existenziellen Situationen konfrontiert, und das in einem – trotz Vermittlungsorganisation – informellen Setting, einem offenen Raum (G 53). Der eigene Anspruch, „rechtzeitig zur Stelle zu sein“, kann dabei als Druck empfunden (und, wie in diesem Beispiel, vom Mentee aufgebaut) werden: Und da kam halt sehr großer Frust auf, weil er mich dann immer angerufen hat und dann meinte: ‚Von dir hängt alles ab. Wenn du jetzt nicht kommst, dann/‘ Und dann bin ich extra aus den Ferien früher zurückgekehrt einmal, weil ich mir dachte: Oh Gott, der hat jetzt da niemanden, der für ihn übersetzen kann. Und dann im Endeffekt ist er gar nicht erschienen (G 23). Einige der Befragten benennen explizit Strategien, um die Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren, wie konkrete Uhrzeiten für die Erreichbarkeit festzulegen (G 23; K 61) oder sich Hilfe zu suchen (D 45). Doch nicht alle haben eine klar benannte Vorgehensweise, vielmehr beschreiben sie es als einen Prozess, sich

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der Bedeutung von Abgrenzung zunehmend bewusster zu werden und zu lernen Grenzen zu ziehen (T 43), konsequent zu sein (K 61) oder auszusprechen sorry, da kann ich jetzt nicht mitkommen (A 53). Auch fehlende Instanzen zur Selbstvergewisserung werden angesprochen: an wen wende ich mich jetzt [bei Kenntnis von illegalen Verhaltensweisen, d.V.], ohne das Vertrauen dieser Person [des Mentees, d.V.] zu verletzen? (F 160) (dazu mehr unter 4.4). 4.3 Individualisierender Blick und Subjektorientierung In ihren Selbstbeschreibungen nehmen die Befragten Geflüchtete in ihrer Besonderheit und zugleich in ihrer Ähnlichkeit zum „Eigenen“ wahr. Explizit äußern sich zehn Ehrenamtliche in ähnlicher Weise: Auch egal, welche Unterschiede es gibt, die es halt genauso gibt mit meinen anderen deutschen Bekannten, Freunden oder so, sind wir uns aber auch einfach total ähnlich (F 84). Diese individualisierende Perspektive korrespondiert mit fallübergreifenden Selbstauskünften zu einem Einstellungsmuster der ‚Offenheit gegenüber Unbekanntem‘. Distanzierung von stereotypen Einschätzungen entsteht jedoch auch aufgrund der konkreten Erfahrungen im Prozess der Zusammenarbeit mit ihren Mentees: Vorher hatte ich sozusagen den typischen Flüchtling vor mir. Und ich stelle fest: Den gibt es gar nicht (O 86). Selten kommt es in den Interviews zu klischeehaften Äußerungen (vgl. auch 4.4). So wird Frau E mit dem Anliegen ihres Mentees konfrontiert, gefälschte Rechnungen für Second-Hand-Möbel auszustellen und erklärt sich dies mit divergenten kulturell-sozialen Deutungs- und Handlungsmustern: Aber bei denen ist das Leben. Die Geschäfte macht man auf dem Basar, ja? Und das wäre bei uns Korruption, was sie da machen. Aber das Leben funktioniert halt anders. Es hat andere Mechanismen (E 55). Diese vergleichende Perspektive ermöglicht Frau E einerseits eine werterelativistische und verstehende Haltung. Der Preis jedoch ist, dass sie eine mögliche handlungsfundierende Orientierung, den Kodex des Handelns auf dem Basar, als gegeben annimmt. Verstehen und Verständnis beruhen mithin auf einer Zuschreibung. Der subjektzentrierte Blick auf ihre Mentees zeigt sich deutlich bei kritischen Einschätzungen staatlicher Leistungen und gesellschaftlicher Forderungen. Den befragten Engagierten ist es einerseits – über emotionale Unterstützung hinaus – ein Anliegen, Teilhabechancen in Schule, Beruf und Nachbarschaft zu eröffnen: Wir möchten, dass sie es schaffen (L 61; ähnlich C 31; A 34). Fehlende Angebote, z.B. in Anschluss an Integrationskurse, oder bürokratische Hindernisse, die das

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Vorwärtskommen der Mentees behindern, werden von allen Interviewten kritisch benannt. Herr R, aus binationaler Ehe stammend, nimmt besonders eindrücklich die Perspektive der Neuangekommenen ein: Die meisten Menschen denken positiv über Deutschland. Aber […] sie sitzen wie vor dem Fenster und sehen Deutschland da draußen. Und das ganze Leben geht vor sich, aber sie dürfen nicht raus. […] Man hat immer gesagt: Deutschland ist toll, in Deutschland kann man arbeiten. Deutschland hat Würde, in Deutschland ist man frei. Aber was habe ich davon? […] Ich darf mich nicht daran beteiligen (R 88). Umgekehrt weist er pauschale Integrationsforderungen der Gesellschaft eher zurück: Ich weiß, es gibt viel politischen Druck jetzt zu beweisen, dass man es schaffen kann (R 64). Er steht unter den Befragten nicht allein damit, eine anwaltschaftliche Perspektive einzunehmen. Die Pat*innen thematisieren in einer Vielzahl der Fälle sowohl Barrieren für die Eingliederung als auch die Notwendigkeit, Integrationsangebote individuell anzupassen. Mit einer Maschinen-Metapher bringt neben Herrn R auch Herr B seine Kritik auf den Punkt. Beide bemängeln ein mechanisches Integrationsverständnis, das wie eine Bürokratiemaschine angelegt ist, in die Menschen reingeschoben werden und man hofft, dass irgendwas Gutes rauskommt (B 83). Jedoch: Menschen sind nicht Maschinen, […], die man dann in den Arbeitsmarkt hineindrängt (R 64). Sie haben eigene Zeithorizonte, die nach schnellerem „Anfang“ drängen oder bspw. durch Familienaufgaben oder Erkrankungen verzögert sind. Herr R ist in seiner Kritik an erzwungenen Integrationsbeteiligungen am schärfsten, gegenüber schematischen Abläufen fordert er ein Menschenrecht auf Erholung: Die kommen hier hin, sind beinahe ertrunken, sind in Lagern, kommen aus den Lagern, müssen zum Jobcenter, müssen direkt Deutsch lernen, unter Druck. Dann müssen sie arbeiten. […] Die Menschen haben keine Zeit, sich zu erholen. […] das ist ein Menschenrecht. […] Aber diese Menschen haben quasi kein Recht auf Erholung (R 64). 4.4 Umgang mit Irritationen: Perspektivwechsel, Aushandlung von Normen und Grenzziehungen In nahezu allen Interviews wurden Erfahrungen der Irritation in der Zusammenarbeit mit Geflüchteten benannt, ohne dass wir direkt danach gefragt hatten. Damit bezeichnen wir z.B. Verhaltensweisen, mit denen die Engagierten nicht gerechnet hatten, oder die nicht ihren Erwartungen entsprachen. Dabei steht für viele Befragte die Selbstbestimmung der Geflüchteten außer Frage. Frau C formuliert dies

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mit Gelassenheit: Zwar bremse sie den Vater der von ihr begleiteten Familie, der versuchte, durch stetes Nachfragen rechtliche Verfahren zu beschleunigen, aber ansonsten dränge ich mich nicht auf. Ich mache Vorschläge. Wenn sie die nicht annehmen wollen, ist das ihr gutes Recht (C 43). Frau A hingegen ringt viel mehr darum, die Entscheidungen ihrer Mentee zu akzeptieren. Sie erwartete, dass ihre Mentee eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle sucht, jedoch hat diese geheiratet und ist zum zweiten Mal schwanger. Sie habe es zwar nicht so laut gesagt, offensichtlich aber doch ausgesprochen: Und ich fand die Idee erst mal nicht so gut, jetzt noch ein Kind zu kriegen (A 41). Wie bereits erwähnt, sind die Themen der unterschiedlichen Lebensentwürfe und einer enttäuschten Freundschaftserwartung im Interview mit Frau A sehr präsent; reflektierend kommt sie zu dem Schluss: ich glaube, ihr ist es [die Arbeitssuche, d.V.] ein bisschen weniger wichtig als mir oder sie hat einfach andere Prioritäten (A 41). In anderen Interviews sprechen Ehrenamtliche davon, kurz so ein bisschen so Frust (G 51) empfunden zu haben oder ein bisschen wütend (B 67) gewesen zu sein, als ihre Bemühungen (z.B. bei der Wohnungssuche) nicht auf Akzeptanz bei den von ihnen Begleiteten stießen. Eine grundsätzliche Haltung der Bejahung von Autonomie der Mentees kann also ins Wanken geraten. Doch es gibt auch Grenzen der Akzeptanz, normative Konflikte, die die Ehrenamtlichen zur Positionierung herausfordern. Sehr entschieden sind zwei männliche Befragte hinsichtlich antisemitischer Haltungen, die sie wahrgenommen haben. Als Halbpalästinenser fühlt sich Herr R besonders angesprochen und vermag sprachlich (und kulturell) eine intensive Gesprächsbeziehung aufzubauen. Er investiert viel in Diskussionen: Da hat er gesagt: ‚Die Juden sind einfach ein verfluchtes Volk. Und es ist gut, dass wir sie von der arabischen Halbinsel vertrieben haben.‘ Und ich habe gesagt: […] Du kommst gerade in ein Land, gerade weil du weißt, dass du hier wenig Stigma erfährst. Aber dann musst du aufpassen auf dieses Stigma. Dieses Stigma nicht auf andere Gruppen anwenden.‘ – ‚Ja, ja.‘ Dann hat er verstanden und dann wurde er ein bisschen rot (R 40). Herr R betont mehrfach, dass solche Einstellungen nicht zu akzeptieren sind (ebd.). Während er detailreich von seiner diskursiven Überzeugungsarbeit berichtet, formuliert Herr B eine technisch anmutende Lösung. Er erklärt sich Antisemitismus mit der Schulbildung in den Herkunftsländern und zeigt sich kompromisslos: da muss man wirklich, wenn es geht, die Reset-Taste drücken bei den Leuten, wenn man das so sagen kann (B 61). Doch dass antisemitische Einstellungen mit einem einfachen

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Knopfdruck zu beseitigen sind, bezweifelt Herr B selbst: wenn es geht, fügt er ein, und auch die Vorstellung einer Reset-Programmierung scheint ihm nicht ganz passend (wenn man das so sagen kann). Seine Äußerungen zeigen den Wunsch, gemeinsame Wertvorstellungen auf einfache Weise herstellen zu können, ob er jedoch über geeignete Strategien verfügt, wird nicht deutlich. Ein weiteres Muster notwendiger Grenzziehung bildet sich hinsichtlich des Umgangs mit gesetzlichen Vorschriften ab; Mentees berichten z.B. von rechtlich unkorrekten Vorgehensweisen oder äußern Wünsche, die ungesetzliches Handeln der Pat*innen erfordern. Darauf sei man, so Herr B, nicht vorbereitet. Er erlebt z.B. einen – untauglichen – Bestechungsversuch seines Mentees: Es gibt da eben Dinge, wo man eigentlich nicht drauf vorbereitet ist. Also wenn er zum Beispiel Apotheker bestechen will, weil er spezielle verschreibungspflichtige Medikamente haben möchte und so was (B 35). Während Herr B diese Situation nahezu gleichmütig skizziert, beschreibt Frau E ausführlich ihr Ringen, in einer dilemmatischen Situation den eigenen moralischen Kompass auszurichten und ihre Entscheidung zu verteidigen. Sie berichtet davon, dass ihr Mentee gebrauchte Möbel gekauft hat, deren Kosten das Sozialamt wegen fehlender Rechnungen nicht erstattete. Und dann sagt er zu mir: ‚Kannst du mir jetzt nicht mal die Rechnungen schreiben?‘ Dann sage ich: ‚Nein, Amir. […] Ich kann das nicht. […] Ich schreibe an das Sozialamt […]‘ ‚Wenn du mir nicht helfen willst, dann lass es sein.‘ Ich sage: ‚Amir […] du musst mir schon die Wege lassen, die für mich auch gehbar sind‘, ja? (E 55). In ihrer Verstrickung in einer doppelten Loyalität ihrem Mentee wie der Gesetzeslage gegenüber entscheidet sie sich letztlich für die für sie gehbare[n] Wege. Die Irritation jedoch bleibt, denn sie fährt fort: Und dann sitzt man selber erstmal da und denkt: Will ich jetzt nicht helfen? (ebd.). Frau E resümiert, dass dies eine herausfordernde Situation ist: Und sich da abzugrenzen ist schwierig (ebd.). Die geschilderten Beispiele erfordern Gratwanderungen der Ehrenamtlichen: Es gilt, die Selbstbestimmung der geflüchteten Menschen zu respektieren und das Vertrauensverhältnis nicht zu zerstören, aber auch problematischen Erwartungshaltungen zu begegnen. Solche moralischen Dilemmata bedürfen der Auseinandersetzung mit eigenen Wertvorstellungen und eine Positionierung in Wertekonflikten. Gesetze und Verhaltensregeln tragen den Doppelcharakter, sozial-funktional und kulturell-normativ zu sein; dabei ist zwischen unhintergehbaren Normen

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und solchen Verhaltenserwartungen zu unterscheiden, die in einer pluralen Gesellschaft nicht undiskutiert gültig sind. Normative Dilemmata allein mit sich selbst auszuhandeln, stellt Ehrenamtliche vor große Herausforderungen und wird von einigen als Druck erlebt.

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Fazit

Als lebensweltliche Unterstützung können Patenschaften wesentlich zum Gelingen von Integration beitragen. Die Ehrenamtlichen unserer Studie sind geprägt von Offenheit, Subjektorientierung und einem empathischen Blick auf individuelle Bedürfnisse der geflüchteten Menschen. Dabei haben sie auch Ansprüche der Gesellschaft im Blick, wenn es z.B. gilt, Rechtsverstöße zu markieren oder, kritisch gewendet, offensichtliche Zumutungen der „Integrations-Maschinerie“ abzuwehren. Unsere Studie zeigt, dass der Prozess der Zusammenarbeit mit Geflüchteten ehrenamtlich Engagierte, die sich bereits als „offen“ bezeichnen, weiter fördert, ihre Mentees individuell zu sehen. Vorurteile werden durch Kooperationserfahrungen – zwischen möglichst Statusgleichen – abgebaut; diese klassische Erkenntnis (Allport 1954) bestätigt sich und verweist auf das Potenzial ehrenamtlichen Engagements für das Zusammenleben bisher unbekannter Menschen, für gesellschaftliche Entwicklung angesichts der Herausforderungen von Fluchtmigration. Humanitäres Engagement in Patenschaften ist Beziehungsarbeit. Begleitung von Geflüchteten bedeutet, sich einzulassen. Nicht selten entwickeln sich dabei intensivere Begegnungen als zu Beginn gedacht, wie auch umgekehrt Erwartungen auf freundschaftliche Beziehungen enttäuscht werden können. Zwischen Nähe und Distanz ausbalancieren zu können, gehört zu den Grundvoraussetzungen, um sich vor Überforderung zu schützen. Die Gestaltung der Beziehungen ist jedoch – anders als in professionellen Zusammenhängen – in kein institutionelles Setting eingebettet, sondern muss im offenen Raum (G 53) ausgelotet werden. Deshalb sollten Angebote zur Unterstützung Ehrenamtlicher Selbstsorgefähigkeiten fördern. Dazu ist bereits ein angemessenes Matching von Pat*innen und Mentees hilfreich, wie es oft schon praktiziert wird, um z.B. die lebensweltlich-biografische Anschlussfähigkeit zu erhöhen. Zudem erscheint eine sensibilisierende Vorbereitung auf mögliche herausfordernde Situationen sinnvoll. In der Begleitung und im

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kollegialen Austausch sollten reflexive Strategien gestärkt werden, um einen Selbstschutz vor Enttäuschungen aufzubauen und zugleich die Einsicht in das Selbstbestimmungsrecht der Mentees zu stabilisieren. Die – aufgrund des Wissensvorsprungs der Pat*innen oft asymmetrische – Konstellation legt nahe, dass insbesondere Wertefragen von Ehrenamtlichen und Geflüchteten gemeinsam ausgehandelt werden müssen. Eine unterstützende Organisation als ‚dritte Instanz‘ könnte Arrangements zum Austausch über solche Dilemmasituationen bieten. Angebote zur gemeinsamen Vergewisserung könnten eine neue Qualität entstehen lassen, sowohl hinsichtlich verschiedener Sachthemen als auch sozialer Interaktionsmuster und kultureller Deutungen. Sie bergen die Chance, Reflexion und Selbstwirksamkeit von Geflüchteten und Paten zu erhöhen wie auch Begegnungen und Aushandlungen auf Augenhöhe zu fördern und gegenseitige Anerkennung zu stärken. Nicht zuletzt können sie ein moderiertes Forum bieten für fordernde Diskussionen, für die sich ein Befragter symbolhaft eine wundersame Reset-Taste wünschte.

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Ankommenspatenschaften Einsichten über ein ungewohntes niedrigschwelliges Format im Engagement für Geflüchtete Bernd Schüler

Abstract Patenschaften waren ein gefragtes Format, als es darum ging, geflüchtete Menschen beim Ankommen zu begleiten. Trotz großer Hilfsbereitschaft waren viele Einheimische aber auch zurückhaltend, sich langfristig zu engagieren. Dies war die Situation, in der Freiwilligenagenturen ein Modellprojekt umsetzten, das ein Begegnungsformat mit zunächst geringer Verpflichtungstiefe vorsah. Der Beitrag fasst zentrale Erkenntnisse der Evaluation zusammen, die diesen innovativen niedrigschwelligen Zugang zum Engagement für Geflüchtete aus- und als Erfolg bewertete. Stichworte Geflüchtetenhilfe, freiwilliges Engagement, Engagementformate, Innovation, Freiwilligenagenturen

Die Heimat verloren, von der Flucht mitgenommen, im neuen Land noch fremd: So erfuhren es Hunderttausende Menschen, die vor allem im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen waren. Sie trafen auf eine Willkommenskultur, wie sie selten gesehen wurde: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung half, mit Sach- und

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_12

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Geldspenden, ein Drittel aber auch mit aktivem Engagement (Institut für Demoskopie Allensbach 2017). Neben den staatlichen professionellen, aber überforderten Versorgungsstrukturen bildeten sich zahllose informelle zivilgesellschaftliche Helferkreise. Es wurde improvisiert, um das Nötigste bereitzustellen. So gab es viele Begegnungen in Unterkünften, Kleiderkammern oder bei der Essensausgabe, aber noch wenige kontinuierliche soziale Beziehungen (Mutz et al. 2018). Das war die Situation, in der das Bundesfamilienministerium das Patenschaftsprogramm „Menschen stärken Menschen“ aufsetzte. Es sollte ab März 2016 die weiteren Schritte der Integration erleichtern, die spontane Hilfsbereitschaft verstetigen und – zusätzlich zu den informellen Wegen – auch organisatorisch eingebettete Zugänge in der Unterstützung Geflüchteter schaffen. Neben 18 anderen zivilgesellschaftlichen Dachverbänden war auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) e.V. beteiligt. Ohnehin in vielfältigen Rollen in der Geflüchtetenhilfe aktiv, sei es in der Vernetzung, Fortbildung und Begleitung von Freiwilligen, sollten Freiwilligenagenturen ein Instrument einbringen können, das auf zentrale Bedarfe beider Seiten, der Geflüchteten wie der Freiwilligen, eingeht. So entstand das Modellprojekt „Ankommenspatenschaften“, das gängige Tandem-Formate bewusst modifizierte. Neben Begegnung und Austausch sollte es dafür sorgen, dass Geflüchtete sich besser zurechtfinden. Eine Freiwillige bzw. ein Freiwilliger und ein geflüchteter Mensch, jeweils volljährig, sollten daher gemeinsam die Stadt erkunden, sich aus ihrem Alltag erzählen und schauen, was wichtige öffentliche Freizeit-, Bildungsund Unterstützungsangebote sind. War dies noch eine typische Zielstellung für Patenschaften, unterschieden sich „Ankommenspatenschaften“ erheblich in der zeitlichen Vorgabe: Jedes Tandem sollte vereinbaren, sich zunächst drei Mal etwa drei Stunden lang zu treffen, danach bei beiderseitigem Interesse auch öfter. Damit wurde die Perspektive der Einheimischen eingezogen: Gefragt war ein leichter Zugang in die Geflüchtetenhilfe, musste es doch auch darum gehen, die vielen Bürgerinnen und Bürger einzubinden, die sich hier nach wie vor einbringen wollten, aber zunächst eine überschaubare Aufgabe suchten. Im ersten Projektjahr entwickelten 28 Freiwilligenagenturen in 26 Städten (davon sechs in Ostdeutschland) diese Vorgabe kreativ weiter, etwa indem sie für das Angebot Begriffe wie „WelcomeWalk“ oder „3mal Hannover!“ wählten.

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Ein neues Engagementangebot unter der Lupe

Tatsächlich traf das niedrigschwellige Format auf einen konkreten Bedarf – nicht zuletzt bei noch Engagement ungewohnten Menschen. Wie diese Resonanz für eine hybride Form aus verantwortungsvoller Patenschaft und Kurzzeitengagement zu erklären ist und was sich daraus ergibt – das soll nachfolgend anhand einiger Teile aus der Evaluation des ersten Projektjahres dargestellt werden. Vom Projektleiter der bagfa e.V. selbst durchgeführt, wurden dabei qualitative mit quantitativen Methoden kombiniert, um vor allem die Perspektive der Freiwilligen und der Agenturen zu erschließen. Angaben über die Sicht der beteiligten Geflüchteten konnten, ressourcenökonomisch bedingt, nur indirekt erhoben und mussten daher hier vernachlässigt werden. Im Sommer und Herbst 2016 wurden an vier Standorten (Halle, Ulm, Köln und Kassel) Freiwillige eingeladen zu einem Gruppeninterview, das nach Initialfragen auch selbstläufige, allein von den Beteiligten gesteuerte Teile einer Diskussion haben sollte. Beteiligt waren jeweils zwischen drei bis sieben Ankommenspatinnen und -paten, die die Projektleitungen vor Ort eingeladen hatten. Die Transkripte wurden nach zentralen Stellen abgesucht, diese feinanalytisch ausgewertet. Davon ausgehend wurde ein Online-Fragebogen für Freiwillige entworfen. Die 28 am Modellprojekt beteiligten Freiwilligenagenturen leiteten den Link an alle Ankommenspatinnen und -paten weiter. 419 von ihnen beteiligten sich, was bei einer Grundgesamtheit von insgesamt 1.954 aktiven Freiwilligen einer Rücklaufquote von gut 21 Prozent entspricht. Viele nutzten dabei offene Antwort- und Kommentarmöglichkeiten, was weiteres wichtiges Datenmaterial ergab. 23 Freiwilligenagenturen erhoben zudem, ob die Ankommenspatenschaften für die Freiwilligen das erste Engagement in der Geflüchtetenhilfe darstellte oder ob es der erste freiwillige Einsatz überhaupt war. Im Laufe des Jahres konnten dazu die Angaben von 1.397 Freiwilligen erfasst werden. Die Perspektive der Agenturen wurde über die Projektleitungen erfasst. Hier diente die Dokumentation von vier regionalen Austauschtreffen als Basis, um einen Fragebogen zu entwerfen.

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Gesucht: ein leichter Einstieg in das Engagement für und mit Geflüchteten

Eine Prämisse des Modellprojekts lautete: Es braucht, kurz- wie langfristig, mehr Freiwillige, um viele Aufgaben der Teilhabe und Integration zu bewältigen, aber auch um die Zivilgesellschaft als Ganzes zu stärken. Da gleichzeitig die Zahl der engagementbereiten Bürgerinnen und Bürger groß war, gerade in der oben geschilderten Lage, waren Wege gefragt, die Bereitschaft in konkretes Handeln zu verwandeln. Viele Studien empfehlen hier, sich an besonderen Bedarfen der Freiwilligen auszurichten. So heißt es etwa im Freiwilligensurvey von 2014, neue FreiwilligenGruppen ließen sich erreichen, „indem passgenaue Angebote für sie gemacht werden, die gleichermaßen niedrigschwellig und attraktiv sind (…)“ (Vogel et al. 2016: 249). Anlässlich des Zweiten Engagementberichts wurde diskutiert, viele Engagierte wünschten eine zeitlich begrenzte Aufgabe mit geringer Bindungstiefe und Intensität, die selbstbestimmte Aktivitäten ermöglicht (Köcher/ Hamann 2018: 38). Und eine Ehrenamtsstudie der Erzdiözese Freiburg (2017) rät, „vermehrt überschaubare, von Umfang und Dauer her begrenzte bzw. flexible Engagementmöglichkeiten“ anzubieten, „insbesondere als Weg für einen niedrigschwelligen Einstieg ins Engagement, der eine positive Ersterfahrung ermöglicht“ (ebd.: 32). Dies schien gerade auch für die sogenannte „Flüchtlingshilfe“ gefragt – einem Einsatzfeld, das oft als komplex, voraussetzungsreich und zudem in der ersten Zeit der Zuwanderung 2015 wenig strukturiert galt. Grundsätzlich zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern, dass innovative Formen von Patenschaften hilfreich sein können, um Zielgruppen zu bedienen und auf Herausforderungen einzugehen (zum Beispiel Schwartz/ Rhodes 2016).

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Gefunden: die Mobilisierung neuer Freiwilliger

Der Ansatz, auf diese Bedarfe zu antworten, findet sich bestätigt. Schaut man zunächst auf die „Vorgeschichte“ des Engagements derer, die im Jahr 2016 Ankommenspatin oder -pate geworden sind, zeigt sich: Für über zwei Drittel (67,2 %) der beteiligten Freiwilligen war die Ankommenspatenschaft der erste Einsatz in der Geflüchtetenhilfe (N=1397). Für einen großen Teil war dies sogar zugleich ein

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besonderes biographisches Ereignis: 37,0 Prozent gaben an, die Patenschaft sei das erste freiwillige Engagement in ihrem Leben überhaupt gewesen (N=936). Dass sich so viele Bürgerinnen und Bürger für Geflüchtete engagierten, liegt sehr nahe. Schließlich gab es lange kein Ereignis im Land, das mit so vielen Menschen in Not verbunden war, das in so vielen Medienberichten vorkam, so viele Gemeinden und Städte gleichermaßen betraf und so viele Menschen tief berührte und entsprechend mitriss. So entstand ein Aktivierungseffekt, den eine repräsentative Studie des Instituts für Demografie Allensbach (2017) eindrücklich abgebildet hat: Demnach haben 55 Prozent er Bevölkerung in Deutschland Geflüchtete unterstützt, überwiegend durch Sach- und Geldspenden sowie durch öffentliche Fürsprache, aber 35 Prozent davon auch mit aktiver Hilfeleistung. Daher könnte man fragen: Wenn schon viele Menschen mobilisiert waren, machte dann ein besonderes Format noch einen Unterschied, um einen entscheidenden Impuls für ein Engagement zu setzen? Offensichtlich ja, wenn man die Zahlen aus der Gesamtevaluation des Programms „Menschen stärken Menschen“ heranzieht: Hier ist es für 19 Prozent der beteiligten Patinnen und Paten das erste Engagement (BMFSFJ 2017: 8). Deutlich weniger als beim Projekt Ankommenspatenschaften, das auf einen entsprechenden Anteil von 37 Prozent kommt. Ähnlich wird der Anteil dieser Gruppe in der Allensbach-Studie ausgewiesen: Hier geben 36 Prozent aller befragten Freiwilligen an, sie hätten sich zum ersten Mal ehrenamtlich eingebracht (Allensbach 2017). Allerdings sind hier die unterschiedlichen Zeiträume zu beachten: Die Allensbach-Studie befragte Freiwillige, die „seit 2015“ aktiv waren (ebd.: 12). Ankommenspatinnen und -paten dagegen engagierten sich frühestens ab April und weit überwiegend in der zweiten Hälfte des Jahres 2016, zu einem Zeitpunkt also, da die größte Welle der Hilfsbereitschaft schon wieder abgeebbt war. In dieser Phase Menschen für das Engagement für Geflüchtete gewonnen zu haben, ist anders zu gewichten als noch im Jahr zuvor, als es über Wochen oft mehr hilfsbereite Menschen gab als sinnvolle Möglichkeiten zu unterstützen. Zudem differieren die Aufgaben: Eine Ankommenspatenschaft beinhaltet zwar eine zeitlich und sachlich begrenzte, aber immer noch persönliche Verantwortung für eine/-n Geflüchtete/-n. Verglichen mit den einfacheren Formen aktiver Hilfeleistung ohne diese Verantwortlichkeit, die in der Allensbach-Studie ebenso erfasst sind, kann den Ankommenspatenschaften ein höherer Schwierigkeitsgrad attestiert werden. Es ist eine größere Herausforderung, so

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könnte man das verstehen, die die Freiwilligen aufgrund des Formats dennoch angenommen haben. Dass zugleich die niedrige Eingangsschwelle einen Ausschlag gegeben hat, belegen aber allem voran die Angaben und Berichte der Freiwilligen selbst. So befanden in der Online-Befragung 41,2 Prozent der Ankommenspatinnen und -paten, es sei (sehr) wichtig für ihren Entschluss zum Engagement gewesen, dass zunächst drei Treffen vorgesehen sind (N=408). (Ein Anteil, der in der Umfrage im Jahr 2018 sogar noch leicht steigen wird, als 44 Prozent der Niedrigschwelligkeit eine (sehr) große Bedeutung zuschreiben.) Beachtlich: Nicht nur für „Neulinge“ war die niedrige Eingangsschwelle ein maßgeblicher Faktor. Unter denen, die 2016 bereits in der Geflüchtetenhilfe aktiv waren, sind es immerhin noch 34,2 Prozent, für die die geringen zeitlichen Anforderungen (sehr) wichtig waren (N=175). Wie die lokalen Projektleitungen berichteten, handelte es sich hier oft um Engagierte mit viel Zeit und noch freien Kapazitäten oder um Freiwillige, die bislang wenig persönlichen Kontakt mit Geflüchteten hatten, weil sie zum Beispiel in einer Kleiderkammer tätig waren. Insofern ebnete das besondere Format auch den schon Engagierten den Weg in ein weiteres Engagement.

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Der Reiz überschaubarer Anforderungen

Aber was sind es für Faktoren, die das Format als attraktives Engagementangebot erscheinen ließen? Die nachfolgenden Formeln, alle von Freiwilligen in Interviews und Fragebögen verwendet, geben einen ersten Einblick. „machbar“

„gut einplanbar“

„kompakt“

„nicht so kompliziert gemacht“

„sehr konkret“

„klar umgrenzt“

„überschaubar“

„kein Druck“

Ankommenspatenschaften

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Mithilfe von Erzählungen aus den Gruppeninterviews, die zeigen, wie Freiwillige das Angebot reflexiv verarbeitet haben, lassen sich einige Begründungen noch genauer bestimmen. Im ersten Fall werden mögliche negative Verläufe angesprochen, die mit der Konstellation einer Ankommenspatenschaft vermieden werden können. „Und ich muss sagen, diese drei Mal, da dachte man, ja, das ist auf jeden Fall machbar. Man dachte jetzt nicht, oh mein Gott, jetzt trifft man sich rund um die Uhr oder man hat irgendwelche Verpflichtungen. Ich fand dieses drei Mal, das bekommt man auf jeden Fall hin, dachte ich.“ (HF2)1

Auffällig hier: Die Freiwillige geht von einem „Dauerengagement“ aus, für sie ein „Schreckensszenario“. Engagiert sie sich, erscheint ihr ihr Leben schicksalhaft bestimmt, von unbekannten und daher kaum steuerbaren Pflichten, die viel Zeit beanspruchen. Auch eine andere Freiwillige spricht in diesem Sinne von einem „riesigen Fass“, das man aufmachen könnte – „und dann steckt man mittendrin und hat sein eigenes Leben auch noch“ (KF1). Der Vorteil des Formats, wie ihn ein weiterer Freiwilliger darstellt, besteht folgerichtig in der vorhandenen Exit-Option: „Da kann ich sagen, da bin ich wieder draußen und fertig.“ (UF4) Vor diesem Hintergrund lässt sich die Formel „drei Mal“ als eine weitreichende Vergewisserung dafür deuten, dass die Aufgabe handhabbar und in den Alltag integrierbar ist. Offenkundig wird das Bedürfnis bedient, sich vor unübersehbaren Folgen zu schützen. Die Selbstbestimmung bleibt gewährleistet, die „Angst vor Überforderung“ gebannt, auch weil der eigene Einsatz kontrollierbar ist. Andere Freiwillige nennen zudem die Tätigkeit und dabei die thematische Offenheit, die das Angebot vorteilhaft erscheinen lässt:

1 Die Aussagen der Freiwilligen, die am Gruppeninterview beteiligt waren, wurden bei der Transkription anonymisiert. Die Zitate werden hier nach der folgenden Systematik nachgewiesen: Der erste Buchstabe steht für die Stadt (H = Halle, K = Köln, KS = Kassel, U = Ulm), der zweite für das Geschlecht (F = Frau, M = Mann) und die Ziffer für die der jeweiligen Person zugeordnete Zahl. Alle anderen nicht gekennzeichneten Zitate von Freiwilligen stammen aus den Online-Fragebögen.

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„Bei diesen drei Treffen, da gab es auch keine Regeln, wie das abzulaufen hat, da konnte man selbst entscheiden, man konnte Sport machen, Kultur, einfach eine Stadtrundfahrt oder so was. Das fand ich gut, weil da kein Druck ist, sondern macht irgendwas, lasst euch was einfallen“ (HM1).

So gesehen, hilft das Format Unsicherheiten zu reduzieren, die in der Situation selbst angelegt sind: in der besonderen Notlage Geflüchteter. Aktivitäten selbst zu wählen sorgt, dafür das Gefühl von Autonomie. Wie das nächste Zitat zeigt, spielt noch eine andere Dimension von Unsicherheit eine Rolle: die Frage, ob die eigenen Fähigkeiten ausreichen, die Situation angemessen zu gestalten. „(...), so dass, wenn man jetzt auch unbeholfen ist und man weiß nicht, wie das klappt, und da kann man sich nicht gleich für ein halbes Jahr verpflichten (…)“ (HM1).

Hier formuliert ein Freiwilliger einen besonderen Anspruch an sich: Er kann ein längerfristiges Engagement erst dann zusichern, wenn er sich in der neuen Situation bewährt hat. Wer aber noch nicht weiß, „wie das klappt“, kann nichts langfristig zusagen. Wer „unbeholfen“ ist, kann scheitern. Wenn man etwas macht, so die Überzeugung im Hintergrund, muss man es richtig machen können. Umso wichtiger, dass das Format mit der zeitlichen Begrenzung dafür bürgt, sich mit seinen Kompetenzen erproben zu können. Im Modus einer etappenweisen Annäherung wird so das Risiko minimiert, womöglich überfordert zu sein oder durch vermeintlich ungenügsames Vorgehen Schaden anzurichten. Während das Format in diesem Sinne das kleinere Übel und einen sicheren Rahmen darstellt, der den Weg ins Ungewisse überschaubar macht, gibt es noch einen anderen Zugang dazu, den man die nächstliegende Alternative nennen könnte. Eine Ankommenspatenschaft erscheint dabei als der nächsthöhere Schwierigkeitsgrad, der, verglichen mit anderen Möglichkeiten des Engagements, am ehesten realisierbar ist. In einem konkreten Fall hatte eine Freiwillige bereits Geld gespendet. Weil sie jedoch wusste, „Engagement war nötig“, suchte sie im Internet, „was man noch so machen kann“. „Und dann habe ich diese drei mal drei gesehen und dachte: Das ist doch ein guter Anfang für mich, auch um irgendetwas zu tun“ (KSF1).

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Es scheint hier darum zu gehen, überhaupt „irgendetwas“ zu tun und einen „Anfang“ zu finden. Die Priorität liegt auf der Form, zunächst ungeachtet des Inhalts des Engagements. Anders verhält es sich bei einem Freiwilligen, dem der direkte Zugang zu Geflüchteten wichtig war. Erst hatte er erwogen, Vormund für einen geflüchteten Jugendlichen zu werden, aber die vielen Formalien, die er dafür zuvor bewältigen sollte, hatten ihn abgeschreckt. Vor diesem Hintergrund erlebte er das Angebot der Ankommenspatenschaften so: „Ich konnte direkt dorthin gehen und mich informieren – und nicht immer erst dieser formelle Kreis. Ich wusste auch, wenn ich dorthin gehe, bekomme ich eine genaue Information über das Modell, und dann kommt der direkte Kontakt zustande. Das war für mich bei dem anderen nicht so sehr greifbar wie hier (…)“ (KM1).

Wie seine weitere Schilderung zeigt, behielt er seine grundsätzliche Bereitschaft bei, sich umfangreicher einzubringen: Zwei Afghanen, die er bei einer MatchingVeranstaltung zu Ankommenspatenschaften kennenlernen konnte, begleitete er in der Folge intensiv. In diesem Fall hat ein Freiwilliger zwar einen großen Einsatzwillen, dennoch braucht er einen niedrigschwelligen Zugang, um den entscheidenden Schritt zu machen.

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Kurzfristig ausprobieren, langfristig engagieren

Viele Berichte von Ankommenspatinnen und -paten zeigen: Obwohl kurzfristig angelegt, können aus Ankommenspatenschaften also auch längerfristige Beziehungen entstehen. Ein Freiwilliger beschreibt diesen Verlauf so: „Ursprünglich sollten nur drei Treffen stattfinden, und das war auch gut so, da ich sonst aus beruflichen Gründen nicht hätte teilnehmen können. Nun ist aber eine Freundschaft entstanden, und wir sehen uns regelmäßig. Ich habe mit WG-Zimmer gesucht, Behördenschreiben erledigt, Anwalt gesucht, wir haben eine Kochgruppe etc. Die drei Stunden haben ‚gelockt‘, da so keine Angst entstand, auf zu viel Zeit verpflichtet zu sein. Klingt vielleicht nicht nett, aber war zunächst ausschlaggebend.“

Dass die zeitliche Ausdehnung weit über das hinausgeht, was am Anfang möglich erschien, ist kein Einzelfall. Belegen lässt sich diese Tendenz etwa mit den Angaben zur Häufigkeit der Treffen. Ausgehend von der Online-Umfrage, haben sich

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zum Zeitpunkt der Befragung 27,6 Prozent der Paten-Tandems bereits bis zu drei Mal, 28,4 Prozent bis zu sechs Mal, 13,7 Prozent bis zu zwölf Mal und 30,2 Prozent öfter als zwölf Mal getroffen (N=394). In vielen Fällen ist also etwas Neues entstanden, das zu mehr, zu regelmäßigeren Treffen veranlasst. Aber wie kommt es dazu? Hier ist wichtig zu sehen: Der Rahmen der Ankommenspatenschaft bietet die Möglichkeit einer explorativen Erfahrung. Die nachfolgende Fallanalyse kann diesen Prozess exemplarisch veranschaulichen. Einer Freiwilligen – Mitte 20, erwerbstätig und Mutter eines Kindes – war es anfangs wichtig, dass ihr Einsatz „klar umgrenzt“ ist und dass sie „nicht direkt ein riesiges Fass aufmacht“. Als Ankommenspatin begegnet sie einer Familie. Sie treffen sich, besuchen das Naturkundemuseum, spielen Minigolf, gehen in den Park. Ein „freundschaftliches Verhältnis“ entsteht. Nach und nach beginnt die Freiwillige, Behördengänge zu begleiten, was viel Zeit und Recherche erfordert. Über die erste Familie lernt sie eine zweite kennen, die sie ebenfalls unterstützt. Wie es dazu kam, erläutert sie so: „Ich glaube, einfach über Sympathie. Es war sehr angenehm, wir haben uns miteinander wohl gefühlt, es war eine nette Erfahrung, die ich als Allererstes als bereichernd [empfand] (…) Ich habe einfach das Gefühl gehabt, dass wir sehr gut zusammenpassten. (…) Am Anfang habe ich auch bei Behördengängen nicht unterstützt. Das ist erst beim näheren Kennenlernen dazu gekommen. (…) Es war auch klar kommuniziert, dass man das nicht machen muss, und das war auch den Familien klar, dass das nicht meine Aufgabe ist. Das fand ich ganz angenehm, und ich habe das dann freiwillig übernommen, und das kam so Stück für Stück“ (KSF1).

Vieles folgt hier zunächst dem gängigen Muster einer gleichberechtigten Kontaktaufnahme: Nachdem die Begegnungen beiderseits als angenehm eingeschätzt werden, erweitern sich die Themen, die angesprochen werden. Ist man sich sympathisch und entsteht Freundschaft, wird es normal, sich zu helfen. Dass die Familie Unterstützung gebrauchen könnte, war von Vornherein klar, stand aber zunächst nicht im Vordergrund – weder in der Freiwilligen-Rolle, wie vom Projekt beschrieben, noch von beiden Seiten in der Phase des Beziehungsaufbaus. So konnte sich ein ‚normales‘ Verhältnis entwickeln und die Patin ohne Handlungsdruck erleben, wie sie selbst von dem Austausch profitiert. Ausgehend von dieser Selbsterfahrung, wird die Situation neu definiert, wodurch neue Möglichkeiten entstehen, auch weil so neue emotionale und zeitliche Ressourcen aktiviert werden. Üblicherweise wird für Patenschaftsbeziehungen eine Neudefinition

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von Rollen erst später angesetzt, wenn zum Beispiel die zentralen Aufgaben erledigt sind und über die Fortführung der Beziehung zu entscheiden ist (Keller 2005). Hier findet sich das Moment der Neubestimmung zeitlich auch am Anfang. Denn was sie zunächst abgelehnt hätte, etwa die Familien auch zum Jobcenter etc. zu begleiten und damit umfangreich zu begleiten, ist nun eine Option. Durch den organischen Verlauf, in dem die besondere Konstellation zu einer Freundschaft werden konnte, nimmt die Freiwillige es nicht mehr als von außen auferlegt wahr, weitere Aufgaben zu übernehmen. Stattdessen erscheint es als Resultat einer normalen Dynamik und der eigenen Entscheidung.

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Die Entwicklung der Beziehungen und die Veränderung der Rollen

In vielen Fällen dehnt sich das Engagement der Ankommenspatinnen und -paten nicht nur zeitlich aus. Wie die Beispiele eben exemplarisch vorführten, entwickelt sich oft eine größere emotionale Tiefe, und es werden mehr sachliche Aufgaben übernommen als zunächst gedacht und vorgesehen. Danach gefragt, wie sie ihr Verhältnis zu ihrem Gegenüber einschätzen, geben 40,9 Prozent der Freiwilligen an, es sei eine „gute Bekanntschaft“ entstanden. 10,2 Prozent ordnen es unter „familiäre Verbundenheit“ ein, 7,7 Prozent unter „enge Freundschaft“, 25,7 Prozent unter „nette Begegnung“. Die Vielfalt der Beziehungsformen schlägt sich auch nieder in den offenen Antworten zu dieser Frage: Ein Antwortender spricht dort von einem „sehr warmherzigen und vertrauensvollen Verhältnis“, ein anderer von „lockerer Freundschaft“, einer sieht sein Gegenüber „wie einen Bruder“. So haben Ankommenspatenschaften das Potenzial, das entstehen zu lassen, was sich laut einer Studie des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration viele Geflüchtete wünschten: „echte soziale Beziehungen“ (Schiefer 2017: 5). Nimmt man die Anteile von „guter Bekanntschaft“, „enger Freundschaft“, „familiärer Verbundenheit“ und einen Teil derer, die unter „Sonstiges“ geantwortet haben, zusammen, kann man sagen: In etwa zwei Drittel der Ankommenspatenschaften haben sich solche echten sozialen Beziehungen entwickelt. Wie diese formelhaften Beschreibungen andeuten, werden die Beziehungen

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offenbar eher als gleichberechtigt bzw. symmetrisch empfunden – ein weiterer Aspekt, der Geflüchteten wichtig war (ebd.). Dazu passt, dass sich die Tandems aus Geflüchteten und Freiwilligen vor allem geselligen beziehungsorientierten Aktivitäten gewidmet haben, „einfach reden“ etwa, „gemeinsam kochen/essen“ oder „eine Veranstaltung besuchen“. Ein erheblicher Teil der Freiwilligen gibt aber auch instrumentelle unterstützende Aktivitäten an, die über das gemeinsame Stadterkunden hinausgehen: 59 Prozent der Freiwilligen übten mit ihrem Gegenüber die deutsche Sprache, fast 33 Prozent kümmerten sich mit um Behördenangelegenheiten, 19 Prozent halfen bei Hausaufgaben, 14,6 Prozent bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Dass sich die Aktivitäten und Rollen so erweitern und verändern können, ist zunächst ein Phänomen, das Patenschaftsangeboten generell zu eigen ist (z.B. Lucas 2001). Manche Autorinnen sehen gerade darin eine besondere Qualität (Goldner/ Mayseless 2008). Im konkreten Fall kann man es auch strukturell unvermeidlich ansehen – sind doch die Geflüchteten vielfältigen Notlagen ausgesetzt, gerade wenn sie in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft keine andere konstantere Vertrauensperson als Freiwillige hatten. „Die Einbindung von Ehrenamtlichen, insbesondere in Form personenbezogener Zuständigkeiten (z.B. durch Patenschaften)“, so heißt es in einer Fallstudie, „wird sich daher niemals ausschließlich auf ‚typische ehrenamtliche Bereiche‘ wie Freizeitgestaltung oder Alltagsorientierung fixieren lassen, sondern die Ehrenamtlichen werden nach dem Aufbau einer Vertrauensbeziehung auch hinsichtlich anderer Lebens- und Problemlagen der Geflüchteten um Rat und Unterstützung gefragt“ (Glorius 2017: 44f.). Obwohl nur vorübergehend engagiert, müssen auch Ankommenspatinnen und -paten deshalb darauf achten, das richtige Maß zu finden, in welche Aktivitäten sie einsteigen oder eher nicht. Keine leichte Aufgabe: 27 Prozent der Freiwilligen bekunden, über ihre Rolle im Unklaren gewesen zu sein. 29,7 Prozent erlebte einen „Zwiespalt, was ich tun und lassen soll“. Der Rahmen wurde zwar von Freiwilligenagenturen kommuniziert, dennoch bleiben Unklarheiten oder entstehen im Laufe der Zeit. Einzelne Freiwillige bekunden ihr Missfallen, wenn sie von Geflüchteten um etwas gebeten werden, das nicht zur eigenen Rolle gehört. Ungleiche Erwartungen haben sich auch in anderen Patenschaftsformen als eine zentrale Bruchstelle erwiesen, an der entsprechende Beziehungen scheitern können (Spencer 2007). In diesem Kontext wiegt dieser Umstand schwerer, denn wenn

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sprachliche Hürden bestehen, wie 59 Prozent der Freiwilligen angeben, dann kann man sich über die unterschiedlichen Erwartungen schlechter verständigen. Damit ist klar: Auch bei einem kurzen Einsatz sind Selbstreflexion und ein konstruktiver Umgang mit Herausforderungen gefragt. Für die Organisation von Ankommenspatenschaften bedeutet das: Es ist eine aufmerksame Begleitung der Tandems erforderlich. Denn es können schnell strukturell ähnliche Problemlagen auftauchen, wie sie sich auch in längerfristigen Patenschaften einstellen. Dass die Begegnung als misslungen gewertet wird, als „verunglückter Kontaktversuch“, geben sechs Prozent der Freiwilligen an. Viele andere Freiwillige – und genauso gut auf der anderen Seite Geflüchtete, deren Perspektive hier nicht erfasst ist – finden offenbar individuelle und/oder gemeinsame Wege, wie sie diese Herausforderung meistern.

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Die vielfältigen Lernprozesse von Freiwilligen

Begegnungsformate wie die Ankommenspatenschaften lassen sich als Rahmen einer tertiären Sozialisation (Hurrelmann 2012) verstehen. Sie bieten einen Einfluss und Kontext außerhalb von Familie und Bildungsinstitutionen, in denen sich Wahrnehmungen und Kompetenzen ausbilden, die für die Gestaltung des Miteinanders in unterschiedlichen Kontexten wichtig sind. Das gilt nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für Einheimische: Integration ist schließlich ein wechselseitiger Prozess, in dem beide Seiten dazulernen (Han-Broich 2016). Ankommenspatenschaften stiften dafür einen kleinen Rahmen und sorgen für entsprechende Lerngelegenheiten, unterstützt und angeleitet auch durch die Vorbereitung und Begleitung durch die Freiwilligenagenturen. Wie ihre Auskünfte zeigen, verändern sich die meisten Freiwilligen tatsächlich durch ihr Engagement – in ihren Selbst- und Gesellschaftsbildern, in ihren praktischen Fähigkeiten und in Aspekten ihrer Identität. Ein Indiz für eine gewandelte Wahrnehmung ist, wie die Freiwillige auf „das Eigene“ schauen. „Ich sehe die eigene Kultur mit anderen Augen“: Für 17,6 Prozent der Freiwilligen trifft diese Aussage „voll“ und für 40,7 Prozent „teilweise“ zu. Zudem werden persönlich erreichbare Möglichkeiten des Miteinanders neu eröffnet oder bestätigt. Zumindest sagen fast 80 Prozent, sie hätten „erfahren, dass

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aus Fremden vertraute Menschen werden können“. Damit deuten sie ein Schlüsselerlebnis an, das, zu einer Grundhaltung geworden, für die soziale Kohäsion einer vielfältigen Gesellschaft zentral scheint. Und auch die Vorstellung der eigenen Wirkungsmöglichkeiten, was sich durch freiwilliges Engagement erreichen lässt, wird neu geprägt oder wenigstens untermauert. Dass sie erkannt hätten, „dass man auch mit wenig Einsatz viel erreichen kann“: Dieser Aussage stimmen 29,3 Prozent „voll“ und 45,2 Prozent „teilweise“ zu. Folgt man den Selbstauskünften der Freiwilligen, verändert sich nicht nur das Bild der Handlungsoptionen. Auch im Hinblick auf individuelle Fähigkeiten lässt sich das sozialisatorische Potenzial der Begegnungen nachweisen: „Ich bin sensibler im Umgang mit anderen geworden“, finden zum Beispiel über 55 Prozent der Ankommenspatinnen und -paten. „Ich bin sicherer im Umgang mit Menschen aus einer anderen Kultur geworden“, bestätigen 12,7 Prozent „voll“ und 50 Prozent „teilweise“. Nun könnte man fragen, ob dies nicht oberflächliche Eindrücke sind, die da berichtet werden. Dagegen spricht eine Angabe der Mehrzahl der Befragten, die auf eine tiefergehende Erfahrung verweist: Dass „freiwilliges Engagement zu einem Teil meines Lebens geworden“ ist, dem stimmen 28,1 Prozent „voll“ und 40,5 Prozent „teilweise“ zu.

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Der große Wille und der schwierige Weg zur Integration

Bemerkenswert bei den Motiven, die die Freiwilligen zu einer Ankommenspatenschaft bringen: Weder die Begegnung und die Neugier auf das persönliche Kennenlernen einer/ eines Geflüchteten war der durchschnittlich wichtigste Antreiber noch der Wunsch, ein „Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit“ setzen zu wollen; Letzteres, vielfach als Indiz für die Besonderheit eines „politischen Engagements“ beschrieben (Karakayali/ Kleist 2016: 4f.), geben 50 Prozent als „voll“ und 31,3 Prozent als „eher“ zutreffend an. Stattdessen findet das Bekenntnis zu einem quasi sozialtechnischen Konzept die meiste Zustimmung, ein Modell, das einen zentralen Mechanismus für integrative Prozesse beschreibt, der gleichzeitig eine eigene Verantwortung impliziert: „Ich fand, nur persönliche Begegnung sorgt für Integration“ lautete das Statement, das für 65,6 Prozent der Freiwilligen „voll“ und für weitere 28,6 Prozent „eher“ zutraf.

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Wie weitreichend sich Freiwillige mit dieser Leitidee identifizieren können, illustriert der Einzelfall einer Studierenden, die im Gruppeninterview die Frage aufwirft: „Was ist überhaupt Integration?“ Die Antwort, die sie sich selbst gibt, lautet: „Das ist ja nichts, was man aus einer Schachtel holt und es ist da, sondern dass es aus einem raus kommt“ (HF2). So verstanden, lässt sich Integration nicht einfach an andere delegieren – es ist eine Aufgabe, mit der man identifiziert sein muss. Gemessen an den beschriebenen Beziehungen und Aktivitäten, tragen Ankommenspatinnen und -paten zu zentralen Aspekten der Integration bei. Zugleich erleben die meisten aber auch, wie schwierig dieser Prozess sein kann: Fast neun von zehn Befragten haben nun „mehr Verständnis dafür, wie komplex Integrationsprozesse sind“. Kein anderes Statement, das Veränderungen abfragte, die Freiwillige an sich feststellten, fand so viel Zustimmung wie dieses. Durch die Einblicke, die die Freiwilligen in die Lebenssituation Geflüchteter bekamen – in deren Unterbringung, in die Anforderungen der Bürokratie, die Aufgabe des Spracherwerbs etc. –, erhalten sie ein umfassendes Bild, was alles geschieht und was gelingen muss, damit dieser Zustand erreicht wird. „Es macht Freude, manchmal ist es bedrückend“, schreibt eine Freiwillige, „Integration ist ein langer, sehr langer Weg.“ Das Engagement nährt so keinen sozialromantischen Machbarkeitsoptimismus, sondern wird quasi auch zur ‚Schule der Integration‘, indem es die Einsicht in die Vielschichtigkeit der anstehenden Herausforderungen vermittelt. Wie Freiwillige all die damit verbundenen Erfahrungen verarbeiten und kommunizieren, ist von großer Bedeutung – auch auf gesellschaftlicher Ebene. Denn Ankommenspatinnen und -paten verstehen sich oft selbst als „Botschafter der Integration“ bzw. der Geflüchteten. Fallbeispiele zeigen, wie wichtig ihre Erfahrungen mit Geflüchteten sind, weil sie dies auch in ihren privaten und beruflichen Kontexten teilen. Da ist etwa der Kommissar, der die abfälligen Äußerungen der eigenen Kollegen nicht mehr erträgt, über eine Ankommenspatenschaft in Kontakt mit einigen jungen Syrern kommt und es schafft, im Kollegium „andere Bilder“ von Geflüchteten zu vermitteln, konträr zu abwertenden Stereotypen. Nach und nach wird der Kommissar zu einem Ansprechpartner für andere Beamte, der erläutert, wie man ein Verhalten von Geflüchteten auch anders, kulturell sensibler wahrnehmen kann. Ankommenspatenschaften wirken daher nicht nur auf die unmittelbar Beteiligten. Indem sie in ihrem Umfeld etwa als Multiplikator wirken,

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können sie auch bei anderen Vorstellungen und Haltungen anstoßen, die für integrative Prozesse hilfreich sind. Dies gilt allerdings nur solange, wie die Freiwilligen ihre Aufgabe gut bewältigen und positiv verstehen können – und nicht dauerhaft unter bestimmten Belastungen leiden. Der Online-Umfrage zufolge geben nur 0,7 Prozent an, konkret drei Freiwillige, sie seien sehr stark belastet, weitere 13 Prozent beschreiben sich als (stark) belastet. Der genannte Zusammenhang kann auch in eine andere Richtung wirken: Wenn sie eine schlechte Erfahrung mit einem Geflüchteten verallgemeinern und ebenso intensiv kommunizieren, können Freiwillige auch Botschafter der Spaltung und Polarisierung werden. Auch dies macht wieder die immense Bedeutung einer sorgfältigen Begleitung klar. Mag es sich auch nur um einige wenige Begegnungen handeln – es braucht Möglichkeiten, zumal negative Erfahrungen gut verarbeiten zu können. Wie wichtig das ist, zeigt der Einzelfall eines Freiwilligen, der in der Online-Umfrage schreibt: „Ich weiß jetzt, dass man nicht einfach auf die Fremden zukommen muss. Man muss ihnen etwas bieten.“ Hier wird ein negatives Stereotyp gefestigt, das wahrgenommene Verhalten wird nicht situativ oder individuell erklärt, sondern generalisiert – ein Effekt, der das Gegenteil des Gewünschten darstellt. Werden solche Erfahrungen nicht aufgefangen, kann Engagement für Integration auch Nebenwirkungen haben, die eher spaltend wirken. Das betrifft auch den sozialen Nahbereich der Freiwilligen: Fast jede/r zehnte Freiwillige bestätigt, einige Beziehungen mit Angehörigen oder Freunden hätten sich verschlechtert. Für 2,5 Prozent trifft diese Aussage voll, für weitere 7,0 Prozent eher. Weil sie abwertende Äußerungen von Freunden gegenüber Geflüchteten nicht akzeptieren kann, so berichtet eine Freiwillige im Gruppeninterview, habe sie gesagt, „da kommen wir nicht mehr zusammen, das wird nichts“ (HF2). Andere Einzelfälle zeigen, wie das Vertrauen in Behörden angegriffen werden kann. Dass er mit einem Geflüchteten dort viele Stunden lang warten musste, um dann doch auf einen anderen Tag verwiesen zu werden, hat einen Freiwilligen spürbar tief gekränkt: „So kann man nicht mit Menschen umgehen, das trifft mich“ (KSH2). Auch diese Erfahrung deutet an: Ereignisse auch hier in Deutschland können nicht nur die Geflüchteten, sondern auch Freiwillige schwer belasten, bis hin zur Sekundärtraumatisierung (Daiber et al.2018).

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Ankommenspatenschaften als ergänzendes Format in der sich wandelnden Engagementlandschaft in der Geflüchtetenhilfe

Die Aufgaben des Engagements für Geflüchtete haben sich unterdessen gewandelt (Mutz et al. 2018): Verglichen mit der ersten Zeit der starken Zuwanderung ist Spontanengagement kaum noch gefragt. Es fallen weniger niedrigschwellige Tätigkeiten in Unterkünften und Kleiderkammern an, wie sie für die Willkommenskultur prägend waren. Stattdessen mehren sich die Aufgaben, „die die Fähigkeit zu (kontrollierten) emotionalen Bindungen und den Aufbau sozialer Beziehungen (…) erfordern“ (ebd.: 72). Weil die Lebenslagen Geflüchteter sehr unterschiedlich sind und in ihrer Komplexität zunehmen, braucht es zudem mehr thematisch spezialisierte Unterstützung. Vor diesem Hintergrund ist klar: Ankommenspatenschaften, wie sie modellhaft von Freiwilligenagenturen eingeführt wurden, können auf diese Bedarfe nur begrenzt eingehen. Zwar haben sie das beachtliche Potenzial, sich zu engeren sozialen Beziehungen weiterzuentwickeln und/ oder Zugänge zu entscheidenden Unterstützungsleistungen zu eröffnen. Jedoch können und wollen sie die gängigen langfristig angelegten Patenschaften nicht ersetzen – auch nicht, wenn, wie im weiteren Verlauf des Modellprojekts geschehen, das Format teilweise thematisch angepasst und damit auf unterschiedliche Phasen des Ankommens eingegangen wird. Zugleich lautet der Tenor, bei den beteiligten Freiwilligen wie bei den Freiwilligenagenturen: Ankommenspatenschaften bieten eine wichtige Ergänzung des Spektrums an Engagementmöglichkeiten in der Geflüchtetenhilfe. Als leichter Einstieg, der spontanes Engagement eher erlaubt, kommt das niedrigschwellige Format gerade noch Engagement ungewohnten Gruppen von Freiwilligen entgegen. Diese Chance auf Mobilisierung wird nicht zuletzt gefragt bleiben, wenn die Zahlen sich neu einbringender Freiwilliger zurückgehen. Bei allen Tandemangeboten ist es ein Spagat, die Bedarfe beider Seiten angemessen zu bedienen. Alle Beteiligten, Geflüchtete, Freiwillige und Koordinierende, hatten mit diesem Spannungsfeld umzugehen. Ankommenspatenschaften lassen sich darin als eine hybride Form verstehen – als ein Zwischenraum der Begegnung, der die Möglichkeit kurzzeitigen, spontanen Engagements und langfris-

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tigen Einsatz mit starkem Verpflichtungscharakter zusammenbringt. Dieser Zwischenraum kann Übergänge in zunehmende Bindungstiefen und komplexere Aufgaben ermöglichen, aber nicht von Beginn an zusichern. Insofern lässt sich dieses Format als Teil einer Entwicklung der Geflüchtetenhilfe verstehen, die „neue Muster bürgerschaftlichen Engagements“ (ebd.: 70) hervorbringt.

Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017): Wirkungsanalyse des Patenschaftsprogramms im Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen“. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/117596/ed5f189dae3bf142645cb4b87db14f0e/wirkungsanalyse-des-patenschaftsprogramms-menschen-staerken-menschen-data.pdf (zuletzt abgerufen am 22. Mai 2018) Daiber, Stephan/ Rahmani, Zakaira (2018): Psychologische Betreuung Geflüchteter. Ein Phyrrussieg für freiwillig Engagierte? In: Zajak, Sabrina/ Gottschalk (Hrsg): Flüchtlingshilfe als neues Engagementfeld. Baden-Baden: Nomos: 157-182. Erzdiözese Freiburg, Institut für angewandte Sozialwissenschaften (2017): Engagement an vielen Orten – Vielfalt unter dem Dach der Kirche?! Freiburg. Online verfügbar unter: www.ebfr.de/html/media/dl.html?i=466748 (zuletzt abgerufen am 22. Mai 2018) Glorius, Birgit (2017): Unterstützungsbedarf von Geflüchteten und die Rolle des Ehrenamtes: Das Beispiel der Stadt Leipzig. Chemnitzer Beiträge zur Humangeographie online Nr. 4, Chemnitz. Online verfügbar unter: www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/geographie/Publikationen/ChHG/ChHG_online_4_2017.pdf (zuletzt abgerufen am 22. Mai 2018) Goldner, Limor/ Mayseless, Ofra (2008): Juggling the roles of parents, therapists, friends and teachers - a working model for an integrative conception of mentoring. In: Mentoring and Tutoring: Partnership in Learning 16: 412-428 Han-Broich, Misun (2016): Engagement in der Flüchtlingshilfe – eine Erfolg versprechende Integrationshilfe. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 14/15: 43-49 Hurrelmann, Klaus (2012): Sozialisation. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. Weinheim Basel: Beltz Institut für Demoskopie Allensbach (2017): Engagement in der Flüchtlingshilfe. Ergebnisbericht. Hg. von Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin Karakayali, Serhat/ Kleist, J. Olaf (2016): Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland, 2. Forschungsbericht: Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015. Hrsg. vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Berlin Keller, Thomas E. (2005): The stages and development of mentoring relationships. In: DuBois, David L./ Karcher, Michael (Hrsg.): Handbook of Youth Mentoring. Thousand Oaks: Sage: 82-99

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Köcher, Renate/ Haumann, Wilhelm (2018): Engagement in Zahlen. In: Klie, Thomas/ Klie, Anna Wiebke (Hrsg.): Engagement und Zivilgesellschaft: Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht. Wiesbaden: Springer: 15-106 Lucas, Katharina Fachin (2001): The social construction of mentoring roles. In: Mentoring & Tutoring: Partnership in Learning 9: 23-47 Mutz, Gerd/ Wolff, Lisa (2018): Besonderheiten des freiwilligen Engagements für geflüchtete Menschen. Empirische Befunde und sozialwissenschaftliche Verortung. In: Zajak, Sabrina/ Gottschlak, Ines (Hrsg.): Flüchtlingshilfe als neues Engagementfeld. Baden-Baden: Nomos: 53-76 Schiefer, David (2017): Was wirklich wichtig ist: Einblicke in die Lebenssituation von Flüchtlingen. Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (Hrsg.): Kurzinformation des SVR-Forschungsbereichs 1. Berlin Schwartz, Sarah E.O./ Rhodes, Jean E. (2016): From treatment to empowerment: new approaches to youth mentoring. In: American Journal of Community Psychology 58: 150-157 Spencer, Renée (2007): “It's not what I expected”. A qualitative study of youth mentoring relationship failures. In: Journal of Adolescent Research 4: 331-354 Vogel, Claudia/ Hameister, Nicola (2017): Mitgliedschaften in Religionsgemeinschaften, in Vereinen und in Organisationen und freiwilliges Engagement. In: Simonson, Julia/ Vogel, Claudia/ TeschRömer, Clemens (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland – Der Deutsche Freiwilligensurvey. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: 233-249.

Patenschaften zwischen Geflüchteten und Einheimischen: Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie und Lea-Maria Löbel

Abstract Im Zuge der Zuwanderung hunderttausender Geflüchteter nach Deutschland sind Mentorenprogramme an vielen Orten ein fester Bestandteil der Begegnungskultur zwischen Geflüchteten und Einheimischen geworden. Bisherige Studien zur Wirkung von Mentorenprogrammen haben die Zufriedenheit mit der Beziehung als einen wichtigen Erfolgsfaktor identifiziert. Mithilfe einer Online-Befragung von Mentoren und Mentees des Vereins „Start with a Friend e.V.“ nähert sich dieser Beitrag der Frage, welche Aspekte der Beziehung zur Zufriedenheit in den Tandems beiträgt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Regelmäßigkeit der Treffen sowie die aktive Teilnahme beider Partner wichtig ist. Stichworte Mentoring, Geflüchtete, Zufriedenheit, Freundschaft, Integration

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Einleitung

Zivilgesellschaftliches Engagement spielte eine wichtige Rolle bei der Aufnahme hunderttausender Geflüchteter in Deutschland in den Jahren 2015 bis 2017. So leisteten zeitweise 30 Prozent der deutschen Bevölkerung Geld- und Sachspenden, während sich zehn Prozent direkt vor Ort für geflüchtete Menschen engagierten (Jacobsen et al. 2017). Neben staatlichen Maßnahmen gewannen insbesondere © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_13

308 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel Mentoren-, Lotsen- und Patenschaftsprogramme zwischen Geflüchteten und Einheimischen an Bedeutung und wurden vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Teil der Initiative „Menschen stärken Menschen“ direkt gefördert. Die Frage stellt sich, ob und wie diese informellen und formellen Mentorenprogramme, verstanden als neue soziale Bindungen zwischen zwei Menschen, einen Beitrag zur Integration Geflüchteter leisten können. Belastbare empirische Evidenz zum Ablauf und zur Wirkung solcher Programme gibt es jedoch bislang kaum. Der Fokus bisheriger wissenschaftlicher Arbeiten lag vor allem auf der Evaluierung staatlicher Maßnahmen zur Integration Geflüchteter (Battisti et al.2019; Lange et al. 2017). Dahingegen wurde die Wirkung von Mentorenprogrammen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bereits wissenschaftlich untersucht. Die Literatur beschäftigte sich insbesondere mit Programmen für Jugendliche und Arbeitnehmende als Zielgruppe und fand bisher kleine, aber signifikant positive Effekte (Dubois et al. 2002). Gerade die Literatur zum Mentoring von Jugendlichen in den USA konnte durch großangelegte Studien wie die Big Brother Big Sister-Wirkungsstudie1 wichtige Ergebnisse liefern. Sie zeigte beispielsweise, welche Arten von Mentorenbeziehungen (zum Beispiel bedingungslose im Vergleich zu an Bedingungen geknüpfte Treffen) positive Wirkungen auf schulische Leistungen und Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen haben (Grossman et al. 1998; Langhout et al. 2004). Auch Meta-Analysen haben in dieser Hinsicht dazu beigetragen, differenziert verschiedene Programme hinsichtlich ihrer Wirkung zu vergleichen. Es zeigt sich grundsätzlich, dass durch Mentorenprogramme vor allem Präferenzen verändert und Beziehungen und Motivationen verstärkt werden können, während gesundheitliche Verbesserungen und Karriereentwicklungen weniger stark beeinflusst werden (Eby et al. 2008). Die bisherige Literatur verdeutlicht zudem, dass der Inhalt und die Qualität der Beziehung zwischen Mentor*in und Mentee einen Einfluss auf die Effektivität des Programms hat (Nakkula/ Harris 2005).

1 Die Studie evaluiert in einem experimentellen Design die Wirkung eines landesweit seit Jahrzehnten durchgeführten Mentorenprogramms in den USA. Dazu wurden in den Programmjahren 1991 bis 1993 1.138 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen zehn und 16 Jahren randomisiert in eine von zwei Gruppen eingeteilt, von denen die eine sofort an dem Programm teilnahm und die andere für die Dauer der Studie (18 Monate) auf einer Warteliste platziert wurde.

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

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Seit einigen Jahren widmen sich erste Studien auch gezielt der Evaluierung von Programmen, die Migranten und Geflüchteten bei der Integration unterstützen sollen. Joona and Nekby (2012) erforschen die intensive Betreuung und das Coaching von Migranten durch lokale Arbeitsagenturen in Schweden. Die Autorinnen kommen zu dem Fazit, dass sich sehr schnell Unterschiede in der Erwerbswahrscheinlichkeit von Migranten einstellen, wenn diese an intensiver Beratung und Schulungen teilnehmen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Wirkungsstudien mit Geflüchteten, die sich mit der Arbeitsmarktintegration im Rahmen von speziellen Angeboten der lokalen Behörden beschäftigen. Programme, welche sportliche Aktivitäten mit berufsbegleitenden Maßnahmen verknüpfen werden ebenso analysiert wie die Bemühungen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Rahmen von Workshops zum Berufseinstieg (Battisti et al. 2019; Lange et al. 2017). Allerdings unterscheiden sich diese Interventionen mit Geflüchteten von denen, die in der Literatur zu Mentoring bisher einschlägig diskutiert wurden. Zum einen werden die untersuchten Programme durch staatliche Stellen, von Sozialarbeitern oder zumindest angestelltem und geschultem Personal durchgeführt. Sie untersuchen also nicht die Wirksamkeit von freiwilligem Engagement in der Geflüchtetenhilfe. Solche Freiwilligenprojekte nehmen aber eine zunehmend wichtige Rolle in Unterstützungsprogrammen ein (Hilse-Carstensen et al. 2018). Zum anderen wird die zwischenmenschliche Beziehung der Mentor*innen zu den Mentees nicht evaluiert, auch wenn zum Gelingen der Hilfestellung vor allem auch Erwartungen und die Erfüllung dieser Erwartungen auf beiden Seiten eine wichtige Rolle spielen (Ferguson 2018). Dieser Beitrag widmet sich daher der Frage, welche Faktoren die Zufriedenheit in der Tandembeziehung bestimmen. Um diese Forschungsfrage zu beantworten, betrachten wir in diesem Beitrag Daten aus einer Online-Befragung mit 702 Teilnehmenden eines Mentoring-Programms des Vereins Start with a Friend e.V. (im Folgenden „SwaF“) im Herbst 2016. Mithilfe dieser Daten analysieren wir die Bedeutung von sozio-demographischen Charakteristika der Engagierten und des Verlaufs des Tandems für die Zufriedenheit mit dem Programm. Unsere Ergebnisse zeigen, dass mit verbrachter Zeit mit dem Tandempartner oder der Tandempartnerin auch die Zufriedenheit mit dem Tandem wächst. Dies geschieht unabhängig von vorherigen Erwartungen an das Tandem, die Teilnehmende vor dessen Beginn hatten und, welche natürlich stark zwischen Geflüchteten und Einheimischen variieren. Zwei Drittel der Teil-

310 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel nehmenden gaben sogar an, Freunde geworden zu sein. In den folgenden Abschnitten beschreiben wir zunächst die Daten genauer und stellen einige deskriptive Ergebnisse vor, bevor wir mit Hilfe von Regressionsanalysen die Zufriedenheit im Tandem genauer betrachten.

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Daten und Methoden

Im Herbst 2016 führte das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) gemeinsam mit dem Verein SwaF 2 eine Online-Befragung seiner Mitglieder durch. SwaF ist ein 2014 gegründeter gemeinnütziger Verein, der heute in über 20 deutschen Städten aktiv ist. Innerhalb des Programms des Vereins werden interessierte Geflüchtete mit Einheimischen in Tandems zusammengebracht. Das erklärte Ziel des Vereins ist es, dass sich aus diesen Tandembeziehungen langfristige Freundschaften entwickeln. Daher sollen Einheimische in den Tandems Geflüchteten weniger bei administrativen Tätigkeiten (wie beispielsweise Arbeits- oder Wohnungssuche) unterstützen; vielmehr sollen gemeinsame Aktivitäten wie Fußball spielen, Museen besuchen und gemeinsam Kochen im Vordergrund der Treffen stehen. Hierfür sollen sich die Tandems für zwei bis drei Stunden wöchentlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten treffen. Bis heute hat SwaF über 5.000 Tandembeziehungen initiiert. SwaF verschickte eine personalisierte Rundmail an alle Aktiven des Vereins und lud per Link zur Teilnahme an einer anonymisierten Online-Befragung ein. Zudem wurde jedem Tandem eine anonymisierte Identifikationsnummer in der Mail mitgeteilt, so dass die Angaben der Tandempartner*innen einander zugeordnet werden können. Den Teilnehmenden wurde zugesichert, dass die Daten der Befragung ausschließlich von Forschenden des DIW ausgewertet werden und ihre Angaben dadurch weder von SwaF noch von Forschenden des DIW auf bestimmte Tandems zurückgeführt werden können.

2 Mehr Informationen zu Start with a Friend e.V. unter: https://www.start-with-a-friend.de/.

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

311

Insgesamt nahmen gut 700 Aktive an sechs Standorten3 teil, von denen 139 Geflüchtete und 256 Einheimische (im Folgenden auch „Locals“ genannt) den Fragebogen vollständig ausfüllten. Im Fragebogen wurden Angaben zum persönlichen Hintergrund, zur Motivation hinsichtlich der Teilnahme bei SwaF und zu den Erwartungen an das Tandem erhoben.4 Zudem wurde den Befragten die Möglichkeit gegeben, in offenen Fragen ihre Eindrücke zum Tandem und dessen Verlauf mitzuteilen. In diesem Beitrag nutzen wir diese Survey-Daten, um explorativ zu analysieren, was auf Seiten der Geflüchteten sowie der Einheimischen zur Zufriedenheit mit ihrem Tandem beiträgt.5

3

Mögliche Erklärungen der Zufriedenheit in Tandembeziehungen

3.1 Heterogenität in demographischen Merkmalen Tabelle 1 beschreibt sozio-demographische Charakteristika der Befragten getrennt für Einheimische und Geflüchtete. Sie zeigt, dass in der Gruppe der Locals vor allem Frauen vertreten sind: 80 Prozent der 256 befragten Locals sind weiblich. Im Gegensatz dazu ist die Gruppe der befragten Geflüchteten vor allem männlich. Lediglich 14 geflüchtete Frauen sind Teil der Befragungsgruppe (10 %). Dieses Ungleichgewicht deckt sich mit bisherigen Erkenntnissen aus der Forschung zu Geflüchteten und Freiwilligen, die jeweils durch männliche Geflüchtete (Brücker et al. 2016) beziehungsweise weibliche Ehrenamtliche geprägt sind (Jacobsen et al. 2017). Im Vergleich dazu ist die Altersstruktur bei Geflüchteten und Locals vergleichbar. Das durchschnittliche Alter beider Gruppen liegt bei circa 30 Jahren. Ebenfalls sind beide Gruppen hochgebildet: 80 Prozent der befragten Locals und 60

3 Unter den teilnehmenden Standorten waren: Berlin, Köln, Freiburg, Hamburg, Dresden und Oldenburg. 4 Der vollständige Fragebogen ist auf Anfrage verfügbar. 5 Inwieweit sich gerade die Teilnehmenden Geflüchteten an einem solchen Programm von der Gesamtbevölkerung der Geflüchteten in Deutschland unterscheiden, kann mit Hilfe einer innovativen Wirksamkeitsstudie überprüft werden, in denen Teilnehmer für das Tandem aus einer großangelegten Haushaltsbefragung von Geflüchteten rekrutiert werden (Legewie et al. 2019).

312 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel Prozent der befragten Geflüchteten haben einen Universitätsabschluss. Aus eigenen Berechnungen mit dem SOEP lassen sich so erste Rückschlüsse auf eine Selbstselektion in das Ehrenamt auf Seiten der Locals beziehungsweise die Teilnahme an einem Mentorenprogramm auf Seiten der Geflüchteten ziehen: Sowohl die Geflüchteten als auch die Ehrenamtlichen sind besser gebildet als der Durchschnitt der zwei Gruppen in Deutschland. So haben beispielsweise nur elf Prozent der Geflüchteten der IAB-BAMF-SOEP Befragung für Geflüchtete6 einen universitären Abschluss (Brücker et al. 2017). Bei Locals, die sich für ein Ehrenamt direkt vor Ort interessieren, liegt der Anteil der tertiären Bildung bei fast 60 Prozent (bei den nicht Interessierten bei knapp 35 %).7 Locals Geschlecht (Referenzkategorie: männlich) Alter Universitätsabschluss (Referenzkategorie: kein universitärer Abschluss) Geburtsland Deutschland Syrien Irak Afghanistan Iran Eritrea Anzahl der Beobachtungen

% 0.8

ø

Geflüchtete % ø 0.1 0.1

33.7

28.5

0.8

0.6

0.98 0.01 0.01 0 0 0

0 0.9 0.05 0.01 0.02 0.02 256

139

Tab. 1: Sozio-demographische Charakteristika der Gruppe der Befragten

6 Die IAB-BAMF-SOEP Befragung für Geflüchtete ist eine repräsentative Befragung von Geflüchteten in Deutschland, die seit 2016 jährlich durchgeführt wird (Goebel et al. 2018). 7 Eigene Berechnungen auf Grundlage des SOEP v.34. – ungewichtet.

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

313

Klare Unterschiede sieht man selbstverständlich im Geburtsland. Während die Locals vorwiegend in Deutschland geboren wurden, stammen die meisten Geflüchteten, wie auch in der Gruppe der Geflüchteten in Deutschland, aus Syrien (BAMF 2019).8 Insgesamt sind sich die Teilnehmenden des Mentorenprogramms von SwaF somit auf den ersten Blick relativ ähnlich, mit Ausnahme ihres Geschlechts und Geburtslandes. Die durchgeführte Online-Befragung erlaubt es zudem, die Antworten von Tandempartnern direkt miteinander zu vergleichen. Dies ist mit Bezug auf die Zufriedenheit im Tandem interessant: Die Literatur zu sozialen Netzwerken zeigt, dass Menschen, die sich in Merkmalen wie Alter und Geschlecht ähnlich sind, langfristig zusammenfinden und stabile Freundschaften, Partnerschaften und andere zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen (McPherson et al. 2001). Weiter oben haben wir festgestellt, dass die Gesamtgruppen der befragten Geflüchteten und Einheimischen sich in Merkmalen wie Alter und Bildung ähneln. Ob diese Homogenität auch für einzelne Tandempaare zutrifft, untersuchen wir in diesem Abschnitt. In 98 Fällen füllten beide Tandempartner*innen, d.h. Local und Geflüchtete*r, den Fragebogen aus, wodurch sich ihre Antworten gemeinsam analysieren lassen. Tabelle 2 zeigt auf Basis der im ersten Abschnitt beschriebenen sozio-demographischen Charakteristika, wie sich die Tandempartner zueinander verhalten. 46 Prozent der 98 Tandems sind gemischtgeschlechtlich. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Einheimischen weiblich, ein Großteil der Geflüchteten allerdings männlich ist (siehe Tabelle 1) ist dies noch ein vergleichsweise niedriger Anteil an gemischtgeschlechtlichen Tandems. Des Weiteren liegt der Altersunterschied zwischen den Tandempartnern bei durchschnittlich 11 Jahren, 50 Prozent der Tandems sind jedoch bis zu maximal acht Jahre voneinander entfernt. Nur in 35 Prozent der Fälle unterscheiden sich die Tandempartner dagegen in ihrer universitären Bildung.

8 Auch im Jahr 2019 ist die Gruppe der Syrer immer noch der größte Asylantragssteller (BAMF 2019).

314 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel

Differenz in Geschlecht Differenz in Alter Differenz in Universitätsabschluss Anzahl der Beobachtungen a SD = Standardabweichung

SDa 0.50 11.2 0.48

ø 0.47 11.6 0.35 98

Tab. 2: Differenzen in sozio-demographischen Charakteristika zwischen Tandempartnern Somit kommen bei SwaF auch heterogene Tandems zustande, was mit Bezugnahme auf die Literatur zu Freundschaften und Beziehungen (McPherson et al. 2001; Wimmer/ Lewis 2010) ein relevantes Ergebnis ist. Je unterschiedlicher die Tandempartner*innen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass gerade Geflüchtete Zugang zu neuen und damit potenziell gewinnbringenden Ressourcen erhalten (Granovetter 1973; Ryan 2011; Wells 2011). Die Tandems bilden insofern eine Brücke, als ein Local einem Geflüchteten mehr über Deutschland und die Gepflogenheiten in dem Land erzählen kann, während Geflüchtete ihre Erfahrungen aus ihrem Heimatland teilen können. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn die Tandempaare sich in anderen Merkmalen wie dem Alter, dem Geschlecht oder der Bildung unterscheiden, weil sich die jeweiligen Blickwinkel auf bestimmte Themen, aber auch Ressourcen und weiterführende Kontakte noch stärker unterscheiden. Große Unterschiede zwischen den Tandempartnern können allerdings auch dazu führen, dass man sich nicht ähnlich genug ist, um eine anhaltende Beziehung aufzubauen (McPherson et al. 2001; Wimmer/ Lewis 2010). Somit bleibt offen, wie sich Heterogenität in Tandems auf Zufriedenheit der Einzelpersonen innerhalb dieses Tandems auswirkt. 3.2 Erwartungen in der Tandembeziehung Neben den sozio-demographischen Charakteristika kann die Zufriedenheit im Tandem auch davon beeinflusst werden, was die Teilnehmenden sich von der Beziehung erhofft haben und ob sich diese Erwartungen aus Sicht der Teilnehmenden erfüllt haben. Schließlich haben Evaluierungen von Mentorenprogrammen für Ju-

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

315

gendliche gezeigt, wie wichtig Erwartungen und sukzessiv auch die Erfüllung dieser für das Gelingen der Mentorenbeziehung sind. Dies wurde vor allem dann gezeigt, wenn auch der Mentor selbst etwas Positives aus der Beziehung zu dem Mentee ziehen konnte und nicht nur die Erwartungen des Mentees erfüllt waren (Ferguson 2018). Abbildung 1 zeigt den Anteil der befragten Einheimischen und Geflüchteten, die mit bestimmten Erwartungen in das Programm eingestiegen sind. Befragte konnten aus einer Liste von vorgegebenen Erwartungen wählen, wobei Mehrfachnennungen möglich waren. Wie Abbildung 1 zeigt, unterscheiden sich die befragten Einheimischen und Geflüchteten in ihren Erwartungen an das Programm. Der Großteil der Einheimischen ist vor allem daran interessiert, mehr über Geflüchtete zu erfahren und ihnen Hilfestellung zu geben. So gaben 70 Prozent der befragten Einheimischen an, dass sie sich von der Teilnahme bei SwaF erhoffen, die Situation Geflüchteter zu verbessern, deren Integration zu fördern und mehr über ihre Lebenssituation zu erfahren. Weniger im Vordergrund steht für die befragten Locals das Kennenlernen neuer Menschen oder das Erlernen einer neuen Sprache. Für die befragten Geflüchteten spielen diese beiden Aspekte dagegen eine große Rolle in ihrer Entscheidung an einem Tandem teilnehmen zu wollen. Deutlich weniger befragte Geflüchtete versprechen sich hingegen aktive Hilfe von ihrem Tandempartner.

316 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel

Abb. 1a und b: Erwartungen von Locals und Geflüchteten an das Tandem

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

317

Diese Unterschiede in den Motiven ergeben sich eindeutig durch den Bedarf in den zwei Gruppen: Während die Geflüchteten erst vor kurzem in Deutschland angekommen und daher noch dabei sind, sich soziale Netzwerke aufzubauen, wollen die Locals sich ehrenamtlich engagieren und helfen. Ein weiterer Grund für die Erwartung der Geflüchteten, keine Hilfestellung innerhalb des Tandems zu erhalten, könnte sein, dass SwaF vor allem damit wirbt, Freundschaften zwischen Locals und Geflüchteten zu initiieren. Hilfestellung für Geflüchtete ist dagegen ein nachgeordnetes Ziel des Programms. Diese explizite Formulierung der Programmziele könnte zu einer Selbstselektion von Geflüchteten führen, bei der sich vorrangig solche Geflüchteten für das Projekt interessieren, deren primäres Ziel die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ist. Unterstützung bei der Wohnungs- oder Jobsuche erhoffen sie sich daher nicht von dem Programm. Zusätzlich haben wir die Teilnehmenden gefragt, inwieweit ihre Erwartungen an das Tandem erfüllt wurden. Die befragten Locals gaben fast alle an, dass sich ihre Erwartungen bestätigt haben. Lediglich jene Locals, die angaben, am Lernen einer neuen Sprache interessiert zu sein, wurden häufiger enttäuscht. Dies kann insbesondere dadurch erklärt werden, dass der Großteil der Tandems sich auf Deutsch verständigt (siehe unten). Die befragten Geflüchteten, deren Motivation zur Teilnahme das Kennenlernen neuer Menschen oder das Erlenen der deutschen Sprache war, gaben an, weitestgehend zufrieden mit ihren Tandems zu sein (zu 70 % bzw. 100 % zufrieden). Dies kann vor allem darauf zurückgeführt werden, dass ein Großteil der Befragten (70 %) angab, dass sie während ihrer Treffen vor allem Gespräche führen. Dagegen wurde die Hälfte derjenigen Geflüchteten, die sich von ihrem Tandempartner explizit Hilfe erhofft hatten, enttäuscht. Dies kann, wie bereits oben erwähnt, vor allem dadurch erklärt werden, dass Hilfe bei der Suche von Wohnungen oder Jobangeboten nicht Teil der Mission von SwaF ist. Tatsächlich gaben 70 Prozent der befragten Locals an, dass sie gar keine Zeit oder nur eine Stunde pro Woche damit verbringen, ihrem Tandempartner aktiv bei administrativen Aufgaben zu helfen. Außerdem gaben nur zehn Prozent der Geflüchteten an, dass sie mit ihren Locals Behördengänge und dergleichen erledigen. 3.3 Der Verlauf der Tandembeziehung Die Zufriedenheit mit der Tandembeziehung kann zudem auch durch den Ablauf und die Qualität der Beziehung bestimmt werden. Diesen Aspekten widmen wir uns im Folgenden. In den meisten Tandems kommunizieren die Teilnehmenden

318 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel auf Deutsch: 369 Befragte (93 %) gaben an, untereinander auf Deutsch zu kommunizieren. 155 Befragte an, dass Englisch ebenfalls eine wichtige Rolle in ihrer Tandembeziehung spielt, teilweise zusätzlich zu Deutsch. Arabisch ist hingegen nur wenig unter den Tandems verbreitet. Leider sagt die tatsächlich genutzte Sprache in der Mentorenbeziehung aber nur wenig darüber aus, wie gut sich beide Tandempartner verständigen können. Ob die Sprache eine Barriere darstellt, wurde leider nicht als Teil der Online-Befragung erhoben. SwaF zielt darauf ab, dass sich die Tandems mindestens einmal wöchentlich für zwei bis drei Stunden treffen. Knapp zwei Drittel der Befragten (N=254, 64 %) gaben an, dass sie ihren Tandempartner oder ihre Tandempartnerin weniger als ein Mal pro Woche oder ein bis zwei Mal pro Woche sehen. In diesen Fällen treffen sich die Befragten zwischen ein und vier Stunden. Das entspricht also weitestgehend der angestrebten Häufigkeit und Dauer der Treffen. Allerdings gaben 43 Befragte (11 %) auch an, dass sie ihren Tandempartner im vergangenen Monat nicht getroffen haben. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor auf die Zufriedenheit mit der Tandembeziehung könnte sein, wie Initiative im Tandem verteilt ist. Insgesamt zeigen sich in den Umfrageergebnissen die befragten Geflüchteten passiver in der Tandembeziehung. Die befragten Einheimischen schlagen wesentlich öfter die Häufigkeit, Zeit und Ort des Treffens vor (50 Prozent der befragten Locals gegenüber sieben Prozent der Geflüchteten). Leider kann aus der Befragung nicht der Grund dieses Ungleichgewichts abgeleitet werden.

4

Die Zufriedenheit mit dem Tandem und seine Determinanten

Ein Großteil der Befragten gab an, dass sie und ihr Tandempartner Freunde geworden sind. Abbildung 2 verdeutlicht das Ergebnis. So gaben knapp 73 Prozent der befragten Locals und 66 Prozent der befragten Geflüchteten an, dass sie ihren Tandempartner als Freund ansehen. Außerdem bestätigten 32 Prozent der Locals und 54 Prozent der Geflüchteten, dass ihr Tandempartner auch schon Freunde des jeweils anderen kennengelernt hat. Dies verdeutlicht, dass SwaF das Potenzial hat,

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

319

nicht nur eine Freundschaft zu initiieren, sondern diese Beziehungen in die sozialen Netzwerke der beiden Tandempartner*innen einzubetten. Dies sollte sich zudem positiv auf die Zufriedenheit in der Tandembeziehung auswirken.

Abb. 2: Freundschaft im Tandem Andererseits haben 15 Prozent der Befragten schon einmal überlegt, ihr Tandem abzubrechen. Dies zeigt, dass Tandems keine Selbstläufer sind und nicht jeder Teilnehmende zufrieden mit dem Verlauf des Tandems ist. Aus den Freitextangaben, die im Zuge des Online-Surveys erhoben wurden, geht hervor, dass die Zweifel am Tandem häufig durch fehlende gemeinsame Interessen, fehlende Zeit für die Treffen, fehlende Verbindlichkeiten in der Tandembeziehung und fehlendes Engagement bei der Terminfindung verursacht werden. Diese Unsicherheiten werden sowohl von den Geflüchteten als auch den Locals gleichermaßen genannt. Diese Aspekte könnten sich negativ auf die Zufriedenheit mit der Tandembeziehung auswirken.

320 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel Sowohl Geflüchtete als auch Locals wurden gefragt, wie zufrieden sie mit ihrer Tandembeziehung sind. Wie Abbildung 3 zeigt, sind viele der Befragten zufrieden mit ihrem Tandem: 38,2 Prozent sind sogar ganz und gar zufrieden und insgesamt gaben 80 Prozent der Befragten zumindest an, eher zufrieden als unzufrieden zu sein (d.h., ein Wert auf der Skala ist größer als fünf). In den 98 Fällen, in denen beide Tandempartner unsere Umfrage ausfüllten, zeigt sich zudem, dass sich für die meisten Tandempaare ähnliche Zufriedenheitswerte ergeben. Nichtsdestotrotz zeigten sich bei 44 Tandems eine Abweichung von 3 Skalenpunkten oder mehr in Bezug auf ihre Zufriedenheit in der Mentorenbeziehung. Dies stößt die Frage an, welche Faktoren die Zufriedenheit mit dem Tandem maßgeblich beeinflussen.

Abb. 3: Zufriedenheit mit der Tandembeziehung Tabelle 2 zeigt eine lineare, multivariate Regression mit der Zufriedenheit im Tandem als abhängige Variable. Als erklärende Variablen betrachten wir die Aspekte der Tandembeziehung, die wir in den vorhergehenden Abschnitten deskriptiv beleuchtet haben: Ob der Befragte ein Geflüchteter oder Local ist, die sozio-demographischen Charakteristika der Befragten, ob die Erwartungen an das Tandem erfüllt wurden, wie regelmäßig sich die Tandempartner sehen und wer die Treffen initiiert. Die Sprache, die im Tandem gesprochen wird, fließt in diese Betrachtung

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

321

nicht ein, da die überwiegende Mehrheit der Befragten (93,4 %) angegeben hat, im Tandem Deutsch zu sprechen und daher in dieser Dimension weitestgehend homogen sind. Die Regression wird nur für 392 der insgesamt 395 Befragten durchgeführt, da drei der Geflüchteten keine Angaben bezüglich ihrer Erwartungen machten. Wie Tabelle 2 zeigt, finden wir keinen signifikanten Unterschied zwischen Geflüchteten und Locals in der Zufriedenheit mit dem Tandem. Ebenso gibt es keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf die sozio-demographischen Charakteristika (Geschlecht, Alter und Universitätsabschluss). Dagegen zeigt sich, dass die Regelmäßigkeit der gemeinsamen Treffen die Zufriedenheit mit dem Tandem bestimmt: Mit steigender Regelmäßigkeit der Treffen steigt die Zufriedenheit der Befragten. Vergleicht man diejenigen, die sich monatlich treffen mit denen, die sich seltener treffen wird deutlich, dass Befragte aus Tandems mit monatlichen Treffen durchschnittlich zu 1,6 Punkten zufriedener sind. Die Effektgröße für wöchentliche Treffen ist im Vergleich noch marginal größer. Allerdings kann in diesem Kontext nicht eindeutig bestimmt werden, ob die Befragten sich häufiger treffen, weil sie zufrieden miteinander sind, oder ob die Regelmäßigkeit der Treffen die Zufriedenheit bestimmt. Des Weiteren zeigt sich, dass Befragte weniger zufrieden mit dem Tandem sind je häufiger sie selbst die Initiative ergreifen, um Treffen zu initiieren. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass ein Tandem auf Augenhöhe sich positiv auf die Zufriedenheit der Beziehung auswirkt. Die Erfüllung der Erwartungen hat dagegen nur einen marginalen positiven Effekt auf die Zufriedenheit mit dem Tandem. Auch wenn das Tandem nicht den anfänglichen Erwartungen entspricht, können die Tandempaare zueinander finden und gemeinsam die Ziele für erfüllende Treffen aushandeln.

322 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel

Geflüchteter (Referenzkategorie: Local) Geschlecht (Referenzkategorie: Männlich) Alter Universitätsabschluss (Referenzkategorie: Nein) Regelmäßigkeit der Treffen (Referenzkategorie: Selten) Monatlich Wöchentlich Vorschlag Treffen (Referenzkategorie: Jemand anders als das Individuum selbst) Erwartungen N Standardfehler in Klammern, * p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001

-0.18 (0.38) 0.42 (0.32) -0.00 (0.01) -0.18 (0.27)

1.61*** (0.29) 1.65*** (0.32) -1.04*** (0.27) 0.03*** (0.00) 392

Tab. 2: Determinanten von Zufriedenheit mit dem Tandem

5

Fazit

Während Evaluationen staatlicher Programme zur Förderung von Geflüchteten vor allem die harten Integrationsvorgaben im Blick haben, zielt ehrenamtliches Engagement vor Ort oft auf mehr ab: zwischenmenschliche Beziehungen, Austausch und gegenseitiges Verständnis. So misst die vorhandene Literatur zu Mentoring dem Verlauf einer Mentorenbeziehung einen hohen Stellenwert bei (Ferguson 2018; Grossman et al. 1998; Langhout et al. 2004), der zum Gelingen von Zielen beitragen kann, die vielfältiger nicht sein könnten: Die Aufnahme eines

Determinanten von Zufriedenheit in der Tandembeziehung

323

Jobs, verbesserte Schulleistungen, das Erlernen einer neuen Sprache oder das bessere Verständnis für die Eigenheiten einer fremden Umgebung. Dieser Beitrag widmet sich der Analyse von Mentorenbeziehungen zwischen freiwillig engagierten Locals und seit 2013 nach Deutschland immigrierten Geflüchteten, die in dem Verein Start with a Friend e.V. entstanden sind. Wir sind der Frage nachgegangen, welche Faktoren zum subjektiven Gefühl einer zufriedenen Mentorenbeziehung beitragen. Während Vereine mit ähnlichen Programmen sich nur an einem Standort lokal organisieren, ist es SwaF gelungen, seit der Gründung Ende 2014 in Berlin über die Jahre auf 20 Standorte im Jahr 2019 zu wachsen. Diese administrativen Bemühungen werden weitestgehend von Ehrenamtlichen getragen. Auch wenn die in diesem Beitrag ausgewerteten Daten sich nur auf eine kleine Population von aktiven Teilnehmenden des Programms beschränken, so liefern unsere Analysen doch relevante Einblicke. Sie zeigen, dass sich aus Mentorenbeziehungen nach ihrer Initiierung oft ein regelmäßiger Austausch entwickelt, den sowohl Geflüchtete als auch Locals als freundschaftlich beschreiben. Die Mehrheit der Befragten gibt an, Freunde geworden zu sein – sowohl in der Population der Geflüchteten als auch bei den Locals. Die Mentorenbeziehungen sind geprägt von unterschiedlichen Vorstellungen und Motivationen für die Teilnahme an dem Programm. Trotz der Unterschiede in nationaler Herkunft, Geschlecht und Alter schaffen es die Tandempaare in ihren Beziehungen auszuhandeln, was sie unternehmen möchten und schaffen so einen Mehrwert, der eventuell über ihre anfänglichen Wünsche für das Tandem hinausgeht. Gerade da, wo die Teilnehmenden Freunde und Familie des jeweils anderen kennen lernen, entwickeln sich neue soziale Strukturen, die den Geflüchteten über das Tandem hinaus soziale Unterstützung bieten können. Dabei sind es weniger die soziodemografischen Merkmale der Teilnehmenden, die entscheidend für den Verlauf und die Zufriedenheit in der Tandembeziehung sind. Vielmehr deuten unsere Analysen darauf hin, dass die Beziehungsqualität eine entscheidende Rolle spielt. Regelmäßiger Kontakt ist hier das ausschlaggebende Kriterium. Dagegen wirkt es sich negativ auf die Einschätzung der Beziehung aus, wenn die Initiative zu Treffen als einseitig wahrgenommen wird. In der Interpretation der deskriptiven Ergebnisse muss allerdings von einer Selbstselektion der Teilnehmenden ausgegangen werden. In erster Linie haben

324 Benjamin Jursch, Martin Kroh, Magdalena Krieger, Nicolas Legewie, Lea-Maria Löbel wohl Geflüchtete und Locals den Fragebogen ausgefüllt, die sich in aktiven Tandems befinden, welche nicht durch Inaktivität beendet oder aktiv abgebrochen wurden. Antworten von Tandems, deren Aktivitäten eingestellt wurden, haben wir in dieser Vorabbefragung trotz direktem Aufruf auch an ehemalige Teilnehmende nicht erheben können. Diese Selektion unterscheidet sich zudem noch einmal von einer Selektion, in einem solchen Programm wie dem von SwaF überhaupt teilzunehmen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Ehrenamtlichen als auch die Geflüchteten sich aktiv in das Programm selektieren und sich von Menschen unterscheiden, die sich nicht für ein solches Projekt interessieren. Zum einen müssen Geflüchtete beispielsweise ein bestimmtes Level an Deutschkenntnissen vorweisen, um überhaupt an einer Tandempartnerschaft teilnehmen zu können. Zum anderen funktioniert die Rekrutierung von Teilnehmenden des Programms vor allem durch Mundpropaganda, sodass sich neue Teilnehmende durch eigene Netzwerke ergeben, die sich tendenziell in Motivationen und Ressourcen ähneln. Sind alle Teilnehmenden erst einmal im Programm und konnten sich kennenlernen, entsteht häufig eine anhaltende, als Freundschaft bewertete Beziehung, sogar über sozio-demographische Merkmale hinweg. Es bleibt nun abzuwarten, welche Aktivitäten in den Tandems ausgeführt werden und, ob sich Mentorenbeziehungen langfristig auf die Integration der Geflüchteten auswirken können. In dem Projekt „Mentoring of Refugees“9 wurden interessierte Teilnehmende eines PanelSurveys von Geflüchteten zufällig ausgewählt und von SwaF in Tandems mit Locals zusammengebracht. Durch dieses feldexperimentelle Design kann sowohl die Selektion in ein Programm wie SwaF, als auch die kausalen Effekte einer Mentorenbeziehung auf Dimensionen der Integration von Geflüchteten untersucht werden. Ergebnisse dieser Studie versprechen daher Antworten auf weiterführende Fragen, wie zum Beispiel wie Mentorenbeziehungen zu Stande kommen, warum sie halten und welcher Mehrwert sich für Mentoren und Mentees ergibt.

9 Für weitere Informationen: https://www.diw.de/de/diw_01.c.547448.de/projekte/mentoring_of_refugees_more_eine_interventionsstudie_zur_integration_gefluechteter_durch_ein_zivilgesellschaftliches_mentoringprogramm.html

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Koordinationsstellen als Brückenstrukturen für programmatisch ausgerichtete Flüchtlingsarbeit Nicole Saile, Julia Schlicht und Paul-Stefan Roß

Abstract Der Beitrag verdeutlicht Herausforderungen und Gelingensfaktoren des Programms „Aktion Neue Nachbarn“. Neben den besonderen Qualitäten persönlicher Patenbezüge wird insbesondere die organisationale Wirkung von Patenansätzen im Bereich des freiwilligen Engagements (hier für die Zielgruppe geflüchteter Menschen) beleuchtet. Dabei werden Patenmodelle als Ko-Produktionsansätze innerhalb einer hierarchischen professionellen Organisation und Patenstrukturen als Innovationsmotoren zur Öffnung von Organisationen für freiwilliges Engagement und Partizipation gesehen. Stichworte Zusammenarbeit Haupt- und Ehrenamtlicher, Zivilgesellschaftliches Bündnis, Koordinationsstellen, Brückenstrukturen, Unterstützungsfunktion, Veränderungen in der Flüchtlingsarbeit, Systemlücken

1

Hintergrund

Die Unterbringung von Geflüchteten stellte viele Kommunen bereits 2014 vor große Herausforderungen, die zumeist in Kooperation mit Kirchengemeinden und anderen lokalen zivilgesellschaftlichen Bündnissen angegangen wurden. Um die unterschiedlichen Unterstützungsformen zu bündeln, zu koordinieren und Austausch zu ermöglichen, rief Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln, im Herbst 2014 die „Aktion Neue Nachbarn“ aus. Die „Aktion Neue Nachbarn“ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_14

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Nicole Saile, Julia Schlicht und Paul-Stefan Roß

wird gemeinschaftlich vom Erzbistum Köln und dem Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. getragen und steht unter der Leitung von Diözesan-Caritasdirektor Dr. Frank Johannes Hensel. Im Frühjahr 2015 wurden innerhalb der „Aktion Neue Nachbarn“ in allen 15 Stadt- und Kreisdekanaten des Erzbistums Kölns für zwei Jahre hauptamtliche dezentrale Koordinationsstellen als lokale Anlaufstellen zur Unterstützung ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe 1 eingerichtet. Diese sind bei verschiedenen Trägern der katholischen Kirche verortet. Parallel zur Struktur in den Stadt- und Kreisdekanaten stellt das Erzbischöflichen Generalvikariat und der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. jeweils eine/n Ansprechpartner/in für die Koordinationskräfte auf Bistumsebene. Ihnen obliegen die Gesamtkoordination und Steuerung der „Aktion Neuen Nachbarn“. Das dargestellte Lotsenmodell stellt sich zum einen den Herausforderungen, die die Flüchtlingshilfe und die Unterstützung Ehrenamtlicher mit sich bringen. Zum anderen verbindet es die pastorale Struktur und die Caritas-Struktur und schafft gemeinsam die nötigen Rahmenbedingungen. Lotsen geben nach Huth (2017) Orientierung und unterstützen Akteure bei der Ausführung ihrer Tätigkeiten. Auf diesem Unterstützungsgedanken basiert die Arbeit der Koordinationskräfte der Aktion Neue Nachbarn. Sie sind Ansprechpartner/innen für ehrenamtliche Initiativen, Bündnisse, Vereine und einzelne freiwillig Engagierte. In dieser Funktion beraten und begleiten sie pastorale und ehrenamtlich tätige Kräfte, vernetzen unterschiedliche Akteure, helfen aber auch bei konkreten Unterstützungsbedarfen, wie der Beschaffung notwendiger finanzieller Ausstattungen. Sie unterstützen zudem Ehrenamtliche und geben ihnen institutionalisierte und persönliche Hilfestellung für deren Arbeit. Im Sinne ihrer Lotsenfunktion erfolgt die Unterstützung kooperativ auf Augenhöhe und ist vom Ansatz her auf Empowerment und Selbsthilfe ausgerichtet (vgl. Huth 2017: 10). Engagierte werden befähigt ihr Engagement zufriedenstellend auszuführen.

1 Engagementformen entwickeln sich im Kontext gesellschaftlich politischer Wandlungsprozesse kontinuierlich weiter. Dabei wirken sich die Veränderungen in Formen und Ausrichtungen ebenfalls auf die Terminologie des Engagements-Begriffs aus. Vor allem in der Flüchtlingshilfe ist der Mix an Engagementformen sichtbar. Dort trifft ‚traditionelles‘ Ehrenamt auf ‚neue‘ vielfältige Formen von Engagement. Im nachfolgenden Beitrag werden die Begriffe Ehrenamt und freiwilliges Engagement synonym für das Engagement in der Flüchtlingshilfe verwendet, welches sich abgrenzt zur Erwerbsarbeit und die Vielfalt und Unterschiedlichkeit des Engagements deutlich machen soll.

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Das Institut für angewandte Sozialwissenschaften Stuttgart hat die Arbeit der Koordinationskräfte, insbesondere Unterstützungspotenziale und Verbesserungsbedarfe wissenschaftlich untersucht. Im Fokus standen dabei Rahmenbedingungen, Erfolgsfaktoren und Organisationsstrukturen, die für die zielführende Zusammenarbeit ehrenamtlicher und hauptamtlicher Akteure bedeutsam sind. Schwerpunkt der hier dargestellten Ergebnisse bildet die Reflexion von Lotsenmodellen in organisationalen Kontexten. Die Begleitforschung folgte dabei einem zweistufigen, multiperspektivischen Design mit Methodentriangulation: In einem qualitativen Zugang wurden leitfadengestützte Interviews mit den regionalen und den zentralen Koordinatoren/innen geführt (zu zwei Projektzeitpunkten), ebenso mit Kooperationspartnern aus dem lokalen Umfeld und den zuständigen Dechanten in den Stadt- und Kreisdekanaten. Basierend auf den Erkenntnissen der Eingangserhebung wurde eine SWOT-Analyse2 in den einzelnen Stadt- und Kreisdekanaten durchgeführt. Weiterhin wurden in 14 Diskussionswerkstätten an verschiedenen Orten engagierte Bürger/innen partizipativ in den Forschungsprozess einbezogen. Mittels eines Online-Fragebogens wurden zudem ca. 300 engagierte Bürger/innen befragt. Damit ist eine breite, differenzierte und valide Datenbasis gegeben, auf die der vorliegende Beitrag aufsetzt. Der Beitrag verdeutlicht Herausforderungen und Gelingensfaktoren des Programms „Aktion Neue Nachbarn“. Neben Wirkungen und Qualitäten persönlicher Lotsenbezüge wird insbesondere die organisationale Wirkung von Lotsenansätzen beleuchtet. Dabei werden Lotsennmodelle als Ko-Produktionsansätze innerhalb einer hierarchischen professionellen Organisation und Lotsenstrukturen als Innovationsmotoren zur Öffnung von Organisationen für freiwilliges Engagement und Partizipation gesehen. Die Koordinationsstellen bilden dafür Brückenstrukturen in der programmatisch ausgerichteten Flüchtlingsarbeit im Bürger-Profi-Mix. Im Beitrag werden Erkenntnisse zu vier zentralen Themenbereichen dargestellt: a) Aufgaben und Unterstützungsfunktion von organisational eingebetteten Lotsenmodellen: Exemplarisch am Beispiel der „Aktion Neue Nachbarn“ wird beleuchtet, welche Aufgaben und Funktionen Lotsenprogramme übernehmen können, um unterschiedliche Akteure in der Flüchtlingsarbeit zu unterstützen.

2 Die SWOT-Analyse (engl. Akronym für Strengths, Weaknesses, Opportunities und Threats) ist ursprünglich ein Werkzeug des strategischen Managements.

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b) Veränderungen in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe und die Bedeutung von Lotsen: Des Weiteren wird beschrieben, welche Veränderungen sich in der Flüchtlingsarbeit ergeben (haben). Aufbauend darauf wird reflektiert welche Funktionen Lotsen zur Bewältigung dieser Herausforderungen haben. c) Die „Aktion Neue Nachbarn“. Mehrwert für und Wahrnehmung von Ehrenamt, Geflüchteten, Gesellschaft und Organisation: Der Beitrag zeigt, welchen Mehrwert eine programmatisch ausgelegte Lotsenstruktur aufweisen kann. d) Handlungsempfehlungen für unterschiedliche Praxen: Aufbauend auf den Ergebnissen werden Handlungsempfehlungen dargestellt, die nicht nur für die „Aktion Neue Nachbarn“ gelten, sondern auch auf andere Bereiche übertragen werden können.

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Aufgaben und Unterstützungsfunktion von organisational eingebetteten Lotsenmodellen

Situationsbedingt wurde die Einführung der Koordinationskräfte in der „Aktion Neue Nachbarn“ ad hoc vollzogen. Der Start erfolgte ohne detaillierte, einheitliche Vorgaben und Aufgabenbeschreibungen. Dies hat sich als vorteilhaft herausgestellt. Durch die Möglichkeit der freien Aufgabengestaltung vor Ort konnte bedarfs- und strukturgerecht auf die lokalen Gegebenheiten eingegangen werden. Daraus folgten unterschiedliche Anbindungs- und Ausgestaltungsformen. Die Studie kam zu folgenden Erkenntnissen: a) Koordinationskräfte ermöglichen Koordination und Begleitung aus ‚einer Hand‘ Im Koordinationsmodell der „Aktion Neue Nachbarn“ haben die Ehrenamtlichen die Möglichkeit Koordinator/innen als Anlaufstelle, Vermittler und Ansprechpartner/in in Anspruch zu nehmen. Qualifizierungsmaßnahmen werden über die Koordinator/innen gebündelt bzw. lokal oder regional angeboten. Vor allem in der Anfangsphase nutzen neue ehrenamtliche Initiativen und Netzwerke die Koordinationskräfte für die Moderation ihrer Treffen und Strukturierung ihres Helferkreises.

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b) Koordinationskräfte ermöglichen Ehrenamtlichen punktuell abrufbare Hilfen Supervision, persönliche Beratung und Informationen sowie der Zugang zu Ressourcen, z.B. Finanzmittel und Räumlichkeiten, werden durch Koordinationskräfte zur Verfügung gestellt. Im Rahmen der „Aktion Neue Nachbarn“ stehen den Flüchtlings-Initiativen in den Gemeinden Finanzmittel zur Förderung der Flüchtlingsarbeit vom Erzbistum Köln zur Verfügung. Diese können unbürokratisch nach Absprache mit dem leitenden Pfarrer und einem entsprechenden Antrag abgerufen werden. Bei der Antragsstellung unterstützen die Koordinator/innen. Durch die enge Anbindung an die Kirchen- und Seelsorgegemeinden besteht vielerorts die Möglichkeit Räumlichkeiten der Kirchengemeinde zu nutzen. c) Koordinationskräfte agieren mit unterschiedlichen Akteuren im Sozialraum Koordinationskräfte stehen im Austausch mit vielfältigen fachlichen und ehrenamtlichen Kooperations- und Netzwerkpartner/innen vor Ort. Es hat sich gezeigt, dass die Koordinationskräfte ein Gespür über die Situation in den Gemeinden haben und die Akteurslandschaft vor Ort überblicken. d) Koordinationskräfte füllen Systemlücken Durch ihr individuelles und am Bedarf orientiertes Aufgabenprofil können Koordinator/innen Systemlücken füllen, die von staatlicher bzw. kommunaler Seite hinterlassen werden. Durch kurze schnelle Wege und unbürokratische Arbeitsabläufe können Synergien besser genutzt werden. Fachkräfte, Kooperations- und Netzwerkpartner/innen profitieren von der Entlastung, die ihnen durch eine/n Ansprechpartner/in für Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe (Koordinationskräfte) zu Gute kommt. Informationen bspw. über Angebote und den Einsatz der Ehrenamtlichen werden gebündelt und können von den Fachkräften abgerufen werden. Synergieeffekte, die sich über die Vernetzung durch Koordinationsstellen ergeben, werden verstärkt genutzt. Es entsteht ein Informationszugewinn über eine systematische und kooperative Netzwerknutzung. e) Koordinationskräfte ermöglichen einen überregionalen Wissenstransfer In regelmäßig stattfindenden Treffen der Koordinator/innen auf Bistumsebene werden gemeinsame Herausforderungen aus gemeindlicher Ebene angegangen. Zwischen den Koordinator/innen der Stadt- und Kreisdekanate findet ein Wis-

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senstransfer und Lessons Learned3 statt. Übergeordnete und bistumsweite Aktionen werden über diese Institution angestoßen und geplant. Die Koordinator/innen agieren somit in den lokalen Netzwerken und schaffen einen Transfer über ihr Stadt- oder Kreisdekanat hinaus in den Grenzen des Erzbistums.

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Veränderungen in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe und die Bedeutung von Lotsen

Hauptamtliche Koordinator/innen als Lotsen für Ehrenamtliche bieten Möglichkeiten und einen entsprechenden Rahmen, um freiwillig Engagierte und Geflüchtete in Wandlungs- und Entwicklungsprozesse der Flüchtlingsarbeit einzubeziehen und dabei zu begleiten. Dies ist notwendig, da die Flüchtlingsarbeit durch stets neue Veränderungen geprägt ist. Diese Veränderung lassen sich einerseits als Phase der Flüchtlingsarbeit wahrnehmen, anderseits lassen sich auch Veränderungen im Umgang mit dem Thema Flüchtlingsunterstützung von Seiten der Gesellschaft erkennen. In der Anfangsphase der „Aktion Neue Nachbarn“ im Frühjahr 2015 stand in der ‚Spontan- und Krisenphase‘ die Schaffung einer Willkommenskultur, der spontane und flexible Einsatz von Ehrenamtlichen, deren Unterstützung und Begleitung und der Aufbau von Netzwerken im Vordergrund. Seit 2017 zeichnet sich ein Wandel der Flüchtlingsarbeit vor Ort ab. Auf die Schaffung von Willkommenskultur folgt die Integrationsarbeit und Teilhabe der Geflüchteten an gesellschaftlichen Prozessen. Neue, an die Integrationsbedarfe angepasste Aufgabenbereiche werden erschlossen und müssen im laufenden Prozess künftig weiterentwickelt werden. Dieser Wandel bringt eine Veränderung und Erweiterung von Aufgaben und Ansprüchen an die Koordinator/innen in der Flüchtlingshilfe mit sich, auf die sie reagieren müssen. Koordinationsaufgaben und Unterstützerfunktionen müssen den neuen Arbeitsfeldern angepasst und (Netzwerk-)strukturen den An-

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Lessons Learned ist ein Begriff aus dem Projektmanagement und meint das Erfahrungslernen, indem Wissen bewusst aufgegriffen und aus Erkenntnissen profitiert wird, um Fehler zu vermeiden, Risiken zu verringern, Chancen zu nutzen und die Qualität des Projekts zu steigern.

Koordinationsstellen in der Flüchtlingsarbeit

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forderungen entsprechend weiterentwickelt werden. So muss bspw. für die Integrationsarbeit ein Zugang zu örtlichen Vereinen und Betrieben geschaffen und in den Strukturen mitgedacht werden. Einhergehend mit diesen Veränderungen und mit zunehmenden Erfahrungen und Befähigungen der Ehrenamtlichen, hat sich auch die Arbeitsweise von Ehrenamtlichen verändert. Ehrenamtliche sind wesentlich routinierter in ihrer Arbeit als zu Beginn ihrer Tätigkeit. Damit verbunden sind eine bessere Wahrnehmung von Bedarfen und Problemen sowie ein Wissenszuwachs und mehr Realismus in der Arbeit. Auch der Aufbau von Freundschaften und persönlichen Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten nimmt Einfluss auf die Arbeit der Engagierten und somit auch auf die Unterstützungsfunktion von Koordinationskräften. Demgegenüber ist der anfängliche Enthusiasmus unter den freiwillig Engagierten gedämpft und ein Rückgang von Engagement zu spüren. Für Koordinationskräfte bedeute dies, dass sie mehr Energie in der Akquise und Stabilisation von Engagement aufbringen müssen. Neben der neuen Aufgabe ‚Integration‘ tut sich eine dazu scheinbar entgegengesetzte Thematik auf: ‚Verabschiedung‘. Zur Vorbereitung und Verarbeitung von freiwilligen Rückreisen, Wohnplatzänderungen oder gar Abschiebungen gilt es, mit den Betroffenen, Ehrenamtlichen und dem persönlichen Umfeld einen sinnvollen Umgang mit dem Thema Verabschiedung zu erarbeiten. Das betrifft insbesondere die persönliche und emotionale Ebene, flankiert jedoch auch inhaltlich Bezüge, wie Verfahrensabläufe. Wenn zu Beginn von einer Willkommenskultur, und im nächsten Schritt von einer Integrationskultur gesprochen wird, dann muss in Konsequenz auch von einer Kultur der Verabschiedung gesprochen werden. Koordinationskräfte bzw. Lotsen/innen haben in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Einerseits ist für die Schaffung einer Verabschiedungskultur die Begleitung, Vorbereitung und Unterstützung Ehrenamtlicher durch entsprechende Lotsen unabdingbar. Anderseits gilt es Ehrenamtliche auf die Beziehungsabbrüche vorzubereiten und sie dabei zu begleiten. Nur so kann gewährleistet werden, dass der Verlust und die Enttäuschung nicht zur Beendigung des Engagements führen. Auch bei den Geflüchteten wirken die Spuren des Abschieds. Engagierte berichten, dass die Stimmung unter den Geflüchteten von der Angst vor Abschiebungen, Perspektivenlosigkeit und der damit verbunden erhöhten Aggression un-

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tereinander geprägt ist. Auf Grund der unsicheren Situation und den langen Wartezeiten im Asylverfahren seien vermehrt Ängste und damit verbunden höhere Aggressivität unter den Geflüchteten spürbar. Koordinationskräfte können durch Mediation, Sensibilisierung und Informationen helfend beiseite stehen. Auch auf Seiten der Gesellschaft lassen sich Veränderungen wahrnehmen. Die freiwillig Engagierten berichten, dass sie sich vermehrt in der Öffentlichkeit und im Bekanntenkreis für ihr Engagement rechtfertigen müssen. Eine zunehmende nationalistische Orientierung der Gesellschaft wirkt auch in die haupt- und ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit. Dieser Entwicklung kann mit Lotsenprojekte positiv entgegengewirkt werden. So hat sich gezeigt, dass das Flüchtlingsthema durch die Unterstützung der Koordinationskräfte der „Aktion Neue Nachbarn“ in der Öffentlichkeit positiv besetzt und rassistischen gesellschaftlichen Strömungen entgegengewirkt werden konnte. Für die nächsten Phasen der Integration, Verabschiedung und gesellschaftliche Sensibilisierung müssen örtliche Konzepte und Strategien gemeinsam entwickelt werden. Koordinationskräfte können dabei Motor dieses Entwicklungsprozesses sein. Um die Weiterentwicklung der örtlichen Flüchtlingshilfe, der Arbeitsfelder und neue Aufgaben bedarfsgerecht voranzubringen, ist es notwendig Schlüsselpersonen und Ehrenamtliche als Expert/innen des Sozialraums sowie die Geflüchteten selbst in der Entwicklung örtlicher Konzepte zu beteiligen. Koordinationskräfte können solche Prozesse aktiv fördern, indem sie bspw. Planungstreffen der Ehrenamtlichen in den Unterkünften initiieren oder Gründung von Flüchtlingsräten und Bürgerdialoge anstoßen und begleiten. Zukünftig sollten Koordinationskräfte zudem die Kompetenzen der Geflüchteten stärker als bisher in den Blick nehmen.

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Die „Aktion Neue Nachbarn“. Mehrwert für und Wahrnehmung von Geflüchteten, Ehrenamt, Gesellschaft und Organisation

Der Mehrwert, den Geflüchtete aus der „Aktion Neue Nachbarn“ und den Koordinationskräften ziehen, bezieht sich zum einen auf konkrete Hilfen vor Ort, bspw. Unterstützung durch Paten/innen und den Erwerb von Sprache. Zum anderen bietet das Projekt für die Geflüchteten die Möglichkeit, selbst aktiv werden zu können

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und sich bei den Angeboten eigenständig mit einzubringen. Dabei stehen den Geflüchteten qualifizierte Ehrenamtliche mit fachlicher Rückendeckung und die Koordinator/innen als Lotsen zur Verfügung. Ehrenamtliche profitieren, weil sie eine feste Ansprechperson haben, die oder der auf unterschiedlichste Anliegen eingehen oder weitervermitteln kann. Zudem werden wesentliche Motivationen für ein freiwilliges Engagement, wie die Anerkennung ihres Tuns, Begegnung und Austausch mit anderen, sich selbst mit eigenen Interessen einbringen zu können sowie eine Wissenserweiterung im Sinne der Qualifizierung, von den Koordinator/innen unterstützt und gefördert. Gleichzeitig können Koordinator/innen einen Missbrauchsschutz für das Engagement bieten. Missbrauchsschutz meint dabei, „dass Ehrenamtliche nicht Ausfallbürge für staatliche Leistungen werden“4. Durch die Evaluation der „Aktion Neue Nachbarn“ wurde zudem deutlich, dass Lotsenprojekte auch weit in die Gesellschaft hineinstrahlen können. Durch die klare Positionierung des Trägers zum Thema Flüchtlingshilfe und die Initiierung der Aktion durch die katholische Kirche im Erzbistum mit dem Sprachrohr Kardinal Woelki, werden Kirchengemeinden, Kirche selbst und die sich daran angliedernden Träger als politisch handelnd von außen wahrgenommen. Diese klare Positionierung wirkt sich positiv auf die lokale Flüchtlingsarbeit aus. Öffentlichkeitswirksames Handeln und Präsenz ist dafür allerdings Voraussetzung. Die Gemeinschaftsaktion von Caritas und Pastoral mit zentraler Steuerung auf Bistumsebene hat sich als Mehrwert des organisational eingebetteten Lotsenmodells herausgestellt. Bewährte Abläufe und lokal gewonnene Erkenntnisse können in weitere Stadt- und Kreisdekanate transferiert werden und Vernetzungen zwischen den Stadt- und Kreisdekanaten und den jeweiligen Akteuren schaffen gute Synergien. Dadurch wird auf aktuelle Herausforderungen schnell reagiert und organisationales Wissen genutzt. Die klare Haltung und das Fürsprechen der Leitungsebene stärkt und unterstützt nicht zuletzt die Arbeit von Koordinator/innen innerhalb der Organisation und wird für sie als Legitimation der eigenen Arbeit empfunden.

4 Zitat aus einem Interview der Eingangserhebung mit einer Koordinatorin.

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Was heißt das für die Praxis?

Nach der anfänglichen ‚Spontan- und Krisenphase‘ ist es für Koordinationsmodelle wichtig, ihr Alleinstellungsmerkmal im breiten und komplexen Feld der Flüchtlingshilfe zu stärken und zu schärfen. Örtliche Konzepte müssen den geänderten Kontextbedingungen angepasst und die Koordinator/innen mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden. ƒ Im komplexen Feld der Flüchtlingshilfe und durch die Zunahme von Aufgaben, Maßnahmen und Akteuren wird mehr Koordination als in der Anfangsphase benötigt. Diese Aufgabe wird weiterhin bestehen und benötigt einen kontinuierlichen Unterbau. Es gilt mittelfristige bis langfristige Strukturen zu schaffen. ƒ Die Anbindung und das Aufgabenspektrum von Koordinationskräften müssen transparent sein. Nur so wissen Ehrenamtliche und andere Initiativen mit welchen Anliegen sie sich an die Koordinationskräfte wenden können. Konflikten und Parallelstrukturen kann zugleich entgegengewirkt werden. ƒ Das spezifische Aufgabenprofil und die Kompetenzen der Koordinationskräfte müssen transparent und publik gemacht werden, um sich zum einen von themenfeld-spezifischen Fachdiensten und Ämtern abzugrenzen und zum anderen, um mit diesem (Alleinstellungs-)Merkmal im breiten Akteursfeld nicht ‚eine unter vielen‘, sondern ‚eine für viele‘ zu sein. ƒ Koordinationskräfte sollten mit entsprechenden Ressourcen und Entscheidungsfreiräumen, insbesondere Zeitressourcen aber auch finanziellen und materiellen Ressourcen, wie bspw. Büro und Dienstwagen, ausgestattet werden. ƒ Der Rückhalt und eine klare Position des Trägers sowie von Verantwortlichen erleichtern die Arbeit und schaffen Legitimation für das Handeln in der Flüchtlingshilfe. ƒ Eine partizipative fachliche Haltung ist maßgeblich für den Erfolg von Koordinationsmodellen. Dazu gehören eine gegenseitige Wertschätzung, Anerkennung, Offenheit und Transparenz. ƒ Bestehende Konzepte, Unterstützungsmöglichkeiten und Angebote sollten in regelmäßigen Abständen überprüft, ergänzt und weiterentwickelt werden.

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ƒ Koordinationskräfte werden zunehmend als Mediatoren und Konfliktlöser angefragt. Um diese Aufgabe gut angehen zu können, müssen sie mit dafür notwendigen Kompetenzen ausgestattet werden. ƒ Qualifizierungsangebote, vor allem in den Bereichen Ehrenamtsmanagements und Schnittstellenmanagement sowie Qualifizierungen, die sich aus dem Themenwandel ergeben, sollten zugänglich gemacht werden. ƒ Koordinationsmodelle leben von Synergien und profitieren vom Informationsfluss und der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure. Eine Kompetenzund Aufgabenklärung ist notwendig, die Institutionalisierung von Absprachen ist sinnvoll. ƒ Örtliche Konzepte sollten gemeinsam mit den Akteuren der Flüchtlingshilfe, Ehrenamtlichen und Geflüchteten entwickelt werden. Koordinator/innen können dabei Motor und Mittler im Veränderungsprozess sein.

Literatur Huth, S. (2017): PatInnen, MentorInnen, LotsInnen für Integration – Akteure, Konzepte, Perspektiven. Expertise, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (Hrsg.): Arbeitspapier Nr. 1, 2017 Roß, P-St./ Saile, N./ Steck, B./ Schlicht, J. (2017): Koordinator/Koordinatorin der Flüchtlingshilfe in der „Aktion Neue Nachbarn“. Rahmenbedingungen - Erfolgsfaktoren – Empfehlungen. Abschlussbericht Juni 2017, Stuttgart

V Lotsen-, Mentoren- und Patenschaftsprojekte in der Integrationspolitik

Der hessische Integrationslotsenansatz im Landesprogramm „WIR“ Ziele, Umsetzung, Erfahrungen und Perspektiven Susanne Huth, Wiebke Schindel, Jürgen Schumacher und Heike Würfel

Abstract Das Land Hessen fördert die ehrenamtliche Integrationslotsenarbeit bereits seit dem Jahr 2005, seit 2017 können auch geflüchtete Menschen durch Lotsinnen und -lotsen an den knapp 40 Standorten in Hessen begleitet werden. Die Landesförderung umfasst eine pauschale Aufwandsentschädigung sowie an den Bedarfen vor Ort orientierte Basisqualifizierungen und vertiefende Seminare zu spezifischen Themen. Das neu geschaffene „Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen“ berät und vernetzt die Träger, erarbeitet verbindliche Qualitätsstandards für die Integrationslotsenarbeit vor Ort und entwickelt einen Leitfaden für die Basisqualifizierungen. Stichworte Integrationslotsen, Landesprogramm, Qualifizierung, Vernetzung, Kompetenzzentrum

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Einführung und Hintergrund

In Hessen wird ehrenamtliche Integrationslotsenarbeit bereits seit dem Jahr 2005 durch die Landesregierung gefördert. Über die Jahre hinweg wurde dieser Ansatz fortlaufend strukturell weiterentwickelt. Dabei bestand das Ziel der Stärkung der

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_15

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Integrationslotsenarbeit immer darin, die Integrationsbedingungen von zugewanderten Menschen in Hessen und gleichzeitig das Empowerment der freiwillig Engagierten zu verbessern. Zur besseren Einordnung der hessischen Integrationslotsenarbeit betrachten wir einleitend zunächst Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Lotsen-, Patenund Mentorenprojekten, da diese Bezeichnungen oftmals nicht trennscharf verwandt werden, zeichnen dann die Entwicklung der hessischen Integrationslotsenarbeit nach und erläutern, welcher gesellschaftliche Nutzen der Integrationslotsenarbeit innewohnen kann. Der zweite Abschnitt widmet sich den Strukturen der hessischen Integrationslotsenarbeit im Rahmen der Integrationspolitik des Landes Hessen und erläutert deren Kernelemente, Arbeitsformen und Arbeitsfelder. Abschnitt drei befasst sich mit Erfolgen, Grenzen und Entwicklungsbedarfen der hessischen Integrationslotsenarbeit, wobei wir die Arbeit mit geflüchteten Menschen in den Blick nehmen. Zum Abschluss betrachten wir die Weiterentwicklung des Programms hin zum „Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen“ in Hessen. 1.1 Lotsen-, Paten- und Mentorenansätze in der Integrationsarbeit In der Praxis werden die Bezeichnungen für Integrationslotsen-, Paten- und Mentorenansätze häufig synonym verwandt, auch wenn sie konzeptionell durchaus Unterschiede aufweisen. Als übergeordnete Bezeichnung für diese Projektansätze eignet sich der Begriff „Integrationsbegleiterprojekte“ (Huth 2007: 1). Dabei ist die Begleitung im Rahmen von Patenschaftsprojekten eher durch einen fürsorgenden Charakter gekennzeichnet. Patinnen1 übernehmen die Aufgabe, eine andere, meist jüngere, Person zu unterstützen und sich um sie zu kümmern. Die Beziehungen sind asymmetrischer angelegt als in anderen Projektansätzen. Patenschaftsprojekte sind vor allem im Bildungsbereich angesiedelt und richten sich vorzugsweise an bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund (vgl. Huth 2017: 10). In Mentoringprojekten stehen dagegen der Erfahrungstransfer und die Unterstützung der persönlichen und beruflichen Entwicklung einer Mentee durch eine 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und da überwiegend Frauen als Integrationslotsinnen tätig werden, verwenden wir in diesem Beitrag die weibliche Form. Nichtdestotrotz beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.

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Mentorin im Vordergrund. Auch diese Beziehung weist eine gewisse Asymmetrie auf, hier besteht jedoch ein größerer Anspruch an die Mentee, ihre Mitwirkungsbereitschaft und spätere Selbständigkeit. Solche Projekte finden sich daher vor allem im Bereich der beruflichen Bildung und des (Wieder-) Einstiegs in den Arbeitsmarkt (vgl. ebd.: 11). Integrationslotsenprojekte schließlich zeichnen sich im Wesentlichen durch ihre Orientierungsfunktion aus, die darauf zielt, Zugänge zu Angeboten und Einrichtungen aufzuzeigen, zu ebnen und zu eröffnen, bspw. im Integrationsbereich, im Bildungssystem oder im Sport. Konzeptionell ist die Beziehung zwischen Lotsinnen und Begleitenden ,auf Augenhöhe‘ angelegt und zielt auf die Stärkung von Selbsthilfe und Empowerment. Das Themenspektrum von Integrationslotsenprojekten umfasst dabei Orientierung in Alltag und Sozialraum, Begleitung zu Behörden und Ämtern oder durch das Erziehungs- und Bildungssystem sowie die Eröffnung von Möglichkeiten der aktiven Beteiligung am Vereinswesen (ebd.). In Hessen wurde – wie dargestellt – der Schwerpunkt auf Integrationslotsenprojekte gelegt. 1.2 Entwicklung der hessischen Integrationslotsenarbeit In den ersten Jahren der Förderung ehrenamtlicher Integrationslotsenarbeit durch die hessische Landesregierung wurden regionale Modellprojekte zum Aufbau von integrationsfördernden Ehrenamtsstrukturen von und mit Menschen mit Migrationshintergrund finanziell bezuschusst. Wichtiger Baustein in diesen Projekten war die direkte kultursensible Ansprache von (neu) Zugewanderten durch ehrenamtliche Integrationslotsinnen. Durch ihren ehrenamtlichen Einsatz, ihre Mehrsprachigkeit und ihre Kenntnisse der Ansprechpartnerinnen und Gegebenheiten vor Ort haben sie an den Bedarfen orientierte persönliche Unterstützung anbieten können. Hierbei setzt Hessen auf eine langfristige und strategische Förderung. So wurde – auch aufgrund steigender Nachfrage nach solchen ehrenamtlichen Einsätzen von Integrationslotsinnen – die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung für deren konkreten Einsatz in Form einer pauschalen Aufwandsentschädigung geschaffen. Neben dieser Einsatzförderung ist es seit 2010 zudem möglich, gezielte und an den Bedarfen vor Ort orientierte Basisqualifizierungen für neue Integrationslotsinnen und vertiefende Seminare zu spezifischen Themen für bereits aktive Lotsinnen hessenweit zu fördern. Diese Qualifizierungsmaßnahmen werden von den Trägern

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der lokalen Integrationslotsenprojekte organisiert und durchgeführt. Träger können Kommunen, Vereine und Organisationen der freien Wohlfahrtspflege sein. Die Förderung der Integrationslotsenarbeit ist in Hessen im Landesprogramm WIR verortet.2 Das Landesprogramm WIR, das im Jahr 2014 aufgelegt wurde, ist ein verbundenes Förderprogramm mit neun unterschiedlichen Fördersäulen. So können aus dem Landesprogramm die Strukturen der WIR-Koordination und des WIR-Fallmanagements für geflüchtete Menschen, innovative Projekte, Sprachfördermaßnahmen, Migrantenorganisationen und kommunale Integrations- und Vielfaltsstrategien gefördert werden. Neben der Interkulturellen Öffnung liegt ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt des Landesprogramms WIR auf dem Auf- und Ausbau einer hessenweiten Willkommens- und Anerkennungskultur. Hierin ist der hessische Integrationslotsenansatz implementiert, wobei die Förderung bzw. Stärkung bürgerschaftlichen Engagements, insbesondere von Menschen mit eigener Migrationserfahrung, wichtiges Ziel geblieben ist. Im Jahr 2015 stellte die Aufnahme einer hohen Zahl Geflüchteter in Hessen Land und Kommunen vor große Herausforderungen, um die Erstversorgung und Unterbringung der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind und Schutz suchen, zu gewährleisten. Seither erfordert die nunmehr langfristige Aufgabe der Integration zusätzliches Engagement. Die Finanzausstattung im Landesprogramm WIR wurde in diesem Rahmen von 4,6 Mio. Euro auf inzwischen über 10 Mio. Euro erhöht und die Zielgruppe im WIR-Programm ausgeweitet, sodass inzwischen auch geflüchtete Menschen in den Kommunen durch ehrenamtliche Integrationslotsinnen begleitet werden können. Hessenweit existieren Integrationslotsenprojekte mittlerweile an knapp 40 Standorten. Nach wie vor ist es ein wichtiges Ziel, durch das Qualifizierungsangebot die Handlungspotenziale der ehrenamtlichen Integrationslotsinnen zu stärken und ihnen die nötigen Kompetenzen für ihre Integrationslotsenarbeit mitzugeben. Da die Arbeit mit geflüchteten Menschen sie vor neue bzw. besondere – auch emotionale – Herausforderungen stellt, können seit 2017 auch Schulungen zu den Themen rund um Flucht und Vertreibung, Traumata, Hilfesysteme und Asylverfahren o. ä. gefördert werden, die auch dazu dienen, Erfahrungen auszutauschen, voneinander zu lernen und sich zu vernetzen.

2 Nähere Informationen dazu finden sich im Integrationskompass des Hessischen Ministerium für Soziales und Integration unter www.integrationskompass.de.

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1.3 Der gesellschaftliche Nutzen der Integrationslotsenarbeit Der integrationspolitische Wert der Integrationslotsenarbeit umfasst viel mehr als nur den unmittelbaren Nutzen für rat- und hilfesuchende Menschen mit Migrationshintergrund, obwohl dieser natürlich im Mittelpunkt dieses Engagements steht. Die Integrationslotsenarbeit wirkt darüber hinaus auf die Akteure und Organisationen, mit denen die Integrationslotsinnen in Kontakt kommen, sowie auf diese selbst. Einzelne Behörden, soziale Dienste, Bildungs- und Gesundheitsorganisationen sowie nicht zuletzt die Organisationen der Zivilgesellschaft, also Vereine, Verbände und Initiativen, können die Qualität ihrer Leistungen für Menschen mit Migrationshintergrund durch die sprachliche und kulturelle Mittlerfunktion von Integrationslotsinnen maßgeblich verbessern. Damit leisten die Integrationslotsinnen auch einen Beitrag zur Interkulturellen Öffnung der Verwaltung und der Fachdienste. Gesteigert werden kann dieser, wenn es gelingt, die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen ebenso wie die Verantwortlichen in Vereinen und Verbänden für eine auf Anerkennung beruhende und konstruktive Zusammenarbeit mit Integrationslotsinnen zu gewinnen (vgl. Abschnitt 3.2). Gegenseitige Reserviertheit im Hinblick auf eine solche Zusammenarbeit basiert oft auf der einfachen Tatsache, dass Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sich im öffentlichen Raum zwar begegnen, aber häufig nicht viel miteinander zu tun haben. Wenn es lokal ein funktionierendes Integrationslotsenprojekt gibt, profitiert die Gemeinde oder Stadtgesellschaft insgesamt davon, dass überall da, wo es an Kommunikation und Austausch fehlt, Integrationslotsinnen als „Brückenbauer“ aktiv werden und dort vermitteln können, wo es Reibungsflächen und Konflikte gibt. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts (vgl. Gesemann 2015: 54, Huth 2017: 20). Eine weitere wichtige Komponente ist der Nutzen der ehrenamtlichen Arbeit für die Integrationslotsinnen selbst. Sie knüpfen neue Kontakte, sammeln interessante Erfahrungen in einem neuen Tätigkeitsfeld und setzen vorhandene Kompetenzen ein. Sowohl in den Qualifizierungen für Integrationslotsinnen als auch in der praktischen Tätigkeit erwerben sie zudem neue Kompetenzen und lernen insbesondere, mit interkulturellen Problemen und Konflikten umzugehen. Da die hessischen Integrationslotsenprojekte gut in den Kommunen verankert und vielfältig

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vernetzt sind, wird die Arbeit der Integrationslotsinnen in aller Regel anerkannt und wertgeschätzt (vgl. Schumacher/Arha 2016: 8). Besonders gilt dies für diejenigen Integrationslotsinnen, die selbst gerade erst ein besseres Verständnis der deutschen Gesellschaft und ihres Institutionengefüges erworben haben und dieses – nachdem sie die Basisqualifizierung durchlaufen haben – nun an andere weitergeben. Dies trifft bspw. auf Mütter in Elternlotsenprojekten zu, für die die Integrationslotsentätigkeit ein erster wichtiger Schritt in die Öffentlichkeit ist. Diesem Schritt folgen häufig weitere, sei es in Richtung auf eine Erwerbstätigkeit oder auf ein dauerhaftes Engagement in der Zivilgesellschaft (vgl. ebd.: 37).

2

Strukturen der hessischen Integrationslotsenarbeit

2.1 Integrationslotsenarbeit im Rahmen der Integrationspolitik des Landes Hessen Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund hat 2017 einen neuen Höchststand erreicht. So leben bundesweit 19,3 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, davon gut knapp 1,9 Mio. in Hessen. Anteilig haben 31 Prozent aller Hessinnen und Hessen einen Migrationshintergrund – bei Kindern unter sechs Jahren sind es sogar 50 Prozent. Mehr als zwei Drittel haben eigene Migrationserfahrung. Im Bundesvergleich liegt Hessen damit auf Platz 2 nach Bremen (32 Prozent), vor Hamburg (knapp 31 Prozent) und Baden-Württemberg (knapp 30 Prozent) bzw. auf Platz 1 der Flächenländer (vgl. Statistisches Bundesamt 2018: dazu auch Hessisches Ministerium für Soziales und Integration 2018: 4f.). Integrationspolitik kommt daher weiterhin ein hoher Stellenwert in der hessischen Landespolitik zu. Unter dem Motto „Bürgerengagement stärken – auf das Miteinander kommt es an“ werden das bürgerschaftliche Engagement und die Stärkung der Zivilgesellschaft als eine gesellschaftliche Notwendigkeit angesehen, die es zu fördern und zu erhalten gilt. Die Hessische Landesregierung hat hier Förderstrukturen für ehrenamtliches Engagement auf kommunaler Eben entwickelt und verschiedene Maßnahmen zur Engagementförderung geschaffen. Ein Baustein speziell für den

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Bereich Zuwanderung/Migration/Integration ist die Förderung ehrenamtlicher Integrationslotsinnen im Landesprogramm WIR. Dabei stehen die Kompetenzen der Integrationslotsinnen im Mittelpunkt. Ihre Sprachkenntnisse in Wort und Schrift – sowohl in der Muttersprache als auch in Deutsch – sowie ihre Kenntnisse verschiedener Kulturen sind eine Bereicherung. So können Integrationslotsinnen durch ihr Wissen und durch die intensive Zusammenarbeit auch die kommunalen Regelstrukturen stärken. Durch die Volksabstimmung im Oktober 2018 wird die Förderung des Ehrenamtes in Hessen nunmehr Staatsziel mit Verfassungsrang. Dies bedeutet auch eine Wertschätzung für alle ehrenamtlich Engagierten in Hessen. Damit zeigt nicht mehr nur die Hessische Landesregierung die Wichtigkeit auf. Sondern auch die hessischen Bürgerinnen und Bürger haben mit ihrem Abstimmungsverhalten zur Verfassungsänderung deutlich gemacht, dass eine demokratische Gesellschaft durch Ehrenamt sinnvoll gestärkt wird und dieses eine tragende Säule in Hessen ist. 2.2 Kernelemente des hessischen Integrationslotsenansatzes Organisatorische Rahmenbedingungen Der hessische Integrationslotsenansatz im Landesprogramm WIR zeichnet sich dadurch aus, dass er an den Bedarfen vor Ort ansetzt und somit auch die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kommunen und freien Trägern berücksichtigt. Dies wird möglich, da die Integrationslotsentätigkeit auf kommunaler Ebene von der Kommune selbst, von Vereinen und/oder gemeinnützigen Trägern organisiert und umgesetzt wird. Setzen freie und gemeinnützige Träger die Lotsentätigkeit um, wird eine Abstimmung und Vernetzung in der Kommune bzw. im Kreis erwartet, um parallele Strukturen zu vermeiden und Synergieeffekte zu erreichen. Basisqualifizierungen und Vertiefungsseminare Ob Ehrenamtliche für die Integrationslotsentätigkeit geeignet sind, entscheiden die Projektträger in eigener Verantwortlichkeit. Vor ihrem Einsatz müssen die Integrationslotsinnen eine Basisqualifizierung absolvieren, die im Idealfall in Kooperationen zwischen Landkreis und Kommune oder Träger lokal angeboten wird.

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Insgesamt bietet die WIR-Förderrichtlinie einen großen Gestaltungsspielraum sowohl von den Themen als auch vom Stundenumfang (20 bis 36 Unterrichtseinheiten einmalig pro Person), um Integrationslotsinnen im Vorfeld ihrer Tätigkeit das Aufgaben- und Handlungsspektrum und auch bestimmte Soft-Skills zu vermitteln. Die Themen und der Stundenumfang wurden im Jahr 2013 zusammen mit erfahrenen Integrationslotsenträgern entwickelt und in die Förderrichtlinie aufgenommen. Hierbei handelt es sich um einen Themenkatalog, der nicht abschließend ist. Jedoch zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass die nachfolgend aufgeführten Themen für die aktive Integrationslotsenarbeit zentral sind: ƒ Erwartungen, Anforderungen und Rahmenbedingungen der Tätigkeit, ƒ Rollenverständnis und Auftrag, ƒ Möglichkeiten und Grenzen des Ehrenamtes, Datenschutz, ƒ Bedeutung kultursensibler Hilfe zur Selbsthilfe, ƒ interkulturelle und soziale Kompetenzen, ƒ (interkulturelle) Kommunikation, Gesprächsführung, Umgang mit Konflikten, Nähe und Distanz, ƒ Vernetzungsarbeit und -partner, Einrichtungen und ihre Aufgaben vor Ort, ƒ Moderations- und Präsentationstechniken, ƒ Berichtswesen und Dokumentation, Recherchetraining, ƒ Basiskenntnisse in Rechtsgrundlagen (zum Beispiel Zuwanderungsrecht, Ausländer- und Asylrecht, Betreuungsrecht), ƒ Einführung in das Thema des Einsatzfeldes (zum Beispiel Gesundheits-, Sozial- und Rentensystem; Erziehung und Bildung; Kindergarten- und Schulsystem; Inklusion; Ausbildung und Arbeitsmarkt; Sprachfördersystem in Deutschland, Verbraucherschutz, Partizipationsmöglichkeiten). In der Regel erhalten die Integrationslotsinnen am Ende der Basisqualifizierung ein Zertifikat, in dem die absolvierten Themen und der Stundenumfang aufgeführt sind. Für bereits basisqualifizierte aktive Integrationslotsinnen können themenspezifische Vertiefungsseminare mit jährlich bis zu zwölf Unterrichtseinheiten gefördert werden. Die Themen für Vertiefungsschulungen werden vielfach von den Integrationslotsinnen vor Ort eingebracht.

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Anleitung und Beratung Anleitung und Beratung von Integrationslotsinnen tragen wesentlich zur Qualität der Integrationslotsenarbeit bei (vgl. Schumacher/Arha 2016). Sie werden in der Regel von Hauptamtlichen bei den Trägern der Integrationslotsenprojekte geleistet, zur deren beruflichen Aufgaben es explizit gehört, mit Ehrenamtlichen zusammenzuarbeiten und diese zu unterstützen, die also in einem engeren oder weiteren Sinne Aufgaben des Freiwilligenmanagements übernehmen. Koordinierende Integrationslotsinnen Die Arbeit von Integrationslotsinnen wird in Teams unterschiedlicher Größe organisiert. In jedem Integrationslotsen-Team kann eine Person neben dem regulären ehrenamtlichen Einsatz die Funktion einer koordinierenden Integrationslotsin übernehmen. Die Klärung der koordinierenden Aufgaben geschieht in enger Abstimmung mit der Ansprechpartnerin des Integrationslotsenträgers. Koordinierend tätige Integrationslotsinnen sind eine wichtige Schnittstelle zwischen Integrationslotsenträger und den aktiven Integrationslotsinnen als zentrale bzw. erste Ansprechperson. Abstimmungsgespräche finden häufig mit der koordinierenden Integrationslotsin statt, die eine Bündelungsfunktion übernimmt und im Anschluss Informationen an das restliche Lotsenteam weitergibt. Koordinierende Integrationslotsinnen können zudem die Einsätze der anderen Integrationslotsinnen vor Ort abklären und die Funktion der Einsatzplanung übernehmen. Hierzu zählt u.a. die Aufgabe, Anfragen von Menschen mit Migrationshintergrund vor Ort je nach Sprache und Herkunft bzw. je nach Wohnort an „passende“ Integrationslotsinnen weiterzuleiten, oder Anfragen von Regeldiensten, die sich im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund Hilfe erhoffen, bei Bedarf und nach Absprache zu bearbeiten. Darüber hinaus planen und organisieren sie Treffen der Integrationslotsenteams zum Erfahrungsaustausch. Auch der punktuelle Austausch mit den WIR-Koordinationskräften bzw. dem WIR-Fallmanagement für Geflüchtete kann zur koordinierenden Integrationslotsenarbeit zählen. Pauschale Aufwandsentschädigung Integrationslotsinnen in Hessen können für ihren ehrenamtlichen Einsatz eine Aufwandsentschädigung (z. B. für Telefon- bzw. Fahrtkosten) in Höhe von fünf

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Euro pro Stunde für maximal sechs Wochenstunden erhalten. Den gleichen Betrag können koordinierend tätige Integrationslotsinnen für maximal neun Wochenstunden erhalten. Diese pauschale Aufwandsentschädigung wird über die Integrationslotsenträger im WIR-Programm beantragt und abgewickelt und max. für 46 Wochen im Jahr gezahlt. Hierbei handelt es sich um einen maximalen Pauschalbetrag, der sich an den Einsatzstunden orientiert, jedoch nicht mit einem obligatorisch zu zahlendem Stundenlohn zu verwechseln ist. Integrationslotsinnen sind vielfach mehr als sechs bis neun Stunden wöchentlich ehrenamtlich aktiv, was in diesem Zusammenhang zu Missverständnissen führen kann. Mit dem Landesprogramm WIR soll jedoch das bürgerschaftliche Engagement gestärkt und ausgebaut werden, wobei explizit Menschen mit Migrationshintergrund, die sich ehrenamtlich engagieren möchten, angesprochen sind. 2.3 Arbeitsformen und Arbeitsfelder hessischer Integrationslotsinnen Integrationslotsenarbeit kann, wie in Abschnitt 1.3 dargestellt, in verschiedene Richtungen wirken und ihren Nutzen entfalten. Die flexible Konzeption des hessischen Integrationslotsenansatzes ermöglicht es, die lokale Arbeit auf unterschiedliche Schwerpunkte und Arbeitsformen zuzuschneiden. Einige davon werden hier beispielhaft dargestellt. Zunächst gibt es Integrationslotsinnen, die innerhalb einer bestimmten Organisation tätig sind und dort viele Menschen mit Migrationshintergrund lotsen und unterstützen. Beispiele sind die Elternlotsentätigkeit in einer Kita oder Schule, aber auch die Tätigkeit in einer Informationsstelle einer Behörde, z.B. eines Jobcenters. Andere Integrationslotsinnen unterstützen eine oder einige wenige Personen oder Familien in Bezug auf vielfältige Anliegen, und begleiten diese zu verschiedenen Institutionen. Diese Tätigkeit nach dem Tandemprinzip geht oft mit engeren persönlichen Beziehungen und einem weiteren Spektrum von inhaltlichen Anforderungen einher. Eine dritte Kategorie ist die Tätigkeit in der Gruppe, wenn diese gemeinsam z.B. ein Elterncafé organisiert, in dem – eher informell – Erfahrungen ausgetauscht, Fragen gestellt und Antworten gegeben oder wichtige Informationen vermittelt werden.

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Oberhalb dieser Ebene ist die organisierende Tätigkeit von Integrationslotsinnen angesiedelt, bspw. im Rahmen einer Sprechstunde im Rathaus (oder an einem anderen öffentlichen Ort), in die Menschen mit Migrationshintergrund mit ihren Anliegen kommen können. Sie überlegen dann, welche Integrationslotsin die nötigen Sprachkenntnisse und idealer Weise auch die nötigen Erfahrungen hat, um sich des jeweiligen Anliegens anzunehmen. Schließlich ist eine koordinierende Funktion von Integrationslotsinnen nicht nur konzeptionell vorgesehen, sondern wird auch praktisch umgesetzt. Eine solche ehrenamtliche Koordination ehrenamtlicher Arbeit kann als beispielhaft gelten, weil sie die hauptamtlichen Ansprechpartnerinnen in den Projekten entlastet und so mehr Kapazitäten für die Weiterentwicklung der Integrationslotsenarbeit freihält. Integrationslotsinnen sind also teilweise allein, teilweise in Tandems oder auch in größeren Gruppen tätig. Auch diejenigen Integrationslotsinnen, die im direkten Einsatz allein tätig werden, haben in der Regel Rückhalt in ihrem lokalen Integrationslotsenteam und können sich bei anderen Integrationslotsinnen oder den zuständigen Hauptamtlichen Rat und Unterstützung holen oder die Ratsuchenden an hauptamtliche Fachdienste weitervermitteln.

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Chancen, Grenzen und Entwicklungsbedarfe der hessischen Integrationslotsenarbeit

3.1 Chancen und Grenzen der Integrationslotsenarbeit Integrationslotsenprojekte eröffnen Menschen mit Migrationshintergrund vielfältige Chancen, indem sie Orientierung bieten, Zugänge zu Regeldiensten, Einrichtungen und Angeboten, bspw. im Integrationsbereich, im Bildungssystem, in der Altenhilfe oder im Sport, schaffen und damit Integration und gesellschaftliche Teilhabe fördern. In kultureller Hinsicht unterstützen sie den Spracherwerb, vermitteln kulturelle Kenntnisse und tragen zur Orientierung im Alltag bei. Strukturell lotsen sie durch das Bildungs- und Erziehungs- oder Gesundheitssystem. Im sozialen Bereich fördern sie Kontakte und Begegnungen, Freundschaften und Zugänge zu Vereinen und sozialen Netzwerken. Emotional vermitteln sie Willkommens- und Zugehörigkeitsgefühle (vgl. Huth 2017: 21f.).

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Die Grenzen von Integrationslotsenprojekten werden dann deutlich, wenn unterschiedliche Ansprüche, Erwartungen und Vorstellungen der Beteiligten – Integrationslotsinnen, Begleitete und Organisationen – über die Ziele, Aufgaben und Rollen der Integrationslotsinnen und ihre Tätigkeiten aufeinandertreffen (vgl. ebd.: 23f.). So gehören Orientierung und Vermittlung von Zugängen zu den zentralen Aufgaben von Integrationslotsinnen, wohingegen fachliche Beratung, bspw. Migrationsberatung oder Rechtsberatung, und sprachliche Übersetzung nicht Aufgabe von Ehrenamtlichen, sondern von hauptamtlichen Fachkräften und Dolmetscherinnen sind. Auch wenn sich Grenzüberschreitungen in der Praxis kaum vermeiden lassen, dürfen diese nicht zur Regel werden. In der Beziehung zwischen Integrationslotsinnen und Begleiteten zeigen sich Grenzen vor allem darin, dass Förderung und Unterstützung in Bevormundung und Überforderung umschlagen oder aufseiten der Begleiteten überhöhte Ansprüche an die Integrationslotsinnen bestehen, die deren zeitliche, inhaltliche oder emotionale Einsatzbereitschaft überschreiten (vgl. ebd.: 22). Schließlich gilt es, die Integrationslotsenarbeit von Tätigkeiten abzugrenzen, die nicht der Integrationsarbeit im engeren Sinne zuzurechnen sind. Hierunter fallen bspw. Fahrdienste, die viele andere Bevölkerungsgruppen, die von Mobilitätseinschränkungen betroffen sind, auch gerne in Anspruch nehmen würden. 3.2 Integrationslotsenarbeit mit geflüchteten Menschen Seit Anfang 2017 können wie oben dargestellt die Integrationslotsinnen des Landes Hessen durch eine Änderung der haushaltsrechtlichen Grundlagen des WIRProgramms auch geflüchtete Menschen begleiten und unterstützen. Der Wunsch nach dieser Ausweitung der Integrationslotsenarbeit ist aus den lokalen Projekten heraus seit 2015 immer wieder geäußert worden. Dies ist leicht nachvollziehbar: Integrationslotsinnen sind durch die Unterstützungsstrukturen des Programms, insbesondere durch die Basisqualifizierung und die vertiefenden Schulungen während der praktischen Tätigkeit sowie die kontinuierliche Begleitung durch hauptamtliche Ansprechpartnerinnen, sehr gut für diese Aufgabe geeignet. Auch die pauschale Aufwandsentschädigung trägt hierzu bei, sorgt sie doch dafür, dass Integrationslotsinnen im Unterschied zu vielen anderen Ehrenamtlichen in der Arbeit mit geflüchteten Menschen nicht auch noch Geld mitbringen müssen.

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Es war deswegen nicht verwunderlich, dass nicht wenige Ehrenamtliche, die in der Arbeit mit geflüchteten Menschen tätig geworden sind, ihr Engagement im Rahmen der hessischen Integrationslotsenarbeit weiterführen wollten, um ihm damit einen gut strukturierten Rahmen zu geben, und deswegen die Basisqualifizierung durchlaufen. Gegenstand der Integrationslotsenqualifizierung (vgl. 2.2) ist nicht nur die Vermittlung von Fachwissen und Schlüsselkompetenzen, sondern wesentlich auch die Entwicklung von Grundhaltungen (vgl. Schumacher/Arha 2016: 26ff.), die im Umgang mit geflüchteten Menschen, aber auch mit anderen Ehrenamtlichen sowie schließlich mit Hauptamtlichen angemessen sind. Hier gibt es nach aktuellen Berichten aus der Praxis (vgl. Schumacher 2018) in der ehrenamtlichen Arbeit mit geflüchteten Menschen in einigen Bereichen erheblichen Nachholbedarf. Zu nennen ist dabei zunächst ein partnerschaftlicher und nicht paternalistischer Umgang miteinander – gerade dann, wenn die Handlungspotenziale der geflüchteten Menschen einerseits und der ehrenamtlichen Integrationslotsinnen andererseits anfangs sehr ungleich verteilt sind. Weiterhin ist die Akzeptanz oder zumindest Toleranz anderer Meinungen, Wertvorstellungen und Rollenmodelle eine wichtige Grundhaltung, die nicht nur der Verständigung zwischen Kulturen, sondern auch der zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen sowie schließlich zwischen Ehrenamtlichen unterschiedlicher Hintergründe und Motivationen dienlich ist. Schließlich sind das Setzen und die Wahrung eigener Grenzen (vgl. 3.1) ebenso wie die Respektierung der von anderen gesetzten Grenzen wichtige Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige Integrationslotsenarbeit.

4

Weiterentwicklung des Programms: „Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen“

Wie bereits ausgeführt, liegt eine integrationspolitische Schwerpunktsetzung im Landesprogramm WIR auf der Förderung ehrenamtlichen Engagements. Dies betrifft einerseits die Förderung der Integrationslotsenarbeit, andererseits die Projektförderung von Vereinen – und somit auch von Migrantenorganisationen. Vor diesem Hintergrund wird in Hessen seit Mitte 2017 die Stärkung von integrations-

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fördernden – insbesondere ehrenamtlichen – Strukturen durch den Aufbau des sogenannten Kompetenzzentrums Vielfalt3 umgesetzt, das aus zwei Kernbereichen besteht, dem „Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen“ und dem „Kompetenzzentrum Vielfalt – Migrantenorganisationen“. Nachfolgend konzentrieren wir uns auf das „Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen“. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass die finanzielle Förderung der Integrationslotsenqualifizierung und -schulung hessenweit sehr gut angenommen wird. Es fehlt jedoch eine Verständigung über Qualitätsstandards, die definieren, was von ehrenamtlich tätigen Integrationslotsinnen erwartet werden kann – und was nicht (vgl. Schumacher/Arha 2016: 25ff.). Dies kann auch zur Verunsicherung bei aktiven Integrationslotsinnen führen, die auf Erwartungen vor Ort treffen, die sie nicht erfüllen können. Es besteht daher die Notwendigkeit, die Integrationslotsenarbeit durch die Schaffung einer neuen Organisationsstruktur professionell zu unterstützen und die Träger der Integrationslotsenprojekte stärker miteinander zu vernetzen, um dadurch letztlich die Integrationslotsinnen selbst zu stärken. Dieser Bedarf wird durch die hessenweiten Servicestelle „Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen“ in Trägerschaft der Landesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen LAGFA Hessen e. V. am Standort Offenbach seit Mitte 2017 abgedeckt. Neben einer systematischen Beratung der Träger, der Vernetzungsarbeit und der Entwicklung verbindlicher Qualitätsstandards hat diese Servicestelle die Aufgabe, einen Leitfaden und einen Methodenkoffer für die lokalen Curricula der Basisqualifizierungen der Integrationslotsinnen zu entwickeln. Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration und das Kompetenzzentrum haben im September 2019 eine Orientierungshilfe veröffentlicht mit dem Titel „Kernprofil der WIR-Integrationslotsinnen und -lotsen“. Damit sollen in Hessen aktive und potenzielle Träger ebenso angesprochen werden wie Integrationslotsinnen und -lotsen und weitere Interessierte aus Gesellschaft und Politik (vgl. Kompetenzzentrum Vielfalt 2019). Eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit des Landes soll darüber hinaus die Angebote und die Wirkung der Integrationslotsenarbeit in Hessen sichtbar machen.

3 https://kompetenzzentrum-vielfalt-hessen.de

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Literatur CDU Hessen/ Bündnis 90-Die Grünen Hessen (2014): Verlässlich gestalten – Perspektiven eröffnen: Hessen 2014 bis 2019. Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode. Online verfügbar unter: https://www.gruene-hessen.de/partei/files/2014/02/HE_Koalitionsvertrag_2014-2018_final.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2020) Gesemann, Frank (2015): Integrationslotsenprojekte in Deutschland im Überblick: Konzepte, Einsatzfelder und Finanzierung, Berlin: Beauftragte für Integration und Migration des Senats von Berlin. Online verfügbar unter: https://www.desi-sozialforschung-berlin.de/uploads/Integrationslotsenprojekte-in-Deutschland-BF01.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2020) Huth, Susanne (2007): Expertise „Integrationslotsen: Modelle von Engagement und Integration – Erfahrungen und Umsetzungsstrategien“, Frankfurt am Main: INBAS-Sozialforschung GmbH. Online verfügbar unter: https://www.inbas-sozialforschung.de/projekte/expertise-integrationslotsen.html (zuletzt abgerufen am 25. Oktober 2018) Huth, Susanne (2017): PatInnen, MentorInnen, LotsInnen für Integration – Akteure, Konzepte, Perspektiven. Expertise, BBE-Arbeitspapiere Nr. 1. Online verfügbar unter: https://www.inbas-sozialforschung.de/fileadmin/user_upload/bbe-reihe-arbeitspapiere-001.pdf (zuletzt abgerufen am 25. Oktober 2018) Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (2018) (Hrsg.): Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Wiesbaden. Online verfügbar unter: https://soziales.hessen.de/presse/infomaterial/13/bevoelkerung-mit-migrationshintergrund (zuletzt abgerufen am 27. November 2018) Kompetenzzentrum Vielfalt – WIR Lotsen (2019): Orientierungshilfe für Integrationslotsenprojekte im WIR-Programm des Landes Hessen. Kernprofil der WIR Integrationslotsinnen und -lotsen. Hrsg.: Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, Wiesbaden (www.kompetenzzentrumvielfalt-hessen.de/integrationslotsen/material/) Schumacher, Jürgen (2018): Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen in der Arbeit mit Geflüchteten – Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen. Online verfügbar unter: https://www.inbas-sozialforschung.de/projekte/kooperation-von-haupt-und-ehrenamtlichen-in-der-arbeit-mit-gefluechteten.html (zuletzt abgerufen am 25. Oktober 2018) Schumacher, Jürgen/Arha, Feben (2016): Bestandsaufnahme, Analyse und Empfehlungen für Qualifizierungen und Schulungen ehrenamtlicher Integrationslotsinnen und -lotsen zur Förderung einer Willkommens- und Anerkennungskultur in Hessen. Online verfügbar unter: https://integrationskompass.hessen.de/sites/integrationskompass.hessen.de/files/Bestandsaufnahme%2BLotsen-Qualifizierung%2BHE%2B-%2B09_2016-pdf_1.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2020) Statistisches Bundesamt (2017): Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus, Fachserie 1 Reihe 2.2 – 2016. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/GPStatistik/receive/DESerie_serie_00000020 (zuletzt abgerufen am 24. Januar 2020)

Virtuelles Dolmetschen als Lösung für Herausforderungen der Mehrsprachigkeit im interkulturellen Behördenhandeln Andrea Cnyrim

Abstract Sprachbarrieren erschweren die Kommunikation und führen zu Effizienzverlusten in Behörden. Migrant/-innen mit geringen Deutschkenntnissen werden in jüngster Zeit zunehmend nicht mehr in den Ballungszentren untergebracht, sondern vermehrt im ländlichen Raum, wo Wohnraum zur Verfügung steht. Dort gibt es jedoch weniger Erfahrung mit der Zielgruppe und nur selten qualifizierte Sprachmittler/-innen. Das hier vorgestellte Projekt erprobte im Auftrag der Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz einen virtuellen Dolmetscherpool, der hohe Qualität gewährleisten sollte. Das überraschende Ergebnis: Trotz der offensichtlichen Vorteile waren die Behörden zum Teil nur schwer von der Nutzung des Angebots zu überzeugen.

Stichworte Virtuelles Dolmetschen, Telefondolmetschen, Sprachmittlung, Dolmetscherpools, Mehrsprachigkeit, Behördenkommunikation

Im Kontext gestiegener und stetig weiter steigender weltweiter Migration bleibt es ein wichtiges Ziel, allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen Zugang zu professionellen Betreuungs- und Versorgungsleistungen im Sozial-, Gesundheitsund Bildungswesen zu ermöglichen. In der Realität beobachten wir jedoch Sprachund Zugangsbarrieren verschiedener Art in medizinischen, sozialen und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_16

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(vor)schulischen Institutionen mit der Folge, dass Migrant/-innen oft nicht oder nur schwer den Weg dorthin finden. Zu den niedrigschwelligen Formen der Integrationsbegleitung und Unterstützung von Menschen mit Migrationsgeschichte gehört seit jeher die Überbrückung solcher Hürden bei der sprachlichen und kulturellen Verständigung in Form von Dolmetschen und Übersetzen1. Zum Zweck einer differenzierten Betrachtung sollen zunächst diese Tätigkeit von anderen Lotsen-, Paten- und Multiplikatoren-Projekten abgegrenzt und die für das Dolmetschen in diesen Kontexten erforderlichen spezifischen Kompetenzen beschrieben werden. Anschließend wird ein von der Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz finanziertes, für Behörden und Nutzer/-innen kostenfreies Pilotprojekt zur Etablierung eines virtuellen Dolmetscherpools beschrieben und die daraus gewonnenen Erkenntnisse erörtert.

1

Das Dolmetschen in Behördenkontexten und seine Verbreitung

Die Tätigkeit sprachlicher Mittlung in sozialen Kontexten kann schon in der Antike nachgewiesen werden und wurde über das Römische Reich und die Kolonialzeit bis heute praktiziert (Pöchhacker 1999: 128). In vielen der klassischen Aufnahme- und Einwanderungsländer entstanden aber erst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges staatliche Dienste sowie Ausbildungs- bzw. Studiengänge für Dolmetscher/-innen im Gemeindewesen, in gesundheitlichen, religiösen und sozialen Einrichtungen. So wurde etwa in Australien ab 1947 ein entsprechender Service aufgebaut. Daneben gelten Schweden, Großbritannien, die USA, Kanada und SüdAfrika aus unterschiedlichen Gründen als vorbildlich (vgl. Pöchhacker 1999: 131 ff.), während in Deutschland der systematische Einsatz staatlich bestellter und bezahlter Dolmetscher/-innen auch heute noch auf Kontexte wie beispielsweise Vernehmungen bei der Polizei, Gerichtsverhandlungen oder die Bundesämter für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge beschränkt bleibt (vgl. Wadensjö 2009: 46; Petrova 2015: 52). Stattdessen haben sich auf kommunaler Ebene unter-

1 ‚Übersetzen‘ bezeichnet die Übertragung geschriebener Texte von einer Sprache in eine andere, während der Begriff ‚Dolmetschen‘ sich auf gesprochene Texte bezieht.

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schiedliche Initiativen entwickelt, die zum Teil ehrenamtliche Sprach- und Integrations- oder Kulturmittler einsetzen bzw. Qualifizierungsangebote erarbeitet haben und für die Etablierung eines solchen Berufsbilds plädieren (vgl. Lietz 2017, Becker et al. 2010; Schwarze 2009; Borde/Albrecht 2007)2. Seit den 1990er Jahren gilt das sogenannte ‚Community Interpreting‘ (teilweise auch Gemeinde- oder Kommunaldolmetschen, Liaison, Dialogue oder auch Public Service Interpreting, Sprach- oder Kulturmittlung3) als eigene Dolmetschart und in internationalen Fachkreisen als ‚etabliert‘. Unter diesem Begriff soll hier die Herstellung von sprachlicher und kultureller Verständigung zwischen Anbietern öffentlicher Hilfs- und Dienstleistungen und ihren Klient/-innen oder Kund/-innen verstanden werden, wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen, und zwar unabhängig davon, ob dies durch ausgebildete bzw. erwerbsmäßig tätige Dolmetschende oder Laien (Familienangehörige, Freund/-innen, Bekannte oder auch muttersprachliches Personal der beteiligten Institutionen) erfolgt. Dabei sind fünf Faktoren bezeichnend für die spezifische Situation: 1. Die Kommunikation wird zwischen Vertreter/-innen einer Mehrheitsgesellschaft und Angehörigen von Gruppen mit davon abweichenden kulturellen Hintergründen hergestellt; 2. zwischen den Vertreter/-innen der Institutionen und Einrichtungen und ihren Kund/-innen bzw. Klient/-innen besteht eine ungleiche Beziehung hinsichtlich Macht, Wissen und Fachkenntnissen, die häufig auch als Experten-Laien-Kommunikation beschrieben wird; 3. die Inhalte, auf die sich die Dolmetschleistung bezieht, stammen aus einem außerordentlich breiten und im Voraus wenig vorhersehbaren Themenspektrum, was die Aufgabe besonders komplex macht und die inhaltliche Vorbereitung erschwert; 4. die Herstellung der Kommunikation erfolgt durch mündliche Übertragung von (schriftlichen oder mündlichen) Texten (also z. B. auch Anschreiben, Vordrucke, Formulare etc.) in einer dialogischen Kommunikationssituation. Das bedeutet, dass in beide Richtungen gedolmetscht wird (Bidirektionalität);

2 Einen Überblick über bestehende Initiativen geben Lietz 2017 im Anhang sowie Becker et al. 2010 auf S. 91 bis 96. 3 Bezüglich der Verwendung der unterschiedlichen Begriffe siehe vor allem Pöllabauer 2008: 32 ff.; aber auch Wadensjö 2009: 43; Bowen 1999: 319; Pöchhacker 1999.

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5. es herrscht eine vergleichsweise geringe soziale oder emotionale Distanz zwischen den Dolmetscher/-innen und ihren Klient/-innen, was unter bestimmten Bedingungen zu starker Identifikation und dadurch zu einer hohen psychischen Belastung führen kann.

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Was Dolmetscher/-innen im sozialen und Behördenkontext können müssen

Für diese Art des Dolmetschens sind besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich, die sich leicht aus den genannten fünf spezifischen Merkmalen ableiten lassen: 1. Dolmetscher/-innen müssen nicht nur Sprache übertragen können, sondern auch kulturvermittelnd fungieren. Ihre Brückenfunktion kann sich also auch auf die Überbrückung kultureller Unterschiede beziehen, indem sie erkennen, wann sie diese erläutern müssen, um erfolgreich Verständigung zwischen den Parteien herzustellen. Gerade in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten können diese Unterschiede zu erheblichen Abweichungen bei der Wahrnehmung und Bewertung der Situation führen und so Stereotypisierungskreisläufe auslösen, wenn sie nicht erkannt und durchbrochen werden (vgl. dazu Seifert 1996). Dies erfordert neben sprachlichem Wissen und Können oftmals auch Kenntnisse über die institutionellen Zusammenhänge, in denen die Kommunikation stattfindet. 2. Die Asymmetrie der Parteien hinsichtlich Macht, Wissen und Fachkenntnissen bedeutet für die Dolmetscher/-innen, dass sie diese bei der Verdolmetschung ausgleichen müssen, und führt dazu, dass sie einschätzen können müssen, wann sie Sachverhalte vereinfachen und erklären oder aber durch Rückfragen an die Interaktionspartner/-innen abklären und dann entsprechend erläutern müssen. Sie müssen beurteilen, wann sie zusammenfassen und was sie weglassen können oder aber im Gegenteil auf mögliche Missverständnisse hinweisen und selbstständig formulieren müssen. Sie müssen souverän mit unterschiedlichen Sprachniveaus (Registern) umgehen und den Bildungsstand der Beteiligten berücksichtigen. Das bedeutet, dass jede professionelle Verdolmetschung auf die spezifischen Bedürfnisse der Beteiligten zugeschnitten werden muss.

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3. Neben sprachlichem Wissen und der Kenntnis kultureller Spezifika erfordert das Dolmetschen in behördlichen und sozialen sowie gesundheitlichen oder Bildungskontexten oft auch weitergehende fachliche Kenntnisse (beispielsweise juristische, z. B. etwa verwaltungs- oder aufenthaltsrechtliche, medizinische etc.). 4. Die Bidirektionalität der Situation verlangt den Dolmetscher/-innen mehr ab als andere Dolmetschsituationen: Sie müssen beide Sprachen aktiv (möglichst auf dem selben hohen Niveau) beherrschen und zusätzlich stärker in die Steuerung der Kommunikation eingreifen. Das Dolmetschen spontan formulierter dialogischer Situationen erfordert außerdem eine besonders hohe Gedächtnisleistung, die von Laien oft unterschätzt wird. Ausgebildete Dolmetscher/-innen setzen eine spezielle Notizentechnik ein, die nicht nur das Gedächtnis entlastet, sondern zusätzlich eher Ideen als Wörter notiert und daher den Transfer erleichtert. Sie verhindert, dass man beim Dolmetschen an einem Wort ‚hängen bleibt‘. 5. Hinzu kommen außerordentlich hohe Rollenerwartungen und Anforderungen an die Professionalität vor allem hinsichtlich der Vertraulichkeit, der Allparteilichkeit und der inhaltlichen Verlässlichkeit (die Pöllabauer sogar als unrealistisch bezeichnet; vgl. Pöllabauer 2003: 21) der Dolmetscher/-innen, die gleichzeitig aufgrund der großen Nähe einfühlsam, wegen der Möglichkeit hoher psychischer Belastung aber auch robust sein sollen, was sich nicht leicht vereinbaren lässt. Eine kritische Sicht auf dolmetschende Kinder und Angehörige betont, dass und warum diese in der Regel die fünf Kriterien nicht erfüllen können und deshalb für das Dolmetschen in diesen Kontexten nicht geeignet sind4 (vgl. Ahamer 2013, Pöllabauer 2003: 23 f.). Oft haben sie nur rudimentäre Kenntnisse der Landessprache, die sich überwiegend auf ihre eigene Erlebniswelt beziehen, bringen also weder das institutionelle Hintergrundwissen noch die Fachkenntnisse, noch ein reflektiertes Kulturwissen in beiden Kulturen mit (vgl. Ahamer 2013; Morina et al. 2010: 105; Borde/Albrecht 2007: 54). Die Annahme, jede/-r, der zwei Sprachen beherrsche, könne auch dolmetschen, ist ein verbreiteter und fataler Irrtum (vgl. 4 Diese Sichtweise ist besonders verbreitet im (psycho-)therapeutischen und medizinischen Kontext (vgl. Morina et al. 2010: 105), sie hat sich aber inzwischen auch in den anderen Bereichen etabliert (vgl. Ahamer 2013, Becker et al. 2010: 58 u. 60 und Borde/Albrecht 2007: 53/54)

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Morina et al. 2010: 105). Von den oft sehr persönlichen und heiklen Inhalten, um die es beim Dolmetschen in behördlichen und sozialen Situationen meist geht, sind Kinder, Angehörige und andere Migrant/-innen in vielerlei Hinsicht überfordert, weil sie nicht darin geschult sind, sich von den unter Umständen auch belastenden Inhalten und Berichten zu distanzieren (vgl. Ahamer 2013; Morina et al.: 105; Becker et al. 2010: 58, Borde/Albrecht 2007: 53/54). Zum Teil sind sie möglicherweise sogar selbst betroffen oder in die Situation involviert, weshalb die Allparteilichkeit und auch die Vertraulichkeit durch die persönlichen Beziehungen unter ihnen oftmals nicht gewährleistet werden können (vgl. Ahamer 2013; Morina et al.: 105; Becker 2010: 60). In den seltensten Fällen erfahren sie eine professionelle Begleitung und Unterstützung, um gegebenenfalls belastende Situationen zu verarbeiten. Diese Einschränkungen gelten größtenteils auch für Laien (wie z. B. Reinigungskräfte, muttersprachliche Mitarbeiter/-innen der Einrichtungen etc.), die zum Dolmetschen herangezogen werden, aber auch für Lots/-innen, Pat/-innen und Multiplikator/-innen – es sei denn, sie werden speziell vorbereitet, ausgebildet und begleitet. Für alle diese Tätigkeiten gilt, dass sie keine geschützten Berufsbezeichnungen sind und bisher auch keine standardisierten verbindlichen Prüfungen oder Zertifikate für ihre Ausübung zwingend verlangt werden. Dies macht eine klar umrissene Beschreibung und Abgrenzung schwer. Dennoch unterscheiden sich die Erwartungen und Anforderungsprofile, die in der Literatur auch beschrieben sind.5 In den gängigen Definitionen werden Lots/-innen, Pat/-innen und Multiplikator/-innen als ehrenamtliche oder ‚engagierte Freiwillige‘ bezeichnet. Analog weisen auch zahlreiche Translationswissenschaftler/-innen (z. B. Wadensjö 2009: 43 f.; Bowen 1999: 320 f. und Pöchhacker 1999: 128) auf die Gründe hin, aus denen in absehbarer Zeit auf das Dolmetschen durch nicht-ausgebildete Sprach- und Kulturmittler/-innen nicht verzichten werden kann. Zu den Argumenten in diesem Sinne zählen u. a. der starken Fluktuationen unterliegende Bedarf, der sich mit den weltweiten Migrationsbewegungen auf wechselnde Sprachen bezieht und schnell verändert, sowie vor allem auch die geringen finanziellen Mittel, die zur Entlohnung professioneller Dolmetscher/-innen in diesem Sektor verfügbar gemacht werden. 5 Für eine Bestimmung der Aufgaben von Lots/-innen, Mentor/-innen und Pat/-innen greife ich auf die im wahren Wortsinn Standards setzende Dissertation von Roman Lietz zurück (Lietz 2017); siehe auch seinen Beitrag in diesem Band.

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Die Funktion von Lots/-innen besteht vor allem in der Sozialraumorientierung und der Eruierung von Unterstützungsbedarf (Lietz 2017: 41) sowie dem ‚niedrigschwelligen Dolmetschen‘, das Lietz wie folgt fasst: „Sie treten nur ausnahmsweise als Sprachmittler in Erscheinung, verdeutlichen aber, dass gegebenenfalls Personen zum Dolmetschen mitgebracht werden müssen“ (ebd.: 40). Demgegenüber übernehmen Dolmetscher/-innen die volle Verantwortung für die sprachliche und kulturelle Verständigung, sehen ihren Schwerpunkt jedoch nicht – wie die Lots/-innen – in einer niedrigschwelligen, aufsuchenden Familienarbeit oder nachbarschaftlichen Hilfeleistung. Gemeinsam ist Lots/-innen und Dolmetscher/-innen allerdings die letztlich nicht abgeschlossene Fülle verschiedener Bereiche und Kontexte, auf die sich ihre Tätigkeit beziehen kann (ebd.: 42). Eine noch geringere Schnittmenge mit den Dolmetscher/-innen bieten Patenschafts- und andere Multiplikatorenmodelle (wie etwa Stadtteilmütter oder Rucksackprojekte), bei denen oft die Unterstützung des Spracherwerbs durch Nachhilfe oder Tandemunterricht, gemeinsame Freizeitgestaltung oder auch eine Unterstützung bei der Orientierung im deutschen Bildungssystem im Vordergrund stehen (vgl. Lietz 2017: 42 f.). Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ist hier, dass die Lotsen-, Patenschafts- und Multiplikatorenprojekte darauf abzielen, eine längerfristige Beziehung zur Begleitung und Orientierung oft einzelner Menschen oder Familien mit Migrationsgeschichte aufzubauen. Dolmetscher/-innen dagegen werden zwar in der Praxis oft auch mehrfach für einzelne Klient/-innen eingesetzt, das Ziel der Allparteilichkeit steht jedoch dem Aufbau einer nahen, emotionalen und langfristigen Beziehung entgegen und widerspricht dem ethischen Verhaltenskodex professioneller Dolmetscher/-innen. Leider werden diese deutlichen Unterschiede in Aufgabe und Funktion der verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten von den Institutionenvertreter/-innen und in der Öffentlichkeit noch immer viel zu wenig wahrgenommen, was zu fatalen Fehleinschätzungen bezüglich ihrer Rolle und den Aufgaben führen kann, die diese in der Lage sind zu übernehmen (vgl. dazu Lietz 2017: 51 ff. und Pöllabauer 2003: 21 ff. insbesondere zu den schwerwiegenden Folgen dieser ‚Notlösungen‘ und zur möglichen gravierenden Überforderung von dolmetschenden Kindern).

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Das VIP-Projekt in Rheinland-Pfalz

Neben Gleichheitsargumenten und Nicht-Diskriminierungsbestrebungen führten in den Einrichtungen und Behörden aber auch steigende Fallzahlen, Verdichtung der Arbeit und wachsender Zeitdruck zu einer vermehrten Nutzung von Dolmetscher/-innen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Hürden bei der Verständigung zwischen Migrant/-innen und Institutionenvertreter/-innen der Aufnahmegesellschaft nicht nur Zugangsbarrieren für die Zugewanderten, sondern auch Reibungsund Effizienzverluste für die Einrichtungen verursachen. So erkannte die Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz schon Anfang 2015, also noch vor dem großen Anstieg an Schutzsuchenden in ersten Vorgesprächen zu dem Projekt, dessen Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden sollen, dass die Verständigung mit Menschen aus dem arabischen Sprachraum im behördlichen Handeln wichtiger werden würde. Das neue Integrationsgesetz sollte zum 06.08.2016 einen schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt erlauben. Daher war ein größerer Bedarf an sicherer, dem Datenschutz entsprechender Verständigung bei den Jobcentern zu erwarten. In diesem Zusammenhang entstand der Wunsch, einen Virtuellen Dolmetscherpool (VIP) einzurichten, der vor allem in ländlichen, von den Ballungszentren weiter entfernten Verbandsgemeinden und Kommunen auch dann eine schnelle und sichere Verständigung herstellen kann, wenn vor Ort Dolmetscher/-innen aufgrund langer Anfahrtswege schwer erreichbar sind. Dieser Bedarf zeichnete sich für die Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz umso mehr ab, als aufgrund vorhandener Wohnraumkapazitäten gerade in ländlichen Regionen zu dieser Zeit die (zugewiesene) Unterbringung von immer mehr Menschen aus diesem Sprach- und Kulturraum in der Fläche öffentlich diskutiert wurde und die Kommunen vor Ort nicht hinreichend auf die dadurch entstehenden Herausforderungen vorbereitet waren. Die oben ausgeführten besonderen Qualitätsmerkmale für das Dolmetschen in sozialen und behördlichen Kontexten sollten vom Modellprojekt erfüllt werden. Besonders wichtig erschien die solide Ausbildung der eingesetzten Dolmetscher/ -innen und ihre angemessene Honorierung, ihre Allparteilichkeit und die Wahrung der Vertraulichkeit (die vertraglich geregelt wurde), ihre kulturelle Zugehörigkeit zum arabischen und/oder kurdischen Sprach- und Kulturraum sowie ihre große Vertrautheit mit Behördenabläufen, aber auch mit der Ausgangssituation der Klient/-innen. Zum Zeitpunkt des Projektstarts im Mai 2015 gab es noch keine gut

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funktionierenden, bekannten Angebote dieser Art in Deutschland 6. Insofern bestand die größte Innovation des Projekts darin, zu ermitteln, welche Besonderheiten bei der Organisation und beim Betreiben eines Virtuellen Dolmetscherpools auftreten würden. Um die Qualitätsansprüche für die Projektziele und die Qualität der Dolmetschleistungen zu gewährleisten, bot es sich an, mit dem für das Dolmetschen bekannten Germersheimer Fachbereich der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Projektpartner zusammenzuarbeiten. Diese Kooperation sicherte die erforderliche hohe Professionalität bei der Entwicklung eines Konzepts für einen Virtuellen Dolmetscherpool wie auch bei der Auswahl, Schulung und Begleitung der eingesetzten Dolmetscher/-innen sowie der Behörden- und Institutionenvertreter/-innen aufseiten der am Projekt beteiligten Gemeinden. Um Fehleinschätzungen bei Behördenmitarbeiter/-innen und Institutionenvertreter/-innen entgegenzuwirken, gehörte es nämlich zum Konzept, zunächst eine begrenzte Anzahl von Modellgemeinden auf die Nutzung des Virtuellen Dolmetscherpools vorzubereiten. Dazu schulte das Team zu Beginn Multiplikator/-innen in den Modellgemeinden und führte gleichzeitig Bedarfserhebungen durch, die berücksichtigten, wie die Sprachmittlung bisher erfolgte. Nach der Startphase mit intensiven Nutzerschulungen in den Modellgemeinden im Zeitraum Mai und Anfang Juni 2015 ging das Projekt von Mitte Juni bis Ende Oktober in den Regelbetrieb über. Die Telefondolmetscher/-innen standen von Montag bis Freitag jeweils von 9 bis 16 Uhr zur Verfügung. Erstaunlicherweise zeichnete sich schon früh ab, dass manche Kommunen nur recht zögerlich auf das Angebot für sie kostenloser professioneller Dolmetscher/innen reagierten. Andere Gemeinden zeigten große Begeisterung und nutzten den Virtuellen Dolmetscherpool sehr intensiv. So kamen 70,5 Prozent der Anfragen aus nur zwei (!) Gebietskörperschaften. Die drei Kommunen, die das Angebot am intensivsten nutzten, machten zusammen 79,5 Prozent aus. Insgesamt 93,5 Prozent der Anfragen kamen aus nur zehn Kommunalverwaltungen, die alle den VIP mehr

6 Diese Tatsache erstaunt umso mehr, als in Australien bereits seit 1973 ein solcher ‚Telephone Interpreter Service’ operiert, der heute dem Department of Immigration and Border Protection untersteht und 24 Stunden am Tag Dolmetscher/-innen per Telefon sofort vermittelt oder für absehbare Termine im Voraus bucht und jedem Zuwanderer in den ersten zwei Jahren bis zu zehn kostenfreie Übersetzungen offizieller Dokumente gewährt. (vgl. Pöchhacker 1999: 131, sowie Translating and Interpreting Service. Australian Government. Department of Immigration and Border Protection. https://www.tisnational.gov.au/en. Abgerufen am 09.09.2017)

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als einmal in Anspruch nahmen. Demgegenüber fragten neun Gemeinden jeweils nur einmal an. Es erwies sich insgesamt als schwieriger als zu Beginn des Projekts angenommen, die Behörden trotz des offensichtlichen Mehrwerts von der regelmäßigen Nutzung dieser Dienstleistung zu überzeugen. Behörden, die bereits mit der Nutzung ehrenamtlicher Face-to-Face-Dolmetscherpools vertraut waren, zeigten sich dem neuen Angebot gegenüber deutlich offener und nutzten es weitaus intensiver als diejenigen, bei denen sich eine ‚Notlösung‘ etabliert hatte (beispielsweise in Form anderer Migranten, die regelmäßig oder an bestimmten Wochentagen in die Behörde kamen, um dort zu dolmetschen, aber in keinem vertraglichen Verhältnis mit den Kommunalverwaltungen standen). In der behördlichen Praxis wurde also zum Teil auf Sprachmittler zurückgegriffen, die nicht als solche ausgebildet waren, keine fachliche Kenntnis der Prozesse oder des Gebietes hatten bzw. selbst Migrant/-innen waren und teils sogar von den Klient/-innen Geld für ihre Dienste verlangten. Daher war es erstaunlich, dass bei den Behörden kein höheres Problembewusstsein vorhanden war7. Beispielsweise wurde die achtjährige Tochter einer Klientin herangezogen, um in der Schwangerschaftsberatung ihrer aus Syrien geflüchteten Mutter aus gesundheitlichen Gründen zum Abbruch zu raten. Dass dies eine unzumutbare Belastung für das Kind darstellen musste, bedarf keines weiteren Kommentars. Auch wenn dies sicher ein extremes Beispiel ist, stellt es Angehörige oft vor besondere Herausforderungen, für ihre Verwandten zu dolmetschen. Professionelle Dolmetscher/-innen dagegen beherrschen Techniken der Distanzierung und der Verarbeitung. Die im Projekt eingesetzten Dolmetscher/-innen wurden in regelmäßigen Teamsitzungen begleitet und erhielten sowohl Angebote zur Supervision wie auch bei Bedarf die Möglichkeit zur kollegialen Beratung, um eventuell belastende Erlebnisse zu verarbeiten, sowie Weiterbildungsangebote. Bei erwachsenen Dolmetscher/-innen aus der ‚Community‘ besteht eventuell die Gefahr von Retraumatisierungen, wenn sie durch die Dolmetschtätigkeit wieder mit Umständen konfrontiert werden, die sie selbst noch

7 Ann Corsellis weist eindringlich nicht nur auf die prekären Einkommens- und Beschäftigungsverhältnisse der Dolmetscher/-innen in diesem Sektor hin, sie benennt auch klar als Problem, dass es Behördenvertreter/-innen oft an Bewusstsein dafür fehlt, welche Bedeutung die Dolmetscher/-innen haben und wo sie an Grenzen stoßen, etwa bei Fragen der Vertraulichkeit und des Datenschutzes, der Allparteilichkeit und der inhaltlichen Verlässlichkeit, auf die noch weiter einzugehen sein wird (vgl. Corsellis 2008). Dort finden sich fundierte Vorschläge für die notwendige Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit.

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nicht vollständig verarbeitet haben. All dies spricht dagegen, auf ungeschulte Laiendolmetscher/-innen, seien es Angehörige der Klient/-innen, seien es andere Migrant/-innen, zurückzugreifen. Ferner bereiten sich professionelle und als solche ausgebildete Dolmetscher/innen fachlich auf die Situation vor, um die entsprechende Terminologie ebenso bereitzuhalten wie die erforderlichen Spezialkenntnisse. Die Breite der vom Virtuellen Dolmetscherpool abgedeckten Gebiete und Themen reichte von juristischen Fragen wie ALG II, Asyl- und Aufenthaltsfragen sowie Ausreisemöglichkeiten bzw. Familiennachzug über zum Teil auch komplexe Gesundheitsfragen bis hin zu Elterngesprächen und Jugendamtsangelegenheiten, aber auch Bankangelegenheiten, Arbeitsvermittlung und Qualifikationsnachweisen sowie Alltagsfragen rund um Wohnen, Einrichten, öffentliche Transportmittel etc., die natürlich unterschiedliche Grade an Komplexität aufweisen. Eine der Besonderheiten des Behördendolmetschens ist es jedoch, dass die Gespräche oft unerwartet auf Fachgebiete ausgeweitet werden, die vorher nicht absehbar sind. Damit kommen qualifizierte Dolmetscher/-innen in der Regel mühelos zurecht, da sie entsprechend ausgebildet sind. Allerdings eignet sich nicht jedes Gespräch auf einer Behörde auch für die Verdolmetschung per Telefon oder Videokonferenz. Längere Beratungs- und Therapiegespräche wurden daher von Anfang an im Projekt ausgenommen. Entstand dennoch im Zuge eines Einsatzes ein solcher Bedarf, verwiesen die Dolmetscher/innen auf den Germersheimer Face-to-Face-Dolmetscherpool bzw. auf vergleichbare ehrenamtliche Angebote in der Region der Klient/-innen. Im Projekt wurde von 15- bis maximal 30-minütigen Gesprächen ausgegangen, selten fanden auch Gespräche bis zu 60 Minuten (und insgesamt zwei von mehr als einer Stunde) statt. Das kürzeste Gespräch dauerte drei Minuten, das längste 108 Minuten, 41 Prozent der Gespräche dauerten bis zu 15 Minuten, weitere 41 Prozent 15 bis 30 Minuten und 16 Prozent 30 bis 60 Minuten. Von Juni bis Oktober 2015 erhielt der VIP insgesamt 200 Anfragen, von denen 167 zu tatsächlichen Dolmetscheinsätzen führten. Darüber hinaus nahm der Pool auch Übersetzungsaufträge entgegen, wenn sie zur Zielsetzung der Herstellung sprachlicher Verständigung zwischen den Einrichtungen und ihren Klient/-innen passte (also etwa für Formulare, Informationsblätter etc.). Das Angebot war auf die Sprachen Arabisch und Kurdisch beschränkt. Wegen der geringen Auslastung durch die Nutzer/-innen wurde die Anzahl der Partner-Kommunen im Juli 2015 von zunächst sechs auf 20 und dann

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rasch auf alle Kommunalverwaltungen und Einrichtungen wie Wohlfahrtsverbände in ganz Rheinland-Pfalz ausgeweitet. Die Qualitätssicherung im Projekt fand auf verschiedenen Ebenen statt: Einer systematischen schriftlichen Bedarfserhebung folgten Nutzerschulungen, bei denen Multiplikator/-innen identifiziert wurden, die im Verlauf des Projekts befragt wurden. Alle Aktivitäten wurden dokumentiert und in regelmäßigen Berichten ausgewertet. Darüber hinaus fand eine systematische Evaluation8 des Projektes statt, die unter anderem folgende Einsichten ergab. Als besondere Pluspunkte des Projekts schätzen die Nutzer/-innen die gesicherte Qualität der Dolmetschleistung (alle Dolmetscher/-innen waren Absolvent/-innen des Germersheimer Fachbereichs mit überdurchschnittlichen Studienleistungen), die Allparteilichkeit der Dolmetscher/-innen und den Datenschutz. Die Leistung wurde niedrigschwellig angeboten und konnte mit vorhandenen Technologien abgerufen werden. Skype wurde deshalb wenig genutzt, weil viele Behörden zögerten, das Programm auf Dienstrechnern zu installieren. Zu den Hauptgründen, warum etliche Behörden trotz dieser großen Vorteile bisher etablierte Verständigungspraxen (etwa in oft rudimentärem Englisch oder mit Laiendolmetschern) nicht aufgaben, zählen das Fehlen eines realistischen Bewusstseins für die negativen Konsequenzen mangelnden Datenschutzes und unzureichender Dolmetschleistungen sowie die mangelnde Einschätzung der Auswirkungen auf die fachliche Qualität der eigenen Arbeit9. Auch die zeitliche Begrenzung des Projekts auf sechs Monate mag ein Grund dafür gewesen sein, bisher funktionierende Verständigungspraxen nicht aufzugeben. Neben der Entwicklung und Erprobung des Virtuellen Dolmetscherpools wurde auch ein Organisationsmodell für einen

8 In die sehr umfassende Evaluation flossen Informationen sowohl aus internen Dokumenten (Protokolle, Einsatzdokumentationen, Statusberichte) als auch Umfrageergebnisse ein. Unter Berücksichtigung verschiedener Qualitätsdimensionen wurde dazu ein Fragebogen zur Erhebung bei den verschiedenen Stakeholdern des Projekts konzipiert (Projektleitung, Dolmetscher/-innen, Operator/-innen, Verwaltungsmitarbeiter/-innen der am Projekt beteiligten Kommunen, Entwicklungsagentur), um eine Evaluation aus verschiedenen Perspektiven sicherzustellen. 9 Diese Einschätzungen decken sich mit vorgängigen Erkenntnissen aus der Literatur (vgl. etwa Becker et. al. 2010: 63). Sie wurden von einem Teil der Behördenmitarbeiter/-innen geäußert. Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts (Prof. Dr. Bernd Meyer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) schließt sich dieser Auffassung an.

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dauerhaften, mehrere Sprachen umfassenden Virtuellen Dolmetscherpool für Rheinland-Pfalz erarbeitet.10

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Fazit

Eine Alternative zum Einsatz qualifizierter und vertraglich gebundener Dolmetscher/-innen (seien sie ehrenamtlich oder vergütet) in der kommunalen Flüchtlingsbetreuung und Migrantenbegleitung zeichnet sich nicht ab. Zentrale Missstände, die von verschiedenen Seiten immer wieder beanstandet wurden, sind bis heute nicht behoben. Dazu gehört die überaus problematische Sichtweise in der Öffentlichkeit, die annimmt, bilinguale Laien könnten die Anforderungen an das Dolmetschen in sozialen und behördlichen Settings problemlos bewältigen. Diese Annahme unterschätzt die Komplexität dieser hoch spezialisierten, anspruchsvollen Tätigkeit, die neben Sprach- und Kulturkenntnissen auch Fach- und Systemkenntnis über die beteiligten Institutionen sowie Dolmetschtechniken umfasst, wenn man an die möglichen Folgen nicht sachgerechter Verdolmetschungen oder von Verstößen gegen den Datenschutz denkt. Hier ist Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit zu fordern. Es wäre zu überdenken, ob Module zum professionellen Umgang mit Mehrsprachigkeit im behördlichen Alltag nicht in die Studien- und Ausbildungsgänge sowie die systematische Personalentwicklung von Behördenmitarbeiter/-innen aufgenommen werden sollten. Ein professioneller Umgang mit Mehrsprachigkeit sollte darüber hinaus expliziter Teil von Migrationspolitik sein und es nicht mehr dem Zufall überlassen, ob und von wem diese verantwortungsvolle Aufgabe unter den Bedingungen welcher Art von Entlohnung verrichtet wird. Die zum Zeitpunkt des Projekts am stärksten nachgefragten Sprachen waren Arabisch, Tigrinya, Dari/Farsi, Paschtu und Somali. Im Zuge der Digitalisierung einerseits und des fluktuierenden Bedarfs andererseits erscheint die Organisation von medial vermittelten Dolmetschleistungen vielversprechend. Entsprechende

10 Interessant ist die Beobachtung, dass seit dem Ende des Modellprojekts verschiedene ähnliche Angebote entstanden sind, etwa die Videodolmetscher-Hubs in Bedarfsaußenstellen des BAMF (Erprobung ab März 2016) oder auch die App der Xplando GmbH aus Kaiserslautern.

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Module zur Qualifizierung für die besonderen Herausforderungen des Dolmetschens per Telefon oder Videokonferenz könnten in die Qualifizierung-, Ausbildungs- und Studiengänge aufgenommen werden. Mit einer einzigen Ausnahme stellte die Tatsache, dass die Dolmetschleistung technisch vermittelt, also am Telefon erfolgte, für die Dolmetscher/-innen in diesem Projekt allerdings keine größere Schwierigkeit dar. Es waren eher die Behörden, die zögerten, andere Technologien als Telefonapparate zu verwenden. Die größte Nachfrage im Rahmen des Modellprojekts wurde bei den Sozialämtern, Ausländerbehörden, Jobcentern, der allgemeinen Sozialberatung/Caritas, den Stadt- und Kreisverwaltungen und den Migrationsdiensten verzeichnet. Keine Einsätze wurden im Falle von Eingriffsverwaltung, Gerichten, Polizei, Asylverfahren sowie Krankenhäusern übernommen, die in der Regel über eigene Lösungen bzw. Strukturen verfügen (beeidigte Dolmetscher/-innen, eigene Dienste). Klarheit und Transparenz über die Art, die rechtlichen Grundlagen und die Grenzen der angebotenen Einsätze sind in jedem Fall dringend für all jene unumgänglich notwendig, die derartige Dienstleistungen anbieten und nutzen.

Literatur Ahamer, Vera (2013): Unsichtbare Spracharbeit: jugendliche Migranten als Laiendolmetscher. Integration durch Community Interpreting. Bielefeld: transkript Becker, Carsten/ Grebe, Tim/ Leopold, Enrico (2010): Sprach- und Integrationsmittler/-in als neuer Beruf. Eine qualitative Studie zu Beschäftigungspotenzialen, Angebotsstrukturen und Kundenpräferenzen. Herausgegeben von der Diakonie Wuppertal Borde, Theda/ Albrecht, Niels-Jens (2007): Innovative Konzepte für Integration und Partizipation. Bedarfsanalyse zur interkulturellen Kommunikation in Institutionen und für Modelle neuer Arbeitsfelder. Frankfurt am Main: IKO Bowen, Margareta (1999): Community Interpreting. In: Snell-Hornby, Mary et al. (Hrsg.): Handbuch Translation. Tübingen: Stauffenburg: 319-321 Corsellis, Ann (2008): Public Service Interpreting. The First Steps. New York: Palgrave MacMillan. Lietz, Roman (2017): Professionalisierung und Qualitätssicherung in der Integrationsarbeit. Kriterien zur Umsetzung von Integrationslotsenprojekten. Opladen: Budrich Petrova, Alena (2015): Was ist neu an der neuen Dolmetschart Community Interpreting? State of the Art in deutschsprachigen Ländern. In: International Journal of Language, Translation and Intercultural Communication 3: 40-59 Pöchhacker, Franz (1999): ’Getting Organized‘: The Evolution of Community Interpreting. In: Interpreting 4 (1): 125-140

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Pöllabauer, Sonja (2003): Dolmetschen im sozialen, medizinischen und therapeutischen Bereich – eine Gratwanderung zwischen Interessenkonflikten und Streben nach Professionalität. In: Pöllabauer, Sonja und Erich Prunč (Hrsg.): Brücken bauen statt Barrieren. Sprach- und Kulturmittlung im sozialen, medizinischen und therapeutischen Bereich. Graz: Institut für Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität: 17-35 Schwarze, Antje (2009): Qualifizierung zum/zur professionellen Sprach- und Integrationsmittler/-in. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Gesundheitliche Versorgung von Personen mit Migrationshintergrund. Dokumentation Expertenworkshop am 5. Mai 2009. Berlin: 131-138 Seifert, Michael (1996): Probleme interkultureller Behördenkommunikation. In: Deutsch lernen 4, 5: 329-352 Wadensjö, Cecilia (2009): Community Interpreting. In: Baker, Mona und Gabriela Saldanha: Routledge Encyclopedia of Translation Studies. London: Routledge: 43-48

Engagement in Patenschaftsprojekten zwischen persönlicher Beziehung und Öffentlichkeit Ein kritischer Zwischenruf aus zivilgesellschaftlicher Perspektive Paul-Stefan Roß

Abstract Patenschaftsmodelle als besonderer Typus freiwilligen Engagements haben Konjunktur. In einer kritischen Reflexion dieses Booms wird zum einen nach den Motiven und Interessen der verschiedenen beteiligten Akteure (engagierte Bürger*innen, frei-gemeinnützige oder öffentliche Organisationen) gefragt, zum anderen nach Wirkungen und Nebenwirkungen von Patenmodellen. Hierbei werden Widersprüche, Chancen und Risiken deutlich. Vor diesem Hintergrund plädiert der Beitrag dafür, Patenschaftsprojekte konsequent in einen zivilgesellschaftlichen Rahmen zu stellen und somit primär nicht als private Aktivitäten, sondern als gesellschaftspolitisches Projekt zu verstehen. Eine solche Einordnung hat eine Reihe konzeptioneller und praktischer Konsequenzen. Stichworte Zivilgesellschaft, Gesellschaftspolitik, Öffentlichkeit, gesellschaftliche Teilhabe, Individualisierung von Problemlagen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0_17

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Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle: Ein Engagement-Typ mit Konjunktur

Schülermentoren, Pflegebegleiter, Bürgermentoren, Familien-, Job,- und Flüchtlingspaten, Integrationslotsen – Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle sind seit mindestens zwei Jahrzehnten aus der bundesdeutschen Engagementlandschaft nicht mehr wegzudenken.1 Zuletzt haben sie im Kontext des Engagements für geflüchtete Menschen, insbesondere durch das Bundesmodell „Menschen stärken Menschen“2, eine neuerliche Konjunktur erfahren. Mit diesem spezifischen Typus freiwilligen Engagements, für den Eins-zuEins-Beziehungen zwischen Engagierten und den jeweiligen Adressat*innen (Einzelpersonen, aber auch Familien) mit einer gewissen zeitlichen Kontinuität charakteristisch sind, verbinden sich spezifische Wirkungserwartungen. Stichworte sind etwa ‚Kontakt auf Augenhöhe‘, ‚Aufbau tragfähiger Beziehungen‘ und ‚Lernen am Vorbild‘.

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Notwendigkeit einer kritischen Reflexion

Mit Blick auf das Gesamtanliegen, zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken, ist diese Entwicklung erfreulich. Andererseits bedarf die Konjunktur gerade dieses Engagement-Typus einer kritischen Reflexion. Zwei Perspektiven scheinen mir wichtig.

1 Für einen Überblick über die verschiedensten Konzepte und Begriffe (wenn auch mit dem Fokus auf Modelle für geflüchtete Menschen) vgl. Huth 2017. Die in Huth 2017: 10-12 vorgenommenen Begriffsdefinitionen und Abgrenzungen schaffen eine Orientierung, erscheinen mir aber (allzu) idealtypisch zu sein und nicht unbedingt entlang der empirisch vorzufindenden Realität gewonnen. Was Huth etwa als konzeptionell charakteristisch für „PatInnenschaftsprojekte“ bezeichnet (und von Mentoringprojekten abgrenzt), wird anderenorts möglicherweise als „LotsInnen-Projekt“ bezeichnet und umgekehrt (so Huth selbst S. 12). Eine (kritische) Analyse von Modellen kann also nie bei der verwendeten Terminologie stehen bleiben, sondern muss immer die konkrete Realität der Umsetzung in den Blick nehmen. Zum Umfang des Engagements in Pat*innen-, Lots*innenund Mentor*innen-Modellen gibt es keine belastbaren Daten; der letzte Freiwilligensurvey von 2014 macht hierzu keine Aussagen. 2 Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/engagement-und-gesellschaft/fluechtlingspolitik-undintegration/menschen-staerken-menschen (zuletzt abgerufen am: 20.09.2019).

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Erstens ist zu fragen, welche Motive und Interessen mit solchen Modellen verbunden sind. Dies gilt für die verschiedenen beteiligten Akteure. ƒ Aus Sicht engagierter Freiwilliger sind Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle auch deshalb attraktiv, weil sie unmittelbare persönliche Kontakte ermöglichen. Die Wirkungen des eigenen Engagements sind oft sofort sichtbar und geben (einen positiven Verlauf vorausgesetzt) das gute Gefühl, einem Mitmenschen unmittelbar weitergeholfen zu haben. Zudem kann das Engagement inhaltlich und zeitlich sehr frei gestaltet werden (vgl. etwa BMFSFJ 2017: 18-20; 44). Es entstehen interessante Bekanntschaften und vielleicht sogar Freundschaften. Andererseits können solche Modelle dazu verleiten, sich selbst als jemand zu verstehen, der bzw. die ‚weiß wie es geht‘ - und der/die den anderen zeigt, ‚wie man es machen muss‘: Kinder erziehen, einen Arbeitsplatz finden und behalten, den Alltag in Deutschland bewältigen usw. Kurz: Pat*innen haben Patenkinder (vgl. Huth 2017: 22). ƒ Was motiviert Bund, Länder, Kommunen und frei-gemeinnützige Organisationen, seit einigen Jahren Patenmodelle stark zu fördern? Sicher die Überzeugung, dass gerade eine Unterstützung ,von Mensch zu Mensch‘ oft sehr hilfreich sein kann; und sicher auch der Umstand, dass sich Menschen derzeit gut für ein solches Engagement gewinnen lassen. Aber es ist bisweilen auch die Hoffnung, durch ehrenamtliche Patenschaften die Kosten für teure professionelle Unterstützungsangebote reduzieren zu können. Solche Argumentationen sind aktuell z.B. aus so unterschiedlichen Bereichen wie den Hilfen für geflüchtete Menschen und dem Vor- und Umfeld von Pflege zu hören. Eine zweite kritische Frage gilt den Wirkungen (und Nebenwirkungen) solcher Modelle.3 Hier zeigen sich charakteristische Spannungen und Widersprüche.

3 Zur Diskussion um die ‚Wirkungen‘ solcher Modelle bzw. die Möglichkeit der Wirkungsmessung kann auf Huth 2017: 20 verwiesen werden: „Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Teilnahme an PatInnen-, MentorInnen- und LotsInnenprojekten und dem Erwerb persönlicher und sozialer Kompetenzen ist mit den Mitteln der Wirkungsforschung nur im Rahmen aufwändiger Forschungsdesigns möglich, die bislang nicht realisiert wurden. Man ist deswegen auf die Selbst- und Fremdeinschätzung der Begleiteten sowie der begleitenden Ehrenamtlichen und der beteiligten Hauptamtlichen angewiesen“.

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ƒ Wenn Bürger*innen sich für andere Bürger*innen als Pat*innen, Lots*innen oder Mentor*innen engagieren, kann dies zu einer partnerschaftlich-respektvollen Unterstützung auf Augenhöhe und einem Von-einander-Lernen führen (vgl. BMFSFJ 2017: 43) – es kann aber auch zu paternalistischer Bevormundung oder Entmündigung kommen (vgl. Huth 2017: 22). Die Folge kann so etwas sein wie „erlernte Hilflosigkeit“ (vgl. Seligman/ Petermann 2011). ƒ Insbesondere Familienpatenschaften, die als Teil „Früher Hilfen“ konzipiert sind (vgl. Sann 2010, Liebhardt 2012), laufen Gefahr, in die für Soziale Arbeit typische Grundspannung von ‚Hilfe‘ und ‚Kontrolle‘ zu geraten: Dies gilt insbesondere dann, wenn Patenschaften mit dem Hintergedanken verknüpft werden, das bürgerschaftlich Engagierte einen leichteren Zugang zu „Risiko-Familien“ finden und damit im Rahmen von sog. „Frühwarnsystemen“ (vgl. Bastian et al. 2008) ggf. vorliegende Kindeswohlgefährdungen eher detektieren können als Mitarbeiter*innen von Behörden. Die Engagierten drohen zu ‚verdeckten Ermittler*innen‘, etwa des Jugendamtes, zu werden. ƒ Dem besonderen Reiz der menschlichen Nähe steht die besondere Gefahr der persönlichen Verstrickung gegenüber: Überzogene Erwartungen, unreflektierte Übertragungen (z.B. von Geschlechter-, Eltern-Kind- oder Geschwister-Rollen), Überschreitungen persönlicher Grenzen usw. drohen auf beiden Seiten und für beide Seiten. ƒ Pat*innen-, Lots*innen- oder Mentor*innen-Modelle zeichnen sich durch eine hohe Verbindlichkeit der Beziehungen aus, und potentielle Engagierte reflektieren offenbar sehr gründlich, ob sie eine solche Beziehung eingehen wollen (vgl. BMFSFJ 2017: 42). In der damit geschaffenen Nähe kann die Alltagskompetenz der Engagierten in besonderer Weise positiv zum Tragen kommen. Andererseits macht diese Beziehungsdichte die Adressat*innen des Engagements besonders verletzlich: Engagierte, die sich ihrer Rolle nicht klar sind, die ihre eigenen Grenzen nicht kennen oder die Grenzen ihres Gegenüber nicht respektieren, können durch unreflektierten Dilettantismus großen Schaden anrichten. ‚Gut gemeint‘ ist auch hier oft das Gegenteil von ‚gut gemacht‘. ƒ Pat*innen-, Lots*innen- oder Mentor*innen-schaffen einen „geschützten Rahmen des fürsorglichen und liebevollen Umgangs miteinander“ (Sauerborn o.J.: 19), der z.B. im Bereich geflüchteter Menschen „das Ankommen erleichtert“ (ebd.). Dieser ‚Schutzraum‘ der Tandembeziehung zwischen den Beteiligten kann aber auch zu einer Sonderwelt werden, die von der ‚rauen Wirklichkeit‘

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im Außenraum abgekoppelt ist – mit der fatalen Folge, dass es für die Adressat*innen zu einem Realitätsschock kommen kann, wenn sie diesen Schutzraum verlassen (vgl. Sauerborn o.J.: 19 und 32). ƒ Engagierte bringen in hohem Maße lebensweltliche Kontakte (zu weiteren Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten) ein, die zu zusätzlichen Ressourcen für ihre Adressat*innen werden können (vgl. BMFSFJ 2017: 37; 59). So wird soziales Kapital gebildet und werden Unterstützungsleistungen realisiert, die professionelle Dienste für sich allein in diesem Umfang nicht bieten könnten. Allerdings scheint gerade im Kontext von Pat*innen-, Lots*innen- oder Mentor*innen-Modellen die Differenzierung zwischen ehrenamtlicher und professioneller Unterstützung besonders leicht zu verschwimmen (vgl. Gesemann 2015: 55): Der/die beruflich tätige ‚Bezugsbetreuer*in‘, der/die auch viele Aufgaben in der Alltagsbewältigung übernimmt, scheint durchaus austauschbar zu sein durch den/die bürgerschaftlich engagierte/n ‚Freund*in‘. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Pat*innen-, Lots*innen- oder Mentor*innen-Modelle verfügen über ein hohes positives Potential. Dies gilt sowohl für die Zielgruppen, an die sie sich richten, als auch für die Bürger*innen, die sich in solchen Projekten engagierten, und für die Gesellschaft insgesamt. Gäbe es sie noch nicht, müsste man sie erfinden. Die gerade angesprochenen problematischen Motive müssen nicht vorliegen, die unerwünschten Wirkungen müssen nicht eintreten. Zudem sind sie keineswegs allein mit diesem spezifischen Typ von Engagement, sondern mit jedem personenbezogenen freiwilligen Engagement verbunden. Aber die besondere persönliche Nähe, die mit Pat*innen-, Lots*innenoder Mentor*innen-Modellen verbunden ist und die ihre große Stärke ausmacht, markiert zugleich eine besondere Risikoanfälligkeit. Um diesem Risiko entgegen zu wirken, plädiere ich dafür, das Engagement in Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modellen konsequent in einen zivilgesellschaftlichen Rahmen einzuordnen. Worum geht es bei diesem Rahmen? Zu welchen konkreten Konsequenzen führt eine solche Einordnung?

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Die Idee der Zivilgesellschaft als Bezugsrahmen für Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle

Die Debatte zur Zivil- oder Bürgergesellschaft ist weit verzweigt (vgl. Roß 2012: 82-152). Nimmt man die vielfältigen Denktraditionen und die aktuelle Diskussion zusammen, legt sich ein Verständnis von Zivilgesellschaft nah, dass a) breit gefasst ist (Zivilgesellschaft wird nicht mit einem einzelnen gesellschaftlichen Sektor - eben dem Dritten Sektor – gleich gesetzt, sondern auf Gesellschaft insgesamt bezogen), b) dynamisch ist (Zivilgesellschaft wird nicht verstanden als starres Etikett, sondern als Leitidee einer zivilgesellschaftlichen Entwicklung). Es tritt ein Bedeutungskern zu Tage, wonach unter einer ‚Zivilgesellschaft‘ eine Gesellschaft zu verstehen ist, ƒ die sich erstens durch einen vitalen assoziativen (dritten) Sektor und insbesondere durch vielfältiges bürgerschaftliches Engagement auszeichnet; ƒ in der zweitens die übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche (Staat und Markt) einerseits eine solche Stärke des bürgerschaftlichen Engagements zur Geltung kommen lassen, unterstützen und aktiv ermöglichen, andererseits untereinander und insbesondere mit bürgerschaftlichen Assoziationen gemeinwohlbezogen zusammenwirken; ƒ in der drittens sowohl für die Interaktion innerhalb ihrer Teilbereiche als auch für die Interaktion zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen bestimmte zivile und demokratische Interaktionsregeln gelten. Ein solches breit gefasstes und zugleich dynamisches Verständnis von Zivilgesellschaft4 konkretisiert sich in verschiedener Hinsicht. 1. Entscheidende Bedeutung für die Zukunftsbeständigkeit einer Gesellschaft wird einem vitalen Dritten Sektor beigemessen, der eine Vielzahl selbstorganisierter autonomer Assoziationen von großen Organisationen und Verbänden über Vereine bis zu kleinen Initiativen und Projekten aufweist. Für wichtig erachtet wird insbesondere ein vielfältiges, selbst bestimmtes bürgerschaftliches

4 Für eine ausführliche Begründung und Entfaltung eines breit gefassten, dynamischen Verständnisses von Zivilgesellschaft, das von der schlichten Geleichsetzung von ‚Zivilgesellschaft‘ und ‚Drittem Sektor‘ abgrenzt, vgl. Roß 2012: 191-193, 239-246.

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Engagement (i.S. von bürgerschaftlicher Mitwirkung und Mitentscheidung einschließlich bürgerschaftlicher Selbsthilfe und Selbstorganisation). Zur Begründung wird im Wesentlichen hingewiesen a) auf die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Gesellschaft, die die Bildung von sozialem Kapital in neuen Assoziationsformen erfordert; b) auf die mit der Pluralisierung verbundenen grundlegenden Steuerungsproblemen differenzierter Gesellschaften, die die Expertise und Mitwirkung der Betroffenen unverzichtbar werden lässt; c) auf die in bürgerschaftlichen Assoziationen gelebte Alltagsdemokratie; d) auf die spezifische Qualität, die bürgerschaftliches Engagement in die kommunale Daseinsvorsorge einbringt. 2. Gleichwohl beschränkt sich die Reichweite der Idee der Zivilgesellschaft keineswegs auf den assoziativen Sektor. Erstens geht es darum, dass die übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche - Staat, Großorganisationen und Verbände des assoziativen Sektors, Wirtschaft - erstens eine Vielfalt und Stärke bürgerschaftlichen Engagements nicht nur nicht behindern, sondern durch geeignete Maßnahmen unterstützen und aktiv ermöglichen. Und es geht darum, dass sie zweitens mit den Bürger*innen und untereinander zur sozialen und demokratischen Gestaltung der Gesellschaft gemeinwohlbezogen zusammenwirken. Mit der Idee der Zivilgesellschaft verbinden sich somit spezifische Rollen- und Handlungserwartungen an alle Teilbereiche von Gesellschaft bzw. deren Akteure: ‚Zivilgesellschaftliche Entwicklung‘ meint also auch die Entwicklung von Staat und Markt; meint die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt. 3. Zur Leitidee der Bürger- bzw. Zivilgesellschaft gehören normative Grunderwartungen. Dabei handelt es sich jedoch zunächst nicht um bestimmte, allgemein gültige Vorstellungen eines guten Lebens oder einer guten Gesellschaft. Angesprochen sind zum einen bestimmte sozio-moralische Haltungen des/der Einzelnen: nämlich ‚politische‘ und ‚soziale‘ Tugenden wie Gewaltfreiheit, Gemeinsinn, Rechtsgehorsam, Zivilcourage, Diskursbereitschaft in einer offenen Gesellschaft, Toleranz gegenüber verschiedenen Lebensstilen und Werthaltungen sowie die Bereitschaft am Gemeinwohl mitzuwirken. Gemeint ist insbesondere eine bürgerschaftliche Identität, die in konkretes Engagement mündet. Angesprochen sind zum anderen bestimmte Interaktions- und Verfahrensregeln, die für das Zusammenspiel der Akteure aus den Bereichen Bürgerschaft, Staat, Markt und Dritter Sektor gelten, z.B. die Verfahrensregeln eines

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demokratischen Rechtsstaats. Allerdings reduziert sich die Idee der Zivilgesellschaft nicht allein auf formale Interaktions- und Verfahrensregeln. Unverzichtbar ist etwa eine Verständigung über bestimmte geteilte (materiale) inhaltliche Werte wie Teilhabe, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Nachhaltigkeit und Solidarität. Die Rede von ‚Zivilgesellschaft‘ ist konstitutiv verbunden mit dem Projekt der ‚Demokratisierung der Demokratie‘, d.h. ihrer Vertiefung und Weiterentwicklung. Es gehört zu ihrem Kernbestand, das ‚Politische‘ bzw. das ‚Politik-Machen‘ nicht in arbeitsteiliger Weise einem einzelnen gesellschaftlichen Teilbereich und seinen Akteuren (nämlich dem Staat) zu überlassen, sondern es in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren. Die Gesellschaft wird in neuer Weise ‚politisiert‘, die Politik ‚vergesellschaftet‘. Mit dem Postulat der Vergesellschaftung von Politik wird die Idee der Zivilgesellschaft zu einem Korrektiv jenes Politikmonopols des Staates, das sich in vielen Demokratien im Gegenüber zur zunehmend a-politisch verstandenen bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat. Positiv wird die Rolle des Staates gesehen a) in der Gewährleistung der Bedingungen öffentlicher Freiheit und in der Zivilisierung sozialer Konflikte, b) in der Gewährleistung sozialer Sicherung (als einer fundamentalen Voraussetzung von demokratischer Teilhabe, bürgerschaftlichem Engagement und zivilgesellschaftlicher Entwicklung), c) in der Rolle eines Demokratiewächters (Abwehr totalitärer Tendenzen in allen Gesellschaftsbereichen) sowie d) in der aktiven Förderung bürgerschaftlichen Engagements (Abbau struktureller Hemmnisse und Schaffung förderlicher Rahmenbedingungen). Der mit der Zivilgesellschafts-Idee verbundene Demokratisierungsanspruch bezieht sich keineswegs allein auf die politischen Organe des staatlichen Sektors im engeren Sinne. Auch an Institutionen wie etwa die Schulen oder an sozial(wirtschaftlich)e Einrichtungen wird der Anspruch adressiert, sich für bürgerschaftliche Mitgestaltung und Mitwirkung (und damit auch bürgerschaftliche Kontrolle!) zu öffnen. Im Diskurs zur Zivilgesellschaft wird der Gedanke der Subsidiarität durch eine Rückführung auf seine ursprüngliche Aussageabsicht neu formuliert, entgrenzt und aktualisiert. So wird das Subsidiaritätsprinzip keineswegs auf den Vorrang freier vor öffentlichen Trägern eingeschränkt, sondern auf das Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Einheiten bezogen: Staat - freie Assoziationen; föderale

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Ebenen des Staates; kleine selbstorganisierte Initiativen oder großen, formal strukturierte Organisationen und Verbänden. Dabei wird das Subsidiaritätsprinzip mit einer doppelten Intention verbunden: nämlich nicht allein mit einer negativen, abwehrenden Zielrichtung (‚In das, was die kleinere Einheit selbständig erledigen kann, soll sich die größere Einheit nicht einmischen‘), sondern auch mit einer positiven, auffordernden Intention (‚Die kleinere Einheit soll bei der selbständigen Erledigung von Aufgaben durch die größere Einheit unterstützt werden; dort, wo die kleinere Einheit an Grenzen kommt, soll die größere Einheit tätig werden‘).

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Konsequenzen einer zivilgesellschaftlichen Einordnung des Engagements in Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modellen

In diesem zivilgesellschaftlichen Bezugsrahmen sind Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle, so meine Grundthese, primär nicht als private Aktivitäten einzelner Menschen zu verstehen, die nur sie und ihre Adressat*innen betreffen, sondern als gesellschaftspolitisches Projekt. Sie sind Ausdruck dafür, dass soziale Herausforderungen nicht allein der Verantwortung der Betroffenen, des Staates oder des Marktes zugewiesen, sondern als gemeinsame gesellschaftliche Aufgaben aufgefasst werden. Ob Jugendliche eine Ausbildung beginnen, Erwerblose Arbeit finden, Familien erziehungsfähig sind, zugewanderte Menschen oder Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft teilhaben können, die Pflege älterer Menschen daheim bewältigt werden kann – all das geht - jedenfalls prinzipiell - jede Bürgerin und jeden Bürger an. Für diesen Grundgedanken stehen zivilgesellschaftlich verstandene Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle. Sich in ihnen zu betätigen ist im Kern nicht ‚private‘ Beziehungspflege, sondern ‚bürgerschaftliches‘ Engagement. Ein solches Verständnis ist kein Plädoyer gegen die persönliche Nähe und die Dichte der Beziehungen, die mit Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modellen verbunden ist und die sowohl ihre besondere Attraktivität als auch ihre charakteristische Stärke ausmacht. Dass aus Engagement-Beziehungen freundschaftliche Beziehungen werden, ist auf Ebene der in den Tandems agierenden Individuen vollkommen legitim. Wohl aber ist es Plädoyer gegen eine schleichende bzw.

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unreflektierte ‚Privatisierung‘ und zugleich ‚Entpolitisierung‘ von sorgendem Engagement. Dies nachdrücklich zu betonen erscheint mir insbesondere dann wichtig zu sein, wenn der Eindruck entsteht, dass staatliche Programme eine solche Verlagerung aktiv betreiben und einer Privatisierung von Sorgeaufgaben Vorschub leisten.5 Insofern ist ein zivilgesellschaftliches Verständnis v.a. das Plädoyer für eine Balancierung der mit Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modellen verbundenen Intimität durch eine gesellschaftliche und damit im weiten Sinne politische Öffentlichkeit.6 Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle in dieser Weise als zivilgesellschaftliche bzw. bürgerschaftliche Modelle zu verstehen, hat konkrete strategische und operative Konsequenzen: 1. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle sind im öffentlichen Bereich angesiedelt. Sie reichen zwar ins Persönliche hinein und können in freundschaftliche Beziehungen übergehen. Zunächst und im Kern sind sie aber keine ‚Privatangelegenheit‘, sondern eine Form zivilgesellschaftlicher Verantwortungsübernahme und bürgerschaftlichen Engagements. Ihre Grundlogik ist die der Solidarität, zu der man sich bewusst frei entscheidet, nicht die der Reziprozität; also nicht die Logik jener selbstverständlichen Gegenseitigkeit, wie sie für Familien- und Freundschaftsbeziehungen charakteristisch ist. Dies schließt u.a. ein, dass von den Pat*innen, Lots*innen oder Mentor*innen die Fähigkeit erwartet wird, eine gewisse Distanz zu 5 Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang etwa die kontroverse Diskussion des Konzepts der „Caring Community“ im Kontext des Siebten Altenberichts der Bundesregierung (vgl. BMFSFJ 2016, 193f, 214-216). 6 Ein solches Plädoyer gilt übrigens keineswegs nur für Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innenModelle. Es gilt darüber hinaus zum einen auch für andere traditionsreiche ‚Eins-zu-eins-Modelle‘ des Engagements wie etwa die ehrenamtliche Erziehungsbeistandschaft oder die ehrenamtliche rechtliche Betreuung (zu letzterem vgl. u.a. Roß/ Müller 2014). Es gilt zum anderen mit Blick auf aktuelle Metamorphosen des Engagements für Geflüchtete. Offenbar zieht sich eine erhebliche Zahl von Engagierten aus den vielfältigen, 2015/2016 entstandenen zivilgesellschaftlichen Organisationsformen (z.B. Freundeskreise) zurück. Dies scheint aber keineswegs in jedem Fall zu bedeuten, dass die betreffenden überhaupt nicht mehr aktiv sind. Oft scheinen aus dem Engagement heraus persönliche Beziehungen zu geflüchteten Menschen entstanden zu sein, die nunmehr jenseits organisierter Formen ‚privat‘ weiter bestehen. Diese Entwicklung bedeutet einerseits einen Schritt in Richtung Normalisierung. Sie birgt andererseits das Risiko, mit auftretenden Schwierigkeiten allein zu bleiben. Zugleich wird möglicherweise das Gewicht zivilgesellschaftlicher Organisationen im Gegenüber zu Politik und Verwaltung geschwächt.

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ihren Adressat*innen wahren zu können: also keine unreflektierten Erwartungen hinsichtlich Dankbarkeit, emotionaler Nähe, langfristiger Dauer oder wechselseitiger Unterstützung aufzubauen, sondern nüchtern beispielsweise mit Konflikten, Zurückweisung, Beziehungsabbrüchen oder fehlender Dankbarkeit zu rechnen. 2. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle leisten nicht einer Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen Vorschub. Im Mittelpunkt steht zwar, einzelne Menschen – ‚Eins zu Eins‘ - gezielt zu unterstützen. Die Erfahrungen, die die Pat*innen, Lots*innen oder Mentor*innen im Einzelfall machen, müssen jedoch in die fachliche, politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit rückgekoppelt sein. So wird verhindert, dass Arbeitslosigkeit, Migration, Familienprobleme oder Überlastung durch Pflege auf rein individuelle Notlagen und persönliche Schicksale reduziert und die strukturellen Aspekte dieser Problematiken, d.h. die Mechanismen struktureller Ausgrenzung und Benachteiligung bestimmter Gruppen, ausgeblendet werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass solche Exklusionsmechanismen kritisiert, auf die Agenda politischer Willensbildung gebracht und - hoffentlich aufgebrochen werden. 3. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle sind keine „politik-“ oder „demokratiefreien Zonen“. Ob Bund, Länder, Kommunen oder Wohlfahrtsverbände: Organisationen, die Patenmodelle fördern, sollten die Gründe dafür offenlegen. Zugleich ist wichtig, dass die Pat*innen, Mentor*innen oder Lots*innen Gelegenheit erhalten, ihr Engagement fachlich, aber auch politisch zu reflektieren. Die soeben unter 2. geforderte Rückkoppelung individueller Erfahrungen in die fachliche, politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit darf nicht dem Zufall überlassen bleiben: sie muss seitens der jeweiligen Organisationen über den Aufbau entsprechender Strukturen systematisch abgesichert und ermöglicht werden. 4. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle werden nicht gegen beruflich erbrachte, fachliche Unterstützungsleistungen in Stellung gebracht. Erstens steht das, was einerseits ‚Pat*innen‘, andererseits ‚Profis‘ für benachteiligte Jugendliche, für pflegende Angehörige, geflüchtete Menschen und für Familien in schwierigen Verhältnissen leisten können, nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzt sich. Bürgerschaftliches Engagement und berufliche Fachlichkeit bringen jeweils spezifische Qualitäten

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ein, die komplementär zueinander sind. Sie sind Komponenten eines „Wohlfahrtsmix“ (vgl. Roß 2013). Zweitens brauchen bürgerschaftliche Pat*innen, Lots*innen und Mentor*innen (mal mehr, mal weniger) ihrerseits professionelle Unterstützung. Ein wichtiger Faktor für das Gelingen solcher Modelle ist ein „Patenschaftsmanagement“ (Sauerborn o.J.: 18), das für das „Matching“ der Tandems und die Begleitung der Begegnungen sorgt (vgl. Roß/ Tries 2014: 119f.). Drittens ermöglicht die Einbindung solcher Modelle in einen Rahmen (professioneller) Organisationen a) den Zugang zu finanziellen Mitteln (z.B. für gemeinsame Aktivitäten, die wiederum ein Zusammenkommen ‚auf Augenhöhe‘ ermöglichen), b) Versicherungsschutz sowie c) Wissenstransfer der engagierten Pat*innen untereinander und zwischen engagierten Pat*innen und professionellen Systemen im Sinne der oben geforderten Rückkoppelung (vgl. BMFSFJ 2017: 42). 5. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle haben ihren Maßstab in der gesellschaftlichen Teilhabe ihrer Adressat*innen. Der entscheidende Maßstab dafür, ob und inwieweit der Einsatz von Pat*innen, Lots*innen und Mentor*innen sinnvoll ist, sind nachhaltige positive Veränderungen der Lebenssituation der jeweiligen Adressat*innen - und nicht die ‚Zufriedenheit‘ der Pat*innen, die Entlastung der Fachkräfte oder Einsparung öffentlicher Mittel. 6. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle betreiben keine ‚fürsorgliche Entmündigung‘. Leitendes Prinzip ist das ‚Empowerment‘ der Adressat*innen, also der Grundsatz der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ und der subsidiären Unterstützung: Alles, was ein Jugendlicher, eine Familie oder ein Arbeitsuchender selbst kann, soll er/sie selbst tun; wo er/sie an Grenzen kommt, sollen die Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen unterstützend handeln; und wo wiederum diese engagierten Bürger*innen an Grenzen kommen, müssen professionelle Dienstleistungen greifen. 7. Bürgerschaftliche Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen-Modelle sind keine Sparmodelle. Sie sind es schon deshalb nicht, weil das Gelingen der durch sie ermöglichten Tandem-Beziehungen in hohem Maße davon abhängt, dass Gewinnung, Begleitung und Würdigung der Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen systematisch und professionell erfolgen. Eine solche professionelle Engagementförderung erfordert entsprechende Investitionen.

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V.a. aber geht es bei Patenschaften und Mentoring nicht um eine preiswerte ‚Erledigung‘ öffentlicher Aufgaben, sondern darum, dass eine demokratische Gesellschaft Verantwortung übernimmt, und dass Pat*innen-, Lots*innen- und Mentor*innen auf der einen und Profis auf der anderen Seite gemeinsam eine Unterstützungsqualität schaffen, die sie jeweils für sich genommen nicht erreichen könnten (s.o. 4.).

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Roß, Paul-Stefan/ Tries, Hilli (2014) Verschiedenheit ist bereichernd. Vom Benefit intergenerativer Angebote. In: Binne, Heike/ Dummann, Jörn/ Gerzer-Sass, Annemarie/ Lange, Andreas/ Teske, Irmgard (Hrsg.): Handbuch Intergeneratives Arbeiten. Perspektiven zum Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser. Berlin, Toronto: Opladen: 165-167 Sann, Alexandra (2010): Kommunale Praxis Früher Hilfen in Deutschland (hrsg. vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen). Köln: NZFH Sauerborn, Klaus (o.J): Evaluation des Patenschaftsprogramms der Stiftung Bildung im Rahmen des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“ des BMFSFJ, durchgeführt von TAURUS ECO Consulting GmbH. Trier o.J. Online verfügbar unter: https://www.stiftungbildung.com/wp-content/uploads/Evaluationsbericht_zum_Patenschaftsprogramm_2016.pdf (zuletzt abgerufen am: 20.09.2019) Seligman, Martin E. P./ Petermann, Franz (2011): Erlernte Hilflosigkeit. Neue Konzepte und Anwendungen. Weinheim, Basel: Beltz. 4. Aufl. 2011

Autorinnen und Autoren

Herausgeberin und Herausgeber Dr. Frank Gesemann, Diplom-Politologe, Mitbegründer und Geschäftsführer des DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration in Berlin; [email protected] Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann, Diplom-Pädagogin und Professorin für Allgemeine Pädagogik, Schwerpunkt Frühpädagogik an der Freien Universität Boxen, Fakultät für Bildungswissenschaften, Italien; [email protected] Alexander Seidel, M.A., Humangeograph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration in Berlin; [email protected] Bastian Walther, Kindheitspädagoge und Bildungswissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration in Berlin; [email protected] Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Andrea Cnyrim, Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft; [email protected] Leif Jannis Höfler, M.A. Europäische Ethnologie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DESI – Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration in Berlin; [email protected] Susanne Huth, Geschäftsführerin der [email protected]

INBAS-Sozialforschung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 F. Gesemann et al. (Hrsg.), Engagement für Integration und Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31631-0

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Sabine Jungk, Professorin für Interkulturelle Bildung und Erziehung/Sozialpädagogik, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin; [email protected] Benjamin Jursch, Studentische Hilfskraft am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); [email protected] Dr. Liv-Berit Koch, Referentin für Migration und Integration in der StephanusStiftung, Berlin; [email protected] Magdalena Krieger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); [email protected] Prof. Dr. Martin Kroh, Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bielefeld und Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); [email protected] Dr. Nicolas Legewie, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); [email protected] Dr. Roman Lietz, ehem. Akademischer Mitarbeiter der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, Fachgebiet Interkulturelle Kommunikation; [email protected] Lea-Maria Löbel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); [email protected] Serafina Morrin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrkraft für besondere Aufgaben, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin; [email protected] Katharina Neubert, M.A., Projektmanagerin Regionalentwicklung; [email protected] Franziska Niebuhr, B.A., Balu und Du, Universität Osnabrück; [email protected] Dipl.-Ing. Cemalettin Özer, seit März 2003 Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter bei der MOZAIK gemeinnützige Gesellschaft für interkulturelle Bildungs- und Beratungsangebote mbH in Bielefeld und freiwillige Dozenten- und

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Beratungstätigkeit u.a. bei der Fachhochschule des Mittelstandes in Bielefeld; [email protected] Prof. Dr. Paul-Stefan Roß, Dekan Sozialwesen am Center for Advanced Studies der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Leiter des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften Stuttgart; [email protected] Nicole Saile, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für angewandte Sozialwissenschaften Stuttgart; [email protected] Wiebke Schindel, Hessisches Ministerium für Soziales und Integration; [email protected] Dr. Julia Schlicht, ehem. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für angewandte Sozialwissenschaften Stuttgart, Referentin beim Paritätischen Gesamtverband; [email protected] Bernd Schüler, Soziologe und Politikwissenschaftler M.A., Projektleiter bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) e.V., freiberuflicher Autor u.a. des Telemachos-Fachbriefs über Mentoring und Patenschaften; [email protected] Dr. Jürgen Schumacher, Geschäftsführer der der INBAS-Sozialforschung GmbH; [email protected] Heike Würfel, Hessisches Ministerium für Soziales und Integration; [email protected]